Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie [Reprint 2013 ed.] 9783110911626, 9783484304673

With reference to problems of lexis and grammar in the Romance languages and of metalinguistics in general, the articles

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German, French Pages 239 [244] Year 2003

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Table of contents :
Vorwort
Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie
Teil 1: Zwischen Semasiologie und Onomasiologie
‘Bleiben’ und ‘werden’. Zur Polysemie von it. rimanere
‘Possession’ zwischen Semasiologie und Onomasiologie
Teil 2: Zwischen Onomasiologie und Semasiologie
Konzessivität als markierte Kookkurrenz
Zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen am Beispiel der Präpositionen
Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten des Bereichs ‘Geld, Besitz’ im Spanischen
Sprechen über Sprache: Zu konzeptuellen Aspekten des spanischen metasprachlichen Diskurses (18. Jahrhundert)
Teil 3: Onomasiologische Modelle in Grammatik und Lexik
Linking in Role-and-Reference-Grammar – Zur einzelsprachlichen Realisierung universeller semantischer Rollen anhand französischer und italienischer Beispiele
Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik – mit Beispielen aus dem Spanischen und Französischen
Repräsentation von Selektionsrestriktionen aus onomasiologischer und semasiologischer Perspektive
Lexikalische Filiation. Eine diachronische Synthese aus Onomasiologie und Semasiologie
La grammaticalisation des constructions de négation dans une perspective onomasiologique, ou: la déconstruction d’une illusion d’optique
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Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie [Reprint 2013 ed.]
 9783110911626, 9783484304673

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Linguistische Arbeiten

467

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese

Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie Herausgegeben von Andreas Blank und Peter Koch

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-30467-7

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Hanf Buch- und Mediendruck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Andreas Blank/Peter Koch Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

VII

1

Teil 1 : Zwischen Semasiologie und Onomasiologie Christoph Schwarze 'Bleiben' und 'werden'. Zur Polysemie von it. rimanere

19

Daniel Jacob 'Possession' zwischen Semasiologie und Onomasiologie

33

Teil 2: Zwischen Onomasiologie und Semasiologie Andreas Dufter Konzessivität als markierte Kookkurrenz

57

Sabine Heinemann Zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen am Beispiel der Präpositionen

77

Heiner Böhmer Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten des Bereichs 'Geld, Besitz' im Spanischen

99

Claudia Polzin-Haumann Sprechen über Sprache: Zu konzeptuellen Aspekten des spanischen metasprachlichen Diskurses (18. Jahrhundert)

111

Teil 3: Onomasiologische Modelle in Grammatik und Lexik Rolf Kailuweit Linking in Role-and-Reference-Grammar - Zur einzelsprachlichen Realisierung universeller semantischer Rollen anhand französischer und italienischer Beispiele

131

VI Kerstin Störl Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik - mit Beispielen aus dem Spanischen und Französischen

153

Achim Stein Repräsentation von Selektionsrestriktionen aus onomasiologischer und semasiologischer Perspektive

173

Paul Gévaudan Lexikalische Filiation. Eine diachronische Synthese aus Onomasiologie und Semasiologie

189

Ulrich Detges La grammaticalisation des constructions de négation dans une perspective onomasiologique, ou: la déconstruction d'une illusion d'optique

213

Vorwort

Der vorliegende Sammelband enthält, mit einer Ausnahme, die schriftliche Fassung aller Beiträge zu der von den Herausgebern geleiteten Sektion Kognitive Onomasiologie der romanischen Sprachen auf dem XXVI. Deutschen Romanistentag in Osnabrück. Die Romanistik kann wahrlich auf eine lange onomasiologische Forschungstradition zurückblicken (von Schuchardts 'Sachen und Wörter' über die Sprachgeographie bis zu Hallig / Wartburg, Baldinger und Heger). In der strukturellen Semantik trat dann die semasiologische Perspektive in den Vordergrund, und der heutige kognitivistische Mainstream gibt sich ebenfalls eher semasiologisch. Die kognitive „Wende", die den Blick wieder stärker auf die konzeptuellen, perzeptuellen und pragmatischen Grundlagen der Semantik lenkt, eröffnet aber gerade auch dem Onomasiologen ein vielversprechendes Arbeitsfeld. In der sehr anregenden Sektionsarbeit bestätigte sich das erneut zunehmende Interesse an onomasiologischen Fragestellungen innerhalb der Romanistik, ohne dass diese Blickrichtung allerdings verabsolutiert worden wäre. Vielmehr wägten die Teilnehmer sorgfältig Berechtigung, Leistung und Komplementarität onomasiologischer und semasiologischer Vorgehensweisen ab. Dem trägt auch der gegenüber dem Sektionsnamen umakzentuierte Titel des Sammelbandes Rechnung. Andreas Blank, mit dem mich so viele gemeinsame Projekte und freundschaftliche Diskussionen verbanden, wurde während der Vorbereitung dieser Publikation jäh aus seinem von Arbeit und Ideen erfüllten Leben gerissen. Die Gesamtplanung des Bandes, den einführenden Beitrag und einen erheblichen Teil der Redaktionsarbeiten hatten wir noch gemeinsam beenden können. Die verbleibenden Arbeiten haben sich dann durch den Verlust meines Mitherausgebers nicht unwesentlich verzögert. Ich danke Tobias Wenzel, Daniela Marzo, Eberhard Matt und Ursula Nübel für die stets bereitwillige und kompetente Unterstützung bei der Redaktion des Bandes. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in die Reihe 'Linguistische Arbeiten'. Tübingen, im Dezember 2001

Peter Koch

Andreas Blank (Marburg) /Peter Koch (Tübingen) Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

