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German Pages 209 [212] Year 2007
Falk Horst (Hg.) Panajotis Kondylis
Panajotis Kondylis Aufklärer ohne Mission Aufsätze und Essays Herausgegeben von Falk Horst
Akademie Verlag
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004316-6
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007
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Inhalt
FALK H O R S T
Einleitung
VII
R E I N H A R T KOSELLECK
Kondylis' Beiträge zu den „geschichtlichen Grundbegriffen" .
1
ANDREAS C S E R
Die Machiavellistudie von 1971 Zum Erstlingswerk von Kondylis
15
FALK H O R S T
Von der Ideengeschichte zu „Macht und Entscheidung" . . . .
43
PETER F U R T H
Aufklärer ohne Mission Uber die Position von Panajotis Kondylis
53
EBERHARD STRAUB
Konservativismus
77
ANDREAS CSER
Kondylis und Montesquieu
89
ANDREAS KRAUSE LANDT
Mechanik der Mächte Uber die politischen Schriften von Panj Otis Kondylis
101
HANS MARTIN LOHMANN
Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, Konsumbürger der Bürger bleibt
125
WOLFGANG SCHULLER
Marx, Engels und Marxismus bei Panajotis Kondylis
133
PETER F U R T H
Über die Sozialontologie von Panajotis Kondylis
141
VI Gedanken und Sprüche Aphorismen von Panajotis Kondylis
Inhalt
185
Werkverzeichnis der deutschsprachigen Arbeiten von Panajotis Kondylis
191
Namenregister
193
Über die Autoren
197
Einleitung
Kondylis liebte die pointierte Diskussion, die Polemik war sein Element; Reinhart Koselleck erinnert daran einleitend in seinem Aufsatz „Kondylis' Beiträge zu den .geschichtlichen Grundbegriffen'". Doch das zuspitzende Gespräch mit Freunden war gewöhnlich auf die relativ kurze Zeit nach des Tages Mühsal beschränkt und so erfolgte die das eigene Denken vorantreibende Auseinandersetzung als tägliche Arbeit in schriftlicher Weise mit anderen Autoren. Diesen Drang nach gedanklichem Wettstreit zeigte der junge Kondylis, geboren 1943 in Olympia, bereits als Gymnasiast in Kiffisia (Athen), als er wichtige Philosophen nicht nur in Ubersetzung, sondern in ihrer jeweiligen Muttersprache verstehen wollte, die er sich, wo es die Schule nicht leistete, selbst beibrachte. Das agonale Bestreben suchte Welterklärung und -erfassung und war nicht auf eine durch Philosophie festgelegt, wie Kondylis unter dem Titel „Umkehrung", auf Schüler- und Studentenzeit rückblickend, für sich selbst notierte: Ich ging aus, meinen Namen in die Felsen zu meißeln Und schrieb ihn auf Sand und Schaum. Ich wollt' im Herzen der Freunde als Baum wachsen Und wurde Zwischenstation in ihren Assoziationen. Ich träumte von Schlachten und Reisen ins Ungewisse Und ordne nun am Schreibtisch meine Gedanken. Ich wünschte mir einen einsamen Tod im Sturm Und sterbe langsam, bewundert und geachtet. Seine Vielsprachigkeit erlaubte ihm während des Studiums der Klassischen Philosophie in Athen (1963-1967) eine breite Ubersetzertätigkeit, die nach Unterbrechung durch den Militärdienst (1967-1969) intensiviert wurde. Mit der Herausgeber- und Ubersetzerarbeit wollte er nicht nur Kulturvermittler, sondern als Teilnehmer am Ideenstreit auch politisch wirksam sein, wie er es ähnlich als radikaler Studentenführer war; damit wollte er auch an die von ihm bewunderte Familientradition mit Militärs und Politikern anknüpfen und sich ihrer
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Einleitung
würdig erweisen. In den siebziger Jahren begann er mit Übersetzung und Herausgabe wichtiger Texte zur politischen Philosophie, Soziologie der Kunst und Erkenntnistheorie. Wichtige Autoren aus vier europäischen Sprachen übersetzte er in Werkauswahl ins Griechische, darunter Texte von Marx, Cassirer, Carl Schmitt, Max Horkheimer, Arnold Hauser, Machiavelli. Dieser gibt ein Beispiel dafür, daß der Theoretiker den geschichtlichen Akteur nicht grundsätzlich ausschließt. Andreas Cser erklärt in „Die Machiavellistudie von 1971 Zum Erstlingswerk von Kondylis", weshalb Kondylis als Thukydidesverehrer auch von Machiavelli fasziniert sein mußte und in ihm einen Seelenverwandten erkannte. Die Machiavelli-Übersetzung einer Werkauswahl mit Einführung ins Griechische bedeutete Kondylis viel; von allen seinen Ubersetzungen brachte er diese Arbeit mit nach Heidelberg, das seine zweite Heimat werden sollte, nachdem er dort 1971 nach kurzen Studienaufenthalten in England und Frankfurt seine Forschungen in der europäischen Geistesgeschichte auf seine Dissertation ausrichtete. Die intensive wissenschaftliche Arbeit und Produktivität hinderte Kondylis nicht an seinen Athener Übersetzungen, die seinen Landsleuten die Teilhabe an der europäischen Ideengeschichte erleichtern sollte. So schuf er in den achtziger Jahren in Zusammenarbeit mit dem Gnosis-Verlag eine „Philosophische und Politische Bibliothek", die etwa fünfzig Werke der europäischen Geistesgeschichte umfaßt, im Nelphi-Verlag war eine auf zwölf Bände angelegte Reihe „Neuere Europäische Kultur" geplant. Während er im Sommer in Heidelberg forschte, beschäftigten ihn im Winterhalbjahr in Athen die Übersetzungen, viele nahm er allein vor und die, bei denen er Helfer hinzuzog, überprüfte er genau auf die Angemessenheit der Begriffe; in den neunziger Jahren gab er aus dem Werk von Lichtenberg, Chamfort, Rivarol und Pavese Auswahlbände in Griechisch heraus - und zwar aufgrund geistiger Nähe und der Freude an einer das Wesen erfassenden Übertragung. Seine Heidelberger Dissertation umfaßt zwei Bücher: „Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802" (Stuttgart 1979) und „Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus", (Stuttgart 1981). Beide Arbeiten sind Standardwerke, weil Kondylis für die Interpretation des jeweiligen Gesamtwerkes auch abgelegene Teile einbezieht, er über eine vollständige Werkkenntnis verfügt und nur dadurch seinem Anspruch gerecht werden kann, die Denkbewegungen eines
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Autors in ihrer Vielgestaltigkeit nachvollziehbar zu machen. Bei der Antwort auf die stets präsente Frage, welche Rolle und Bedeutung Ideen für den Menschen haben, wird das Denken eines Autors erst dann in all seinen Ausfaltungen verständlich, wenn es als ein Ganzes gesehen und in den Zusammenhang mit dem von anderen Denkern gebracht wird, die, seien es Zeitgenossen oder Vorgänger, als Konkurrenten begriffen werden. Ein Gedankenmodell läßt sich dann verstehen, wenn es in seiner jeweiligen geistesgeschichtlichen Situation erfaßt und erkannt wird, gegen welchen Gegner es sich behaupten oder durchsetzen will. Die ganze Fülle widerstreitender und einander ergänzender Autorenstimmen wird also in der von Kondylis begründeten Hermeneutik auf bestimmte anthropologische Konstanten hin durchschaubar. Damit erheben alle seine ideengeschichtlichen Arbeiten auch den Anspruch, Beweise für die Leistungsfähigkeit seiner Hermeneutik und Philosophie zu liefern. Deren Fruchtbarkeit bestätigten ihm die Ergebnisse seiner Dissertation und gaben ihm die Sicherheit, die Philosophie im Anschluß in dem schmalen Band „Macht und Entscheidung" (1984) vorzustellen. Diesen Zusammenhang erläutert der Beitrag von Falk Horst, „Von der Ideengeschichte zu .Macht und Entscheidung'"; Peter Furth bietet mit dem Aufsatz „Aufklärer ohne Mission. Uber die Position von Panajotis Kondylis" eine Einführung in die Philosophie von Kondylis und eine Auseinandersetzung mit ihr. Als Beweise für die Fruchtbarkeit des methodologischen Vorgehens seiner Philosophie sollen seine geistesgeschichtlichen Arbeiten auch gelten können, wobei die Leistungsfähigkeit einer Interpretation und ihre Sachlichkeit sich nur in der möglichst lückenlosen Deutung eines Ganzen zeigen kann; denn eine normativ eingefärbte Sicht zwingt zu Umdeutung und Auswahl. Die fruchtbare Methode gründet auf bestimmten inhaltlichen, anthropologischen Annahmen, die auch ein Überschreiten der Grenzen zwischen Wissenschaftsdisziplinen erleichtert, wie es Kondylis ζ. B. mit „Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang" (1986) und „Theorie des Krieges. Clausewitz Marx - Engels - Lenin" (1988) vornahm. Eberhard Straub liefert mit „Konservativismus" eine auf die Gegenwart bezogene Einführung in dieses Buch von Kondylis; auf die anthropologischen Annahmen geht der Aufsatz „Kondylis' Beiträge zu den .geschichtlichen Grundbegriffen'" von Reinhart Koselleck ein. Einen Teil seiner anthropologischen Grundannahmen gewann Kondylis nach eigenem Bekunden bereits in jungen Jahren bei Men-
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sehen mit Lebenserfahrung, die ihm gezeigt hätten, wie wichtig das sei, was als .common sense' gelte; einen anderen Teil erwarb er sich beim Studium der klassischen griechischen Philosophen, die ihm ζ. B. begreiflich machten, daß man sich gegen Piaton stellen muß, um die menschlichen Dinge als neutraler Beobachter verstehen zu können, mit dem Wissen, daß der Mensch nur ausnahmsweise auf einen Platonismus verzichtet. Für Kondylis ist der Mensch das Maß aller Dinge, er nimmt perspektivisch wahr und strebt nach Selbsterhaltung, die für ihn als Gemeinschaftswesen in der Konkurrenz mit anderen zu einem nach Selbststeigerung wird und ihn durch den sozialen Bezug dazu zwingt, seinen persönlichen Machtanspruch zu verkleiden, weil die Befriedigung dieses elementaren Triebes nur im Rahmen von Normierungen erlaubt ist. Diese sind einem Sinnganzen zugeordnet und dadurch geheiligt, womit das Streben nach Selbststeigerung den einzelnen dazu zwingt, am Streit um Ideen teilzunehmen. Die Ideen und Weltanschauungen sind fest mit der Identität verbunden, was die existentielle Bedeutung von Ideen erklärt. Diese werden üblicherweise an überimpirische Einsichten gebunden, weil diese Aussagen über das Sollen beglaubigen. Sein und Sollen müssen in jeder Weltanschauung, die sozial verbindlich sein will, eine enge Verbindung eingehen, denn nur so sind die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt verbindlichen Wertsetzungen gegeben. Diese These aus „Macht und Entscheidung" belegt auch „Die neuzeitliche Metaphysikkritik" (1990). Zu den anthropologischen Einsichten tritt als zweites Element der Hermeneutik, die Kondylis als „deskriptiven Dezisionismus" bezeichnet, die Wertfreiheit der Betrachtung hinzu. Für Kondylis ist die objektive Erkenntnis der menschlichen Dinge möglich, allerdings ist damit der Verzicht auf Einfluß und Macht verbunden, denn nur der konsequente Verzicht ist die Voraussetzung dafür, daß die Dinge nicht um ideologischer Schützenhilfe willen in einseitig verengter Weise gedeutet werden; freilich läßt sich auch eine objektive Darstellung im Kampf der Ideen instrumentalisieren. Wo es um die Analyse historischer und gesellschaftlicher Vorgänge geht, die den Wahrnehmenden zeitlich nahestehen, was die Stärke der wirkenden Kräfte um so schwerer abschätzbar macht, provozieren die politischen Schriften von Kondylis um so eher zu Stellungnahmen. Dies machen die entsprechenden Aufsätze nachvollziehbar: Andreas Krause Landt, „Mechanik der Mächte. Uber die politischen Schriften von Panajotis Kondylis", Hans Martin Lohmann, „Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger - der
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Bürger bleibt", Wolfgang Schuller, „Marx, Engels und Marxismus bei Panajotis Kondylis". Die anthropologischen Einsichten bestimmen die Hermeneutik und die in den ideengeschichtlichen Forschungen gewonnenen Ergebnisse bestätigen und erweitern die Einsicht ins Anthropologische. Folglich lassen sich aufeinander bezogenen Arbeitsbereiche von Kondylis unterscheiden: Am Anfang steht die Erschließung von wichtigen Impulsgebern der europäischen Geistesgeschichte durch die Herausgeberarbeit; die dabei gewonnene Kenntnis bestimmter inhaltlicher Annahmen bestärkt oder erweitert den eigenen Forschungsansatz. Am Ende von weiteren Arbeiten zur Ideengeschichte, Politik, Kriegstheorie, Rechtsgeschichte, Soziologie steht die Sozialontologie (1999), sie sollte das umfassendste Werk werden, für die die anderen im Rückblick wie Vorarbeiten hätten erscheinen können, auch entsprangen fortgesetzt diesem Arbeitsbereich Ergebnisse, die sich zu eigenen Themen entfalteten und nach einem Abschluß verlangten - so führte ζ. B. die wiederholte Beschäftigung mit Montesquieu zum Band „Montesquieu und der Geist der Gesetze" (1996) als Ergebnissicherung, die Andreas Czer in „Kondylis und Montesquieu" vorstellt. Kondylis konnte bis zu seinem Tod 1998 nur den ersten Band der auf drei Bände projektierten Sozialontologie fertigstellen. Sie hätte auch seine anthropologischen Thesen untermauert. So greift alles ineinander und alle seine Arbeiten scheinen einander zu ergänzen, aufeinander bezogen, als würden sie bruchlos auf die Sozialontologie hinführen; diese stellt Peter Furth in „Über die Sozialontologie von Panajotis Kondylis" vor. Die Beiträge des Bandes sollen als Einführungen den Zugang zum Werk erleichtern, dessen Verortung versuchen und zu kritischer Beschäftigung anregen.
REINHART KOSELLECK ( 1 9 9 8 - A t h e n )
Kondylis' Beiträge zu den „geschichtlichen Grundbegriffen"1
(...) Panajotis Kondylis lebte 55 Jahre, von 1943 bis 1998. Ein intensives Leben, lang genug, um uns Nachlebende mit einem Werk zu beschenken, von dem wir noch lange zehren werden, sei es kritisch, sei es zustimmend, in jedem Fall belehrt und herausgefordert zum Nachdenken und zum Weiterdenken. Aber es war ebenfalls ein Leben zu kurz als daß Kondylis sein Werk hätte abschließen können. Seine auf drei Bände vorgesehene Sozialontologie ist nunmehr nach dem ersten Band abgebrochen. Deshalb hat sich tiefe Trauer unser aller bemächtigt. Wir haben eine Person verloren, vielen ein Freund und unersetzbar. Und darüber hinaus ist mit ihm ein Forscher aus seinem Schaffensprozeß gerissen worden, dessen Ergebnisse unvollendet, wie sie geblieben sind, uns zwar herausfordern zum Weiterdenken, deren letzte Ausformung zu lesen uns aber versagt bleibt, uneinholbar. So bleibt mir nur, die Umrisse eines immensen Werkes nachzuzeichnen, ohne den Anspruch zu erheben, das verbliebene Torso abzurunden. Wer weiß, welche kritischen Noten oder welche sarkastischen Bemerkungen Kondylis den folgenden Skizzen andienen würde, wenn er es noch könnte. Nicht ohne hedonistische Pointen, unterfüttert von seiner sinnlichen Spontaneität, die er aller Aufklärung abgewonnen hat, seh ich ihn noch vor mir. Wie oft wir uns in der Heidelberger Altstadt getroffen haben, kann ich nicht mehr nachzählen, wohl aber weiß ich, wie es gewesen ist. In einer Pinte oder in einem Café traf man sich mit Freundinnen und Freunden, zur deftigen Speise oder zum spritzigen Wein, um nach getaner Arbeit die Fragen des Alltags mit denen der Welt und ihrer Politik zu verknüpfen. Die Urteile von Kondylis zeichneten sich aus durch Nüchternheit und einen Ernüch-
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(Rede zum Gedenken an Panajotis Kondylis im Herbst 1998 in Athen; der Redetext ist um die Einleitung gekürzt. Koselleck geht auf die Beiträge ein, die Kondylis für das historische Lexikon verfaßte: „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland", Stuttgart 1972-1997, hrsg. v. Reinhart Koselleck u. a.)
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Reinhart Koselleck
terungseffekt, durch Klarheit der Argumente und ihre Begründung, durch Unbestechlichkeit einer offenen Parteinahme jenseits aller modischen Schwankungen oder Zumutungen. So teilten seine Tischgenossen seine ungestüme Lust am Scharfsinn und Intellekt, die zum Urbanen Umgang gehörten wie das Essen und Trinken. Aber jeder von uns wußte, welcher strengen Arbeitsdisziplin sich Kondylis immer unterworfen hat - nur daß seine geistige Tätigkeit von sinnlicher Freude gespeist wurde. Früh stand er auf, um mit frischer Luft sein Tagespensum, das er sich selbst auferlegt hatte, fortzuschaffen. Und dabei bediente er sich der eigenen Hand zum Schreiben ohne Schreibmaschine oder Computer, um Zettel auf Zettel oder Bogen auf Bogen zu füllen, mit jener unverwechselbaren Handschrift, die wir alle auch beim Lesen seiner Texte wahrnehmen. Die Handschrift wurde gleichsam leiblich vollzogen. Sie mögen mir meine persönlichen Erinnerungen nachsehen, denn scheinbar gehören sie nicht in den Zusammenhang wissenschaftlicher Beweisführung. Aber so viel sollte doch deutlich werden, daß Kondylis seine anthropologische Grundthese vom unzertrennlichen Gefüge biologisch, psychologisch, mentaler gegenseitig sich bedingender Abhängigkeiten nicht nur theoretisch induziert oder deduziert hat, sondern daß sich dahinter seine ganz persönlichen Erfahrungen gesammelt haben. Seine wissenssoziologisch aufregende These, daß sich Identitäten ändern können oder sukzessiv auswechselbar werden, während die reale Existenz einer Person sich durchhält, dieser erfahrungsgesättigte Satz beruht auf seiner ganz persönlichen Leistung, nämlich seine eigene Existenz nie aufgegeben oder gewechselt oder gar verraten zu haben. Seine Existenz, personal gesprochen, in ihrer biologischen, psychologischen und mentalen Verflechtung, blieb stets bewußt reflektiert, immer mit sich selbst identisch. Äußere Identifikationszumutungen oder Identifikationspressionen oder Identifikationsänderungen, wie sie in der deutschen Geschichte fast geläufig geworden sind, all diese Zumutungen, um zeitgemäß zu bleiben oder bleiben zu dürfen, hat Kondylis immer von sich abweisen können. Seine Existenz, wenn man das sagen darf, war nicht ganz fern der Existenzphilosophie der fünfziger Jahre. Sie blieb, längst bevor er seine eigene akademische Selbstbildung sich hat angedeihen lassen, im Umkreis von Heidegger, Plessner, Jaspers oder Sartre: diese Existenz war immer mit sich selbst konform. Sein Lebensvollzug, wie immer biologisch bedingt oder physiologisch eingefaßt, aber sozial durchwirkt und psychisch ausgewogen, vor allem aber mental und intellektuell anhaltend selbst-
Kondylis' Beiträge zu den geschichtlichen Grundbegriffen
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kontrolliert, das war eine ganz persönliche Selbstbegründung, die seine geschichtstheroretischen und sozialphilosophischen Weltentwürfe geleitet haben. Es gibt sicherlich wenige Denker unseres vergangenen sogenannten Jahrhunderts, die allen ideologischen und modischen, aktuellen oder zeitbedingten Zumutungen so konsequent widerstanden hätten wie Panajotis Kondylis. Seine personale Existenz war seine Identität selber, um zwei Schlagworte zu verwenden, die seine Einzigartigkeit einzufangen erlauben. Wissenschaftlich hatte ich selber das Glück gehabt einer engeren Zusammenarbeit mit Kondylis bei der Herausgabe des Lexikons der „geschichtlichen Grundbegriffe". Unser gemeinsamer Lehrer in der Sozialgeschichte, Werner Conze, hatte ihn gewonnen, zwei Artikel abzufassen, für die sich in der engeren Zunft der Historiker kaum Interessenten fanden, weil die zu behandelnden Begriffe nichts Aktuelles oder gar Spannnendes versprachen. Nämlich .Würde, dignitas', und .Reaktion und Restauration', zwei Begriffe, die nur mit Abscheu über die Lippen moderner Historiker zu rollen pflegen. Aber Conze gewann Kondylis, diese Begriffe zu bearbeiten, und diese scheinbar abgestandenen Begriffe wußte er - übrigens in Zusammenarbeit mit dem bekannten Altmeister der Latinistik, Victor Pöschl in Heidelberg - im Medium ihrer Geschichte wieder zum Sprechen zu bringen. Für .Würde' bzw. .dignitas' zeigte Kondylis nach ihrem ciceronischem Vorlauf die theologische Anreicherung des Begriffs im sogenannten Mittelalter. Er zeigte, wie die allen Menschen gleicherweise zugedachte Würde nur über die Ebenbildlichkeit Gottes zu begreifen war, wie sehr sie, scholastisch gesprochen, durch die Menschwerdung Gottes begründet wurde, im Unterschied zur ciceronisch-humanistischen Tradition. Aber ebenso wies Kondylis auf, wie sehr die philosophisch-theologisch begründete, egalitär lesbare Würde aller Menschen als solche kontrakariert wurde von einem völlig anderen Begriff, von einem neuen Begriff, der unter demselben Wort .Würde' oder .dignitas' auftaucht: nämlich Würde als ständisches Kriterium. .Würde' wurde zu einem Kriterium hierarchischer Abgrenzung, von oben nach unten oder von unten nach oben, um Amt und Herrschaft zu bezeichnen, die keineswegs allen Menschen gleicherweise zuteil wird. Amt und Würde konnten also völlig getrennte Begriffe sein, spezifisch ständisch oder christlich universal, obwohl das Wort .Würde* auch .Amt' meinen konnte. Ein breites Quellenspektrum hat er bearbeitet, theologischer, philosophischer, juristischer, politischer und sozialer Texte, er hat sie auf-
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Reinhart Koselleck
geboten, um knapp und souverän die Knoten- und Wendepunkte der Begriffsgeschichten herauszufiltern. So wird von ihm gezeigt, wie und wo in der ständischen Welt die personale Würde einer Person und ihre rechtliche Position, die dieser Person zugeschrieben wird, konvergieren oder auseinandertreiben. Die beiden Begriffe einer amtlichen oder einer privaten Zuordnung geraten in Spannung. Für die Herrscher auf oberer Ebene, also für Kaiser, Papst oder Fürsten, entsteht daher die Lehre einer gedoppelten Würde. Die unsterbliche Würde, die sich in der Sukzession der Amter durchhält, wie Kantorowicz das in seinem berühmten Buch „The king's two bodies" beschrieben hat, wird transpersonal weitergereicht, während die irdische Würde von der sterblichen Person bewahrt wird. Die Würde der Sterblichen und die der Unsterblichkeit zielen also auf verschiedene soziale Sachverhalte. Diese Auseinanderdividierung vollzieht Kondylis mit brillanter Kenntnis der Quellentexte. Mit zunehmender Neuzeit werden die moralischen auf die Person bezogenen und die sozialpolitischen auf Rang und Position bezogenen Zuordnungen zunehmend getrennt. Kraft dieser Trennung können dann geburtsrechtliche Würdenträger normativ und situativ gegeneinander ausgespielt werden. Die Trennung einer personalen und einer amtlichen Würde diente dazu, Geburtsrechte, die ja vorpersonal einem Menschen angedient wurden, zu kritisieren. Mit der Französischen Revolution beginnt dann jener Prozeß, der die Würde vollends privatisiert, sie als inneren Vorzug einzelner Menschen begreift, ohne daß er in der Sozialverfassung der umgreifenden Gesellschaft einen institutionellen Rückhalt fände. Dabei skizziert Kondylis meisterhaft die Unterschiede zwischen den italienischen, französischen und englischen Sprachgebräuchen und dem der Deutschen. Und nach der entfesselten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges samt den großen Verbrechen rückte dann in der deutschen Sprache im Grundgesetz der Bundesrepublik die Würde im ersten Artikel auf zu jenem unantastbaren Gut, das der Staat unveränderlich zu schützen habe. Der erste Artikel lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Kondylis meldet hier, wie Sie vermuten werden, seine sprachkritische Skepsis an, indem er auf die vielfältige und widersprüchliche Verwendung des Begriffes Würde in den verschiedenen sozialen und politischen Parteilagern hinweist. Ich selbst bin geneigt, in dieser Vielfalt der Urteile und der Wortverwendungen von ,Würde' ein Kriterium des Grundbegriffes zu sehen, nämlich unersetzbar zu sein. Man kann
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den Begriff nicht austauschen gegen andere Begriffe, und gerade weil er unersetzbar ist, ist er strittig, denn viele wollen mit ihrer jeweiligen Vorstellung die Würde so verstanden wissen, wie sie sie selber verstehén. Insofern ist für mich dieses Kriterium der Beliebigkeit auch das Kriterium dafür, daß es sich um einen Grundbegriff handelt, auf den man nicht verzichten kann und über den man streiten muß. Aber Kondylis ist entschieden der Auffassung, eben deshalb den gängigen Sprachgebrauch von Würde als Leerformel zu begreifen, was eine sprachpolitische Entscheidung ist, die man honorieren kann, ohne sie teilen zu müssen. Von ähnlicher Spannung sind die Begriffsgeschichten von .Reaktion' und »Restauration'. Erst seit und mit der Französischen Revolution rücken im deutschen Sprachgebrauch - wie im französischen und englischen auch - Reaktion und Restauration zusammen und geraten im Sog der vorausgesetzten Fortschrittsphilosophie zum Kriterium einer rückwärtsgewandten Hemmung oder Widerständigkeit gegen jegliche Veränderung oder Bewegung. Reaktiv und reaktionär und restaurativ ist man im Kampf gegen jeglichen Fortschritt; dieser stellt die Leitkategorie, unter der unsere beiden Begriffe ihre negative Assoziation erzeugen. Freilich entspricht diese Deutung von Reaktion und Restauration in der polemischen Alltagssprache des 19. Jahrhunderts keineswegs der jeweiligen semantisch präzisierbaren Einzelposition der Sprecher. D.h. Kondylis versteht es meisterhaft, dem Sprachgebrauch generelle Kriterien abzugewinnen, ohne darauf zu verzichten, die einzelnen Sprecher oder konkreten Redner differenziert zu beurteilen. Deswegen müssen Sie mir nachsehen, wenn ich auch hier wieder nur pauschal zusammenfasse, was Kondylis selbst nie als Voraussetzung, sondern nur als Ergebnis seiner Analysen begriffen hat. Also, .Reaktion' war vor der Französischen Revolution ein gelehrter Neologismus, der aus der Naturwissenschaftssprache Newtons herrührt: .action and reaction' sind aufeinander bezogen. Aktion und Reaktion dienen dazu, sich gegenseitig zu balancieren, ein Gleichgewicht in der Aufklärungssprache zu benennen, ohne zu bewerten, was besser oder schlechter sei. Reaktion ist eben reaktiv auf eine Aktion und deshalb selber wieder eine Aktion, auf die andere Reaktionen folgen usw. Dieses naturwissenschaftliche Unterfutter hat den Aufklärungsbegriff der .Reaktion' geprägt und ist erst seit der Französischen Revolution verändert worden. .Restauration' war dagegen vor der Französischen Revolution ein revolutionärer Begriff. Im Wortsinne der alten .revolutio', die mit
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Reinhart Koselleck
Polybios den Kreislauf der Verfassungen indiziert, zielte die .restaurado' auf das Ende einer revolutio. Indem der Verfassungskreislauf von der Monarchie über die Verfallsformen zur Aristokratie und zur Demokratie oder umgekehrt über die Verfallsformen zurück zur Monarchie läuft, enthält jede revolutio im Sprachgebrauch bis ins 1 S.Jahrhundert hinein eine restaurado: als Wiederherstellung eines vorangegangenen Zustandes. Insofern ist Restauration z.B. im englischen Sprachgebrauch eindeutig ein Ergebnis der Revolution und sinngleich zu verwenden. Hobbes sagte einmal über die englische Revolution: „I have seen in this revolution a circular motion." Das war der Sprachgebrauch um 1660, nachdem die englische Revolution zuende war. „Restauration" hatte als Ergebnis der Revolution auch eine kreisläufige Bedeutung. Diese Wiederkehrbedeutung wird dann völlig abgestoßen; die polybianische Tradition gerät geradezu ins Vergessen. Der vormoderne Sinn einer politischen Wiederholungsstruktur, der von der revolutio so gut wie von der restaurado evoziert wurde, ging mit der neuen, unilinearen Weltsicht des Fortschritts verloren. Im französischen - wie im englischen Sprachgebrauch von 1660-1688 - wurde noch einmal versucht, von 1815 bis 1830, die vorrevolutionäre Lage wiederherzustellen. Aber .Restauration' verlor ihre Zustimmungsfähigkeit und wurde im Rückblick nach 1830 zu einem abgeschlossenen Periodenbegriff. .Restauration* bezeichnete nur noch das Zeitalter von 1815 bis 1830, und seitdem gibt es keine Restauration mehr im zuvor üblichen Sprachgebrauch. Und mit dem Aufflackern der Julirevolution von 1830 war klar: Eine Restauration ist nicht mehr möglich. Insofern gewinnt der Fortschritt eine progressive, dynamische Bedeutung, die den Restaurationsbegriff aus dem alten, kreisläufigen Revolutionsbegriff ausscheidet. Wenn die Begriffe gleichwohl auftauchen, Reaktion oder Restauration, dann handelt es sich nur noch um polemische Rhetorik aus dem linken Lager, das sich mit diesen beiden Begriffen seiner eigenen Fortschrittlichkeit oder Fortschrittsfähigkeit versichert, durch Ausgrenzung des Gegners, ohne daß der Gegner sich zustimmungsfähig weiß, denn niemand wird sich freiwillig als reaktionär oder als Restaurateur bekennen. D. h. die Polemik läuft darauf hinaus, den Angesprochenen gleichzeitig die Zustimmungsfähigkeit zu entziehen. Das ist die rhetorische Figur, die in der Restauration und vor allem Reaktion seit 1830 verwendet wird. Und eben deshalb sieht Kondylis in beiden Begriffen keine Leerformel, weil sie in ihrer Verwendung diese polemische Funktion immer wieder gewinnen und erneuern. Sie zehren weiterhin von ihrer polemischen Schubkraft. Das ist das
Kondylis' Beiträge zu den geschichtlichen Grundbegriffen
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Ergebnis seiner Analysen, die meines Erachtens sprachpragmatisch unbestreitbar richtig sind. Es ist mir, wie gesagt, unmöglich, die einzelnen Argumentationsschritte der beiden meisterhaften Begriffsgeschichten hier nachzuvollziehen. Dafür sind sie zu knapp und zu gedrängt geschrieben. Denn die gelehrte Fülle der nur aus Primärquellen zitierten Belege ist so akkurat gesteuert, daß kein Glied in der Argumentation wegfallen darf. Nur in der Gesamtheit der Artikel ist ihre inhärente Beweisführung nachzuvollziehen. Das ist sozusagen das Minimum, mit dem Kondylis ein Maximum an Aussage ermöglicht hat: das lexikalische Optimum. Damit habe ich bei zwei scheinbar kleinen Meisterstücken bereits ein Kriterium genannt, das alle Werke von Kondylis auszeichnet. Wie in seinen Beiträgen zu den Geschichtlichen Grundbegriffen - ein winziger Bruchteil seines gesamten Œuvres - verarbeitet Kondylis immer eine immense Summe an primär gelesenen Texten, so daß all seine Bücher auch den Charakter von Handbüchern gewinnen. Welcher Leser erfreute sich nicht an dem sauber aufgearbeiteten Informationsgehalt seiner Schriften? Dieses Kriterium eines Handbuches, das auf alle seine fünf großen Werke zutrifft, ist aber nur sekundär und beinahe zufällig zu nennen. Denn primär und authentisch sind seine gedanklichen Leistungen, mit denen es sich immer lohnt sich auseinanderzusetzen. All seine tiefgreifenden und umfassenden Überlegungen haben fast durchgängig den Charakter einer anthropologischen sowie einer historischen Beweisführung, die auf verschiedene Weise einander zugeordnet werden. Es ist keine leichte Lektüre, aber wer sich darauf einläßt, wird reichlich belohnt. Die Grundlinien seiner Theorie, die sich hinter diesen wechselnden Zugriffen abzeichnen, sind von ihm aber klar formuliert, ausformuliert worden. Es handelt sich um eine anthropologisch fundierte Geschichtstheorie aller möglichen menschlichen Gesellschaft. Oder, wie der Untertitel seines nachgelassenen Werkes lautet: „Grundzüge einer Sozialontologie". Lassen Sie mich versuchen, einige dieser Grundzüge nachzuzeichnen. Bereits die Begriffsgeschichten aus der Feder von Kondylis verweisen auf gemeinsame Positionen, die auch die anderen Werke profilieren. Wir haben also in den Begriffsgeschichten in nuce eine Fülle von methodischen Fertigkeiten, die auch seine großen Werke auszeichnen, so daß man das Gesamtwerk schon erkennen kann. Wenn man so will, gleichen sie Monaden einer leibnizianischen Monadologie, so daß im Einzelwerk das Gesamtwerk sich spiegelt; so kann
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Reinhart Koselleck
man es vielleicht formulieren. Die Begriffe werden von ihm analysiert immer als Elemente von Sprachhandlungen ganz konkreter Sprecher oder Sprechergruppen. Die Semantik dieser Sprecher einer Sprache folgt bei ihm primär der Sprachpragmatik. Leitend ist eine geschichtliche Sprachhandlungstheorie, die Bedeutungslehre der Worte und der Sätze bleibt sekundär, gemessen an den Sprachabsichten, die die Sprechenden mit ihren Sprachhandlungen verfolgen. Die Sprachhandlungen werden gleichsam zu Taten, wenn man so will, zu politischen Taten, Ereignisse stiftend oder Ereignisse stiften helfend. Daraus folgt zwingend, daß auch die Sprachtaten wie jede Handlung auf andere Sprachtaten angewiesen sind, auf die sie reagieren, sei es freundlichkollaborativ, sei es feindlich ausgrenzend. Nach Kondylis gibt es keinen Begriff ohne Gegenbegriff. Und kein Begriff ist auch nur denkbar oder sagbar, ohne einen Gegenbegriff implizit mitzudenken, auch wenn er nicht ausgesprochen wird. Das ist seine sprachtheoretische Position. Das Politische ist, mit anderen Worten, bereits in alles menschliche Sprachverhalten eingelassen oder eingebunden. Das Politische kann dabei sowohl die menschliche Selbstorganisation in der aristotelischen Rezeptionsgeschichte bedeuten, wie auch die Ein- und Ausgrenzung polemischer, parteilicher und insofern eben politischer Positionsbestimmungen. Diese Doppelheit des Politikbegriffs, daß er sowohl die soziale Selbstorganisation meinen kann wie die Verfahren, wie man durch parteipolitische Entscheidungen die Lager trennt oder auch einander zuordnet, beide diese Bedeutungen seien, mit Kondylis, in allen politischen Sprachhandlungen enthalten. Das ist seine anthropologische Voraussetzung. Bis hin zu Freundschaft und Feindschaft werden die Begriffe in ihrer Verwendung und durch sie geprägt. Aus dieser Position folgt eine weitere Position, die Kondylis auch in seinen Begriffsgeschichten stark gemacht hat. Sie lautet, daß kein Begriff um seiner selbst willen geprägt wird. Deshalb darf nach Kondylis auch kein Text als Selbstaussage zum Nennwert genommen werden. Der nominale Selbstaussagewert wird von ihm immer hinterfragt auf die politische Funktion hin, die die Aussagen enthalten. Das ist eine einseitige Reduktion, die er durchhält und die man als seine theoretische Grundentscheidung zunächst einmal akzeptieren sollte, bevor man sie kritisiert. Darauf komme ich zum Schluß zu sprechen. Also, der Nennwert ist für ihn nicht der, den man dem Text unmittelbar ablesen darf, sondern er fragt von vorneherein, was ist die Funktion dieses Textes im Hinblick auf politische Selbstorganisation, im Hinblick auf politi-
Kondylis' Beiträge zu den geschichtlichen Grundbegriffen
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sehe Feindschaft oder Freundschaft, um handlungsfähig zu werden. Also nicht nur, daß jeder Begriff kontextgebunden ist - was ja banal ist - sondern alle Sprachhandlungen sind, bis hin zu den Ideengebäuden oder großen Systemen unausweichlich Träger einer politischen und sozialen Funktion. Deswegen muß man mit Kondylis die politischen und sozialen Funktionen methodisch isolieren, aus den Texten herauslesen, um sie analysieren zu können. Das ist ein Verfahren, das die Funktionsbestimmung als Aufgabe jeder Textlektüre voraussetzt. Damit ist eine dezidierte Abkehr von der reinen Ideengeschichte markiert, aber ebenso rückt damit seine Sprachgeschichte in die allgemeine soziale und politische Geschichte ein. D.h. wenn die Sprache nur Funktionen ausübt, muß der Träger dieser Funktionen selbst benannt werden; und der stammt immer aus der sozialen und politischen Geschichte, die Kondylis als implizite Voraussetzung seiner Sprachtheorie mitdenkt. Damit komme ich zum zweiten Teil und zum Schluß, um Ihnen einige daraus sich ergebende Probleme vorzuführen, in der Hoffnung, daß wir darüber streiten können. Der erste Schritt, den Kondylis vollzieht, ist der, daß er die Begriffsgeschichte, die er meisterhaft beherrscht hat - das habe ich ja vorgeführt - selber gar nicht besonders ernst nimmt. Sie war für ihn sozusagen methodisches Handwerkszeug. Seine sachlich gebotene primäre Position ist eine onomasiologische, und keine semasiologische. Und die onomasiologische Position richtet sich bei ihm gegen die Begriffsgeschichte. Die dahinter stehende Frage ist sehr einfach zu formulieren: Gibt es überhaupt einen Sachverhalt in der Geschichte, in der Politik, in der Theologie, in der Praxis der sozialen Beziehungen, gibt es überhaupt irgendeinen Sachverhalt, der schon vor dem Wort vorhanden ist, das dazu dient, diesen Sachverhalt zu bezeichnen? Gibt es einen Sachverhalt, der vor dem Begriff vorhanden ist, der diesen Sachverhalt benennt? Der Begriff Staat z.B. taucht, wie wir wissen, erst im 16.Jahrhundert auf, er gewinnt eine Fülle von Assoziationen im Lauf des 17. und des 18. Jahrhunderts, er verselbständigt sich als politisch-theoretischer Begriff erst im Laufe der frühen Neuzeit - in England und in Frankreich früher als in Deutschland, in Italien früher als in Frankreich, in England und Frankreich mehr oder minder parallel, aber in Deutschland immer ungefähr ein Jahrhundert später. Aber wenn man fragt, gibt es einen Staat als Letztinstanz politischer Entscheidungen und ihrer Handlungsträger, bevor der Begriff Staat überhaupt vorhanden war, dann würde Kondylis sagen, ja, es gibt den Staat auch bevor der
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Begriff .Staat' in die sprachliche Wirklichkeit getreten ist. Und er zeigt in großartiger Kenntnis der Quellen all die Phänomene auf, die im Territorialstaat, im sogenannten Feudalstaat, in der Ständegesellschaft angelegt sind, um später dahin zu führen, daß schließlich ein Staat daraus hervorgeht. Dabei ist seine Argumentation, daß die Onomasiologie, die verschiedenen Benennungen von Sachverhalten wichtiger werden als jener Ausdruck, der semasiologisch den Staat auf seinen letzten Begriff bringt. Das ist sein Verfahren. Und dieses Verfahren können Sie natürlich auf alle politischen Handlungseinheiten anwenden. Ist die .koinonia politike' vor der Polis vorhanden oder nicht? Diese Frage müßten wir an Aristoteles richten. Oder gibt es die koinonia politike erst mit der Polis? Oder fragen wir einmal: Ist das Ei von Athene vorher gelegt worden, oder ist es erst in Athen selbst entstanden? Als Metapher sei mir das erlaubt. Oder die Nationalökonomie: Gibt es die Nationalökonomie, bevor der oikos theoretisch ausgeweitet worden ist auf eine ganze Nation? Die Oikos-Lehre handelt bekanntlich vom Hause, und betrifft innerhalb der Polis die Familie, die später .familia' genannte Handlungsgemeinschaft, aber die Ökonomie als Wirtschaftslehre für den ganzen Staat gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert. Kondylis würde sagen, nein, Nationalökonomie gibt es auch in der Antike, man hat es nur nicht so genannt. Man müsse sie nur unter verschiedenen Namen aufsuchen, unter verschiedenen Bezeichnungen. - Hier ist einzuräumen, methodisch sind beide Wege möglich, und theoretisch sind beide Wege erlaubt. Und ich wäre der letzte nicht zuzustimmen, daß die onomasiologische Benennungsgeschichte verschiedener Phänomene genauso wichtig ist wie die Begriffsgeschichte eines Phänomens, das nur an einem Wort hängt. Das sind grundsätzliche Alternativen, mit denen man verschiedene politische Forschungsstrategien abwickeln kann. Nur, wie rettet sich Kondylis aus dem Dilemma, daß ein Sachverhalt auch ohne seinen Begriff schon vorhanden sei? Dieses Dilemma hat er sich selbst geschaffen, wenn man so will, und er rettet sich, indem er, ohne es zu sagen, den Idealtypus von Max Weber verwendet. Er entwirft den Idealtypus eines möglichen Staates, den Idealtypus einer möglichen Gesellschaft, die er .societas civilis' nennt, als Übersetzung der .koinonia politike', die ja sukzessiv über die .res publica' in die .societas civilis' der ciceronianischen Tradition als Übersetzung aus dem Griechischen in die mittelalterliche Scholastik eingewandert ist. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft - deutsch
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gesprochen - wurde dann zu einem Begriff, der bis zur Französischen Revolution eine ständisch-hierarchische Gesellschaft meint. Kondylis idealisiert diesen Befund der societas civilis typologisch, so daß er sagen darf, es gebe sie tatsächlich seit dem frühen Mittelalter bis zur Französischen Revolution. Und damit liegt er nicht falsch, denn es gibt in der Tat eine Fülle gemeinsamer Kriterien, die sich vom Mittelalter, sagen wir einmal vom frühen 12. bis zum späten 18. Jahrhundert durchhalten und die sich wiederholen. Das sind: die Gesellschaft ist hierarchisch geordnet, Amt und Würde, um auf die Begriffe zurückzukommen, officium und dignitas, konvergieren mehr oder minder, persönliche Würde und offizielle Amtswürde bedingen einander. Und man kann sagen, das Recht ist generell vorgegeben, Recht werde nur entdeckt und erkannt, es wird freigelegt und nicht erfunden. Und es wird immer von einer Zwei-Welten-Lehre gesprochen, deren Normen aus dem Jenseits ins Diesseits hineinreichen, ein theologisches Argument, das die normative Bewertung einer Gesellschaft durch eine, wenn Sie so wollen, platonische Ideenlehre begründbar macht. - Und empirisch gesprochen ist es eine Gesellschaft, die der Adel führt. Und der Adel bleibt führend, solange in dieser ständischen Definition die societas civilis weiterlebt. Die Gegenposition führt idealtypisch selbstredend zur Auflösung dieser societas civilis. Auch dies läßt sich schnell skizzieren: Die moderne Staatsbürgergesellschaft, die nicht mehr identisch ist mit einer ständisch-hierarchischen Gesellschaft, lebt von der Rechtsgleichheit aller, idealiter zumindest. Rechtsgleichheit für die Bürger ist die minimale Voraussetzung einer modernen Staatsgesellschaft. Ob sie formal liberal genannt wird, oder inhaltlich sozial, ist eine Sekundärfrage; aber die Rechtsgleichheit, sei sie juristisch, sei sie sozial, ist eine moderne Herausforderung, die in der alten societas civilis so gar nicht auftauchte, weil sie von vorneherein hierarchisch abgestuft war. Recht wird in der modernen Gesellschaft geplant, gesetzt, erlassen, geschaffen. Nun weiß man als Historiker, daß Recht auch im Mittelalter gesetzt und gestiftet worden ist. Aber wie weit trägt dieser Einwand gegen Kondylis und seine idealtypische Opposition: Recht als geschaffenes Recht versus Recht als vorgegebenes Recht? Es ist natürlich Kondylis klar, daß schon im Mittelalter gesetztes Recht vorhanden war; der deutsche Ausdruck .Willkür' zielte damals auf ein geschaffenes Recht, z.B. durch den Willensakt des Herrschers geschaffenes Recht. Das gibt es also auch im hohen Mittelalter. Nur würde Kondylis gegen diesen Einwand, der historiographisch leicht zu formulie-
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ren ist, erwidern, daß ein im Mittelalter gesetztes Recht, also gestiftetes Recht idealtypisch immer noch als vorgegebenes Recht begriffen worden sei. Insofern wäre der Einwand, daß die legale Rechtsetzungsgeschichte erst mit der Französischen Revolution oder mit dem Absolutismus beginne, aufgefangen, weil eine idealtypisch vorgegebene kosmologische Rechtsordnung stets eine Rechtsabstufung zuläßt, innerhalb derer man auch Recht setzen oder stiften konnte. Ein weiteres Kriterium gegen alle metaphysischen Festschreibungen zugunsten ihrer funktionalen Verwendungen findet Kondylis in der Konvergenz von Diesseits und Jenseits. In der gesamten Metaphysikkritik wird von ihm nachgewiesen, daß die Konvergenz von Diesseits und Jenseits in der Anthropologie, in der Soziallehre und in der Geschichtsphilosophie seit der Französischen Revolution vorausgesetzt wird. Wie in den Naturwissenschaften hat die Lehre von zwei Welten für den modernen Diskurs über menschliche Selbstorganisation keine theoretische Stringenz mehr. Alle dualistischen Lehren müssen also funktional gedeutet werden. In dieser Reduktion liegt eine konsequente Ernüchterung, die Kondylis als „deskriptiven Dezisionismus" auf ihren Begriff bringt. Dazu sei einiges gesagt, denn es ist ein eigenwilliger und kunstvoller Begriff. Der deskriptive Dezisionismus enthält sich jeder Wertung und meint damit nicht eine einzelne Entscheidung im Sinne der Dezision wie Carl Schmitt sie verstanden hat, daß nämlich der Souverän frei darüber befinden könne, wie die Gesellschaft zu organisieren sei. Sondern er meint, daß alles, was politisch überhaupt getätigt wird, strukturell immer eine Entscheidung enthält, so daß die Gegenposition immer schon mitgedacht werden muß, auch wenn sie nicht ausformuliert wird. Der beschreibende Dezisionismus ist kein Tathandlungsdezisionismus, der von Tag zu Tag empirisch eine Entscheidung verlangt. Vielmehr verweist er auf eine Vorausentscheidung: wie man sich geschichtlich für welche Grundorganisation zuvor entschieden hat, um überhaupt eine Verfassung zu erlassen. Und jede Verfassung schließt dann per definitionem alle Nichtteilhaber dieser Verfassung aus. Das ist die antiuniversalistische Pointe, die Kondylis immer stark macht, ohne sich selber damit zu identifizieren. Sein Hauptargument zielt auf die klare Beschreibung dessen, was der Fall ist, ohne sich selbst politisch oder gar dezisionistisch für das eine oder das andere mitentscheiden zu müssen. Die beschreibende Entscheidungslehre bietet eine anthropologische Grundkategorie. Sie zeigt auf, wie alle politischen Organisationen auf bestimmbaren Optionen beruhen. In gewisser Weise ist dies
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abgeleitet aus Carl Schmitts Verfassungslehre und hat einen Vorteil, den ich argumentativ stark machen möchte: Es handelt sich um eine Formalbestimmung. Man kann nicht stark genug betonen, daß Kondylis mit einer Formalbestimmung operiert, wenn er sagt, daß das antithetische Denken, das immer wieder ein- und ausschließt, Inklusion und Exklusion produziert, als politisches Denken schlechthin offen ist für jede inhaltliche Besetzung. Wer ζ. B. ein liberales Verfassungsmodell setzt, schließt damit aus, daß soziale Gleichheit mitgemeint ist. Eine liberale Verfassung zielt auf eine Rechtsgleichheit, die gleiche Chancen vor Gericht zuläßt, aber nicht eine Identifikation aller mit dem Vermögen aller fordert. Sie läßt also keine kommunistische Lösung zu. Die einer liberalen Verfassung implizite Opposition beruht zumindest auf Rechts- und Chancengleichheit, die soziale Gleichheit verbietet, weil sie die minimale Unterscheidung zwischen Reich und Arm zugunsten einer eo ipso illiberalen Massendemokratie beseitigen müßte. Darin liegt eine Kritik an der gegenwärtigen Situation, in der allseits liberal argumentiert wird, obwohl die soziale Verfassungslage zur Massendemokratie hintendiert. Dahinter steht scheinbar ein kulturkritischer Impuls. Aber der Vorteil der Argumente von Kondylis besteht darin, daß er sagt, die Opposition, die man setzt: .liberal' versus .demokratisch', ist eine formale Opposition. Niemand ist genötigt zu fordern, er möge nur liberal oder nur demokratisch sein. Er sagt, dies sei Sache der praktischen Politik. Von sich selbst sagt er nur, er beschreibe die Formalstrukturen, wie Entscheidungen zustande kommen, und enthält sich völlig der eigenen Parteinahme oder Urteilsbildung. Es ist der Gestus philosophischer, fast mystischer Enthaltsamkeit, um die Wertfreiheit als analytisches Programm in die übliche Polemik der politischen Alltagssprache hinüber zu retten. Das ist kategorial nur möglich, wenn Formalkategorien angeboten werden, die inhaltlich verschieden ausgefüllt werden. Und ich persönlich neige dazu - wenn ich das sagen darf - in ähnlichen Kategorien zu denken und möchte meine Sympathie äußern. Freilich muß hinzugefügt werden, daß solche Formalkategorien nach der Kondylischen Anthropologie zwar notwendige Kategorien jeder politischen Handlung sind, aber nicht hinreichen. Konkrete, tatsächliche Entscheidungen können per definitionem niemals aus Formalkategorien abgeleitet werden. Das ist die Aporie, die uns Kondylis hinterlassen hat und die zu lösen schwierig bleibt, zumal wir seine beiden letzten Bände nicht mehr kennenlernen können. Wir können nicht wissen, wie er sich mit dieser
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Opposition einer formal zwingend notwendigen, aber inhaltlich nie hinreichenden Bestimmung des Politischen später auseinandergesetzt hätte. Damit komme ich ans Ende. Hier liegt das Problem, das zu durchdenken uns weiter aufgetragen bleibt. Ich könnte verschiedene Beispiele dafür aufbieten; aber das will ich jetzt zugunsten der Debatte nicht tun, sondern zum Schluß Kondylis noch einmal als Person in Erinnerung rufen. Er hat immer hart argumentiert, stolz argumentiert, einseitig argumentiert, unbestechlich, analytisch und provokativ. Er selber war hart, stolz, einseitig, unbestechlich, analytisch und provokativ. So läßt sich - meines Erachtens - wissenschaftlich leben, denn wer solche Eigenschaften stellt, kann sich mit ihm auseinandersetzen. Man kann und muß hart, analytisch und unbestechlich streiten über die Positionen, die er eindeutig formuliert hat. Und man darf hinzufügen, daß seine souveräne Behandlung kausaler oder normativer Bestimmungen in der politischen Philosophie eine dauerhafte Opposition freilegt: Sozialgeschichtliche oder juristischmoralische Begründungen lassen sich nicht aufeinander zurückführen. Und wenn man einmal zur Kenntnis genommen hat, daß für politische oder moralische Argumente so gut wie für sozialhistorische, völkerrechtliche oder staatsrechtliche Argumente eine causa verwendet werden kann - daß aber zur Begründung genausogut viele causae verwendet werden können - niemals aber alle causae: dann lernt man, sich intellektuell zu bescheiden. Es ist unmöglich, alle Kausalitäten aufzuführen, die denkbar oder möglich sind. Aber die Alternative, ob ich mich auf eine causa beziehe oder auf mehrere, ist letztlich eine freie Entscheidung, die zur Qualität der Argumente nichts beiträgt. Denn daß es auch noch andere causae gibt, das wissen wir sowieso. Und es ist der große Vorteil, eindeutig zu sein, daß Mehrdeutigkeit in der Diskussion hervorgelockt wird. Darum bitte ich. Wie sagte doch Kondylis: „Es gibt ... keine endgültige Lösung und kein ungefährdetes Glück."
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Die Machiavellistudie von 1971. Zum Erstlingswerk von Kondylis.
Machiavelli im Gesamtwerk von Kondylis Die Schriften von Kondylis stehen in einem permanenten Bezug zu den Klassikern der Ideengeschichte. 2 Vor allem die Denker interessieren ihn, die gleichsam exemplarisch eine realhistorische Konstellation erfassen und zugleich Grundprobleme von Staat, Gesellschaft und Geschichte formulieren. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit Autoren wie Piaton, Aristoteteles, Thukydides, Augustinus, Thomas von Aquin, Hobbes, Locke oder Montesquieu eine bedeutende Rolle. Daß auch die Gedankenwelt von Machiavelli auf durchgehende Beachtung bei Kondylis stößt, kann nicht überraschen. Nicht nur deshalb, weil der Florentiner zu den Autoren gehört, zu denen Kondylis durch ähnliche anthropologische Grundannahmen eine gewisse persönliche Affinität empfunden haben mag, sondern auch deshalb, weil das Denken Machiavellis einen wichtigen Punkt im Ablösungsprozeß der mittelalterlichen Sozialphilosophie durch eine technizistisch imprägnierte Lehre von Politik am Beginn der modernen Lehre der Staatssouveränität bildet. Zur Letzteren gehören die Emanzipation des politischen Handelns von religiösen und moralischen Bindungen, die Anerkennung des Eigenwerts machtpolitischer Interessen, der Ausbau des modernen Anstaltsstaates mit den Säulen des Heereswesens, der Verwaltung und des Finanzwesens, sowie die Ablösung der mittelalterlichen Reichsvorstellung durch die Konkurrenz dynastisch geprägter Einzelstaaten. 3 Bei seinen Reflexionen über das Verhältnis von Moral und Politik, über die Neutralisierung und Funktionalisierung der Religion durch den Staat oder über den Zusammenhang von naturalisti-
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Arno Mohr, Politische Ideengeschichte, in: Arno Mohr (Hrsg.), Grundzüge der Politikwissenschaft. München 1997, S. 143-235. Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, Frankfurt 1990, S. 7.
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scher Anthropologie und absolutistischem Etatismus greift Kondylis öfters auf das machiavellische Argumentationsarsenal zurück. Ebenso sieht Kondylis in Machiavelli einen der Begründer des neuzeitlichen Skeptizismus und interpretiert ihn im Kontext von Montaigne, Hobbes und La Mettrie. Zugleich arbeitet er in seinen kriegstheoretischen Studien zahlreiche Parallelen zwischen Clausewitz und Machiavelli heraus. 4 So weist er nach, daß beide von vergleichbaren methodischen, erkenntnistheoretischen und anthropologischen Prinzipien ausgehen. 5 Zudem verbinde sie die Einsicht, daß die rationale Betrachtung der Kausalfaktoren nur dann zu einer adäquaten Beurteilung einer konkreten Lage führe, wenn der „Takt des Urteils", das Gefühl für Nuancen hinzukomme. Daß Kondylis neben der selektiven Verwertung der Gedankengänge Machiavellis auch eine umfangreichere Rekonstruktion von dessen politischen Ideen vorgelegt hat, ist in Deutschland fast unbemerkt geblieben. Bevor er mit seiner Dissertation über die „Entstehung der Dialektik" (1979) 6 präsent wurde, hatte er schon 1971 im Athener Kalvos-Verlag auf Griechisch eine Untersuchung zu Machiavelli veröffentlicht. In Deutschland blieb diese Arbeit unbekannt, nicht zuletzt deshalb, weil Kondylis, der ansonsten Querverbindungen zwischen seinen Werken nicht scheute, in den späteren Büchern sein Erstlingswerk mit keinem Wort erwähnt hat. Eine Abstinenz, die zu bedauern ist, da Kondylis schon in diesem Frühwerk viele der für ihn typischen Argumentationsstrategien und Fragestellungen entwickelt hat.
Realanalyse und Ideengeschiche In keinem anderen seiner Bücher hat sich Kondylis mit den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen des Denkens so intensiv beschäftigt wie in der Arbeit über Machiavelli. Wenn auch der quanti-
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Über die Bedeutung von Kondylis als Theoretiker des Krieges finden sich zahlreiche Hinweise bei Ulrike Kleemeier, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges. Piaton - Hobbes - Clausewitz. Berlin 2002. Panajotis Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels Lenin. Stuttgart 1998, S. 100. Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979.
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tative Anteil solcher Reflexionen über den Entstehungszusammenhang der jeweiligen Theorien in den späteren Werken zurückgegangen ist, an der Bedeutung der konkreten Lage für das Verständnis ideengeschichtlicher Texte hält er unvermindert fest. So finden sich in seiner Doktorarbeit zur Geschichte des Idealismus (1979) zahlreiche Einblicke in die im Gefolge der Französischen Revolution aufgetretenen gesellschaftlichen Umbrüche. Eine Einbeziehung der historischen Realität, die Kondylis auch im Aufklärungsbuch (1986)7 für die Auslegung philosophischer Texte fruchtbar macht, um sie dann bei der Untersuchung der Ideenwelt des Konservativismus zum tragenden Interpretationsprinzip auszubauen. 8 Dabei warnt er davor, die Strukturelemente einer Epoche voreilig festzulegen. Die Bestimmung des „Wesens" einer Epoche sei in der Regel das Ergebnis der Reflexion a posteriori und entspreche nur bedingt dem Bewußtsein der früheren Zeitgenossen. Dementsprechend sei auch die Formung der einzelnen Denker oft sehr unterschiedlich gewesen. Insofern sieht Kondylis im Konservativismus ein kompliziertes Ideengefüge, dessen Vertreter über eine beträchtliche Variationsbreite von Argumenten zugunsten der traditionalen, voraufklärerischen, agrarisch-feudalen und vordemokratischen „societas civilis" verfügten. Die Frage nach der Verwobenheit des Denkens mit der Wirklichkeit spielt auch in anderen Werken von Kondylis eine wesentliche Rolle. Je nach Problemstellung kommt er dabei zu unterschiedlichen Akzentuierungen. So greift er in den Montesquieu-Studien zum besseren Verständnis von „der Geist der Gesetze" (1742) ausgiebig auf biographische, theorie- und sozialgeschichtliche Rahmenbedingungen zurück.9 Hingegen beschränkt er sich in seinen Arbeiten über die Jugendschriften von Marx auf eine kurze Skizze zur Lage der Philosophie, wie sie sich nach dem Verlust des hegelschen Systemanspruchs darstellte, ohne näher auf den realen Kontext einzugehen.10
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Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986. Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze. Berlin 1996. Panajotis Kondylis, Marx und die griechische Antike. Heidelberg 1987.
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Machiavelli und sein Hintergrund Aus den vorhergehenden Bemerkungen sollte deutlich geworden sein, daß Kondylis die Analyse ideengeschichtlicher Werke je nach seinem Erkenntnisinteresse in unterschiedlichem Ausmaß auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und auf die biographische Prägung der einzelnen Autoren bezieht. Daß die Schriften Machiavellis, der nicht nur aus der Krise der florentinischen Republik heraus denkt, sondern auch zeitweise dem Entscheidungsdruck der politischen Praxis ausgesetzt war, nur durch eine genauere Analyse der sozioökonomischen Rahmenbedingungen adäquat verstanden werden können, ist offensichtlich. 11 Der occasionalistische Charakter vieler seiner Publikationen, in denen es um zeitgenössische Parteikämpfe oder diplomatische Ranküne geht, legt ein solches Verfahren nahe. Andererseits stellt sich Kondylis die Frage, inwieweit Machiavellis Sicht der oberitalienischen Verhältnisse durch die Rezeption der antiken Historiographie und Politiklehre geprägt wird. 12 Weitere Konturen gewinnt Kondylis dem Denken
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Die Abhängigkeit der Schriften Machiavellis von den politisch-kulturellen Hintergründen ist ein oft behandeltes Thema der Sekundärliteratur. In der Anerkennung der Bedeutung eines kontextuellen Zugriffs unterscheiden sich ältere Werke wie zum Beispiel René König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende, Bern 1940 nicht von neueren Interpretationen. Die Akzente werden jedoch oft unterschiedlich gesetzt. Die alternativen Interpretationen deutet König wie folgt an: „Lebte er nur, wie man seit Ranke und Macaulay zu sagen gewohnt ist, mit uns aus seiner Zeit? Lebte er nicht auch gegen seine Zeit und suchte mit aller Macht, die seinem leidenschaftlichen Herzen eignete, aus seiner Zeit zu entfliehen?" (a. a. O. S. 13 f. Zitiert) Nach wie vor bietet Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt 1982 die gründlichste Analyse des Zusammenhangs zwischen den florentinischen Zuständen und dem Denken Machiavellis. Hierzu jetzt auch der Sammelband von Herfried Münkler, Rüdiger Voigt, Ralf Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staats- und Politikverständnis. Baden-Baden, 2004. Uber die Dialektik von humanistisch geprägter Wiederbelebung der Antike und neuer Sichtweisen siehe Henning Ottmann, Was ist neu im Denken Machiavellis? in: Münkler, Voigt, Walkenhaus (Anmerkung 10), S. 145-156. Zur Antikenrezeption der gleichlautende Artikel in Herfried Münkler, Marina Münkler, Lexikon der Renaissance, München 2005, S. 14-19. Es sei festgehalten, daß für Kondylis Jakob Burckhardt(s), Die
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Machiavellis durch die Einordnung in die Philosophie und Geschichtsschreibung des italienischen Humanismus ab. 13 Neben solchen geistesgeschichtlichen Überlegungen wendet er sich auch den Grundlinien der florentinischen Wirtschafts-, Sozial-, Territorial- und Verfassungsgeschichte zu. Dabei entwickelt er einen vielseitigen interpretatorischen Zugriff, der im Folgenden nur in einigen Aspekten skizziert werden kann.
Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklungslinien Zunächst sei auf die Charakterisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Renaissance eingegangen, wie sie Kondylis im Anschluß an die Werke von Doren 1 4 , Martin 15 und Sombart 16 vornimmt. Es handelt sich um ältere Literatur, die bis heute ihren Referenzcharakter bewahrt hat. Kondylis beginnt mit einem Blick auf die oberitalienischen Stadtgesellschaften. Dort hätten sich bereits seit dem 12. Jahrhundert ökonomische Verhältnisse ausgebildet, die mit der Erosion der feudal-mittelalterlichen Produktions- und Lebensweise verbunden gewesen wären. 17 Selbstversorgung, Hauswirtschaft, Solidarität, lokale Marktbeziehungen und ständische Privilegien verloren demnach sukzessiv ihre gesellschaftliche Prägekraft und gerieten unter den Druck einer frühkapitalistischen Entwicklungsdynamik. 18 Wesentliche Elemente dieses Prozesses waren eine wachsende Uberschußproduktion, der Anstieg des Handels, die Verbreitung der Geldwirtschaft durch die Entstehung von Banken und die Ablösung der häuslichen Ökonomie durch den Aufbau von Manufakturen. Bürgerliches
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Kultur der Renaissance ( 1860) ein zentrales Orientierungswerk ist. Vor allem auch dessen Kapitel über „Die Wiedererweckung des Altertums". (Krönerausgabe S. 159-260). Zur Einordnung von Machiavelli in die humanistische Historiographie siehe Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 222 ff. Alfred Doren, Italienische Wirtschaftsgeschichte, Jena 1934. Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance, Stuttgart 1932. Werner Sombart, Der Bourgois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München 1913. Hierzu Doren siehe Anm. 13, S. 220 ff. Der Begriff Friihkapitalismus wird bei Martin in systematischer Absicht entfaltet. Siehe Anm. 14, S. 7 ff.
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Erfolgsdenken, rationale, pragmatische und utilitaristische Verhaltensweisen setzten sich zunehmend durch. Bürgerliche Verhaltensweisen, die auch von nichtbürgerlichen Gruppen übernommen wurden. A m Beispiel der Condottieri verdeutlicht Kondylis, wie unternehmerische Qualitäten der Planungskompetenz, des Organisationsgeschicks und statistischer Methoden zum militärischen Erfolg beitrugen. 19 Während die Karrieren der Condottieri einerseits als Exempel für die Rationalisierung des Verhaltens gelten können, bedeutet ihr Erfolg andererseits das Schwinden bürgerlich-soldatischer Tugenden, die für Machiavelli wesentlich zum Bestand des republikanischen Staates beigetragen hätten. 20 Eine Ambivalenz, deren er sich bewußt gewesen sei. Auch wenn die bürgerlichen Wertvorstellungen mit dem Aufbau egalitärer, konkurrenzbetonter Strukturen verbunden wurden, war die frühkapitalistische Prägung der Gesellschaft nach Kondylis weit davon entfernt, ein umfassendes und nicht mehr revidierbares Wirtschaftsgefüge zu schaffen. Eine ganze Reihe von Faktoren verhinderten den Aufbau einer dauerhaft-stabilen bürgerlichen Gesellschaft als eines durchorganisierten Tausch-, Waren- und Handelssystems. Ein noch überwiegend traditional-feudal bestimmtes Umfeld setzte der konsequenten Expansion ökonomisch modernisierter Segmente hohe Schranken entgegen. „Durch die frühzeitige Entwicklung hing der italienische Kapitalismus von einem Markt ab, der fast durchgängig feudalistisch strukturiert war, nämlich von den Konsumbedürfnissen und Geldnöten der Fürsten, Bischöfe und Könige." 2 1 Als schließlich im 16. Jahrhundert große Bankrotte hinzukamen, da die neuen Nationalstaaten die Zahlung ihrer Schulden bei den italienischen Banken verweigerten, zeigte sich die Anfälligkeit des italienischen Frühkapitalismus. Ein Kontinuitätsbruch in der wirtschaftlichen Dynamik zeichnete sich ab. So ist es nach den von Kondylis rezipierten Thesen Martins erklärlich, daß Italien zwar an der Spitze der frühkapitalistischen Entwicklung stand, keineswegs aber führend im Hochkapitalismus wurde. 2 2 Von den weiteren Ursachen, die Kondylis zur Erklärung der ökonomischen Stagnation und Rückbildung hervorhebt, seien die Kriege zwischen den Stadtstaaten hervorgehoben. Das System der fünf 19 20 21 22
Kondylis, Machiavelli, S. 17. Vergi, den Artikel Condottieri in Münkler siehe Anm. 11, S. 57-67. Kondylis, Machiavelli, S. 23. Martin, 1932, S. 4.
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großen Territorialkonkurrenten Venedig, Florenz, Mailand, Heiliger Stuhl und Neapel regelte die internen Beziehungen nicht nur durch eine ausgefeilte Diplomatie, sondern auch durch permanente militärische Auseinandersetzungen. Die Konflikte führten zu „wechselnden Bündnissen, zur Zerschlagung des Gegners und zur Aufreibung in fruchtlosen Kriegen, in denen sich die Staaten politisch und wirtschaftlich verausgabten." 23 Somit betrachtet Kondylis in diesem Zusammenhang die italienischen Kriege nicht nur unter dem Blickwinkel strategischer und taktischer Überlegungen, territorialer Vergrößerungspolitik oder als Bewährungsfeld des huomo virtuoso, sondern auch in ihren langfristigen Auswirkungen auf die italienische Gesellschaft. 24
Mentalität und Weltanschauung Nicht nur exogene Faktoren verhinderten eine schrittweise und kontinuierliche Verstärkung der modernen Strukturen, sondern die Verzögerungen lassen sich auch durch die Fraktionierung des Bürgertums erklären, das sich entlang des Interessenkonflikts zwischen Fabrikanten und Bankiers spaltete. Zahlreiche Financiers, denen das Vermögen ein müßiggängerisches Dasein erlaubte, näherten ihr Verhalten adeliger Lebensführung an. D a sie Produktion und bürgerliche Arbeit aufgaben, verstärkten sie konservative Tendenzen in der Gesellschaft. Kondylis spricht von der „Feudalisierung des Bürgertums". Große Geldbeträge wurden der industriellen Produktion entzogen und in Haus- und Landbesitz oder in Staatsanleihen investiert. 25 Zudem geriet insbesondere das florentinische Bankwesen in die Krise, als die Medici ihre Konkurrenten entweder durch schikanöse Besteuerung schwächten oder sie sogar physisch vernichteten. Rationalität, Verläßlichkeit und Chancengleichheit wurden als Pfeiler einer in die Zukunft weisenden wirtschaftlichen Ordnung außer Kraft gesetzt. Die wachsende konservative Orientierung des einflußreichsten Teils des Bür23 24
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Kondylis, Machiavelli, S. 24. Vergi, hierzu die Ausführungen von Ulrike Kleemeier in ihrer Clausewitzstudie und vor allem ihr Aufsatz „Krieg und Politik bei Machiavelli" in: Münkler, Voigt, Walkenhaus (2004), S. 83-98. Siehe auch das Machiavellikapitel bei Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst. Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoléon. Berlin 1920. Neudruck Berlin 2000, S. 131-148. Kondylis, Machiavelli, S. 21.
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gertums ging also einher mit der Errichtung eines staatlich garantierten und brutal durchgesetzten Finanzmonopols. Indizien für den Niedergang der florentinischen Industrie und des florentinischen Bankwesens, wie sie der wirtschaftsgeschichtliche Gewährsmann von Kondylis, Alfred Doren beschrieben hat. 26 In den stockenden wirtschaftlichen Abläufen sieht er einen Beweis dafür, daß die Ausbildung einer umfassenden staatlich-gesellschaftlichen Neuordnung unterschiedlichen Retardierungen ausgesetzt war.27 Solche Halbheiten, Unentschiedenheiten oder Hemmungen zeichneten sich im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur in der florentinischen Wirklichkeit ab, sondern bestimmten auch die Strukturen des Denkens; eine These, die Kondylis auf die wirtschaftliche Theorie überträgt. Viele der damaligen Traktate zur Ökonomie nahmen zwar technische Überlegungen zur Rationalisierung des Wirtschaftens auf, hielten aber an der Struktur des „Ganzen Hauses" als einer patriarchalisch organisierten Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft fest. Nicht die Befreiung der einzelnen Wirtschaftssubjekte aus den Zwängen der überlieferten Bindungen war angesagt, sondern die theoretischen Entwürfe erstrebten lediglich technisch-organisatorische Verbesserungen der Arbeitsabläufe innerhalb der überlieferten hauswirtschaftlichen Ordnung. Es ist offensichtlich, daß man noch weit von der Nationalökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts entfernt war, die zu ihrer Voraussetzung die Emanzipation der Individuen aus den traditionellen Abhängigkeiten hatte und den Wirtschaftsbürger als selbstverantwortliches und rechtlich gleichberechtigtes Subjekt anzielte. Es sind historische Zwischenlagen, in denen neue Prinzipien am Horizont der Geschichte erscheinen, von ihrer konsequenten Verwirklichung aber noch weit entfernt sind, durch die sich die Interpre26 27
Alfred Doren, Italienische Wirtschaftsgeschichte. Jena 1904, S. 675 ff. Eine Einschätzung, die auch in der gegenwärtigen Renaissanceforschung zunehmend vertreten wird. Vergi, hierzu die folgende Bestandsaufnahme von Volker Reinhardt: „Nicht zuletzt hat sich der Hintergrund von Guiccardinis Ideen und Vita, d. h. das Bild der Renaissance in Italien, im letzten Vierteljahrhundert der Forschung fundamental verschoben. Es ist - um die Koordinaten zu zeichnen - gekennzeichnet von konservativen Grundhaltungen, von ökonomischer und demokratischer Stagnation oder gar phasenweiser Schrumpfung, von einer rudimentären, nicht nur dynamischen, sondern bewußt dezentralisierender Staatlichkeit, von sozialer Beharrung und Verhärtung." Francesco Guicciardini (1483-1450). Die Entdeckung des Widerspruchs. Göttingen/Bern 2004, S.10.
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tationslust von Kondylis herausgefordert sieht. Es geht ihm darum, das Mischungsverhältnis zwischen alten und neuen Elementen zu bestimmen. Trotz aller innovativen Veränderungen im Sinne bürgerlichrationaler Normen kann nach Kondylis im 15. und 16. Jahrhundert noch nicht von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Im Gegenteil, die Renaissance, die ihren Ursprung in starken bürgerlichrationalen und dynamischen Antriebskräften hatte, sah sich im 15. und 16. Jahrhundert einer ganzen Reihe von Gegenbewegungen ausgesetzt. Schließlich hätten selbst mobile Teile der Gesellschaft wieder einen Bogen zu den Werten und Normen der alten Welt geschlagen. Martin hat diesen Prozeß als „Verhöfischung der Gesellschaft"28 bezeichnet. Kondylis betont leitmotivisch, daß eine systematisch-umfassende Bildung rationaler Strukturen nicht habe durchgesetzt werden können. Demnach befand sich die Gesellschaft der Renaissance in einer komplexen Transformationskrise. Der mit dem 13. Jahrhundert beginnende Prozeß der Ausbildung bürgerlicher Strukturen ist im 15. und 16. Jahrhundert nicht zu seiner Vollendung gekommen. Zwar haben unter dem Druck rationaler Vorstellungen theologische Gewißheiten, Frömmigkeit und christliche Moralvorstellungen ihren Einfluß auf die Gesellschaft in einem entscheidenden Ausmaß verloren, ein neues Weltansschauungssystem ist jedoch nicht an ihre Stelle getreten. „Die Ratio, grundlegendes Element der Denkweise in der Renaissance und bei Machiavelli, entfaltet sich in der Theorie nicht bis zur letzten Konsequenz, um ein ungebrochenes System von Gesetzmäßigkeiten zu schaffen, sie steht nur zur wissenschaftlichen Verfügung, sie ist der scharfe Blick, der durchdringende Strahl, eine weltliche, gesunde und antimetaphysische Betrachtung der Dinge." 29 Die Zeit für integrierende Konzeptionen, wie sie im 19. Jahrhundert Positivismus und Rationalismus hervorgebracht haben, war noch nicht da. Ein festes Ordnungssystem zum Verständnis der Welt hatte sich noch nicht entwickelt. Mit den Worten von Kondylis: „Man ist immer noch in einer Zeit, in der das mittelalterliche, religiöse Denksystem gerade erst zerstört wurde, die Welt ist in tausend Stücke zersplittert, und der Mensch weiß nicht, wo er zuerst anpacken soll, um ein neues Fundament zu legen. Er läßt das eine und versucht das andere, er eilt von einem Punkt zum anderen, es gelingt ihm nicht, ein System aufzustellen, er experimentiert und wankt ohne Unterlaß. So ist es verständlich, 28 29
Alfred von Martin (1932), S. 96. Kondylis, Machiavelli, S. 39.
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daß nicht kohäsive, organisierte Systeme, sondern offene, unausgewogene Konstrukte vorherrschen." 30 Ergebnis der so beschriebenen geistesgeschichtlichen Lage ist das Fehlen einer universellen, die ganze Gesellschaft umgreifenden Ideologie. Der aus überlieferten Sinnzusammenhängen freigesetzte Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen. Kondylis spricht in diesem Zusammenhang von der „Nacktheit des Individuums". 31 Ein Agnostizismus ohne scharfe antichristliche und antikirchliche Zielsetzung entwickelt sich. Es bleibt bei Unentschiedenheiten und Vagheiten. Ein protestantisches Gefühl der moralischen Gewißheit und Rigorisität hat in dieser Lebensordnung keinen Platz. Wie die Alltagsorientierung oft aus einem Agnostizismus in Irrationalismus abgleitet, läßt sich auch auf der Ebene der Philosophie ein Hang zum Mystizismus und zur Weltflucht feststellen. 32 Symptomatisch für diese Tendenz ist für Kondylis der Neuplatonismus, wie er sich im Umfeld der 1459 in Florenz gegründeten platonischen Akademie ausbreitete. Marsilio Ficino entwarf ein philosophisches System, in dem Piatonismus und Christentum versöhnt und zugleich um hermetische und magische Elemente erweitert wurden. Danach stand ein kleiner elitärer Kreis von Wissenden in unmittelbarer Gemeinschaft mit Gott und vertrat eine kontemplative, weitabgewandte Geisteshaltung. Der Verzicht auf eine vita activa bedeutete die Loslösung von der praktisch orientierten Ideenwelt der ersten Generation der italienischen Humanisten. 33 Ein Rückzug, der in der Literatur vielfach als Krise der humanistischen Intelligenz beschrieben wurde. 34 Der Neoplatonismus als eine Fluchtbewegung aus der sozialen Realität ist symptomatisch für eine entpolitisierte Gesellschaft, in der privat-egoistische Motive vorherrschen. Trotz seiner Bedenken gegen voreilige Generalisierungen bei der Charakterisierung von Gesell-
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Kondylis, Machiavelli, S. 53. Kondylis, Machiavelli, S. 7. Vergi, auch die Darstellung bei Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung. Berlin 1984, S. 207 ff. Peter Herde, Politik und Rhetorik in Florenz am Vorabend der Renaissance. Die ideologische Rechtfertigung der Florentiner Außenpolitik durch Colucci Salutati, in: Archiv für Kulturgeschichte 47(1965), S. 141— 220, hierS. 141 ff. Vergi. Giuliano Procacci, Geschichte Italiens und der Italiener. München 1983, S. 102 ff.
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schaftsformationen versucht Kondylis Strukturprinzipien zu nennen, die nicht nur in der Politik gültig sind, sondern deren Relevanz auch bei der Erklärung von Alltagsphänomenen und ästhetisch-künstlerischen Bestrebungen deutlich wird. „Im Gegensatz zu den strengen Sitten der alten bürgerlichen Unternehmen werden nun ästhetische Werte über politische und kriegerische Werte gestellt, die Sitten verweichlichen, man strebt nach delikaten Genüssen sowie nach ordinären Freuden des Leibes und des Geistes. Die luxuriöse Verschwendung erreicht einen Höhepunkt, während sich der Rückgang des kollektiven Geistes beim Bürgertum in der Kunst in einem Rückgang der öffentlichen Bautätigkeit - in der sich ein allgemeines Machtgefühl und kollektive Uberzeugungen ausdrücken - zugunsten der Bildhauerei und Malerei und in letzterer im Rückgang des Frescos zugunsten des transportablen Gemäldes manifestiert." 35 Es ist offensichtlich, daß hier Zusammenhänge formuliert werden, die später in einer gesteigerten Komplexität bei der Analyse der „bürgerlichen Denk- und Lebensformen" wieder zum Tragen kamen. 36
Politik und Staat in der Renaissance Die Reflexionen von Kondylis zum Politischen in der Renaissance gehen von der territorialstaatlichen Vielfalt in Italien aus. Ohne verfassungsmäßige Regelungen wie im Deutschen Reich und ohne übergreifende absolutistische Zentralgewalt wie in Frankreich nahmen viele Konflikte zwischen den einzelnen Städten kriegerische Ausmaße an. Kriegskunst und Diplomatie sind wesentliche Elemente der italienischen Staatlichkeit. Der Mobilisierung der Kräfte nach außen entsprach ein Ausbau der staatlichen Macht im Innern. Dies erforderte nicht nur die Schaffung bürokratischer Strukturen und den Ausbau des Finanzwesens, sondern auch die endgültige Beseitigung feudaler Konkurrenten. Kondylis betont, daß diese Entwicklung nicht aus dem Vorbild des normannisch-staufischen Süditalien abzuleiten sei, sondern eine spezifische oberitalienische Modernisierungsstufe repräsentiere. 35 36
Kondylis, Machiavelli, S. 22. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Massendemokratie und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1990.
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Mittelalterliche Legitimitätsmuster, die das politische Handeln an christliche Moralvorstellungen gebunden hatten und von der Priorität der universalen Mächte Papst und Kaiser ausgingen, hatten ihren Einfluß verloren. Kaiser und Papst wurden nicht mehr als besondere, ideologisch erhöhte Ordnungsmächte wahrgenommen, sondern nur noch als normale Machtfaktoren. Da kein Staat den anderen vernichten konnte, sondern höchstens kleinere Territorialgewinne zu erreichen in der Lage war, bildete sich zwischen den fünf großen Staaten Mailand, Florenz, Venedig, dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Neapel eine Art Gleichgewichtssystem aus, das erst durch die spanischen und französischen Invasionen bedroht wurde. Da es sich um relativ kleine Territorien handelte, konnte ein zügiger Aufbau im Zeichen von zwei Herrschaftsvarianten erfolgen. Während in den Republiken traditionelle Verfassungsmuster herrschten, die die Beteiligung unterschiedlicher sozialer Gruppen in einem abgestuften Entscheidungssystem ermöglichten, kam es in den Fürstenstaaten eher zu Verschiebungen in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Hier hatten in vielen Fällen die tonangebenden stadtpatrizischen Familien ihre politische Macht auf einzelne Herrscher übertragen, mit deren Hilfe sie sich gegen die zunehmenden Ansprüche der Unterschichten zu schützen versuchten. 37 Die neuen Herrscher besaßen in der Regel kaum Bindungen an die bisherigen gesellschaftlichen und politischen Eliten, so daß ihre Politik durch traditionelle, ritterliche Ehr- und Tugendpostulate nicht mehr eingeschränkt wurde. Sie hatten meist eine militärische Karriere hinter sich, konnten die verschiedenen Gruppen gegeneinander ausspielen und dem reichen Bürgertum mit der Mobilisierung der Massen drohen. Das heißt, daß sich ihr politischer Handlungsraum in einem Maße ausweitete, wie er bis dahin für Regierungen nicht vorstellbar war. Trotz der institutionellen Unterschiede zwischen republikanischen und fürstenstaatlichen Regimen erfüllten beide „in hohem Maße die Postulate, die der neue Charakter der Zeit einforderte". 38 In beiden Konfigurationen wurden tendenziell die sozialen Privilegien abgeschafft, theokratische Legitimitätsvorstellungen überwunden und zunehmend rational-utilitaristische Handlungsweisen durchgesetzt. Angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen und Notwendigkeiten ist es nach Kondylis nicht überraschend, daß Verfassungskonstruktio37 38
Kondylis, Machiavelli, S. 12. Kondylis, Machiavelli, S. 20.
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nen, die Politik zum planbaren Aktionsfeld unterschiedlicher Institutionen auf Dauer begründen wollten, nicht umgesetzt werden konnten. Das an den Arbeitsabläufen in den Manufakturen gewonnene Ideal der technischen Planbarkeit ließ sich auf die Politik nicht übertragen.
Machiavelli und das Denken aus der Krise. Nach Kondylis steht jeder Versuch einer Rekonstruktion des machiavellischen Denkens vor der Schwierigkeit, daß sich in dem weitläufigen Schrifttum des Florentiners an keiner Stelle eine zusammenfassende Darlegung seiner methodischen Prinzipien und seiner inhaltlichen Auswahlkriterien befinde. Nirgendwo drücke dieser sich „gefiltert und systematisch" aus. Seine grundsätzlichen Positionen befänden sich in Bemerkungen, die über das ganze Werk zerstreut seien und ein „dichtgewobenes Netz" bildeten. Zudem dürfe man nicht übersehen, daß die verschiedenen Elemente in Machiavellis Denken nicht nach „Vorrang oder Nichtvorrang" klassifiziert werden könnten, da man es mit einer „vielschichtigen und gleichzeitig dichten und organisch verbundenen Geisteswelt zu tun" habe. „Verstand und Phantasie, Leidenschaft und Kalkül, Analyse und Synthese, Praxis und Theorie, Gesetzmäßigkeit und Wille" machten ein „untrennbar Ganzes" aus. 39 Die Stimulanz für Machiavellis Denken lag in der Erfahrung der italienischen Krise. Die „aufgelöste gesellschaftliche Wirklichkeit" machte sich im Autoritätsverlust der staatlichen Institutionen, im Verfall des Militärwesens, in weit über das normale Maß hinausgehenden sozialen Spannungen und in der moralischen Krise der römischen Kirche bemerkbar. Machiavelli gab sich nicht mit einer Art Standortbestimmung zufrieden, wollte nicht nur „Kompilator der Handlungsmaximen seiner Zeit" (René König) sein, sondern dachte auch an eine Erneuerung, die unter zwei Perspektiven erfolgen sollte. Einmal waren das die politisch-institutionellen Ordnungsprinzipien der römischen Republik und die damit verbundenen Bürgertugenden. Zweitens trat er für einen Patriotismus ein, der nicht mit dem italienischen einheitsstaatlichen Nationalismus des 19. Jahrhunderts verwechselt werden darf. Nach Kondylis dachte Machiavelli an eine militärische Koalition der italienischen Territorialstaaten, die unter Leitung einer überragen39
Kondylis, Machiavelli, S. 96.
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den Führergestalt zur Vertreibung der ausländischen Mächte von der Halbinsel in der Lage wäre. Eine Art patriotisches Manifest, dem sich konkrete Vorstellungen zur politischen Organisation Italiens entnehmen ließen, hat Machiavelli nicht verfaßt. Auch das letzte Kapitel des Principe (1532), der „Aufruf, in Italien die Macht zu ergreifen und es von den Barbaren zu befreien", richtet sich an einen neuen Herrscher, der als großer Stratege, Friedensbringer und Einheitsstifter erhofft wird. Von einem Staats- und Verfassungsreformer ist nicht die Rede. Machiavelli konstatiert die Krise der italienischen Verhältnisse, ist jedoch weit davon entfernt, sie mit Hilfe einer geschichtsphilosophischen Fortschrittskonstruktion zu überwinden. Seine negative Anthropologie erlaubt ihm kein Denken in fundamentalen Alternativen. Die fragmentierte, kontingente Wirklichkeit kann weder in der Theorie aufgehoben noch durch Praxis in eine prinzipiell neue Qualität transformiert werden. Kondylis hebt hervor, daß die Prägung Machiavellis durch zyklische Verlaufsmodelle der Geschichte ihn zur Lehre von der „Gleichförmigkeit" der Epochen kommen lasse. 40 Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen puren Historismus, sondern eher um eine „flexible" Betrachtungsweise, die für Unterschiede und wertbestimmte Abstufungen durchaus offen bleibt. Nur so läßt sich seine Vorliebe für die alte römische Republik erklären. Es ist typisch für die Sicht von Kondylis auf Machiavelli, daß er einen scharfen Blick für Widersprüche, Inkonsequenzen und Vagheiten in dessen Werken hat. Allerdings verbindet er mit solchen Einsichten keine Abwertung des Denkers Machiavelli. Vielmehr sieht Kondylis auch an diesem Beispiel bestätigt, daß sich die Ratio bei Machiavelli wie bei allen Denkern der Renaissance noch nicht zu einem „ungebrochenen System von Gesetzmäßigkeiten" ausgebildet hat.
Biographie als Interpretationsprinzip Die Sekundärliteratur hat von jeher der Biographie Machiavellis eine große Bedeutung für das Verständnis seiner Schriften zugemessen. Bei den verschiedenen Autoren lassen sich jedoch unterschiedliche Gewichtungen des lebensgeschichtlichen Bezugs feststellen. Isaiah Ber-
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Kondylis, Machiavelli, S. 37.
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lin 41 , Leo Strauss 42 oder Dolf Sternberger 43 haben eher werkimmanente Interpretationen verfaßt, während Hans Freyer 4 4 , René König 45 , Genaro Sasso 46 und vor allem Herfried Münkler 47 breitere biographische Akzente setzen. Kondylis verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Dabei hebt er die Arbeit Machiavellis im Staatsdienst hervor. Vor allem dessen Wirken als florentinischer Diplomat, der die Interessen der Republik in den benachbarten italienischen Staaten, in Venedig, beim Vatikan, 48 am französischen Königshof oder beim Kaiser vertrat, interessiert ihn. Einerseits hatte sich Machiavelli an exakten Direktiven auszurichten, 49 andererseits mußte er angesichts der oft ruckartigen Veränderungen auf dem kleinräumigen politischen und militä-
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Isaiah Berlin, Das Streben nach dem Ideal, in: Das krumme Holz der Humanität, Frankfurt 1992, S. 21 ff. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1953. S. 184 ff. Siehe das Machiavellikapitel in: Drei Wurzeln der Politik. Band 2, Frankfurt 1978, S. 159-268. Hans Freyer, Machiavelli, Leipzig 1938. Es sei vor allem auf Freyers Schilderung der Kontakte Machiavellis zu Cesare Borgia hingewiesen. Siehe das Kapitel „Die große Erfahrung". S. 21 ff. in der Neuausgabe von 1986 (Weinheim). René König, Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende. Bern 1940. Kondylis hat das Werk von König intensiv rezipiert. Anklänge finden sich vor allem bei der Definition der Krise, die König als „offenes System" bezeichnet. Vergi. S. 19 ff. in der Neuausgabe von 1984. Genaro Sasso, Niccolo Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens. Stuttgart 1965. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz. Frankfurt 1982. Seine Mission beim Heiligen Stuhl im Jahre 1506 macht die diplomatische Taktik gegenüber dem Papst offensichtlich. Machiavelli protokollierte seine Worte wie folgt: „Eure Heiligkeit weiß, wie ergeben meine hohen Herrn jederzeit dem Heiligen Stuhle gewesen sind, und daß sie sich weder darum gekümmert haben noch jemals angestanden, sich in tausend Gefahren zu begeben, um seine Würde zu erhalten und zu vermehren." Ebd. S 326. Wie eng die Anordnungen waren, nach denen Machiavelli handeln mußte, wird aus den ihm von der Signoria erteilten Instruktionen zu seiner Erkundungsreise 1499 nach Forli deutlich. Detailliert wird sein Verhalten vorgeschrieben. Psychologisch geschickte Verhandlungsverfahren sind darin genauso enthalten wie finanzielle Zusagen oder Hinweise auf die Verdrängung der mailändischen Konkurrenz. Machiavelli, Gesammelte Schriften, Dritter Band, München 1925, S. 3 ff. Machiavelli schickte mindestens jeden dritten Tag einen Bericht.
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rischen Operationsfeld eigenständige Entscheidungen treffen. Diese Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen diplomatischem Auftrag, eigenständiger Analyse und politischem Handeln flössen in seine späteren Werke ein, denen er eine stilistische Gestalt gab, als müsse er immer noch als Sekretär die Regierung und seine Kollegen von der Richtigkeit seiner Gedanken überzeugen. 50 Kondylis unterscheidet die diplomatischen Kontakte der neueren Staaten von den Beziehungen der mittelalterlichen Territorien. Während in den früheren Verhältnissen vertikal-hierarchische Strukturen zwischen den politischen Einheiten bestimmend waren, traten in den Auseinandersetzungen der Renaissance gleichberechtigte, ebenbürtige und unabhängige Staaten nebeneinander, die sich an pragmatischrationalen Erfolgskriterien orientierten. Die damals entwickelte „politische und diplomatische Technik" führte zu einer Aufwertung des Gesandtenwesens. Seit 1450 enstanden in den italienischen Stadtstaaten effektiv organisierte Behörden, die schriftliche Berichte entgegennahmen, sie auswerteten, Archive anlegten und umfangreiche Korrespondenzen führten. Das neue Schrifttum wurde nicht nur durch realistische Betrachtungsweisen geprägt, sondern übernahm auch starke humanistisch-rhetorische Stilelemente. Träger dieser diplomatisch-analytischen Fertigkeiten waren vor allem die den Gesandten zugeordneten Sekretäre, die nicht den höheren adeligen oder patrizischen, sondern eher bürgerlichen und niederadeligen Schichten entstammten. Diese besaßen keine persönlichen Sonderrechte, waren dem Staat direkt unterstellt und „waren sehr viel mehr vom Geist der Staatsräson durchdrungen als die Gesandten selbst, die, weil sie alten Adelsfamilien enstammten, ihren Posten oft ehrenhalber annahmen und häufig überkommene Vorstellungen hatten, die hinter den unmittelbar politischen Notwendigkeiten herhinkten." 51 Kondylis beschreibt Machiavelli, der über vierzehn Jahre seine Meriten nicht nur in der Außenpolitik erwarb, sondern als Sekretär der Signoria auch zahlreiche Einblicke in die innere Verwaltung von Florenz erlangen konnte, als Prototyp dieses ehrgeizigen, nach oben
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Vergi, die kurze, aber prägnante Zusammenfassung der Tätigkeit Machiavellis als politischer Beamter in: Herfried Münkler, Rüdiger Voigt, Ralf Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staats- und Politikverständnis, Baden-Baden 2004, S. 13-29, hierS. 18 f. Kondylis, Machiavelli, S. 57.
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strebenden Beamten. „Machiavelli stand im Dienst dieses neugebildeten Staatsapparates, und über seinen Arbeitsalltag gelangte er zu einer rein staatsorientierten politischen Sichtweise." 52 In der Regel verfaßte Machiavelli kurze, prägnante Schriften wie Amtsberichte, Anträge, Reden oder Gutachten. Sie machen fast die Hälfte seiner überlieferten Schriften aus. U m den Verlautbarungen an die Regierung größeres Gewicht zu geben, ordnet er seine Ausführungen - das unterschied ihn von den meisten anderen Beamten - in einen „theoretischen Gesamtrahmen" ein. Darin erscheinen eigenständige Beurteilungen der Regierungspolitik und darüber hinausgehende Einschätzungen der allgemeinen politischen Lage in Italien. D a er in seiner Tätigkeit ständig mit handelnden Personen konfrontiert wurde, „verschwindet die apersonale und abstrakte Wahrnehmung der historischen Kräfte aus seinem Blick." Das heißt nicht, daß er das Umfeld aus Institutionen und sozialen Kräften, innerhalb dessen sich das Handeln vollzieht, mißachtet, wohl aber, daß Machiavelli Gesetzmäßigkeit nur in der Form einer „konkreten Kausalität" anerkennt, die „auf greifbare menschliche Faktoren" zurückzuführen sind. Kondylis kommt zu folgendem Schluß: „Daß er die Handlungen, die er für den Ausgang der historischen Ereignisse als bestimmend ansieht, zuerst mit der Psychologie der Menschen erklärt, die sie vollziehen, bringt eine Projektion psychologischer Faktoren und der menschlichen Natur als kausaler Faktoren in den Bereich der Geschichte mit sich. Dies war auch die höchste Vorstellung von Gesetzmäßigkeit, zu der der unechte Rationalismus der Renaissance im Bereich der Sozialwissenschaften gelangte." 53
Zum Staatsverständnis von Machiavelli Nach Kondylis geht die Erfahrung der dauernden Rivalitäten und Kriege in das Staatsverständnis von Machiavelli ein. Demnach begreift der Florentiner den Staat als „Organismus", der in ständigem Kampf mit Territorialkonkurrenten steht. Der Ausbau der inneren administrativen und institutionellen Struktur muß der Fähigkeit der äußeren Machtentfaltung dienen. Angesichts dieses Zweckes ist die „beste Form diejenige, die das ganze verfügbare Potential eines Staatswesens mobilisieren und ihm erst das Überleben und dann seine Ausdehung 52 53
Kondylis, Machiavelli, S. 127. Kondylis, Machiavelli, S. 64.
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garantieren kann." 5 4 Eine solche auf die Außenbeziehung bezogene Instrumentalisierung der inneren Ordnung ist mit einer natur- und vertragsrechtlichen Legitimierung des Staates, die die Freiheit und Gleichheit der Menschen zum obersten Zweck erhebt, nicht zu vereinbaren. Der Widerspruch der machiavellischen Staatstheorie zur frühneuzeitlichen Naturrechtslehre ist offensichtlich. Gleichermaßen impliziert diese machtorientierte Sichtweise einen Bruch mit den ontologischen und teleologischen Implikationen der aristotelischen Lehre von der Politik. 55 Der Staat entwickelt sich bei Machiavelli nicht aus der ethisch-politischen Praxis des „zoon politicon", hat nicht Glück und Wohlfahrt der Bürger zum Ziel, sondern stellt eine politische Einheit zur Bewahrung und Ausweitung der äußeren Macht dar. Schon die Gründung der ersten Staaten war nach Machiavelli in den Worten von Kondylis aus der Notwendigkeit zum Schutz vor Feinden entstanden. „So stellt sich die Gesellschaft, der Staat, als Wert von Anfang an über das Individuum; er steht in keiner inneren Beziehung zu irgendeiner menschlichen Moral, der er zu dienen versuchte." 56 Das machiavellische Staatsverständnis kennt neben dieser machtpolitischen Akzentuierung jedoch noch eine Reihe anderer Konnotationen. Dazu gehört die Unterscheidung zwischen Republik und Fürstenstaat. Beide Regime bilden jeweils bestimmte Phasen im Kreislauf der Geschichte. Ein historischer Idealzustand existiert für Machiavelli in einer Republik, in der eine Art gleichgewichtige Entsprechung zwischen Sitten, Institutionen und Gesetzen besteht. 57 Bürgerliche Tugen54 55
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Kondylis, Machiavelli, S. 125. „Aristoteles wendete eine Art historische Methode zu einem normativmoralischen Zweck an, zur Suche nach einer idealen politela, deren weitergehender Zweck das Glück des Bürgers sowie ihr inneres Gleichgewicht und ihre innere Fülle ist. So verwebt Aristoteles das Ideal des Staates mit dem Wohlergehen der Bürger, während Machiavelli zuerst an den Staat als Machtapparat denkt und an dessen Möglichkeiten, im Wettstreit mit anderen Staaten zu überleben; dieser Wettstreit und nicht eine auf das Individuum ausgerichtete Betrachtungsweise, bestimmt die Staatsform. Das ist einleuchtend, weil sich für Machiavelli in bezug auf das Individuum nicht das Problem stellt, daß man es höher bringt, auch im moralischen Sinn, sondern daß man es regiert." Kondylis, Machiavelli, S. 78. Kondylis, Machiavelli, S. 126. Diese Stufe wurde für Machiavelli in der römischen Republik erreicht. Es hat die Ideengeschichtler immer wieder überrascht, wenn sie erkennen mußten, „welch idealistische Vorstellung vom Römertum dieser
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den können sich insbesondere in der Selbstverwaltung und in militärischen Aktivitäten entfalten. Die Maßstäbe für eine republikanische Ordnung gewinnt Machiavelli am römischen Beispiel. 58 Allerdings liegt dem von Machiavelli benutzten Freiheitsbegriff nicht die Vorstellung von bürgerlicher Teilhabe oder von Rede- und Gedankenfreiheit zugrunde, sondern Freiheit bedeutet für ihn, einen „Zustand der Sicherheit und Ordnung", der es den Bürgern erlaubt, ihre Güter optimal zu nutzen und ohne staatliche Beeinträchtigung über Haus und Familie zu bestimmen. Im Anschluß an diese Auslegung von Kondylis könnte man von einem verfassungs- und politikneutralen Handlungsbereich sprechen, der nach Machiavelli in unterschiedlichen politischen Regimen seine Existenzberechtigung haben müsse. Es ist demnach Aufgabe der Politik, sie sei republikanischer oder fürstenstaatlicher Observanz, diesen Freiheitsraum zu garantieren. Politik muß lediglich dafür sorgen, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in einem Zustand des Gleichgewichts verbleiben. Ein Postulat, das Machiavelli aber nicht hindert, den „Klassenkampf" (Kondylis) als gesellschaftlichen Regulierungsmechanismus
anzuerken-
nen. Verlieren im Zuge der historischen Entwicklung die republikanischen Institutionen ihre Bedeutung und lösen sich deren sittliche und gesetzliche Grundlagen auf, kommt die Stunde des Fürsten, dessen Aufgabe es ist, die einzelnen Komponenten wieder ins Lot zu bringen. E r muß die Bedingungen für eine republikanische Restauration schaffen. Die Prinzipien des Machterwerbs und der Machterweiterung, die Machiavelli im „Principe" entwirft, sind auf diesen Zweck bezogen. Sie sind nicht so sehr Universalien einer politischen Verhaltenslehre, sondern Regeln, die ihren Sinn durch die Notwendigkeiten einer bestimmten historischen Phase erhalten. D e r „Princeps N u o v o " , so faßt Kondylis die Sicht Machiavellis zusammen, hat die Pflicht, „alle Individuen zu beseitigen, die sich über das Gesetz stellen (und
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Autor hegte, der so oft für seinen illusionslosen Realismus gerühmt wurde und wird." Siehe: Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt 1978, Band 1, S. 164. Zur Verwendung „komparativer Methoden als politikwissenschaftliches Analyseverfahren" siehe den Beitrag von Herfried Münkler, Der Imperativ expansiver Selbsterhaltung. Machiavellis komparative Begründung für die Vorbildlichkeit der Römischen Republik, in: Münkler, Voigt, Walkenhaus (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staats- und Politikverständnis. Baden-Baden 2004, S. 103-120.
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das sind zuallererst die Adligen), dann muß er den Wiederaufbau des Staates mit der Moral des Bürgers über eine gute Heeresorganisation verbinden, die somit den Boden bereitet für die Schaffung, Einhaltung und den Erhalt guter Institutionen und Gesetze." 5 9 Im Unterschied zu einem Staatsgründer, der etwas „Gottgegebenes und Priesterliches" an sich hat, aber auch in Abgrenzung zu einem Fürsten, der über eine traditionelle und dynastische Legitimität verfügt, muß der neue Herrscher, der als Usorpator die Macht im Staate übernimmt, ein breiteres Handlungsarsenal anwenden. Wenn Machiavelli in den „Discorsi" vielseitiger, demokratischer, und mehrdimensionaler argumentiert als im „Principe", darf das nicht als Widerspruch des „Republikaners" zu dem „Monarchisten" gesehen werden, sondern als Ausdruck einer theoretischen Flexibilität, die Politik im Kontext unterschiedlicher Konstellationen erfassen möchte. Bei der Lektüre Machiavellis muß deshalb beachtet werden, welche Phase des Kreislaufes gerade beschrieben wird. 60 Die moralfreien Handlungsweisen, die im „Principe" erörtert werden, sind auf die Verbesserung der staatlichen Zustände im Rahmen eines geschichtlichen Zyklus bezogen. „List und Gewalt oder deren Mischung sind weder Selbstzweck noch ein Anlaß, seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen - , sie sind unvermeidliche Mittel zur Erlangung bestimmter Ziele. Der Fürst ist ein aufgeklärter Herrscher, er hat kein Vertrauen in den Menschen, und mit Gewalt will er ihn zu einer von der Ratio geplanten Ordnung führen. D a die Menschen unvernünftig und kurzsichtig sind und sich eher vom Schein verlocken lassen, als daß sie nach dem Wesen fragen, so ist auch die Heuchelei neben der Gewalt und der List eine notwendige Maßnahme des Fürsten; wenn der Fürst jedoch zum Wohl des Staates handelt, kehrt sich am Ende der Betrug in einen Nutzen für das Volk um." 6 1 Es liegt nahe, daß Kondylis im Zuge seiner Überlegungen zum Staatsverständnis Machiavellis auf dessen Bild von Cesare Borgia eingeht. Ausgangspunkt ist das berühmte siebte Kapitel des „Fürsten", in dem die politische und militärische Erfolgslinie, aber auch die Niederlage des Gewaltherrschers nachgezeichnet werden. Machiavelli kannte
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Kondylis, Machiavelli, S. 132. Am weitesten mit der Identifizierung unterschiedlicher historischer Phasen scheint Wolfgang Kersting in seinem Machiavellibuch gegangen zu sein. Er unterscheidet acht Phasen Herrschaftserrichtung und Anarchie. Siehe Wolfgang Kersting, Niccolo Machiavelli. München 1988, S. 66 ff. Kondylis, Machiavelli, S. 137.
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Borgia gut. In diplomatischem Auftrag hatte er ihn einige Monate aus unmittelbarer Nähe beobachten können. Die positive Beurteilung des Herzogs, die er in seinen Berichten an die Signoria in Florenz formulierte, finden sich in ähnlicher Form im „Principe" wieder. Sowohl als Diplomat, wie auch als Schriftsteller erwähnt er den rücksichtslosen Machttrieb Borgias, hebt die Brutalität hervor, mit denen er viele Konkurrenten der alten Adelsschichten unschädlich machte, lobt aber zugleich sein Bestreben, der Romagna eine einheitliche politische Gestalt zu geben und der breiten Masse der Bevölkerung Wohlstand und Rechtssicherheit zu garantieren. Kondylis betont die teilweise naive Stilisierung Borgias zum idealen Herrscher durch Machiavelli, weist aber darauf hin, daß diese Sicht auf dem Hintergrund seines „leidenschaftlichen Patriotismus", der allgemeinen Heldenverehrung und des aktivistischen Individualismus der Renaissance gesehen werden müsse. Man dürfe bei einer Beurteilung von Machiavellis Perspektive nicht vergessen, daß erst seit den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nüchterner gesehen werde. Eine moderne „kausalistische Wahrnehmung der Möglichkeiten" der handelnden Personen würde dem aktivistischen und dynamischen Weltbild Machiavellis widersprechen. Es sei die spezifische Mischung von „Vision, Phantasie und Rationalismus", die Machiavelli dazu bringe, in Borgia ein Vorbild des fürstlichen Herrschers zu sehen. Dabei seien in diese Vorstellung nicht nur Merkmale der zeitgenössischen Renaissanceherrscher, sondern gleichermaßen Bilder des sizilianischen Tyrannen Agathokles, der beiden Spartanerkönige Agis und Kleomenes und der Könige der westlichen Nationalstaaten eingeflossen.62 „Somit ist die Persönlichkeit des Fürsten eine überpersönliche Synthese von Merkmalen, die sich auf verschiedene Personen verteilen, und um diese Synthese zu Kraft und Leben zu erwecken, zögert Machiavelli nicht (wie er ja auch historische Genauigkeit nie über die Ansätze gestellt hat, die ihn beschäftigen), eine von vielen Fürstenpersönlichkeiten auszuwählen und sie an den erforderlichen Stellen zu bearbeiten, bis sie seiner Idealfigur gleicht." Angesichts der Absicht
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Vergi, die Interpretation von Rüdiger Voigt, Im Zeichen des Staates. Niccolo Machiavelli und die Staatsräson, in: Rüdiger Voigt, Ralf Walkenhaus, Herfried Münkler (Hrsg.), Demaskierung der Macht. Niccolo Machiavellis Staats- und Politikverständnis, Baden-Baden 2004, S. 33-60, hier S. 45.
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Machiavellis sei die Frage, ob dieser das Leben Borgias in allen Details korrekt wiedergegeben habe, nachrangigen Charakters. Machiavelli ist nicht an einer möglichst exakten Rekonstruktion der Handlungen von Borgia oder an der detaillierten Offenlegung von dessen Motiven interessiert, sondern vielmehr an den Ergebnissen, die dieser als Heerführer und Herrscher erreicht hat. Theoretischer Hauptertrag des Kapitels über Borgia ist für Kondylis die Einsicht in die Durchsetzung des modernen einheitlichen und souveränen Staates über die in der Romagna besonders starken feudalen Uberreste. Die Integrationsleistung Borgias muß um so höher bewertet werden, als es in keiner anderen italienischen Region ein so dichtes Netz dynastisch-familiärer Verbindungen, „feudalistischer Tributverpflichtungen" und komplexer adeliger Schutzherrschaften gegeben hatte. 63 „Anstelle der sich gegenseitig zerfleischenden Lehensherrschaften setzte Borgia einen einzigen Staat, er stellte Ordnung und Frieden wieder her und verschaffte der Bevölkerung, die von den Kämpfen der Adligen gebeutelt war, Erleichterung, denn ein einziger Tyrann konnte schließlich nicht schlimmer sein als zwanzig Tyrannen." Unabhängig von der Frage und dem moralischen Problem, aus welchen Gründen Borgia gehandelt haben mag, ob er die „Region bereitwillig dem Erdboden gleichgemacht hätte" M , wenn es seinem Machtegoismus genutzt hätte, bleibt sein Verdienst die Schaffung einer staatlichen Struktur. Dies deutlich gesehen zu haben, ist nach Kondylis eine zentrale Leistung Machiavellis. Hier liege dessen Bedeutung für die Entwicklung der staatstheoretischen Diskussion. 65 Auch in seinen späteren Werken verweist Kondylis auf die Bedeutung Machiavellis bei der Ausbildung der neuzeitlichen Souveränitätslehre. 66
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Die antiaristokratische Grundhaltung des Machiavellismus betont Kondylis auch in seiner Konservativismusstudie. Siehe Kondylis, Stuttgart 1986, S. 137 f. ebd. Vergi, hierzu Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, S. 106. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, S. 82.
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Zur Rezeption des Kreislaufmodells von Polybios Während Machiavelli mittelalterliche Denkweisen „ganz einfach ignoriert", 6 7 bewegt er sich nach Kondylis dauernd im Argumentationshorizont antiker Autoren. Wichtig ist für ihn vor allem Polybios, vor allem dessen Ideen z u m Kreislauf der Staatsformen. 6 8 Wie sehr Machiavelli unter dem Einfluß der „Historien" von Polybios steht, wird im ersten Kapitel der „Discorsi" deutlich. Ein durchaus beliebtes Thema in der Sekundärliteratur, 69 dem Kondylis eigene, spezifische Akzente hinzufügt. Er kritisiert Machiavelliinterpretationen, die von einer zu großen N ä h e zu Polybios ausgehen. D a z u gehören de Sanctis, Cassirer und Dilthey. Wer die zyklischen Komponenten zu sehr betone, neige auch dazu, die technokratischen und rationalistischen Seiten im politischen Denken Machiavellis zu überschätzen. Aus einem solchen Blickwinkel gelte dann Machiavelli in Analogie zu Galilei als Begründer einer „naturalistischen und kausalistischen Wissenschaft", 67
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U m so interessanter sind die Bemerkungen von Kondylis zur mittelalterlichen politischen Theorie, vor allem zu Dantes De Monarchia und zu dem Defensor Pacis des Marsilius von Padua. Danach bewegt sich selbst Marsilius trotz seiner Betonung der kaiserlichen Priorität über den Papst und der bürgerlichen Wurzeln des Staates innerhalb traditioneller Legitimitätsvorstellungen. „Der Blickwinkel beginnt sich erst zu ändern, als die Frage der Weltherrschaft des Papstes oder des Kaisers vor der konkreten Existenz der neugeschaffenen Nationalstaaten weicht und neue Theoretiker (wenngleich Theologen und Scholastiker) auftauchen, die versuchen, das Existenzrecht des jungen Nationalstaats zu verteidigen, wie Johannes von Paris und Pierre Dubois, die beweisen wollen, daß der französische König autonom sei." Siehe Kondylis, Machiavelli, S. 27. Zur Veranschaulichung das folgende Zitat von Polybios: „Das ist der Kreislauf der Staatsformen, das die Ordnung der Natur. Danach wechseln, ändern sie sich und kehren zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Wer das klar erkennt, irrt sich vielleicht in der Zeit, wenn er über die künftige Entwicklung eines Staates urteilt; kaum geht er fehl in der Bestimmung des jeweiligen Punktes von Blüte, Verfall und Veränderung, insofern er nur frei von Zorn und Mißgunst urteilt (...) Daß alles Seiende dem Vergehen und der Veränderung unterworfen ist, bedarf wohl kaum eines Beweises; die Tatsache der Naturnotwendigkeit überzeugt uns hinlänglich." (Zitiert nach dem Auszug aus Polybios, in: Gerhard Möbius, Die politischen Theorien von der Antike bis zur Renaissance.) Es sei nur verwiesen auf Genaro Sasso, Niccolo Machiavelli. Geschichte seines politischen Denkens. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965. S.219ff.
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der das „mechanistische System der Aufklärung und des 18. Jahrhunderts und der Vulgärmaterialisten des 19. Jahrhunderts theoretisch" vorwegnehme. Kondylis hingegen betont, daß Machiavelli das Kreislaufmodell nur in abgeschwächter Form rezipiert habe. Er sieht mehrere Abweichungen vom Ansatz des Polybios. Einmal verstehe Machiavelli den Verlauf der Geschichte nicht als Ausdruck einer Emanation eines Naturprinzips, sondern sehe im historischen Prozeß lediglich empirisch feststellbare Stufenbildungen. Zweitens kenne Machiavelli keine Naturkatastrophen, die nach Polybios zwischen den einzelnen Zyklen mit Zwangsläufigkeit ausbrechen. Drittens glaube Machiavelli nicht, daß an der Geschichte eines Staates die ganze Komplexität der Stufen von der ursprünglichen Monarchie, zum Königtum und zur Demokratie erkannt werden könne. Viertens bezweifle Machiavelli die Naturgesetzlichkeit der historischen Entwicklung. Machiavelli dürfe nur ein „flexibles Kreislaufdenken" unterstellt werden. An der Stelle, an der er den Determinismus abschwäche, führe er das Handeln durch Virtù ein. „Daß aber die virtù (heute würde man sagen, „das Verdienst" eines Menschen), eine so große Rolle spielt, bedeutet, daß die Zyklizität nicht als naturalistische Zwangsläufigkeit angesehen wird, sondern als Richtung, als Tendenz der Dinge, die auch veränderlich ist oder zum Stehen gebracht werden kann, nämlich von einem, der will und die Macht hat, diese Abweichung vom Schema zu bewirken." 70 Nicht nur durch Virtù kann die historische Zwangsläufigkeit abgeschwächt werden. Auch Erziehung, Sitten und Lebensführung sind gesellschaftliche Faktoren, die zur Variation des historischen Prozesses führen können. Es ist diese Differenzierung im Kreislaufkonzept, die die Geschichte für Machiavelli offener erscheinen läßt als für Polybios. Aufstieg und Fall der Staaten gewinnen bei ihm eine aktivistische Dimension. Die Tugenden und Fehler der Staatsmänner können langfristige Entwicklungen verzögern aber auch beschleunigen. Dadurch, daß dieser die „Reichweite der mechanistischen Gültigkeit der Zyklizität" beschränke, eröffne er dem politischen Handeln einen Raum, innerhalb dessen der Virtù ein Höchtsmaß an Entfaltungschancen ermöglicht werde.
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Machiavelli und Guicciardini Vergleichende Betrachtungen über Machiavelli und Guicciardini sind in der Literatur nicht selten. 71 Auch Kondylis bedient sich zur Präzisierung seiner Aussagen über die Historiographie der Renaissance und des italienischen Humanismus solcher Überlegungen. 72 Beide Historiker hatten sich von den christlich-theologischen Vorstellungen gelöst und beantworteten die Frage nach Zweck und Verlauf der Geschichte mit der Anerkennung innerweltlicher Maßstäbe. 73 Diese mit dem Humanismus einsetzende „immanente Wende" (Muhlack) Schloß jedoch keinen Verzicht auf normative Perspektiven ein, sondern brachte neue Wertungen in die Geschichtswissenschaft. 74 So verstehen Machiavelli und Guicciardini die Geschichte von Florenz nicht mehr im Rahmen der Res Publica Christiana als Teil der Papst- und Kaisergeschichte, sondern als die Entwicklung eines autonomen Stadtstaates, zu dessen Legitimierung sie auf die Fiktion einer ursprünglichen kommunalen Freiheit zurückgreifen. Neben solchen geschichtsphilosophischen Voraussetzungen sind Machiavelli und Guiccardini durch ihre Lebensläufe miteinander verbunden. Während sich Machiavelli als Autodidakt in die antik-humanistische Bildungswelt einarbeitete, studierte Guicciardini in Ferrara und in Pisa Jurisprudenz und erwarb in Padua den Doktortitel. 75 Beide gehörten zum florentinischen Stadtpatriziat und wurden in den damals expandierenden Staatsdienst übernommen. Als Diplomaten vertraten sie Florenz an auswärtigen Höfen. Guicciardini, dessen weitverzweigte Familie um vieles reicher und angesehener war als die des verarmten Machiavelli, stand zeitweilig im Dienst des Medicipapstes Clemens VII. Beide verfaßten umfangreiche Werke zur Geschichte
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Das am stärksten systematische Werk ist nach wie vor Felix Gilbert, Machiavelli and Guicciardini: Politics an History in Sixteenth-Century Florence. Princeton 1965. Kondylis, Manuskript, S. 41 ff. und insbesondere S. 57. Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus. München 1991, S. 44 ff. Zur Diskussion um den theoretischen Status der Renaissancehistoriographie vergi. Andreas Cser, Neuerscheinungen zur Historiographiegeschichte und historischen Methodik, in: FRANCIA. Forschungen zur Westeuropäischen Geschichte. Band 20,2 (1993), S. 133-138. Volker Reinhardt, Francesco Guicciardini (1483-1540). Die Entdeckung des Widerspruchs. Göttingen 2004, S. 22.
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von Florenz, äußerten sich zu aktuellen politischen Fragen, lehnten eine religiös-theologische Begründung für die Katastrophe von 1495 ab, wie sie für Savonarola bezeichnend war und analysierten die Beziehungen der Staaten unter dem Gesichtspunkt von Machtgleichgewicht und Machtkonflikt. 76 Auch in ihrer Ablehnung der kaiserlichen, französischen und spanischen Einflüsse auf Italien waren sie sich einig. Ebenso findet sich bei ihnen eine Fülle kirchenkritischer Bemerkungen. Daß sich ihr Denken jedoch auch in einer ganzen Reihe von Punkten unterscheidet, hat Kondylis skizzenartig hervorgehoben. Guicciardini vertritt demnach eine abgeklärt-skeptische Weltsicht mit resignativen Grundzügen. 77 Machiavelli hingegen drängt auf Veränderungen, seine Haltung gegenüber der Realität ist „aktiv und im Grunde optimistisch". 78 Obwohl auch Guicciardini „bestimmte Ideale", wie die Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft oder die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses vertritt, ist er weit davon entfernt, sich wie Machiavelli von einer „Staatsvision begeistern" zu lassen oder sich in der Erinnerung an Rom zu „berauschen". Die starke Betonung der normativen und emotionalen Seite im Denken Machiavellis durch Kondylis mag überraschen, ist in der Sekundärliteratur aber nicht selten anzutreffen. So hat jüngst Volker Reinhardt die „radikale, ja extremistische republikanische Staatsräson Machiavellis" hervorgehoben und zugleich darauf hingewiesen, wie sehr sich die Rezeption der römischen Geschichte in den Werken der beiden florentinischen Historiker voneinander unterscheide. 79 Während Guicciardini nach Kondylis geschichtliche Ereignisse „exakt und geduldig" in aller Breite schildert, quellenkritisch und methodisch behutsam vorgeht und leugnet, „daß es überhaupt ein allgemeines Gesetz gebe, das ein praktisches Engagement nach sich ziehen könnte", betrachtet Machiavelli den historischen Stoff unter einem ganz anderen Blickwinkel. Er beschreibt „die Geschichte nicht als Historiker, sondern als Politiker." Er will die Ereignisse nicht durch mühsame Quellenarbeit klären, sucht nicht nach den entscheidenden Faktoren, sondern orga-
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Peter Burke, Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung. Berlin 1984, S. 209. Herfried Münkler/Marina Münkler, Lexikon der Renaissance, München 2000, Artikel „Geschichtsschreibung", S. 140. Kondylis, Machiavelli, S. 109. Volker Reinhardt, Francesco Guicciardini (1483-1540). Die Entdeckung des Widerspruchs. Göttingen 2004, S. 75.
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nisiert das „Ganze über grundlegende Werte", die gleichsam leitmotivisch seine historischen Analysen überlagern. Er verliert sich nicht in isolierte Detailanalysen, sondern sucht nach allgemeinen, seine Wertungen bestätigenden Zusammenhängen. Seine Arbeitsweise ähnelt denen der humanistischen Historiker, die oft unterschiedliche Quellen willkürlich miteinander verbinden. „Machiavelli war also kein Anhänger und auch kein Vorreiter der historischen Methode und der historischen Schule. Er nimmt aus der Geschichte unkritisch das heraus, was zu seinen im voraus gebildeten Ansichten paßt, und nicht selten verdreht er die Ereignisse, um seine eigenen Vorstellungen zu belegen, vor allem seinen politisch-praktischen Kanon." 8 0 Ein Verfahren, das sowohl in den Discorsi als auch in der Geschichte von Florenz breite Anwendung findet. Machiavelli wendet es insbesondere bei der Beschreibung von Personen an, die sich seines Erachtens für die Rolle eines Fürsten anbieten. So werden seine Beschreibungen der Herrscher in der Regel durch idealtypische Vorstellungen überformt. Demnach ist eine niedrige soziale Herkunft eine Qualität, durch welche die Autonomie, Unabhängigkeit und Flexibilität des Herrschers erhöht werden. Zudem muß der Princeps über genügend Brutalität verfügen, um bei Bedarf adelige Mitkonkurrenten beseitigen zu können. Drittens sollte er keine Kinder haben, weil es nicht seine Aufgabe ist, eine eigene Dynastie zu begründen, sondern den Staat durch funktionierende Institutionen zu sanieren und den Ubergang zu einer Republik einzuleiten. In thesenartigen Formulierungen bezeichnet Kondylis die Position Guicciardinis als „subjektiven Hermetismus". Darunter sei eine geistig-politische Haltung zu verstehen, die sich „in einer engen Welt" einschließe und darauf verzichte, die „empirischen Gegebenheiten zu überwinden". Dieser Rückzug aus einer vita activa sei bezeichnend für den in der Verfallsphase des italienischen Humanismus weit verbreiteten Intellektuellentypus, für den die Welt „jeden Fixpunkt verloren" habe und „unsicher und trübe" geworden sei, 81 eine Charakterisierung, die zwar eine idealtypische Gegenposition zu Machiavellis Voluntarismus verdeutlicht, in ihrer Uberbetonung quietistischer Elemente der differenzierten Handlungstheorie Guicciardinis jedoch 80 81
Kondylis, Machiavelli, S. 83. Kondylis führt diesen Mentalitätswandel auch auf das „Abgleiten des Landes" zurück, das dem etwas jüngeren Machiavelli in diesem Ausmaß noch nicht bewußt gewesen sei. Kondylis, Machiavelli, S. 110.
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nicht gerecht wird. Dessen vielfältige und langjährige Erfahrungen in der päpstlichen und florentinischen Verwaltung und Politik beeinflußten seine historischen und zeitgeschichtlichen Schriften, die sich durch komplexe Konstellationsbeschreibungen auszeichnen. Dabei geht er behutsamer und analytischer als Machiavelli vor. Lösungsmöglichkeiten erörtert er vorsichtig und spitzt sie nicht auf die radikale Alternative des machiavellischen Entscheidungsparadigmas des EntwederOder zu. Aus der Sicht Guicciardinis ist die Hoffnung auf einen Fürsten, der als uomo virtuoso in die Geschichte eingreift und „nach der Wiederherstellung guter Gesetze freiwillig weicht", illusionär.82 Es gibt also bei Guicciardini eine plausible Verbindungslinie zwischen historisch-kritischer Quellenauswertung, geschichtsphilosophischer Abstinenz (Leugnung des Kreislaufmodells und Ablehnung des Lernens aus der Geschichte) und einem zwar vorhandenen, aber eher zögerlichen Praxisverständnis. Drei Ebenen, auf denen Kondylis seinen Vergleich zwischen den beiden florentinischen Denkern durchspielt. Obwohl er die Schwächen Machiavellis im Umgang mit den geschichtlichen Quellen sieht, obwohl er den manipulativ-politischen Charakter von dessen historischer Argumentation hervorhebt, scheint seine persönliche Vorliebe eher auf der Seite Machiavellis zu liegen als auf der Guicciardinis. Das Dezisionistisch-Voluntaristische scheint ihm sympathischer zu sein als das Deliberativ-Reflexive. Von daher läßt sich wahrscheinlich auch die negativ klingende Kennzeichnung der Position von Guicciardini als „subjektiven Hermetismus" erklären. Andererseits ist jedoch unbestreitbar, daß die Ausführungen von Kondylis überwiegend von einem wertfreien Duktus durchzogen werden. Es gelingt ihm, auf wenigen Seiten und in knappen Sätzen das Werk zweier bedeutender Autoren im Spannungsfeld ihrer Biographien, Wertungen, philosophischen Grundsätze und ihres politischen Handlungshorizonts konzise zu interpretieren. Das Fundament für viele weitere Studien war damit gelegt.
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Volker Reinhardt, Franceso Guicciardini (1483-1540). Die Entdeckung des Widerspruchs. Göttingen/Bern 2004. S. 115.