1. Semasiologie und Onomasiologie

Mitte der 90er Jahre begannen wir, darüber nachzudenken, wie man ein etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen entwickeln könnte, das die semantischen und morphologischen Zwischenschritte in der lexikalischen Diachronie mit größtmöglicher Exaktheit beschriebe. Damit sollte einem Mangel der gängigen historischen Wörterbücher abgeholfen und der Blick auf rekurrente Prinzipien des lexikalischen Wandels gelenkt werden. Die Konzeption eines solchen Wörterbuchs stieß sich jedoch an zwei fundamentalen Schwierigkeiten: Zum einen zwingt die übliche semasiologische Herangehensweise eines (prospektiv 1 angelegten) etymologischen Wörterbuchs zur Aufnahme aller semantischen und morphologischen Verästelungen; die Artikel ufern aus, dem Bearbeitungs- und Zeitaufwand sind nach oben hin keine Grenzen gesetzt, und beim Endprodukt verliert der Leser leicht den Überblick. Dies ist zunächst in erster Linie ein technisch-pragmatisches Problem der semasiologischen Herangehensweise, das à la rigueur durch entsprechenden Personal- und Zeitaufwand zu lösen wäre. Da im Zentrum unseres Interesses allerdings das Auffinden kognitiver Konstanten im lexikalischen Wandel stand und steht, ergab sich eine weitere Schwierigkeit der traditionellen semasiologischen Perspektive: da sie von sprachlichen Zeichen bzw. Zeichenausdrücken ausgeht, hätte sie den Blick auf die kognitiven Konstanten, auf parallele Prozesse und Entwicklungen im lexikalischen Wandel (bei unterschiedlichen Zeichen) mehr verschleiert als geklärt. Aus dieser Erkenntnis ergab sich für uns eine Annäherung an die onomasiologische Perspektive auf den Wortschatz, wie sie schließlich ftlr unser Projekt DECOLAR bestimmend wurde (vgl. Blank / Koch 1999b; Blank / Koch 2000; Blank / Koch / Gévaudan 2000). Wir wollen den Unterschied zwischen beiden Herangehensweisen im Folgenden anhand eines diachronen Beispiels erläutern: (1)

lat. capere 'greifen, fassen' > it. capire 'verstehen'

Was für ein Prozess liegt hier vor? Ein sprachliches Zeichen Z„ (hier lat. capere), das ein Konzept K s GREIFEN, FASSEN ausdrückt, kann ab einem bestimmten Zeitpunkt neuerdings ein weiteres Konzept K, VERSTEHEN versprachlichen:2

1

Unter 'prospektiv' verstehen wir eine semantische Betrachtungsweise, die die Etappen einer diachronen Entwicklung in chronologischer Reihenfolge nachzeichnet, also z.B. so wie in Beispiel

2 Zur O " Indizierung von Ζ und Κ s.u. Anm. 4.

Andreas Blank / Peter Koch

2

Κ , GREIFEN, FASSEN

Z„ lat. capere > it. capire

Κ , VERSTEHEN

Abb. 1 : Bedeutungswandel von lt. capere zu it. capire

Diesen Prozess nennt man Bedeutungswandel. Es handelt sich also um eine semasiologische Beschreibung eines diachronen Prozesses. Für das Lateinische kann man dann, synchronisch betrachtet, unterstellen, dass Z| zu einem bestimmten Zeitpunkt polysem war: ein ebenfalls semasiologischer Befund.3 Wer sich in den 90er Jahren mit Bedeutungswandel beschäftigte, also mit Fragestellungen wie Metapher, Metonymie, Polysemie, der stieß unweigerlich auch auf die neuere Kognitive Semantik. Deren Anfänge reichen zwar schon bis Rosch 1973 und Fillmore 1975 zurück, die breite Rezeption in der Linguistik setzte dann aber ein v.a. mit Lakoff / Johnson 1980; Lakoff 1987, Taylor 1989 und - bereits in diachronischer Perspektive - mit Geeraerts 1983 (vgl. auch Geeraerts 1997). Die Prototypentheorie, so wie sie sich dann in der Linguistik etabliert hat, ist im Kern semasiologisch konzipiert, insofern man von einem sprachlichen Zeichen ausgeht und sich dann überlegt, wie die zugehörige konzeptuelle Kategorie intern strukturiert ist: um ein Zentrum herum, mit einer Peripherie usw. Die Einheit der Kategorie ist de facto semasiologisch vom Zeichen her begründet. Verschiebungen der kategorialen Reichweite lassen sich dann auch in diachronischer Perspektive untersuchen (vgl. erneut Geeraerts, v.a. 1997). Von vornherein diachronisch und semasiologisch sind selbstverständlich Konzeptualisierungen des Sprachwandels unter Stichworten wie 'subjectification' oder 'pragmatic strengthening' (vgl. z.B. Traugott 1985 und König / Traugott 1991), die ebenfalls dem kognitiven Paradigma verpflichtet sind. Ganz dezidiert semasiologisch ausgerichtet sind ferner die weitgehend synchronischen Arbeiten von Ronald Langacker (vgl. v.a. 1987/91; mit diachronischer Akzentuierung aber z.B. Langacker 1999). Eine der bekanntesten Studien aus dem Bereich der prototypensemantisch orientierten Lexikologie, die sowohl synchronisch wie auch diachronisch interpretiert werden kann, ist die von Brugman erstellte und von Lakoff aufgegriffene Analyse der Polysemie von engl. over (vgl. Brugman 1981/88; Lakoff 1987: 416-461): (2)

3

engl, over (Auswahl): a. The plane flew over the hill. b. Sam lives over the hill. c. The guards were posted all over the hill. d. Don't overextend yourself. e. Do it over. 'Tu es noch einmal.'

Zum engen Zusammenhang zwischen Bedeutungswandel (diachronische Perspektive) und Polysemie (synchronische Perspektive) vgl. schon Bréal 1921: 143 f.; ferner Blank 1993a; 1997: 119130,406-424; im Druck c; Koch 1991: 293; 1994: 203-209; Wilkins 1996: 267-270.

Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

3

Die Beispiele zeigen, dass es sich hier um eine rein semasiologische Analyse handelt: ausgegangen wird vom sprachlichen Zeichen over, dem verschiedene Konzepte und konzeptuelle Effekte zugeordnet werden. Nun findet sich interessanterweise in demselben Werk von Lakoff (1987: 380-415) eine andere Analyse, die sich ebenfalls als prototypensemantisch versteht. Es geht dabei um ein prototypisch-kognitives Modell von ZORN, englisch etikettiert als ANGER. (3)

ANGER im Englischen (Auswahl):

a. Don't get hot under the collar. b. She was scarlet with rage. c. She was blind with rage. d. I had reached the boiling point. e. He went out of his mind.