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Von der Ideengeschichte zu „Macht und Entscheidung"
Die beiden aus der Heidelberger Dissertation durch thematische Teilung hervorgegangenen Werke „Die Entstehung der Dialektik" (1979) und „Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus" (1981) nannte Kondylis gelegentlich einen ideenhistorischen Aufweis der existentiellen Bedeutung von Ideen - aber in einem gänzlich anderen als von Piaton gemeinten Sinn. Der erste Satz des Aufklärungsbuches, daß für alle Philosophie die Beziehung zwischen Geist und Sinnlichkeit zentral ist, gibt zum einen den vielen und auch widerstreitenden Richtungen der Aufklärung die alle verbindende Gemeinsamkeit und verweist zum anderen auf ein bedeutsames anthropologisches Faktum, das erklärt, weshalb sich an der Interpretation dieser Beziehung zu allen Zeiten der Ideenstreit erheben muß. Es ist ein Faktum unter vielen, das anthropologische Thesen mit ihren Implikationen beispielhaft erläutert, die von Bedeutung für die Philosophie von Kondylis sind. Er trägt sie in seinem dann folgenden Buch „Macht und Entscheidung" (1984) vor, für das die beiden ideengeschichtlichen Arbeiten in vielfacher Hinsicht die Voraussetzungen lieferten, beweisen sie doch die Fruchtbarkeit der auf diesen Thesen begründeten Interpretation. Der anthropologische Ansatz fordert eine mehrdimensionale Interpretation bzw. macht den Verzicht auf eindimensionale Vorannahmen normativer Art allererst möglich. Die anthropologischen Grundannahmen bestimmen also die Hermeneutik, und die in der Ideengeschichte gewonnenen Ergebnisse bestätigen und erweitern wiederum die Kenntnisse anthropologischer Sachverhalte; (deren weiterer Aufdeckung wandte sich Kondylis nach anderen geistesgeschichtlichen Arbeiten mit der „Sozialontologie" zu.) Die Beziehung von Geist und Sinnlichkeit ist für die Aufklärung wichtig, weil sie sich - entsprechend der üblichen und von Kondylis geteilten Deutung - als Bewegung gegen die christliche Theologie verstand. Sie polemisierte gegen die antik-christliche Auffassung vom Geist, dem als oberste Schicht des Seins Zugang zum Göttlichen und damit zum Normativen zugesprochen wird und die unter ihm stehen-
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de Sinnlichkeit gemäß der Normen lenkt. Das Programm der Aufklärung war gegen die christliche Theologie, ihre Ontologie und asketische Moral gerichtet und zielte deshalb auf die Rehabilitation der Sinnlichkeit. Diese Zielsetzung verlangte, so lange der theologische Gegner stark war, eine Definition der Sinnlichkeit bzw. der Natur in einer solchen Weise, daß ihr Werte und Normen zugesprochen wurden. Entsprechend war auch die Vernunft anders zu bestimmen; sie ist nicht mehr der wichtigste Teil einer vorgegebenen, festen Seele, sondern etwas, das sich allmählich aufgrund von Außeneindrücken entwickelt. Indem die Erfahrung als für den Verstand wesentlich einbezogen wird, erfährt die materielle Welt eine Höherbewertung. Diese vermag der Mensch mit seinem Verstand zu erfassen und auch zu beherrschen, weil er selbst Teil der Natur ist, - nicht anders als es seine Sinnlichkeit ist. Die Triebe und deren Bedürfnisse werden so gedeutet, daß sie einer Askese nicht unterworfen werden müssen. Nach einer solchen Beschreibung können auch Sinnlichkeit und Vernunft in Harmonie zueinander bestehen. In dieser Weise zeichnet in der Folge der Aufklärung die „Weimarer Klassik" das für das Bürgertum bis zum Niedergang seiner Denk- und Lebensform im 20. Jahrhundert verbindliche Menschenbild. Je nach dem Definitionsschwerpunkt begründen Sinnlichkeit und Vernunft Empirismus und Sensualismus der Aufklärung. Die sinnlichmaterielle Welt, die einer rationalen Erfassung fähig ist, muß wohlgeordnet und beständig sein und ist gegenüber der Welt des transzendenten und reinen Geistes ontologisch nicht unterlegen. Aus der Aufwertung der materiellen Welt folgt die Betrachtung des Menschen als Naturwesen und der Primat der Anthropologie - eine Traditionslinie, der Kondylis mit seiner Philosophie verbunden ist. Der Rationalismus der Aufklärung, welcher zur Strömung des neuzeitlichen Rationalismus insgesamt gehört und durch seine Wendung gegen die antik-christliche Ontologie dessen kritischer und aufregendster Teil ist, verlangt nach Kondylis eine Unterscheidung des Rationalismus in Empirismus und Intellektualismus; der Rationalismus der Aufklärungsbewegung ist ein Empirismus, der sich gegen das richtet, was als kirchlich-christlicher Intellektualismus mißbilligt wird. Wie sehr bei dieser Unterscheidung taktische Erwägungen wirksam sind, beweist Kondylis im Falle von Descartes. Dieser war wegen seines Bestrebens, die Scholastik zu überwinden, für die Aufklärung zunächst ein wichtiger Helfer bei der Aufwertung der Sinnlichkeit. Doch in dem Maße, wie ihr theologischer Gegner schwächer wurde, war Des-
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cartes als Verbündeter überflüssig geworden; er wurde durch seinen Zweifel an der sinnlichen Gewißheit und der Absolutsetzung des von der Sinnlichkeit unabhängigen Intellekts, durch das Propagieren von geometrischer Methode und Mathematik schließlich zum Feind. Ähnlich doppelgesichtig war die Berufung auf Newton, denn er stand für die Erfaßbarkeit der Natur durch den Verstand. Doch die Mathematisierung in der Physik wurde von der Aufklärung herabgesetzt, da auch darin eine Hochschätzung intellektualistischer Abstraktion gesehen wurde. Offenbar bedingt das dynamische Element der geistigen Kämpfe, daß sich die Interpretation der leitenden Ideen und Begriffe mit dem Stand der Auseinandersetzung verändert und damit auch die Bestimmung von Freund und Feind. Manche der zur Aufklärungsströmung gehörenden Weltbilder mußten marginal bleiben, wie die aus der Hochschätzung der Sinnlichkeit entstandene logische Möglichkeit eines Materialismus mit seinen nihilistischen Konsequenzen, die von La Mettrie und De Sade formuliert wurden. Denn diese Folgerungen lieferten dem theologischen Gegner geeignete Argumente im Kampf um den sozialen Führungsanspruch, weil dieser eine gemeinschaftsstiftende Sinngebung voraussetzt und bewußtes Leben und Sinnpostulat zusammengehören. Uber diese soziale Einbindung kann sich auch ein solcher Nihilismus nicht hinwegsetzen, da er als sozialfeindlich bekämpft werden muß; er stellt, wenn er in den Kampf der Ideen eingreift und für seine Wahrheit eintritt, für Kondylis einen Widerspruch in sich dar. Denn dann setzt er in die Negation von Sinn seinen Wert und Sinn, in das, was zerstörerisch für das Individuum und das Soziale ist. Ein widerspruchsfreier, (anspruchsvoller) Nihilismus muß zur Sinnfrage schweigen. Von diesem Dilemma ist der von Kondylis vertretene Nihilismus ausgenommen, da er diesen nicht explizieren muß; er bestimmt ausschließlich die wissenschaftliche Grundhaltung, die eine unparteiische, von normativen Setzungen freie Historiographie erlaubt. Eine für das Soziale verträgliche Sinnsetzung verlangt, wie fast alle Philosophien belegen, zwischen Geist und Sinnlichkeit zu trennen, denn dann hat der Geist am Absoluten und Normativen teil. Der Geist ist hier nicht nur Ordner der empirischen Erkenntnis, sondern wird als Träger von letzten Wahrheiten gedeutet und ist nicht auf die Erfahrungswelt eingeschränkt. Seine Berufung auf überempirische Einsicht erlaubt ihm Aussagen über das Sollen. Beispiele aus der Philosophiegeschichte belegen, daß sich der Geist auf ein „wahres" Sein und Sollen beruft, die Lehre vom Sein und Normatives eine Einheit
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bilden. Deshalb wurde in der Aufklärung eine Metaphysik entwickelt, in welcher der Naturbegriff die Stelle des Geist- bzw. Gottesbegriffs einnimmt; es wurde alles für eine Abgrenzung gegen Skeptizismus und Nihilismus unternommen, wobei sich die meisten Autoren bewußt oder unbewußt über die aus ihren Axiomen folgende Logik dann hinwegsetzten, wenn sie ζ. B. zu skeptischen oder nihilistischen Folgerungen hätten kommen müssen. Weitere Widersprüche entstehen dadurch, daß ein Denker auf seine Gegner argumentativ umfassend Punkt für Punkt eingeht und dabei ihre logischen Fehler spiegelbildlich wiederholt. Wie sehr alle Lehren, welche die soziale Absicherung und damit Verbindlichkeit beanspruchen, nur rationalisierte Setzungen sind und im Dienst des Machterhaltes stehen, belegt Kondylis mit dem christlichen Lehrsatz von der Gottebenbildlichkeit des Menschen bei gleichzeitiger Sündhaftigkeit. Letztere muß postuliert werden, denn sie bietet die herrschaftssichernde Komponente. Die Gegenlehre muß, will sie eine Chance auf soziale Verbindlichkeit erreichen, den Widerspruch der Konkurrenz spiegelbildlich nachvollziehen: Mit der Erklärung von der Sündelosigkeit des Menschen wird dieser gottähnlich und folglich Gott geschwächt und überflüssig. Diese Erhöhung des Menschen, so läßt sich über die der Aufklärung nachfolgende Geistesgeschichte ergänzen, provoziert wiederum zu einem weitertreibenden Widerspruch, der sich in einer Verachtung des Menschen niederschlagen kann, ζ. B. in Benns Diktum „die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch". Kondylis erklärt die Ursache für den ewigwährenden Kampf um die richtige Weltanschauung und die „Wahrheit" nicht mit einem individuellen Ehrgeiz, sondern sieht ihn grundsätzlich im Denken selbst. Jeder Denker setzt sich deshalb von dem ab, was andere seiner Gegenwart oder Vergangenheit schufen, weil das Denken selbst polemisch ist. „Jede Position entsteht als Gegenposition" (Aufklärung, S. 24). Dieses Denken bedient sich der Ideen als Waffen, um sie im Kampf der Weltdeutungen ins Feld zu führen, wobei über ihre Eignung die jeweilige historische Situation bestimmt und damit über das, was Wahrheit ist. Deshalb ist es irreführend, eine einheitliche Definition der zentralen Begriffe zu unterstellen, denn jede Philosophie bleibt an eine bestimmte geistesgeschichtliche Lage gebunden. „Natur" und „Freiheit" sind in der Aufklärung - und in anderen Epochen - vieldeutige Begriffe. Sie sind auf eine bestimmte politisch-soziale Lage eingestellt, in welcher der jeweilige Begriff, bezogen auf ein bestimm-
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tes Weltbild, ein Machtmittel darstellt. Der Streit um Begriffe ist der Streit um ihre Interpretation. Damit ist ein wichtiges Argument sowohl gegen eine materialistische als auch idealistische Deutung der Geistesgeschichte gegeben; das Polemik-Modell kann seine Vielfalt offenlegen. Als erster - noch vor Schopenhauer - hat in zeitlicher Nähe zur Aufklärung bekanntlich der Dichter Heinrich von Kleist die aus der Schätzung der Sinnlichkeit nahegelegte anthropologische Erkenntnis vom Trieb als Motor des Denkens (ζ. B. im Aufsatz „Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden") skizziert und damit die von Augustin in die christliche Lehre implantierte platonische Vorstellung, daß der Verstand die Triebe wie ein Wagenlenker die Pferde stets unter Kontrolle hat, auf den Kopf gestellt. Auch bringt Kleist das Streben des schöpferischen Menschen sich im Wettstreit zu messen anschaulich in den Zusammenhang mit dem Ehrgeiz, mit dem, was wir heute als Selbstverwirklichung bezeichnet würden. („Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler") Der Künstler, erklärt der Dichter dem Maler, beziehe sein Selbstbewußtsein aus seiner Schöpfung und müsse sich von seinem Meister befreien, „da ihr euch doch ganz und gar umkehren, mit dem Rücken gegen ihn stellen, und, in diametral entgegengesetzter Richtung, den Gipfel der Kunst, den ihr im Auge habt, auffinden und ersteigen könntet." Doch damit ist das, was für Kondylis an diesem Streben existentiell ist, nur vordergründig erfaßt. Die materialistischen Implikationen von Kleists Thesen machen verständlich, daß sie bei den Zeitgenossen auf Vorbehalte stießen, die sich - wie es ζ. B. Goethe tat - das historisch erfolgreiche Menschenbild von der Harmonie der Vermögen erwählt hatten. Für den Ideenhistoriker bedeuten die anthropologischen Einsichten, daß das Denken eines Autors in all seinen Verästelungen dann verständlich ist, wenn es als ein Ganzes - auch unter Berücksichtigung abgelegener Teile - und wenn es im Zusammenhang mit dem von konkurrierenden Denkern gesehen wird. Kondylis begründet eine Hermeneutik, bei der die widerstreitenden und einander ergänzenden Autorenantworten auf bestimmte anthropologische Konstanten hin durchschaubar werden. Diese werden systematisiert in „Macht und Entscheidung": Der Selbsterhaltungswille ist der Antrieb bei der Entwicklung des Säugetiers Mensch, und diese konnte um so erfolgreicher verlaufen, je zuverlässiger die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Sinnesdaten in der chaotischen Vielfalt des Wahrgenommenen getroffen wurde; was für die Gattung gilt, gilt auch
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für das Individuum. Die Entscheidungen, welche die Hierarchisierung der Daten bestimmen, werden unbewußt getroffen und verlieren sich „großenteils in der unergründlichen biopsychischen Wurzel der Existenz" (Kap. II). Denn es ist der Selbsterhaltungswille, der - hier wird im Sinne Schopenhauers argumentiert - die Unterscheidungsfähigkeit, den Intellekt hervorbrachte und damit die Selbsterhaltung des Mängelwesens Mensch verbesserte. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß Willensakt und Erkenntnisakt zusammengehören. Sie sind nicht voneinander trennbar, denn ein Erkennen ist nur als ein wollendes Erkennen möglich und ein Wollen, in dem der Selbsterhaltungstrieb einbezogen ist, erfüllt Erkenntnisfunktionen und ist ein erkennendes Wollen. Das Wollen kann nur in der Bindung an eine Denkform oder einen Denkinhalt etwas wollen, also sind Denken und Wollen auf untrennbare Weise miteinander verbunden. Diese Einsicht steht im Widerspruch zur platonischen Position bzw. dem christlich-antiken Menschenbild mit seiner Trennung von Denken und Wollen, was, wie gesagt, konstitutiv für die im Metaphysischen gründenden Weltbilder als Sinngeber ist. Die Sinngebung ist mit der Identität des Subjekts verflochten. Die Modelle für die Ordnung der Wahrnehmungswelt findet es vor, denn es ist in eine kulturgeformte Welt hineingeboren; es schafft diese wesentlich nicht selbst, sondern trifft unbewußt eine Auswahl aus dem, was z.B. Mythen, Religionen und Ideologien usw. anbieten; das Kollektiv ist durch eine Gemeinamkeit der Perspektive verbunden. Indem das Subjekt die Wahrnehmungswelt ordnet, bestimmt es sich, gewinnt es seine Identität; „ohne geordnete Welt gibt es keine Identität" (Macht und Entscheidung, S. 17). Die aufgrund der Entscheidung gewonnene perspektivische Sicht verbindet sich unauflöslich mit der Identität, denn die Tätigkeit des Subjekts bekommt innerhalb eines bestimmten Weltbildes seinen Sinn. Folglich sind die Wahrnehmung ordnenden Entscheidungsakte und die Identität in einer spezifischen Grundhaltung miteinander verbunden. In jedem Weltbild wird das, was ist, rational durchdrungen und möglichst vollständig in seinen Prinzipien erfaßt, denn nur so kann eine Weltanschauung überzeugend sein. Im weiten Sinn bedeutet „Rationalismus" demnach die zweckmäßige und logische Verwendung der Mittel, die das Denken zur Verfügung stellt, um eine bestimmte Weltanschauung überzeugend zu begründen. Diesen auf einer normativ aufgeladenen Axiomatik errichteten logischen Begründungszusammenhang braucht der „Irrationalismus" nicht; er erklärt die logischen
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Brüche und Ungereimtheiten mit der Berufung auf Gesetze der Metaphysik, die denen der Logik überlegen seien. Allerdings gilt bei der Entscheidung zwischen Rationalismus und Irrationalismus gleichermaßen, daß derjenige, der sich für ein bestimmtes Weltbild entscheidet, dabei nicht den Gesetzen der Logik folgt, denn die Entscheidung für die Logik erfolgt aus Gründen, die jenseits davon liegen. Weil das Weltbild aufgrund des Selbsterhaltungsstrebens universell sein soll, denn es soll für alle Fragen Orientierung anbieten, hält das Subjekt dieses Weltbild, dem es seine Identität verdankt, für objektiv. Also bedeutet eine andere Weltsicht das Infragestellen der eigenen Identität und damit deren mögliche Bedrohung. Darauf muß das Individuum in der jeweiligen konkreten geschichtlichen Lage durch Entscheidungen zur Sicherung des eigenen Machtanspruchs bzw. der Selbsterhaltung reagieren. Für den Menschen als Gemeinschaftswesen steht die jeweilige Entscheidung für ein Weltbild stets in Konkurrenz zur Entscheidung anderer Individuen. Jede Entscheidung ist auf Selbsterhaltung hin getroffen, für die es Verbündete braucht und deshalb müssen Diskussionen, welche die Grundlagen von gelebten Weltanschauungen betreffen, unfruchtbar bleiben: Es ist ein historischer Sonderfall, wenn aus einem Saulus ein Paulus wird. Auf der existentiell entscheidenden Basis des Weltbildes ist festgelegt, wer Freund und wer Feind ist; diese Unterscheidung ist für Kondylis das Wesen der sozialen Beziehung selbst. Sie ist nicht wie bei Carl Schmitt auf das Politische eingeschränkt; (vgl. hierzu Peter Furth, Uber die Sozialontologie von Panajotis Kondylis.) Für die aufgrund der jeweiligen Perspektive getroffenen Entscheidungen kann im Extremfall die Bewahrung der nach und nach entstandenen Identität wichtiger sein als die Bewahrung der biologischen Existenz, denn der Selbsterhaltungswille, der durch den Verstand ins Ideelle erhoben und zum Glauben an den Sinn des Lebens geworden ist, kann stärker sein als die biologische Sinngebung; die Kultur ist hier eindringlich an die Stelle der Natur getreten. Für das Gemeinschaftswesen wird das Streben nach Selbsterhaltung in der Konkurrenz mit anderen zur Selbststeigerung. Der soziale Bezug zwingt den einzelnen auch dazu, seinen Machtanspruch zu verkleiden, daß er so erscheint, als würde er ausschließlich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Die Befriedigung von elementaren Trieben muß sich in das Prokrustesbett von Normierungen zwängen, sich Disziplinierungen auferlegen und beweisen, daß es dem Allgemeinwohl verpflichtet ist. Das, wodurch sich das Subjekt auszeichnen will, muß es
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als objektiv geboten darstellen. „Macht kann sich nur als das Andere oder das Gegenteil von sich selbst behaupten und erweitern" (M. u. E., S.51). Die soziale Organisation verlangt diese Art der Rationalisierung des Selbsterhaltungs- und Machtstrebens, weil die Gesellschaft nur so das Verhalten ihrer Mitglieder kontrollieren kann und nur die Disziplinierung durch Kultur kann die Bedingung dafür geben, daß sich das Kollektiv nach innen vor Egoismen, nach außen vor Feinden schützen kann. Jede Kulturleistung ist als Produkt dieser Disziplinierung zu verstehen und jene erbringt das Subjekt, um das Bedürfnis nach Selbststeigerung zu stillen. Das existentiell vom Subjekt Gewünschte kann nur in der Verleugnung der unmittelbar gewollten Befriedigung angestrebt werden. So wie die Erfüllung des Bedürfnisses nach Selbststeigerung asketisch dessen Verleugnung voraussetzt, so entlastet der Verstand vom Triebbedürfnis, indem er mit dem Versprechen einer zeitlich späteren, aber um so perfekteren Triebbefriedigung den Triebaufschub, also Askese erzwingt. Denn der Verstand ist unersättlicher als die reine Sinnlichkeit. Wollen und Denken sind aufs engste verflochten, das bedeutet auch, daß der Verstand nicht Werkzeug des Triebes ist, sondern sich durch die Vergemeinschaftung des Menschen in dem Maße emanzipert, wie sich jener sublimiert. Das rastlos Faustische des Menschen ist für Kondylis Ausdruck der vom Verstand hingehaltenen und verfeinerten Triebbedürfnisse, nicht wie im Verständnis von Hobbes eines nur intelligenten Uberlebenstriebes, der eine mögliche Gefahr vorwegzunehmen versucht, wenn jener den Menschen als Tier mit dem Hunger von morgen bezeichnet. Kondylis stellt dem ein Gemeinschaftswesen entgegen, das sich vom biologischen Selbsterhaltungstrieb befreien kann. Das vom einzelnen Subjekt Gewünschte erhält den Anschein des Objektiven und nicht Hintergehbaren. Deshalb kann der Feind wirksam bekämpft werden, weil die Entscheidung des Einzelnen in Gestalt einer bestimmten Weltsicht für ihn objektiviert erscheint und dabei der rein existentielle Charakter der Entscheidung verdeckt ist. Auch verleugnet der Verstand des Einzelnen seine polemische Natur, weil das Erwünschte vernünftig und objektiv erscheint. Die Perspektivität der Aussage wird ausgeblendet; nur wenn sie als objektiv ausgegeben wird, kann die inhaltliche Aussage überhaupt getroffen werden. Das beweist die Geistesgeschichte, zu der auch das dazugehört, was wir als Naturwissenschaften bezeichnen und am ehesten für „objektiv" erklären.
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Der Mensch erfaßt mit dem Verstand die Welt zwar nur situativ und perspektivisch, aber er vermag, indem er die perspektivische Bedingtheit der von ihm produzierten Weltbilder begreift, diese auch zu überwinden. Eine objektive Erkenntnis der menschlichen Dinge ist für Kondylis möglich, wenn auf eine normativ aufgeladene Betrachtung verzichtet wird. Die Wertfreiheit ist mit der Einsicht in den polemischen Charakter des Denkens wesentliches Element seiner Hermeneutik. „Das mag paradox klingen, und dennoch gehören, bei Licht besehen, theoretische Wertfreiheit und Anerkennung der Überlegenheit des wert- und normgebundenen Denkens auf praktischem Gebiet unzertrennlich zusammen. Denn restlos wertfrei ist eine Betrachtung nicht schon dann, wenn sie sich der Subjektivität und Relativität der Werte bewußt bleibt, sondern erst dann, wenn sie ihrerseits auf die Rolle des Aufklärers und Therapeuten - kurzum: des Führers - ganz und gar verzichtet: die Neigung zum Normativismus entspringt ja nicht zuletzt dem Begehren, eine solche Rolle zu spielen." (M.u. E. S. 9) Für diese Vorgehensweise, den „deskriptiven Dezisionismus", gilt das von ihm vorausgesetzte Modell ontologischer Tatsachen, es gilt für ihn die eigene Denkvoraussetzung, die Metatheorie allen menschlichen Tuns. Die Geltung erweist sich darin, daß das Verstehen der Denkvoraussetzungen der miteinander wetteifernden Denker tiefe Freude bereitet, die auf einem sublimen Machtgefühl gründet, denn geistige Lust ist, wie Kondylis meint, stärker als sinnliche. Das Gefühl wird auch nicht dadurch getrübt, daß die Ergebnisse des Nachdenkens für sozial unwirksam eingeschätzt werden, weil das Verstehen in einer nihilistisch wertneutralen Sicht außerhalb von Machtkämpfen steht. Nur in Krisenzeiten, wenn keine Weltanschauung Verbindlichkeit erlangt, kann diese Beschreibung Gehör finden, doch sie kann auch sie ist Ausdruck der Selbststeigerung - nicht auf Verbündete rechnen, weshalb sie ein besonderes Maß an Selbstverleugnung und Disziplin verlangt; insofern können wir hier mit anderen Gründen als sie Piaton hatte in das Lob einer solchen Philosophie einstimmen. Die Ergebnisse der Beschreibung sind nicht vor einer Instrumentalisierung durch die verschiedensten Interessen geschützt, doch das, was als eine unmittelbare Parteinahme ausgelegt werden könnte, ist nur ein Plädoyer für den Schwächeren und das hat seinen Grund darin, daß wir gewöhnlich nur die Seite des Stärkeren hören, weil die Geschichte der Sieger schreibt und nicht der neutrale Wissenschaftler.
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Aufklärer ohne Mission Uber die Position von Panajotis Kondylis
Kondylis meinte, eine Philosophie sei am besten über ihre Gegnerschaften zu begreifen. Hier soll von einer anderen Seite her versucht werden, die Kondylissche Position auszumachen, gewissermaßen von innen her, von Fragen und Problemen aus, die auf dem eigenen Terrain seines Denkens liegen, nämlich innerhalb der Zurechnungen, in die Kondylis selbst sein Denken stellte oder die doch im Umkreis davon liegen. Die Spur dazu legt die Rolle, die die Paradoxie bei Kondylis hat. Sie ist für ihn nicht Stilmittel wie für den Aphoristiker, sondern Mittel der Gedankenführung insbesondere beim Stellen der Probleme. Sie ist aber auch als Ausdruck einer Erkenntnishaltung eine ungelöste Spannung, die durch das ganze Werk geht. Bezieht man das Denken von Kondylis auf die Disziplinen, Richtungen und Problemlagen, denen er sich selbst zuordnete, so bemerkt man bald die Sperrigkeiten und Unstimmigkeiten, die erklärt sein wollen, wenn man das Kondylissche Denken aus ihm eigenen oder doch naheliegenden Zuordnungen verstehen will. So ist Kondylis zweifellos ein Aufklärer, aber ein Aufklärer ohne Mission. Der Ideologietheoretiker Kondylis tritt nicht als Ideologiekritiker hervor, sondern glänzt in der Rolle eines Ideenhistorikers, der ohne den Begriff des falschen Bewußtseins auskommt. Und die von Kondylis behauptete theoretische Überlegenheit seines Materialismus manifestiert sich im Aufweis der praktischen Überlegenheit idealistischer Weltsicht. Solche paradoxalen Befunde machen den Versuch, die Kondylissche Position zu bestimmen, nicht gerade einfach, aber sie zeigen auch, welche Fragen zu stellen und welche Scheinlösungen zu vermeiden sind, wenn man die Positionsbeschreibung an der von Kondylis selbst herangezogenen philosophischen Tradition und seiner eigenen Begrifflichkeit orientiert. Das bedeutet, daß die Beschaffenheit des Materialismus, in den Kondylis sein Denken einreiht, im Mittelpunkt der Überlegungen steht und daß im Zusammenhang damit zu fragen ist, wie sich Materialismus als Weltanschauung und als hermeneutisches Konstrukt („deskriptiver Dezisionismus") zueinander verhalten.
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Kondylis schreibt am Ende von „Macht und Entscheidung": „Ich finde es aufregend und spannend, daß auf diesem Planeten die Materie oder die Energie, wie man will, zum Bewußtsein von sich selbst gekommen ist, daß es Wesen gibt, die in ihrem Machterweiterungsstreben den .Geist' in der ganzen Vielfalt seiner Formen und seiner erstaunlichen Spiele erzeugen und sich am liebsten mit Hilfe von Glaubenssätzen und Theorien gegenseitig vernichten." Kondylis gibt hier seine Antwort auf die berühmte Grundfrage der Philosophie: Es gibt ein Erstes, das alles Weitere, auch das Gegenteil seiner selbst generiert, das nicht nur Anfang, sondern alles ist und das lediglich durch diesen Status, Erstes und Alles zu sein, bestimmt ist, was aber inhaltlich eine leere Bestimmung ist, die sozusagen dadurch erst aufgefüllt wird, daß das Erste nicht das von ihm abhängige Gegenteil, Geist, ist. Das Erste, Materie oder Energie, wie Kondylis sagt, ist also eigentlich nur negativ zu fassen: als Nicht-Geist. Aber dadurch, daß dieses Erste alles ist, ist auch festgelegt, daß es, obwohl selber nur als Reflex des Geistes bestimmt, die Macht über den Geist behält und der Geist nicht selbständig werden kann. Was Kondylis in diesem Satz aus „Macht und Entscheidung" als Grundannahme seiner Theorie formuliert, ist eine metaphysische Black Box. Oder anders: Materie ist im Kondylisschen Ansatz gewissermaßen ein Grenzbegriff, der ein Ding an sich anzeigt, das im „hermeneutisch unzugänglichen" (M.u. E., 21) Jenseits einer Grenze liegt, deren Diesseits allein erkennbar und deshalb theoretisch relevant ist. Erst von da an, „wo die Regungen der organischen Materie zu dem werden, was wir Denken und Geist zu nennen pflegen" (M.u.E., 21), wo die Materie die Gestalt von Gesellschaft und Kultur angenommen hat, ist Materialismus als wissenschaftliches Unternehmen möglich. Der Materialismus, den Kondylis vertritt, ist also eingeengt auf die anthropologische Perspektive; die naturphilosophische Dimension mitsamt dem ontologischen Unterbau, wie ihn einstmals Holbachs „System der Natur" oder der dialektische Materialismus des Marxismus-Leninismus lieferten, bleiben ausgeklammert.
Das Modell Protagoras Kondylis nimmt damit an einer Spannung teil, die von Anfang an den Materialismus zwiespältig machte. Sie trat schon im Gegensatz zwischen Demokrit und Protagoras hervor. Demokrit, vom Objekt, von der äußeren Natur ausgehend, sah im Atom als elementarer Form
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des Stofflichen die Grundlage aller Erscheinungen und begründete damit denjenigen Materialismus, der seine Stärke in der Substanzkategorie hatte. Ihm trat Protagoras entgegen, indem er vom Subjekt, vom Menschen als Bezugspunkt ausging und gegen Demokrits Gedankenkonstrukt Materie die menschliche Sinnlichkeit als unmittelbare Gegebenheit der Materie stellte, womit dem Materialismus das praktische Feld als Gegenstand der Theorie eröffnet wurde. In diese von Protagoras gestiftete Tradition stellt sich Kondylis ausdrücklich. Die Grundzüge und Problempunkte seines Denkens sind in dem Protagoreischen Ansatz wie in einem Modell angelegt. Der Mensch, den Protagoras zum Maß aller Dinge erklärt, ist nicht der Mensch nach seinen allgemeinen und wesensmäßigen Eigenschaften, sondern der Mensch als Einzelner mit seinen einzelnen Wahrnehmungen und Empfindungen. Ein derart bestimmtes (bedingtes) Maß, gebunden an die punktuelle sinnliche Gewißheit und jeweils in den Beziehungen der Einzelnen erst durchzusetzen, ist selber relativ und muß deshalb in Gegensätzen auftreten, die wahrheitsindifferent sind. Protagoras' zweites Axiom bringt das auf die Formel: Entgegengesetzte Behauptungen sind gleich wahr. Folgt man Protagoras, bedeutet das, daß Maß nicht etwas Gegebenes, Vorfindliches ist, sondern auf Setzung zurückgeht, auf Menschen als Maßgebende und daß damit das Maß eine Machtfrage ist. Die Relativität des Maßes führt zur Entscheidung durch Macht. Demgemäß hat eine durch Protagoras inspirierte Wissenschaft vom Menschen ihr Erkenntnisfeld in Politik und Geschichte. Das klassische Modell dieser Wissenschaft hat Thukydides geschaffen. So sieht es jedenfalls Kondylis. Auf Thukydides als Mentor beruft er sich denn auch, wenn er die Geschichte in den Mittelpunkt einer materialistischen Sicht der Dinge stellt und dabei Geschichte derart auffaßt, daß in ihr der Kampf um Macht die gleichbleibende Struktur innerhalb eines Prozesses wechselnder Inhalte ist. Der theoretische Bogen, den Kondylis hier schlägt, reicht bis zum .historischen Materialismus' des Marxismus, nur daß in Kondylis' „historischem Relativismus" (in dem, was man die Kondylissche Version des historischen Materialismus nennen könnte) die Konstante des ökonomisch bedingten Klassenkampfes zu einer Variablen relativiert und dem politisch konzipierten Machtkampf subsummiert wird. Diese Verschiebung der Determinanten geht auf die Erfahrungen mit dem Sowjetkommunismus zurück, die Kondylis veranlaßt haben, den Marxismus auf die Reichweite einer Gesellschaftstheorie ohne Geschichtsphilosophie einzuschränken.
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Von Protagoras zieht sich noch eine andere Problemlinie durch den Materialismus, die auch bei Kondylis bemerkbar ist. Auch sie knüpft, aber unter einem anderen Gesichtspunkt, am Protagoreischen Sensualismus an, nämlich von der Frage her, wie das Maß inhaltlich zu bestimmen sei. Wenn die Empfindung den Zugang zu den Dingen bestimmt, dann leistet sie dies nicht nur als Wahrnehmung, sondern auch als körpereigene Wertung, als Drängen nach oder Vermeiden von, als Trieb oder als Mangel, als die Empfindung von Lust oder Unlust. Und Lust und Unlust sind es, die den Inhalt des Maßes bilden, wenn es um Wünsche, Zwecke, Zukunftsvorstellungen geht; dann machen Lust und Unlust den Wertmaßstab des Handelns aus. Von dieser Seite her kam es immer zu Schwierigkeiten im Materialismus. Das Lust-/Unlustmotiv war mit dem Machtmotiv des Handelns nur schwer zu vereinbaren; es hemmte die in der Auseinandersetzung mit der Natur erforderliche Negativität des Handelns, stellte das Handeln überhaupt eher still, als daß es seine Dynamik förderte. Und weiterhin: Damit, daß der an Lust und Unlust orientierte Handlungsmaßstab dem Einzelnen in seiner sinnlichen Selbstgegebenheit überantwortet war, stand die Sozialität des Handelns prinzipiell in Frage. Schon im ersten sensualistisch angelegten Materialismus war also ein Hedonismus enthalten, der zu einem anarchischen Individualismus tendierte. Das stellte den Materialismus, gerade wenn er im Kampf gegen Religion und Transzendenzmetaphysik die pragmatische Kompetenz auf dem Feld des Sozialen in Anspruch nahm, vor große Probleme. Wie Kondylis auf sie durch seine Rangierung von Macht und Lust reagiert, ist für das Verständnis seines Ansatzes entscheidend und muß deshalb ein Hauptpunkt bei der Positionsbeschreibung sein. Die Reihe der Schwerpunkte, die sich aus dem Protagoreischen Modell ergeben, ist noch in einer anderen Kondylis besonders kennzeichnenden Richtung fortzuführen. Gemeint ist damit die Stellung des Geistes im sensualistischen Materialismus. Wenn das Maß der Dinge in der Sinnlichkeit des Menschen sein Kriterium hat und erst im Kampf zwischen Einzelnen um die Macht der Maßgebung zu bestimmen ist, dann bleibt dem Geist nur noch die Funktion des Machtmittels, die eines Organs, das die Sinnlichkeit mit anderen (die Sinnlichkeit potenzierenden) Mitteln fortzusetzen hat. In der Logik dieses Ansatzes steht auch das Kondylissche Denken. Zwei zu explizierende Momente an diesem Ansatz beschäftigen Kondylis dabei besonders. Der Geist als Organ oder als Machtmittel ist dann am potentesten, wenn er auf das Ganze des Seienden geht und eine nor-
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mative Weltsicht zur Verfügung stellt, in der sich aus der Erkenntnis der Seinsordnung auch die der Wertordnung ergibt. In der funktionalen Sicht hat der Geist also eine Doppelrolle; zusammen mit dem Anspruch auf allgemeingültige Erkenntnis des Seinsganzen ist er das Instrument und der Ausdruck eines partikularen Machtstrebens. Als ein solcher widersprüchlicher Zusammenhang ist der Geist Ideologie, oder wie Kondylis auch formeller und damit neutraler sagt, Weltanschauung. Nun gilt aber das, was Kondylis über Weltanschauung bzw. Ideologie feststellt, auch für den Materialismus, was die Frage aufwirft, ob und in welcher Weise die theoretische Kompetenz des Kondylisschen Ansatzes davon mitbetroffen ist. Die Klärung dieser neuralgischen Frage liegt bei seinem Konzept des „Wertnihilismus", weil in ihm theoretischer Ansatz und Materialismus als Weltanschauung zueinander ins Verhältnis gesetzt sind. - Einige der hier versammelten Punkte sind nun näher zu betrachten.
Selbsterhaltung Unter den Begriffen, die bei Kondylis eine operative Funktion haben, ragt der Begriff der „Selbsterhaltung" wie eine Zentralkategorie hervor, indem er die Grundbefindlichkeit alles Lebenden und damit auch den Seinsmodus in Gesellschaft und Kultur bezeichnet. Als analytische Letztgegebenheit steht Selbsterhaltung für den axiomatischen Ausgangspunkt, von dem aus die Prozesse in Kultur und Gesellschaft zu rekonstruieren sind. Damit der Begriff dies leisten kann, muß allerdings die sprachlich naheliegende, aber irrtümliche Fixierung des Terminus auf einen statischen Zustand vermieden werden. Denn in Wirklichkeit ist die Selbsterhaltung nicht ein Zustand, sondern ein Vorgang, ein Streben, weswegen nicht der Zustand der Bedürfnisbefriedigung, sondern der Mangel den Ausgangspunkt der Begriffsbildung abgeben muß. Nur so kann der Zukunftsaspekt des Selbsterhaltungsstrebens richtig getroffen werden; aus der Unmöglichkeit einer dauerhaften Balance von Mangel und Befriedigung ergibt sich die Antizipation neuer Mangelsituationen, was hinwiederum die vorhandenen Sicherheitsbedürfnisse steigert. „Das ist der Grund, warum Selbsterhaltung ohne Selbststeigerung langfristig unmöglich ist. Und da Selbsterhaltung eine Funktion von Machterhaltung ist, so muß sich die Selbststeigerung in handfeste Machtsteigerung umsetzen." (M. u. E., 34) Kondylis setzt also da an, wo infolge der Entwicklung der organischen
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Materie die Selbsterhaltung die Form erweiterter Reproduktion angenommen hat, wo die „biopsychische" Existenzform der Materie als Identität von Selbsterhaltung und Machtstreben auftritt und physische Macht schließlich durch das Hinzutreten des Geistes potenziert wird. In diesem Sinn liegen Selbsterhaltungs- und Machtstreben als „anthropologische Grundgegebenheiten" (Der Philosoph und die Macht, 22) seiner Theorie von Kultur und Gesellschaft zugrunde. Damit Selbsterhaltung dauerhaft gelingen kann, ist als Voraussetzung die Koordination von objektiven Bedingungen und subjektiven Fähigkeiten vonnöten. Kondylis entwirft dafür ein Modell, in dem diese Koordination als Leistung von Weltanschauung erklärt wird: Damit, daß Weltanschauung die Welt auf Umwelt, d. h. auf eine Welt, die wie ein Gehäuse (oder auch wie ein Wahn) orientierungssicher ist, zuschneidet und zugleich auf Seiten des Subjekts eine entsprechende Identität schafft, wird die Selbsterhaltung in einen sicheren und erweiterbaren Rahmen gestellt. Die Entscheidung (decisio), wie Kondylis das weltanschauliche .Zuschneiden' der Welt nennt, um den subjektiven, willkürlichen Charakter dieses Vorgangs zu betonen, geht von drei Subjekten aus, von Gattung, Gruppe und Einzelnem. In welchem Verhältnis diese drei Entscheidungsebenen zueinander stehen, ist problematisch, zumal Kondylis in diesem Punkt einigermaßen unbestimmt bleibt. Teilweise handelt es sich dabei um eine Uberordnungsstruktur mit der Richtung von der Gattung zum Einzelnen. In diesem Sinn ist die Gattung als genetisch übergeordnetes Evolutionssubjekt zuständig für die Ausbildung eines elementaren universal übergreifenden Wahrnehmungsapparates, der die sinnlichen Konstanten in den Weltbildern der Gruppen und Einzelnen vorgibt. Auch die Beobachtung, daß die kollektive Selbsterhaltung überwiegend wertevermittelt ist und gerade daraus ihre Stärke gewinnt, legt die Vermutung nahe, daß in der Sicht von Kondylis Selbsterhaltung und Weltbilder auf der Ebene der Einzelnen eher nachgeordnet sind. Andererseits hat die Annahme, daß sich die Ebenen und die ihnen zugeordneten Subjekte verschieden und in wechselnder Stellung zueinander verhalten, ebenfalls einen gewissen Rückhalt in Kondylis' Gedanken, nämlich in seiner These, daß dem Materialismus eine nihilistische Tendenz innewohnt und daß für den Nihilismus das „Selbsterhaltungsmotiv zentral" (Aufklärung, 493) ist. Denn das bedeutet eine Selbsterhaltung, in der der Imperativ der sinnlichen Bedürfnisse an die Stelle von Werten und Normen tritt, mit der Folge, daß im Widerstreit kollektiver und individueller Selbsterhaltung der Akzent auch bei letzterer liegen
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kann. Gerade an dieser Stelle ist die Erinnerung daran angebracht, daß Selbsterhaltung als Annahme über die Grundveranlagung der Lebewesen ein stoisches Theorem zur Abwehr der hedonistischen Eudaimonie war (Diogenes Laertius VII, 85, 103). In der Stoa hatte Selbsterhaltung die Bedeutung einer von der Natur angeordneten und vom Menschen ideell zu übernehmenden Haltung, die, die Teilhabe an der Ordnung des Ganzen bekundend, Voraussetzung für eine vernunftgeleitete Lebensführung sein sollte. Von Machtstreben kann in Bezug auf das stoische Theorem der Selbsterhaltung nur indirekt auf dem Umweg über Enthaltung und Entsagung von sinnlichen Genüssen und materiellen Gütern die Rede sein; Macht stoisch verstanden: Selbstbeherrschung als Weg und Ausdruck der Teilhabe an der kosmischen Ordnung. Das galt noch für Spinoza, auf den als bewundertes Vorbild sich Kondylis gerne beruft. Bei Kondylis ist Selbsterhaltung ausschließlich als ein naturalistisches Modell zu verstehen. Allerdings ist im Hintergrund so etwas wie eine alles umschließende kosmische Natur noch erahnbar.
Macht Macht steht für Kondylis unter positivem Vorzeichen, denn sie ist Existenzbedingung und prospektives Sicherungsmittel der Selbsterhaltung. Damit ist sie nicht nur thematisch ein Zentralmotiv seines Nachdenkens, sondern bestimmt auch die Eigenart seines Ansatzes. So vielgestaltig und situationsbedingt, wie Macht existiert und wirkt, ist sie mit substanzialistischen Identifikationen nur unzureichend zu verstehen. Hier liegt der eigentliche Grund dafür, daß Kondylis den in der neueren Theoriebildung dominierenden Funktionalismus übernimmt, obschon eine gewisse der substanzialistischen Tradition im Materialismus geschuldete Zurückhaltung dabei erkennbar ist. Macht ist durch und durch relativ. Sie drängt ohne eigenes Maß und eigenen substanziellen Inhalt nach mehr. Sie ist ständig grenzüberschreitender Anspruch. Die Unruhe des Anspruchs-auf-etwas ist ihre eigentliche Daseinsweise. Sie steht dadurch immer im Bezug auf andere Macht und kann nicht anders als in der Gegensatzform existieren. Mit dem Machtanspruch ist der Feind als notwendiges Korrelativum mitgesetzt, und zwar so vielgestaltig wie der Widerstand ist, der dem Selbsterhaltungsstreben im Wege steht. Kondylis treibt diesen Gedanken bis in die paradoxe Konsequenz. In den Weltbildern, die jeweils
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auf der Grundlage eines Machtanspruches entstehen, hat der Feind, indem er alles Negative repräsentiert, das der Selbsterhaltung entgegensteht, eine derart bestimmende Rolle, daß Weltbilder als umgekehrte Feindbilder verstanden werden können. Kondylis meint also, daß Macht nur dann hinlänglich zu beschreiben ist, wenn grundsätzlicher Ausgangspunkt die Erkenntnis ist, daß Macht den Feind nicht nur zum Objekt hat, sondern im Gegenzug durch den Feind auch begründet wird. Kondylis vertieft diese Paradoxie noch weiter. Sie betrifft nicht nur die Rolle des Feindes im Verhältnis zur Macht, sondern vor allem auch die Erscheinungsweise der Macht selber. In dem Maße, in dem die Selbsterhaltung um ihrer selbst willen diszipliniert werden muß und dabei die unmittelbaren Bedürfnisse der sinnlichen Existenz in asketische Regie genommen werden, wechselt die Macht ihre Gestalt und erscheint als Gegenteil ihrer selbst. Gehört es zum Dasein in der Kultur ohnehin, daß „Beherrschung und Befriedigung von existenziellen Bedürfnissen des öfteren einander im Wege stehen", so besteht die „fundamentale Ambivalenz (..) des sozialen Lebens" darüber hinaus darin, „daß die Befriedigung gerade auf dem Umwege dessen erfolgt, was der Beherrschung dienen soll." (M. u. E., 50) Die Normen und Institutionen, die zwischen individueller und kollektiver Selbsterhaltung einen ideellen Ausgleich herbeiführen sollen und sich eigentlich gegen die für die Selbsterhaltung gefährlichen Machtansprüche richten, werden selber Machtmittel, in denen die abzuwehrenden Ansprüche incognito unterkommen können. Triebbedürfnisse und materielle Interessen begrenzen sich, aber realisieren sich auch in der Gestalt ideeller Normen und Institutionen, und Macht setzt sich durch in der Gestalt der Negation oder der Zähmung von Machtansprüchen. Kondylis spricht angesichts dieser Umkehrungsstruktur von einer allgemeinen „Paradoxie in der Kultur" (M.u.E., 51). Sie nötigt auch der Macht ihre Erscheinungsform auf; unter ihrer Bedingung gilt: „Macht kann sich nur als das Andere oder das Gegenteil von sich selbst behaupten und erweitern." (ibid. 51) Kein Wunder, daß sich Kondylis nicht in die machtkritische Mehrheitstradition der Philosophie einreiht, da er, von der Allgegenwart der Macht ausgehend, noch in dem utopischen Versuch der Machtabschaffung den Machtanspruch entdecken kann. Er dringt zu dem Punkt vor, wo die Verwandlung der Macht in Idee stattfindet und die „Selbstverleugnung des Machtanspruchs" (ibid. 51) undurchdringlich wird. Dieser Punkt liegt dort, wo das Opfer das Verhältnis zwischen
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individueller und kollektiver Selbsterhaltung reguliert. Denn das Opfer als Zeugnis für etwas, das über das bloße Leben erhaben und wertvoller als dieses ist und deshalb den Tod mit Sinn belohnen kann, schafft eine Sphäre des Glaubens an den Sinn des Lebens, in der Macht und Geist ununterscheidbar werden. Als die ideelle Gestalt des sozialen Machtanspruchs wird der Glaube an den Sinn des Lebens zu einem Postulat, das als Maß den Aufbau und die Formen des Sozialen bestimmt und wie eine Generalnorm über Teilhabe am Sozialen und Ausschluß davon entscheidet. Die Selbsterhaltungsfunktion des Sinnglaubens ist für Kondylis derart eng mit der Gesellschaft verbunden, daß er von der Gesellschaft als „Selbsterhaltungsanstalt" spricht (ibid. 52). An der Legitimation durch den Glauben an den Sinn des Lebens kommt kein Machtanspruch vorbei, mit der Folge, daß der Machtkampf die Form des Weltanschauungskampfes, des Kampfes um Normen und ihre Interpretation, annimmt. In dieser Verflechtung mit Norm- und Wertfragen intensiviert sich der Machtkampf zur Bereitschaft des äußersten Einsatzes der Existenz und ist im Hinblick auf seine asketischen Voraussetzungen von idealistischer Ethik nicht zu unterscheiden. Wertidealismus und Machtrealismus verhalten sich über weite Strecken gleichsinnig. Das müßte, meint Kondylis, dem Idealismus eigentlich klarmachen, daß die stereotype idealistische Identifizierung von Macht- und Luststreben analytisch unhaltbar ist. „Der Weg zur Macht fällt bestimmt nicht mit dem Weg des Hedonismus zusammen (...)." (M.u.E., 74)
Hedonismus Nun ist aber der lebensweltliche praktische Materialismus in irgendeinem Maße immer hedonistisch. Das an der kollektiven Selbsterhaltung orientierte Machtstreben wird den Hedonismus nicht los; nach jedem Erfolg der sozialen Macht meldet er weitergehende Ansprüche an. Die anarchische und individualistische Tendenz dabei ist unverkennbar und von keiner sozialen Macht wirklich vertreibbar. Das wirft Fragen auf, die Kondylis von zwei Seiten aus unschädlich machen will. Das radikale Progamm der Lust als Endzweck ist entweder utopisch oder unhaltbar, weil es mit den Erfordernissen der Selbsterhaltung und der sozialen Disziplinierung unvereinbar ist. Aber auch das Programm der Mäßigung und des Kompromisses führt nicht weit. Kondylis hält sich eng an Freuds Theorie der kulturellen Uberformung der Lust
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durch Aufschub, Umlenkung und Sublimation und führt den unaufhaltsamen Sieg des Realitätsprinzips vor, allerdings ohne das Bedauern Freuds über die Kosten dieses Sieges. In der Kultur, die ihren Effekt der Verkoppelung antiasketischer Ziele und asketischer Mittel verdankt, hat die sinnliche Lust nur einen niedrigen Eudaimoniewert. Ihr eigentlicher Status, der einzige, der für sie Gewinn abwirft, besteht darin, motivationale Ressource und Begleiteffekt des Machtkampfes zu sein. Angesichts eines solchen Befundes billigt Kondylis dem Hedonismus nur eine begrenzte theoretische Kompetenz zu: „Die sozialen Grenzen des Hedonismus bilden zugleich die Grenzen seines Verständnisses der sozialen Wirklichkeit (...)" (Der Philosoph und die Lust, 34) Aber mit diesem Statement ist die Bedeutung des Hedonismus für Kondylis' Ansatz nicht vollständig zu erfassen. Man denke nur an die Rolle, die der Hedonismus in Kondylis' Interpretation der Aufklärung spielt. Die Aufklärung stand unter dem Ziel der „Rehabilitation der Sinnlichkeit" und den Weg dahin sollte die restlose und wertfreie Anwendung des Verstandes weisen. Abstrakt läßt sich daraus die Aufklärung als eine Einheit verstehen, konkret aber war sie durch konkurrierende Vorstellungen über Weg und Ziel gespalten. Kondylis zeigt in seinem Aufklärungsbuch, daß die Sinnlichkeit, d. h. die Natur nach dem Maß des Menschen, für die Aufklärer ein doppeltes Gesicht hatte. Sie war einerseits Natur im Sinne eines normativen ethischen Modells und andererseits eine sinnfreie, kausal determinierende Kondition. Zwei entgegengesetzte Formen von Moral waren die Folge: Moral als autoritative Interpretation des normativen Aspekts der Natur und Moral als die Verbindung von kausaler Naturerklärung und Konvention. Nach dem Maß dieses Gegensatzes war die Aufklärung in sich gespalten. Mehrheitlich war sie auf die Aussicht fixiert, das moralische Erbe von Religion und Transzendenzmetaphysik antreten zu können, und war deshalb gegenüber der Trennung von Natur und Norm zurückhaltend und auf Mäßigung bedacht, um den erhofften ideellen Herrschaftswechsel nicht zu gefährden. Demgegenüber blieb die Fraktion in der Minderheit, die den vom Aufklärungsziel verlangten theoretischen Rigorismus in die extreme Konsequenz trieb und die Sinnlichkeit zum Maß der Bildung sozialer Konventionen erklärte. Die Freigabe der sozialen Regeln an die sinnlichen Bedürfnisse hatte eine nihilistische Tendenz in sich, die in letzter Konsequenz noch die Anerkennung von Asozialität einschloß. Diese nihilistische Tendenz in der Aufklärung machten bezeichnenderweise aber nur die Hedonisten
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(La Mettrie und De Sade) offenbar. Kondylis sieht sie deshalb als diejenigen unter den Aufklärern, die theoretisch am konsequentesten die inneren Zwänge der Aufklärung zum Vorschein brachten, eine Wertschätzung, die nachdenklich macht. Offenbar gibt es da eine Ambivalenz, eine Spaltung im Urteil Kondylis' über den Hedonismus, oder es sind zwei verschiedene Arten von Hedonismus, über die er urteilt. Der eine überspringt das Realitätsprinzip der Selbsterhaltung und verkennt dessen Relevanz für eine enttäuschungsfeste Gesellschaftstheorie und der andere kommt durch die Radikalität seines Sensualismus zu einer Erkenntnishaltung, die infolge ihres Nihilismus frei von normativen Befangenheiten ist und in einer Nähe zu Kondylis' eigenem Erkenntniskonzept steht, die bedacht sein will.
Hermeneutischer Nihilismus Nihilismus war lange Zeit ein Begriff der Kritik und des Kampfes; war normativ aufgeladen und drängte zu praktischer Negation sowohl im Sinne des Nihilismus wie gegen ihn. Aber allmählich nahmen die deskriptiven Anteile in der Anwendung des Begriffes zu. Auch bei Kondylis ist Nihilismus hauptsächlich ein deskriptiver Begriff, unter anderem zur Beschreibung des eigenen Ansatzes. Aber die Negation, die zu dem Begriff gehört, schafft hier Probleme. Der Begriff soll eine Negation beschreiben, ohne an ihr teilzunehmen oder sich in sie hineinziehen zu lassen. Wenn Kondylis sagt, er verstehe unter Nihilismus „die These von der objektiven Wert- und Sinnlosigkeit von Welt und Mensch" (M.u. E., 124), ist beides da, die Negation und die wertneutrale Aussage über einen Sachverhalt. Als These formuliert richtet sich die Aussage gegen andere Thesen, nämlich die, die den Gegensatz behaupten. Die Negation betrifft nur die Form der Aussage, der Inhalt ist dagegen indifferent. Er besagt nichts über Wert oder Unwert von Welt und Mensch; an dieser Alternative ist er nicht beteiligt, weil er diesseits von ihr steht. Denn er besagt, daß die Werteigenschaften von Mensch und Welt nicht in deren An-sich-Sein begründet sind, sondern auf subjektive Wertsetzungen von Menschen zurückgehen, wie die Universalia Welt und Mensch auch. Der Inhalt der zitierten Aussage kann also an dem Streit über Wert oder Unwert von Welt und Mensch gar nicht teilhaben, weil er gut nominalistisch nur sagt, daß Welt und Mensch wertindifferente Gegebenheiten sind, aus denen keine objektiven Wertungskriterien ableitbar sind, Wert und Sinn also
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nur Resultate des Protagoreischen Kampfes um das menschliche Maß sein können. Der von Kondylis behauptete Nihilismus hat also in der Tat mit dem Nihilismus des „alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht", nur metaphorisch zu tun, und auch dem von Nietzsche beschriebenen Nihilismus, der lieber noch das Nichts will als nicht wollen, steht er fern. Kondylis hat also recht, wenn er sich gegen das Mißverständnis wehrt, Destruktionswille oder Destruktionssollen gehörten zum Wesen oder zur Konsequenz seines Nihilismus. Allerdings ist dieses Mißverständnis in gewisser Weise auch verständlich, weil die Äquidistanz, die Kondylis' Ansatz gegenüber der Bejahung oder Verneinung von Welt und Mensch in Anspruch nimmt, unter dem Namen des Nihilismus auftritt, also unter dem Namen einer der beiden Parteien des fundamentalen Wertestreits. Welchen theoretischen Gewinn er sich überhaupt davon verspricht, das, was eigentlich nur die nominalistisch-sensualistische Position in der Frage des ontologischen Status von Werten ist, als Nihilismus zu firmieren, ist eine offene Frage. Eine ähnliche Bewandtnis hat es mit dem Namen, den Kondylis seinem Ansatz gab. „Deskriptiver Dezisionismus": Dezisionismus ist in dem Ausdruck Gegenstand der Beschreibung, doch in irgendeiner Weise auch auf der Subjektseite der Beschreibung. Das Wort Dezisionismus kommt in dem zusammengesetzten Ausdruck gewissermaßen zweifach vor. Der Sachverhalt Dezisionismus, also das Bestehen auf der existenziellen Entscheidung als Quelle von Weltanschauung, läßt sich aber auch unter einer Perspektive vorstellen und beschreiben, die nichts mit der Selbstauffassung des zu beschreibenden Sachverhalts zu tun hat oder zu tun haben will. Daß Kondylis Gegenstand und Art der Beschreibung mit einem Wort belegt, besagt also, daß auch der beschreibende Dezisionismus ein Dezisionismus ist und sein soll, mit anderen Worten: daß Distanzierung von ihm und Teilhabe an ihm zugleich möglich sein sollen. Das führt zu der nächsten, ähnlich gelagerten Frage, nämlich der Frage nach dem Verhältnis, in dem Kondylis' Nihilismus zu dem der Aufklärung steht. Auch hier geht es darum, wie sich Antinormativismus und Deskription verbinden und ausschließen. Der Nihilismus verstanden als die in die Konsequenz gegangene Aufklärung nimmt an der Paradoxic der Aufklärung teil. Die Aufklärung, die der Idee nach ihre Unwiderstehlichkeit der Spontaneität des Verstandes und der Sinnlichkeit verdankte, war in Wirklichkeit nur mit den Mitteln des
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Weltanschauungskampfes durchzusetzen. Verstand und Sinnlichkeit waren erst von irrationalen Autoritäten zu emanzipieren, und dafür brauchte es Propaganda, neue Verheißungen, Mission und neue materielle Machtbündnisse. Der antinormative Nihilismus der Aufklärung konnte nicht deskriptiv zum Erfolg kommen; er mußte normativ, d. h. als polemische Weltanschauung auftreten. Und die Frage ist nun, wie sich Kondylis' Ansatz zum Nihilismus der Aufklärung in Weltanschauungsform verhält. Die Formel, die Kondylis für den Nihilismus der Aufklärung gefunden hat: „restlose und wertfreie Durchführung der Rehabilitation der Sinnlichkeit" (Aufklärung, 490) gilt auch für ihn. Aber klar muß wiederum sein, daß es bei dem aufklärerischen .Weltanschauungsnihilismus' nicht um den Nihilismus des Ja oder Nein zur Welt überhaupt, sondern um die sensualistische Position in Wertfragen ging, die sich an die Grenzen kausaler Empirie hielt und deshalb in der Tendenz analytisch deskriptiv sein konnte. An diese Tendenz knüpft Kondylis mit seinem hermeneutischen Modell des „deskriptiven Dezisionismus" an. Der durch den Durchsetzungskampf der Aufklärung bedingte weltanschauliche Antinormativismus wird dabei zum wissenschaftstheoretischen Postulat der Wertfreiheit neutralisiert, das als Schibboleth der positivistischen Wissenschaftsauffassung der Polemik weiterhin viel Platz einräumt, nun aber nicht mehr im Kampf der Weltanschauungen, sondern in der Konkurrenz der wissenschaftlichen Theorieangebote. Das bedeutet aber keineswegs den Rückzug auf wissenschaftsinterne Probleme. Als Gegenstand der Untersuchung bleibt das Gebilde Weltanschauung weiterhin hochrangiges Thema des hermeneutischen Nihilismus. Auch dieser geht wie der Nihilismus der im Kampf befindlichen Aufklärung davon aus, daß Normen „menschliche veränderliche Konventionen also (...) subjektive Fiktionen ohne objektive Gültigkeit" (Aufklärung, 490) sind. Wenn man nun bedenkt, wie fundamental wichtig normative Sinngebilde für den sozialen Zusammenhalt sind, dann liegt die Frage nahe, ob die analytisch deskriptive Methode des hermeneutischen Nihilismus so neutral wirkt, wie sie begründet ist. Kondylis versteht Nihilismus selber als „Anfechtung des Selbsterhaltungstriebes" (Aufklärung, 54). Wenn Sinn die Voraussetzung sozialer Existenz in einer sinnlosen Welt ist und wenn Sinn an die Illusion eines objektiven Begründetseins gebunden ist, dann führt die Erkenntnis des fiktionalen Charakters von Sinn immer in irgendeinem Maße zu Zynismus oder Melancholie und Depression; das gilt privat und personal. Nimmt aber solche Erkenntnis die öffentliche Meinung für sich
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ein, droht Anomie. Die rein kontemplative, theoretische Intention des hermeneutischen Nihilismus blendet solche destruktiven praktischen Konsequenzen aus. Für den „deskriptiven Dezisionismus" gilt, was für alle Aufklärung gilt; er ist eine Theorie, die bei aller Distanz zu ihrem Gegenstand diesen nicht seinem Selbstsein überläßt, sondern in Mitleidenschaft zieht, denn sie macht kenntlich, was Unkenntnis braucht, um zu funktionieren.
Weltanschauung - Ideologie Der Feind, auf den als zu Negierendes sich der Nihilismus bezieht, und der dem Nihilismus seine Statur gibt, ist Geist. So ist es nur konsequent, daß der Geist in seinen mannigfachen Gestalten vorrangiger Gegenstand der Untersuchungsarbeit von Kondylis ist. Freilich steht der Geist dabei immer unter Vorbehalt. Nicht in seinem Selbstsein wird er bedacht. Sein Selbstsein hat nur Nominalwert. Der Realwert liegt in seinem Sein-für-anderes. Geist hat für den Materialisten Kondylis grundsätzlich nur den Status eines Mittels; allerdings eines Mittels, das, wie es so oft bei Mitteln geschieht, eine gewisse Selbständigkeit erlangt, und zwar als Machtmittel. Dazu, Machtmittel zu sein, ist der Geist prädestiniert, weil er seinem Wesen nach Herrschaftsanspruch ist. Als solcher verfügt er über die das Ausmaß der Macht bestimmende Kategorie, die des Ganzen. Sie ist entscheidend, weil „sich nur vom Standpunkt des Ganzen aus letzte Fragen beantworten lassen." (Metaphysikkritik, 561) Die Gestalt des aufs Ganze gehenden Geistes ist Weltanschauung oder in Betonung ihres sozialen Aspekts Ideologie. Ihre Begrifflichkeit bestimmt den kategoriellen Rahmen der ideengeschichtlichen Arbeiten von Kondylis. Er schließt dabei an eine lange Diskussion an, durch die sich zwei Linien zogen, die, wenn man so will, bei ihm konvergieren: die eine aus der Problemlage der Philosophie kommend und maßgeblich von Dilthey bestimmt und die andere von Marx und der sozialen Bewegung her kommend und von der Wissenssoziologie K. Mannheims dominiert. Zwei Befunde bildeten die Ausgangslage des Diltheyschen Denkens: das Scheitern der Metaphysik und das Vordringen des historischen Bewußtseins. Beide Befunde hielt er für unhintergehbar und notwendig, beide beunruhigten ihn aber auch von Grund auf, denn von beiden ging ein Relativismus aus, der die Philosophie radikal in Frage stellte. Eine hinlängliche Antwort darauf mußte tief in das
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Wesen der Philosophie eingreifen. Dilthey riet deswegen der Philosophie, die kategorielle Grundstruktur Sein/Bewußtsein umzustellen auf Leben/Erleben. Einer der Hauptbegriffe, mit denen er den Umbau versuchte, war der der Weltanschauung. Der Grundgedanke dabei war, daß der Mensch für die Auslegung von Welt und Leben nicht auf die Philosophie wartet, sondern schon im Lebensvollzug versucht, von den Gegebenheiten seines Erlebens aus auf eine Anschauung des Ganzen zu kommen, was bedeutet, daß die Philosophie erst in Gestalt der Weltanschauung den Gegenstand ihrer Begriffsarbeit erhält und durch den Rückbezug auf das Leben zur Reflexionsform des Verstehens genötigt wird. Mit dem Begriff der Weltanschauung, der die Selbstreflexion der Philosophie (Dilthey verstand sie als „Philosophie der Philosophie") leiten sollte, verließ Dilthey den Geltungsbereich des Relativismus nicht; im Gegenteil, er gab ihm damit einen positiven begrifflichen Ausdruck. Er stellte klar, daß er den Relativismus für unaufhebbar hielt. Aber zugleich suchte er nach Wegen, ihn kontrollierbar zu machen, um die drohenden nihilistischen Konsequenzen hintanhalten zu können. So konstatierte er einerseits den Kampf der Weltanschauungen und die prinzipielle Unentscheidbarkeit dieses Kampfes und registrierte andererseits die sich immer wiederholende Struktur gleicher Gegnerschaften in diesem Kampf. Die daraus abgeleitete „Typologie der Weltanschauungen" hatte viel zu tragen: Inmitten von Geschichtlichkeit und antinomischem Wahrheitsstreit sollte sie dem Denken den Halt einer Verstehensordnung geben. Diltheys Weltanschauungsbegriff lebte von der Hoffnung, den Nihilismus durch eine Hermeneutik der Relativität einhegen zu können. Wie Dilthey Geist und Leben, so verstand K. Mannheim Geist und Gesellschaft als zwei komplementäre, sich wechselseitig bedingende Seiten eines werdenden Ganzen. Ideologie stand dabei für die Wahrnehmung dieses Zusammenhanges von der Seite der Gesellschaft aus. Und weil sich im Laufe der Neuzeit der „Realitätsakzent" im Erleben von Geschichte in dieser Richtung verschoben habe, machte Mannheim aus dem Ideologiebegriff den Grundbegriff seiner Wissenssoziologie. Die Wahrnehmung der sozialen Determination des Geistes hatte sich in einem langen Prozeß der Ideologiekritik durchgesetzt, der zu einem Zustand der gegenseitigen Relativierung aller Denkstandorte führte. Mannheim sah damit einen Punkt erreicht, von dem aus das Ideologieproblem neu zu stellen wäre, weil durch die Einsicht in die Bedingtheit aller Standorte die Möglichkeit ihrer Vereinbarkeit eine
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neue Qualität bekommen habe. U m auf diese Situation angemessen reagieren zu können, war es allerdings notwendig, die Ideologiekritik in eine wertneutrale Ideologietheorie, die „Wissenssoziologie", zu überführen. Ideologie als „falsches Bewußtsein" gegenüber richtigem wurde ersetzt durch Ideologie als „soziale Seinsverbundenheit" des menschlichen Denkens überhaupt. Diese Wendung von einem kritischen und dadurch nur partiellen zu einem neutralen, aber totalen Ideologiebegriff - Ideologiehaftigkeit als Wesensmerkmal der menschlichen Denkstruktur schlechthin - führte tief in den Relativismus hinein. Das sah Mannheim durchaus, aber er sah im Relativismus auch die Chance, zu einer Steigerung der Reflexivität des Denkens und damit zu einer Mäßigung der ideologischen Befangenheit zu kommen. In der Relativität, der Gefahr für ein auf Eindeutigkeit gerichtetes Denken, sah er zugleich ein Rettendes auch, ein diätetisches Mittel zur Selbstimmunisierung des Denkens gegen die destruktiven Tendenzen der Ideologiebildung. Träger des Reflexivwerdens der Ideologiebildung ist bei Mannheim die Intelligenz. Sie kann diese Funktion übernehmen, weil sie ihrer sozialen Lage nach eine gewisse Sonderstellung in der Gesellschaft einnimmt. Mannheim meint, ihre soziale Lage könne im Wesenlichen nur negativ, als Distanz gegenüber den konkurrierenden partikularen Lagen bestimmt werden. Diese Ausnahmelage prädestiniere die „sozial freischwebende" Intelligenz dazu, diejenigen Inhalte der konkurrierenden Partikularsichten, die dem Feuer der allseitigen Ideologiekritik standgehalten haben, zu einer „relativen Kultursynthese" zusammenzufügen. Damit dieser Gedanke tragfähig sei, braucht es allerdings Voraussetzungen, wie sie dem Ansatz der Mannheimschen Wissenssoziologie eigentlich nicht zur Verfügung stehen. Die an die Hegeische Geschichtsphilosophie erinnernde Grundannahme, das „alle Denkstandorte und Denkgehalte (...) Teile eines über sie hinausragenden Werdens", eines „werdenden Absoluten" sind, ist eine solche Voraussetzung. Sie soll der Wissenssoziologie den archimedischen Punkt schaffen, der vor nihilistischer Skepsis bewahrt. Kondylis bewegt sich durchaus noch in der hier skizzierten Problemlage, aber in wichtigen Fragen kommt er doch zu ganz anderen Konsequenzen. Vor allem schätzt er den Relativismus, wie er mit Weltanschauung und Ideologie sowohl phänomenal wie auch begrifflich verbunden ist, ganz anders ein, radikaler und zugleich kühler, nicht mehr von der Sorge um den nihilistischen Preis des Relativismus beherrscht. Der zu Weltanschauung und Ideologie gehörende Kampf ist antagonistischer Widerstreit ohne immanente Ermöglichung von
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Ausgleich und Synthese. Die Grenze zwischen Gegenstand und Beobachter ist bei Kondylis viel strikter gezogen. Die Verstehensdistanz herzustellen und einzuhalten, liegt ganz beim Beobachter und nicht in der Beschaffenheit des Gegenstandes. Die in Genese und Auftreten von Weltanschauungen und Ideologien beobachtbaren Gleichheiten sind für Kondylis nicht als Motive einer subjektiv-objektiven Verstehensordnung, sondern als Strukturen einer ontologischen Ordnung interessant. Letzteres gilt auch und insbesondere gegenüber dem Marxismus und der ideologiekritischen Linken. Kondylis' Ideologiebegriff bezeichnet eine ontologische Struktur und nicht eine historisch bedingte und mit der Entfremdung aufhebbare Wahrheitsverfehlung. Uberhaupt ist Wahrheit bei Kondylis nicht der begriffsbestimmende Gegensatz von Ideologie. Ideologie als „falsches Bewußtsein" infolge eines falschen sozialen Seins verstehen zu wollen, macht für Kondylis keinen Sinn. Denn Ideologie bezeichnet nur den ontologischen Sachverhalt, daß die ideelle Gegebenheit des sozialen Seins immer an die Vielheit kontroverser Weltanschauungen bzw. Ideologien gebunden ist. Modell für Kondylis' positive Wahrnehmung der Ideologiegebundenheit des menschlichen Denkens ist Nietzsches affirmativer Begriff des Scheins. Nach Nietzsche ist der Schein selber mächtig und nicht nur als Erscheinung eines dahinter stehenden Wesens. So braucht es bei Kondylis nicht die a tergo Erkenntnis, nicht Entlarvung als Rückführung auf anderes, um die Funktion von Ideologie zu erklären, wohl aber die Einsicht in die reaktive Struktur von Weltanschauung und Ideologie, die ihr Vorbild in der reaktiven Struktur des Ressentiment aus Nietzsches „Genealogie der Moral" hat. Von hier aus ist erst richtig zu verstehen, daß Ideologie für Kondylis ein Allbegriff ist, daß es kein Jenseits davon, kein Darüberhinaus etc. im Sinne einer Freiheit des Denkens von reaktiver Bezogenheit gibt. Auch im Wissenschaftsbetrieb steht das Denken unter der Bedingung der reaktiven, d.h. polemischen Auseinandersetzung nach dem Kriterium des pragmatischen Erfolgs. Kein Bereich des Lebens und des Denkens ist davon ausgenommen, daß das Ideelle überhaupt seine Wurzeln in der unbehebbaren „fundamentalen Ambivalenz des sozialen Lebens" (M. u. E., 50 ff.) hat. Damit ist allerdings auch ganz banal und alltäglich umzugehen. So ist Kondylis' Ideologietheorie auch pragmatisch zu verstehen als die Möglichkeit einer kommunikationstechnischen Perfektion von Ideologiebildung und Ideologieabwehr. Für dieses Miteinander von Ideologiebedarf und Ideologieimmunität hat Sloterdijk den treffenden zynischen Ausdruck gefunden „aufgeklärtes falsches Bewußtsein".
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Spannungen, Fragen, Vermutungen Betrachten wir noch einmal die Stellung, die Kondylis im Kampf zwischen Materialismus und Idealismus einnimmt. Dabei stoßen wir auf zweierlei Spannungen, die sich teilweise auch als Ambivalenz ausdrücken. Für Kondylis bestimmt der Kampf um den Primat von Geist oder Sinnlichkeit die Geschichte der Philosophie von Anfang an. Schon früh bildet sich dabei eine Struktur, die sich durch alle Epochen durchhält, der Gegensatz Protagoras/Thukydides gegenüber Plato. Man hat gesagt, eigentlich sei die ganze Philosophie nur eine Fußnote zu Plato; für Kondylis ist der Gegensatz Protagoras/Plato die Urszene oder das Stück, das auf der Bühne der Philosophie mit wechselnden Autoren und Darstellern ständig wiederholt wird. Vielleicht, weil der Gegensatz unentschieden ausging und daraufhin immer von neuem auf Auflösung drängte. Eine solche Spannung durchzieht jedenfalls Kondylis' Denken. Das drückt sich in der ambivalenten Haltung aus, die er gegenüber diesem prototypischen Gegensatz einnimmt. Eigentlich sind Parteinahme und Wertung in diesem Gegensatz klar. Der Primat liegt für Kondylis bei Protagoras und Thukydides. Sie sind Realisten. Die Anerkennung des in der sinnlichen Natur des Menschen verankerten Machtwillens ist die Grundlage ihrer Erkenntnis der menschlichen Dinge. Plato, der die Erkenntnis der menschlichen Dinge von der Erkenntnis der Ideen und von der Unterordnung der Sinnlichkeit unter die Vernunft abhängig macht, ist demgegenüber der prototypische Ideologe, prototypisch vor allem auch deshalb, weil es ihm modellhaft gelingt, Vernunft und Idee als das Gegenteil von Macht und Machtstreben erscheinen zu lassen. Betrachtet man aber nun die sinngebende und sinnerhaltende Rolle der ideellen Faktoren in Kondylis' Machttheorie der Weltanschauung, kommt es zu einem anderen Ergebnis. Ironischerweise müßten Protagoras/Thukydides Plato eigentlich Recht geben. Denn in Bezug auf den sozialen Selbsterhaltungseffekt ist der (ethische) Idealismus als naturgemäß dominierende Weltanschauungsform anzuerkennen. Diese Überlegenheit besteht, hebt Kondylis selber hervor, obwohl der idealistischen Weltsicht schon in ihrem Ansatz die logisch theoretische Kohärenz fehlt. Denn ausgehend von einem allumfassenden Wahren und Guten kann der Idealismus das in der Realität unabweisbare Negative nur durch die Unterscheidung von Sein und Schein bearbeiten und gerät dadurch in die logischen Unstimmigkeiten dualistischer Erklärungsformen. Uberlegen als Weltanschauung, als Theorie aber nur zweite Wahl, so das ambivalente Ur-
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teil über den Idealismus, das eigentlich ja nur dem Evolutionszustand Kultur entspricht, den Kondylis seinen Analysen als Rahmen unterstellt. Unter den Bedingungen der Kultur ist der Geist, obwohl nur sekundär als Mittel der naturgebotenen Selbsterhaltung tätig, schöpferisch wie das Ressentiment in Nietzsches „Genealogie der Moral". Und diese Potenz braucht er auch, denn er ist dafür zuständig, das Apriori der Selbsterhaltung, den Glauben an einen Lebenssinn, mit Inhalt zu füllen. Aber das soll nur weltanschaulich, nicht theoretisch zu Buche schlagen. So jedenfalls die Auffassung von Kondylis. Der Idealismus als per se normative Weltsicht kann Gegenstand der Theorie, aber nicht ihr Modell sein. Kondylis' wichtigstes Postulat sagt ja, Theorie als Form des auf Erkenntnis gerichteten Denkens ist strikt an die Enthaltung von allem Normativen gebunden. Anders steht es jedoch beim Materialismus. Hier verläuft die Grenze, die Kondylis zwischen Weltanschauung und Theorie zieht, nicht so eindeutig, wie die idealtypische Konstruktion es will; sie ist fließend und ragt mehr oder weniger tief in die Weltanschauung hinein; Weltanschauung und Theorie überschneiden sich partiell. Denn der Materialismus ist auch als Weltanschauung dem Ansatz nach soweit antinormativ, daß in ihm immer starke theoretische Elemente Platz haben konnten. Das rückt die zweite Spannung, von der die Rede sein sollte, in den Blick. Die nihilistische Tendenz des Materialismus wird durch den Sensualismus der Hedonisten in eine ultimative Konsequenz getrieben. Und die Frage ist, wie sich der Wertnihilismus des Kondylisschen Ansatzes dazu verhält. Die Aufklärung, gerade auch in der Kondylisschen Darstellung, kann einem vorkommen, als ob sie den gedanklichen Inhalt des historisch sich erstreckenden Materialismus in die Dichte eines idealtypischen Konzentrats gebracht hätte. Wenn man unter einem solchen Gesichtspunkt die herausgehobene Stellung bemerkt, die der Hedonismus und der mit ihm verbundene Nihilismus als Endkonsequenz der Aufklärung einnehmen, liegt der Gedanke nahe, daß das für die Realgeschichte des Materialismus und Kondylis' Stellung zu (in) ihr von Bedeutung ist. Hinzu kommt die konstitutive Rolle, die der Hedonismus in Kondylis' Konzept der Massendemokratie spielt, wobei der „Massenhedonismus" der westlich globalisierten Welt erst dann richtig verstanden wird, wenn man ihn in der Entsprechung zu den unterdrückten, aber nicht stillzustellenden Wünschen und Bedürfnissen der Massen im kommunistischen Lager sieht. Der dem Materialismus innewohnende Gegensatz zwischen antiasketischen Zielen und
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asketischen Mitteln hat offenbar eine Zuspitzung gewonnen, die das Ende einer historischen Gestalt des Materialismus, bzw. einen Paradigmenwechsel in der Formation der Institutionen und Ideologien bedeutet. Freilich, das alles ist hypothetisch und hegelianisierend, aber sicher aufschlußreich, wenn man Kondylis' Theoriekonzept von seiner Sicht der Gegenwartslage her verstehen will. Sicher ist es richtig, daß Kondylis kein Theoretiker vom Ende der Geschichte ist. Dennoch, eine bestimmte Sequenz von Geschichte, verbunden mit einer bestimmten Fehleinschätzung der nihilistischen Konseqenzen des Materialismus, ist in der Situation, die Ort und Gegenstand seines Nachdenkens war, zu Ende gekommen. Und die Krise, der Kondylis selber die relative Geltung seines Wertnihilismus zuschreibt, hat sicher mit diesem episodischen, gleichwohl epochalen Ende einer Geschichte zu tun. Der Bezug zwischen dem Hedonismus der Aufklärung und dem Nihilismus von Kondylis ist noch von einer anderen, der motivischen Seite her zu bedenken. Die Verschiedenheit der Situation und der Positionen steht dem zunächst im Wege. Unter Berufung auf den zwanglosen Zwang der Verstandeswahrheiten ist es der Aufklärung gelungen, den Anschein der Unwiderstehlichkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Aber ohne Mission, Kampf und Propaganda wäre es zu dieser Unwiderstehlichkeit nicht gekommen. Die radikalen Aufklärer setzten die wertfreie Verstandeskonsequenz als Waffe in einem Kampf ein, in einem Kampf, den sie nicht als kontemplative Theoretiker, sondern als interessierte Programmatiker einer neuen Lebens- und Gesellschaftsordnung führten. Die wertfreie Erkenntnis war dabei nicht Ziel, sondern Mittel für andere außerhalb des theoretischen Lebens liegende Motive und Zwecke. Nach Weltanschauung und Lebensführung waren sie anarchische Individualisten, und ihr Nihilismus war tendenziell destruktiv. Demgegenüber steht der „deskriptive Dezisionismus" als eine Denkhaltung, die Praxisenthaltung und Wertaskese vorschreibt, damit Erkenntnis objektiv, d. h. subjektunabhängig sachbestimmt sein kann. Und der Wertnihilismus als Charakteristikum dieser Denkhaltung ist auf den hermeneutischen Gesichtspunkt eingeschränkt und meint eine Erkenntnisintention, die auf das Seiende an sich, getrennt und unabhängig vom Sollen gerichtet ist. Dem Inhalt nach ist dieser Ansatz vom ontologischen Primat des Sozialen bestimmt. Schwer, eine Brücke zwischen den beiden so verschiedenen, aber zweifellos eng aufeinander bezogenen Positionen zu finden. Vielleicht wird das Verbindende am ehesten sichtbar, wenn es gelingt, gerade in dem Punkt, der die Positionen am deutlichsten zu trennen
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scheint, ein Gemeinsames zu entdecken. Wie mir scheint, ist dieser Punkt durch den hedonistischen Aspekt des Materialismus gegeben. Kondylis setzt die Kosten des Wertnihilismus sehr hoch an. Zwar kann in seiner Sicht „nur der Abschied von jeder Norm und von jedem Anspruch auf Selbsterhaltung und Macht die Erkenntnis der menschlichen Dinge ermöglichen", aber „der Preis für die wertfreie Erkenntnis ist das Leben, und deshalb sind ihre Aussichten denkbar gering." (M.u. E., 12) Kondylis' Wertnihilismus schneidet so tief in das Leben ein und entfremdet so weit von der Lebenspraxis, daß unvermeidlich die Frage entsteht, wie mit einem solchen Konzept in der Realität umzugehen sei. Ironisch gesagt, erinnert die Willensenthaltung, die Kondylis der wertfreien Erkenntnis zuschreibt, an die legendäre Behauptung der Antike, daß Selbstmord durch Luftanhalten möglich sei. Auch hier, im Negativen, muß es ein umgekehrtes Realitätsprinzip geben, wenn es sich beim Wertnihilismus des „deskriptiven Dezisionismus" nicht um ein utopisches Konzept handeln soll. Das Nein der Askese, die zu diesem Ansatz gehört, muß durch ein Ja aufgewogen werden, indem z.B. der Lebensminderung eine Geistoder Luststeigerung, bzw. beides zusammen entspricht. So verhält es sich wohl auch im Fall des „deskriptiven Dezisionismus". Theorie hat für Kondylis, abgesehen von ihrer pragmatischen Erkenntniseffizienz, die Bedeutung eines selbstzweckhaften Guten. Sie ermöglicht eine Existenzform, in der die asketische Reduktion der Lebensteilnahme durch die Lust an der reinen Verstandeskonsequenz, gewissermaßen durch die Funktionslust der Erkenntnis belohnt wird. Kontemplative Theorie hat für Kondylis die das besinnungslose Leben umwendende Bedeutung, die die Kunst für Schopenhauer hatte. Man könnte sagen, Kondylis lebte und theoretisierte Nietzsches „Pathos der Distanz", das alte mit dem demokratischen Zeitgeist unvereinbare aristokratische Philosophenideal, das sowohl stoisch wie epikureisch ausgelegt werden kann. Der Stoiker Chrysipp würde allerdings im Hinblick auf Kondylis' Theorielust wohl eher für Epikureismus, also einen verfeinerten Hedonismus, plädieren. Die Distanz, mit der sich Kondylis in ein Außerhalb der Kämpfe und Ideologien stellt, schließt Mitleid und Versöhnung als Quellen und Leitmotive des Denkens aus. Die im Machtkampf Siegreichen und Unterlegenen stehen diesem Beobachter gleich nah oder gleich fern; als Träger von Machtanspruch sind sie Gleiche, verschieden sind sie nur in Bezug auf ihre Machtmenge. Vor allem aber: Jeder Versuch, den Machtkampf unter Maßstäbe zu stellen, den Gegnern ein Drittes,
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den Machtkampf Hemmendes oder Mäßigendes überzuordnen, gilt selber wieder nur als Machtanspruch, demgegenüber die Theorie Enthaltung zu üben hat. Diese nihilistische Indifferenz gegenüber dem zivilisatorischen Wunsch, den Machtkampf zu domestizieren, hat, so mißliebig sie einem sein mag, auch etwas Befreiendes. Unbestreitbar ist es eine große Stärke des „deskriptiven Dezisionismus", daß er unter den kämpfenden Weltanschauungen für Waffengleichheit, wenn nicht quantitativ, so doch prinzipiell, sorgen kann. Das relativiert den Wahrheitsanspruch der jeweils siegreichen Weltanschauung und befreit die unterlegene vom Stigma des Bösen. Beide sind vor diesem unbefangenen, von außen kommenden Blick, willkürliche, dem Machterhalt und Machterwerb dienende Gebilde; beide sind, wie sie im einzelnen auch immer zur Vernunft stehen, gleichermaßen irrational. Diese Gleichbehandlung der konkurrierenden Weltanschauungen darf aber nicht als ein erster Schritt zu einem Dritten hin, zu einem Maßstab des wertenden Vergleichens mißverstanden werden. Das würde nur zu neuerlicher Enttäuschung führen. Kondylis' Kritik an der idealistischen Selbsttäuschung siegreicher Weltanschauung bedeutet keineswegs ein Eintreten für die unterlegene Seite oder für irgendeine Art von Ausgleich. Hier hat es gerade in den letzten Jahren so manches Mißverständnis und so manche Enttäuschung gegeben. Denn für viele nahm sich Kondylis' Position so aus, als hätte sie im Gegensatz zum Zeitgeist ihre Pointe. Der Antinormativismus des „deskriptiven Dezisionismus" und der Moralismus der political correctness sind in der Tat diametral entgegengesetzt. Aber dieses Anti bedeutet überhaupt nicht ein Pro für die von der political correctness unterdrückten Positionen. Kondylis' Erkenntnisabsicht greift tiefer und reicht weiter. Um die ideellen Machinationen und Illusionen und um die Brutalität der Ubermacht steht es immer noch wie zur Zeit des peloponnesischen Krieges und seines Beobachters Thukydides. Den Meliern bleibt allenthalben nur der grausame Trost, daß es den Athenern irgendwann so wie ihnen ergehen wird, weil aus jeder überlegenen Macht einmal eine unterlegene wird. Das ist eine Gewißheit, die schwer wiegt, obwohl sie nur die Geschichte und nicht die Metaphysik für sich hat. Das Wesen metaphysischen Denkens sieht Kondylis „in der Aufstellung eines theoretischen Ganzen auf überempirischer Grundlage (...) mit der Verheißung, alle oder doch zumindest die jeweils für zentral erachteten Aspekte der Erfahrung zu erklären" und meint: „In dieser Perspektive müssen wir nicht den Tod der Metaphysik feststellen, prophezeien
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oder beklagen: der Machtanspruch, von dem sie lebt, ist ebensosehr oder ebensowenig unverwüstlich wie der sozial lebende Mensch." (Metaphysikkritik, 561) Kondylis bezieht sich damit auf eine geistige Situation, die man als ein Patt zwischen Metaphysik und Skepsis bezeichnen könnte. Die Metaphysik ist nicht beweisbar, aber auch nicht besiegbar, die Skepsis nicht widerlegbar, aber nicht durchdringend erfolgreich. Beide, Metaphysik und Skeptizismus, befinden sich in einem Zustand der gegenseitigen Indifferenz und können einander eigentlich gar nichts anhaben. Das ist ein Zustand, mit dem Kondylis gut zurecht kommt. Zwar geht es der Metaphysik ihrem Selbstverständnis nach nicht um Macht, sondern um Wahrheit, aber das irritiert Kondylis nicht, weil für ihn Machtanspruch und Wahrheitsanspruch identisch sind und weil die Wahrheit, die die Metaphysik jeweils in Anspruch nimmt, nur relativ sein kann. Die für jegliche Metaphysik fundamentale bewußtseinstranszendente Wahrheit, die apodiktische Gewißheit über Seiendes an sich und als Ganzes meint, akzeptiert er, indem er sie zugleich auf bloß subjektive Vorstellung, die nur in der Form der Vielheit und Entgegensetzung vorkommen kann, reduziert. Dieser Relativismus, in dem Anerkennung und Reduktion sich gegenseitig bedingen, ist modus vivendi in dem Patt von Metaphysik und Skepsis. Relativismus ist für Kondylis nicht mehr der „Abgrund", als der er lange in der Philosophie galt, sondern eine durch die Wissenschaftsentwicklung längst eingeübte Normalität. Jeglicher Relativismus beruht letztlich auf so etwas wie einem ,Satz vom hinzunehmenden Widerspruch', und bei einer solchen Grundannahme kann der Geist nur perspektivisch und polemisch auftreten. Das gilt für den Bildungsprozeß von Weltanschauung und Metaphysik wie für die hermeneutische Reflexion darüber. Und auch die polemische Grundstruktur des Geistes ist noch Gegenstand polemisch gespaltener Auffassung. Für die einen ist der kontroverse Charakter des Geistes Ausdruck und Resultat des Strebens nach Wahrheit. Die anderen sehen darin den Beweis für seine Unfähigkeit, Wahrheit im Sinne unbedingter Gewißheit zu erlangen. Einerseits führt der Zweifel zur ständig erneuerten Opposition von alten und neuen Lösungen des Wahrheitsproblems und andererseits zum Verzicht auf einen Wahrheitsbegriff, der mehr bedeutet als pragmatische Wahrscheinlichkeit. Das ist eine Aufspaltung mit der Tendenz gegenseitiger Ausschaltung. Die eine Seite befürchtet den moralischen und erkenntnismäßigen Nihilismus und den damit verbundenen kulturellen Verfall und die andere Seite die ideologische Verabsolutierung relativer Gewißheiten
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und die damit verbundene totalitäre Machtsteigerung. Aus der Geschichte spricht nichts dafür, daß diese Aufspaltung aufhebbar wäre. Daher der Versuch, eine Theorieform zu finden, in der beide Perspektiven Platz haben. Derart kann man Kondylis' „deskriptiven Dezisionismus" verstehen; er verbindet den Verzicht auf den Wahrheitsanspruch des normativen Geistes mit dem Verzicht auf den Machtanspruch des Nihilismus. Beiden eigentlich einander widersprechenden Seiten wird eine relative Gültigkeit zugesprochen, sozusagen eine Kompromißform der Skepsis gebildet. Damit entscheidet sich Kondylis gegen jene Skepsis, die als Läuterungsmittel bei der Suche der Philosophie nach apriorischer Gewißheit bis heute eine produktive Rolle spielt. Im „deskriptiven Dezisionismus" ist die Skepsis nicht produktiv, sondern konsumptiv; sie hat ihre Rolle post festum. Der „deskriptive Dezisionismus" braucht die Hervorbringungen des normativen, weltanschaulichen Denkens, um selber tätig sein zu können. Und diese Tätigkeit zielt letztlich als die Identifizierung von Gleichem auf Formen und Strukturen, die inmitten des Stroms der Geschichte möglicherweise symptomatische Muster einer ontologischen Ordnung sind. Eigenartigerweise benötigt diese Art von Skepsis eine letztinstanzlich gesicherte Gewißheit. Und da der Nihilismus des Kondylisschen Ansatzes nur die Objektivität von Werten, nicht aber die Möglichkeit objektiver Erkenntnis negiert, erscheint Kondylis eine solche Gewißheit auch erreichbar. Aber die Ontologie, die dafür zuständig sein soll und auf die er in seinem Werk schließlich zugeht, muß sich an gewisse Grenzen halten. Der Materialismus, der ihren sachlichen Gehalt ausmacht, beläßt die außermenschliche Natur in der Black Box der Metaphysik oder in der Rolle einer evolutionstheoretischen Größe, anstatt sie wie im Marxschen Modell als gegenständliches Moment des Arbeitsprozesses zur leitenden Bedingung des Erkennens und Handelns zu machen. So bleibt Kondylis' Materialismus durch die biopsychische Fokussierung der anthropologischen Dimension an einen sensualistischen Nominalismus als gnoseologischen Rahmen gebunden. Das heißt, die „letzte Wirklichkeit", die eine solche Ontologie zu explizieren hat, ist nicht ein Sein, dessen Beschaffenheit davon unabhängig ist, daß es Gegenstand der Erkenntnis ist, sondern ein Sein, das gerade in seiner Bezogenheit auf Erkennen und Wollen sein Wesen hat. Was man unter einer solchen quasi relativen Ontologie zu verstehen hat, wie weit die Gewißheit, die sie gewährt, reicht und was diese Gewißheit ein- bzw. ausschließt, das sind Fragen, die an Kondylis' magnum opus, an seiner „Sozialontologie", zu klären sind.
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Konservativ ist längst zu einer abschätzigen Charakterisierung geworden. Wenn Politik vorzugsweise als Mittel verstanden wird, „die Zukunft zu gestalten", muß jeder, der in einer leidlichen Gegenwart nicht unentwegt zur Innovation, zur Veränderung, zur Reform aufruft, in den Verdacht geraten, phantasielos zu sein und unfähig dazu, Visionen zu entwickeln, unter deren Eindruck die Gesellschaft ihre Energien zielorientiert, sie zu synergetischen Effekten bündelnd, dynamisiert. Staat und Gesellschaft sind in diesem Sinne zur dauernden Selbstüberholung verpflichtet, um sich den Erfordernissen der jeweils allerneuesten Neuzeit anzupassen. Visionen werden gefordert oder erwartet, obschon im Zusammenhang mit dem gläubigen Leben, wo sie ihren Platz haben, solche inneren Gesichte bei den kirchliche Autoritäten stets auf Mißtrauen stoßen, da es sich bei ihnen um Blendwerk, Eitelkeit und Trug handeln kann. Einer Politik phantasievoller Erleuchtung können Traditionen nur hinderlich sein, weshalb in der Gegenwart genau darauf geachtet werden muß, Ballast abzuwerfen, um unbeschwert den Absprung nicht zu verpassen in neue Lebens- oder Arbeitsformen. Ommnia nova placet, alles Neue gefällt, so lautete die Devise in Europa seit dem Aufbruch im 11. Jahrhundert. Aber es blieb unvergessen, daß die alten Griechen und Römer eindringlich davor gewarnt hatten, gesellschaftlichen Kräften leichtsinnig nachzugeben, die ruhelos rerum novarum cupidi - neuer Dinge begierig - Staat und Gesellschaft mit ihren unbedachten Eskapaden gefährden könnten. Die Lust auf ununterbrochene Neuerungen verbanden sie mit einer entfesselten, unberechenbaren Launen unterworfenen Stimmungsdemokratie. Mit der Neubegierde, der beschleunigten Suche nach Novitäten, der Freude, alte Zöpfe abzuschneiden und verkrustete Strukturen aufzubrechen, konnte allerdings die politische Begriffsbildung nicht Schritt halten. Die politischen Begriffe, die immer noch gebraucht werden, liberal, sozialistisch, sozialdemokratisch oder konservativ sind heillos veraltet. Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert und haben jeden sozio-
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logischen und ideologischen Inhalt eingebüßt. Als Schlagworte werden sie je nach den polemischen Erfordernissen des Momentes verwandt, um substanzielle Unterschiede im Wettbewerb um Kunden vorzutäuschen, die sich in einer Gesellschaft von Verbrauchern, auch von Verbrauchern politischer Meinungsprodukte, allerdings von selbst verbieten. Denn der demokratische Markt der Möglichkeiten kann nur funktionieren, wenn die Angebote einander weitgehend gleichen und das Wettbewerbssystem mit seinen Mechanismen nicht in Frage stellen. Als liberal versteht sich jeder, denn Regeln sollen keinen unnötig belästigen und einengen. In den schlechten Ruf, konservativ zu sein, gerät, wer an herkömmlichen Positionen seines Verbandes oder seiner Institution festhält und diese nicht als Flöße auf unkontrollierbaren Gewässern den Strömungen überlassen möchte, ob in der Gewerkschaft, in der Kirche, im Deutschen Fußballbund, bei den Schrebergärtnern oder weil er Kravatten nicht als Zwang empfindet. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß mittlerweile von konservativem Sexualverhalten, konservativen Tischgewohnheiten oder Reisezielen die Rede ist. Da ist es dann an der Zeit, wiederholt eine Revolution in deutschen Betten, in der Küche oder der allgemeinen Körperkultur zu propagieren. Sozialistisch ist nicht viel besser als konservativ, denn es erinnert an Vergangenheiten, an Fehlschläge und Illusionen, und immer noch am Sozialismus zu hängen, bestätigt unflexibel, lernunwillig, also borniert wie ein Konservativer zu sein, sich überhaupt nicht von einem Reaktionär zu unterscheiden, rückwärts gewandt zu leben, statt vorwärts zu schauen und am fortschreitenden Übergang erstarrter Gewohnheiten zu belebender Umgestaltung mitzuarbeiten. Selbstverständlich können solche Strukturverwandte auch ganz einfach Faschisten genannt werden, da ewig Gestrige, ob Linksfaschisten oder Neonazis. Uberhaupt lassen sich Faschisten überall aufspüren, sie sind eine Steigerung der überall ihr Unwesen treibenden Konservativen. Die unbestimmten Klischées könnten mühelos durch ganz andere ersetzt werden, etwa durch farbliche, was auch zunehmend geschieht. Rot, Grün, Gelb, Schwarz oder Braun werden zum Ausdruck von sogenannten Lebensformen und Denkarten. Wer Farbe bekennt, gibt sich angeblich zu erkennen, obgleich es gar nicht so leicht ist, an einem Roten zu erkennen, was ihn zu einem solchen macht oder in einem Grünen keinen Gelben zu schätzen. Die Schwarzen schmücken sich mit viel Zierrat, um nicht allzu griesgrämig zu wirken und selbst die Braunen greifen auf rot - grünes Kon-
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fetti zurück, um ihren Unterhaltungswert zu steigern. Das alles ist vollständig beliebig, antiquiert und hilflos, also durch und durch konservativ, was heißt: phantasielos. Die farbentragenden Parteien täuschen eine Vielfalt vor, die es dank ihrer Arbeit gar nicht geben kann. „Die Menschen draußen", „die Menschen vor O r t " oder insgesamt „die Menschen in Deutschland" sind als aufmerksame Demokraten in der westlichen Wertegemeinschaft sozialstaatlich orientiert, aber offen für die Herausforderungen im globalisierten Wettbewerb und aufgeschlossen für sämtliche Lebensentwürfe gemeinsam zu gestaltender Mitmenschlichkeit auf der Basis von Toleranz und Dialogbereitschaft, gerade auch im intensiven Gespräch mit der Natur, den Pflanzen und Tieren als unverzichtbaren Partnern, um deutsches Potential voll einbringen zu können bei der alle Kräfte fordernden Vertiefung gemeinsamer europäischer Identität. Ein Schelm, der sich dabei irgend etwas denkt. Wie in der Oper des 19. Jahrhunderts geht es nur um Lokalkolorit, um folkloristische Einfärbung. Auf diesem Jahrmarkt redensartlicher Beliebigkeiten tummeln sich dennoch Außenseiter, die sich selbstbewußt als Konservative oder Sozialisten ausgeben und darüber, sofern sie nicht sogleich in den Faschismusverdacht geraten, zuweilen sogar einen gewissen Unterhaltungswert gewinnen in einer Gesellschaft, der die Zeit lang würde, wenn sie ihr nicht irgendwelche Animateure vertrieben. Derartige Einzelgänger können als „Charaktere" - wie früher im bürgerlichen Lustspiel - in Talk-Shows auftreten und jeden Philister darin bestätigen, immer vernünftig gewesen zu sein, sich nie um Charakter bemüht zu haben. Die Frage ist nur, ob die eigensinnigen Querköpfe tatsächlich Charaktere sind oder nur Selbstdarsteller und geschickt ratlose Mitspieler in Reality - Shows, die Kolorit, Farbeffekte benötigen, aber nur solche, die sich nicht laut und grell verselbständigen und als Einbruch der wirklichen Realität die Überzeugungskraft der inszenierten schwächen und damit das Vertrauen in die wendigen Regisseure des öffentlichen Lebens. Als Panajotis Kondylis an seinem 1986 erschienenem Buch arbeitete: Konservativismus - geschichtlicher Gehalt und Untergang gab es für ihn keine Konservativen mehr. Schließlich handelt sein Buch vom Untergang des Konservativismus, von dessen Untergang im ^ . J a h r hundert. Er ging im bürgerlichen Liberalismus unter, mit dem der konservative Adel zu einer Interessengemeinschaft der Besitzenden verschmolz. Was seither sich noch als Konservativismus ausgab, erschöpfte sich in einem Liberalismus, der nach weniger Staat und
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mehr Markt verlangt, den repräsentativen Parlamentarismus vor plebiszitären Tendenzen gesichert sehen will, die Autorität der Institutionen und des Gesetzes gegenüber phantasievollen Aktionen radikaldemokratischer Spontaneität verteidigt wissen möchte, dem bürokratischen Sozialstaat mißtraut, den Bildungsverfall beklagt und die egalisierende Vermassung fürchtet und deshalb die Förderung von Eliten verlangt. Das mußte nun wieder Sozialliberale verwirren, die nach all den Spaltungen und Spannungen in der Geschichte des Liberalismus sich nur noch verschämt an die Traditionen ursprünglich liberaler Hoffnung und Kritik erinnern und erst recht jene Sozial- und Christdemokraten, die sich auf liberale Traditionen berufen, die ganz offensichtlich auch konservative sind mit zuweilen reaktionärem Schimmer. Doch sie wollen gerade nicht als konservativ auffallen. Panajotis Kondylis führte mitten hinein in die Unbestimmtheit aller Positionen und Begriffe, die als Strand- und Beutegut des 19. Jahrhunderts zur Verwertung übrigblieben. Damit mußte er sogenannte Konservative reizen, die als solche verstanden werden wollten, viele pädagogische Antikonservative, weil er ihnen klar zu machen versuchte, daß sie gegen Phantome kämpften und vor allem die Verfechter eines deutschen Sonderwegs. Das Aufgehen konservativer Strömungen im Liberalismus, die Symbiose von Bürgertum und Adel, die Verbürgerlichung des Adels und die Feudalisierung des Großbürgertums schildert Panajotis Kondylis als ein allgemein europäisches Phänomen. Mit seinem Buch befreite er nicht nur die Überlegungen zum deutschen Konservativismus aus einer isolierten, über dem deutschen Nabel meditierender Betrachtung. Er sah die deutsche Geschichte zumindest bis 1918 als selbstverständlichen Teil der europäischen. Mit vielen Nuancen entwickelt er eindringlich genug, wie verwandt die nationalen Formen und Sonderformen waren, wie sehr die jeweiligen ideologischen Konflikte, Vermischungen und Bündnisse in einem sehr ideologisierten Jahrhundert einander ähnelten. Solche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Besonderheiten deutscher Geschichtsdeutung und deutscher Geschichtspolitik in Zusammenhang mit dem pädagogischen Programm der Verwestlichung mußte die Entwickler einer spezifisch deutschen Ideologie heftig irritieren. Zumal deren historische Halbbildung und deren Eifer, das Einerlei ihrer Übereinkünfte vor Widerspruch zu schützen, seine attische Spottlust anregte und seiner Geistesgegenwart entgegenkam, alles Geistlose souverän beiseite zu schieben. Damit gewann ein klassisch gebildeter Grieche wie Panajotis Kondylis nicht unbedingt
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Freunde in einem Deutschland, das sich damals entschlossen von der klassischen Bildung ablöste, weil die in den „Faschismus" geführt oder ihn zumindest nicht aufgehalten hätte, wie ehemalige Hitlerjungen jetzt als gereifte Anti-Hitler-Jungs in ballastabwerfender, sich vom Nazierbe emanzipierender Absicht verkündeten. Seine Studie über den europäischen Konservativismus berührte unmittelbar vor und während des Historikerstreites besondere deutsche Nervositäten. Da Panajotis Kondylis als freier Geist sich keiner Gruppe eingliederte, gewann er selbst unter denen, die sich unbefangen und aufmerksam auf seine Überlegungen einließen, nur halbherzigen Beifall, weil er eben kein Parteimann oder energischer Gesinnungsgenosse war. Das gilt vor allem für seine Leser in den Kreisen, die nichts dagegen haben, für konservativ gehalten zu werden oder sich gar bemühten oder weiterhin dafür sorgen, konservativen Ideen eine Anziehungskraft zu verleihen. Sie mußten sich verletzt fühlen, wenn Panjotis Kondylis ihre erhabenen Sinnsprüche für gehäckelte Zierleisten auf Sofakissen: Konservativ sein, heißt leben aus dem, was immer gilt, nicht weiter ernst nahm und in solchen Devisen vorzugsweise die Aufforderung an umsatzorientierte Marktwirtschaftler erkannte, ihr unterkühltes Heim mit Gemütswerten aufzuputzen. Uberhaupt machte es ihm viel Freude, den Unsinn der Sinnstiftung durch trauliche Gedankenlosigkeit den nach Wertkonservativismus Dürstenden zu veranschaulichen. Gerne raunen diese davon, daß ein konservativer Staat Dinge zu schaffen vermöge, welche der Konservierung wert wären. Damit unterscheiden sie sich aber in keinster Weise von den liberalen oder sozialdemokratischen „Machern", die nach Konzepten handeln, planmäßig Strukturen verändern wollen oder Grundlagen für kommende Entwicklungen schaffen, die ihrer Ansicht „wert" sind, erhalten oder unterstützt zu werden. Das hängt allein von den Wertsetzern ab, den Umwertern, Ab- Auf- oder Entwertern. Die Absicht, „wertvolle" Dinge schaffen zu wollen, widerspricht dem angeblichen Verhaftetsein des sogenannten Konservativen in konkreten Umständen, denen er sich anvertraut, statt sie mit seinen Eingriffen zu beunruhigen. Denn der Konservative entzieht sich dürftiger Abstraktion, denkt historisch und wahrt dem Bewährten die Treue. Er dient dem einzelnen Phänomen, schützt die Fülle von Besonderheiten und wehrt sich gegen Generalisierungen, Typisierung und damit Uniformierung. Er entzieht sich den Ideologien und entlarvt mit seinem konkreten Ordnungsdenken die Ideologien seiner
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Gegner. Darin äußert sich ganz unverhohlen eine Ideologie, nämlich die Weltanschauung anderer als Konstruktion zu verurteilen und die eigene als unüberlegtes Geschenk reiner Betrachtung, uneigennütziger Welt-an-schauung einzuschätzen. Der Konservative ist oder war aber gar nicht uneigennützig. Er war und ist ein Interessenvertreter. Wie der Liberale die Interessen der Bürger wahrnahm, der Sozialist oder der Sozialdemokrat die der Arbeiter, das Zentrum die der katholischen Kleinbürger und Bauern, so kämpften Konservative energisch um ihre Vorteile, Privilegien zu behalten, eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaft und im Staat nicht aufgeben zu müssen. Konservative waren von vorne herein Interessenvertreter, wie alle Parteien. Wenn sie von konkreter Ordnung redeten, dann meinten sie eine Ordnung, in der sie dominierten, denn unter anderen Voraussetzungen verfiel die löbliche Ordnung eben in trostlose Unordnung. Der Konservativismus ist die Ideologie des Adels, er ist ein Klassenstandpunkt, aber keine unschuldige Einübung in die Weltharmonielehre. Solche historische Nüchternheit erregte den Widerwillen sogenannter Konservativer, die doch ganz altruistisch jedem das Seine bewahren möchten und Materialismus oder Marxismus wittern, wenn von Interessen gesprochen wird, was früher auch Zinsen meinte, die Kapitalien abwarfen. Sie mochten sich am allerwenigsten damit zufriedengeben, daß Panajotis Kondylis dem Konservativismus als einer konkreten, historischen Erscheinung seine scharf umrissene Gestalt zurückgab, indem er diese ideologische und sozialpolitische Strömung auf das engste mit den Interessen ihrer Vertreter verknüpfte, also mit denen des Adels, der konservativ wurde, um seine gefährdete Herrschaftsstellung zu behaupten. Der Adel befand sich seit dem 16.Jahrhundert, seit dem Aufkommen des modernen, bürokratischen, rationalisierenden und zentralisierenden Staates im Widerspruch zu allen Tendenzen, die allmählich die herkömmliche societas civilis mit ihren Rechten, Freiheiten und Korporationen unter der Autorität des Gesetzes vereinheitlichen und umformen wollten. Der Konservativismus als Idee, als historisch-soziologische Konstruktion verteidigte mit den Privilegien des Adels die alte Gesellschaft überhaupt, die auf Privilegien, eben Freiheiten, beruhte, um jedem das Seine zu geben oder zu erhalten. Mit den Interessen des Adels ließen sich sehr viele andere Interessen verbinden, all derer, die im Zuge der Verstaatlichung, der Modernisierung und später der Industrialisierung benachteiligt wurden. Daraus ergab sich die zuweilen sehr überraschende Kraft adelig-konservativen Protestes, des
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Widerstandes gegen Staatlichkeit und egalisierende Gleichheit vor abstrakten, unkonkreten, also nicht mehr ständischen Rechten in Form von Gesetzen. Die Konservativen wehrten sich gegen den Staat, gegen die Rechtsstaatlichkeit, gegen Gesetz und Ordnung. Darin veranschaulichte sich in langen Rückzugsgefechten durchaus ein Kampf um Freiheit, um Individualität und Eigentümlichkeit, in denen der werdende Staat anarchischen Unfrieden, Eitelkeit und nackten Egoismus eingrenzen und entschärfen wollte. Die heroischen Zeiten des Konservatismus liegen im 17. und 18. Jahrhundert. Damit überraschte Panajotis Kondylis Historiker, die vermuteten, daß es Konservativismus erst gibt, seitdem es das Wort „konservativ" gibt, also seit 1830. Erscheinungen werden oft dann zum Begriff gemacht, wenn sie in ihren Alterungs- oder Verwesungsprozeß übergehen. Gleichwohl gab es Verbindungen mit dem Wort „konservieren" schon im 16. Jahrhundert, worauf Kondylis nachdrücklich aufmerksam machte. Der Adel erinnerte häufig daran, zur Konservation des Gemeinwesens verpflichtet zu sein, die mit der „Conservierung unserer Privilegien" zusammenfiel. Insofern konnte sich der Adel als „principe conservateur de l'état" verstehen. Das Wort Staat mißfiel zwar den Konservativen, aber da sie inkonsequenterweise im Staat dennoch die führenden Positionen sich vorbehalten wollten, konnten sie sich dem Staat auch nicht vollständig verweigern. Hier beginnen die Inkonsequenzen des konservativen Prinzipes, mit denen es wegen dauernder Prinzipienlosigkeit sich um seine Überzeugungskraft endlich bringen mußte. Aber wenn Adelige vom Staat redeten, meinten sie das ancien régime, die societas civilis, die den König als Teil der res publica ebenso verpflichtete wie alle übrigen Glieder, die nicht alle gleichberechtigt waren, die aber verlangen durften, in ihren jeweiligen Rechten nicht geschmälert zu werden. Denn das Recht ist vorgegeben, es kann nicht gemacht werden, es muß gesucht und gefunden, gedeutet und interpretiert werden, um seine Herrschaft zu sichern. Der adelig-konservative Protest richtete sich seit dem 16. Jahrhundert im Namen des Rechtes gegen den sich entwickelnden Gesetzgebungsstaat, gegen Bürgertum und Beamtenadel, die den königlichen Staat aufgrund ihrer Interessen stützten. Monarchischer Absolutismus und ehrgeiziges Bürgertum bedurften einander und halfen einander. Die bürgerliche Revolution ist daher eine Fiktion, wie Kondylis verdeutlicht und damit Deutschen liebgewordene Vorstellungen widerlegt, weil deren Ideologie des Sonderweges sich auf die nicht gelungene bürgerliche Revolution beruft. Der Bürger ist nicht revolutionär, wie
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Kondylis nachweist, er ist vorsichtig, er will Geschäfte machen, Erfolg haben und das konnte er am besten zusammen mit der Krone gegen einen eigenwilligen, nicht revoltierenden aber immer wieder frondierenden Adel, der Front machte gegen einen Staat der Einebnung „natürlicher" Unterschiede. Der souveräne Staat mit seiner „Pseudopolitik", seiner Zweckrationalität widersprach der adelig-konservativen politica Christiana, die sich im Einklang mit einer ratio wußte, die mit dem göttlichen Recht, aber nichts mit dem gemachten Gesetz, mit einem Staat zu tun haben wollte, der sich als freies Kunstwerk der Gesellschaft gegenüberstellte, ihr Freiräume überließ, nur um sie desto nutzbringender für seine Zwecke gebrauchen zu können. Der Voluntarismus der Monarchen, des Staates, der Beamten, die Idee einer allgemeinen Wohlfahrt, die seit dem 17. Jahrhundert auf einen nivellierenden Eudämonismus zielt, mußten nach konservativ-adeliger Auffassung das Streben nach Konsum in den Mittelpunkt rücken, den Verbraucher an die Stelle des Menschen setzen und sämtliche kollektiven Sozialbindungen auflösen. Das gesamte Reservoir sozial- und kulturkritischer Argumente der Konservativen unter dem Eindruck der Entfremdung, die Staat und Kapital bewirken, ist gegen Ende des ^ . J a h r hunderts ideologisch gewonnen und wird bis ins 19. Jahrhundert erweitert und ausgebaut. Das Dilemma des konservativen Adels, wie es Kondylis schildert, bestand aber von vorne herein darin, daß er trotz aller Proteste gegen die souveränen Monarchen sich immer wieder mit dem souveränen Staat verbündete, verbinden mußte, um ihn sich für die eigenen Interessen gefügig zu machen. Dadurch näherte sich der Adel vielen neuen Tendenzen, die er theoretisch ablehnte. Der monarchische Staat der vorrevolutionären Zeit, so revolutionierend der Absolutismus dennoch wirkte, hütete sich, grundsätzlich die Überzeugungen der hergebrachten societas civilis in Frage zu stellen. Mit der Herrscheridealität, mit soziologischen und staatspolitischen Traktaten wurde zumindest immer wieder an die Grundlagen jener Ordnung erinnert, der sich auch der selbstbewußteste Monarch nicht gänzlich zu entziehen vermochte. Als nun mit der Revolution das ancién régime umgestürzt wurde, mußte der Adel im Prinzip in der monarchischen Legitimität seinen besten Schutz gegenüber liberalen, bald demokratisierenden Bestrebungen erkennen. Der staatsfeindliche Konservativismus verwandelte sich zum staatstragenden Element, um dem Adel und letzten Resten vorstaatlichen gesellschaftlichen Lebens eine Chance zum Überleben zu erhalten. Der Konservativismus, wie er sich
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jetzt theoretisch begriffen nannte, führte in der Tradition des adeligen Protestes seine Polemik fort gegen den seelenlosen Staat, gegen Entfremdung in ihm, gegen den Materialismus der Bourgeoisie, gegen den Egoismus des Kapitals, gegen alles Gemachte, Unorganische und Gekünstelte. Dabei vergaßen die Konservativen, daß ihre Ideale keineswegs naturgegeben, organisch oder dem historischen Leben unmittelbar verbunden waren. Sie wollten abgelebte, historisch überholte Formen künstlich am Leben erhalten, um sich am Leben zu erhalten, was hieß, im Staat und in der Gesellschaft eine ausschlaggebende Bedeutung zu behalten. Um nicht ausgeschaltet zu werden, konnten sich Konservative durchaus mit dem radikalsten Mittel der Staatlichkeit, mit der vorübergehenden, kommissarischen Diktatur im Namen des Königs anfreunden. Der Druck der Massen gegen Besitz und Bildung, der sich 1848 erstmals verängstigend bemerkbar machte, ließ Konservative auf die Diktatur des Säbels hoffen, um der des Dolches zu entgehen. Konservative hatten Angst und das trieb sie in die Arme der Liberalen, die sich ebenfalls ängstigten, vom „Pöbel" um ihre Kapitalien gebracht zu werden. Konservative, die erhebliche Bedenken gegen das Kapital, gegen den Markt und das Wettbewerbsdenken hatten, verzichteten auf jede weitere antibourgeoise Polemik, um die Solidarität der Besitzenden und deshalb Hochanständigen, geschart um Thron und Altar, nicht zu gefährden. Denn wem soll es nicht gut gehen, wenn nicht den Guten? Mit dieser Weisheit beschränkte sich der Konservativismus zuweilen mit fast vulgären Mitteln darauf, seine wirtschaftlichen und vor allem landwirtschaftlichen Vorteile zu suchen. Das brachte ihn außerhalb der Kreise nationalliberaler Neureicher, mit denen sich der geldsüchtige Adel verschwägerte, um jeden Kredit. Der Konservativismus erledigte sich von selbst zusammen mit den Liberalen aus Angst vor der Revolution von unten, vor den Sozialisten oder den Roten, er wurde zu einer bourgeoisen Marotte, „und jetzt wird wieder in die Hände gespuckt", um Leistung zu bringen und einen Platz an der Sonne zu gewinnen, damit Deutschland Weltgeltung behält und nicht etwa absteigen muß in die Liga der unhistorischen Völker. Das meinte staatliche Effizienz, freie Marktwirtschaft und so wenig Sozialstaat wie möglich. Für Panajotis Kondylis gibt es spätestens seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts keinen Konservativismus mehr, der noch diesen Namen als eine selbständige Richtung verdient. Die Konservativen verschwanden in den Reihen der Kapitalisten. Konservativ sein, hieß seitdem, dem Antikapitalismus entgegenzutreten,
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dem Sozialneid zu wehren, den sozialistischen Unfug zu unterbinden, die Belastbarkeit der Unternehmen zu erproben und freie Bahn dem Tüchtigen zu verschaffen in seiner Absicht, reich oder noch reicher zu werden. Das alles unterschied sich nicht vom ganz gewöhnlichen Nationalliberalismus. Die Niederlage 1918 und die Verträge von Versailles erregten das nationale und liberale Bürgertum, die Klasse der Besitzenden, mehr noch als alle übrigen besiegten Deutschen. Die Bürger, liberal, aufgeklärt, mit dem Parlamentarismus vertraut - schließlich gab es für den Reichstag das geheime und gleiche Wahlrecht, das die Engländer 1919 einführten, seit 1871 - wurden von ihren Klassengenossen im Namen der Aufklärung, der Humanität und des Liberalismus aus der Gemeinschaft der Demokraten, des „Westens" als Heilsgemeinschaft, ausgegliedert. Deutschland als Nation blieb zwar bestehen, aber die diskriminierenden Auflagen bestätigten, daß die Sieger, entgegen ihrer humanitär-liberal-demokratischen Ideologie, den Besiegten bestrafen wollten und auch in einem westlich-demokratischen Deutschland eine potentielle Gefahr erblickten. Sie gaben zu erkennen, daß Deutschland überhaupt, ganz gleich wie verfaßt, nur dann für ihre Interessen bekömmlich sei, wenn es nicht gleichberechtigt mitbestimmt und über eine beschränkte Souveränität verfügt. Das mußte auch die energischsten Demokraten erbittern, die dachten, daß ein demokratisches Deutschland wenigstens Vertrauen verdiente. Sie mußten enttäuscht feststellen, daß es „dem Westen" gar nicht um eine Wertgemeinschaft mit Deutschland ging, sondern daß die Alliierten nur ein politisch und militärisch schwaches Deutschland als ein ihnen genehmes betrachteten. Aus Trotz und Erbitterung wandten sich jetzt die sich radikalisierenden Liberalen und solche, die sich dennoch konservativ nannten, wie Panajotis Kondylis schildert, vom Westen ab und dem Konglomerat von Ideen, die als westlich galten. Es war der Westen, wie er meint, der die bildungsbürgerliche Schicht der Besitzenden radikalisierte, indem er sie aus seiner Gemeinschaft ausschloß. Vom Westen konnte daher keine werbende Kraft als Idee ausgehen, ganz abgesehen davon, daß er sich, erschöpft vom Kriege, vor den gleichen Fragen als ziemlich hilflos erwies, die Sieger wie Besiegte beschäftigten, ob die parlamentarische Demokratie noch das geeignete Mittel wäre, dem mächtigen Begehren nach freier Mitbestimmung, nach einer neuen Gesellschaft mit Freiheit in disziplinierte nationaler Solidarität genügen zu können. Der Sozialismus war das Zauberwort, die große Idee, die in mannigfachsten Variationen Nation und Nationen in versöhnte Ubereinstimmung bringen sollte.
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Diese unruhigen Stimmungen gehören für Kondylis nicht mehr zur Geschichte des europäischen Konservativismus. Nach 1918, nach der Beseitigung der letzten Überbleibsel aristokratischer Privilegierung und des ancien régime, beginnt für Kondylis etwas ganz neues, die große europäische Krise, in der sich Faschisten, Nationalsozialisten, autoritäre Liberale und Kommunisten anschickten, je nach ihren Vorstellungen mehr oder weniger radikal mit allem „aufzuräumen", was ihren Absichten im Wege stand. Das schockierende für die Leser 1986 und heute immer noch, bestand nicht zuletzt darin, daß Kondylis den Ursprung autoritärer und totalitärer Tendenzen nicht weit zurück in der Geschichte sucht, sondern sie als unmittelbares Ergebnis der Katastrophe versteht, die mit dem Ersten Weltkrieg begann. Autoritäre und totalitäre Richtungen konnten - nicht nur in Deutschland - die „Besserverdienenden" verlocken, gewalttätige Versuche, die bürgerliche Nation mit dem unbürgerlichen Sozialismus zu verschmelzen, zu unterstützen, um neue Eliten zu gewinnen. Solche Bewegungen auf der Rechten konnten sich paradoxerweise unter Umständen als konservative Revolutionäre verstehen. Aber sie waren nach dem Urteil von Kondylis weder das eine noch das andere: Sie waren Marktwirtschaftler, die nur die Sorge umtrieb, wie man rechte oder linke Revolutionäre daran hindern könnte, die Belastbarkeit des Kapitals mit allzu verwegenen Experimenten zu erproben. Die selbsternannten konservativen Revolutionäre waren nur verirrte, ängstliche Liberale, die weder herrschen noch dienen können. Sie kamen vollends unter die Räder während der Herrschaft der NSDAP. Ihr Scheitern machte ihre eklektischen Vorstellungen später nicht attraktiver. Der Sieger blieb die Marktwirtschaft, die freie Konkurrenz, das immer bewegliche Geld, wogegen der Konservativismus in zähen Rückzugsgefechten kämpfte, bis er dem Charme der Bourgeoisie und des Kapitals selber erlag und sich überflüssig machte. Seine Leser hatten vor bald dreißig Jahren ihre Mühen mit Panjaotis Kondylis, einem originellen Historiker, den gerade die leicht faßlichen Schulbuchweisheiten dazu aufmunterten, deren harmlose Grundlagen zu erschüttern. Denn die Dinge zu verstehen, heißt sie zu komplizieren, wie er mit Lucien Febvre vermutete, eine Tätigkeit, die ihn nie ermüdete oder verdroß.
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Kondylis und Montesquieu
Die Auseinandersetzung mit der klassischen Ideen- und Geistesgeschichte steht im Zentrum des Werkes von Kondylis. Es sind vor allem Denker mit einem umfassenden Anspruch auf die Erklärung von Geschichte, Staat und Gesellschaft, die auf sein Interesse stoßen. Dazu gehören Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Hobbes, Locke, Hegel, Montesquieu und Marx. Den beiden Letzteren hat Kondylis mehrere monographische Studien gewidmet. Während er in dem Buch über Marx (1987) den Nachweis führt, daß zentrale Kategorien des frühen Marxschen Denkens aus den Reflexionen über die griechische Antike und insbesondere über die aristotelische Lehre von der Politik ihre Konturen erfahren haben, 83 liegt der Schwerpunkt seiner Analysen zu Montesquieu auf einer komplex angelegten Interpretation von dessen Hauptwerk. Der „Geist der Gesetze" (1748) stellt für Kondylis ein Untersuchungsobjekt dar, an dem er epistemologische, geschichtsphilosophische, gesellschaftstheoretische, ethische und praxeologische Fragestellungen erörtert. Während eines Aufenthaltes im Berliner Wissenschaftskolleg 1994/95 konnte Kondylis unter Auswertung der internationalen Montesquieuliteratur seine Arbeiten zu diesem Grundwerk der politischen Ideengeschichte beenden. 1996 sind sie als Buch erschienen.84 Auf einige Aspekte dieser Studien sei im Folgenden eingegangen. Kondylis sieht das Denken Montesquieus durch den Umbruch in der Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt. Danach bestimmten insbesondere drei Gestaltungskräfte die Jahrzehnte um 1750. Einerseits versuchte der Adel, das aristokratisch-feudale Privilegiensystem über die
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Panajotis Kondylis, Marx und die griechische Antike. Zwei Studien, Heidelberg 1987. Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996
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Zeiten hinweg zu bewahren. 85 Diesen Bemühungen stand der absolute Staat entgegen, der zwar auf die Kooperation mit dem Adel angewiesen war, zugleich aber dessen Standesinteressen mittels rationaler und vereinheitlichender Gesetzgebung und Verwaltung bedrohte. 86 Als dritte große Potenz bildete sich die bürgerliche Gesellschaft aus, die als egalitäre Markt-, Handels- und Bildungsgesellschaft die überlieferte Wirtschafts-, Sozial- und Kulturordnung zu verdrängen begann. 87 Je mehr die damaligen Aufklärer über mögliche politische Konsequenzen dieser neuen Konstellation nachdachten, um so stärker geriet ihre Reflexion in eine doppelte Frontstellung gegen die ständisch-hierarchische Ordnung und gegen die fürstlichen Souveränitätsansprüche. Dabei entstanden zahlreiche sozialtheoretische Entwürfe, die von reformabsolutistischen Ideen bis zur Fundamentalkritik von Staat und Gesellschaft reichten. 88 Solche Denkansätze waren oft weniger einheitlich als mancher Interpret unterstellte. Im Spannungsfeld zwischen Staats-, Gesellschafts-, Kultur- und Religionskritik fiel es den Autoren schwer, eine systematisch-einheitliche Argumentation durchzuhalten. Auch auf der konservativen Seite griffen die einzelnen Schriftsteller im Zuge der Auseinandersetzungen um die „echte" und „natürliche" Ordnung auf vielfältige und oft widersprüchliche Argumente zurück, die in der aktuellen Polemik je nach strategisch-taktischem Bedarf kombiniert wurden. Wie nuancenreich das Schrifttum in diesem Lager war, hat Kondylis in seinem Konservativismusbuch von 1986 darSiehe Werner Conze, Adel, Aristokratie, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, Band 1, Stuttgart 1972, S. 1-48. Kondylis sah sich dem begriffsgeschichtlichen Ansatz dieses Wörterbuchs eng verbunden. Es sei daran erinnert, daß sein Werk über den Konservativismus (1986) Werner Conze gewidmet war. Auch sei bemerkt, daß Kondylis für dieses Lexikon u.a. den Artikel „Reaktion und Restauration" (Bd. 5, S. 179-230) beigetragen hat. Kondylis warnt jedoch auch vor einer „einseitigen begriffsgeschichtlichen Orientierung", die am Beispiel des Begriffs Konservativismus „in die Irre" führe. Siehe: Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 28. 86 Siehe die neuere Diskussion in dem Sammelband von: Helmut Reinalter, Harm Klueting, Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien-Köln-Weimar 2002. 87 Siehe Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, S. 719-800, besonders S. 7389 ff. 88 v e r gl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt 1973, S. 105 ff.
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gelegt. So erinnert er zum Beispiel an den Comte de Boulainvilliers, der das Eintreten für die Privilegien seiner Adelsgenossen mit kirchenund religionskritischen Topoi aus der zeitgenössischen Aufklärungsphilosophie verband. 89 Gleichermaßen flexibel zeigten sich nach Kondylis auch andere konservative Autoren, die mit „meritokratischen Argumenten" gegen die Amterkäuflichkeit polemisiert hatten. Zwar stellten solche Hinweise auf persönliche Verdienste und individuelle Leistungsbereitschaft das aristokratische Privilegiensystem in Frage, andererseits übernahm man jedoch weit verbreitete bürgerliche Wertvorstellungen in das konservative Argumentationsraster. Eine Flexibilität, die vieles zur Stärkung der eigenen Position im öffentlichen Meinungsstreit beitragen konnte. Eine Annäherung an den Zeitgeist, über deren Ausmaß Alexis de Tocqueville bei seinen Studien in den verschiedenen Adelsarchiven erstaunt war.90 Später Schloß sich auch Paul Hazard diesem Urteil an: „Der Adel hielt an seinen Vorrechten fest, und kokettierte doch mit den Philosophen." 91 Mangelnde Kohärenz, offensichtliche und logisch fragwürdige Schlußfolgerungen finden sich in den ideologischen Systemen aller politischen Lager. 92 Meist handelt es sich um normativ-deskriptive Mixturen, die zwar in den seltensten Fällen strikter Argumentation entsprachen, nichtsdestoweniger - oder vielleicht sogar gerade deshalb - in der politischen Auseinandersetzung zu schlagkräftigen Instrumenten werden konnten. Daß Inkonsequenzen, Widersprüche oder Spannungen zwischen antagonistischen Prinzipien nicht nur in der Kasuistik der situationsbezogenen politischen Auseinandersetzungen vorkommen, sondern auch die großen Werke der Philosophie durchziehen, ist eines der Themen im Aufklärungsbuch (1981) von Kondylis. 93 Eine Heterogenität, die er damit erklärt, daß philosophisches Denken nicht rein rational und losgelöst von den Wirren, Vag89 90
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Kondylis (1986) S. 87. „Was beim Durchlesen dieser Akten am meisten überrascht, ..., ist der Umstand, wie sehr diese Adeligen mit ihrer Zeit gehen: Sie haben den Geist und bedienen sich der Sprache der Zeit." Siehe Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution. München 1968, S. 269. Paul Hazard, Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert, Hamburg 1949, S. 156. Ernst Topitsch, Kurt Salamun, Ideologien. Herrschaft des Vorurteils, München-Wien 1972, S. 108. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981.
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heiten und Kämpfen des Lebens verlaufe, sondern eng mit dessen A m bivalenzen verbunden sei. Insofern gehört die Annahme eines linear fortschreitenden Rationalisierungsprozesses, der das Denken von einer rationalen Kumulation zur nächsten treibe, zu den Illusionen der Philosophiegeschichte. Die Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Geist und Sinnlichkeit sind nach Kondylis für philosophisches Denken konstitutiv. Zur Charakterisierung dieser These sei auf die Schlußpassage in seiner Studie über den „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" verwiesen: „Begriffe und Werte sind nicht Richtlinien, die dem Geschehen den Weg weisen, sondern Funktionen dieses Geschehens in allen seinen Peripetien und Schwankungen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, was bisher diesbezüglich gegolten habe, werde fortab nicht mehr gelten." 9 4 Wer den philosophischen Systemen ein möglichst hohes Maß an Kohärenz unterstellen möchte, scheitert oft daran, daß diese immer auch in einem polemischen Bezug zu anderen zeitgenössischen oder früheren Konzeptionen entwickelt wurden. Das bedeutet, daß Abgrenzungen, Verteidigungen, Angriffe, Rechtfertigungen oder Denunziationen die jeweiligen logisch-einheitlichen Systemansprüche permanent unterlaufen. J e näher der einzelne Denker an der historischen Wirklichkeit ist, je intensiver er die Realität mit ihren vielfältigen Facetten in ein theoretisches Konstrukt einordnen möchte, um so mehr Bruchlinien, Akkomodationen und politische Parteinahmen werden seine Schriften aufweisen. In einem breit gefächerten Werk wie dem „Geist der Gesetze" sind solche Integrationsprobleme offensichtlich. Die Vielfalt historischer, geographischer, kultureller, ökonomischer, religiöser und demographischer Beobachtungen sowie die zahlreichen normativen Einsprengsel machen die Lektüre des „Geist der Gesetze" stellenweise zu einem mühseligen und zähflüssigen Unterfangen. Dementsprechend gibt es eine lange Reihe von Montesquieukritikern. Viele haben ihm einen antiquarisch-archivalischen Aufzählungstrieb vorgeworfen. Schon Voltaire hatte von einem Faktensammelsurium gesprochen, dem der innere Zusammenhang fehle. Geistreicheleien stünden an der Stelle von Beweisen. Im letzten Jahrhundert hat u. a. Viktor Klemperer auf den „schwankenden Freiheitsbegriff" Montesquieus
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Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. S. 296.