Ausgangspunkt ist, wie die Beispiele zeigen, ein vorgegebenes Konzept ZORN, dessen verschiedene Versprachlichungsmöglichkeiten im Englischen aufgeführt werden. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Herangehensweise in (2) und in (3) scheint Lakoff völlig entgangen zu sein, nämlich die Tatsache, dass sich bei (3) auf einmal die Blickrichtung der semantisch-lexikalischen Analyse umgekehrt hat. Es handelt sich hier offensichtlich um eine onomasiologische Betrachtungsweise (vgl. Koch 1996a: 231-237). Wir können also eine erste Feststellung treffen: Onomasiologie scheint durchaus mit kognitiver Semantik kompatibel zu sein. Um das onomasiologische Vorgehen noch einmal an unserem Eingangsbeispiel (1) und Abb. 1 zu verdeutlichen: Wir hatten gesehen, dass im Falle von lat. capere > it. capire ein Bedeutungswandel eingetreten ist, also von Ks zu Kt. Wenn wir nun das Ganze onomasiologisch wenden, also vom Konzept K, VERSTEHEN ausgehen, stellen wir fest, dass Hand in Hand mit dem Prozess des Bedeutungswandels ein Bezeichnungswandel eingetreten ist, bei dem ein Zeichen Z^ (lat. intellegere) durch das uns schon bekannte Zeichen Z„ capere / capire ersetzt wurde, und zwar im Hinblick auf die Versprachlichung des Konzepts K, 4 VERSTEHEN (vgl. Koch 1999a: 331-334; 2000: 77f.; 2001a: 11-15): K , GREIFEN, FASSEN

Zn lat. capere > it. capire Κ , VERSTEHEN

Zn, lat. intellegere A b b . 2: B e z e i c h n u n g s w a n d e l bei VERSTEHEN

4

Die von tiell und

Indizierung von Ζ und Κ durch jeweils willkürlich aus dem Alphabet herausgegriffene Serien Buchstaben soll andeuten, dass in diachronischer Sicht die Verbindungen von Ζ und Κ potenpermanentem Wandel unterliegen. Dass gleichzeitig die Indizierung bei K, mit engl, source bei K, mit engl, target übereinstimmt, ist ein nicht unerwünschter Zufall.

Andreas Blank / Peter Koch

4

Synchronisch gewendet können wir dann sagen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lateinischen für das Konzept VERSTEHEN - unter anderem - die beiden Zeichen intellegere und capere zur Verfügung standen. Spiegelbildlich zur 'Polysemie' von lat. capere, die wir in semasiologischer Perspektive konstatiert hatten, müsste man eigentlich onomasiologisch von einer lateinischen 'Polylexie' bezüglich des Konzeptes VERSTEHEN sprechen. Dies ist auf Grund der unterschiedlichen Perspektive etwas anderes als 'Synonymie' oder 'QuasiSynonymie', die als lexikalische Relation zwischen den beiden Zeichen intellegere und capere selbst besteht.

2. 'Kognitive' Onomasiologie

Im zurückliegenden Abschnitt haben wir systematisch aufzuzeigen versucht, wie der Unterschied zwischen semasiologischer und onomasiologischer Perspektive, sowohl synchronisch wie diachronisch, gefasst werden kann. Nun ist ja die onomasiologische Arbeitsweise alles andere als neu, zumal in der Romanistik. Wir erwähnen in diesem Zusammenhang nur die Stichworte „Wörter und Sachen", oder noch besser: „Sachen und Wörter" sowie Namen wie Hugo Schuchardt, Rudolf Meringer, Adolf Zauner, Ernst Tappolet, Karl Jaberg und generell die Sprachgeographie, und schließlich Hallig / Wartburg, Kurt Baldinger und - in einer viel theoretischeren Ausrichtung - Klaus Hegers Noematik.5 Was ist nun angesichts dieser wissenschaftsgeschichtlichen Vorgaben eigentlich eine 'kognitive Onomasiologie'? 1. Ein erster Punkt betrifft das, was unsere onomasiologischen Urväter ganz schlicht die „Ebene der Sachen" genannt haben, wobei ihnen selbstverständlich klar war, dass es nicht um irgendeine Art von Ontologie geht, sondern um das, was man heute „mentale Repräsentation von Referentenklassen" nennen würde (interessant hier eben auch der Terminus 'Sachkultur' !). Wissenschaftsgeschichtlich ist es nun interessant, dass in der Strukturellen Semantik diese Ebene notwendigerweise als 'Kenntnis der Sachen' aus der eigentlichen linguistischen Betrachtung ausgeklammert wurde. Die Kognitive Semantik hat diese Sachebene für die Linguistik wiederentdeckt. Dabei hat sie allerdings - das darf nicht verschwiegen werden - wiederum die Errungenschaft des Strukturalismus, nämlich die Einsicht in eine sprachlich - und das heißt einzelsprachlich - strukturierte Ebene der Bedeutung eskamotiert. Unseres Erachtens gehört zu einer tragfähigen Semantik eben beides, sowohl die Ebene der einzelsprachlichen Strukturierung als auch die konzeptuellperzeptuelle (vgl. Blank 1997: 47-102; Koch 1996a und b). An der außersprachlichen Ebene der Konzepte setzt nun die kognitive Onomasiologie und wohl überhaupt jede Onomasiologie an.

5

Vgl. als Überblick über die älteren Forschungsansätze: Quadri 1952; Blank, im Druck b; ferner: Hallig / Wartburg 1963; Baldinger 1984; Heger 1990/91. Kognitiv avant la lettre ist die onomasiologische allgemein-sprachwissenschaftliche Studie von Tagliavini über die Versprachlichung des Konzepts PUPILLE (1949; dazu auch Koch 1997: 240; Blank, im Druck a).

Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

5

2. Ein zweiter wichtiger Aspekt könnte mit dem Stichwort „Anthropozentrik" gefasst werden. Die traditionelle Onomasiologie des Typs „Wörter und Sachen" beschäftigte sich auffallend häufig mit dem Menschen (Körperteilbezeichnungen; vgl. bes. Zauner 1903) und mit seiner engeren Lebenswelt (die übrigens, zeitbedingt und angesichts des stark sprachgeographischen Erkenntnisinteresses der damaligen Linguisten, im Wesentlichen eine bäuerliche war !). Auch in der Kognitiven Semantik kann man von Anthropozentrik sprechen, aber in einem deutlich anderen Sinne: Hier wird der Mensch und speziell der menschliche Körper zum Bezugspunkt und zum Maß der Wahrnehmung der Welt und ihrer sprachlichen Umsetzung. Von der zuletzt beschriebenen Warte aus wird z.B. sichtbar - und dies kann man in vielen Sprachen nachweisen - , dass der Körperteil HAND für den Menschen kognitiv salienter als der Körperteil FUSS ist und daher tendenziell eine differenziertere Versprachlichung erfährt: Wenn in einer Sprache Bezeichnungen für die einzelnen Fußzehen existieren, dann gibt es auch Namen für die einzelnen Finger, aber nicht notwendigerweise umgekehrt (vgl. Andersen 1978). Eine zweite Beobachtung aus der gleichen Domäne: das Wort für ZEHE ist diachronisch oft abgeleitet vom Wort für FINGER, wie z.B. fr. doigt de pied und vermutlich auch dt. Zehe (vgl. EWDS, s.v.) zeigen. 3. Ein dritter Punkt, der unserer Meinung nach die kognitive Seite der Onomasiologie akzentuiert, betrifft die Relationen zwischen Konzepten in Begriffsstrukturen, die sich diachronisch in Prozessen des lexikalischen Wandels und synchronisch in Polysemien, Wortbildungsstrukturen usw. niederschlagen. So setzt etwa unser Beispiel lat. capere > it. capire eine metaphorische Similaritätsbeziehung zwischen den Konzepten PHYSISCHES ERGREIFEN und VERSTEHEN voraus, und eine solche Relation ist eben außersprachlicher, konzeptueller Natur (vgl. Blank 1997: 160-169; Koch 1994, 209-214). Die Beschäftigung nicht nur mit Konzepten, sondern auch mit den zwischen ihnen bestehenden kognitiven Relationen und deren sprachlichem Niederschlag führt uns nun auch auf die Fährte von Versprachlichungsmustern, die rekurrent und polygenetisch in den verschiedensten Sprachen auftreten. Um nochmals unser Eingangsbeispiel aufzugreifen: es ist ja bekannt, dass das Konzept VERSTEHEN in einer großen Zahl von Sprachen, Sprachstufen und Varietäten irgendwann einmal metaphorisch neubezeichnet wurde durch Rückgriff auf ein Wort, das „von Haus aus" PHYSISCHES ERGREIFEN bezeichnete. Einige Beispiele: (4)

VERSTEHEN

a. lat. capere 'greifen, fassen' > it. capire 'verstehen' b. lat. comprehendere 'ergreifen' > fr. comprendre 'verstehen' c. it. afferrare 'packen' > 'verstehen' d. dt. begreifen 'be-greifen, erfassen' > 'verstehen' e. agr. katalambânô 'ergreifen' > ngr. katalavéno 'verstehen'

Um solchen Parallelen auf die Spur zu kommen, muss man notwendigerweise einen onomasiologischen Ausgangspunkt (hier das Konzept K, VERSTEHEN) wählen. Insofern berührt sich die kognitive Onomasiologie mit der Sprachtypologie und der Universalienforschung. Die drei genannten Punkte verdeutlichen, dass onomasiologische Forschung, soweit sie nicht schon immer im Kern „kognitiv" war, heutzutage sinnvollerweise kognitiv orientiert sein sollte.

Andreas Blank / Peter Koch

6 3. Lexikalische und grammatikalische Onomasiologie

Bisher waren unsere Beispiele und unsere Argumentation auf lexikalische Fakten konzentriert. Etwa die Hälfte der Beiträge zu diesem Sammelband ist nun aber grammatikalischen Problemen gewidmet. Wir legen daher Wert auf die Feststellung, dass kognitive Onomasiologie als Methode natürlich mit gleichem Recht auf Lexik und Grammatik angewandt werden kann. Dazu hier ein Beispiel, das nun ganz parallel zu unserem lexikalischen Ausgangsbeispiel in Abb. 2 dargestellt wird (es geht dabei natürlich nur um die fett gesetzten Elemente bzw. um die zugehörige Konstruktion, nicht um das Lexem cant-)·. K , OBLIGATION

Zn lat. cantare habeo K , ZUKUNFT

Zm lat. cantato Abb. 3: Semasiologie und Onomasiologie in der Grammatik

Semasiologisch betrachtet, finden wir im Lateinischen eine Konstruktion des Typs Z„ (cantare) habeo, die das Konzept Ks OBLIGATION und - etwas vergröbert - im Rahmen eines grammatischen Wandels dann auch das Konzept K, ZUKUNFT ausdrückt. Synchronisch gewendet, könnte man hier - zu einem bestimmten Zeitpunkt - von einer grammatikalischen 'Polysemie' oder 'Polyvalenz' des Zeichens Z^ sprechen. In onomasiologischer Sicht wird das Konzept K, ZUKUNFT im Lateinischen zunächst durch die Konstruktion Zm (canta)bo ausgedrückt. Im Rahmen eines grammatikalischen Wandels kommt als neue Bezeichnungsmöglichkeit für K, die Konstruktion Zn (cantare) habeo hinzu. Synchronisch gewendet, bestand zu einem bestimmten Zeitpunkt im Lateinischen bezüglich des Konzeptes K, ein Zustand, den wir - faute de mieux - als 'Polymorphie' bezeichnen wollen, weil K, sowohl durch Zm als auch durch Z„ bezeichnet werden konnte. Die Punkte 1-3 aus unseren Überlegungen zur lexikalischen Onomasiologie in Abschnitt 2. gelten natürlich auch ganz analog für die grammatikalische Onomasiologie. Wie dann allerdings im Detail die Prozesse des grammatikalischen Wandels aussehen, fällt in den Bereich der Grammatikalisierungsforschung und der Untersuchung des innergrammatischen Funktionswandels (vgl. etwa Detges 1999; hier die Beiträge von Detges und Dufter).