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hingewiesen und von schwer verständlichen „Ineinanderschlingungen" gesprochen. Montesquieu „hasche" wie sein südfranzösischer Landsmann Montaigne mit „kindlicher Freude nach bunten Fremdartigkeiten". 9 5 Kritikpunkte, die Kondylis nicht fremd sind. Auch nach ihm liegt ein Grundproblem des „Esprit des Lois" darin, daß das Werk unzählige Fakten ausbreite, ohne sie durch eine systematische Hierarchisierung zu ordnen. In diesem „bunten Geflecht" könne sich der Forscher „verloren" vorkommen. Ambivalenzen und Spannungen durchzögen das Werk, das stellenweise eine „fatale Zweideutigkeit" aufweise. Im Zuge der aufeinanderfolgenden Kapitel fasere der „rote Faden aus und beginne abzureißen." 9 6 Natürlich gibt sich Kondylis mit solchen Bemerkungen
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zufrieden. Er möchte vielmehr eine Gesamtinterpretation vorlegen, innerhalb derer die Widersprüche und Ungereimtheiten zwar nicht aufgelöst, aber zumindest erklärt und verständlich gemacht werden können. Mit Hilfe von zwei „antithetischen Begriffspaaren" versucht Kondylis, seine Interpretation zu strukturieren. Einmal geht er davon aus, daß der Gegensatz von „Kausalem - Normativem" zur Charakterisierung des Zugriffs von Montesquieu auf Geschichte und Gesellschaft dienen könne. Neben dieser Problemstellung wirft Kondylis zusätzlich ein inhaltlich akzentuiertes Interpretationsnetz über den „Geist der Gesetze". Montesquieus soziopolitisches Denken müsse im Spannungsfeld von „Konservativismus und Liberalismus bzw. Reformismus" gesehen werden. Während das erste Begriffspaar im Rahmen des Konflikts zwischen kausaler und normativer Betrachtungsweise innerhalb der „Logik des neuzeitlichen Rationalismus" angesiedelt sei, verweise der zweite Gegensatz auf die „Mittelstellung" Montesquieus zwischen der traditionalen ständischen Ordnung und der modernen bürgerlichen Gesellschaft. 97 Zunächst sei die erste Unterscheidung kurz skizziert. Kondylis schließt sich der weit verbreiteten Ansicht an, daß Montesquieu zu den Begründern der modernen Sozialwissenschaft gerechnet werden müsse. Im „Geist der Gesetze" habe er ein Werk mit einer Forschungsperspektive vorgelegt, die das Geflecht von Klima, Religion, Gesetzgebung, Tradition, Sitten und Verhalten zum Thema gemacht
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Victor Klemperer, Montesquieu, Band 1, Heidelberg 1914, S. 29. Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996, S. 53. Kondylis a.a. O . S . 10 ff.
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habe, ohne auf theologische Begründungen zurückzugreifen. Die Gesellschaft sei für Montesquieu ein „geschichtliches und eigengesetzliches Gebilde", das für den Forscher die Frage nach „sozialen Gesetzmäßigkeiten" und nach der „funktionalen Notwendigkeit" 98 der Funktion einzelner Teile im Rahmen der Gesamtordnung aufwerfe. 99 Ein Werk wie der „Geist der Gesetze", das asiatische, antike, mittelalterliche und neuzeitliche Gesellschaftsformen behandle und eine Materialfülle enzyklopädischen Ausmaßes 100 biete, benötige neben den chronologischen und geographischen Orientierungsmarken weitere Klassifizierungskriterien. Nach Kondylis ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal Montesquieus, dessen dieser sich zur Durchdringung des historischen Materials bediene, die klassische Staatsformenlehre. Allerdings variiere er die aristotelische Einteilung in Monarchie, Aristokratie und Demokratie (Politie) und in deren Entartungsformen, indem er diese Dreiertypologie auf Republik, Monarchie und Despotie zuspitze. Die normativ-deskriptive Doppelbedeutung dieses Ordnungsschemas ist offensichtlich. Die Verwendung des negativ beladenen Despotiebegriffs deutet darauf hin, daß der Dreiteilung bei Montesquieu nicht nur eine wertneutrale Differenzierung, sondern auch eine ethisch-politische Bewertung zu Grunde liegt. So sehr Montesquieu
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Kondylis erörtert, wie im Denken Montesquieus das Prinzip der „funktionalen Notwendigkeit" mit der Anerkennung naturrechtlicher und ethischer Prinzipien in Widerspruch geraten kann. Das gilt zum Beispiel für die Bewertung der Sklaverei, die für die Existenz bestimmter gesellschaftlicher Formationen notwendig ist, dem Naturrecht aber widerspricht. Solche Beispiele sind im „Geist der Gesetze" vielfach zu finden. Es fällt nach Kondylis deshalb schwer bei Montesquieu, „von einer durchdachten und kohärenten theoretischen Einstellung zu sprechen". (a.a.O. S.47) Uber Montesquieus Ideen zur „Universalität menschlicher Wertvorstellungen" siehe auch: Isaiah Berlin, Der angebliche Relativismus des europäischen Denkens im 18.Jahrhundert, in: Ders., Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, Frankfurt am Main, 1992, S. 97-123. Es war die Auseinandersetzung mit Montesquieu, die Emile Durkheim zu seiner struktural-funktionalen Betrachtungsweise brachte. Vergi, die Einleitung von René König in: Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 25 ff. Es sei daran erinnert, daß bereits die Akademie in Bordeaux Montesquieu 1719 beauftragt hatte, eine „physikalische Geschichte der alten und modernen Welt" in Form einer Enzyklopädie herauszugeben.
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nach Kondylis die Despotie mit abwertenden Attributen wie Gesetzlosigkeit, Tyrannei und Unmäßigkeit belegt, so stark hebt er in seiner Staatsformenlehre die Republik und die Monarchie positiv hervor. Während Montesquieu in der Monarchie die dem neuzeitlichen Europa angemessene Staatsform sieht, ordnet er die Republik der klassischen Antike zu. Mit dieser Zuschreibung fügt er sich in die monarchisch geprägte Staatslehre der Frühen Neuzeit ein. Wie viele Theoretiker dieser Richtung vertritt er die Auffassung, daß die antiken Republiken als kleinräumige Gebilde durch Geschlossenheit, Uberschaubarkeit, Genügsamkeit und Tugendhaftigkeit bestimmt gewesen seien. Eine Art rückwärtsgewandte Utopie, aus der Montesquieu allerdings keinen Impuls für eine Kritik an der Gegenwart ableitete. Sowohl die aristokratische als auch die demokratische Variante der Republik lehnt er als Modell für seine eigene Zeit ab. Beide Formen könnten soziale Verhältnisse produzieren, die seinen Vorstellungen von einer ausgewogen-balancierten Gesellschaftsordnung widersprechen. Während die Aristokratie eine einseitige Bevorzugung des Adels auf Kosten anderer Schichten begünstige, fördere die Demokratie die gesellschaftliche Gleichmacherei. Kondylis faßt die Bedenken Montesquieus zusammen: „Neigt die obere Schicht in einer aristokratischen Verfassung zur Festigung ihrer privilegierten Stellung durch steigende Abgrenzung gegen die übrigen Bürger, so führt die Demokratie zur Anarchie und somit schließlich zur Despotie, da sie die Gleichheit bis zur letzten Konsequenz anstrebt."101 „Polarität und Nivellierung" widersprechen einer von Montesquieu gewünschten Gesellschaftsordnung, die auf den Prinzipien der „Mannigfaltigkeit und Heterogenität" beruhen müsse. Für seine Gegenwart heißt dies, daß sowohl aristokratisch-feudale als auch bürgerlich-moderne Strukturen in der Gesellschaft nebeneinander existieren müssen. Man könnte von einem ständisch-bürgerlichen Ausgleichsmodell sprechen. Um den Bestand dieses komplexen Gefüges zu garantieren, bedarf es nach Montesquieu einer stabilen politischen Ordnung, die nur durch die Monarchie garantiert werden könne. Kondylis erklärt die Bevorzugung der Monarchie durch Montesquieu auch mit den damaligen Auseinandersetzungen in Frankreich um den Ursprung und das Wesen des Königtums. Im Gegensatz zur Herrschaft Ludwigs XIV., in der Montesquieu wegen ihrer Willkür, der Zurückdrängung des politischen Einflusses des Adels, der religiö101
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sen Intoleranz, der zentralistischen Machtkonzentration, der Zensur und des kriegerischen Expansionismus eine Form des Despotismus gesehen habe, entwerfe er ein positives Bild der Monarchie, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetze. Dazu gehörten die Bewahrung der privilegierten Sonderstellung des Adels, die Anerkennung gewaltenteilender Institutionen und die Garantie der Freiheit. Merkmale, die nach Kondylis in dem erwähnten Spannungsfeld zwischen „Konservativismus - Liberalismus bzw. Reformismus" zur Geltung kommen. Auch wenn Montesquieu an der gesellschaftlichen Bedeutung des Adels festhält, ist sein Denken jedoch weit davon entfernt, als ideologische Speerspitze zu Gunsten einer restaurativen aristokratischen Politik benutzt werden zu können. Es geht ihm nicht im Sinne der adeligen Fronde um die Rückgewinnung früherer Positionen zu Lasten der staatlichen Souveränität, sondern um eine sinnvolle Einordnung der Aristokratie in das politische und soziale Gesamtgefüge von Staat und Gesellschaft. Kondylis betont, daß Montesquieu als feudaler Grundbesitzer und Mitglied des Parlaments der Guyenne in Bordeaux zeitlebens den „Grundwerten des Adels" verbunden geblieben sei und in seinen Schriften „eine wohlwollende Einschätzung von dessen sozialpolitischer Funktion" vertreten habe. Dabei verweist er vor allem auf das Postulat Montesquieus, daß der Adel als vermittelndes, ausgleichendes und kontrollierendes Element der Grundpfeiler einer „gemäßigten" Monarchie sei. Seine Existenz sei in den Augen Montesquieus die wichtigste Garantie gegen das Umschlagen der Monarchie in eine Despotie. Diese werde nicht nur durch Machtmißbrauch und Tyrannei gekennzeichnet, sondern auch durch die Einebnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Als Gegenbegriff zur Despotie gewinnt für Montesquieu der Freiheitsbegriff seine spezifischen Konturen. Kondylis verdeutlicht, wie weit Montesquieu mit seinem Freiheitsverständnis vom modernen Denken entfernt ist. Freiheit ist für Montesquieu nicht mit der Emanzipation des Individuums aus der ständischen Gliederung verbunden, sondern setzt deren Existenz voraus, allerdings angereichert durch zahlreiche Elemente der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Freiheit existiert für Montesquieu nur dann, wenn die bestehende Sozialhierarchie gegen egalisierende Eingriffe durch den Staat bewahrt werden kann. Er entwirft eine defensive Konzeption zur Bewahrung eines Schonraumes, innerhalb dessen sich die Mitglieder der jeweiligen sozialen Gruppe „frei" nach ihren Vor-
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Stellungen entwickeln können. Kondylis faßt zusammen: „Für Montesquieu gibt es Freiheit in erster Linie da, wo Sicherheit und Sicherheitsgefühl gegenüber unberechenbaren und rechtlich ungerechtfertigten Eingriffen in den privaten Bereich, also in die physische Unversehrtheit und in das Eigentum der Person uneingeschränkt zu haben sind." Das heißt, daß Freiheit mit zivilen, mit Schutzrechten zu tun hat, die von einer souveränen Gewalt, die am Kriterium der Mäßigung orientiert sein muß, respektiert werden. Eine offensive Mitgestaltung von Staat und Gesellschaft ist mit einem solchen Freiheitsbegriff nicht verbunden. Selbst wenn Montesquieu von „politischer Freiheit" spricht, denkt er nicht an öffentliches Wirken, sondern an einen privaten Bewegungsraum. Diese Konnotation drückt sich in einer erstaunlichen Formulierung im 2. Kapitel des 1. Buches im „Geist der Gesetze" aus: „Die politische Freiheit besteht in der Sicherheit oder der Überzeugung, man habe seine Sicherheit." Somit hebt Kondylis entgegen der späteren progressiv-liberalen Sicht nicht nur die wesentliche Rolle des Adels im Gesellschaftsverständnis von Montesquieu hervor, betont nicht nur die Bedeutung der Monarchie, sondern führt auch den Freiheitsbegriff als Indikator für das vormoderne soziopolitische Denken Montesquieus an. Diese Argumentationslinie, die auf dem Unterschied zwischen Montesquieu und dem Liberalismus beharrt, führt Kondylis auch bei den Erörterungen über die Gewaltenteilungslehre weiter. Dabei weist er nach, daß für Montesquieu nicht nur das politisch-institutionelle Funktionieren wichtig ist, sondern daß er der Gewaltenteilung eine eminente Bedeutung für die Stabilität der Gesellschaft, das heißt für das Gleichgewicht der unterschiedlichen sozialen Gruppen zumißt. „Die Verteilung der Gewalten dient nicht als Raster zur beliebigen Modellierung der soziopolitischen Kräfte, sondern paßt sich selber den vorgegebenen Realitäten an." Kondylis verdeutlicht den Zusammenhang zwischen politischinstitutionellem Aufbau und gesellschaftlicher Konstellation am Beispiel der französischen Revolutionsverfassung von 1791. Diese implizierte die Freisetzung der Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft und die Zurückdrängung und Auflösung der alten ständischen Ordnung. Nach Kondylis leitete die Aufhebung des Adels und seiner „wohlerworbenen Rechte" eine Veränderung der Gesellschaft „in Richtung auf die rechtliche und soziale Egalisierung" ein, die dem Gesellschaftsverständnis von Montesquieu diametral entgegengesetzt gewesen sei. Es gehöre zu den „vielen Paradoxien der Geistesgeschichte", daß der
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Liberalismus im Zuge der Diskussionen um die Verfassung von 1791 sich auf Montesquieu berufen habe, obwohl dieser in einem konservativen Sinne auf dem „Gleichgewicht" der existierenden „soziopolitischen Kräfte" beharrte. Damals habe eine „Uminterpretation" Montesquieus zum liberalen Verfassungstheoretiker begonnen, die bis heute maßgeblich geblieben sei. Die Interpretation von Kondylis erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Herausarbeitung der sozialen Stabilisierungsaufgaben der gewaltenteilenden Institutionen. Ebenso geht er näher auf die Funktionen von Exekutive, Legislative und Judikative im Rahmen der Regierungslehre von Montesquieu ein, die dieser am Beispiel des englischen Vorbildes entworfen habe. Wie es im Modell von Montesquieu auf der gesellschaftlichen Ebene zu einem permanenten Ausgleich kommen müsse, so seien auch die politischen Institutionen nur innerhalb eines Systems funktionsfähig, das durch gleichberechtigte Entscheidungsträger gestaltet werde. Dabei bestünde zwischen Legislative und Exekutive genau gesprochen keine Gewaltenteilung, sondern vielmehr eine Gewaltenverschränkung, eine „Kreuzung der Gewalten". An der legislativen Prozedur sei nicht nur das Parlament, sondern auch der König beteiligt. Gleichermaßen werde die exekutive Gewalt der Krone durch Kontrollen und Eingriffe des Parlaments mitgeformt. Die „souveräne Gewalt" werde also nicht von einem „einheitlichen, sondern von einem zusammengesetzten und heterogenen Organ" ausgeübt. Ähnliches gelte nach Montesquieu auch für die „richterliche Gewalt", die eher ein „Anhängsel der Legislative" als ein selbständiges, dauerhaftes und „von den übrigen Gewalten getrenntes Staatsorgan" sei. Kondylis faßt seine Interpretation der Gewaltenverschränkung bei Montesquieu wie folgt zusammen: „Offenbar ist dieses innerlich lockere und vielfach undurchsichtige Geflecht nicht dazu bestimmt, die funktionelle Selbständigkeit der drei Gewalten zu gewährleisten; eher zielt es darauf, deren bestmögliches Zusammenwirken, d. h. deren gleichzeitige Verteilung und Verschränkung - im Hinblick auf höhere politische und soziale Ziele abzusichern." 102 Ein Ubergewicht der Legislative über die Exekutive würde dieses kooperative Konsensmodell in Frage stellen. Montesquieus Argumentation sei so eng mit dem Postulat des Ausgleichs gekoppelt, daß er die englische Verfassungswirklichkeit mit der Verlagerung der Macht auf die Seite des Parlaments aus seiner Darstellung ausgeblendet habe. 102
Kondylisa.a.O.S. 78.
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Ebenso habe er die Parlamentarisierung der Regierung, die Ausbildung des Kabinettsystems und den wachsenden Einfluß der Parteien nicht in adäquater Weise einschätzen können. Es seien gerade die neueren, dynamischen Entwicklungen in der englischen Verfassungsordnung, die Montesquieu in seine Reflexion nicht einbeziehe, die aber zu den Essentials des englischen und europäischen Liberalismus gehörten. Dementsprechend kann es nicht überraschen - und Kondylis hebt dies besonders deutlich hervor - , daß Montesquieu eine zentrale Einsicht der politischen Theorie von John Locke außer acht lasse. Dieser hatte zwar die Teilung der Gewalten anerkannt, aber im Unterschied zu Montesquieu die überlegene Machtposition des Parlaments als Kern des Regierungssystems gesehen. Eines der schwierigsten Interpretationsprobleme des „Geist der Gesetze" wird durch die Frage aufgeworfen, inwieweit das englische Muster Vorbildcharakter für Frankreich habe. Dabei kann nicht übersehen werden, daß Montesquieu sich zu einer möglichen Übertragung des gesamten Modells oder einiger seiner Teile nicht äußerte. Er enthielt sich auch konkreter Vorschläge zur Reform der französischen Monarchie. Weder formulierte er Ideen zur Einrichtung von Generalständen, wie es damals den Wunschvorstellungen der adeligen Fronde entsprach, noch mahnte er eine Veränderung der französischen Institutionen im Sinne einer konstitutionell-repräsentativen Neuordnung an. Für diese Zurückhaltung mag es eine ganze Reihe von Gründen gegeben haben. Einer liegt sicherlich in der Furcht vor der Zensur. Zudem erinnert Kondylis daran, daß nach Montesquieu die englische Verfassungsentwicklung mit der „starken Anwesenheit demokratischer Komponenten" nicht nach Frankreich hätte übertragen werden können, zu unterschiedlich seien die Verhältnisse in beiden Ländern gewesen. Dennoch biete England eine Art Orientierung für eine „gemäßigte französische Monarchie". Zur Aufrechterhaltung einer solchen normativen Perspektive habe Montesquieu „ein mehr oder weniger fiktives Bild der englischen Verfassung" entworfen. Genaueres läßt sich nach Kondylis über den Verbindlichkeitscharaker des englischen Musters bei dem französischen Denker nicht sagen. Dem Leser wird bei den Ausführungen von Kondylis deutlich, daß diese Vagheit und Unbestimmtheit auch mit den Vorstellungen von Montesquieu über den Lauf der Geschichte im „Geist der Gesetze" zu tun hat. Montesquieus Geschichtsverständnis kann nicht als Vorstufe zu den späteren geschichtsphilosophischen Fortschrittsentwürfen eines Turgot oder eines Condorcets bezeichnet werden. Zwar anerkennt er
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eine langfristige Entwicklung und denkt innerhalb des Stufenmodells Antike, Mittelalter und Neuzeit. Veränderungen vollziehen sich aber immer innerhalb des Tryptichons Republik, Monarchie und Despotie. Ein auf moralisch-normative Vollkommenheit und auf soziopolitische Idealität ausgerichtetes Ziel der Geschichte ist ihm fremd. Wenn er von Vollkommenheit spricht, meint er vielmehr einen Zustand, der in jeder Gesellschaft durch die gelungene Anpassung eines Elements an die Gesamtordnung erreicht werden kann. Kondylis spricht in diesem Zusammenhang von einem „technisch-funktionellen" Perfektibilitätsverständnis. Dennoch kann sich Montesquieu als Kind des 18. Jahrhunderts nicht ganz der Anerkennung eines politisch-moralischen Fortschritts entziehen. So spricht er sehr akzentuiert von der Entwicklung des europäischen Rechtssystems, das die antiken und mittelalterlichen Grausamkeiten längst hinter sich gelassen habe. Trotz solcher Tendenzen bleibt die Geschichte für ihn „offen, fragmentarisch, schwankend und wankelmütig" (Kondylis). Weder steuert sie auf eine offene Krise zu oder mündet in Elend und Dekadenz, noch wird sie zur historischen Vernunft und überwindet alle Ambivalenz. Das Normativ· Vernünftige nimmt im Verlauf der Geschichte nicht kontinuierlich zu, sondern bleibt in einem stabilen Mischungsverhältnis mit den Gesetzen der Kausalität. Wer die menschlichen Dinge so sieht, der kann wohl kaum zu denjenigen gerechnet werden, die sich „von der Zukunft den vollständigen und gültigen Sieg des Naturrechts" versprechen. 103
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Kondylis a. a. O. S. 70.
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Mechanik der Mächte Uber die politischen Schriften von Panajotis Kondylis Wenngleich sich Panajotis Kondylis spät, erst in den neunziger Jahren, nachdem seine großen geistesgeschichtlichen Studien geschrieben waren, politischen Problemen und politischer Publizistik zuwandte 1M , wird diese Hinwendung denjenigen, der mit seinem Werk vertraut war, nicht überrascht haben. Der Erklärungsanspruch, mit dem Kondylis generell an das menschliche Verhalten herantrat, mußte neben der Philosophie im engeren Sinne früher oder später auch den Menschen in seinen „sozialen Beziehungen" erfassen. Kondylis wollte das menschliche Verhalten nicht aus der Sicht einzelner geistiger Disziplinen erhellen. Ohne sich postmoderner Indifferenz nähern zu wollen, ging er vielmehr davon aus, daß das menschliche Verhalten im Rahmen der jeweiligen Tätigkeitsbereiche auf gleiche Grundstrukturen zurückzuführen sei und mit einer einheitlichen Begrifflichkeit beschrieben werden könne. Im Rahmen seiner Diagnose vom Ende der Neuzeit und seiner Prognose von der Abschaffung des Liberalismus im 21. Jahrhundert analog zum Untergang des Kommunismus im 20. Jahrhundert, sowie der damit einhergehenden Atomisierung im sozialen und geistigen Leben entwickelte Kondylis ein funktionalistisches Erklärungsmodell, das mit Totalitätsanspruch auftrat. Kondylis zielte auf das Politische, das er sowohl von geschichtsphilosophischen Uberformungen utopischer und idealistischer Provenienz zu befreien, als auch von existentialistisch-naturalistischen Reduktionen auf einen „Kampf aller gegen alle" abzuheben suchte: Ganz gleich, was Menschen tun, ob sie als Politiker handeln, als Wissenschaftler, Künstler oder Privatpersonen - sie beziehen mit Machtansprüchen verknüpfte, auf Zustimmung von den einen und Ablehnung von den anderen angelegte, Freundschaft und Feindschaft hervorrufende oder verstärkende Positionen. Alle Ambitionen, solche ICH Vgl. die beiden Sammelbände Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992 (= PP) sowie Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001 (= DP)
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Machtansprüche mit Hilfe „der" Philosophie, „der" Wirtschaft oder „der" Kommunikation zu harmonisieren oder zu überspielen, sind nach Kondylis, wenn nicht Ausdruck einer gewissen Naivität, ihrerseits Anzeichen eines geschickt getarnten bzw. normativ erhöhten Machtanspruchs, der spätestens in einem existentiellen Ernstfall, aber meistens auch nur dort, offen zu Tage tritt. Zu dem von Kondylis vertretenen, auf ein universelles Politisches zielenden Erklärungsanspruch steht seine Beschäftigung mit konkreten politischen Problemen und Ereignissen in einer eigentümlichen Spannung, denn das Politische tritt in doppelter Gestalt auf: Als Gegenstand der Untersuchung ist es wie Kunst, Religion oder Wissenschaft ein Teilbereich menschlichen Lebens - und als „innere Logik"105 menschlicher Entfaltung ist es das Element, das alle Teilbereiche durchdringt; das Politische ist bei Kondylis kein eigener - bei Hannah Arendt zum Beispiel von Gesellschaft und Privatheit abgegrenzter Bereich.106 Das betrifft offenbar auch seinen persönlichen Erfahrungshintergrund: Antitotalitäre Bedenken sucht man bei Panajotis Kondylis vergebens. Als motivische Ressource begründet das allgegenwärtige Machtstreben einen Primat des Politischen, d. h., diese Dimension des Menschseins ist gegenüber allen anderen privilegiert. Wir haben es in diesen politischen Aufsätzen genau genommen also mit einer politischen Deutung des Politischen zu tun, wobei die Betonung des von Kondylis verfolgten Erkenntnisinteresses sowohl auf dem Attribut als auch dem Substantiv liegen kann. Die Stärke seiner Analysen besteht darin, eine in historischen und politischen Besonderheiten und Parteilichkeiten verborgene ontologische Struktur aufzuzeigen und sich dabei von keinerlei subjektiver Intentionalität politischer, moralischer oder normativer Art irritieren zu lassen. Kondylis wird jene Leser meist enttäuschen, die mit dem Attribut „politisch" eine bestimmte Parteilichkeit oder zielgerichtetes Engagement verbinden. Dafür werden Einsichten und Prognosen vor allem im Zusammenhang von Globalisierung und Menschenrechten möglich, die vielen politisch denkenden ios
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Intellektuelle behaupten, daß Intellektuelle die Welt besser verstehen als alle anderen. Panajotis Kondylis im Gespräch mit Martin Terpstra, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42 (1994) 4, S. 683-694, hier S. 683 Vgl. Stephan Lahrem/Olaf Weißbach: Grenzen des Politischen. Philosophische Grundlagen für ein neues politisches Denken, Stuttgart/Weimar 2000
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und handelnden Menschen verborgen bleiben, oft verborgen bleiben müssen. Die anthropologischen Konstanten, die Kondylis mit dem Siegel der Objektivität versieht, waren nicht nur das Thema seiner nachgelassenen „Sozialontologie"; in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 1995 bezeichnete er beispielsweise die im Kommunikationszeitalter aufkommenden Neuerungen genauso „geschichtlich und sekundär" wie die Einführung von Schrift und Buchdruck - mit der für seine politischen Schriften begrifflich ungewöhnlichen, aber erhellenden Begründung, daß sie den „primären anthropologischen und sozial-ontologischen [!] Bereich" kaum berührten. 107 Auch die Geschichte ist für Kondylis, wie das Politische, zweierlei: Sie erzählt von der unwandelbaren conditio humana, und sie erzählt von der Relativität und Vergänglichkeit der Normen, Wünsche, Mythen und Ideen. Insofern es gilt, das menschliche Kontinuum in den ephemeren Erscheinungen der Geschichte zu erkennen, versteht sich Kondylis nicht als Skeptiker; seine Vorbehalte mögen die des Skeptikers und Nihilisten sein, aber er ist letztlich weder das eine noch das andere. Die Erkenntnis der menschlichen Dinge, mithin die Erkenntnis der Wahrheit, hält er für möglich. Ob Revolution oder Konterrevolution, „die sozialontologische Gewißheit besagt, daß an die Stelle der Gesellschaft wiederum Gesellschaft treten wird". 108 Das Politische ist Interaktion, es ist kein Außerhalb des Sozialen, sondern Moment des Sozialen selbst. Die Gesellschaft besteht als Politische; das Politische ist ihre „sozialontologisch verstandene Ordnung". 109 Es wird noch zu fragen sein, ob Kondylis die Distanz, die er für diesen deskriptiven, „wertfreien" Erkenntnisprozeß braucht, konsequent einhalten kann, ob er als Wissenschaftler aus der Sphäre des geschichtlichen Lebens heraustreten kann. Diese Sphäre ist seiner Beschreibung nach voller mehr oder weniger manifester und konfliktträchtiger Selbsterhaltungstriebe, die langfristig nicht zu befriedigen sind, ohne daß sie durch wertsetzende Entscheidungen gesteigert und in Machtkämpfe überführt werden. Kondylis blickt wie vom Feld107 108 109
Zit. nach Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 182 Vgl. den Beitrag von Peter Furth über die Sozialontologie in diesem Band Panajotis Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Band 1 (Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität), hrsg. von Falk Horst, Berlin 1999, S. 212
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herrenhügel auf die Schlachten des Lebens, aber als neutraler Beobachter: Die jeweiligen Werte und Weltbilder, wie überhaupt die Emanationen der Kultur, sind ihm nichts anderes als Waffen im Selbsterhaltungskampf. Kultur ist die Fortsetzung des Selbsterhaltungskampfes mit anderen, ideellen Mitteln. Das Weltbild, das die zur Selbsterhaltung nötige Orientierungsfähigkeit garantiert110, ergibt sich aus einem „Absonderungsakt", aus der „Entscheidung", deren Inhalt der Feind e contrario vorwegnimmt. Das Weltbild ist Teil der Identität und hat zum Preis die „Vergewaltigung des objektiv Daseienden" (ME, 20). In der subjektiven Perspektive der Handelnden erscheint das Weltbild durchaus als objektiv und allumfassend, weshalb Kondylis auch von „objektivierter Entscheidung" oder „Objektivierung" spricht. Das Subjekt erniedrigt sich durch Unterwerfung seiner selbst unter ein bestimmtes Weltbild und es erhöht sich, indem es von anderen dasselbe verlangt. Selbst der Herrscher muß theoretisch dienen, um praktisch herrschen zu können. Das Weltbild ist stark, wenn es erlaubt, Niederlagen umzuinterpretieren oder wenn seine Antworten auf letzte Fragen gegen feindliche Polemik immunisiert werden können. Die Wahrheit muß außerhalb des feindlichen Zugriffs bleiben, wobei Menschen und Gruppen dort, wo sie zu Gegnern werden, um dieselben Ressourcen und in Folge dessen auch um die richtige Interpretation derselben Begriffe wie „Natur", „Mensch", „Vernunft" oder „Geschichte" kämpfen; keine Feindschaft ohne gemeinsamen Kampfplatz. Gemeinsamkeit im Ziel kann, statt Freundschaft zu verbürgen, die Feindschaft noch verstärken, nämlich dann, wenn keine Einigkeit darüber erzielt wird, welchen Rang jede Seite bei der Verfolgung dieses Zieles einnimmt und welche Vorteile sie daraus zieht: „... der Metzger [ist] nicht mit dem Obsthändler von gegenüber, sondern mit dem Metzger von nebenan verfeindet..." (DP, 73). Die Objektivität, die Kondylis für die Beschreibung dieser Vorgänge beansprucht, ist nicht zu verwechseln mit der von ihm so genannten und in der Sphäre der Relativität angesiedelten „Objektivierung". Die Distanz des interesselosen, deskriptiv erkennenden Betrachters ermöglicht in „Macht und Entscheidung" der „theoretische Ausnahmestatus" (ME, 123). Mußte es also auch in dieser 1984 erschienen Studie über die „Herausbildung der Weltbilder und die
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Vgl. Panajotis Kondylis: Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984 (= ME), S. 14 passim
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Wertfrage" schon residuale Möglichkeiten der Außenperspektive geben, so kennzeichnet es die politischen Schriften und die nachgelassene „Sozialontologie", daß sie erklärtermaßen Anspruch auf eine Objektivität erheben, die nicht in der „objektivierten" Subjektivität der Subjekte aufgeht, sowie auf eine Objektivität, die die Ganzheit des sozialen Lebens anders vorstellt als eine Summe von Pluralismen. Wenn aber alles Denken (objektivierte) Subjektivität ist, wie kann es dann überhaupt Objektivität im strengen Sinne geben? Im Rahmen lebensweltlicher Kämpfe tritt das Denken per definitionem immer instrumenteil auf. Obwohl Wille und Egoismus des Menschen als treibende Kräfte unverkennbar schopenhauersche Züge tragen, gibt es, zumindest in „Macht und Entscheidung", keine Transzendenzerfahrung jenseits des Willens, kein reflexives Innehalten in Augenblicken der Erschütterung durch ästhetische Erlebnisse: „Der Preis für die wertfreie Erkenntnis ist das Leben, und deshalb sind ihre Aussichten denkbar gering." (ME, 12) Wenn die wertfreie Erkenntnis nicht möglich ist, fällt die Kondylissche Objektivität zwangsläufig unter relative Objektivierung, und wenn es doch wertfreie Erkenntnis gibt, gibt es auch Bereiche des menschlichen Lebens, die nicht unter den Instrumentalismus des Selbsterhaltungstriebes fallen. Dann gäbe es ein materiell interesseloses geistiges und kulturelles Leben, dann wären eine sehr problematische Konsequenz für den Ansatz von Kondylis „Wahrheit" und (objektivierte) „Subjektivität" möglicherweise kein Widerspruch. Mythen, Religionen, Ideologien und Stile sind aber aus der Sicht des „deskriptiven Dezisionismus" (ME, 39) (aus der Sicht desjenigen, der sich entscheidet, sich nicht zu entscheiden) prinzipiell gleichwertige (für sich genommen wertlose) kollektive weltanschauliche Entscheidungen, die unter den Bedingungen der Machtlosigkeit zum Untergang verurteilt wären und daher der existentiellen Selbstbehauptung bedürfen, um geistige oder kulturelle Geltung zu erlangen. Das Ausmaß ihrer jeweiligen Geltung ist eine Frage der Macht und eben keine Wahrheitsfrage; es gibt für Kondylis unter den kämpfenden Gruppen keine Repräsentanten potentiell wahrer politischer Verhältnisse, die gar wie bei Marx die Politik abzuschaffen versprächen, keine historischen Subjekte wie die Arbeiterklasse oder zu privilegierende Minderheiten. Auch geht fehl, wer aus Kondylis' Kritik an traditionell linken normativistischen oder moralischen Ideologemen die Behauptung ableitet, Kondylis sei in Fragen politischer Parteilichkeit rechts anzusiedeln. Sein nach 1989 gestiegenes Interesse an politischen Fra-
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gen Schloß zwar die Hoffnung ein, das souverän gewordene Deutschland werde die herrschenden Ideologien der Sieger von 1945 einer kritischen Prüfung unterziehen und die ihm aufgrund seines geistigen und wirtschaftlichen Gewichts zustehende weltpolitische Rolle übernehmen. Man könnte einen solchen Ansatz als Aufruf zur Normalisierung begreifen, aus der Deutschland als eine Kraft unter vielen anderen Kräften hervorgegangen sein würde. Aber dieser skeptische Denker zeigt generell wenig Neigung, irgend jemanden oder irgend etwas zu verteidigen. Vielversprechender könnte es sein, die Spuren zu verfolgen, die auch in den Spätschriften noch den jungen griechischen Marxisten, etwa an seiner immer wieder angedeuteten Sympathie für die Sowjetunion, erkennen lassen.111 Insofern es für Kondylis keine absolut gültige menschheitsbeglückende Eschatologie gibt und er sich jeglicher metaphysisch begründeter Identitätskonzepte enthält, ist sein Geschichtsbild im Grunde noch vitalistischer, ja, materialistischer als dasjenige des geschichtsphilosophisch aufgeladenen Materialismus, den er um seine utopischen und humanitären Aspekte beschnitt. Auf dieser Grundlage kritisiert Kondylis zum Beispiel den substantialistischen bzw. nominalistischen Kulturbegriff Samuel Huntingtons und dessen pessimistischen Ausblick auf einen „Kampf der Kulturen". Gegen die These, daß kulturelle und religiöse Differenzen die Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts bestimmen werden, erhebt Kondylis den Einwand, daß der Charakter der kommenden Konflikte nicht vom kulturellen Faktor bestimmt werde, sondern umgekehrt die kulturelle Einstellung lediglich eine Funktion der Konstellation sei, die von den jeweils agierenden Subjekten im Interesse der Teilhabe am Massenwohlstand der westlichen Welt gebildet wird: „Die Logik dieser Konstellation ist im wesentlichen eine politische. Politische Logik bedingt (...) die geschichtlich relevanten Kulturdeutungen." (DP, 90) Die Triebkräfte, mit denen heute Traditionen mobilisiert und gegeneinander ins Feld geführt würden, leitet Kondylis allein aus den „massendemokratischen Zielsetzungen" ab, da die Traditionen selbst „meistens in längst toten Welten wurzeln." (PP, 19) Der zornige Iraker, der im Adidas-Hemd gegen die Schändung des Koran demonstriert, wäre
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Bemerkenswert sein Hinweis, die „Wurzel der vielbeklagten Übel (post)moderner Kultur" sei in der „.freien Wirtschaft' und der Logik des Marktes" zu suchen (Das Politische im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 100)
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für Kondylis ein ebenso rationales Inbild der Globalisierung gewesen wie der amerikanische Soldat, der im Kampf ums O l die Heiligtümer des Islam schändet. Damit sind wir bei einem weiteren - inhaltlich notwendig unbestimmten - Strukturmoment des Politischen angelangt. Nach „Selbsterhaltungstrieb" und „Machtanspruch" ist dies die Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis und dem praktischen Handeln geschichtlicher bzw. politischer Akteure, die Kondylis vor allem in seinem Buch über die „Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg" als Diskrepanz von „Funktions-" und „Nominalwert" bezeichnet hat. Seit sich die mit dem Ende des Kalten Krieges heimatlos gewordene Linke auf die menschenrechtliche Utopie des Westens und die darauf aufbauende Harmonisierung der Weltgesellschaft verlegt hat, findet dieses unverzichtbare Werkzeug politischer Analyse aus naheliegenden Gründen kaum noch Anwendung. In einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau von 1996 erinnerte Kondylis eigens daran, daß Hinweise auf das hinter selbstlosen Formeln verborgene „Interesse" einst ideologiekritisches Tagesgeschäft der marxistisch geschulten Linken war - während deren Entfremdungskritik, so stellt Kondylis zum Beispiel fest, als „Schlüsselideologem" auf dem Weg zum massendemokratischen Hedonismus fungierte (DP, 32). Analog zu dieser Umkehrung hat Kondylis auch im Verhältnis von universellen Normen und planetarischer Politik nachdrücklich auf die „Diskrepanz zwischen prosaischem Tun und idealisiertem Selbstverständnis der Akteure" 112 hingewiesen. Auch hier verspricht die Gemeinsamkeit des Zieles noch nicht die Verträglichkeit der Akteure, die sich der Erreichung des Zieles verschrieben haben. Auch universelle Normen sind Funktionen divergierender (weil auf begrenzte Ressourcen gerichteter) Interessen. Sie „entstehen als ideelle Begleiterscheinungen von politischen Phänomenen planetarischen Umfangs ... (...) Diese Normen werden von den Mächten festgesetzt, die planetarische Politik in dieser oder jener Weise treiben können, also von den Subjekten und nicht von den Objekten planetarischer Politik." (PP, 3) Diese Subjekte vertreten nicht nur notwendig partikulare Interessen: „Universelle Wahrheiten, die der Partikularisierung durch verbindliche Interpretation entbehren, sind praktisch vollkommen irrelevant." (DP, 48) Kämpfende Ideen betrachtet Kondylis ähnlich entsubstantialisiert wie kämpfende Traditionen. 112
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Die Unterscheidung zwischen Nominal- und Funktionswert ist ein beträchtliches analytisches Werkzeug, dessen zögerliche und selektive Anwendung in öffentlichen und akademischen Debatten nach Kondylis damit zu erklären ist, daß man Interessen leichter verwirklicht, wenn man ihre ideelle Seite hervorhebt und sie dahinter verschwinden läßt. Aufklärung darüber würde interessierte Debattenteilnehmer also nur behindern. Auf Intellektuelle war Kondylis ohnedies nicht gut zu sprechen, jedenfalls nicht auf ihren „Funktionswert". Anstatt in wissenschaftlicher Absicht die Heterogonie der Zwecke zu durchschauen, liefern sie die jeweils erforderlichen ideologischen Stichworte. Zu Konformismus, Verrat und Verbeugung vor der siegreichen Sache seien sie, besonders in Deutschland, gleichsam prädestiniert. Zum Beispiel sei ihr pathetisches Bekenntnis zu den Menschenrechten schlicht das „Bindeglied" gewesen, daß der Linken nach dem amerikanischen Sieg im Kalten Krieg den „längst fälligen Schritt" zur Versöhnung mit der Wirklichkeit ermöglicht habe.113 Mehr noch müssen sich Nationen und internationale Konzerne, die im Rahmen der Globalisierung einen guten Platz anstreben, auf Motive berufen, die, wenn sie das partikulare Interesse transzendieren sollen, notwendigerweise universelle Dimensionen haben und also nicht durch Hinweise auf ihre Funktion relativiert werden dürfen. Der Funktionswert globalistischer Ideologien aber ist die Legitimation jedweder Intervention; „beim politischen Handeln selbst hört der Spaß auf" (DP, 10). Die Verbindung von Funktions- und Nominalwert kann, im Interesse des jeweiligen Funktionswertes, nur wirken, solange sie diskret bleibt. Umgekehrt läßt sich aus dem wachsenden Druck, im Zeitalter planetarischer Politik das Vokabular universaler Zielsetzungen zu gebrauchen, noch nicht auf die Gemeinsamkeit der Ziele schließen. Den Nominalwert von Universalismus und Menschenrechten hat Kondylis denn auch einer gründlichen Kritik unterzogen. Universelle
113
Vgl. Das Politische im 20. Jahrhundert, a.a.O., S. 41, 43 und 66 - Die Friktionen, die der Irak-Krieg brachte, hat Kondylis bekanntlich nicht mehr erlebt. Jürgen Habermas („Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern") fühlte sich durch seine Enttäuschung allerdings in der nach Kondylis völlig unrealistischen, weil auf den Nominalwert des Universalismus fixierten Ansicht bestärkt, daß „der universalistische Kern von Demokratie und Menschenrechten (...) ihre unilaterale Durchsetzung mit Feuer und Schwert verbietet." (Jürgen Habermas: Was bedeutet der Denkmalsturz?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. April 2003)
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Werte sind lediglich die ideellen Begleiterscheinungen planetarischer Politik. Partikulare Interessen und die Verschiedenheit der Kräfte machen aus dem einen Universalismus viele Universalismen, die sogar innerhalb einer Person oder einer Partei in Konflikt geraten können. Wenn mit Hilfe einer öffentlichen Plakataktion in Berlin türkische Homosexuelle eingemeindet werden sollen, ist das zugleich eine beträchtliche und offenbar auch gewollte Aggression gegen den Moralkodex des Islam. Wie die Frage der Klitoris-Beschneidung zeigt, verträgt sich der Schutz von Frauenrechten ebenfalls schlecht mit dem Schutz kultureller Gruppenidentitäten. Auch die Vertreter der auf universelle Geltung angelegten Holocaustreligion können nicht die Frage beantworten, wie sie unter diesem Vorzeichen die in Deutschland lebenden Türken integrieren wollen, wie sich also ihr Konzept einer negativen Nationalidentität der Deutschen mit der baukastenartig konzipierten Bevölkerungsidentität der Bundesrepublik vertragen soll. Den britischen Welthandel bekämpfte der amerikanische Präsident Wilson am Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen universalistischen „Vierzehn Punkten" im Namen der „Freiheit der Meere", ebenso wie er als Repräsentant einer aufstrebenden Weltmacht die universale römisch-deutsche Reichsidee mit der Forderung nach Abdankung Kaiser Wilhelms II. zu entkräften suchte: Der Universalismus bringt den Relativismus gegenüber anderen Universalismen immer schon mit Kondylis nennt als Beispiel die antichristliche Stoßrichtung der Aufklärung im 18. Jahrhundert (DP, 50). Er spricht deshalb auch vom „polemischen" Gebrauch der Ideen, womit er noch nicht ihre inhaltliche Substanz bezweifelt, sondern allein ihren Funktionscharakter im politischen Kampf meint. Denken, das im Zeichen moralisch-normativistischer Grundentscheidungen steht, hält Kondylis „ab ovo" für polemisch: Polemik „ist kein Mißbrauch, sondern der normale Gebrauch des Denkens." 114 An der Globalisierungstheorie von Panajotis Kondylis läßt sich ferner zeigen, daß auch er, trotz seines Anspruchs, gültige, „objektive" Aussagen über die historisch beispiellose planetarische Verdichtung der Politik zu machen, zugleich ein „Polemiker" ist - im engeren und im gewöhnlichen Sinne - , ein Polemiker, der sich gegen die optimistischen, ja romantischen Propagandisten der Globalisierung wendet wie
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Nur Intellektuelle behaupten..., a. a. O., S. 686
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auch gegen jene, die der Globalisierung glauben widerstehen oder ihr abseits der Geschichte meinen entkommen zu können. Kondylis begegnet den Hoffnungen auf weltweite Befriedung und weltweite Durchsetzung von Massenwohlstand und Menschenrechten so skeptisch wie etwa der Hoffnung, das Rad der Geschichte anhalten oder zurückdrehen zu können. Mit dieser Einschätzung wird Kondylis unvermeidlich ein Kämpf ender unter jenen Kämpf enden, die die Interpretationshoheit in Sachen Globalisierung erringen wollen. Wie auch sollte der Analytiker des Politischen den Niederungen der Politik ganz entkommen. Erstaunlich ist daran nur, daß Kondylis seiner kaum übersehbaren Doppelrolle leider keine eigene Reflexion gewidmet hat. Allerdings sind die bei Kondylis aufscheinenden weltgeschichtlichen Dimensionen der Globalisierung als Argumente weder für ihre Befürworter noch für ihre Gegner besonders nützlich. Die Globalisierung hat in Kondylis' kalter Betrachtung totalitäre Züge. Sie ist ein übermächtiger Vorgang; die planetarische Erschließung, die mit dem Beginn der Neuzeit anhob, bekam für Kondylis nach dem Untergang des Kommunismus keine grundsätzlich neue Qualität. Kondylis interpretiert die Epochenschwelle von 1989 nicht als Sieg des „immergrünen Liberalismus" über den „veralteten Kommunismus" (DP, 18f); vielmehr war es die allmähliche Verdünnung des bürgerlichen Gehalts des klassischen Liberalismus im Zeitalter von Massenwohlstand und Massendemokratie, die Auflösung jener kollektiven Subjekte, mit denen die Begriffe „Kapitalismus", „Liberalismus" und „Sozialismus" verknüpft waren - es war der Tod seiner Feinde, der dem Kommunismus die Existenzgrundlage raubte. Implizit wendet Kondylis gegen Francis Fukuyamas liberalistisch gedeutete Posthistorie ein, gegen seine These vom Sieg des westlichen Liberalismus, die unter dem Motto „Ende der Geschichte" 115 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Furore machte, daß darin die ideelle Gemeinsamkeit der Gegner des Kalten Krieges zu kurz komme. Marxismus und Kommunismus waren mehr als „Schönheitsfehler" oder „Anpassungskrisen" auf dem „Königsweg" des westlichen Liberalismus - sie hatten schon deshalb ihren Anteil an der Umgestaltung der planetarischen Landschaft, weil sie dem Kapitalismus das Gleichheitsprinzip aufzwangen. Im Zuge dieser übergreifenden Entwicklung wurde ferner im prosperierenden
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Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992
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Westen der Arbeiter als Konsument entdeckt, schon um dem Kommunismus ein eigenes Wohlfahrtsversprechen entgegenzusetzen. Im planetarischen Zeitalter wird ein Begriff wie „Konservativismus", der sein langes Leben „mehr der polemischen Wucht seiner triumphierenden Widersacher" verdankt (PP, 94), werden auch „Liberalismus" und „Sozialismus" nicht mehr die entscheidenden Stichworte sein und bloß noch an die Parteilichkeiten des 19. Jahrhunderts erinnern, in dem sich Adel, Bürgertum und Proletariat „auf einem einzigen Schlachtfeld" gegenüberstanden. Gerade die heutige Unverbindlichkeit dieses Vokabulars zeugt von seiner „Obsoletheit" (PP, 93). Die weltweite Ausbreitung der Massendemokratie erzeugt hohe Erwartungen. Sie lasten auf demselben Siegeszug, der der Menschheit des 21. Jahrhunderts die Ablösung des hierarchisch-bürgerlichen Liberalismus des imperialistischen Zeitalters bringen wird - wie das 20. Jahrhundert den Untergang des Kommunismus gebracht hat. Während er an Liberalismus und Marxismus den Primat von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber Politik und Staatlichkeit kritisiert, stimmt Kondylis nicht in die landläufige Kritik am „Neoliberalismus", an der ungehemmten weltweiten Bewegung des sozial entpflichteten Kapitals auf der Suche nach den besten Verwertungsbedingungen ein. Die Vorbehalte, die er gelegentlich gegen die „Logik des Marktes" als „Wurzel des Übels" erkennen läßt (DP, 100), münden jedenfalls nicht in eine Kritik der Globalisierung. Wie es schon im Kommunistischen Manifest von der Weltordnung des Geldes heißt, zerstört die planetarische Verdichtung „alle patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse" und löst „die persönliche Würde in den Tauschwert" auf; sie tritt bei Kondylis auf wie ein Projekt des objektiven Geistes: „Wie ein Traumbild" fallen, um mit Hegel zu sprechen, auch bei Kondylis die „bisherigen Vorstellungen, Begriffe, die Bande der Welt" in sich zusammen.116 An dieser Stelle muß an die Genese der Globalisierung erinnert und die durchgängige Struktur ihrer Lebensform skizziert werden. Kondylis hat in seinem Buch „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" 117 das Ende der Neuzeit und die demokrati-
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G.W.F. Hegel: Vorlesung zur spekulativen Philosophie, Jena 1806; zit. nach Joachim Ritter: Hegel und, die französische Revolution, Frankfurt am Main 1965, S. 32 Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lehensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991
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sehe Umdeutung des bürgerlichen Liberalismus als Ablösung der „harmonisch-synthetischen" durch die „analytisch-kombinatorische" Methode interpretiert, wobei das Neue sich nicht allein als Opposition zum Bürgertum formierte. Vielmehr hatte es eben dort seine Wurzeln und untergrub die Autorität seiner eigenen Klasse mit Hilfe ihrer eigenen Ideen: „Die Massendemokratie ist die antibürgerliche Realisierung der bürgerlichen Wertvorstellungen von Freiheit und Gleichheit."118 Unter Beibehaltung der gleichen Parolen konnten die sozialen Differenzierungen, die das Bürgertum noch für selbstverständlich hielt, hinterfragt und eingeebnet werden. Das polemische Potential, welches das Bürgertum des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem durch Arbeit erworbenen Eigentum schöpfte, um es gegen Adel und Klerus zu richten, ist im Zeitalter des Konsums unbrauchbar geworden und hat sich gegen seinen Urherber gewandt. Das bürgerliche Zeitalter mit seiner angestrebten Harmonie aus Vernunft und Trieb, Natur und Kultur sieht Kondylis fortschreitend und unwiederbringlich abgelöst durch die egalitäre Massendemokratie mit Wohlstandsversprechen und dem durch die Kulturrevolution der sechziger Jahre ideologisch legitimierten Selbstverwirklichungsideal, mit ihrer Beschwörung des Mythisch-Zeitlosen einerseits, moderner Technik und Dynamik andererseits, mit ihrer Aufhebung der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Die Massendemokratie hat im Massenwohlstand eine wesentlich materielle Grundlage. Individuelle und kollektive Identitätsbildung haben ihre Basis aber nicht in Arbeit und Produktion, sondern im Konsum; „an die Stelle der bürgerlichen Vorstellung des Bourgeois als Citoyen tritt das massendemokratische Ideal des Konsumenten als Citoyen." 119 Die bürgerliche Synthese wurde gleich von mehreren Seiten bedroht: vom optimistischen Kult der Maschine und von der Abschaffung des humanistischen Bildungsideals, aber auch vom Kulturpessimismus mit seiner Parole der Dekadenz. Leidenschaft wird ersetzt durch Zerstreuung, Öffentlichkeit durch Transparenz, Aufrichtigkeit durch Authentizität, Kultur durch Konsum. Aktivismus und l'art pour l'art, die Verbindung von Kunst und Verbrechen, der Primat von Subjektivität, von Spiel und Zynismus, von Einzelheit und Augenblick, von Trivialem, Häßlichem und Schrecklichem, das Dandytum und die Boheme, Relativitätstheorie und Psychoanalyse - all das be118 119
Grenzen des Politischen, a.a. O., S. 245 Grenzen des Politischen, a. a. O., S. 243
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reitete den Sieg der Massengesellschaft vor, einer „Halbwelt", die einer anderen keinen Platz läßt. O b es sich um Kunst, Sprache, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Gesellschaft handelt, überall werden traditionelle Synthesen, unüberbrückbare Gegensätze und unumstößliche Hierarchien abgelöst durch die freie Kombinatorik und Bezüglichkeit der beliebigen Elemente, durch Fragmentierung, Atomisierung, Arbeitsteilung, soziale und räumliche Mobilität. Die Sexualität verliert ihre ethischen und institutionellen Einbindungen, „Mann" und „Frau" sind nicht länger biologische, sondern politisch-soziale Begriffe, der Beruf wird zur „Rolle". Beziehung, Funktion und Kontingenz - eine bezeichnende Parallele zu Kondylis* eigenem Denken treten an die Stelle von Sinn und Substanz. Zeit und Geschichte treten zurück; die freie Kombinatorik findet im Raum und in der Ebene statt. Der Staat, dessen Aufstieg historisch mit dem des Bürgertums verknüpft war, dient heute antibürgerlichen Zwecken, insofern er, etwa als Sozialstaat, die Idee der materiellen Gleichheit gegenüber dem freien Spiel der (wirtschaftlichen) Kräfte privilegiert. Die Idee der Gleichheit produziert Distinktionsbedürfnisse, die von Meritokratie und Mediokratie bedient werden. Die beiden scheinbar gegensätzlichen Formen des heutigen Liberalismus: disziplinäres Leistungsprinzip und freie Entfaltung der Persönlichkeit, ergänzen sich; beide lehnen den Interventionismus des Staates ab, der als Wert nur den Wertpluralismus verteidigen soll. Auch hier hat die suprakontinentale Kulturrevolution den Weg zur Massendemokratie geebnet, wobei Kondylis sie nicht als Revolution im klassischen Sinne, sondern des öfteren als eine „Anpassungsbewegung"120 bezeichnet, die in den Alltag breiter Massen einführte, was zuvor als avantgardistisch galt. Daß Kondylis sich in seiner Beschreibung vom Nominalwert der Massendemokratie selbst bis zu einem Grad verführen läßt, wird spätestens dort deutlich, wo er feststellt, sogar Revolutionen seien unter ihren Bedingungen hedonistisch angehaucht und wo er vom „Aufstand von verwöhnten Kindern gegen kastrierte Eltern" 121 spricht. Er weiß dabei genau, daß der Ernstfall auch unter massendemokratischen Bedingungen anders aussähe. O b Kondylis die Philosophie betrachtet, die Geschichtsschreibung, die Kybernetik oder den Kunstbetrieb - seine Diagnose lautet jedenfalls, die skeptischen und relativistischen Posi120 121
Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, a. a. O., S. 234 Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, a. a. O., S. 238
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tionen, die seit jeher den neuzeitlichem Rationalismus begleiteten, hätten ihn nun besiegt. Wie sich einst der bürgerliche Anthropozentrismus gegen den Theozentrismus der Theologie richtete, so richte sich nun die analytisch-kombinatorische Denkfigur gegen die letzten Reste substantialistischen Denkens, und seien es die im Marxismus. Trotz der postmodernen These vom „Ende der großen Erzählungen" sind die sozialen Konflikte keineswegs erledigt, der Zerfall der Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts täuscht das nur vor. Selbst die ungeschichtliche Denkweise („Zum Raum wird hier die Zeit") habe geschichtliche Ursachen und Folgen. Es sind damit drei Perspektiven, unter denen die Globalisierung bei Kondylis zu betrachten ist: Als Gegenwart dessen, was immer war, ist und sein wird, gilt seine Beschreibung unabhängig von konkreten Entwicklungen. Die ewig wirksamen Faktoren sind Selbsterhaltungstrieb, Machtanspruch, Entscheidung und Objektivierung sowie die Differenz von Funktions- und Nominalwert, sodaß Kondylis im Rahmen dieser formalen Betrachtung auf die „Offenheit der Konstellationen" als „wesentliches Merkmal der angebrochenen Phase planetarischer Politik" verweist (PP, 48). Die Ablösung der synthetisch-harmonischen durch die analytischkombinatorische Methode, also die antibürgerliche Weiterentwicklung oder Demokratisierung des Bürgertums hin zur Massengesellschaft, setzt einen anderen Akzent. Dies ist ein Vorgang, der in Kondylis' Beschreibung den Anschein globaler Gültigkeit erweckt, tatsächlich aber auf vergleichsweise wenige wohlhabende Industrienationen beschränkt bleibt. Wie sein Nachdenken über den Aufstieg Chinas zeigt, ist drittens die Grenze zur Vorhersage bzw. Bewertung möglicherweise kommender Ereignisse (damit auch die Grenze zwischen seiner synchronen und diachronen Betrachtung der Geschichte) fließend. Kondylis war vielleicht gerade deshalb bemüht, seine Prognosen, die er gelegentlich auf „die mögliche Entfaltung von Strukturen" beschränkt wissen wollte und gemäß seinem theoretischen Anspruch eigentlich auch hätte beschränken müssen (PP, 48), nicht als Ausdruck persönlicher Präferenzen oder Befürchtungen erscheinen zu lassen (DP, 134). Letztlich sind aber weder seine allgemeinen Extrapolationen noch seine Aussagen über die Zukunft konkreter Mächte rein struktureller Art. Das hat seinen Grund nicht zuletzt in der Brisanz des Gegenstands: Die von Intellektuellen gern vervielfältigte Zukunftsvision
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weltweiten Wohlstands sei „an Radikalität kaum zu überbieten" (DP, 41). Die westliche Verknüpfung von Wohlfahrt und Menschwürde, das Recht auf Wohlstand als Menschenrecht hält Kondylis für explosiv. Angesichts von Bevölkerungsanstieg und Güterknappheit werden sich die Segnungen der westlichen Massendemokratien nach dem Untergang des Kommunismus weltweit nicht ungehindert ausbreiten. Kondylis ersetzt den Materialismus der Produktion durch einen Materialismus der Verteilung; die Menschenrechte, sagt er, werden sich als Teilhaberechte am Massenwohlstand erweisen. Allerdings könne die Umverteilung des westlichen Wohlstands den armen bevölkerungsreichen Ländern kaum helfen und eine Anhebung ihres Lebensstandards auf das Niveau des Westens werde die materiellen Möglichkeiten des Globus überfordern. Dessen ungeachtet belegt die Universalität der Ziele schwache Nationen mit großem Erfolgsdruck und wird eher Spannungen als Verständigung fördern, zumal dann, wenn die Hierarchie von führenden und geführten Mächten nicht geregelt ist: „Nähe, nicht Distanz erzeugt Friktionen" (PP, 27). Wo Umverteilungswünsche etwa mit Wiedergutmachungsforderungen gestützt werden, geht der antikolonialistische Kampf in den Kampf um Teilhabe an der Weltgesellschaft über. Wenn die im Interesse der Menschenwürde angestrebte Umverteilung allerdings ausbleibt und wenn Nivellierung und Atomisierung nicht durch technische und wirtschaftliche Fortschritte aufgefangen werden, könnte die von Kondylis oft angesprochene Anomie122 das tragische Ergebnis westlicher Ordnungsbemühungen sein. Das Scheitern der massendemokratischen Utopie müßte zu großer Unordnung führen, wenn die leitenden Prinzipien des menschenrechtlichen Universalismus bei ihrer Anwendung auf Hindernisse stoßen, die ihren Nominalwert geradezu auf den Kopf stellten und etwa eine Biologisierung des Politischen erforderten. Daß das Angesprochensein als bloßer Mensch kein Gewinn, sondern eine akute Bedrohung ist, hat Hannah Arendt anhand ihrer Erfahrung mit der Staatenlosigkeit eindrucksvoll beschrieben. Ist die Abstraktion von allen Zuschreibungen und Zugehörigkeiten einmal wirksam, geht es nur noch um das nackte Leben. Nicht der menschenrechtlich eingekleidete, sondern der nackte, allen Schutzes beraubte Mensch wäre das Inbild einer vom ethischen Universalismus gestalteten Zukunft. Für den „Homo sacer", in dem sich das Ver-
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Vgl. Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, a. a. O., S. 17-57
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fluchte und das Heilige mischen, wäre die Biopolitik des 21. Jahrhunderts eine Wiederkehr der Lagerwelt aus dem 20. Jahrhundert.123 30 oder 40 Millionen Einwanderer in Deutschland oder Frankreich würden auch dann anomische Erscheinungen auslösen, wenn man diese Einwanderer für rassisch oder kulturell gleichwertig oder überlegen hielte (DP, 133). Anomie und Anarchie wären die Begleiterscheinungen auch eines Weltstaates, weil er nur die wirtschaftlich vitalen und strategisch wichtigen Zentren kontrollieren könnte. Wie für Hannah Arendt wäre für Kondylis der Weltstaat andererseits der einzig mögliche Garant der Menschenrechte (der „lingua franca" der Weltgesellschaft), die ohne ihn höchstens Bürgerrechte sein können, die die jeweiligen Staaten konkreten Menschen zusichern. Die mögliche Unordnung könnte jedenfalls zu ungeahnter sozialer Disziplinierung führen, zur Rückkehr von Religion und Askese, ja zu einem Ende von Pluralismus und massendemokratischen Anschauungen und Werten. Eine Renaissance könnte auch die Staatlichkeit erleben (wobei „Staat" nicht „Nationalstaat" heißen muß) - nicht nur als Mittel, um der Anomie Herr zu werden, sondern auch, weil universale Prinzipien im Zuge von Machtkämpfen die Staatlichkeit des einen stärken und die des anderen schwächen; schließlich auch deshalb, weil in Zeiten planetarischer Politik sich um so dringlicher die Frage stellt, wer Bürger eines bestimmten Staates ist und wer nicht. Kondylis bleibt bei diesen allgemeinen Szenarien nicht stehen. Seine Mechanik der Mächte erinnert bis in einzelne Argumentationsmuster an die machtpolitische Weltgeschichtsschreibung eines Ludwig Dehio oder Paul Kennedy. Wenn Dehio zum Beispiel darauf verweist, daß aus Admiral Nelsons Sieg bei Trafalgar ohne Napoleons Niederlage in Rußland kaum ein dauerhafter Sieg geworden wäre,124 dann argumentiert Kondylis auffallend ähnlich, daß die Voraussetzungen für die 1944 erfolgreiche Landung in der Normandie in Stalingrad geschaffen wurden (DP, 31). Man darf vermuten, daß Kondylis in Zeiten des rasant steigenden Energiebedarfs Ostasiens (und angesichts irakischer Vorkriegspläne, die Ölrechnungen in Euro statt in Dollar zu fakturieren), nicht gezögert hätte, den amerikanischen Krieg gegen den Irak als einen verdeckten Weltkrieg zu interpretieren. Kaum 123
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Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002 Ludwig Dehio: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, hrsg. von Klaus Hildebrand, Zürich 1996 [Krefeld 1948], S. 226 f
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haben die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg gewonnen, taucht die dynamische Großmacht China, die sich nicht zwischen nationaler und planetarischer Uberlebensfähigkeit zu entscheiden braucht, als neuer Konkurrent am Horizont auf. Auch dieses Phänomen, so Kondylis, werde zur Nagelprobe für den ethischen Universalismus, ist es doch nicht einzusehen, warum sich China mit seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten „die Vernunft eines demographisch schwachen Kontinents" wie Europa aneignen sollte (DP, 113). Das Überleben Europas war das Problem, das Kondylis von der Globalisierung zur deutschen Frage führte, die er als schicksalhaft für den ganzen Kontinent betrachtete. Auf jene Europa-Propaganda, die sich der ewigen Beschwörung innereuropäischer Kriegsgeschichte bedient, gibt er nichts. Die Zeiten, in denen Europa die Welt aufteilte und demzufolge in Europa um Außer-Europa gekämpft wurde, sind vorläufig vorbei. Heute sind es umgekehrt die weltweiten Krisen und Konflikte, die auf Europa zurückwirken und es vor die Alternative stellen, sich seinen zentrifugalen oder zentripetalen Kräften zu überlassen. Über die Frage der europäischen Einigung war Kondylis gewissermaßen schon hinaus; einem souveränen europäischen Kollektiv allein gab er keine allzu großen Chancen. Die „große planetarische und weltgeschichtliche Chance eines vereinten Europa" heißt bei ihm „Eurasien". Kondylis empfiehlt eine russische Hegemonie über Europa - einerseits, um ihm den Zugang zu dem letzten unerschlossenen Großraum, also zu den gewaltigen Rohstoffvorkommen Sibiriens zu sichern, andererseits, um die Herausbildung eines russisch-chinesischen Blocks zu verhindern, Rußland gegen China zu stärken und es nicht in die aggressive Isolation zu treiben (DP, 131 passim). Für die Beantwortung der Frage, ob die Einigung Europas unter amerikanischer oder russischer Hegemonie vollzogen werden soll bzw. wie überhaupt unter europäischen Bedingungen eine überlebensfähige politische Einheit aussehen könnte, weist Kondylis Deutschland eine Schlüsselstellung zu. Gegenüber der Fähigkeit Deutschlands, seiner herausragenden Rolle gerecht zu werden, ist er allerdings höchst skeptisch. Auf dem „langen Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) sind die nötigen Antworten jedenfalls nicht mehr zu finden. Was wäre, wenn sich Deutschland zum Beispiel eines Tages zwischen europäischem Engagement und seiner Freundschaft mit den USA entscheiden müßte? Dieses Szenario rückte bereits gefährlich nahe, als über die Frage europäischer Unterstützung für den Irak-Krieg entschieden werden mußte.
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Wenn wir uns an dieser Stelle noch einmal den eingangs beschriebenen theoretischen Status vergegenwärtigen, den Kondylis seinen politischen Schriften zuwies, dann sind auch die Parteinahmen, die seine Ausführungen zur deutschen Frage enthalten, in gewisser Hinsicht überraschend. Die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung von 1871 hat Kondylis im Unterschied zur herrschenden bundesrepublikanischen Lehrmeinung nicht als einen militaristisch-antidemokratischen „Sonderweg", sondern als einen legitimen, jedenfalls gewöhnlichen Versuch gewertet, eine führende und im Zeitalter des Imperialismus notwendigerweise den Argwohn konkurrierender Mächte weckende Rolle zu spielen, und er hat sogar den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht als einseitige Aggression, sondern beinahe im Sinne Ernst Noltes als Teil eines eurasischen Hegemonialkampfes beschrieben, indem er fragte: „... wie wären wohl die damaligen Allianzen ausgefallen, wenn Stalin Zeit und Möglichkeit gehabt hätte, als erster den großen hegemonialen Anspruch auf dem Kontinent zu erheben?" (DP, 86) Man würde Kondylis mißverstehen, wollte man daraus eine Rechtfertigung nationalsozialistischer Eroberungspolitik ableiten. Sein Verzicht auf eine Verurteilung Deutschlands ist nicht moralisch begründet, sondern Konsequenz seines analytischen Prinzips, wonach Freund und Feind als komplementäre Größen immer in einem kommunizierenden Verhältnis stehen. Daß seine Argumente im politischen Kampf um die deutsche Frage brauchbar sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er seine Analyse nicht gerade als Anwalt einer nationalistischen Rechten verfaßt hat. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß er die nach dem Mauerfall aufgetretenen Handlungschancen auslotete, die freilich nur um den Preis einer Revision der zivilreligiös überhöhten bundesrepublikanischen Selbstbescheidung zu haben sind. Einen seiner bemerkenswertesten politischen Aufsätze hat Panajotis Kondylis in einem 1993 erschienen Sammelband veröffentlicht, der aus der Erfahrung von 1989 das Projekt der Westbindung kritisch beleuchtete und zu dessen Herausgebern der inzwischen als „rechts" geächtete Karlheinz Weißmann zählte.125 Kondylis gibt darin einen
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Panajotis Kondylis: Der deutsche „Sonderweg" und die deutschen Perspektiven, in: Westhindung. Chancen und Risiken für Deutschland, hrsg. von Rainer Zitelmann, Karlheinz Weißmann und Michael Großheim, Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 21-37. Wieder abgedruckt in: Das Politische im 20. Jahrhundert, S. 161-180.
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höchst instruktiven Abriß der Sonderwegtheorie, deren positive und negative Varianten im In- und Ausland seit dem 18. Jahrhundert er in ihrem jeweiligen Funktionswert darstellt. Er macht kein Hehl daraus, daß er die Sonderwegthese sowohl in ihrer rassistischen („blonde Bestie") wie auch in ihrer junghegelianischen, den bürgerlich-liberalen Geist als schwach darstellenden und auf die ausgebliebene Revolution abhebenden Variante für unseriös hält, weil es generell kein verbindliches Modell geschichtlicher Evolution gibt. Auch der Holocaust war nicht das Ergebnis einer geschichtlichen Notwendigkeit, sondern konkreter Entscheidungen konkreter Menschen (DP, 172). Es paßt sehr gut zu seinem Urteil ihrer theoretischen Unhaltbarkeit, daß es, wie Kondylis feststellt, bis heute keine umfassende Studie zur Geschichte der Sonderwegtheorie gibt, in der die polemischen Interessen der äußeren und inneren Gegner Deutschlands (und derer, die es in zwei Weltkriegen besiegten) zur Sprache kommen müßten. Noch brisanter sind Kondylis' Analysen, in denen er der doppelten Gestalt der Sonderwegthese, nämlich als Schuldbekenntnis und sozialgeschichtliche Konstruktion, im Deutschland nach 1945 nachspürt: der Reuegemeinschaft und ihrem funktionalen Äquivalent, dem Wohlfahrtsstaat. Einem armen Volk, so seine These, hätte man schwerlich Schuldbekenntnisse dieses Ausmaßes abverlangen können; in einem Agrarland wäre „die" Vergangenheit längst verblaßt: „Eher fühlt man sich schuldig in der Toskana oder im Elsaß denn als Empfänger von Sozialhilfe." (DP, 174) Die Dichotomie von (schuldloser) Wirtschaft und (schuldvoller) Politik wurde in der Bundesrepublik zugunsten einer Ethisierung des Ökonomischen aufgelöst. Das sicherte den materiellen und moralisch tadellosen Lebenswandel abseits der Geschichte - umso mehr, je lauter man sich zu den kollektiven Verbrechen bekannte. Inzwischen gerät dieser Funktionszusammenhang aus der Balance. Die deutsche Politik und die deutschen Medien halten am Schuldbekenntnis umso energischer fest, je mehr sein materielles Fundament ins Wanken gerät. Im Frühjahr 2005 erschien ein Buch, daß man e contrario als eine Bestätigung der These Kondylis' lesen kann: In „Hitlers Volksstaat" nahm der Historiker Götz Aly die Bundesrepublik von beiden Seiten ihres Selbstverständnisses in die Zange. Indem Aly den Holocaust als größten, bis heute den Sozialstaat mitfinanzierenden Massenraubmord der Geschichte beschrieb, wollte er die spätere Abwendung vom Dritten Reich als Lüge entlarven und das sozialpolitische Quietiv diskreditieren, das die Minderwertigkeitsgefühle des Schuldbekenntnisses kompensiert. Proteste gegen den
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Sozialabbau, wie berechtigt sie auch immer sind, könnten jetzt mit Hinweisen auf den Holocaust erledigt werden. „Hitlers Volksstaat" war eine Drohung, eine frühe Reaktion auf die kommenden Krisen deutscher Geschichtspolitik, ein Versuch, die Schuldgefühle verarmender Staatsbürger zu fixieren, von denen man künftig beides verlangt: Selbstkritik und Wohlstandsverzicht.126 Daß Kondylis gegen solch ein Ansinnen Stellung bezogen hätte, scheint fraglich. Die Deutschen vor überzogenen moralischen Angriffen in Schutz zu nehmen und ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein aufzurichten lag ihm fern. Auf ihr politisches Urteilsvermögen gab er angesichts ihrer Koketterie mit postmodernistischen Harmlosigkeiten, angesichts ihrer pflichtschuldigen Bekenntnisse zu Ethik und Vernunft ohnedies nicht viel. Ihre universalethischen und ökonomistischen Posen veranlaßten ihn vielmehr zu einigen ungünstigen Urteilen über die anhaltende Renaissance des naturrechtlichen Denkens, die an die Feststellung Arnold Gehlens erinnern, die geistigen Verheerungen in Folge des Humanitarismus könnten „sich nur politisch ohnmächtige Gesellschaften leisten."127 Während seine moralferne Kritik an der Sonderwegthese als konsequente Weiterführung seiner Mechanik der Mächte gelesen werden kann, tritt Kondylis bei der Beschreibung des deutschen Nationalcharakters, den er aus den geistigen Nachkriegsdeformationen destilliert, noch mehr aus seiner methodischen Rolle heraus. Die Frage, ob seine Charakterisierungen zutreffen, sei dahingestellt. Wichtiger ist die Tatsache, daß hier die Beschreibung auf eine Bestätigung der Sonderwegthese hinausläuft, wenn auch zu dem Zweck, sie zu kritisieren. Was bislang, im Interesse unvoreingenommener Analyse, als Distanznahme gegenüber den deutschen Dingen interpretiert werden konnte, liest sich nun wie Ressentiment, zum Beispiel, wenn Kondylis, der den „provinziellen Tiefsinn" der nationalistischen Rechten als bloße Kehrseite der kosmopolitischen Oberflächlichkeit der Linken versteht, mit den einen so wenig anfangen kann wie mit den anderen, aber keinen dritten Weg im Umgang mit der deutschen Frage aufzuzeigen versucht. Da heißt es, die frühere machtpolitische Plumpheit der Deutschen sei scheinbar durch mora126
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Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005. - Vgl. Andreas Krause: Wohlfahrt ist noch kein Verbrechen. Die Debatte um „Hitlers Volksstaat", in: Merkur Nr. 675, Juli 2005, S. 626-630 Arnold Gehlen: Wurzeln der Moral, in: Neue Deutsche Hefte 22 (1975) 145, S. 3-16, hier S. 16
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listische Plumpheit abgelöst worden, es fehle den Deutschen imperialistische Erfahrung und diplomatisches Geschick, sie besäßen zwar die Tugenden des Plebejers, aber nicht die des Aristokraten usw. (DP, 176f) Die Befunde des Substantialisten stehen in direktem Widerspruch zu denen des Strukturalisten, es sind zwei Antworten auf eine Frage. Wir stehen wiederum vor dem Kern des methodischen Problems in den politischen Schriften von Panajotis Kondylis. Wir berührten es schon einmal, als Kondylis gegenüber der marxistisch geschulten Linken den Vorwurf erhob, den Unterschied von Nominal- und Funktionswert nicht mehr gebührend zu bedenken und auf seinen „polemischen" Einsatz zu verzichten. Kondylis hat zwar nicht direkt behauptet, aber doch den starken Eindruck zu wecken verstanden, daß die Unterscheidung zwischen Nominal- und Funktionswert ein Instrument der wertfreien Erkenntnis sei. Wenn nun die Ergebnisse wertfreien Erkennens zugleich von polemischem Nutzen sein können, ergibt sich daraus ein doppeltes Problem: Die wertfreie Erkenntnis ist als instrumentalisierbare Erkenntnis nicht mehr wertfrei, und die „polemische" Erkenntnis müßte als wertfreie den Charakter der Einseitigkeit verlieren. Die Möglichkeit, diesen Widerspruch abzumildern und auf die Heterogonie der Zwecke zu verweisen, also darauf, daß die eine Sphäre der Erkenntnis nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, was in der anderen geschieht, hat Kondylis nicht genutzt. Wir wollen uns abschließend diesem blinden Fleck der Kondylisschen Methode zuwenden und die These wagen, daß die Gründe für jene Widersprüche in einem Defizit seines funktionalistischen Begriffs des Politischen zu suchen sind. Im Jahre 1988 gab Kondylis eine Beschreibung des Kriegstheoretikers General von Clausewitz, die sich wie eine Selbstbeschreibung liest: „Auf Clausewitz, den historisch denkenden und deskriptiv verfahrenden Kriegstheoretiker kann sich keine Partei logisch einwandfrei berufen - eine bellizistische nicht und auch nicht eine pazifistische, eine zivil-liberale ebensowenig wie eine nationalistische oder militaristische. Denn der höchst eigenartige und -willige preußische General hat in seinem Groß werk im Grunde nur festgestellt, daß Kriege stattfinden und daß sie jeweils die verschiedensten Formen annehmen können; sein langjähriges Bemühen galt der Erklärung dieser Tatsachen, er hat aber weder die Abschaffung der Kriege empfohlen oder ins Auge gefaßt noch den Ratschlag erteilt, bei erster Gelegenheit
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Krieg zu suchen und zu führen; und auch die äußerste Intensität oder, umgekehrt, die möglichst geringe Anstrengung im Kriege hielt er nicht für unbedingt erstrebenswerte Selbstzwecke."128 Kondylis* Globalisierungstheorie wie überhaupt seine Theorie des Politischen liest sich über weite Strecken ähnlich. Meist ist in den politischen Schriften kein archimedischer Punkt zu erkennen, bei dem man ansetzen könnte, um den Gang der Weltgeschichte in eine bestimmte Richtung, auf ein bestimmtes Ziel zu lenken oder zumindest das Schlimmste zu verhüten. Das immer prekäre Verhältnis von Ordnung und Anarchie, von Gleichgewicht und Hegemonialkampf erlaubt weder eine optimistische noch eine pessimistische Interpretation der Geschichte, wie überhaupt der Pessimismus von Kondylis nicht viel mehr ist als das notwendige theoretische Gegengewicht zum Fortschrittsoptimismus. Die Enttäuschung der Fortschrittshoffnungen desavouiert nicht die Kultur; man kann sie schlecht verwerfen, „nur" weil sie das Töten nicht verhindert. Kondylis hält den Menschen nicht für perfektibel, er gibt aber auch keinen Anlaß zu dem bekannten Mißverständnis, daß derjenige, der den Menschen als Mängelwesen betrachtet, irgendein affirmatives Verhältnis zu diesem Status haben müsse. Auf die Opfer des ewigen Mängelwesens Mensch mag das wie Zynismus wirken; seine Position als kühler, unbeteiligter Kritiker der Kritiker hat Kondylis trotzdem nicht verlassen. Er hat augenscheinlich nicht die Melancholie probiert, nicht den Quietismus, nicht den Humor und schon gar nicht die Empathie. Und doch wurde zum wiederholten Male deutlich, daß seine Neutralität verschiedene Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Von einem echt planetarischen Vorgang kann zum Beispiel nur dann gesprochen werden, wenn Kulturen, wie Kondylis schreibt, keine irreduziblen Substanzen sind, sondern eine Frage der Einstellung, die sich ändern kann „durch Stellungswechsel in der Konstellation der geschichtlichen Subjekte" (DP, 90). Das ist auffallend „analytisch-kombinatorisch" gedacht und schließt die Möglichkeit einer echt substantialistischen Gegenkraft zum Geist der Massendemokratie a limine aus. So verwandelt sich der objektive Prozeß der Globalisierung in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Eine Position wie die des Pfarrers Johannes Lepsius in Franz Werfeis Roman Die vierzig Tage des Musa
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Panajotis Kondylis: Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels Lenin, Stuttgart 1988, S. 9
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Dagb, wo jener ein offensives Vorgehen der deutschen Regierung gegen den Genozid an den Armeniern fordert, aus christlicher Gesinnung und notfalls um den Preis einer Kriegsniederlage des Deutschen Reiches, eine solche Position könnte es als aussichtsreiche politische und wertgebundene Entscheidung nach Kondylis nicht geben. Kondylis sieht keine echten Gegenbewegungen zur Globalisierung, sondern im Grunde nur Anpassungsbewegungen. Hier liegt die Grenze seines Erklärungsfunktionalismus, der den Ereignisfunktionalismus so stark macht, daß am Ende selbst dort, wo noch echte Substanzen vorhanden sein könnten, nichts als der Funktionswert „Teilhabe an der Weltgesellschaft" übrig bleibt. Während Kondylis an der universalistischen Ethik sowie an der Kommunikationstheorie die Ableitung des Seins aus dem Sollen kritisiert, liest sich seine Globalisierungstheorie zuweilen wie eine Ableitung des Sollens aus dem Sein. Der Funktionswert wird so weit überdehnt, daß er am Ende mit dem Nominalwert zusammenfällt bzw. in einen solchen umschlägt, wie wir an der Sonderwegtheorie gesehen haben. Wäre der Nominalwert tatsächlich nicht mehr als ein Propagandawert, der je nach Lage umgeschrieben und neu definiert würde, dann müßten die Menschen ihre Namen wechseln können wie ihre Kleidung. Die „wertfreie Erkenntnis" hat in Kondylis' politischen Schriften zuweilen offenbar die Funktion, seine eigene („objektivierende") Subjektivität in objektive Erkenntnis zu überführen bzw. seine subjektive Haltung, zum Beispiel zum Marxismus, in objektive Erkenntnis möglichst aufzulösen. Kondylis vollzieht die von ihm diagnostizierte Abwendung von der bürgerlichen Synthese als Suche nach reinen Formen und Bauelementen durchaus mit. Auch er wendet den in der „bürgerlichen" Philosophie angelegten Funktionsgedanken gegen sie. In durchaus polemischer Absicht hat der Begriff des Bürgertums, wie Kondylis ihn in seinen politischen Schriften verwendet, einen blinden Fleck. Man übersieht ihn leicht, weil Kondylis den geschichtlichen Großbegriffen eine lebendige Bedeutung nur im Rahmen jener Konstellationen zubilligt, in denen sie jeweils entstanden sind. Diese Begriffe erleben bei Kondylis keinen Bedeutungswandel, sie haben keine Geschichte. Sie haben auch keine überhistorische Bedeutung, die sie unabhängig von der Zeit einsetzbar machte. Der Bürger, der immerhin zwei Existenzformen kannte, das verzehrend-selbsterhaltende Dasein des Bourgeois und die notfalls bis zum Selbstopfer gehende Bereitschaft des Citoyen, als Held seine biologische Selbsterhaltung dem Erhalt der Gemeinschaft unterzuordnen, diese Doppel-
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Andreas Krause Landt
rolle, mit der Hegel die Aporie der bürgerlichen Vergemeinschaftung zu lösen suchte, taucht bei Kondylis nur dort auf, wo er den Konsumenten des massendemokratischen Zeitalters als eine Art Citoyen betrachtet. Das echte Selbstopfer, gerade auch als kollektives, wäre dagegen ein Skandalon für Kondylis, weil es den Schutz seiner Identität höher bewertete als die Selbsterhaltung und damit den vermeintlich immerwährenden Funktionszusammenhang von Identität und Selbsterhaltung auf den Kopf stellte. Erst in der nachgelassenen Sozialontologie erkannte Kondylis diesem Phänomen einen theoretischen Status zu, erst dort terminiert die Ratio der Selbsterhaltung „in einer Ratio, die die Selbstnegation einschließt". 12 ' In seinen politischen Schriften stellte Kondylis bloß fest, bürgerliche Kultur und Bildung gäben in den Ländern ihres Ursprungs und Gedeihens „ihren letzten Hauch von sich" (DP, 210) und die Technik bleibe „der letzte Hüter der Humanität" (DP, 219). Wo Kondylis derart die vermeintlich totale Herrschaft von Massendemokratie und „analytisch-kombinatorischer Methode" beschwört, scheint er doch noch einen Rest marxistischen Utopiegehalts auf die Globalisierung hinübergerettet zu haben. Den Einsichten, die er seinen Lesern im Zuge dieses Versteckspiels gewährt, wünschte man dennoch eine größere Aufmerksamkeit außerhalb des arcanum imperii. Auf den Leserbriefseiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung blieb es indes schon zu Kondylis' Lebzeiten seltsam still.
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vgl. den Beitrag von Peter Furth in diesem Band
HANS-MARTIN LOHMANN
Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, Konsumbürger - der Bürger bleibt
Panajotis Kondylis liebte die große, die weiträumige, die „planetarische" Perspektive. Unter dem Blick des griechischen Gelehrten schrumpften die einzelnen Ereignisse und Abschnitte der modernen Weltgeschichte zu Episoden, die erst in einem größeren, eben planetarischen Zusammenhang ihre wahre geschichtliche Bedeutung enthüllen. Es gehört zu den unbestreitbaren Stärken des spezifisch politischen Denkens von Kondylis, daß es verstand, hinter der Mannigfaltigkeit der historischen Empirie jene strukturbildenden Elemente, Formen und Stile sichtbar werden zu lassen, die eine Epoche erst als solche qualifizieren und es erlauben, sie in einen umfassenden Kontext einzufügen und damit einer Interpretation in weltgeschichtlicher Absicht zugänglich zu machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges, als sich die Rauchschwaden über dem Schlachtfeld verzogen hatten und der Donner verhallt war, 1991, hielt Kondylis die Zeit für reif, eine historische Bilanz jener sozialen Formation vorzulegen, die aus dem Kampf der antagonistischen Klassen und politischen Systeme am Ende siegreich hervorgegangen war - des Bürgertums. Während die politische Soziologie und Philosophie zu jener Zeit die Kategorie der „Zivilgesellschaft" bemühte, um die Überlegenheit des westlichen „bürgerlichen" Kapitalismus über die kommunistische Plan- und Staatswirtschaft zu plausibilisieren, deutete Kondylis im Gegenteil die Niederlage des Marxismus als die definitive Niederlage der bürgerlichen Denk- und Lebensform: „Der Marxismus war [...] die letzte große weltanschauliche Synthese, die sich in enger Berührung mit dem bürgerlichen Denken herausbildete und dessen wesentliche Prämissen teilte." Schon vor dem Ende des Marxismus und damit dem „Ende der großen Erzählungen" (JeanFrançois Lyotard) hatte das westliche Bürgertum Kondylis zufolge sein Waterloo erlebt und war zum Stoff für die Geschichtsbücher abgesunken. In seinem großen Essay Der Niedergang der bürgerlichen Denkund Lebensform erzählt Kondylis die Geschichte eines Verfalls. Auch
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Hans-Martin Lohmann
hier eine großzügige „planetarische" Perspektive wählend, die sich um kleinteilige empirische Einwände und methodische Bedenken wenig kümmert, entwirft der Autor zunächst das Panorama einer Epoche, die etwa von 1750 bis 1950 reicht: Diese zweihundert Jahre bilden für Kondylis das Goldene Zeitalter des modernen liberalen Bürgertums, in welchem der Wirtschaftsbürger und der Bildungsbürger - gewissermaßen getrennt marschierend, aber vereint schlagend - in gemeinsamer Arbeit an der Gesellschaft diese auf eine verbindliche Synthese und umfassende Harmonie verpflichteten, in welcher „Geld und Ethik, Kalkül und Herz" zwanglos zusammenkamen. Aber dann, bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, setzte eine historische Entwicklung ein, die das bewährte Wirtschafts- und Bildungsbürgertum obsolet machte und an dessen Stelle einen neuen Sozialtypus etablierte - den Konsumenten. Diesem Konsumenten, der quer durch alle sozialen Klassen und Schichten anzutreffen ist, ermangelt es - und dies ist der springende Punkt in Kondylis' historischer Analyse - fundamental all jener Eigenschaften, die das liberale Bürgertum einst auszeichneten. Statt durch sein individuelles Tun, wie bewußtlos auch immer, das Gelingen des gesellschaftlichen Ganzen zu fördern, arbeitet der Konsument unablässig nur noch an sich selbst: an seinen privaten Bedürfnissen und Wünschen, seinen Gefühlen und Befindlichkeiten, kurz, an seiner „Selbstverwirklichung". Der Konsument ist kein Bürger mehr, er ist nicht einmal mehr dessen Degenerationsform oder Schwundstufe. Er ist ein anderer. Er ist als Kollektiv The Lonely Crowd im Sinne David Riesmans. Der Bürger ist tot. Es kann hier nicht der Ort sein, die von Kondylis im einzelnen vorgebrachten Argumente zu referieren und sie auf ihre jeweilige Stichhaltigkeit zu prüfen. Auch soll nicht darüber gerechtet werden, ob Kondylis' Bild des liberalen Bürgertums, das er im ersten Teil seines Essays zeichnet, in der historischen Retrospektive nicht allzu wohlwollend und idealisierend ausgefallen ist, als habe dieses Bürgertum gerade in seiner besitz- und bildungsbürgerlichen Substanz nicht auch schwere politische Verfehlungen und moralische Schuld auf sich geladen, wenn es um die Realisierung der Res publica und der Humanitas ging. Worauf es hier ankommt, ist die Beantwortung der Frage, ob Kondylis' Diagnose, das Bürgertum habe nach dem Zweiten Weltkrieg abgedankt und einem neuen Sozialtypus, dem Konsumenten, Platz gemacht, zutreffend ist, und zweitens, wenn ja, ob dieser „massendemokratische" Typus tatsächlich nichts mehr mit dem zu tun hat, was einmal der Bürger war.
Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, Konsumbürger
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Gewiß ist schwerlich zu bestreiten, daß die Entwicklung zur Konsumgesellschaft und zu einem historisch bis dahin unbekannten Wohlstandsniveau breiter Massen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa, Nordamerika und Japan - in unterschiedlicher Geschwindigkeit und in je verschiedener Ausprägung - einsetzte, die moderne bürgerliche Gesellschaft enorm verändert hat. Zum ersten Mal in der Geschichte waren aus Gesellschaften des Mangels „Überflußgesellschaften" geworden, in denen es mehr zu verteilen gab als nur das, was zum bloßen Leben und Uberleben notwendig ist. Freilich hatte diese Entwicklung schon vor dem Zweiten Weltkrieg, im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, begonnen, als die kapitalistische Warenproduktion auf der Basis revolutionärer Produktionsmethoden (Fordismus und Taylorismus) Massenprodukte auf den Markt warf, die für ein Massenpublikum bestimmt waren. Insofern partizipierte bereits das „alte" Bürgertum, dem Kondylis' heimliche Bewunderung gilt, an einer Entwicklung, die ihre ganze Wucht allerdings erst nach 1945 entfaltete. Die Herstellung des äußeren Weltmarktes, die um 1900 ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte, ging in den folgenden Jahrzehnten einher mit der Herstellung des inneren Weltmarktes. Gegen Kondylis ist festzuhalten, daß das Moment der Kontinuität vermutlich viel stärker ins Gewicht fällt als das der Diskontinuität. Insbesondere der Zweite Weltkrieg mit seinen riesigen Verheerungen mag zwar den Eindruck hervorrufen, nach dem Ende der Katastrophe, nach 1945, sei alles grundsätzlich anders geworden. Doch sprechen die historischen Fakten eher dagegen. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit seit einiger Zeit wieder vom Bürger die Rede ist - offenbar ist er doch nicht so leicht von der historischen Bühne der westlichen Gesellschaften zu vertreiben, wie Kondylis es glaubte konstatieren zu müssen. Weder der Untergang des klassischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums noch der kulturrevolutionäre antibürgerliche Habitus der Protestgeneration von 1968 (der nicht nur Kondylis ein gerüttelt Maß an Mitschuld am Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform zuschreibt) haben es vermocht, den Bürger als solchen zu eliminieren. Freilich, an die Stelle des guten alten Wirtschafts- und Bildungsbürgers, dessen Essenz sich in der Akkumulation von materiellen und symbolischen Gütern verwirklichte, ist der Konsumbürger getreten ein anderer Bürger zwar, aber ein Bürger. Es gibt keinen wirklich plausiblen Grund, diesem historisch relativ jungen Sozialypus, dem Kondylis im zweiten Teil seines Essays durchweg mit dem Ressen-
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timent des Bildungsbürgers begegnet, das Attribut des Bürgerlichen abzuerkennen. Seine Bürgerlichkeit äußert sich nun allerdings in einer Weise, die primär den Gesetzen der kapitalistischen Massenproduktion von Waren und der Konsumtion einer tendenziell unendlichen Vielfalt verfügbarer Waren gehorcht. Seine bürgerliche Freiheit besteht vor allem in der Freiheit der Wahl, auf dem Markt dies zu erwerben und jenes nicht (daß es auf diesem Feld enorme individuelle und soziale Unterschiede in der Nachfragefähigkeit gibt, versteht sich von selbst und verweist auf nach wie vor existierende Vermögens- und Einkommenshierarchien und -gefalle): „Mit Geld alles kaufen zu können, was das Herz begehrt, gehört zu den mächtigsten Versprechen, die der Markt bereithält. Der Markt stellt sich als Vollendung der Forderung nach Gleichheit dar, als soziale Form, in der allein das Äquivalent gilt, sowohl im Hinblick auf den Tausch von Gütern gleichen Wertes als auch auf die Tauschenden selbst. Gleichheit, Freiheit und Universalität sind die drei Prinzipien, die mit dem Marktprinzip untrennbar verbunden sind" (Michael Wildt) - und die gerade deshalb den Konsumbürger in hohem Maße zum Bürger machen, erfüllen sich doch erst in ihm die libertären und egalitären Postulate der Französischen Revolution. Kondylis ist entgangen, welche gesellschaftlichen Vorteile und Gewinne mit der Transformation des Bürgers zum Konsumbürger verbunden sind. Dieser Bürger ist - mit Blick zum Beispiel auf die jüngere deutsche Geschichte wahrlich keine Selbstverständlichkeit - im wesentlichen friedlich gestimmt, indem er seine Wünsche und Energien nicht mehr auf die Eroberung fremder Länder, die Aneignung von „Lebensraum" oder die Errichtung tausendjähriger Reiche lenkt, sondern auf Waren: auf die neueste Mode, den Zweitwagen oder die Urlaubsreise in exotische Weltgegenden. Diesen kollektiven Mentalitätswandel sollte man vor allem dann nicht unter- und geringschätzen, wenn man sich vor Augen führt, wie latent bellizistisch und aggressionsgeneigt zumindest Teile des alten Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, nicht nur des deutschen, tatsächlich waren - es genügt ein Blick in die Literatur aus der Zeit vor 1945, um sich davon zu überzeugen. Insgesamt darf man sagen, daß die Praxis des Massenkonsums, die in Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren einsetzte, die Deutschen auf Dauer stärker zivilisiert hat als reeducation, politische Demokratie und Grundgesetz. Ebenso fehlt es Kondylis an Gespür dafür, daß der Konsumbürger, dem er mit Vorliebe „Hedonismus" und Oberflächlichkeit attestiert,
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alles andere als ein fremdgesteuerter und unmündiger Verbraucher ist, der jeder Verlockung des Marktes willenlos ausgeliefert ist. Man kann, ganz im Gegenteil, davon ausgehen, daß der Konsumbürger über die ausgeprägte Fertigkeit verfügt, zu differenzieren und auszuwählen und jene semiotischen Codes „lesen" zu können, die den Waren anhaften und mit denen die Werbung spielt. Der „amerikanisierte" citizen consumer hat eine soziale Praxis etabliert, die ein hohes Maß an Kompetenzen und Qualifikationen erfordert, die dem Wirtschaftsund Bildungsbürger weitgehend unvertraut waren. Deshalb ist es vielleicht nicht übertrieben, wenn man konstatiert, daß es um die Urteilsfähigkeit und das Distinktionswissen des heutigen Konsumbürgers, auch und nicht zuletzt in Fragen der politischen Wahl, im großen und ganzen besser bestellt ist als beim Wirtschafts- und Bildungsbürger alten Schlages. Schießlich bleibt Kondylis blind gegen die Tatsache, daß die Konsumgesellschaft wie keine andere soziale Emanzipationsbewegung dafür gesorgt hat, daß die Frauen die öffentlichen Räume der Gesellschaft betraten. Indem die Frauen zunehmend als Adressaten des Massenkonsumversprechens entdeckt und für die Hersteller von Massenprodukten interessant wurden, kam ein Prozeß ingang, an dessen Ende die Frauen nicht nur als umworbene und einflußreiche Konsumentengruppe stehen, sondern auch deren Integration ins außerhäusliche Arbeits- und Berufsleben. Erst die Konsumentendemokratie, wie sie gelegentlich genannt wird, hat mit durchschlagendem Erfolg bewirkt, daß das bürgerliche Gleichheits versprechen und der pursuit of happiness auch „das andere Geschlecht" miteinschließt. Was Kondylis in seinem Essay implizit beklagt, ist, so scheint mir, die Entschärfung des Politischen. Ohne es an irgendeiner Stelle seines Buches auszusprechen, optiert der griechische Gelehrte für eine Verfaßtheit der Gesellschaft, die auf einer eindeutigen Ordnung von Werten und auf klaren, objektivierbaren Unterscheidungen, nach innen wie nach außen, beruht. Ähnlich wie Carl Schmitt in seiner frühen Schrift über die Politische Romantik das bürgerliche Individuum als hemmungslos subjektzentriert darstellt - „Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum wird in der liberalen bürgerlichen Welt zum Mittelpunkt, zur letzten Instanz, zum Absoluten" - , welches sich und die Welt in ein „aussichtsloses Gerede" verwickelt, denunziert Kondylis den Konsumbürger als den großen Zerstreuer und Relativierer von Sinn und Form. Im konsumbürgerlichen Universum verschwindet die notwendige Eindeutigkeit des Politischen zugunsten
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vieldeutiger Optionen und Erwartungen, die den eigentlichen Sinn des Politischen, die klare Unterscheidung, verfehlen. Es ist nicht schwer, in Schmitts und Kondylis' Kritik ein grundsätzliches Mißtrauen gegen demokratische Verfahren, gegen Konsens und Kompromiß, gegen den Pluralismus von Lebensstilen zu erkennen. Dabei berührt Kondylis in seinem Essay durchaus ein zentrales Problem der modernen kapitalistischen Konsumgesellschaft, nur daß er zu diesem Problem nicht wirklich vorstößt, sondern auf seinem Ressentiment gegen den „Irrationalismus" der consumer society sitzenbleibt, ohne diesen Irrationalismus beim Namen zu nennen. Denn irrational ist die Konsumgesellschaft nicht deshalb, weil sie den Konsumenten ein Höchstmaß an individueller Teilhabe und subjektiver Entscheidungsfreiheit im wirtschaftlichen und politischen Leben zubilligt, sondern insofern, als sie mit großer Vorhersagbarkeit an Grenzen stößt, die sie nur um den Preis ihres eigenen Untergangs ignorieren darf. Schon heute gilt die Vorstellung, daß in absehbarer Zukunft mehr als eine Milliarde Chinesen ganz normale Konsumbürger westlichen Stils sein werden, als Schreckensszenario. Auf die vielen unerwünschten Risiken und Nebenwirkungen, die das geschäftige Tun des Konsumbürgers nach sich zieht, hat vor einem Menschenalter bereits Pier Paolo Pasolini drastisch hingewiesen. Gerade in „planetarischer" Perspektive ist deshalb die Frage angebracht, ob und in welchem Umfang wir uns angesichts begrenzter Ressourcen und wachsender ökologischer Probleme in Zukunft ein Wirtschaftsmodell leisten können, das im Namen des Konsumbürgers auf permanentes Wirtschaftswachstum angewiesen ist. Es bedarf keiner prophetischen Gabe, um zu erkennen, daß die „Grenzen des Wachstums" zwar verschiebbar, aber nicht endlos flexibel sind. Das Ende der Wachstumsökonomie wäre auch das Ende des Konsumbürgers. Allenfalls indirekt läßt Kondylis* Abrechnung mit der massendemokratischen Postmoderne und ihrem sozialen Protagonisten, dem Konsumbürgertum, durchschimmern, daß sich das Schicksal der gegenwärtigen, der kapitalistischen Kultur am materiellen Verbrauch entscheiden wird. Sollte dieser in seiner aktuellen Gestalt nicht mehr aufrechterhalten werden können - und zumindest in den reichen westeuropäischen Gesellschaften gibt es ökonomische, demographische und psychologische Indikatoren dafür, daß der Wohlfahrtsstaat und seine Segnungen das Ende der Fahnenstange erreicht haben - , wäre nicht auszuschließen, daß die Härte des Politischen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückkehrt. Solange materieller Uberfluß
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herrscht, bleibt das Politische gehegt durch eine soziale Praxis, die es weitgehend neutralisiert. Wenn aber der Mangel zurückkehrt, könnte das Politische, wie es Kondylis vermißt hat, wieder Gestalt und Gewalt gewinnen. Vielleicht steht uns diese Herausforderung tatsächlich bevor.
Literatur Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991 Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin 1978 David Riesman: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg 1958 Carl Schmitt: Politische Romantik. Berlin 1991 (1. Aufl. 1919) Michael Wildt: Konsumbürger. Das Politische als Optionsfreiheit und Distinktion. In: Manfred Hettling und Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, S. 255-283
WOLFGANG SCHULLER
Marx, Engels und Marxismus bei Panajotis Kondylis *
Wer wie der Verfasser dieser kurzen Skizze fast sein ganzes denkendes Leben lang von Marx und Marxismus jedenfalls in deren stillgestellter Form des institutionalisierten Staatsmarxismus begleitet worden ist und wer um sich herum beobachten mußte, wie ein großer Teil der nun, nicht immer - denkenden Zeitgenossen marxisierte und sich in marxistischen Kategorien bewegte, der stellt mit Staunen fest, wie unabhängig Panajotis Kondylis sich von all dem halten konnte. Er tat das, wozu die meisten seiner Zeitgenossen nicht fähig waren aber hätten sein sollen, er historisierte das marxsche Denken selber, ging also so mit ihm um, wie dieses mit allen anderen historischen Phänomenen außer seiner selbst umgegangen war. Demgemäß wollte er es weder widerlegen (Krieg, 1988, S. 173) noch gar bestätigen, sondern sah es als Teil des bürgerlichen Denkens, als dessen letzte Ausprägung an und datierte mit seinem Untergang eine neue Phase der Geschichte - gewiß nicht naiverweise als das Ende der Geschichte überhaupt, auch nicht als den Sieg des bürgerlichen Prinzips par excellence, nämlich des Liberalismus, sondern als den Beginn des massendemokratischen planetarischen Zeitalters, und erst * Ich zitiere Kondylis* Werke nur nach einem Stichwort und dem Erscheinungsjahr: 1981 = Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981 (zitiert nach der Taschenbuchausgabe München 1986) 1986 = Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1987 = Marx und die griechische Antike, Heidelberg 1988 = Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels - Lenin, Stuttgart 1991 = Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1992a = Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Weinheim 1992b = (Herausgeber:) Der Philosoph und die Macht, Hamburg 2001 = Das Politische im 20. Jahrhundert, Heidelberg
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dieses Zeitalter werde den wahren Untergang der - doch wohl letzten Endes: europäischen - Epoche der Weltgeschichte bringen. Hiermit wäre schon die Quintessenz des Themas ausgesprochen, doch lohnt es sich vielleicht, einige Belege beizubringen, Differenzierungen vorzunehmen, etwas Kritik zu üben und so zu versuchen, das Denken von Panajotis Kondylis zu charakterisieren. Mit Ausnahme der Spezialabhandlungen über Marx und die Antike und über die Kriegstheorien spielen Marx und Marxismus eher eine Nebenrolle, schon das hatte wahrscheinlich jeden vom Marxismus ich benutze diesen Namen in Zukunft aus praktischen Gründen für das gesamte Amalgam - Hypnotisierten erstaunen oder sogar befremden müssen; Marx fehlt sogar ganz, und das überrascht denn doch, in der Anthologie über die Macht, denn „die Machtfrage" stand ja nun wirklich im Zentrum des Denkens der Marxisten des 20. Jahrhunderts (Macht, 1992b). Das große Aufklärungs-Buch von 1981 kommt nur gelegentlich auf ihn zu sprechen und zwar in dem Sinne, daß der Marxismus für sich beanspruchte, die Aufklärung zu vollenden und sich jedenfalls ganz im bürgerlichen Kategorienrahmen bewegte. Er faßte „ausschließlich den moralisch-normativistischen Aspekt des Zeitalters der Aufklärung ins Auge" als „Ideologie des Bürgertums", „um sich eben dadurch instandzusetzen, das Bürgertum des Verrats an den eigenen ursprünglichen Idealen zu bezichtigen" (S.27), und die „Priorität des Wollens und der Praxis vor dem Denken und der Theorie" finde sich - Strange bedfellows - gleichermaßen bei „Schopenhauer, Stirner, Marx und Nietzsche" (S. 648). Diese Einordnung des Marxismus kehrt ständig wieder: Der Marxismus war nur ein Spiegelbild der „bürgerlichen Weltanschauung" und „die letzte große weltanschauliche Synthese, die sich in enger Berührung mit dem bürgerlichen Denken herausbildete und dessen wesentliche Prämissen teilte" (Niedergang, 1991, S.292f). Bei der „historischen Einordnung des Marxismus und der kommunistischen Bewegung" (Das Politische, 2001, S. 13) zeigt sich, daß er „integraler Teil einer zu Ende gegangenen Phase der Weltgeschichte" war (S. 15), und sein Zusammenbruch „besiegelt somit das Ende der bürgerlichen Kultur" (S. 33). Es gab auch manche konkrete Gemeinsamkeiten zwischen bürgerlichem und marxistischem Denken, etwa: „Der ökonomistische Zug frühliberalen Denkens" geschah in „eine(r) Marx gelegentlich vorwegnehmende^) Weise" (Aufklärung, 1981, S. 425), und eine weitere Ge-
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meinsamkeit war das „bonapartistische Phänomen, welches nicht nur Marx, sondern auch die Konservativen tief beeindruckte und ihre Einstellung zur Diktatur noch zurückhaltender machte" (Konservativismus, 1986, 257). Umgekehrt übernahm der Liberalismus manches vom Marxismus, so „das Ideal der materiellen Gleichheit" (Das Politische, 2001, S. 19) oder „die moderne Uberzeugung, es sei weder gottgewollt noch natürlich, daß manche haben, während andere wenig oder nichts haben" (S. 20). Völlig relativieren tat Kondylis den Marxismus aber nicht. Zum einen billigte er ihm wesentliche Erkenntnisse und Denkfortschritte zu. So spricht er von der „großartigen Erfassung des geschichtlichen Lebens der Menschen, die Marx zweifelsohne zu einem der großen Begründer moderner Sozialwissenschaft macht" (Antike, 1987, 41 f). Weiter ist es der Marxismus, der mit seinem Geschichtsbild die gesamte bewohnte Erde umfaßt hat (Planetarische Politik, 1992 a, 121138), indem Marx „den einheitlichen Charakter des planetarischen Geschehens aus sozialen und ökonomischen Faktoren erklärte und aus ihm wiederum politische Schlußfolgerungen zog" (Das Politische, 2001, 21). Kondylis gibt sogar eine ganze Liste von Erkenntnissen, die zeigen, daß „(n)och nie" „gewisse Grundpositionen Marxscher Geschichtsbetrachtung so wahr und aktuell wie in der gerade einsetzenden Phase planetarischer Geschichte" waren (S. 34 f) und die in der Feststellung kulminieren, daß „(k)ein Moderner" „so tief und anschaulich wie Marx vorgeführt (hat), daß Geschichte, Ökonomie, Politik, Philosophie und Anthropologie im Grunde genommen eine einzige Sache und eine einzige Disziplin sind" (S. 35). Demgemäß ist es wohl auch kein Zufall, daß in seinen beiden Spezialstudien marxistisches Denken einen zentralen Platz einnimmt - es sei denn, man sagt, daß das kleine Buch über die Antike (1987) eben klein ist und ihm als Griechen vielleicht besonders nahe lag, und daß die ausführliche Darstellung moderner Kriegstheorien (1988) eben des Gegenstandes wegen Marx, Engels und Lenin habe behandeln müssen, obwohl denn doch Clausewitz als die zentrale Gestalt erscheint. Der erste Teil des Antike-Buches stellt Marxens Dissertation in den Zusammenhang des nachhegelschen Denkens, das die Philosophie als eigenständige Kraft auf die Gesellschaft wirken läßt. Der zweite Teil geht dem auch von Marx empfundenen Widerspruch nach, daß die (alt-)griechische Kultur einerseits, marxistisch gedacht, als bloßer Reflex der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzufassen wäre, daß sie andererseits aber doch, auch von Marx, als etwas Uberzeitliches emp-
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funden wird; Kondylis erklärt das dadurch, daß hier die Hegeische Philosophie weitergewirkt habe. Die einschlägigen Kapitel des Kriegsbuches treiben nun zum einzigen Mal doch so etwas wie eine marxologische Analyse. In ihnen werden die Vorstellungen von Marx und Engels eingehend besprochen, allerdings nur zum Teil in chronologischer Entwicklung. Bemerkenswert erscheinen mir folgende Beobachtungen. Zum einen sagt Kondylis mit Recht, daß die beiden Gründerväter keineswegs pazifistisch gesonnen wären, sondern den Krieg als selbstverständliche soziale Tatsache genommen hätten, à la guerre comme à la guerre, sozusagen. Sie verstanden etwas vom Krieg und sahen ihn sehr unsentimental; einmal leistet er sich diesbezüglich eine ihm sonst fremde leichte Ironie, indem er sie „unsere beiden Zivilstrategen" nennt (S. 215). Er geht weiter dem inneren Widerspruch nach, der darin besteht, Krieg einerseits als klassenmäßige Erscheinung anzusehen, ihn aber schon vor der Herausbildung von Klassengesellschaften zu erkennen; es sei eben, auch für die Ur-Marxisten, doch eine „naive Vorstellung" gewesen (S. 161), alles unmittelbar auf wirtschaftliche Gründe zurückführen zu wollen. Das Verhältnis von Armee und Gesellschaft nimmt in zweierlei Weise großen Platz ein. Einmal in der Doppelrolle des Heeres als Produkt der Gesellschaft, dann aber auch in seiner Rückwirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung. Besonders interessant arbeitet Kondylis heraus, wie M & E den Guerilla- beziehungsweise den Partisanenkrieg betrachteten. Sie sahen in ihm nicht, wie man leicht annehmen könnte, als die der Volksspontaneität entsprechende Form der Kriegführung an, sondern gaben der regulären Armee eindeutig den Vorzug. Dem „Glauben an die Überlegenheit der regulären Truppe über jede andere Kampfformation blieb Engels Zeit seines Lebens treu" (S. 225), und Marx betrachtete die spanische Guerilla „ebenso zurückhaltend wie distanziert" (S. 226): „Kennzeichen des Guerilla ist also die politische Perspektivenlosigkeit und das leichte Abgleiten ins Kriminelle, wenn der Guerillakrieg nicht unter der Ägide einer regulären Armee bzw. einer politischen Führung mit festen und deutlichen Zielen geführt wird" (S. 227); Marx und Engels seien „nicht Väter des modernen totalen Krieges" (S. 233).130 Jedenfalls konvergiert diese ge130
Es scheint im übrigen generell das letztliche Ziel von Partisanenarmeen zu sein, eine reguläre Armee zu werden; siehe für den Makkabäeraufstand, aber durchaus mit Bezug auf die Moderne, Bezalel Bar-Kochva, Judas Maccabaeus. The Jewish Struggle against the Seleucids, Cambridge 1989, passim.
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samte Analyse mit der zentralen These, daß der Marxismus nur eine wenn auch sehr spezifische Erscheinungsform bürgerlichen Denkens gewesen sei. Es geht hier nicht darum, die Triftigkeit der Marx- oder Marxismus-Interpretation von Panajotis Kondylis zu beurteilen, sondern nur darum, an ihrem Beispiel ein Licht auf sein eigenes Denken zu werfen. Demgemäß muß noch gesagt werden, was er als die nachbürgerliche, also auch die nachmarxistische Epoche ansieht. Das ist schon angedeutet worden: Es ist die planetarische - den ganzen Erdball umfassende - Massendemokratie, die sich vom Liberalismus abgewendet hat (Planetarische Politik, 1992 a, passim): Heute „überflutet der Westen die restliche Welt nicht mit dieser Kultur (seil, der bürgerlich-liberalen, W. Sch.), sondern mit dem massendemokratischen Technizismus und Ökonomismus einerseits und mit der hedonistischen Massenkultur des Kitsches andererseits" (Das Politische, 2001, S.37), wobei schwere Konflikte daraus entstehen werden, daß „5 Milliarden Menschen" alles das jetzt sofort haben wollen, was der Westen nur in einem langen komplexen Prozeß erreichen konnte (S. 16). Es gibt einige Irrtümer, die meiner Ansicht nach bestehen, und deren Benennen Charakterika des Vorgehens von Kondylis aufzeigt. Wenn er etwa meint, daß „große und lange Kriege" nur von Nationen mit „besseren Waffen" und „größerem Wirtschaftspotential" gewonnen worden sind (Krieg, 1988, S. 173), dann übersieht er den Vietnamkrieg; seine häufig vorgebrachte Ansicht, der Zusammenbruch des organisierten Marxismus werde durchgängig als Sieg des Liberalismus angesehen, trifft empirisch deshalb nicht zu, weil zahlreiche weitere Ursachen angeführt werden 131 ; daß vom Marxismus „der utopische
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So beruhte meine eigene Analyse, was ich schon deshalb nur als Beispiel anführe, weil Kondylis sie nicht kennen konnte, auf ganz anderen Kriterien (eine Sammlung meiner entsprechenden Aufsätze ist unter dem Titel „Das Sichere war nicht sicher" 2006 in Leipzig erschienen). Damit werde ich mir freilich sein Verdikt zuziehen, ein „überzeugter und konsequenter Kalter Krieger" zu sein mit dem wenn auch menschlichen Wunsch, meine Texte „zum Beweis eigener Voraussicht hochzustilisieren" (Planetarische Politik, 1992, S. 121). Aber genau das ist meine Absicht, und ich könnte mir vorstellen, daß Kondylis das nach Kenntnisnahme nicht anders gesehen hätte. Ebensowenig beziehe ich die Bemerkung über die „Jet-Set-Professoren" (Das Politische, 2001, S. 32) auf mich, obwohl ich sie auf einem Flug von München nach Krakau gelesen hatte . . . .
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Endzustand ausgemalt" wird (Das Politische, 2001, 24) ist mit wenigen Ausnahmen gerade nicht der Fall, sondern in aller Regel fällt es auf, daß die Zukunftserwartungen sehr allgemein und unkonkret blieben; 132 der Kommunismus hat nicht nur in den „ökonomisch unterentwickelten Nationen" die Macht ergriffen (S. 28), wie ein Blick auf Mitteleuropa, ja auf die Landkarte der Erde zeigt; es läßt sich keineswegs „nachweisen", sondern ist zumindest heftig bestritten, „daß die qualvollsten Paroxysmen kommunistischer Gewalt auf realpolitische Gründe zurückzuführen sind" (S. 30); schließlich sind es ja wohl nicht „die Fünfjahrpläne" gewesen, die die Sowjetunion im zweiten Weltkrieg haben siegen lassen (S. 30), sondern es war die amerikanische Hilfe, und demgemäß stimmt es zwar, daß „nicht das freiheitliche Frankreich oder das parlamentarische England" „den Nationalsozialismus besiegt haben", aber auch nicht - nur - die so charakterisierte Sowjetunion (S.31), sondern wieder Amerika - seltsam, daß die USA in beiden Fällen so aus dem Blick geraten konnten. Welche Stellung also nahm der Marxismus im Denken von Panajotis Kondylis ein? Ich hatte mich aus Gründen der methodischen Sauberkeit nur auf die betreffenden Texte selber beschränkt, um einen Baustein zum Gesamtbild zu liefern, das erst durch die anderen Beiträge dieses Bandes zusammen entstehen kann. Zunächst seien die Eingangsbemerkungen wiederholt: Kondylis dachte völlig unabhängig von jeglichem marxistischen Einfluß, weder war er ihm in der einen oder anderen Weise, in größerem oder geringerem Ausmaß erlegen, noch bezog er sich in Gegnerschaft auf ihn. Das lag daran, daß er ihn historisierte oder besser, daß er ihn als ein historisches Phänomen betrachtete - was er ja auch war, nur waren es die wenigsten, die so selbständig und souverän mit ihm umgehen konnten. 133 132
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Nicht als Beleg, sondern nur als Illustration sei aus der Reichstagsrede Bismarcks vom 17. September 1878 zitiert: Er hoffe durch ein Gespräch mit Bebel, „daß ich endlich auch erführe, wie Herr Bebel und Genossen sich den Zukunftsstaat, auf den sie uns durch Niederreißen alles dessen, was besteht, was uns teuer ist und schützt, vorbereiten wollen, eigentlich denken ... es wird versprochen, es werde besser werden, es gäbe bei wenig Arbeit mehr Geld ... wenn jedem das Seinige von obenher zugewiesen werden soll, gerät man in eine zuchthausmäßige Existenz ..." (Werke in Auswahl, Sechster Band, Zweiter Teil, Darmstadt 1976, S. 200 f). Eine weitere zeitgeschichtliche Randbemerkung: Das frühere Politbüromitglied Günter Schabowski berichtete mir vor ein paar Jahren, er
Marx, Engels und Marxismus bei Panajotis Kondylis
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Für Kondylis war der Marxismus ein letzter Bestandteil bürgerlichen Denkens, und weil er sich in seinen Schriften vornehmlich mit diesem befaßte und zwar in dessen ausgeprägter Form, mußte der Marxismus in diesen Zusammenhängen nur eine Rolle am Rande spielen. Gleichwohl faszinierte er ihn gleichsam aus sich heraus, weil erst er durch neue Fragen das bürgerliche Denken weitertreiben konnte, und deshalb widmete er ihm zwei Spezialstudien, die aber in seinem philosophischen Werk doch keine zentrale Rolle einnahmen. Kondylis war Geisteshistoriker, Historiker zwar des politischen Denkens, aber kein Historiker des politischen Geschehens. Ideen waren das, was politisch wirkte, und deshalb konnte der Liberalismus eine historische Kraft sein, ebenso wie der Marxismus, und so dürften auch einige, wie ich finde, faktische Fehlurteile von ihm zustandegekommen sein. Allerdings sind es nicht die Ideen in ihrer reinen Form oder in ihrem „Nominalwert", die in der historischen Wirklichkeit zur Wirkung kommen, sondern sie wirken nur, „indem sie .verdreht' und .verfälscht'" werden, „entsprechend den sozialen Peripetien ihrer Träger" (Das Politische, 2001, S. 23. 32). N u r deshalb konnte er Marx, Engels und den Marxismus zu Recht als eine Variante des bürgerlichen Denkens bezeichnen, eine Vorstellung, die seine innere Souveränität bewies und einige marxisants empört haben dürfte. Es wäre eine lohnende Aufgabe für politische und Sozialhistoriker, den nicht sehr schweren Nachweis zu führen, wie sehr weite Teile des gesellschaftlichen Lebens in den realsozialistischen Ländern nichts als eine Variante des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft darstellten nur quantitativ und qualitativ minderwertiger. O b Panajotis Kondylis mit dieser Behauptung einverstanden gewesen wäre?
habe jüngst einen, sozusagen, Qualitätssprung in seinem philosophischen Bewußtsein vollzogen: Nach seiner Abwendung vom Marxismus (die meiner Ansicht nach echt war und ist) habe er die antikommunistische Literatur erstmals überhaupt wahrgenommen, wobei ihm Schuppen von den Augen gefallen seien; jetzt erst sei ihm zum Bewußtsein gekommen, daß es Philosophie gebe, die völlig außerhalb dieser Bezugssysteme stehe - eine weitere große innere Befreiung.
PETER F U R T H
Über die Sozialontologie von Panajotis Kondylis
Bevor Kondylis die „Sozialontologie" konzipierte, war er mit großen ideengeschichtlichen Studien hervorgetreten, die in die Geistesgeschichte einen neuen, von der dominierenden geisteswissenschaftlichen Tradition abweichenden Akzent brachten. Für Kondylis verlief die Geschichte der Ideen nicht als ein Kooperationsprozeß nach Maßgabe der inneren Logik von Problemstellungen, sondern als ein Kampf von Weltanschauungen um lebensweltlich bedingte Grundfragen. Das hatte methodologische Konsequenzen. In den ideengeschichtlichen Werken, die Kondylis vor der „Sozialontologie" schrieb, fungierte der Kampf als hermeneutisches Leitprinzip, und dementsprechend konnte der Autor in reziproker Perspektivenübernahme am Kampf der gegnerischen Parteien von innen teilnehmen und zugleich mit dem von außen kommenden Rückblick des beobachtenden Historikers die objektivierende Distanz wahren. Das ist in der „Sozialontologie" anders. Zwar regiert auch in ihr das polemische Prinzip der Gedankenführung; so entwickelt Kondylis die eigene Argumentation aus den Schwächen der theoretischen Gegner und ist dabei Gegner unter Gegnern, aber das darüber Hinaussein, der Anspruch auf übergreifende Objektivität muß nun anders realisiert werden. Der historische Abstand, der in den ideengeschichtlichen Schriften den objektivierenden Blick von außen ermöglichte, steht in der „Sozialontologie"- jedenfalls in tragender Weise - nicht zur Verfügung; er muß ersetzt werden und zwar durch Kondylis* eigenes Theorieprogramm. Das heißt die eigene Theorie muß nun bei aller Subjektivität ihres polemischen Bezuges selber Objektivität verbürgen. Diesen Anspruch annonciert der Titel „Sozialontologie". Den Kontrast, gegen den die „Sozialontologie" ihre eigene Kontur gewinnen soll, baut Kondylis mit Hilfe seines Konzepts der „Massendemokratie" auf. In der Studie „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform" beschreibt er die „Massendemokratie" als eine Gesellschaftsformation, die dank der Überwindung der Güterknappheit die bürgerliche Gesellschaft abgelöst hat und von den
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sozialen und ideellen Erfordernissen der Massenproduktion und Massenkonsumtion bestimmt ist. War in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum als Mitglied seiner Reproduktionseinheit an überindividuelle Instanzen normativer Geltung gebunden (Mensch, Natur, Geschichte), werden die Individuen im „massendemokratischen Kontext von jeder substanziellen oder überindividuellen Bindung losgelöst" (6)*, um dem Erfordernis „funktionaler Flexibilität" genügen zu können. Der Funktionsmodus dieser Vergesellschaftungsform hat seine ideelle Entsprechung in dem, was Kondylis die „analytisch kombinatorische Denkfigur" nennt. Sie ist der Kern der Sozialtheorien, denen die Massendemokratie als Erklärungsmodell des Sozialen dient. Gemeint sind damit die drei Haupttypen gegenwärtiger Sozialtheorie: die kybernetisch inspirierte Systemtheorie, die Theorie des kommunikativen Handelns und die ökonomistische Handlungstheorie. Das sind Theorien großer Reichweite, die sich als „Selbstauslegungen" einer globalen und ideologieindifferenten Gesellschaftsformation verstehen und dementsprechend weitreichend in ihren Erklärungsansprüchen sind. Ihnen tritt Kondylis entgegen. An ihnen führt er ex negativo vor, worin demgegenüber das Anliegen und die Hauptstärken seiner „Sozialontologie" bestehen. Der Hauptpunkt der Kritik, fundamental für das Anliegen der „Sozialontologie", besteht darin, daß diese Großtheorien die Gesellschaftsformation der „Massendemokratie" endzeitlich und normativ verklären und damit eine bestimmte gesellschaftliche Organisationsform zum Paradigma des Sozialen überhaupt erheben. Das ist eine Hypostasierung, die das postideologische Selbstverständnis dieser Theorien konterkariert und eine Lage sichtbar macht, in der gerade die Behauptung vom „Ende der Ideologien" das Ideologieproblem darstellt. Neben diese generelle, Ideologie fundierende Hypostasierung treten die Hypostasierungen, die bestimmten Strukturen und Gebieten des gegebenen Sozialen Modellcharakter zusprechen, wobei zugleich Modelldenken zum Modell des Denkens überhaupt erklärt wird. So werden in der kybernetischen Systemtheorie erfolgreiche und potente technische Strukturen zum Modell einer allgemeinen Konstruktion des Sozialen erweitert. Und die für die Massendemokratie typische Uberdeckung der Warenproduktion durch Vorgänge und Handlungsformen der Verteilungssphäre wird durch die norma* Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen der „Sozialontologie"
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tive Erhöhung des Kommunikationsbegriffes und des rationalen Konsenses in Theorieform gebracht. Wie begrenzt die Reichweite dieser Theorien ist, zeigt sich an den Aporien, in denen die mit den Hypostasierungen verbundene Relativität zum Vorschein kommt; die Systemtheorie hat für das Zugrundegehen von Systemen keine Erklärung, und die Kommunikationstheorie kann über Krieg und Feindschaft keine Rechenschaft ablegen. Beide „nehmen eine Zweiteilung des konkreten Menschen vor, um jenen Teil theoretisch zu privilegieren, der die Einordnung in ein glatt funktionierendes soziales Ganzes ermöglicht." (65) Hinter diesem „Primat des funktionalen Gesichtspunktes" (9) sieht Kondylis das Wirken einer evolutionistischen Geschichtsphilosophie, die im Zusammenhang mit dem von ihr behaupteten Bruch zwischen vormoderner und moderner Gesellschaft die anthropologische und politische Ausrichtung der bürgerlichen Gesellschaftstheorie für obsolet erklärt, um substanzialistische Hindernisse der sozialen Atomisierung besser eliminieren zu können. Im Resümee ergeben sich als kritische Merkmale der massendemokratischen Sozialtheorie: die falsche Allgemeinheit der Ideologie, die normative Verkürzung der Wirklichkeit, die theoretische Irrelevanz anthropologischer und politischer Grundgegebenheiten. Diese Liste von Fehlern und Schwächen beim theoretischen Gegner ist zugleich eine Liste der Stärken des Kondylisschen Theoriekonzepts und enthält in negativer Spiegelung die Grundzüge der „Sozialontologie". Nicht von ungefähr eröffnet Kondylis seine „Sozialontologie" mit einer ideologiekritischen Diagnose der Epoche. Denn zwischen Ideologie und Ontologie gibt es eine hintergründige Beziehung. Niemand ist sich der Untiefen der Phänomene und des Begriffs der Ideologie so bewußt wie der Ideologiekritiker. Die Notwendigkeit, über Grundlagen und Kriterien allgemeingültiger Wirklichkeitserkenntnis zu verfügen, ist für ihn am dringlichsten. Will er nicht in der Relativität der Ideologien untergehen, muß er ein Gegenbild des Geistes haben, das sowohl über den trügerischen Schein der Ideologiebildung wie über den Perspektivismus einer affirmativen Ideologienlehre hinaus ist. Eben von der Ontologie als extremer Gegenposition der Ideologie ist zu erwarten, daß sie nicht im Status des bloßen parteilichen, gegnerischen Gegenübers verbleibt, sondern den Gegensatz durch die Inbesitznahme einer theoretischen Tiefendimension unterläuft, welche Erhabenheit über die Relativität ideologischer Gegnerschaft verspricht. Sie verspricht an Stelle der falschen Allgemeinheit der Ideologie, zustandegekommen durch die Identifizierung eines Besonderen mit dem
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Allgemeinen, eine konsequent durchgehaltene, geschichts- und milieuunabhängige Allgemeinheit, an Stelle der normativen Verkürzung der Wirklichkeit die ganze, weil wertfrei aufgefaßte Wirklichkeit. U n d als Sozialontologie ist sie durch die Hereinnahme von Existenzbestimmungen des Menschen und des Politischen gekennzeichnet, was sie von der ideologischen Repräsentation der Postmoderne auch dadurch unterscheidet, daß sie am Ideologem vom Bruch zwischen Moderne und Vormoderne vorbei den ganzen, auch den für veraltet gehaltenen Gedankenbestand der Geistesgeschichte in Anspruch nimmt.