4. Kognitive Onomasiologie - kognitive Semasiologie

Wenn wir in Abschnitt 2. und 3. die onomasiologische Seite einer kognitiven Semantik betont haben, so geschah dies vor allem aus wissenschaftsgeschichtlichen und erkenntnisorien-

Kognitive romanische

Onomasiologie

und

Semasiologie

7

tierten Gründen: Es ging darum, den unbewussten semasiologischen parti pris der gängigen kognitiv-semantischen Forschungspraxis offen zulegen 6 und die Berechtigung und die Chancen einer bewusst onomasiologischen Orientierung aufzuzeigen. Dies bedeutet keineswegs, dass die semasiologische Perspektive damit obsolet wäre. Sie behält ihre Berechtigung beispielsweise im Hinblick auf folgende Punkte: 1. In den Abbildungen 1-3 erscheint das sprachliche Zeichen Ζ als kompakte, unanalysierte Einheit in Abgrenzung zum Konzept K. Wenn man die Zeichenkonzeption Saussures und die Erfahrungen der strukturellen Semantik nicht über Bord werfen möchte (wie es im Mainstream der kognitiven Semantik leider weithin geschieht), so muss man anerkennen, dass das Zeichen Ζ intern aus einem signifiant und einem einzelsprachlich zugeschnittenen signifié besteht (welch Letzterer eben nicht identisch mit dem Konzept Κ ist; vgl. Blank 1997: 96-102; Koch 1996a: 226-230; 1996b: 115-120). Wenn es nun darum geht, in einer semantischen Feinanalyse die signifiés semantisch sehr ähnlicher Zeichen Ζ innerhalb einer bestimmten Sprache zu differenzieren, so kann dies selbstverständlich nur auf semasiologischem Wege durch den Vergleich der betreffenden Zeichen, ausgehend von ihren unterschiedlichen signifiants, geschehen. So haben beispielsweise (4a) it. capire 'verstehen' und (4c) it. afferrare 'verstehen, erfassen' keine völlig identischen signifiés. 2. Bevor der Onomasiologe mit seiner eigentlichen Arbeit beginnt, benötigt er ein Konzeptnetz als Ausgangspunkt. Außer in bestimmten, meist grammatikalisch ausgedrückten konzeptuellen Domänen, die auf fundamentalen anthropologischen Vorgaben beruhen (z.B. SPRECHER vs. HÖRER), wäre es naiver Begriffsrealismus anzunehmen, ein irgendwie geartetes - möglicherweise universales - Konzeptnetz sei von vornherein disponibel und brauche nur onomasiologisch „abgefragt" zu werden. Der einzig praktikable Weg zu einem Konzeptnetz führt letztlich Uber die Semasiologie: Man muss sich anschauen, welche Konzepte in Sprachen versprachlicht sind. Der Akzent liegt dabei auf dem Plural „Sprach e η ": Durch den interlingualen Vergleich vermeidet man es, ein bestimmtes einzelsprachlich vorfindliches Netz versprachlichter Konzepte als universal zu setzen. Alles, was in irgendeiner Sprache versprachlicht ist, ist ein (mögliches) Konzept. Für seine Arbeit benötigt der Onomasiologe im Übrigen nicht notwendig ein für alle Sprachen der Welt geeignetes Konzeptnetz. Sein Netz muss vielmehr differenziert genug sein, um den von ihm beschriebenen Sprachen gerecht zu werden: Es genügt, wenn dieses Netz semasiologisch kontrolliert, aber 'außereinzelsprachlich' im Sinne Hegers (1990/91) ist. Freilich legen gerade typologische und kognitiv-semantische Untersuchungsergebnisse nahe, dass die interlinguale konzeptuelle Varianz nicht unendlich ist, sondern dass bestimmte Konzeptualisierungs-Problemlagen sich übereinzelsprachlich wiederholen (vgl. für den grammatikalischen Bereich z.B. Haspelmath 1997; Kortmann 1997; für den lexikalischen Bereich z.B. Blank 1998; Koch 1999a und c; 2001a: 25-31; 2001c: 1145-1150, 1152-1156; Schwarze 1995). 3. Um die kognitiv wirklich interessanten Einsichten zu erlangen, muss auch der Onomasiologe, der einen Prozess des semantischen Wandels des in Abb. 2 oder 3 dargestellten

6

Sieht man einmal von konzeptionslosen Perspektivewechseln ab (vgl. oben zu Beispiel (3)), so ist als Ausnahme hier insbesondere Geeraerts (1983; Geeraerts et al. 1994) zu nennen.

8

Andreas Blank / Peter Koch

Typs von Kt her betrachtet, bei dem innovierenden Element Z„ die semasiologische „Gegenprobe" hin zu Ks machen, denn entscheidend für die kognitive Fragestellung ist die Relation K, — Ks (auch wenn der Ausgangspunkt der Untersuchung, wie in Abschnitt 2. dargestellt, sinnvollerweise K, ist). 4. In Fortführung von Punkt 3. ist festzuhalten, dass der kognitiv arbeitende Onomasiologe sich gerade dafür interessiert, woher und auf welchem semantischen Weg das innovierende Element Z„ in seine neue Bezeichnungsfunktion eingerückt ist. Gemäß Abb. 2 bzw. 3 geht es hier um den Prozess des Bedeutungswandels von Ks zu K, bezüglich Z„. Auch der Onomasiologe muss also auf eine - semasiologisch formulierte - kohärente Theorie des Bedeutungswandel zurückgreifen können.7 Umgekehrt gilt nun andererseits, dass die Semasiologie allein keine kognitiv weitreichenden Ergebnisse liefern kann, da sie ohne eine onomasiologische Gegenprobe vom Konzept Kt in Abb. 2 bzw. 3 aus nicht zu kognitiv interessanten, insbesondere interlingualen Vergleichsdaten kommt. Kognitive Onomasiologie und kognitive Semasiologie - und das wird gerade auch in diesem Sammelband deutlich - sind also aufeinander angewiesen. Entscheidend ist dabei jedoch, dass der Semantiker jeweils klar legt, welche Perspektive er bei welchem Arbeitsschritt einnimmt. Unreflektierte Vermengungen der beiden Perspektiven, wie sie anhand von (2) und (3) aufgezeigt wurden, bringen die Erkenntnis nicht voran.