Sozialwissenschaftliche Grundlagendiskussion und Sozialontologie Kondylis geht noch einen anderen, weniger polemischen Weg, um die Zuständigkeit und die Sichtweise der „Sozialontologie" kenntlich zu machen. Der Grundlagenstreit um Gündung und Begrenzung der Soziologie dient ihm dabei als Untersuchungsfeld, Kondylis wertet damit eine Epoche sozialwissenschaftlicher Grundlagenreflexion aus, die, ohne das Ende eines klärenden Abschlusses erreicht zu haben, das vordringliche Probleminteresse der Forschung verloren hat. Diese Abwendung hatte ihren Grund sicherlich auch in der Aporetik des Begriffes, der in der Grundlagendiskussion so maßgeblich wie umstritten war, des Begriffes der Handlung. Für Kondylis ist die Aporetik des Handlungsbegriffes aber gerade der Grund, gegen die Richtung des theoretischen Zeitgeistes auf die soziologische Grundlagendiskussion zurückzugehen. Das menschliche Handeln enthält eine unbehebbare Aporie. Dem gemeinten Sinn, den Absichten und Zielvorstellungen, die das Handeln begründen, widerspricht die Unabsehbarkeit der Folgen des Handelns. Ohne die Intentionalität ist kein zureichender Begriff des Handelns zu bilden, aber ohne die Heterogenität der Zwecke, die unvermeidliche Entfremdung der Handlungsfolgen auch nicht. Auf der Seite der Intentionalität ist das Handeln durch die Momente der Teleologie und der Individualität bestimmt, auf der Seite der Heterogenität der Zwecke durch Kausalität und Gesellschaftlichkeit. Diese Aporie hat die Menschen immer beunruhigt. So führten die Versuche, die Aporie durch die Vereinseitigung der antithetischen Handlungsmerkmale zu lösen, immer wieder zu dem antinomischen Gegensatz von Atomismus und Holismus, in dem einerseits das Soziale eine
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sekundäre Eigenschaft des Handelns ist und andererseits das Soziale ohne das Handeln der Individuen existiert. Die Geschichte des Denkens ist bis hinein in die Grundlagenreflexion der Soziologie von dieser theoretischen Antinomie geprägt. Demgegenüber beruht die Kondylissche „Sozialontologie" auf der Anerkennung der Aporie des Handelns. Darin besteht geradezu ihre Pointe. Erst unter der Voraussetzung einer so konzipierten Sozialontologie hält es Kondylis für möglich, die antinomische Lähmung der sozialwissenschaftlichen Grundlagenreflexion zu überwinden und einen das Ganze des Handelns einschließenden Begriff des Sozialen zu bilden. Der zweite Punkt, den Kondylis als richtungweisend aus seiner Auswertung der soziologischen Grundlagendiskussion gewinnt, betrifft das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichte. Auch bei diesem Problem kam es zu antinomischen Lösungsversuchen. Der historisch ausgerichteten Soziologie, die auf der Ebene der Grundlegung Schwierigkeiten bei der Bestimmung eines autonomen Sozialen hatte, standen die funktionalistische und die formale Soziologie gegenüber, die das Soziale als ein Seiendes sui generis zugrunde legten, dafür aber die Historizität ihrer Verallgemeinerungen und überhaupt die Notwendigkeit historischer Konkretion verkannten. Und da auch die Geschichte, auf die die Soziologie bezogen war, in entgegengesetzter Gestalt auftrat, in der theoretischen Form der Idiographie einerseits und der der Nomologie andererseits, wurden infolge der sich überkreuzenden Problemantinomien die epistemologischen Schwierigkeiten so massiv, daß die Grundlagendiskussion über einen offenen Gegensatz nicht hinauskam. Kondylis läßt es dabei nicht bewenden. Er hält den Gegensatz für aufhebbar, genauer: für hintergehbar. Voraussetzung dafür ist die ontologische Erkenntnis, daß „soziale bzw. historische Wirklichkeit ein einziges ontisches Kontinuum" sind und als solches „den gemeinsamen Stoff von Soziologie und Geschichte" (123) bilden. Solange aber wegen des Metaphysikverdachtes bloße Methodologie die Ontologie ersetzt, wird der „einheitliche Charakter der sozialen Wirklichkeit in ihrem Werden" (123) verkannt und die forschungspragmatische Unterscheidung von Soziologie und Geschichte als Trennung und Ausschließungsgegensatz interpretiert. Erst wenn die Geschichtlichkeit des Sozialen erkannt ist, lassen sich Abgrenzung und Gemeinsamkeit im Verhältnis Soziologie/Geschichte so weit klären, daß sich Unterscheidungen der Grundlegung und Überschneidungen in der Forschungspraxis nicht gegenseitig paralysieren. Und was noch wichtiger ist: Die Wandelbarkeit und Vieldeutigkeit des
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Historischen zeigt an, von welcher Beschaffenheit der Seinsbereich ist, auf den sich die „Sozialontologie" zu beziehen hat. Die Sozialwissenschaften sind in ihrer Grenzziehung unsicher und osmotisch durchlässig und nicht in der Lage, Kausalitäten in die Form von Gesetzen zu bringen. Das hat für Kondylis seinen Grund darin, daß das Seiende, das die Sozialwissenschaften zum Gegenstand haben, in seiner Tiefendimension „bei weitem flüssiger, mobiler und vielgestaltiger (ist) als alles, was die einzelnen Sozialwissenschaften anhand ihres begrifflichen Instrumentariums erfassen können" (186). Die „Offenheit und Plastizität" (185) des sozialen Seins hat nicht nur für die Wissenschaften, sondern auch für die „Sozialontologie" selber Folgen: In Reichweite und Gestalt der „Sozialontologie" macht sich das bemerkbar. Wenn das soziale Sein nicht als eine „stabile Größe" angesehen werden kann, die letztinstanzlich die „Vielfalt der Erscheinungen von innen her lenkt und hierarchisiert" (186), dann kann Sozialontologie nicht als System einer „kausal oder emanatistisch hierarchisierten Erfassung" (186) des sozialen Seins verstanden werden. Dann ist wegen des „proteushaften Charakter(s) des sozialen Seins" (186) nur eine Minimalontologie möglich, die gewissermaßen in der Form einer negativen Ontologie an Stelle eines obersten Ordnungsprinzips nur die Begründung dafür liefert, warum die Aufstellung eines solchen Prinzips unmöglich ist. Das ist eine Situation, die an Anaximanders Versuch erinnert, mit dem Apeiron einen Weltgrund zu denken, der alles Werden der Welt enthält und zugleich dem verdinglichenden Denken entzogen sein soll. Jedenfalls, verglichen mit der traditionellen Ontologie Aristotelischer Provenienz, ist das Konzept der Kondylisschen „Sozialontologie" einigermaßen paradox. Ihre Aussagen über Faktoren und Kräfte in der Tiefendimension des sozialen Seins müssen auf die Kategorie der Substanz verzichten, sollen aber gleichwohl substanziell sein. Sozialontologie zielt auf Unaufhebbarkeiten und steht zugleich in einem engen Bündnis mit der Geschichte. Sie „teilt den zutiefst subversiven Charakter der historischen Betrachtung, indem sie die Zerbrechlichkeit und innere Widersprüchlichkeit von allem aufzeigt, was auf dem sozialontischen Feld steht, nicht zuletzt jeder soziologisch erfaßbaren sozialen Ordnung" (191). In diesem Bündnis ist die historische Betrachtung die kritische Instanz der Sozialontologie, so etwas wie ein Kontrastmittel, mit dem sich die milieu- und zeitindifferenten und deshalb ontologisch relevanten Strukturen von den ideellen Überhöhungen langlebiger, gleichwohl nur historischer Phänomene unterscheiden lassen. „Sozialontologie
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handelt vom langsamsten Zeitfluß, den die menschlichen Dinge kennen" (194), wie Kondylis die durchaus empirisch gemeinte Sichtweise der „Sozialontologie" beschreibt. Es kennzeichnet die Ontologie als Theorieform, daß sie mit einer Voraussetzung anhebt, die nicht in Setzung zu überführen ist, mit einem ,Daß', dessen ,Was' erst zu bestimmen ist. So bildet „das Sein der Gesellschaft, als Urfaktum betrachtet, den natürlichen Ausgangspunkt der Sozialontologie, genauso wie das Sein der Welt schlechthin, ebenfalls als Urfaktum, die gedankliche conditio sine qua non der philosophischen Ontologie gewesen ist." (196) Damit wird quer durch alles in der Gesellschaft Befindliche ein Abstraktionsschnitt gelegt, der das spezifisch Sozialontologische von anderen Zuständigkeiten unterscheidet, und zum anderen ist damit in sozialontologischer Hinsicht festgelegt, daß das Sein der Gesellschaft die letzte nicht weiter reduzierbare Erklärungsebene ist und das soziale Sein nicht als ein Sein durch und für anderes zu denken ist. Tiefsitzende Denkgewohnheiten und habituell gewordene Sichtweisen und Grundannahmen erweisen sich in der Perspektive dieser theoretischen Ebene als haltlos oder nur beschränkt gültig. Es zeigt sich, daß sie auf normativen Verzerrungen des sozialen Seins oder auf der Verkennung des Allgemeinheitsranges der Phänomene beruhen. Wenn z.B. in den Begriffen der Ordnung und des Sozialen die normativen Konnotationen vorherrschen, dann kommt es zu irreführenden, die Wirklichkeit verzerrenden Gleichsetzungen. Ordnung und sozial bzw. Unordnung und unsozial werden einander zugeordnet. Aber sozialontologisch ist das sinnlos, denn „Anpassung und Aufstand, Wohltat und Verbrechen (sind) gleichermaßen sozial und nur in Gesellschaft denkbar" (200). „Ordnung im sozialontologischen Sinn, d.h. das Faktum der Gesellschaft, ist nie gefährdet, denn es umfaßt sowohl das, was aus historischsoziologischer Sicht ,Ordnung', als auch das, was aus derselben Sicht,Unordnung' heißt." (199) Ob Revolution oder Konterrevolution, ob Fortschritt oder Verfall, die sozialontologische Gewißheit besagt, daß an die Stelle der Gesellschaft wiederum Gesellschaft treten wird. Gleichermaßen irreführend ist die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, von individuell und sozial. Zwar gehört diese Gegenüberstellung formelhaft zum alltäglichen Sprachgebrauch, ist ein hochgehandeltes Ideologem und immer wieder auch Grundannahme im wissenschaftlichen Diskurs, aber der Anschein des Selbstverständlichen, der an dieser Dichotomie haftet, hat für die sozialontologische Reflexion keinen Bestand. Die Dichotomie, in der sich
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Individuum und Gesellschaft als zwei gegeneinander undurchdringliche Entitäten auf der jeweils anderen Seite einer Grenze gegenüberstehen, ist eine Fiktion. Die wirkliche Gesellschaft, der die „Sozialontologie" auf ihren Grund gehen will, läßt sich dagegen ohne die Gesamtheit ihrer Individuen nicht denken, sonst wäre sie das Ganze, das sich außerhalb ihrer eigenen Teile befände. Und das Individuum andererseits existiert nicht m i t Gesellschaft, sondern i n Gesellschaft, also in einer Situation, in der kein Individuum alles, was geschieht, aus eigenem Handeln ableiten kann und in der es für sein eigenes Handeln auf das Handeln anderer Menschen angewiesen ist. Läßt man dagegen in einer individualistischen Konstruktion das Sein der Gesellschaft aus dem Handeln von Individuen hervorgehen, werden die Individuen in einer doppelten Rolle vorgestellt: als selbständige ontische Baueinheiten der Gesellschaft und zugleich als Individuen mit einer schon sozial geprägten Ausstattung. Beides gleichzeitig haben zu wollen, geht aber nicht an, argumentiert die „Sozialontologie". „Gesellschaft kann somit nicht als Summe ontisch selbständiger Einheiten rekonstruiert werden. Ihr Sein ist ein Ganzes, aber kein solches, das neben seinen sichtbaren Bestandteilen unsichtbar existiert. Ihre ontische Selbständigkeit ist vielmehr an der Unselbständigkeit von jedem ihrer einzelnen Bestandteile gegenüber den übrigen abzulesen." (201) Die notwendige Entsprechung zu diesem Geflecht der Elemente einer Gesellschaft ist ihre Abgrenzung nach außen, d. h. gegenüber anderen Gesellschaften. In diesem Miteinander von Verflechtung und Abgrenzung, das den Zusammenhalt von Gesellschaft ausmacht, sieht Kondylis die Wirkung und die Leistung des Politischen, und versteht das Politische, da es sich wie alles andere Geschehen in der Gesellschaft durch Interaktion vollzieht, nicht als ein Außerhalb des Sozialen, sondern als ein Moment des Sozialen selbst, was für die „Sozialontologie" zur Folge hat, daß sie mit dem Sozialen nicht ein einfaches, sondern ein zusammengesetztes, komplexes Seiendes zum Gegenstand hat.
Programmatik Die traditionelle Ontologie aristotelisch-scholastischer Prägung war durch die Substanzkategorie dazu angehalten, das Seiende als Einheit zu erfassen. In dieser Sicht war nur das eindeutig, was Einheit hat: die Einheit des Prinzips, der ersten Ursache, des letzten Zwecks etc. Von solchem Seinsprimat der Einheit nimmt Kondylis' „Sozialontologie"
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Abstand. Die Gleichsetzung von Einheit und Eindeutigkeit beruht auf dem rationalistischen Vorurteil von der Einheit der Vernunft. Ihm gegenüber besteht das Kondylissche Ontologiekonzept darauf, daß Mannigfaltigkeit und Vielheit ebenso seiend sind wie Einheit und daß ein Eines nicht eindeutiger ist als ein Vieles und ein Eindeutiges nicht seiender als ein Vieldeutiges. Im Sinne einer solchen ontologischen Empirie kommt Kondylis dazu, das soziale Sein als ein Zusammenwirken gleichursprünglicher Kräfte, „als ein Feld ohne Zentrum und ohne Peripherie" (208) zu sehen, mit der Folge, daß der die „Sozialontologie" leitende Begriff dieses Seins zwar formal allumfassend, aber nicht abstrakt allgemein und damit leer, sondern konkret allgemein und damit inhaltlich bestimmt ist. Drei „Faktoren oder Kräfte" sind es für Kondylis, die aufeinander bezogen das soziale Sein ausmachen: „die soziale Beziehung, das Politische und der Mensch" (206). Wie diese drei Aspekte des Sozialen unterschieden und zusammengedacht werden müssen, hat eigentlich die auf drei Teile angelegte „Sozialontologie" als ganze zu beantworten, von der wir jedoch nur den ersten Teil, den über die soziale Beziehung, kennen. Uber die sozialontologische Rolle des Politischen und der Anthropologie haben wir nur die Skizze, die Kondylis seiner Untersuchung der sozialen Beziehung vorschaltete. Alles, was in der Gesellschaft geschieht, geschieht im Medium zwischenmenschlicher Beziehungen, die aber nicht per se, sondern erst unter der Voraussetzung des Faktums Gesellschaft soziale Beziehungen in einem kategoriellen Sinn sind. Ohne diese Grundannahme würde verkannt, daß sich Gesellschaft von den Beziehungen separat vorgestellter Individuen und von der Summe solcher Beziehungen dadurch unterscheidet, daß sie ihr Bestehen durch Interaktionen sichert, die nicht von individuellen Zielen bestimmt sind, sondern darauf abzielen, daß es einen verbindlichen Rahmen für alle Interaktionen gibt. Solche Interaktionen unterscheiden sich von den übrigen sozialen Beziehungen nur durch Richtung und Reichweite. Sie beziehen sich auf die Gesellschaft als Ganzes und „zwar als zu ordnendes und zusammenzuhaltendes Ganzes" (207), und diese Reichweite, die die Reichweite jeder möglichen individuellen Interaktion übersteigt, macht ihre Besonderheit aus: die des Politischen. „Wo Gesellschaft grundsätzlich verbindlicher Zusammenhang von Interaktionen ist, da ist das Politische auch." (207) In der Sicht der „Sozialontologie" hat das Politische also seinen Ort nicht anderswo, sondern in der Gesellschaft selber als ihr eigenes integrales Moment und teilt die Seinsart
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der sozialen Beziehung, ohne mit ihr zusammenzufallen. In dieser Verortung des Politischen stecken folgenreiche Implikationen. Wenn das Politische nicht apart als ein Seiendes für sich, sondern als integrales Moment der Gesellschaft als solcher gedacht wird, macht es keinen Sinn, das Politische in seiner Beziehung zur Gesellschaft instrumenteil aufzufassen; es tritt nicht auf, „ d a m i t Gesellschaft existiert, sondern, w e i l Gesellschaft existiert. Diese wird nicht durch das Politische gleichsam von außen zusammengehalten und geordnet, sondern sie besteht als ursprünglich politische; das Politische ist eben ihr Zusammenhalt und ihre sozialontologisch verstandene Ordnung (...)" (212) Diese Feststellung betrifft aber nur das ,Daß', das ,Wie' ist in anderer Zuständigkeit. Denn das ,Wie\ die Art und Weise der Konkretisierung des Politischen nimmt im Laufe der Geschichte viele und immer wieder neue Gestalten an. Diese beiden Dimensionen, die sozialontologische und die jeweilige historisch konkrete, sind real voneinander nicht zu trennen, wohl aber begrifflich und theoretisch zu unterscheiden. Diese Unterscheidung durchzusetzen und durchzuhalten, ist Sache der Sozialontologie. Das verhindert die verdinglichende und irreführende Gleichsetzung des Politischen mit seinen historischen Besonderungen und institutionellen Kristallisationen, mit dem, was Kondylis zur Unterscheidung vom Politischen „Politik" (210) nennt. Jede Politik ist im sozialontologisch verstandenen Politischen verwurzelt. Wird dies verkannt, kommt es zu einer Einengung des Politischen und der Politik auf Staat, Regierung und andere Organisationsformen. Dann wird Politik typischerweise wie eine quantitative Größe, nämlich als Teilsystem der Gesellschaft neben anderen, aufgefaßt, wobei übersehen wird, daß gerade in diesem Teilsystem der Anspruch auf verbindliche Interpretation des Gemeinwohls erhoben wird. Das ist eine Wahrnehmungseinschränkung, die dahin tendiert, sich eine Gesellschaft ohne das Politische bzw. Politik vorzustellen und im weiteren nach der Entstehung oder der Möglichkeit dieser un- bzw. vorpolitischen Gesellschaft zu fragen. Vom Standpunkt der Sozialontologie aus sind das fiktive Fragen, auf die es zu Fiktionen als Antworten kommt, wie sie z.B. in den alten und neuen Modellen vertragstheoretischer Gesellschaftsbegründung oder in interaktionistischen Konzepten der Vergesellschaftung vorliegen. In all diesen Lösungsmodellen stehen sich Individuum und Gesellschaft (oder auf anderer Ebene Staat und Gesellschaft) als wesensmäßig Getrenntes gegenüber, mit dem antinomischen Theoriestreit Individualismus versus Holismus im Hintergrund. Aber eine Sozial-
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ontologie, die die Möglichkeit eröffnet, „Gesellschaft als politisches Kollektiv zu bestimmen" (208), ist über dieses Dilemma von vornherein hinaus. Das ist jedenfalls der Anspruch, den Kondylis mit seiner Konstruktion der Sozialontologie verbindet. Kondylis spricht von einem „theoretischen Triptychon der Sozialontologie" (206). Mit dem dritten Feld darin ist die Anthropologie gemeint, nicht die Anthropologie schlechthin, sondern gemeint sind bestimmte für die Sozialontologie relevante Sachverhalte und Aspekte der Anthropologie. Sie kommen in den Blick, wenn „von dem elementaren Faktum der Offenheit und der Plastizität des sozialontischen Feldes" (216) ausgegangen wird. Die leitende Frage dabei ist: Wie muß der Mensch als Gattungswesen beschaffen sein, damit sich sein Sein mit der Vielfalt der sozialen und historischen Phänomene verträgt? Die sozialontologisch orientierte Anthropologie kehrt also die Fragerichtung der Anthropologie um; anstatt wie die Vernunftoder Triebanthropologie von d e m Menschen auszugehen, geht sie von der plastischen Vielfalt des sozialen Seins aus, um ein damit übereinstimmendes Menschenbild erst zu gewinnen. Das bedeutet den Bruch mit den Vorgaben einer substanzialistischen Anthropologie. Gewöhnlich wird die Aufgabe substanzialistischer Grundannahmen durch die Übernahme funktionalistischer Erklärungsmuster erkauft. Kondylis hält die Alternative aber nicht für zwingend. Gegen das dilemmatische Entweder-Oder dieser Situation stellt er die Sozialontologie in der Überzeugung, daß gerade sie es vermag, die Vielfalt der Wesensmetamorphosen und die Konstanz der Grundbefindlichkeiten des Menschen zu vereinigen. Da der „anthropologische Faktor nicht v o r jeder Gesellschaft, sondern i n jeder Gesellschaft" (218) existiert wäre es anders, drohte wieder die Fiktion gesellschaftsloser Individuen - , muß sich das an dem zeigen, was der elementare Vollzug des gesellschaftlichen Seins ist, an der sozialen Beziehung. Sie modelliert sich nach Maßgabe zweier anthropologischer Grundgegebenheiten, die jeweils für eine der beiden zu vereinigenden Linien der Anthropologie stehen: Die unbändige Subjektivität des Menschen bestimmt die Handlungs- und Verstehensform der sozialen Beziehung, das, was Kondylis ihren „Mechanismus" nennt. Und die Mortalität des Menschen, genauer die auf das Handeln bezogene Tötungsmöglichkeit des Menschen, markiert die Grenzwerte der Freundschaft und der Feindschaft, zwischen denen sich die soziale Beziehung, ihr „Spektrum", erstreckt. Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind ist bei Kondylis also der sozialen Beziehung schon als solcher wesenseigen
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und nicht nur insoweit, wie die soziale Beziehung das Politische zum Gegenstand hat. Alles Politische ist soziale Beziehung, aber nicht alle sozialen Beziehungen sind politisch. Die Freund-Feindunterscheidung formiert das Politische, weil es soziale Beziehung ist, aber nicht, weil die Freund-Feindunterscheidung das spezifische Bestimmungskriterium des Politischen ist. Das ist ein Unterschied zur Auffassung des Politischen bei Carl Schmitt, der bedacht sein will, damit die Ähnlichkeiten im Denken von Schmitt und Kondylis nicht verfehlt werden. Am Abstand zum politischen Moralismus beim einen wie beim anderen ändert sich durch diesen Unterschied nichts. In der doppelten Perspektive der beiden Linien, Offenheit und Grenzen des Menschlichen, wird das Verhältnis zwischen Natur und Kultur zum Gegenstand der Sozialontologie. Kondylis übernimmt dafür durchaus die Hypothese, daß die Natur des Menschen die Kultur sei. Aber im Unterschied zu idealistischen Interpretationen dieser Hypothese versteht er dabei Kultur nicht als Auszug aus der Natur, sondern eher als eine Erweiterung der Natur, als einen Formenwechsel im Naturverhältnis des Menschen, der weiter die Züge der Natur trägt. Als zweite Natur ist die Kultur bei aller Entfernung von unmittelbarer Naturabhängigkeit dennoch Natur in dem Sinne, daß Kultur die Unaufhebbarkeit und Vorgeordnetheit der Natur übernommen hat. Dem normativen Denken, welcher Provenienz auch immer, erscheint die Kultur als das mögliche Reich der Freiheit, ontologisch gesehen ist aber die Kultur ethisch genauso indifferent wie die Natur. In der Konsequenz eines solchen naturalistischen Kulturbegriffes liegt es, die Selbsterhaltung als ubiquitäres Handlungsmotiv zu unterstellen und von daher Ideen und Werte, überhaupt die Phänomene des Geistes, als Machtmittel zur Sicherung des Selbsterhaltungsstrebens zu verstehen. Und von dieser Grundannahme aus, die Kondylis einen „ontologischen Grundsatz" (Kondylis, Macht u. Entscheidung S. 120) nennt, spricht er der Sozialontologie die Fähigkeit zu, universelles Verstehen und die Anerkennung der Vielfalt kultureller Identitäten vereinbaren zu können.
Soziale Beziehung und formale Soziologie Kondylis hat, um die Seinsweise von Gesellschaft, die Form des Vollzugs von Gesellschaft, das In-Gesellschaft-Sein, zu benennen, den Terminus „soziale Beziehung" gewählt. Das ist ein Terminus, dem bei
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den Versuchen, den Gegenstand der Soziologie zu bestimmen, um damit Grenzen und Selbständigkeit der Soziologie zu sichern, eine leitende Rolle zukam. Besonders die sogenannte formale Soziologie, von Simmel bis zu Vierkandt und v. Wiese, tat sich dabei hervor, die soziale Beziehung als soziologische Zentralkategorie zu etablieren. Daran knüpft Kondylis in gewisser Weise an. Er geht damit zurück auf eine Situation, in der es den Soziologen darauf ankam, die Soziologie aus dem Kontext der Geschichtsphilosophie herauszulösen. Kondylis selber beschreibt diese Situation als den Paradigmenwechsel ausgangs des 19. Jahrhunderts, in dem die einheitstiftenden Substanzen der bürgerlichen Gedankenwelt, Mensch und Geschichte, durch die als funktionales Ensemble aufgefaßte Gesellschaft verdrängt wurden. Derart in die Epoche eingestellt, relativiert sich der Begründungsanspruch der formalen Soziologie. Anstatt Soziologie zu begründen, hat sie ein „Konzept von Soziologie und Gesellschaft entwickelt, das der analytisch-kombinatorischen Denkfigur entsprach" (223), und damit eher Symptom als Erklärung des Paradigmenwechsels war. Gleichwohl gingen gewisse fundamentale Überlegungen der formalen Soziologie maßgeblich in die tragende Rolle ein, die Sachverhalt und Begriff der sozialen Beziehung in Kondylis „Sozialontologie" haben. Kennzeichnend für den Ansatz der formalen Soziologie war der Versuch, den Gesellschaftsbegriff jenseits aller historischen Besonderungen aus letzten ubiquitären Bestandteilen zu konstruieren, um die Überwindung der Geschichtsphilosophie durch eine überhistorische Begründung der Soziologie zu vollenden. Das sollte der Begriff der Form leisten. Er wurde dafür von seiner Verkoppelung mit historischen Inhalten abgelöst und auf einen überhistorischen, jeder Gesellschaft zuzuschreibenden Inhalt bezogen: auf das zwischenmenschliche Geschehen als den soziologischen Urtatbestand der Wechselwirkung zwischen Individuen. Die Versuche, diesen „reinen" Formbegriff durch den Nachweis fester, elementarer Beziehungsformen, die jeder Vergesellschaftung zugrundeliegen, zu verifizieren, scheiterten jedoch. Entweder blieb die reine Form eine leere, soziologisch nichtssagende Abstraktion oder sie hatte als Überhöhung bestimmter historischer Konstellationen zwar konkretere Züge, aber dafür auch nur relative Geltung. Der Ausweg, aus dieser Not der „reinen Soziologie" dadurch eine Tugend zu machen, daß Form im Sinn einer „speziellen Soziologie" (L. v. Wiese) von vornherein institutionell und situativ gebunden verstanden werden sollte, konnte erst recht nicht überzeugen. Denn er blieb hinter dem Begründungsanspruch der formalen Sozio-
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logie zurück und brachte keinen über andere Theorieansätze hinausführenden Gewinn. Aus dieser Lage zog die formale Soziologie letztlich den Schluß, Form nicht weiter im Sinne einer Kristallisation zu verstehen, sondern lediglich als ein analytisches Kriterium zu verwenden zur Bestimmung der sozialen Beziehung, vorgestellt als ein Spektrum von Nähe und Distanz bzw. von Assoziation und Dissoziation. Hier ist der Ansatzpunkt für Kondylis' „Sozialontologie". Sie führt etwas fort, das in der formalen Soziologie angelegt, aber nicht zu vollenden war, weil sie auf Grund ihrer funktionalistischen Prämissen auf zwei für sie unüberwindliche Grenzen stieß. Einmal war sie von ihrem Ansatz her in die Aporien des methodologischen Individualismus verstrickt. Bei ihrer Konstruktion der Vergesellschaftungsformen aus individuellen Interaktionen ging sie stillschweigend von schon vergesellschafteten Individuen aus, und bei ihrem Anspruch, „die Gesellschaft gleichsam im status nascens" (G. Simmel, Soziologie, 1958, S.15) zu zeigen, betraf der status nascendi die Individuen keineswegs mit; sie wurden nicht als mitentstehende, sondern als bereits sozial ausgestattete unterstellt. So betraf Simmeis heuristische Frage „Wie ist Gesellschaft möglich?" (ibid. 21 ff.) bezeichnenderweise nur die Genese von Gesellschaft, während die Frage, „was denn die Wechselwirkungen zusammenhalte, was sie zur Gesellschaft mache" (225), im blinden Fleck des Ansatzes blieb. Und zum anderen war der formalen Soziologie der Weg zu einer Sozialontologie dadurch verlegt, daß sie infolge ihrer antisubstanzialistischen Einstellung nicht auf solche Faktoren wie anthropologische, politische und kulturelle Sachverhalte eingehen konnte, die aber die soziale Beziehung erst sozialontologisch tragfähig machen. An der Frage der Inhalte entscheidet sich also, wie der Ansatz der formalen Soziologie in einen der Sozialontologie umzubilden ist. Das Kriterium von Nähe und Distanz war rein formal gedacht, also beziehbar auf alle möglichen Inhalte. Aber gerade wegen dieser Inhaltsneutralität, argumentiert Kondylis, bedarf es vor allem Weiteren einer Klärung dessen, was unter Nähe und Distanz zu verstehen ist. Da räumlich-physische und soziale Nähe bzw. Distanz bis zum Gegenteil divergieren können, führt der vom Wortsinn her naheliegende räumliche Gesichtspunkt nicht weiter. Der Abstand, den die Begriffe Nähe und Distanz meinen, ist ein Innenabstand. Nähe und Distanz sind allgemeine motiv- und aktbezogene Richtungsbestimmungen in dem zweifachen Sinn des Für (Mit) und des Gegen, der Freundschaft und der Feindschaft. Angesichts der Abstufungen und
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Ausformungen von Nähe und Distanz hat die soziale Beziehung den Charakter eines Spektrums, und insofern Nähe und Distanz als entgegengesetzte Extreme das Spektrum begrenzen, ist Polarität konstitutives Merkmal der sozialen Beziehung. Auf die inhaltliche Konkretisierung dieser Pole kommt alles an; ihr Bezug auf anthropologische Gegebenheiten ist der Schritt, der von der formalen Soziologie in die Sozialontologie hineinführt.
Polarität und Kontinuität im Spektrum der sozialen Beziehung Kondylis sieht die extreme Intensität an den Polen der sozialen Beziehung erst dann wirklich erfaßt, wenn die zuzuordnenden anthropologischen Sachverhalte auf „letzte und elementarste Gegebenheiten menschlicher Existenz" verweisen und jegliche theoretische Antinomie unterlaufen, weil sie „unabhängig davon bestehen und wirken, ob man eine Trieb- oder Vernunftanthropologie, eine funktionalistische oder substanzialistische, eine .optimistische' oder .pessimistische' Menschenauffassung vertritt." (240) Hier ist der Punkt erreicht, an dem Kondylis die Sozialontologie verankert und der sie entscheidend charakterisiert. Die soziale Beziehung kann in der Auffassung von Kondylis nur dann der alles tragende Begriff der Sozialontologie sein, wenn er in die „tiefste und notwendigste Dimension" (241) der menschlichen Existenz hinabreicht, die der Sterblichkeit des Menschen. Dahinter steht der Gedanke, daß das Leben sich nicht selbst Maßstab sein kann, sondern als selbst Widerrufbares seine Maßgeblichkeit nur von einem Unwiderrufbaren, dem Tod, herleiten kann, wie auch „die Intensivität und Tragweite sozialer Handlungen von ihrer Unwiderrufbarkeit, also von ihrer Nähe zum Tod her beurteilt werden müssen." (241) Die Sterblichkeit im Sinne eines „Daß", eines bloßen Faktums, ist zwar Voraussetzung für den Wertgesichtspunkt im Leben, aber nur im Sinne einer notwendigen Bedingung. Damit daraus eine zureichende Bedingung für die Bestimmung der sozialen Beziehung wird, muß noch ein anderer Aspekt der Sterblichkeit, ihr „Wie", die Art und Weise des Sterblichseins hinzugezogen werden. Würden alle Menschen auf eine einzige Art und Weise, nämlich eines .natürlichen' Todes, d.h. ohne das Zutun anderer Menschen, ohne soziogene Faktoren sterben, wären Tod und Sterblichkeit sozialontologisch irrelevant. Die allen gleiche natürliche Sterblichkeit ist eine
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sozial neutrale Größe. Erst die Möglichkeit, durch menschliches Tun einen ungleichen Tod zu bewirken, „bringt den Faktor .Sterblichkeit' ins sozialontologische Spiel." (241) Das ist konsequent, wenn - wie es Kondylis in „Macht und Entscheidung" vorgestellt hat - von der Grundannahme ausgegangen wird, daß das Sein des Menschen von der Ratio der Selbsterhaltung bestimmt ist; dann ist nicht einfach der Tod der Ernstfall, von dem die soziale Beziehung ihre kategorielle Bedeutung erhält, sondern der mit Handeln verbundene, der gewaltsame Tod. Und noch ein anderer eher methodischer Grund gibt dem gewaltsamen Tod so große Wichtigkeit in dem Ansatz von Kondylis. Wenn der Tod nicht als bloßes biologisches Phänomen, sondern als „sozial sinnhafter Vorgang" (241) begriffen werden soll, dann kommt dem mit Handeln verbundenen Tod eine besondere hermeneutische Bedeutung zu. Die Sinnhaftigkeit des natürlichen Todes ist auf die unbeweisbare religiöse oder metaphysische Spekulation angewiesen, während beim gewaltsamen Tod die Sinnebene über die Intentionalität des Handelns empirisch zugänglich ist. In diesem Punkt, der Frage des Sinngehalts der Sterblichkeit, ist Kondylis zweifach engagiert. Zum einen will er als Skeptiker metaphysische Optionen aus der Sozialontologie fernhalten, indem er das Anthropologicum Tod und Sterblichkeit empirisch eingrenzt. U n d zum anderen will er ein folgenreiches Mißverständnis seines naturalistischen Zugriffs auf die Anthropologie verhindern: gemeint ist damit die anthropologische Schlüsselrolle, die die Selbsterhaltung bei ihm hat. In bezug auf sie ist es naheliegend, die biologische Dimension für entscheidend zu halten. Dem stellt er aber den endogenen Wandel der Selbsterhaltung entgegen, der bewirkt, daß die Selbsterhaltung herausgefordert von den Zwängen und Chancen der Weltbemächtigung auch die Formen und Mittel der geistigen Durchsetzung hervorbringt. Im Resultat dieser Umbildung wird die Selbsterhaltung zu einer „Identitätsfrage" (242), d.h. die Selbsterhaltung als Bewahrung einer Identität wird wichtiger als die Selbsterhaltung im biologischen Sinne. Diese Wendung ist eminent wichtig; auf sie legt Kondylis alles Gewicht, weil sie es möglich macht, daß der gewaltsame Tod als Maß auf beide Pole des Spektrums der sozialen Beziehung angewandt werden kann: als Opfer des eigenen Lebens einerseits und als Feindestötung andererseits. Letztlich spiegelt die Polarität der sozialen Beziehung die Spannung der conditio humana wider, in der sich die spezifischen Gattungsmerkmale des Menschen, instinktentlastete Tötungsfähigkeit und identifikatorische Opferbereitschaft, gegenüberstehen. Und die Tatsache, daß für alle
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bisherigen Gemeinwesen in Extremsituationen der gewaltsame Tod das Maß der Loyalitätserwartung war, ist für Kondylis eigentlich nicht ein historischer Befund, sondern ein ontologisches Kriterium, das ihn darin sicher macht, mit der menschlichen Grundbefindlichkeit des gewaltsamen Todes die übergreifende Maßgeblichkeit der sozialen Beziehung gefunden zu haben. Die Nähe dieses Ansatzes zur Hobbesschen Sozialtheorie ist offensichtlich und von Kondylis auch gewollt (bedacht). Umso aufschlußreicher ist es, wie Kondylis die beiden Ansätze in Vergleich bringt, aufschlußreich für gewisse Unbewußtheiten bei Hobbes, aber auch aufschlußreich für Kondylis' eigene Problematik. Auch bei Hobbes ist der gewaltsame Tod Angelpunkt der Sozialtheorie, aber im Unterschied zu Kondylis ausschließlich unter dem Gesichtspunkt nur eines Gefühls, der Angst des möglichen Opfers, und einzig in der Form des Todes als eines nur zu erleidenden Geschehens. Diese Einseitigkeit ist so massiv, daß die von der Angst offenbar weniger affizierten Täter und der Tod in der Form des Selbstopfers in den Hobbesschen Überlegungen residual bleiben. Hobbes kann den Kampf, der den gewaltsamen Tod nach sich zieht, nur unter dem Gesichtspunkt der Feindschaft bedenken. Das Kriterium der Freundschaft ist dafür prinzipiell ausgeschlossen. So kommt es, daß das Ziel des Staates, die Angst vor dem gewaltsamen Tod zu bannen, nach Maßgabe des Hobbesschen Denkens paradoxerweise unerreichbar ist. Denn der Staat kann vor dem gewaltsamen Tod nur dann wirklich schützen, wenn seine Mitglieder bereit sind, für diesen Schutz notfalls den eigenen Tod als Mittel einzusetzen, wozu sie aber nach den Prämissen des Hobbesschen Ansatzes nicht bereit sein können. Kondylis sieht den Grund für diese aporetische Schwäche in der Rolle, die die naturalistische Anthropologie im Hobbesschen Denken spielte. Ihretwegen sei Hobbes nicht in der Lage gewesen, „die symbolisch-ideologischen Mechanismen, die auf menschlicher Ebene den biologisch verstandenen Selbsterhaltungstrieb in ein ideelles Identitätsbedürfnis verwandeln" (247), angemessen in seinen Ansatz zu integrieren. Diese Einwände gegen den Naturalismus der Hobbesschen Philosophie lesen sich wie das Resultat einer Selbstkritik am eigenen Naturalismus, einer Selbstkritik, die Kondylis unternahm, um den Naturalismus des eigenen Ansatzes gegen Einwände, wie sie den Naturalismus vom Typ der Hobbesschen Philosophie betreffen, immun zu machen. Damit die Polarität der sozialen Beziehung nicht im Sinne einer Verdinglichung mißverstanden wird, erinnert Kondylis daran, daß das
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Spektrum der sozialen Beziehung ein Kontinuum bildet. Das heißt, die Pole des Spektums sind innerhalb eines Kontinuums in allen möglichen Formen, Überschneidungen und Graden wirksam, ohne jemals in den Gegensatz des Entweder-Oder auseinandertreten zu können. Kondylis findet dafür eine an Hegels dialektische Formel der Identität erinnernde Formulierung: Kontinuum von Polarität und Kontinuität. Damit errichtet Kondylis eine begriffliche Barriere gegen alle Versuche, sich Gesellschaft nach Maßgabe nur eines Pols der sozialen Beziehung vorzustellen, ohne das Kontinuum aller Formen und Abstufungen der Polarität, als könnte es Gesellschaften geben, die nur auf den Pol reiner allgemeiner Freundschaft oder den Pol ausnahmsloser Feindschaft gegründet wären. Die Rede vom Krieg aller gegen alle enthält eine solche Vorstellung. Sie ist polemisch-ideologisch, theoretisch aber sinnlos. Kondylis hält Hobbes entgegen: „Gesellschaft wurde nicht gegründet, damit der Krieg aller gegen alle ein Ende nimmt; Gesellschaft besteht, weil der Krieg aller gegen alle praktisch unmöglich ist." (269) Auch bei der Bekämpfung der Formel Freund-FeindBeziehung, semantisch unsinnig, als enthielte sie nur das Wort Feind, geht es um die Verkürzung des Spektrums der sozialen Beziehung. Mit Hilfe einer terminologischen Reinigung wird eine Gesellschaft ohne Anteil an Feindschaft imaginiert. Abgesehen vom Animismus eines solchen Verfahrens wird dadurch auch das Verständnis von Freundschaft beschädigt; denn Freundschaft und Feindschaft haben ganz im Sinn des Kontinuums der sozialen Beziehung nur soweit einen spezifischen Sinn wie sie als Komplemente aufeinander bezogen sind. Eines wird jedenfalls gerade hier, wo es um den kategoriellen Status der sozialen Beziehung geht, klar: Eine Ontologie des gesellschaftlichen Seins a la Kondylis und die Vorstellungen des politischen Messianismus (Moralismus) sind a limine unverträglich.
Die soziale Beziehung als Mechanismus Wendet sich Kondylis der sozialen Beziehung in ihrem Vollzug, in ihrem Zustandekommen wie in ihrem Ablauf zu, dann spricht er von der sozialen Beziehung als Mechanismus. Er hat damit einen Terminus gewählt, der in einer gewissen Diskrepanz zur Spontaneität und Offenheit der mentalen und physischen Akte steht, die die lebendige Wirklichkeit der sozialen Beziehung ausmachen, der aber gerade dadurch auch die Gleichförmigkeit und das Zwingende des Ablaufes
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dieser Akte anzeigt. Zwei miteinander verflochtene, theoretisch aber unterscheidbare mentale Akte sind für das Zustandekommen einer sozialen Beziehung konstitutiv: „die Wahrnehmung des Anderen als Subjektivität" und „das sich Hineinversetzen in die Lage des Anderen" (307). Es sind soziale Akte, insofern sie sich auf ein anderes soziales Wesen beziehen, aber sie lassen sich einseitig, d. h. ohne Kenntnis des anderen vollziehen, und deshalb spricht Kondylis in Bezug auf sie vom „inneren" Mechanismus der sozialen Beziehung. Auf der Seinsebene, für die die Sozialontologie zuständig ist, kann vom Dasein des Anderen, seinem „Daß" ausgegangen werden, was dagegen offen und zu klären ist, ist das „Was" und „Wie", die Art und Weise seiner Existenz, d. h. wie sich ego und alter jeweils für sich und füreinander gegeben sind. Die Antwort darauf sucht Kondylis in der Subjektivität des Menschen. Er fragt, was an der Subjektivität, welches Merkmal an ihr ist für Wesen, die sich bei jedem inhaltlichen Vergleich als verschieden erweisen, ein gemeinsames Identisches und befähigt sie, sich bei aller Verschiedenheit als Mitglieder einer Gattung zu identifizieren? Er konstatiert: Im Vergleich mit der Seinsart der Dinge und der der Tiere gilt für menschliche Subjekte ein prinzipielles NichtFestgestelltsein. Für das Subjekt gibt es kein Muß, wenn es dieses nicht will, d. h. wenn es den eigenen Willen über das Leben stellt und bereit ist, dafür den Tod in Kauf zu nehmen. „Das Subjekt kann also als Subjekt nicht nur zwischen einzelnen Handlungen und Verhaltensweisen, sondern sogar zwischen Sein und Nichtsein wählen." (311) Wenn sich ego und alter als Subjekte aufeinander beziehen, dann wissen sie also gleichursprünglich mit der Wesensgleichheit, von der sie ausgehen, daß ihr Tun für den einen wie den anderen prinzipiell nicht festlegbar ist und daß beide vom anderen wissen, daß er dies weiß. Gerade der Akt, der die soziale Beziehung ermöglicht, die Anerkennung wesensgleicher Subjektivität, bedeutet zugleich, daß ego und alter füreinander unberechenbar sind und daß damit zur sozialen Beziehung prinzipiell das Moment der Unbestimmbarkeit gehört. Der Andere ist dem Ich als Unberechenbarer der Ferne und Fremde, doch als Wesen, das die Subjektivität mit dem Ich teilt, der Nächste und Vertrauteste. „Auf dieser doppelten Grundlage beruht die Analyse der Rollenübernahme und des Verstehens." (316) Auch die Gefühle und Wahrnehmungsweisen der Fremdheit und des Vertrauens gehen auf den Doppelcharakter der sozialen Beziehung zurück. Der Unberechenbarkeit des Anderen wird nur dann angemessen Rechnung getragen, wenn Mißtrauen und Vertrauen koexistieren, anstatt daß Vertrauen in der
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Wunschform einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung verallgemeinert wird. Wäre das Verhalten des Anderen mit Sicherheit vorhersagbar, bestünde für Ego nicht die Notwendigkeit, sich in die Lage des Anderen hineinzuversetzen. Stimulus und Reaktion würden die Interaktion hinreichend kennzeichnen, und die Rede von der Rollenübernahme könnten wir uns ersparen. Der Mechanismus der Rollenübernahme kommt erst durch die Unberechenbarkeit des Anderen in Gang. Häufig wird die Rollenübernahme normativ als eine Vertrauen bildende Einstellung verstanden, die fähig ist, immer größere soziale Verständigungseinheiten herbeizuführen. Aber die Rollenübernahme lenkt nicht nur in den Situationen der Freundschaft die Interaktion, sondern auch in den Situationen der Feindschaft. In Situationen, in denen das Handeln unter der Alternative Sieg oder Niederlage, Tod oder Leben steht, ist die Perspektivenübernahme so dringlich, wie der Einsatz hoch ist. So ist es kein Wunder, daß Theoretiker der Feindschaft und des Krieges früher und dezidierter als Sozialethiker auf die Notwendigkeit und Funktion der Perspektivenübernahme hingewiesen haben. Bei aller Skepsis gegenüber der traditionellen Ontologie bleibt Kondylis doch soweit in ihrem Rahmen, wie er eine Adäquanz zwischen Seins- und Begriffsebene unterstellt. Die überragende Rolle, die die Subjektivität in der sozialen Beziehung als Geschehen hat, kehrt in der Theoriebildung wieder, einmal als Perspektivismus der Weltanschauungen und zum anderen als Anpassungsfähigkeit des wissenschaftlichen Denkens an die „Versatilität der Subjektivität" (313) (hinter der in Kondylis' Sicht Ethik, Geschichtseschatologie und totale Herrschaft vergeblich hinterherhinken). Die Perspektivenübernahme, der Steuermechanismus des lebensweltlichen Handelns, setzt sich im sozialwissenschaftlichen Verstehen fort und hat auch dort die Anpassung an die „Versatilität der Subjektivität" zu leisten. Die Perspektive des handelnden Subjekts, das Gegenstand der Sozialwissenschaft ist, „geht in der Metaperspektive des Sozialwissenschaftlers auf". „Alle, Beobachter und Handelnde, sind gleichermaßen s o z i a l e Subjekte. Die formalen Grundgegebenheiten des S o z i a l ontischen gelten daher für alle gleichermaßen - ganz unabhängig davon, was auf der Ebene der Inhalte geschieht." (375) Die ontisch gleiche Verstehensausstattung des Handelnden wie des Beobachters betrifft den Mechanismus der Perspektivenübernahme aber nur soweit, wie er formale, unwandelbare Struktur ist, auf der Ebene der Inhalte herrscht sowohl zwi-
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sehen den Handelnden wie auch zwischen Handelndem und Beobachter die Differenz. Sie ist es, die die Perspektivenübernahme über die intuitive Sympathie hinaushebt und das Verstehen reflexiv macht. Und im Hinblick auf die spezifische Kompetenz der Sozialontologie betont Kondylis, daß die sozialontische Herkunft der Perspektivenübernahme für die Reflexivität des Verstehens entscheidend ist und nicht die methodologische Reflexion der Wissenschaft. Für Kondylis ist das Verstehen eine Funktion der Subjektivität, genauer: ihres Konstitutivums Unberechenbarkeit. Es tritt auf, wo eindeutige Kausalbeziehungen fehlen, wo Bewegung und Verhalten von Handlung unterschieden oder als Handlung interpretiert werden. Die soziale Beziehung gleich welcher Art ist verstehende Beziehung. Das Gelingen der Interaktionen wie auch ihrer theoretischen Erfassung hängt von dem Faktor Verstehen ab. Das Verstehen ist in Kondylis' Sozialontologie so etwas wie das allgegenwärtige Medium des Sozialen, denn es ist in den beiden Ebenen des Sozialen, der des praktischen Vollzugs und der der theoretischen Beobachtung, heimisch und kann beide deshalb verbinden. So ist es verständlich, daß es als leitmotivisches Thema in all den Untersuchungen anwesend ist, die der Korrelation von sozialem Handeln und Rationalität gewidmet sind. Diese Untersuchungen, die den Tatsachen des Handelns und den Topoi der Handlungstheorie, den Gestaltungen der Rationalität im sozialen wie im wissenschaftlichen Prozeß bis in die letzten Wendungen folgen, sollen hier nicht in einem möglichst vollständigen Nachvollzug der gedanklichen Konstruktion, sondern nur noch durch einige wenige, programmatisch besonders kennzeichnende Ausschnitte vorgestellt werden.
Gegenseitigkeit, Kommunikation, Tausch Die ontologische Sicht der Gesellschaft stößt allenthalben und immer wieder auf Mißverständnisse und Vorbehalte. Offenbar geht die sozialontologische Sichtweise mit Wünschen und normativen Einstellungen, die gerade diesem Bereich des menschlichen Lebens entgegengebracht werden, nicht konform. Bezeichnenderweise zeigt sich die Kluft zwischen Sozialontologie und eudaimoniebezogenen Einstellungen besonders deutlich an der Art, wie das soziale Handeln jeweils bedacht wird. Kondylis untersucht das anhand der herausragenden Rolle, die drei Begriffe in der zeitgenössischen Sozialtheorie spielen:
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Gegenseitigkeit, Kommunikation und Tausch. In allen drei Fällen handelt es sich um Momente oder Formen der sozialen Beziehung, die aus ihren Zusammenhängen herausgelöst und zu konstitutiven Prinzipien der Vergesellschaftung erhoben werden. Die Gegenseitigkeit hat ontologisch gesehen ein Janusgesicht. Sie strukturiert die soziale Beziehung im ganzen Umfang ihres Spektrums, waltet also in freundlichen wie in feindlichen Verhältnissen, gilt für Vertrauen ebenso wie für Mißtrauen. In Reaktion auf die Unberechenbarkeit der Subjektivität besteht ihre Leistung darin, Handeln berechenbar zu machen und soziale Situationen von Ungewißheit zu entlasten. Als Hauptfaktor gegen die Unberechenbarkeit der Interaktionen ist sie auch das hauptsächliche Legitimationsprinzip der sozialen Sanktionen. Wird die Gegenseitigkeit hingegen als Konstituens der Gesellschaft verstanden, dann wird ihre Doppeldeutigkeit und ihre damit verbundene ethische Indifferenz verleugnet, und anstatt ihren Not- und Verstandescharakter in den Vordergrund zu stellen, wird sie als reziproke Verschränkung des Vertrauens verstanden und als Merkmal von Sympathie und Altruismus interpretiert. Auf die Symmetrie des Vertrauens reduziert, gerät die Gegenseitigkeit als Gründungsprinzip aber in aporetische Nöte, weil mit ihr Hierarchie, Ungleichheit und die asymmetrische Komplementarität von Rechten und Pflichten nicht erklärt werden können. Die Gegenseitigkeit als Prozeß betrachtet, bringt den Handlungsaspekt der Kommunikation in den Blick. Diese Seite an der Handlung für die Handlung selbst zu nehmen, hat in der zeitgenössischen Sozialtheorie Hochkonjunktur. Bemerkenswerterweise wirken dabei entgegengesetzte theoretische Motive zusammen. Einerseits sorgt die ethisch-dialogische Fassung der Subjektivität für das Prestige des Kommunikationsbegriffes und andererseits entlastet die informationelle Neutralisierung der Subjektivität im Rahmen der Systemtheorie den Kommunikationsbegriff von inhaltlichen Verbindlichkeiten. In der intellektuellen Öffentlichkeit zieht der Kommunikationsbegriff wegen der Hoffnung, soziale Konflikte durch die Beseitigung kommunikativer Disfunktionen vermeiden zu können, ein geradezu reformatorisches Interesse auf sich. „Aber der harte Kern der Handlung bleibt sozial die ultima ratio, gleichgültig, wie die Sozialtheorie darüber denkt." (391) Der überdehnende Umgang mit dem Kommunikationsbegriff, als könnte Handlung in Kommunikation überführt werden, ist für Kondylis ein „begrifflicher Dezisionismus" (391), der semantische Umdeutungen gegen ontologische Sachverhalte setzt.
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Im Kontext des Neoliberalismus sind Theorieansätze zu Einfluß gekommen, die mit Hilfe der Verallgemeinerung der Tauschbeziehung eine ökonomistische Begründung der Sozialtheorie versuchen. Geht man, wie diese Versuche es tun, von dem Axiom aus, daß ungleicher Tausch mit rationaler Intersubjektivität unvereinbar ist, dann läuft die Gleichsetzung von Tausch und sozialer Beziehung auf eine Gleichsetzung der sozialen Beziehung mit normativer Gegenseitigkeit hinaus, und diese ist es dann letztlich, die die wahre menschenwürdige Gesellschaft konstituiert. Aber in diesen ökonomistischen Begründungstheorien wird ein Umstand, der auf die Vormacht des Sozialen hinweist, verkannt: Die Rationalität der Tauschbeziehung ist nicht voraussetzungslos. Sie kommt als Merkmal des Tausches nur unter der Bedingung geklärter Machtverhältnisse zum Zuge. Die Rationalität des Tausches existiert nicht einfach monadisch durch sich selbst, sondern erst im Zusammenhang mit einer politisch integrierten Gesellschaft. Aber das Ideologem vom Primat der ökonomischen Rationalität hat dem liberalen Denken nach Uberzeugung von Kondylis schon immer die Einsicht in den sozialontologischen Status des Politischen verstellt.
Multiple Rationalität Angesichts der richtunggebenden Rolle, die die Unberechenbarkeit der Subjektivität beim Aufbau der sozialen Beziehung spielt, ist es kein Wunder, daß Kondylis' Behandlung der Rationalität dem Rechnung trägt. Die Rationalität ist nicht als solche und nicht als ideales Prinzip Gegenstand der Untersuchung, sondern in ihrem realen Vorkommen und Wirken, nicht als Einheit, sondern als eine multiple Größe, die nicht deduktiv von einer substanziellen Definition aus, sondern nur über die induktive Beschreibung von Sachverhalten erfaßt werden kann. Kondylis spricht von Ebenen, Gestalten und Graden der Rationalität, deren Wechsel ohne linearen Fortschritt und jenseits des Gegensatzes Rationalismus-Irrationalismus verläuft. In diesem Gegensatz, der die Diskussion über Rationalität seit langem beherrscht, Partei zu ergreifen, weigert sich Kondylis. Er hat für Kondylis' Herangehensweise keine systematische Bedeutung; denn er ist ontologisch irrelevant. Zu ihm kommt es erst beim inhaltlichen Gebrauch der Rationalität, wenn ethische oder andere praktische Präferenzen und Entscheidungen anstehen. Für diese inhaltlich prakti-
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sehe Seite der Rationalität ist die Sozialontologie aber nicht zuständig. Kondylis legt großen Wert darauf, daß das deutlich wird. Anthropologie und Sozialontologie sind von der Logik ihres Ansatzes her „ethisch und technisch blind" (545), und das ist für die theoretische Erfassung der Rationalität von großem methodischen Vorteil. Denn gerade weil sich die Rationalität wegen der Vielfalt ihrer Erscheinungen weitgehend der Normierung entzieht, ist der „Begriff der Rationalität in dem Maße theoretisch fruchtbar, (...) wie er praktisch vage bleibt. Und umgekehrt: Jede Definition oder Normierung der Rationalität, die praktisch (technisch oder ethisch) nützlich sein will, verliert an theoretischer Tiefe und Breite." (544) Die letzte für die Erfassung der Rationalität erreichbare Wirklichkeit umschreibt der zur Bezeichnung der menschlichen Gattung erfundene Terminus animal rationale, den Kondylis definitorisch wörtlich nimmt, denn er beschreibt den Befund, von dem Kondylis ausgeht: Rationalität als spezifische Differenz an einem dem Tierreich zugeordneten Wesen. Und es ist konsequent, daß er bei der Ermittlung der Rationalitätsmerkmale das Reiz-Reaktionsschema der tierischen Instinktausstattung als Vergleichsmaßstab nimmt und die Rationalität in dem Hiatus entstehen läßt, der durch den Aufschub der Triebbefriedigung zustande kommt. Im Abstand zwischen Reiz und Reaktion hat die Rationalität also ihren Ursprung, ihre qualitative Differenzierung gewinnt sie in den vom Triebaufschub eröffneten Feldern des Handelns. Zwei Richtungen der Differenzierung lassen sich unterscheiden: die Entstehung von Rationalität in der Auseinandersetzung mit der Natur einerseits und in der Auseinandersetzung mit der Unberechenbarkeit sozialer Situationen andererseits. Im Handlungsfeld Arbeit steht die Zweck-Mittel-Korrelation und die daran sich ausbildende Rationalität im Vordergrund, in den Handlungsfeldern, die dem Bau und der Sicherung sozialer Beziehungen gelten, kommen Sinnfragen und Identitätsbedürfnisse hinzu und damit Rationalitätstypen, wie sie als Anwort auf legitimatorische und solidarische Erfordernisse entstehen. Kondylis unterscheidet „instrumenteile, symbolische und Identitätsrationalität" (553). In dieser Vielgestaltigkeit von Rationalität kann man, wenn man so will, Kondylis' Antwort auf den Streit zwischen Rationalismus und Irrationalismus sehen, umgreift doch dieses Geflecht von Rationalitätstypen beide Seiten des Gegensatzes. In einer Auseinandersetzung mit Paretos kategorieller Unterscheidung logischer und nicht-logischer Handlungen demonstriert Kondy-
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Iis, daß der Versuch, ein sicheres Rationalitätsmodell durch die Engführung der Zweck-Mittel-Korrelation zu schaffen, an der Heterogonie der Zwecke scheitert. Die Verselbständigung der Mittel und die unkontrollierbaren Folgen der erreichten Zwecke setzen der instrumentellen Rationalität, weil sie an das Schema, angemessene Mittel für erreichbare Zwecke, gebunden ist, eine unüberwindliche Grenze. Als Rationalitätsmodell schlechthin taugt sie deshalb nicht. Und die Frage ist nun, wie die Rationalität vorzustellen ist, die über diese Grenze hinausreicht. Auf die Antwort verweist Kondylis mit der Feststellung, daß die Zweck-Mittel-Korrelation auch im Zusammenhang mit unerreichbaren Zwecken in Funktion ist. In Situationen, in denen die Handlungszwecke das Handlungsvermögen der Akteure prinzipiell übersteigen oder in einer ihnen empirisch nicht erreichbaren Zukunft liegen, ist die Differenz zwischen Handlungszweck und Handlungserfolg dadurch lebbar, daß die Eigenlogik der Mittel solche prekären Situationen veralltäglicht und zugleich die unerreichbaren Zwecke eine symbolische Bedeutung annehmen, in der sich die Identität der Akteure als Endzweck ihres Handelns ausdrückt. Diese Konstellation veranlaßt Kondylis zu dem Resümee, daß die Rationalität der Sinnhaftigkeit einen „höheren ontologischen Status (hat) als die Rationalität im Sinne der Verfolgung erreichbarer Zwecke durch die geeigneten Mittel" (558). Und da die Sinnfrage, die letztlich über die Zwecke entscheidet, die zentrale Identitätsfrage ist, kommt Kondylis zu dem Schluß, daß die „Rationalität Funktion der Identität" (586) ist und nicht umgekehrt. Das ist in zweifacher Hinsicht ein bemerkenswerter Schluß: einmal im Hinblick auf die naturalistische Genese der Rationalität. In Gestalt der Identität ist ein geistiger Bestimmungsgrund an die Stelle des anfänglich natürlichen getreten; die Ratio der Selbsterhaltung terminiert in einer Ratio, die die Selbstnegation einschließt. Und zum anderen: Die Identität als Norm der mentalen und sozialen Konsistenz verweist via negationis wiederum auf die Unberechenbarkeit der Subjektivität, die als Grundproblem der sozialen Beziehung auch die innere Differenzierung von Rationalität erzwingt.