5. Kognitive 'romanische' Onomasiologie und Semasiologie

Es bleibt jetzt noch ein Wort zu sagen zum dem Epitheton 'romanisch' im Titel unseres Sammelbandes: Die romanischen Sprachen eignen sich aus mehreren Gründen in besonderem Maße für kognitiv-semasiologische, aber gerade auch für kognitiv-onomasiologische Untersuchungen. Zunächst ist da die gute „Quellenlage" - im doppelten Sinne: zum einen bezüglich des Lateins als Ausgangssprache, zum anderen im Hinblick auf die wirklich gute synchronische wie diachronische Lexikographie und Grammatikographie für die Romania insgesamt und zumindest für eine größere Zahl romanischer Einzelsprachen. Was die onomasiologische Lexikographie betrifft, so muss an dieser Stelle ausdrücklich auf Henri Vernays inzwischen sechsbändiges Dictionnaire onomasiologique des langues romanes (DOLR) verwiesen werden. Am Werk von Henri Vernay zeigt sich sehr schön das, was man als die „mittlere Abstraktionsebene" bezeichnen könnte, die für romanistisches Arbeiten so typisch ist. Brigitte Schlieben-Lange hat kürzlich (1999) auf den glücklichen Umstand hingewiesen, dass die Romanistik als Linguistik stets mehrerer Sprachen Sprachverschiedenheit, aber auch Sprachgemeinsamkeiten viel stärker und treffender wahrnimmt als die Ein-Sprachen-Philologien. Hier liegt also schon der Keim für einen fruchtbaren o7

Vgl. zu derartigen Theorien auf kognitiver Grundlage (mit im Detail unterschiedlichen Beschreibungsoptionen): Geeraerts 1983; 1997; Blank 1997, 157-344; 2000; 2001: 69-100; zu Einzelaspekten: Traugott 1985; Traugott / König 1991; Blank 1993b; Koch 1994; 1995; 1999b; 2001b.

Kognitive romanische Onomasiologie

und Semasiologie

9

nomasiologischen Vergleich. Andererseits garantiert die Beschränkung auf die romanischen Sprachen und die gute Kenntnis zumindest eines Teils von ihnen genügend synchronische und diachronische Sachkenntnis, um sich vor universalistischen Vergröberungen zu hüten. Es ist sicher kein Zufall, dass eine behutsame onomasiologische Arbeitsweise, wie sie z.B. Klaus Hegers bereits in 4., Punkt 2, erwähntes Konzept der 'Außereinzelsprachlichkeit' widerspiegelt, von einem Romanisten stammt, der zum allgemeinen Sprachwissenschaftler wurde. Natürlich ist zuzugestehen, dass der romanistische Rahmen, der fiir den Forscher beinahe schon ideal erscheint, doch auch eine Begrenzung mit sich bringt. Wir können auf dieser mittleren Abstraktionsebene noch nicht eindeutig entscheiden, ob eine rekurrente Versprachlichungsstrategie, sei es in der Grammatik oder in der Lexik, auf der Basis kultureller Gemeinsamkeiten zustande gekommen ist, ob sie als Folge permanenten Sprachkontakts entstanden ist oder ob sie gar Ausfluss „tiefer liegender" universaler, anthropologische Gegebenheiten ist. Gerade um letzteren Punkt zu klären, bedarf es der engen Zusammenarbeit mit der Sprachtypologie und Universalienforschung. In der Grammatikforschung ist dies längst gang und gäbe, in der lexikalischen Forschung stehen wir erst am Anfang (vgl. Koch 1997; 2001a: 25-31; im Druck; Koch / Steinkrüger, im Druck).

6. Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie in diesem B a n d

Die Beiträge zu diesem Sammelband nähern sich dem Rahmenthema aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln und wenden es auf sehr unterschiedliche Gegenstandsbereiche an. Oft geht es dabei auch um das Verhältnis von Semasiologie und Onomasiologie und die sinnvolle Verzahnung der beiden Methoden. Wir haben die Beiträge daher gemäß ihrer jeweiligen Verwendung der onomasiologischen bzw. der semasiologischen Methode drei relativ generellen Themenbereichen zugewiesen: In einem ersten Teil Zwischen Semasiologie und Onomasiologie finden sich Studien, die von einer semasiologischen Analyse ausgehen und diese onomasiologisch kontrollieren. Hierzu gehört zum einen Christoph Schwarzes Beitrag 'Bleiben ' und 'werden '. Zur Polysemie von it. rimanere, der von einer semasiologischen Analyse der Bedeutungsvielfalt dieses Verbs zu einer onomasiologischen übergeht, indem er die hinter den einzelnen Bedeutungen stehenden Konzeptualisierungen weiterverfolgt und den Übergang zwischen verschiedenen Arten der Sachverhaltsdarstellung herausarbeitet. Des Weiteren gehört in diese Sektion die Studie 'Possession ' zwischen Semasiologie und Onomasiologie, in der Daniel Jacob zunächst eine semasiologische Bestimmung des Konzeptes POSSESSION durch Analyse traditioneller Fälle von „Possessivkonstruktionen" vornimmt und, davon ausgehend, dann die funktionale Domäne POSSESSION in ihre verschiedenen konzeptuellen Dimensionen (wie z.B. alienabel - inalienabel oder inhärent - etabliert) auffaltet. Diese beiden Beiträge sind eindeutige Plädoyers für eine sinnvolle Verzahnung von semasiologischer und onomasiologischer Perspektive.

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Andreas Blank / Peter Koch

Der zweite Teil Zwischen Onomasiologie und Semasiologie enthält Untersuchungen, die nun gerade umgekehrt eine primär onomasiologische Herangehensweise durch semasiologische Einzelanalysen kontrollieren. Hier ist zunächst Andreas Dufters Beitrag Konzessivität als markierte Kookkurrenz zu nennen, der eine präzise kognitive bzw. pragmatische Abgrenzung des Konzepts KONZESSIVITÄT von verwandten Konzepten (ADVERSATIVITÄT, KAUSALITÄT) vornimmt und dann detailliert die Entstehung von konzessiven Konjunktionen aus ihrer pragmatischen Verwendung als alltagsrhetorische Beglaubigungsstrategie und implikative Modalität nachzeichnet. Dabei wird klar, dass KONZESSIVITÄT nicht semantisch aus dem Konzept der KAUSALITÄT ableitbar ist, sondern dass diese beiden Konzepte durch gegenläufige Bewegungen auf einer Skala der 'Erwartungskonformität' versprachlicht zu werden pflegen. Sabine Heinemann koppelt in ihrem Beitrag Zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen am Beispiel von Präpositionen den onomasiologischen Blickwinkel (Versprachlichung von ZEIT unter Ausnutzung der RAUM-ZEIT-Metaphorik) mit einer semasiologischen Analyse einer ganzen Reihe italienischer Präpositionen, bei denen es immer um die Darstellung der verschiedener Zeitkonzeptionen durch die betreffende Metaphorik geht (z.B. Fokus auf Anfang und Ende oder auf Dauer, approximativer oder unspezifischer Bezug). Ausgehend von der Kritik an einer semasiologisch angelegten, rein differenziellen Merkmalsmatrix für spanische Verfügungsverben, entwickelt Heiner Böhmer in Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten des Bereichs 'Geld, Besitz ' im Spanischen kognitive Schemata für die Verben dieser Gruppe, die damit in einem onomasiologisch motivierten komplexen Netz angeordnet werden können, wo sie als Etappen und Übergänge innerhalb von „Geschichten" erscheinen, die mit Verfügung zu tun haben. Innerhalb dieses Netzes lassen sich auch, teilweise gehäuft, verbale Redensarten lokalisieren. Claudia Polzin-Haumann befasst sich schließlich in Sprechen über Sprache: Zu konzeptuellen Aspekten des spanischen metasprachlichen Diskurses (18. Jahrhundert) mit der Onomasiologie der Metasprache: Wie werden abstrakte linguistische Größen wie SPRACHE, SPRECHEN, ZEICHEN oder SYNTAX in der spanischen Grammatikographie des 18. Jahrhunderts konzeptualisiert und versprachlicht ? Dabei fällt die starke Bevorzugung der kognitiv salienten CONTAINER-Metapher auf.

In allen vier Beiträgen zeigt sich erneut die Notwendigkeit der Verzahnung, aber auch die Komplementarität von semasiologischem und onomasiologischem Vorgehen. Der dritte Teil des Bandes trägt den Titel Onomasiologische Modelle in Grammatik und Lexik und enthält Beiträge, die moderne onomasiologische Entwürfe für die diachronische bzw. synchronische Analyse von Lexikon bzw. Syntax vorlegen. Der Bogen reicht dabei von der synchronischen Grammatik über die synchronische und die diachronische Lexikologie bis zur - wiederum diachronischen - Grammatikalisierungstheorie. Als erster in dieser Abteilung behandelt Rolf Kailuweit unter dem Titel Linking in Roleand-Reference Grammar - die einzelsprachliche Realisierung universeller semantischer Rollen anhand französischer und italienischer Beispiele. In Anlehnung an Van Valin wird hier an Beispielen aus dem Französischen und Italienischen die Arbeitsweise eines onomasiologischen Grammatikmodells expliziert, das von einer Reihe universeller Konzepte und semantischer Rollen ausgeht, mit denen Sachverhalte in einer semantischen Metasprache

Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

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dargestellt und dann durch „linking from semantics to syntax" zu einzelsprachlichen morphosyntaktischen Realisierungen in Bezug gesetzt werden können. In ihrem Beitrag Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik - mit Beispielen aus dem Spanischen und Französischen fasst Kerstin Störl Verbünde grammatischer Konzepte als Feldstrukturen oder kognitive Frames auf, die monozentristisch oder polyzentristisch strukturiert sind. Auf dieser theoretischen Grundlage beleuchtet sie dann die jeweilige Versprachlichung einzelner Felder im Französischen und im Spanischen. Für die Repräsentation von Selektionsrestriktionen aus onomasiologischer und semasiologischer Sicht stellt Achim Stein ein umfassendes Modell konzeptueller Hierarchien vor, mit dem einerseits die einzelnen Bedeutungen von Verben bestimmt, andererseits die semantischen Restriktionen dieser einzelnen Bedeutungen systematisch erfasst werden können. Es geht also um die onomasiologische Struktur, die sich aus der semasiologischen Analyse ergibt und ihr gleichzeitig als Vorwissen des Analysierenden immer auch schon zugrundeliegt. Dabei wird auch das Problem der Fundierung von Konzepten und Konzeptstrukturen berührt. In seinem Beitrag über Lexikalische Filiation. Eine diachronische Synthese aus Onomasiologie und Semasiologie entwirft Paul Gévaudan ein diachronisch-lexikologisches Beschreibungsmodell, das, in Form eines zweidimensionalen Rasters, einerseits kognitive Relationen zwischen Konzepten (u.a. Identität, Kontiguität, Similarität), andererseits morphologisch-lexikalische Verfahren (u.a. Bedeutungswandel, Wortbildung, Phraseologie) umfasst. Mit diesem Raster können alle Arten der lexikalischen Innovation systematisch erfasst und typisiert werden und somit alle potenziellen Versprachlichungsmuster eines Konzeptes kognitiv und formal verortet werden. Der abschließende Beitrag von Ulrich Detges (La grammaticalisation des constructions de négation dans une perspective onomasiologique, ou: la déconstruction d'une illusion d'optique) zeigt, dass das vieldiskutierte Phänomen der Grammatikalisierung rein semasiologisch nicht erfasst werden kann. Onomasiologisch betrachtet kann Grammatikalisierung jedoch als Versprachlichung bestimmter der Grammatik zugewiesener Konzepte interpretiert werden, zu deren Vollzug die Sprecher auf bestimmte andere, semantisch assoziierte Konzepte zurückgreifen. Erst die onomasiologische Perspektive kann zeigen, inwieweit sich dieser universelle Prozess in der Grammatik von Einzelsprachen niederschlägt. Abschließend einige übergreifende Bemerkungen: Es hat sich gezeigt, dass die Onomasiologie als „altehrwürdige" Disziplin insbesondere der romanischen Sprachwissenschaft von den verschiedenen neueren typologischen und kognitiven Ansätzen in jeder Hinsicht profitieren kann und dass andererseits Sprachtypologie und kognitive Linguistik in hohem Maße von der onomasiologischen Herangehensweise profitieren können. Auf diese Weise kann die onomasiologische Methode benutzt werden, um die Gegenwart und die Geschichte der Versprachlichung eines bestimmten Konzeptes herauszufinden - also im „klassischen" Sinne - , man kann darüber hinaus aber mit ihr auch rekurrente Versprachlichungsmuster entdecken und die Tatsache ihrer Rekurrenz erklären (Detges, Dufter, Heinemann). In einer weiteren Perspektive kann auch geklärt werden, wie verschiedene Versprachlichungsmuster verteilt sind (kulturell, diasystematisch, areal oder weltweit gestreut) und ob ein entsprechendes Versprachlichungsmuster kulturell, sprechergruppenspezifisch oder gar anthropologisch induziert ist (vgl. u.a. Detges, Schwarze, Dufter, Heinemann). Auf dieser Basis empfiehlt sich die onomasiologische Methode als Heran-