Rationalität und universelles Verstehen An die Stelle einer einheitlichen universellen Vernunft ist also eine multiple Rationalität getreten, mit der Identitätsrationalität verbinden sich weltanschauliche Relativitäten und kulturelle Undurchdringlich-
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keiten. Damit entsteht eine Situation, in der das universelle Verstehen, das in der philosophischen Tradition von einem universellen Vernunftbegriff garantiert war, in Frage steht. Aber der Verlust, der da droht, ist nur scheinbar ein Verlust. Die universelle Vernunft als Quelle und Maß der Werte für alle Menschen - das Universum Menschheit - war immer Gegenstand von Interpretationskämpfen, in denen es um Führungsansprüche totaler Art ging und die als Weltanschauungskämpfe unentscheidbar waren. Wenn es da einen Verlust gibt, dann besteht er im Freiwerden von diesen Kämpfen und den damit verbundenen Illusionen und betrifft nicht das Verstehen überhaupt, sondern nur das normativ interpretierende Verstehen. Das Verstehen als Akt theoretischer Erkenntnis ist davon unbetroffen. Nicht die Universalität wird verloren, sondern nur die wertbezogene Universalität des ethischen Rationalismus. Das zeigt sich am anthropologisch-sozialontologisch angelegten Rationalitätsbegriff. Die Identitätsrationalität ist relativ, denn sie ist bezogen auf ein sich der Verallgemeinerung entziehendes Besonderes, das einen Wert darstellt. Die Relativität gilt aber nur für diese inhaltliche Bezogenheit, betrifft also ausschließlich die qualitative Seite dieser Rationalität, ihr ,Was* und ,Wie'. Das ,Daß' dieser Rationalität, ihr Vorkommen, ihre Existenz, ist davon unberührt, ist universell, ebenso wie der Tatbestand, daß Werten die Realisierung eines ganzen, d. h. polaren Spektrums von Werten ist. Der ontologische Status von Werten besteht in nichts weiter als dem Tatbestand, daß gewertet wird; was und wie jeweils gewertet wird, gehört der Ethik an, in welcher ihrer Gestalten auch immer, und ist ontologisch nicht entscheidbar, bzw. irrelevant. Einen ganz anderen Stellenwert hat das Werten im normativen Universalismus, der immer wieder die Fiktion hervorbringt, als könnte man werten wollen ohne das ganze Spektrum des Positiven und Negativen, von Gut und Böse, Freund und Feind etc., als könnte und sollte das Werten das Negative wegwerten und einen Zustand herbeiführen, in dem aus Gründen der Fülle des Daseins oder der Abwesenheit des Negativen Werte und Werten nicht mehr notwendig sind. Ein derart verstandenes Werten ist aus der Sicht der Sozialontologie absurd wie ein Messen, das den Maßstab zerstört. Aber nicht nur der Universalismus, auch der Relativismus tritt normativ auf. Relative soziale Lebensformen werden in einer Weltanschauung der Besonderheitsidentität zu hermetisch geschlossenen Einheiten gemacht, indem das Selbstverständnis der Identität zur Norm des Fremdverstehens erhoben wird. Und dadurch, daß Identität und Kontingenz als kongruent
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gelten, kommt es zu so etwas wie einem sozialen oder kulturellen Solipsismus. In der Endkonsequenz des Weltanschauungsgegensatzes stehen sich das Universum des Konsenses und das Pluriversum füreinander undurchdringlicher Kulturen gegenüber. In dem Streit zwischen Universalismus und Relativismus verhält sich die Sozialontologie neutral; das Universelle und das Relative werden nicht gegeneinander ausgespielt. Das Spezifische an dem Ansatz der Sozialontologie ist eben, daß in ihr Universalismus und Relativismus nicht auf einer einzigen Ebene als Entweder-Oder gegenüberstehen, sondern bezogen auf verschiedene Ebenen in der Form des Sowohl-als-Auch auftreten können, was bedeutet, daß das Relative für das Verstehen nicht undurchdringlich und das Universelle nicht allumfassend normativ ist. In der Sicht der Sozialontologie löst sich das Kontradiktorische des Gegensatzes auf, und indem die Seiten ihre Ausschließlichkeit verlieren, tritt ihre Zuordnung hervor, und es wird der gemeinsame tragende Grund des Universellen wie des Relativen erkennbar: die soziale Beziehung. Hier haben wir die entscheidende gnoseologische These der Sozialontologie vor uns, entscheidend in Bezug auf das S o ζ i a 1 ontologische, aber auch entscheidend für das spezifisch Ontologische am Kondylisschen Ansatz. Die Rationalität ist eine Funktion der sozialen Beziehung. Sie abstrakt, also getrennt von ihrem Ursprung und ihrem Wirken in der sozialen Beziehung, verstehen zu wollen, führt in die Befangenheit antinomischer Problemstellungen. So wird in diesem Fall verkannt, daß die universelle Rationalität aus keiner relativen Sozialform wegzudenken ist. Ohne soziale Beziehung ist Rationalität ein Scheinproblem. Als Funktion der sozialen Beziehung ist Rationalität, gleich in welcher Gestalt, universell sowohl in ihrem ubiquitären Vorkommen wie in ihrer diachronen Konstanz durch alle Wandlungen der kontingenten Kulturinhalte hindurch. Und in diesem Kontext ist die Zeit- und Milieuüberlegenheit des Verstehens nicht eine Sache des methodologischen Zuschnitts, Universalität nicht Eigenschaft einer instrumentell handhabbaren Methode. „Im Gegenteil, die Universalität bezieht sich auf den Gegenstand des Verstehens, sie bedeutet also, daß der universelle Charakter bestimmter Phänomene ihre allgemeine Verständlichkeit ermöglicht." (625) Das formuliert Kondylis, als wäre er ein Ontologe nach dem klassischen Muster der Tradition, für den Sinn und Möglichkeit der Ontologie von der adaequatio rei et intellectus abhingen. Und er darf so formulieren, weil die soziale Beziehung als „universelle Konstante, die dem Verstehen zum Leitfaden dient" (625), die adaequatio bereit-
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stellt. Erinnern wir uns: Die soziale Beziehung ist verstehende Beziehung sowohl auf der Objektseite wie auf der Subjektseite, sowohl für die Akteure wie für die Beobachter der Akteure. Sie verbürgt die ontische Verwandtschaft zwischen Verstehendem und Verstandenem und ist damit das Herzstück dieser Ontologie, die mithin zurecht S o z i a l ontologie heißt. Aber Kondylis sichert die Universalität des Verstehens gegen den Relativismus noch auf einem anderen Weg ab. Er ergänzt den ontologischen Ansatz durch ein eher epistemologisches Argument und stellt neben die Rationalität als ontologische Kategorie die Rationalität als kognitives Instrumentarium. Damit sind die universellen Grundoperationen des Denkens und Wahrnehmens gemeint, alle die logischen Prinzipien und Verfahren, die semantischen Grundmuster und stereotypen Mechanismen und Raster der Wahrnehmung, die man unter dem Rubrum common sense zusammenfassen kann. Kondylis wählt dafür den Terminus „primäre Theorie" (627), um die allgemeinmenschliche elementare Erkenntnisverfassung von einer anderen nachgeordneten abzuheben, die von den kulturell bedingten, identitätsbezogenen „sekundären Theorien" repräsentiert wird. Diese „sekundären Theorien", die in der Gestalt kultureller Identitäten und Weltanschauungen Machtansprüche auf der Ebene der geistigen Auseinandersetzung erheben, sind bei aller Verschiedenheit gleichermaßen auf die „primäre Theorie" als empirische Erkenntnisbasis wie als Ebene der Bewertung angewiesen. Insofern aber das gleiche rationale Instrumentarium entgegengesetzten kulturellen und weltanschaulichen Inhalten als Durchsetzungsmittel dienen kann, ist es nicht die Wahrheitsfähigkeit dieser Primärrationalität, die die Universalität des Verstehens sichert. Ausschlaggebend dafür ist vielmehr die Tatsache, daß Kulturen und Weltanschauungen unter dem Zwang stehen, sich auf den empirischen Gehalt der primären Theorie zu berufen, wie auch immer diese Empirie von ihnen gedeutet wird. Das ontologisch Bedeutsame an diesem Empirismus des common sense liegt darin, daß er nicht homogenisierendes Verstehensprinzip ist, sondern ein Faktor, der zwischen instrumenteller Rationalität einerseits und Identitäts- oder Wertrationalität andererseits vermittelt und dadurch ein Verstehen fremder Inhalte über kulturelle und weltanschauliche Grenzen hinweg ermöglicht.
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Akzente, Vorbehalte, Fragen Bei einer kursorischen Lektüre wie der eben vorgestellten ist es unvermeidlich, daß Fragen und Vorbehalte im Hintergrund bleiben und manche Akzente gar nicht oder nur unzureichend gesetzt werden. Dem soll zum Schluß durch ein paar kommentierende Bemerkungen wenigstens andeutungsweise abgeholfen werden. Dabei kann es sich allerdings nur um vorläufige Merkpunkte für die weitere Auseinandersetzung mit der „Sozialontologie" handeln. Gewiß, die „Sozialontologie" ist ein Kodex der Topoi soziologischer Grundlagenreflexion und ein noch zu hebender Schatz methodenkritischer Erkenntnisse, sie hat indes auch etwas Erratisches an sich. Inmitten postmoderner Dekonstruktionen von Theorien und Begriffen versucht die „Sozialontologie" eine neue umfassende Grundlegung der Sozialwissenschaften und erinnert dabei dem Inhalt nach an den aufgegebenen Theorietyp, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Soziologismus für Nachdenken und Streit sorgte. Auch die Gestalt, die ontologische Form, die Kondylis für seine Fundamentalsoziologie wählte, ist nicht gerade epochentypisch. Zwar kann man aus der „Sozialontologie" mehr über Soziologie als über Ontologie lernen, aber um die „Tiefendimension" seines Ansatzes anzuzeigen, nutzt Kondylis den disziplinären Titel Ontologie. So ist zu fragen, wie systematisch das gemeint ist, wie weit es sich dabei um Ontologie handelt und um was für eine. Um so näher liegen solche Fragen, als Kondylis seiner theoretischen Gesinnung nach empiristischer Nominalist ist und als solcher auf Abstand zur Metaphysik und damit in gewisser Weise auch zur Ontologie bedacht sein muß. Nun war die Ontologie immer der gewissermaßen empirische Teil der Metaphysik, empirisch weniger in einem sensualistischen als in einem intellektuell instrumentellen Sinn. Nicolai Hartmann z. B. sah in der Ontologie die rationale Komponente, das am wenigsten Metaphysische in den Metaphysiken und erklärte damit seinerzeit die Aktualität der Ontologie und seinen Rückgriff auf sie. Das ist möglicherweise eine Sicht, in der auch Kondylis daran gehen konnte, eine Sozialontologie zu konzipieren. Angesichts dieser Situation, in der es um die Möglichkeit neuer, d. h. von Metaphysik abgewandter und zu den Wissenschaften hingewandter Ontologie, geht, ist es tunlich, auf die klassische Grundfrage der Ontologie, wie Aristoteles sie stellte, zurückzugehen. Man hat dann ein Vergleichsmuster, vor dem sich das Spezifische des neuen Ontologieansatzes, wie er in der „Sozialontologie" vorliegt, abhebt.
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Ontologie, verstanden in einem strikten Sinn, fragt nach dem Seienden als Seiendem, dem Seienden als solchem, d. h. nur insofern es Seiendes ist, und sie fragt nach dem Seienden nicht in seinem Einzelsein, sondern in Bezug auf sein allgemeines Sein, auf das Sein als das Gemeinsame alles Seienden. Man muß zur Kenntnis nehmen, daß damit bestimmte andere Sichtweisen ausgeschlossen sind. Nicht nur das Verständnis des Seienden in seiner konkreten Existenz und in seinem Werden liegt damit außerhalb des Blickfeldes der Ontologie, sondern vor allem ist es die Subjektbezogenheit des Seienden, sein Sein-für-anderes, sein Gegenstandsein, das die Ontologie ausgrenzt. Wonach sie eigentlich fragt, ist das, was das Seiende unabhängig von seinem Gegenstandsein ist. Geht dagegen die Erkenntnis von der Subjektbezogenheit des Seienden aus, realisiert sie sich nicht als Ontologie, wohl aber als Erkenntnistheorie, Psychologie, Soziologie etc., also in Wissenschaften, die gnoseologisch als Anwendungen des anthropologischen Standpunktes verstanden werden können (auch die Heideggersche „Fundamentalontologie" gehört zu dieser Wendung). Stellt man die Sozialontologie in diesen Rahmen, dann ist sie nicht die Ontologie einer bestimmten Seinsart, sondern die Ontologie einer bestimmten Wissensart. Sie ist dann als Wissenschaft des in Bezug auf den Menschen gegebenen Seienden entweder Grundwissenschaft überhaupt oder (je nachdem, wie man über den anthropologischen Status der Naturwissenschaften denkt) nur die Grundwissenschaft der sciences humaines, wie Kondylis seine Sozialontologie wohl versteht. Kondylis faßt das Verhältnis Begriff-Sache nominalistisch auf: „Die Sachen selbst haben keine Ahnung von unseren Begriffen und begrifflichen Unterscheidungen (...)" (108). Wie ist auf dieser Grundlage eine Ontologie zu errichten? Für den Nominalisten ist das Seiende als Seiendes jeweils Einzelnes und sein Sein ist Einzelsein. Seine Verbindung, seine Einordnung und Kombination ist Sache des Denkens und seiner Begriffe. Wahrheit und Richtigkeit gibt es nur als Konvention oder Konsens der Denkenden, der Begriffemacher. Begriffe (Kategorien) sind Denkbestimmungen, nicht Seinsbestimmungen. Nun stößt aber auch der Nominalist auf Seiendes, das nicht nur durch sein Einzelsein bestimmt ist, sondern auch durch sein Aufeinanderbezogenund Miteinanderverbundensein. Dann können die Begriffe, die Ordnung und Gemeinsamkeiten bezeichnen, als Denkbestimmungen zugleich auch Seinsbestimmungen sein. Und wenn das Seiende, das im reflexiven Aufeinanderbezogensein seine Besonderheit hat, als Aus-
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gang der Überlegungen genommen wird, dann ist auch für den Nominalisten Ontologie möglich, wenn auch nur auf bestimmte Weise, nämlich nur bezogen auf den betreffenden Seinsbereich oder nur unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten Seienden, dessen Besonderheit das Seiende als solches erst erschließbar macht. Das heißt, Kondylis' „Sozialontologie" kann nur Ontologie sein, insofern sie S o z i a l ontologie ist. Allerdings tritt sie in dieser Beschränkung doch als Ontologie auf, jedenfalls der Form nach. Das Allgemeine, auf das als Theoriefundament Kondylis größten Wert legt, soll nicht nur subjektiver Begriff sein, sondern auch Eigenschaft des Seienden in seinem An-sich-Sein. Als gedachtes Allgemeines soll es zugleich etwas durch das Seiende selbst Gegebenes sein, soll, wenn nicht Substanz, so doch substanziell sein. Der ontologischen Forderung nach der Adäquanz von Denken und Sein wird damit nominell Genüge getan. Aber es handelt sich wohl doch nur um eine Ontologie mit beschränkter Haftung, nämlich um die Zuständigkeit für Seiendes nur insoweit, als bei ihm durch sein gesellschaftliches Gegebensein An-sich-Sein und auf Erkenntnis Bezogensein zusammenfallen, also eine Relativität herrscht, die die ontologische Fragestellung in grundsätzliche Schwierigkeiten bringt. Wenden wir den Perspektivismus, den Kondylis in „Macht und Entscheidung" für das Grundgesetz des menschlichen Denkens hält, auf die „Sozialontologie" an, dann hat die Ontologie in der „Sozialontologie" in der Tat einen fraglichen Status. Perspektivisch läßt sich das Sein des Seienden nur als Vielheit denken, soviel Gestalten des Seins wie Perspektiven (des Denkens) auf das Seiende. Durch eine Perspektive gesehen kann das Sein ebensowenig wie die Welt gleichzeitig Perspektive und Objektivität, Sein-für-anderes und Sein-an-sich sein. Ein wahres Sein als Maßstab für den Vergleich der verschiedenen Seinsgestalten kann es unter dieser Denkbedingung nicht geben. Soll unter dieser Voraussetzung überhaupt ein Sein als das Allgemeine der Seinsvielfalt formuliert werden, kann das nur durch den Hinweis auf die Tatsache der Existenz, die auf die Seinsvorstellungen bei all ihrer Verschiedenheit gemeinsam zutrifft, geschehen. Das ,Daß' ihres Daseins ist ihr Allgemeines, ihr ,Was', ihr So-Sein unterliegt anderer Zuständigkeit. Das Sein in der Sicht einer die Perspektivität des Denkens berücksichtigenden Ontologie ist dann so etwas wie die Mengeneinheit aller möglichen Gestaltungen des Seins, ein unbestimmtes Eines als Bedingung der Ermöglichung vieler. Unter der Ägide des Perspektivismus hat das Sein des Seienden also nur eine rudimentäre
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Qualität; es ist aufzufassen wie eine Matritze, in die alles mögliche Besondere eingetragen werden kann, als ein Material, das keine seiner Formungen mit Wahrheit begünstigt und durch sie in seiner Formbarkeit nicht erschöpft wird. Bei einer solchen Seinsauffassung, in der Sein für ein bestimmendes Unbestimmbares und Unerschöpfliches steht, Anaximanders Apeiron zu assoziieren, ist nicht nur illustrativ, sondern macht auch Sinn, weil dadurch zwei charakteristische Züge der Kondylisschen „Sozialontologie" deutlicher hervortreten. Wenn am Sein die Seite der Ermöglichung, der Offenheit und der Unerschöpflichkeit des Bestimmens und Bestimmtwerdens den Primat haben soll, ist es schwer, dafür eine angemessene Begrifflichkeit zu finden. Nur eines ist sicher, die Begrifflichkeit des prädikativen Denkens, das Sachverhalte und überhaupt alles, was ist, im Verhältnis von Ding und Eigenschaft erfaßt, ist dafür nicht geeignet. Eine Ontologie, die dem Grundgedanken des Apeiron folgen will, und verdinglichendes Denken sind unvereinbar. So kommt es, daß Kondylis in seiner „Sozialontologie" ständig bemüht ist, die ontologische Überlieferung auf Distanz zu halten und deren Zentralkategorie Substanz durch eine andere Art der Kategorienbildung zu ersetzen bzw. überflüssig zu machen. Der zweite Grundzug an Kondylis' „Sozialontologie", der durch die Erinnerung an Anaximanders Apeiron sprechender wird, ist die „subversive" Rolle, die die Geschichte in der „Sozialontologie" hat. Ontologie ist Seinswissenschaft; sie hat das Sein des Seienden zu ihrem Gegenstand und nicht sein Werden. Die Ansicht, das Werden könnte das Sein ausmachen oder Sein könnte in dem bestehen, was sein Werdeprozeß ist, bleibt prinzipiell außerhalb ihrer Perspektive, jedenfalls soweit sie in der aristotelischen Tradition steht. Ontologie und Geschichte sind nach Maßgabe dieser Tradition in einem berührungslosen, kategoriell verschiedenen Auseinander. Dieses Verhältnis ist durch den Historismus, also seitdem der Geschichte eine metaphysische Rolle zugewiesen wurde, anders geworden, sei es, daß es zu integrativen Überschneidungen, sei es, daß es zur antagonistischen Entgegensetzung von Ontologie und Geschichte kam. In diese Konstellation gehört Kondylis' „Sozialontologie" auf eigenartige Weise. Einerseits gilt in der „Sozialontologie" das klassische Unterscheidungsmuster: Das Allgemeine, Formelle, Notwendige ist Kriterium des Ontologischen und das Einzelne, Inhaltliche und Kontingente ist Kriterium des Geschichtlichen. Andererseits jedoch ist das soziale Sein wie im Historismus ein ständiges Werden. Und das Verhältnis zwischen Ontologie und Geschichte ist in der „Sozialontologie" nicht
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wie zumeist sonst eines der Unverträglichkeit, sondern eines der Kooperation, allerdings einer sehr speziellen. Der Historismus sagt, die Geschichte ist unwiderstehlich. Das sagt die „Sozialontologie" auch. Doch in welchem Sinn? Gewöhnlich erscheint in einer solchen Sicht die Geschichte als ein Prozeß, in dem die Unwiderstehlichkeit der Zeit und futuristische Sinnprojektionen zusammengehen, oder die Geschichte wird überhaupt als der Durchsetzungsmodus einer entelechialen Kraft vorgestellt. Geschichte ist in solchen Vorstellungen bei aller Negativität letztlich ein positiver Prozeß, ein Prozeß, in dem der Verlust von Gewesenem duch die Akkumulation von Zukunftsfähigkeiten aufgewogen wird. In der „Sozialontologie" jedoch ist das anders. Sie ist mit einem negativen Historismus im Bunde, besser: sie ist selber von ihm durchdrungen. Das ständige Werden der sozialen Wirklichkeit ist zugleich unaufhörliche Vergänglichkeit; alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. Die „Sozialontologie" verläßt sich darauf, daß die Geschichte über alle und alles einebnend hinweggeht; erst das immer Gleiche, das sie als unverwüstbar hinterläßt, gehört der Ontologie: „Der Mensch ist aber unverwüstlich und in ganzer existenzieller Fülle da, und die einzige Voraussetzung dafür liegt in der Tatsache seines bloßen Vorhandenseins, nicht in einer bestimmten Lebensweise." (88) Ironisch liest sich das wie eine Paraphrase auf die Formel des von Kondylis vielgeschmähten Existenzialismus: „Existentia involvit essentiam." In der Sicht der moralischen Weltanschauung oder überhaupt jedweden pragmatischen Engagements muß dieser ontologische Grundbefund jedoch als Zynismus erscheinen. Denn dieses ontologische ,Immer' besagt für kein Jetzt und Hier etwas Spezifisches. Und was es überhaupt besagt, ist als Reduktion des Menschen auf das ,bloße Leben' zu verstehen und hat den Sinn eines Quietivs, nicht den eines Motivs. Doch dieser Zynismus hat noch ein anderes Gesicht. Er ist zum einen ein kritischer Vorbehalt gegenüber der „Sozialontologie", ein Vorwurf von außen, aber zum anderen ist er der „Sozialontologie" auch selber zu eigen als selbst gewollte Haltung und ist in dieser Hinsicht ein Zynismus, der erst als .Kynismus' richtig verstanden wird. Das ontologische .Immer' hält die Geschichte ja auch in Schach, jedenfalls in Wahrnehmung und Bewertung. Es ist in der Tat ein Quietiv und sorgt als solches für eine als Apathie oder Ataraxie zu beschreibende Haltung der Ent-täuschung, die die Verwüstungen der Geschichte durch den ontologischen Blick auf die „Unverwüstlichkeit" der menschlichen Wesensfähigkeit so aushaltbar machen soll, wie es nur geht.
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Die „Sozialontologie" ist in mehrfacher Hinsicht eine Ent-täuschungslehre. Im Mittelpunkt steht dabei der Normativismus der moralischen Weltanschauung, und damit im Zusammenhang gerät auch die Geschichte in die Aufmerksamkeit des Ent-täuschungsvorhabens, weil sie die Realisierungsebene für die normativen Vorstellungen der moralischen Weltsicht ist. Als Ebene der Wertrealisierung muß die Geschichte eben auch die Ebene der Wertenthaltung sein, von der sich der skeptische Kyniker die Freiheit von den Enttäuschungen durch die Geschichte verspricht. Die Wertfreiheit des Denkens, der Kondylis zuschreibt, daß sie das Denken zugleich mit der Einsicht in den unüberschreitbaren Relativismus der Weltanschauungen auch mit der Sicherheit vor diesem Relativismus versieht, kehrt sich keineswegs nur gegen Ansprüche der Ethik, sondern auch gegen Ansprüche des Geschichtsdenkens. Die Wertfreiheit ist erst dann hinlänglich verstanden, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß sie ohne Absage an die Geschichte nicht zu haben ist, das betrifft die Geschichtsphilosophie ebenso wie den Geschichtsopportunismus des Zeitgeistes. Das lenkt den Blick zurück auf eine andere Absage an den Historismus. In Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" sollte das geschichtliche Tun frei gemacht werden vom Gedächtniszwang des Historismus. In der „Sozialontologie" betrifft die Absage an den Historismus die Wertdimension des Geschichtlichen überhaupt. In der Sozialontologie wird der Historismus gewissermaßen gegen sich selbst gekehrt. Gegen die Auffassung, daß die Geschichte der Prozeß der menschlichen Selbstverwirklichung sei, wird die dem Historismus selbst entstammende Erkenntnis eingesetzt, daß die geschichtlichen Gestalten der menschlichen Selbstverwirklichung nur relativ, nämlich widersprüchlich, ohne Kontinuität und unumkehrbar vergänglich sind. Kulturen entstehen und vergehen, aber Natur ist immer. So ist es auch mit der Gesellschaft. Revolutionen kommen und gehen, Gesellschaft ist immer. Bei der Interpretation der „Sozialontologie" kommt man nicht umhin, einen hermeneutischen Begriff zu verwenden, den Kondylis öfter zur Selbstcharakterisierung benutzt. Gemeint ist der Begriff der Ausnahme, den Kondylis gerne einsetzt, um Reichweite und Gehalt empirischer und normativer Generalisierungen zu ermessen, der aber auch konstitutive Bedeutung bei der Bestimmung des eigenen Theorieansatzes hat. Zweifach spielt er in dieser Hinsicht eine Rolle, einmal bei der Einstellung der „Sozialontologie" in das epochentypische Denken und zum anderen bei der Frage, wie in Kondylis' Theoriean-
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satz skeptischer Perspektivismus und gnoseologischer Wahrheitsanspruch miteinander verbunden sind. Nach den von Kondylis selbst aufgestellten Kriterien hat man seine Sozialontologie als eine Ausnahme von dem sonst in der Epoche an Theorie Herstellbarem anzusehen. Aber die „Sozialontologie" steht keineswegs, wie man vermuten sollte, in einem eindeutigen Verhältnis zu den Theorien vom Typ der analytisch-kombinatorischen Denkfigur. Gegenüber den Großtheorien der Gegenwart besteht Ideologiegegnerschaft, während gegenüber den Soziologien vom Anfang des vorigen Jahrhunderts kooperative Theoriekonkurrenz herrscht. In Gestalt der sozialen Beziehung ist der kategoriell bestimmende Inhalt der „Sozialontologie" aus der Auseinandersetzung mit der formalen Soziologie gewonnen. Und dabei handelt es sich nicht um eine Auseinandersetzung im Sinn einer abwehrenden Negation, sondern im Sinn einer konstruktiven, vollendenden Weiterarbeit. Die formale Soziologie konnte wegen ihrer Abhängigkeit vom analytisch-kombinatorischen Paradigma nicht bis zur Ontologie vorstoßen. Wie aber kommt es, daß Kondylis die ontologische Ebene erreicht, obwohl auch er sich unter der Vorherrschaft des analytisch-kombinatorischen Paradigmas befindet? Gewiß, der Ideologiekritiker hat die Ontologie nötig, aber das Nötighaben ist noch nicht das Können. Die Frage ist also: Was macht Kondylis so zuversichtlich, die Grenzen des analytisch-kombinatorischen Paradigmas übersteigen zu können und wie ist diese Zuversicht zu beurteilen? Diese Frage kommt noch von einer anderen Seite aus auf. Zweifellos soll die „Sozialontologie" keine Metaphysik sein. Deshalb muß die mit metaphysischen Verstrickungen drohende Antinomie Substanzialismus versus Funktionalismus, wo immer sie auftritt, vermieden werden. Bei all den Versuchen, diesem Dilemma zu entgehen, ist jedoch ein gewisses Schwanken zu bemerken, eine gewisse Voreingenommenheit für die Stärken des Substanzialismus. De facto ist der Streit zwischen Substanzialismus und Funktionalismus seit längerem so gut wie entschieden und zwar für den Funktionalismus. Wer in einer solchen Situation nicht zur Tagesordnung des Funktionalismus übergeht, sondern den Streit weiter als Ausgangslage des Nachdenkens nimmt, gibt der unterlegenen Sache weiterhin einen gewissen theoretischen Kredit und hält mindestens die Möglichkeit dafür offen, daß der unmittelbar und programmatisch nicht mehr formulierbare Substanzialismus in anderer Gestalt relevant bleibt. Dafür spricht, daß Kondylis in ontologischer Hinsicht den Zeitbezug für ausschlaggebend hält, während der
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Funktionalismus zeitausschließend und eher raumbezogen sei. „Quasisubstanzialismus" ist vielleicht der passende Ausdruck für diese Tendenz der „Sozialontologie": Ohne Substanzkategorie soll Substanzielles festgestellt werden. Das heißt, Kondylis' „Sozialontologie" kann als ein Versuch angesehen werden, unter den Bedingungen der analytisch-kombinatorischen Denkfigur dem Funktionalismus zu entkommen und Ersatz für die abhanden gekommene Substanzkategorie zu finden. Das lenkt den Blick natürlich auf den kategoriellen Rang der „sozialen Beziehung"; sie ist es, die in der „Sozialontologie" alle weiteren Bestimmungen trägt und verknüpft. Die Frage, ob sie eine Stellung einnimmt wie vormals die Substanzkategorie, liegt nahe und könnte einer Interpretation der „Sozialontologie" die Richtung geben. Vorher aber wäre noch zu klären, welche Ausnahmebedingungen eine derartige paradoxe Lösung des Funktionalismusproblems ermöglichen sollen. Die Antwort ist bei dem zu suchen, was Kondylis als Skepsis für sich in Anspruch nimmt, also bei der Ausnahme, die zustandekommt, wenn das Denken den funktionalen Zusammenhang der Selbsterhaltung verläßt und Erkenntnis nicht mehr wertbezogen pragmatisch, sondern wertfrei beschreibend versteht. Versteht sich Kondylis selbst als Skeptiker, sieht er sich zugleich doch auch genötigt, dieses Selbstverständnis einzuschränken. Denn er hält die traditionelle Auffassung für falsch, die der Skepsis zuschreibt, daß sie Werterkenntnis und Gegenstandserkenntnis zugleich negiere. Kondylis hält demgegenüber die Korrelation von Wertskepsis und erkenntnistheoretischer Skepsis nicht für unumgänglich. Nach seiner Auffassung ist also die Wertskepsis nicht notwendig mit dem Relativismus verbunden, der die Folge der erkenntnistheoretischen Skepsis ist. Wenn er die Skepsis zur Bezeichnung der eigenen Position zuläßt, dann nur in dieser halbierten Form, nur als Wertskepsis. Die hält er für geboten, die erkenntnistheoretische Skepsis dagegen bekämpft er rigoros. Denn sie ist es, die den eigentlich gefährlichen Relativismus hervorbringt. Diese Zweiteilung der Skepsis ist äußerst wichtig für die Verteidigung seiner Position. Er behauptet, daß es keine objektiven Werte gibt, daß sie vielmehr das Resultat subjektiver Entscheidungen und damit relativ sind. Wie aber kann es dann ein Denken und Reden über Werte geben, das nicht relativ ist? Sein Argument, das diese Frage unschädlich machen soll, verläuft so: Wenn die Aussage, es gibt keine objektiven Werte, selber wertgeleitet ist, verfällt sie dem Relativismus, ist sie aber ausschließlich erkenntnisgeleitet, d.h. wertfrei, dann bezieht sie sich auf einen
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objektiven Befund und kann wahr sein. Wenn sie, obwohl wertfrei, nicht zutrifft und also nicht wahr ist, liegt das an einem Irrtum als methodischem Fehler, aber nicht an einem Relativismus, der Wahrheit überhaupt unmöglich macht. Doch das entscheidende Problem liegt noch woanders. Kondylis stößt auf die Skepsis und das Problem des Relativismus, weil er das Denken und die Erkenntnis, überhaupt alle intellektuellen Akte und ideellen Gebilde, in den Dienst der Selbsterhaltung, verstanden als erste und nicht hintergehbare Wirklichkeit der menschlichen Existenz, stellt. Er versteht also die menschliche Ratio als Organ der naturbedingten Existenz des Menschen. Das wirft die Frage nach dem Zusammenhang von Selbsterhaltung und Skepsis auf. Wie können Selbsterhaltung und ein Denken, das wie das skeptische Wertentscheidungen und Gegenstandserkenntnis in Frage stellt, zusammengehen? Wie kann es zu einem Organ kommen, das seine positive Funktion in eine negative verkehrt? Im unmittelbaren Vollzug der Selbsterhaltung offenbar nicht. Einen direkten Zusammenhang zwischen Selbsterhaltung und Skepsis zu unterstellen ist also sinnlos, und auch die Zuordnung des Relativismus zu den Wertentscheidungen der Selbsterhaltung führt nicht weiter, weil die Relativität immer nur die Wertentscheidungen der anderen betrifft, also nur partiell gilt. Die Rede von Skepsis und Relativismus muß sich auf eine andere Situation und ein anderes Denken beziehen, auf eine Situation, in der nicht der unmittelbare Vollzug der Selbsterhaltung ansteht, und auf ein Denken, das nicht in die Zwänge und Wertbezüge der Selbsterhaltung eingespannt ist. Das ist die Situation der rein theoretischen Erkenntnis, in der das Denken sich jedem Anspruch der Selbsterhaltung entzieht und nur mehr unter einem Gebot steht, dem der Wertfreiheit. Auf dieses interesselose, affekt- und wertfreie Denken bezieht sich die Rede von Skepsis und Relativismus. Was für das Denken unter dem Gebot der Selbsterhaltung nur partieller Relativismus war, kann nun unter Wegfall des Selbstvorbehalts verallgemeinert werden zum Relativismus des wertverhafteten Denkens überhaupt. Und diese Verallgemeinerung, die nicht mehr der Logik der Selbsterhaltung gehorcht, kann nun als der Befund beschreibender, gegenstandsgeleiteter Erkenntnis gelten. Für die Skepsis heißt das, daß sie nicht wertfähig, wohl aber wahrheitsfähig ist und damit den Relativismus nicht auf sich selber beziehen muß. Das ist in gewisser Hinsicht plausibel und kann dennoch die Bedenken gegenüber der Skepsis nicht zerstreuen. Denn die Frage, wie es zu einem Denken kommen kann, das seine Organfunktion auf-
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hebt bzw. ins Negative wendet, wiederholt sich auf dieser Ebene, ja wird erst hier prinzipiell formulierbar. Kondylis gibt auf diese Frage, jedenfalls direkt, keine Antwort; er behauptet die Möglichkeit eines von seiner Organfunktion abgekoppelten Denkens als Tatsache. Wie hat man diese Tatsache zu beschreiben? Als die Tatsache einer Wendung in der Intentionalität des Denkens, einer „Umkehr in der Antriebsrichtung" (Gehlen) des Denkens. Wollte man im Sinne der Kondylisschen Konstruktion den Ort dieser Wendung angeben, dann kann er eigentlich nur dort liegen, wo die Selbsterhaltung zur Machtfrage wird und die Sinngebungs- und Rechtfertigungsmacht der „objektivierten", sprich: geistig gewordenen, Entscheidung zum Zuge kommt. Dort liegt auch die Chance, daß geistige Machtmittel einen Eigenwert erlangen und neben die funktionalen Werte der Selbsterhaltung Werte mit Selbstzweckcharakter treten. Kondylis trägt dem damit Rechnung, daß er neben die instrumenteile Rationalität die Identitätsrationalität stellt, die es nachvollziebar macht, daß es neben der pragmatischen Erkenntnishaltung zu einer Wahrheitsintention kommt, in der die Wahrheit als ein Wert an sich gilt und eben als solcher auch die Existenz bestimmt. Das ist eine Erkenntnishaltung, die verglichen mit dem Bezug auf funktionale Werte wertfrei heißen kann, in Wirklichkeit aber natürlich auch wertbezogen ist. Das trifft auch auf die wertfreie Erkenntnis zu, die Kondylis gegen den Relativismus und zur Ermöglichung der Sozialontologie aufbietet. Wäre die Wertfreiheit lediglich so etwas wie ein Wertnullum, dann käme es gar nicht zu der entsprechenden Erkenntnishaltung und auch nicht zu den damit verbundenen Erkenntnissen. Auch und gerade für die bloß beschreibende, wert- und praxisabgewandte Erkenntnis, die nach Kondylis einfach stattfindet, gilt: Erkenntnis s o l l sein. Aber dieses Sollen ist ein Sollen mit Ausnahmecharakter. Es gilt nur subjektiv und partikular. Seine Erkenntnisresultate können allgemeingültig sein und von allen Anerkennung verlangen, aber als Intention ist es beliebig, gewissermaßen privat, jedenfalls ohne normativen Anspruch. Der Relativismus der Wertskepsis ist zwar hintangehalten, aber die wertfreie Erkenntnis, die das möglich macht, ist letztlich doch wieder nur Element eines Weltbildes, das neben und gegenüber anderen Weltbildern steht. Wenn wir das auf die Frage nach dem Ausnahmecharakter der „Sozialontologie" zurückwenden, kommen wir zu einem ambivalenten, bzw. gespaltenen Ergebnis (Schluß). Die Ausnahme, auf die Kondylis Anspruch erhebt, gilt nur relativ. Sie hebt seine Position aus dem Relativismus nicht heraus, sondern ordnet sie in ihn ein. Was in einer
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Hinsicht als Ausnahme erscheint, ist in anderer Hinsicht ein regulärer Fall. Es zeigt sich, auch für Kondylis' Ansatz gilt, daß sich niemand außerhalb eines Weltbildes befinden kann. Wenn es sich so verhält, kann von Ausnahme nur mehr in einem eingeschränkten Sinn die Rede sein. Um die „Sozialontologie" angemessen zu charakterisieren, hat man sich um ihre Besonderheit zu kümmern, denn die umschließt sowohl die Ausnahme wie das spezifische Dazugehören. In der Tat, Kondylis springt weit, aber er springt nicht über Rhodos hinaus. Er glaubt sich erhaben über das Hauptschisma der Philosophie, den Gegensatz von Materialismus und Idealismus. Dabei optiert er deutlich für den Materialismus und meint wohl, das ungefährdet durch idealistische Gegenargumente tun zu können, weil sein Materialismus ein Materialismus mit endogenem Idealismus ist. Es ist unübersehbar: Kondylis hat von Nietzsche gelernt, daß der Geist Achill überholt. Und bisweilen, wenn Kondylis von der Überlegenheit ideeller Identitätsforderungen über die biologische Selbsterhaltung handelt, stellt man Ähnlichkeiten mit Simmeis später Lebensphilosophie fest; es scheint auch in der „Sozialontologie" einen Weg zu geben, der vom Leben über das Mehr-Leben zum Mehr-als-Leben geht. Aber mehr spricht dafür, daß hier nur die Faszination des Ideologietheoretikers für den Geist (das Ideelle) zum Zuge kommt. Daß man es bei diesem geistfähigen Materialismus eher mit einem eklektischen Gebilde zu tun hat, das ein Beispiel für die analytisch-kombinatorische Denkfigur sein könnte, merkt man, wenn man die Konstruktion näher ansieht. Er nimmt einerseits den Integrationseffekt des Idealismus ohne seinen metaphysischen Unterbau und andererseits die metaphysische Basisrolle des Materialismus ohne seinen Reduktionismus und fügt beides zu einem neuen dritten Gebilde zusammen. Aber die Frage, ob die aus den entgegengesetzten Weltanschauungen herausgelösten Elemente ohne ihren originalen ideellen Zusammenhang überhaupt das sind und leisten, was ihre Rolle in der Konstruktion von ihnen verlangt, wird nicht gestellt. Jedenfalls geht das dritte Gebilde nicht als so etwas wie eine Synthese aus der gegenseitigen Negation der antithetischen Weltanschauungen hervor, sondern ist das Resultat eines von außen kommenden und den Weltanschauungsgegensatz stillstellenden Konstruktionsinteresses. Der Vergleich mit Karl Mannheims Epochendiagnose liegt hier nahe. Mannheim sah aus den Kämpfen der sozialen Bewegungen und Ideologien eine gesellschaftliche Situation hervorgehen, in der es auf der Grundlage einer „Fundamentaldemokratisierung" zur Synthese der verbliebenen, kritikresistenten Ideo-
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logiebestände kommen könnte. Kondylis Diagnose der „Massendemokratie" mit dem analytisch-kombinatorischen Überbauparadigma ist damit sicherlich vergleichbar. Kommunikations- und Systemtheorie sind repräsentativ für die kombinatorischen Synthesen, die zu einem solchen Epochenmodell gehören. Kondylis' Sozialontologie steht sicherlich in größerer Distanz zur Epoche, gehört aber letztlich wohl auch zu dem angezeigten Paradigma. Für die Frage nach der Wirkung und den Einflußchancen der „Sozialontologie" kann man auf ein Kriterium zurückgreifen, das Kondylis selber bei solchen Fragen anwendet. Er meint, der Schlüsselbegriff, der über die Durchsetzung von Verallgemeinerungen und ihre Interpretation entscheidet, sei der Begriff des Ganzen. Ohne ihn gäbe es keine Antworten auf letzte Fragen. Der Begriff des Ganzen spiele also im Machtkampf der Geister die entscheidende Rolle. Aber gerade deshalb muß der Begriff des Ganzen für Kondylis auch problematisch sein. Und die Frage, ob es für Kondylis einen Begriff des Ganzen gibt, der das Ganze des Seienden meint, ist besonders aufschlußreich, gerade auch im Hinblick auf die fragliche Ausnahmestellung der „Sozialontologie". Vom Ansatz her und wegen der metaphysischen Belastung des Begriffs kann das Ganze für Kondylis nur ein hypothetischer Begriff sein. In der „Sozialontologie" ist das soziale Sein so etwas wie der Indifferenzpunkt aller Seinsbestimmungen. Kein Seiendes ist in Bezug auf das Ganze mehr oder weniger seiend als anderes. Zur Vermeidung von Hypostasierung und Hierarchisierung ist das Ganze ein offener, eigentlich negativer Begriff: das Ganze als Inbegriff eines Unbestimmbaren, auf das bezogen Seiendes nur der F o r m nach, in der Abstraktion von Inhalten und Besonderungen ontologisch relevant ist, Kategorien als „sozialontologische Formalien" (544). Es gibt noch einen anderen, für die „Sozialontologie" höchst wichtigen Aspekt an der Negativität des Ganzheitsbegriffs: das Ganze, das sich via negationis über die ideologischen Verkürzungen des ganzen Umfangs der Wirklichkeit und als Handlungs- und Rationalisierungswiderstand bemerkbar macht. Unter diesem Gesichtspunkt fungieren die Sachverhalte und Begriffe, welche die Heuristik der „Sozialontologie" leiten und in erster Linie für die Besonderheit und theoretische Ergiebigkeit der „Sozialontologie" sorgen. Zwei Befunde, genommen aus dem Schatz der menschlichen Erfahrung wie aus dem Problembestand der Sozialwissenschaften, haben leitmotivische Wichtigkeit für den Ansatz der Kondylisschen „Sozialontologie": die Heterogenität der Zwecke und die Unberechenbar-
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keit der Subjektivität. Beide zeigen Grenzen und Unsicherheiten des menschlichen Handelns an, die nicht in der Dimension technischer Behebbarkeit liegen, sondern auf konstitutive Probleme in der Seinsverfassung des Sozialen überhaupt verweisen. Sie stellen insofern die wichtigsten Herausforderungen an die Theorie des Sozialen dar, denn sie erzwingen, daß die Seite der Negativität und Dysfunktionalität am Sozialen kategoriell in die Gesellschaftstheorie aufgenommen werden muß. Das macht Kondylis an den entscheidenden Punkten der „Sozialontologie" klar: Die soziale Beziehung ist nur insoweit eine tragfähige Kategorie, wie sie ihren Gegensatz, nämlich die gewaltsame Negation von Beziehung, in sich selbst enthält. Und ein wirklichkeitstüchtiger, vorurteilsloser Rationalitätsbegriff wird nicht durch die Unterstellung eines zentralen Kompetenzmodells gewonnen, sondern umweghaft über die Ermittlung des Rationalitätsbedarfs, der mit der Heterogenität der Zwecke und der Unberechenbarkeit der Subjektivität verbunden ist. Man kann das Potential dieser beiden Befunde auch als Irrationalität beschreiben. Das tut Kondylis auch, und weil es sich dabei um eine konstitutive Offenheit des sozialen Seins handelt, spricht er diesbezüglich vom Faktum der Irrationalität. Als solches wirft es Sinnfragen auf, die im Rahmen der instrumentellen Rationalität keine hinreichende Antwort finden, was Kondylis dazu veranlaßt, eine pluralistische Theorie der Rationalität zu konzipieren. Sie ist neben den beiden Befunden das dritte herausragende Charakteristikum der Kondylisschen „Sozialontologie" und zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr Rationalität und Irrationalität als Komplemente mannigfache Verbindungen miteinander eingehen. Am interessantesten ist dabei die Gestalt der Rationalität, in der identitätsbezogene Sinnfragen den Primat haben, die sogenannte „Identitätsrationalität", weil in ihr Rationalität und besonderes einzelnes Dasein, gegeben als Kultur oder als Gemeinschaft, am intensivsten aufeinander bezogen sind. Wenn man so will, kehrt in dieser Gestalt die Wertrationalität M. Webers wieder, nun aber in ontologischer Stellung, d. h. befreit von dem evolutionistischen Schema vormodern - modern bzw. Gemeinschaft - Gesellschaft. Kondylis' pluralistische Theorie der Rationalität hat für das an Aufklärung interessierte Denken einen enormen Effekt: Sie verhilft dem aufklärerischen Denken zu größerer Unbefangenheit, indem sie die antinomische Form des Gegensatzes von Rationalismus und Irrationalismus auflöst. Überhaupt ist die Bindung an Postulate der Aufklärung unverkennbar. Für die messianische Partei der Aufklärung allerdings nimmt sich
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die „Sozialontologie" sicherlich gegenaufklärerisch aus, weil sie den absoluten eschatologischen Anspruch der geschichtsphilosophischen Aufklärung relativiert. Allein, sie ist in der Tat genuin aufklärerisch, denn sie enttäuscht das Wunschdenken, nicht die Wünsche und macht die ethischen und sonstigen Rationalisierungen des Wunschdenkens durchsichtig. Vor allem aber repräsentiert sie im Unterschied zur doktrinären Aufklärungstradition eine Aufklärung ohne vormundschaftliches Denken, und ist insofern schon das beste Antidot gegen Ideologie, das im Augenblick zu haben ist. Die andere gegen Ideologie immunisierende Wirkung geht von Kondylis' Ideologietheorie aus, die auch in der „Sozialontologie" enthalten ist. Ihr Effekt besteht nicht in der Herstellung eines ideologiefreien Raumes, sondern in der Verhinderung ideologischer Hegemonie. Der ihr eigene „totale Ideologiebegriff" (K. Mannheim) sorgt dafür, daß es in der Ideologienkonkurrenz nicht zur Bildung eines .Wahrheitsmonopols' kommen kann. In Bezug auf die Rolle der Ideologietheorie in Kondylis* „Sozialontologie" muß schließlich noch vom Marxismus die Rede sein. Denn er ist an Inhalt und Rolle des Kondylisschen Ideologiekonzepts maßgeblich beteiligt, aber in einer eigentümlichen und folgenreichen Beschränkung. Die ideologietheoretische Kompetenz des Marxismus wird genutzt, während das handlungstheoretische Potential des Marxismus kaum oder nur einseitig zum Zuge kommt. Die materiellen Sachverhalte des Arbeitsprozesses, auf die sich eine marxistische Handlungstheorie stützen kann, bleiben in Kondylis' Versuch, die Handlungstheorie zu objektivieren, ungenutzt. So kommt es zu einem Gesellschaftsbegriff, für den nur Menschen und menschliches Tun und ein Muster von Situationen die Gesellschaft ausmachen, während die materiellen Voraussetzungen und die strukturellen Objektivationen des Tuns residual bleiben, jedenfalls keinen kategoriellen Status haben. Marxistisch gab es die Grundstruktur Produktionsverhältnisse und Klassenkampf, in der „Sozialontologie", soweit sie vorliegt (!), steht dafür die Omnipräsenz der Freund-Feind-Polarität in einem ansonsten offenen Beziehungsfeld. Vom Marxismus bleibt also eine letztinstanzliche Entscheidungssituation, die als Ernstfall maßgeblich für Denken und Handeln ist. Der Ernstfall als eine das soziale Leben durchherrschende Perspektive ist ein Kennzeichen der „Sozialontologie", das sie von der postmodernen Manier des Denkens mit seiner Fiktion, es stehe nichts mehr auf dem Spiel, wahrlich abhebt. Aber nicht alles Denken in der Post-Moderne ist postmodern. Mit der Generalisierung des Freund-Feind-Verhältnisses ist ein Problem auf-
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geworfen, das jenseits des Vergleichs mit postmodernem Denken liegt. Das Freund-Feind-Verhältnis ist die Ratio der Politik, soweit in und zwischen Gesellschaften im Konfliktfall eine ausgleichende Drittinstanz fehlt. Die Annahme, daß Drittinstanzen prinzipiell möglich und in bestimmten Grenzen auch vorhanden sind, ist also Voraussetzung, wenn das Freund-Feind-Verhältnis zum Bestimmungskriterium des Politischen erhoben wird. Diese Voraussetzung ist aber gerade fraglich, wenn das Freund-Feind-Verhältnis auf das soziale Leben überhaupt ausgedehnt wird. Denn Drittinstanz und Freund-Feind-Verhältnis liegen nun in ein und derselben Ebene. Was als Sphäre normativer Regelungen außerhalb des Freund-Feind-Verhältnisses lag, wird nun durch dieses geregelt. Als Entscheidungsmittel des politischen Freund-Feind-Verhältnisses hat die Gewalt einen Ausnahmestatus, durch die Übertragung des Freund-Feind-Verhältnisses auf die Gesellschaft wird sie zu einem allgegenwärtigen Faktum mit normativer Kraft. Es ist verständlich, wenn demgegenüber die Versuche nicht aufhören, ein maßgebendes Drittes zu finden, mit dem der Ernstfall, in dessen Perspektive Kondylis die soziale Beziehung stellt, eingehegt werden kann. Und es ist gerade auch Kondylis* beschreibender Wertnihilismus, der das Unweigerliche dieser Versuche verständlich macht.
Gedanken und Sprüche Aphorismen v o n Panajotis Kondylis
Beiträge zur Theorie der Kommunikation und der Nächstenliebe Gerade die geistvollsten Gespräche beweisen die Unmöglichkeit des Konsenses: sie zeigen, daß es für jedes Argument ein Gegenargument gibt. Gespräche sind unter Andersdenkenden unmöglich und unter Gesinnungsgenossen überflüssig. Ein Gespräch über Freundschaft oder Liebe kann den Anfang oder das Ende einer Freundschaft oder einer Liebe bedeuten. Wenn wir von den anderen erwarten, daß sie uns „verstehen", so fordern wir im Klartext von ihnen, unser Selbstverständnis zu teilen. Freundschaft ist das (stillschweigende) Einvernehmen darüber, daß die eine Seite das Selbstverständnis der anderen teilt. Um zu wissen, was man alles nicht weiß, muß man schon sehr viel wissen. Deshalb, weil es wenige gibt, die viel wissen, gibt es auch so viele, die sich für allwissend halten oder sich wenigstens als solche benehmen. Arrogante Menschen wirken deshalb unsympathisch, weil wir von ihnen keine Bestätigung unserer Selbstliebe zu erwarten haben. Die ständige Klage der Dummen lautet, die Intelligenten wären unbescheiden.
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Gedanken und Sprüche
Beim Erfolg fühlt man sich über das menschliche Maß erhoben, beim Mißerfolg denkt man an das gemeinsame menschliche Los. Die große Eitelkeit ist im Gegensatz zur kleinen, die vom Ertrag der fieberhaften täglichen Geschäfte auf dem Vanity Fair lebt, von Lob und Beifall weitgehend unabhängig; deshalb mutet sie wie Bescheidenheit an. Höflichkeit bietet des öfteren den wendigsten Opportunismus: nur höfliche Menschen schaffen es, alle Türen immer und gleichzeitig offen zu halten. Nicht von sich sprechen: dieser Grundsatz taktvollen Umgangs mit Anderen entstammt in Wirklichkeit sehr praktischen Überlegungen. Wer von sich spricht, gibt den Anderen Waffen in die Hand - noch schlimmer, er gibt ihnen die Möglichkeit, ja das Recht, die Übereinstimmung seiner Worte mit seinen Taten nachzuprüfen.
Nachträge zur Optik Scheuklappen bieten sichere Orientierung. Weil die Grenzen der Träume flüssig sind, verflüssigen sich auch die Grenzen des Realen: denn das Reale wird vom Standpunkt des Traumes aus gesehen. Hoffnung und Angst versperren den Einblick in die menschlichen Dinge; dabei läßt sich die Hoffnung viel schwieriger als die Angst überwinden. Der Mensch kann alles Mögliche glauben, um sich selbst und die anderen davon zu überzeugen, seine Taten stünden in Übereinstimmung mit seinem Glauben. Uns interessiert weniger das, was wir sind, als das, wofür uns die anderen halten. Das Gewissen ist das Schaufenster des Bewußtseins. Die Oasen des Geistes liegen in den Wüsten des Geistes.
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Egal, wie groß unser Kosmos ist. Hauptsache, daß wir im Mittelpunkt stehen. Erweiterungen des Kreises, die den von uns besetzten Mittelpunkt in die Peripherie drängen, sind unerwünscht. Der Horizont bewegt sich mit uns.
Fromme Gedanken Nach dem Tod Gottes ist alles erlaubt - lautet die Klage; solange Gott lebte, hat er selbst alles erlaubt - lautet die Feststellung. Wenn der Tod keinen Sinn hat, dann hat auch das Leben keinen: das ist immer das stärkste und listigste - Argument der irdischen Statthalter des Jenseits gewesen. Der Teufel ist ein ausgezeichneter Theologe, die Theologen sind mittelmäßige Teufel. „Die Menschheit" ist der kollektive Gott der Neuzeit.
Soziologie der Moral und Moral der Herrschaft Warum Kleinbürger nie Zyniker sind: der Glaube an die Existenz und Praktikabilität von allgemein akzeptierten moralischen Regeln gibt ihnen ein Gefühl zusätzlicher Sicherheit. Plutokratische Demokratie: Ungleichheit im Essen, Gleichheit im Dessert. Der Schlaf der Gesättigten ist tiefer als der Schlaf der Gerechten. Der gegenwärtige Herrscher mahnt zur Vernunft, der künftige besingt die Freiheit. Ideen sind der Trost der Schwachen und der Vorwand der Starken. Da wahre Tapferkeit und Moral per definitionem auf unserer Seite stehen, so ist der Sieg des Feindes ausschließlich auf Betrug zurückzuführen.
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Gedanken und Sprüche
Lob der Philosophen Der Mangel an historischer Bildung ist die unerschöpfliche Inspirationsquelle der Philosophen. Die erste Sorge des Berufsphilosophen ist die, sich selbst und die Welt zu überzeugen, daß er sein Gehalt nicht als einfacher Berufstätiger, wie alle anderen auch, sondern als Wohltäter der Menschheit verdient. Philosophische Debatten werden erst dann ehrlich, wenn sie bei persönlichen Beschimpfungen enden. Ein Vergleich der politischen Analysen von Tocqueville und Hegel zeigt, daß der absolute Geist doch ein Provinzler war. Sind die Philosophen das Salz der Erde, so ist es kein Wunder, daß diese Erde fault.
Aus dem Notizbuch eines Völkerkundigen Die Deutschen besitzen die Tugenden des Plebejers, d.h. Fleiß und Sparsamkeit, ihnen fehlen aber die Tugenden des Aristokraten, nämlich Souveränität, Gelassenheit und die überlegene List des Raubtiers. Nach manchem überflüssigen Abenteuer haben sie inzwischen die ihren Tugenden entsprechende Stellung in der Welt erreicht: sie sind die Musterknaben in beiden Lagern geworden. Der deutsche Herrenmensch war die bislang letzte Tragödie der Weltgeschichte. Der humane und friedliebende Deutsche ist bislang die letzte Komödie der Weltgeschichte. Die Franzosen haben die Moral erfunden, weil sie wußten, daß die Deutschen daran glauben würden. Angelsächsische theoretische Naivität, die sich als humorvolle Unbefangenheit ausgibt.
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Zur Gesundheitspflege Endgültiges Argument für das Rauchen: der Genuß ist sicher, die Gefahr ist möglich.
Geschmacksfragen Am liebsten sind mir die bescheidenen Ungebildeten. Die Frechheit des Halbgebildeten ziehe ich aber der Eitelkeit des Gebildeten vor. Es ist gut, daß mein Körper nicht alle Sünden meines Geistes begehen kann. Der Herbst ist der einfallsreichste Kitschmaler. Die Ehe kommt einem Versuch gleich, alle Bücher der Welt durch eine einzige Enzyklopädie zu ersetzen.
Summa summarum Menschlich ist alles, was Menschen tun und getan haben. Die Werte sind relativ und der Mensch ist sterblich; konsequent durchdacht, heißt diese elementare Einsicht: Nihilismus. Wir sind Schauspieler und Regisseure in einer Person. Männlichkeit ist die Moral des Nihilismus. Atheismus ist der minimale Anstand. Das Dämonische ist kein dunkler Trieb, sondern die letzte Konsequenz des Denkens.
Werkverzeichnis der deutschsprachigen Arbeiten von Panajotis Kondylis
Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart: KlettCotta 1979 Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, Hamburg 2002 Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart: Klett-Cotta 1984 „Reaktion, Restauration", „Würde" in : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart: Klett-Cotta 1984,1992 Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart: Klett-Cotta 1986 Marx und die griechische Antike. Zwei Studien, Heidelberg: Manutius 1987 Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels - Lenin, Stuttgart: Klett-Cotta 1988 Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart: Klett-Cotta 1990 Nachwort zur Neuausgabe: Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie Band 3 Teil II: Aufklärung, Reinbek: Rowohlt 1990 Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim: V C H 1991; 2. Auflage, Berlin: Akademie Verlag 2007 Der Philosoph und die Lust, Frankfurt/M.: Keip 1991 Der Philosoph und die Macht, Hamburg: Junius 1992 Planetarische Politik nach dem kalten Krieg, Berlin: Akademie Verlag 1992 „Wissenschaft, Macht und Entscheidung" in: Pragmatik, Handbuch Pragmatischen Denkens, hrsg. v. Herbert Stachowiak, Hamburg: Meiner 1995
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Werkverzeichnis der deutschsprachigen Arbeiten von P. Kondylis
Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin: Akademie Verlag 1996 Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie I: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Falk Horst, Berlin: Akademie Verlag 1999 Das Politische im 20. Jahrhundert: Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg: Manutius 2001 Machtfragen. Ausgewählte Beiträge zu Politik und Gesellschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006 Machiavelli. Aus dem Griechischen übersetzt von Gaby Wurster, Berlin: Akademie Verlag 2007
Namenverzeichnis
Agamben, Giorgio 116 Agathokles 35 Agis 35 Aly, Götz 119,120 Anaximander 146,172 Aquin, Thomas von 15, 89 Arendt, Hannah 102,115,116 Aristoteles 10,15, 32, 89,146,169 Augustinus 15, 89 Bar-Kochva, Bezalel 136 Bebel, August 138 Benn, Gottfried 46 Berlin, Isaiah 28,29, 94 Bismarck, Otto von 138 Borgia, Cesare 29, 34, 35, 36 Boulainvilliers, Henri, Graf de 91 Brunner, Otto 90 Burckhardt, Jakob 18 Burke, Peter 24, 40 Cassirer, Ernst VII, 37 Chamfort VIII Chrysipp 73 Clausewitz, Carl von 16,121,135 Clemens VII. 39 Condorcet, Marquis de 99 Conze, Werner 3, 90 Cser, Andreas 39 De Sanctis, Francesco 37 Dehio, Ludwig 116 Delbrück, Hans 21 Demokrit 54, 55 Descartes, Rene 44 Dilthey, Wilhelm 37, 66, 67 Diogenes Laertius 59
Doren, Alfred 19,22 Dubois, Pierre 37 Durkheim, Emile 94 Engels, Friedrich 16, 133, 135, 136, 139 Epikur 73 Febvre, Lucien 87 Ficino, Marsilio 24 Freud, Sigmund 61, 62 Freyer, Hans 29 Fukuyama, Francis 110 Galilei, Galileo 37 Gehlen, Arnold 120,178 Gilbert, Felix 39 Goethe, Johann Wolfgang von 47 Großheim, Michael 118 Guicciardini, Francesco 22, 39,40, 41,42 Habermas, Jürgen 108 Hartmann, Nicolai 169 Hauser, Arnold VIII Hazard, Paul 91 Hegel, G. W. F. 16,68,89, 111, 124, 136, 158 Heidegger, Martin 2,170 Herde, Peter 24 Hettling, Manfred 131 Hildebrand, Klaus 116 Hobbes, Thomas 6,15,16, 50, 89, 157,158 Holbach, Baron von 54 Hölderlin, Friedrich 16 Horkheimer, Max VIII
194 Huntington, Samuel 106 Jaspers, Karl 2 Johannes von Paris 37 Kantorowicz, Ernst 4 Kennedy, Paul 116 Kersting, Wolfgang 34 Kleemeier, Ulrike 16,21 Kleist, Heinrich von 47 Klemperer, Viktor 92,93 Kleomenes 35 Klueting, Harm 90 König, René 18,27,29,94 Koselleck, Reinhart 90 La Mettrie, Julien Offray de 16, 45, 63 Lahrem, Stephan 102 Lenin, Wladimir Iljitsch 16,135 Lepsius, Johannes 122 Lichtenberg, Georg Christoph VIII Locke, John 15,89,99 Ludwig XIV. 95 Lyotard, Jean-François 125 Macaulay, Thomas 18 Machiavelli VIII, 15-42 Mannheim, Karl 66, 67, 68,179, 182 Marsilius von Padua 37 Martin, Alfred von 19,20,23 Marx, Karl VIII, 16,17, 55,66, 76, 89, 105,133-136, 139, 182 Möbius, Gerhard 37 Mohr, Arno 15 Montaigne, Michel de 16, 93 Montesquieu XI, 15, 89-100 Muhlack, Ulrich 19,39 Münkler, Herfried 18, 20,21 29, 30, 33, 35,40 Münkler, Marina 18,40 Napoleoni. 116 Nelson, Lord 116
Namenverzeichnis Newton, Isaac 45 Nietzsche, Friedrich 64, 69, 71, 73, 134,174,179 Nolte, Ernst 118 Ottmann, Henning 18 Pareto, Vilfredo 164 Pasolini, Pier Paolo 130,131 Pavese, Cesare VIII Platon Χ , 15,16, 48, 51, 70 Plessner, Hellmuth 2 Polybios 6,37,38 Pöschl, Victor 3 Procacci, Giuliano 24 Protagoras 54, 55, 56, 64, 70 Ranke, Leopold von 18 Reinalter, Helmut 90 Reinhard, Wolfgang 36 Reinhardt, Volker 22, 39, 40, 42 Riedel, Manfred 90 Riesman, David 126, 131 Ritter, Joachim 111 Rivarol, Antoine de VIII Sade, Marquis de 45, 63 Salamun, Kurt 91 Salutati, Colucci 24 Sartre, Jean-Paul 2 Sasso, Genaro 29, 37 Savonarola 40 Schabowski, Günter 138 Schelling, Friedrich von 16 Schmitt, Carl VIII, 12,13, 49, 129-131,152 Schopenhauer, Arthur 47, 48, 73, 105,134 Simmel, Georg 154,179 Sloterdijk, Peter 69 Sombart, Werner 19 Spinoza, Baruch de 59 Stalin 118 Sternberger, Dolf 29, 33 Stirner, Max 134
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Namenverzeichnis Stolleis, Michael 15 Strauss, Leo 29 Terpstra, Martin 102 Thukydides VIII, 15, 55, 70, 74 Tocqueville, Alexis de 91 Topitsch, Ernst 91 Turgot, Baron de 99 Ulrich, Bernd 131 Vierkandt, Alfred 153 Voigt, Rüdiger 18,21,30,33,35
Walkenhaus, Ralf 18,21,30,33,35 Weber, Max 10,181 Weißbach, Olaf 102 Weißmann, Karlheinz 118 Werfel, Franz 122 Wiese, Leopold von 153 Wildt, Michael 128 Wilhelm II. 109 Wilson, Thomas Woodrow 109 Winkler, Heinrich August 117 Zitelmann, Rainer 118
Über die Autoren
Andreas Cser, Historiker, Promotion bei Werner Conze mit einer Arbeit über „Die Lehre der Politik um 1800". Bis 2003 Unterricht an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im Fach Geschichte. Studien zur Stadt-, Universitäts- und Ideengeschichte. Peter Furth, em. Professor für Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin. Epochen und Schwerpunkte der Arbeit: Zunächst Soziologie, Ideologietheorie, dafür: „Ideologie und Propaganda der SRP" in: „Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland", Köln 1957, „Soziologische Positionen" (zusammen mit Mathias Greffrath), Frankfurt/M. 1977. Dann Hegel, Marxismus, Theorie der Dialektik, dafür: „Arbeit und Reflexion", Köln 1980, „Eine konservative Verteidigung des Marxismus", in: Düsseldorfer Debatte (1985) Nr. 2. Zuletzt Humaniora, Politische Philosophie, dafür: „Phänomenologie der Enttäuschungen", Frankfurt/M. 1991, „Troja hört nicht auf zu brennen", Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2004, Berlin 2006. Falk Horst, Promotion bei Arthur Henkel mit einer Arbeit über „Der Leitgedanke von der Vollkommenheit der Natur in Schillers klassischem Werk", Aufsätze zu Heinrich v. Kleist, Herausgeber der „Sozialontologie" aus dem Nachlaß von Panajotis Kondylis. Reinhart Koselleck, Promotion mit „Kritik und Krise"; die wichtigsten Arbeiten: „Preußen zwischen Reform und Revolution", Mitherausgeber des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 1984-1992", und die Aufsatzbände „Vergangene Zukunft", „Zeitschichten" und „Begriffsgeschichten". 2006 gestorben. Andreas Krause Landt, Verleger und Journalist, 1993 Magisterarbeit mit dem Titel „Topographien des Erhabenen. Entfremdung und Ästhetizismus bei Peter Weiss". Seit 1997 Mitarbeiter der Berliner Zei-
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Über die Autoren
tung. 1999 erschien „Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte", zuletzt im Merkur, Heft 680 (Dezember 2005): „Holocaust und deutsche Frage. Ein Volk will verschwinden". 2005 Gründung des Landt-Verlags in Berlin. Hans-Martin Lohmann, lebt als freier Publizist in Frankfurt am Main. Letzte Buchveröffentlichung: Marxismus (Fankfurt a. M. 2001). Mitherausgeber vom Freud-Handbuch (Stuttgart 2006). Wolfgang Schuller, 1955 bis 1965 Ausbildung zum Juristen, nach einem Zweitstudium von 1976 bis 2004 Ordinarius der Alten Geschichte an der Universität Konstanz. Bücher (in Auswahl): „Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR", 1980; „Griechische Geschichte", 5. Aufl. 2002 (neugriechische Ubersetzung, 3. Aufl. 2006); „Das Sichere war nicht sicher. Die erwartete Wiedervereinigung", 2006; „Kleopatra. Königin in drei Kulturen", 2006. Eberhard Straub, habilitierter Historiker mit dem Schwerpunkt frühe Neuzeit und Spanien. Er arbeitete seit 1978 als Redakteur u.a. im Feuilleton der FAZ, der Stuttgarter Zeitung und der Welt; er lebt seit 1997 als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Bücher (in Auswahl): „Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien", 1998; „Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers", 2001; „Eine Kleine Geschichte Preußens", 2001; „Das spanische Jahrhundert", 2004; „Die Furtwänglers. Eine deutsche Familie", 2007.