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Andreas Blank / Peter Koch

gehensweise sowohl in der Lexikologie (Böhmer, Gévaudan, Stein) als auch in der Grammatikforschung (Kailuweit, Stör!); auch für die Untersuchung metasprachlicher Konzeptualisierungen erweist sie sich als erhellend (Polzin-Haumann). Eine weitere wichtige Anwendung ist die onomasiologische Kontrolle semasiologischer Analysen (Jacob, Schwarze) und umgekehrt (Böhmer, Dufter; Heinemann). Ein breiter Konsens herrscht zu einer grundsätzlichen Frage onomasiologischen Arbeitens: Was den Charakter und die Herleitung der Konzepte betrifft, so besteht Einvernehmen darüber, dass diese zunächst meist nur aus der intuitiven Anschauung einer oder mehrerer Sprachen gewonnen werden können und dass dann sukzessive durch Sprachvergleich eine „gewisse Objektivierung" und damit eine immer weitergehende Übereinzelsprachlichkeit angestrebt werden muss. Damit ist klar, dass die tertia beim Sprachvergleich nicht völlig universeller und gewissermaßen ontologisch vorgegebener Natur sein können, dass sie aber auch nicht rein einzelsprachlich zu konzipieren sind. Aus diesen Überlegungen erwächst schließlich die Erarbeitung relativ vielseitig verwendbarer Kategorien für den Sprachvergleich (vgl. Dufter, Gévaudan, Kailuweit, Störl), aber auch für semantische Feindifferenzierungen innerhalb einer Einzelsprache (vgl. Stein). Die Beiträge dieses Sammelbandes zeichnen insgesamt ein sehr komplexes Bild der onomasiologischen Methode und ihres vielfältigen Wechselverhältnisses zur semasiologischen Herangehensweise. Die „Bodenhaftung" jeder konzeptuell ausgerichteten semantischen Analyse ergibt sich letztlich nur Uber einen semasiologischen Einstieg oder eine semasiologische Kontrolle, wo es immer wieder - diachronisch - der Bedeutungswandel und - synchronisch - die Polysemie sind, die uns auf die kognitiv interessanten Spuren führen. Onomasiologie, so wie sie hier verstanden wird, kann ihrerseits einen wichtigen Beitrag leisten zu einem besseren Verständnis der übereinzelsprachlich wirksamen Mechanismen, auf Grund derer wir die Welt sprachlich erfassen. Nur wenn die Linguisten diese Mechanismen durchschauen, können Sie hoffen, etwaige kognitive Konstanten unserer Wahrnehmung und Versprachlichung der Welt zu erschließen.

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Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie

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Teil 1 : Zwischen Semasiologie und Onomasiologie

Christoph Schwarze

(Konstanz)

'Bleiben' und 'werden'. Zur Polysemie von it. rimanere Für Ekkehard König zum 60. Geburtstag

0. Gegenstand, Ziel, Aufbau und Einordnung des Beitrags

Dass ein Wort' widersprüchliche Bedeutungen hat, ist nach einer verbreiteten und sicher auch begründeten Auffassung (vgl. z.B. Blank 1997: 229; Torninola 1995: 133) relativ selten. In der Tat gefährden Wörter mit widersprüchlicher Polysemie die semantische Effizienz der Rede. Widersprüchliche Polysemie (z.B. frz. sacré 'heilig', 'verflucht') lässt sich oft durch Annahme konkurrierender Prinzipien der Formulierung erklären, etwa, im Falle von sacré, durch das Prinzip, Tabus nicht zu verletzen. Es gibt aber auch Fälle, die sich auf diese Weise nicht erklären lassen. Ein solcher ist das it. Verb rimanere, das sowohl 'bleiben' als auch 'werden' heißen kann, vgl. z.B.: (1)

a. È rimasto a casa 'Er ist zu Hause geblieben' b. E rimasto orfano ΈΓ ist zum Waisen geworden'.

Es ist das Ziel dieses Beitrags zu zeigen, dass die Polysemie von it. rimanere konzeptuell motiviert ist, und zwar durch die Kontiguität von Sachverhaltstypen, die sich hinsichtlich ihrer Zeitkonstitution unterscheiden. Ich werde die Polysemie von rimanere zunächst beschreiben und dann dafür argumentieren, dass sie als ein Ergebnis von konzeptueller Verschiebung und Grammatisierung zu deuten ist. Um dem Wunsch der Herausgeber des vorliegenden Bandes zu entsprechen, dass in den einzelnen Beiträgen die Beziehung zum Rahmenthema „Kognitive romanische Onomasiologie und Semasiologie" explizit gemacht wird, sei Folgendes hinzugefugt: Offensichtlich ist, dass die folgenden Ausführungen einen romanischen Gegenstand haben, auch wenn dieser in einem sprachvergleichenden Zusammenhang betrachtet wird. Semasiologisch ist der Beitrag insofern, als er die Bedeutungsvariation eines Wortes betrachtet. Eine onomasiologische Betrachtung erfolgt, wenn überhaupt, nur an untergeordneter Stelle. Die folgenden semantischen Analysen stehen in der Tradition der wahrheitsfunktionalen Semantik, derzufolge eine Bedeutungsangabe in der Nennung derjenigen Bedingungen besteht, die erfüllt sein müssen, damit der betreffende sprachliche Ausdruck erfolgreich verwendet werden kann. Diese Angaben erfolgen im Hinblick auf ein so genanntes Modell, d.h. auf eine durch unsere Wahrnehmung bedingte Projektion der Welt (Jackendoff 1993). Zu diesem Modell gehören auch die Situationstypen (Ereignisse und Zustände), auf die die Analyse Bezug nimmt. Wenn nun, wie es unten geschieht, das Verb rimanere mit anderen Verben (restare, diventare) verglichen wird, so beruht dies darauf, dass man vom Modell her auf das Lexikon blickt. Für wertvolle Hinweise zur Verwendung bzw. zur Semantik von rimanere danke ich Pier Marco Bertinetto, Klaus von Heusinger, Paolo Ramat und Vieri Samek-Lodovici.

20

Christoph

Schwarze

Kognitiv schließlich ist der Beitrag nur in einem schwachen Sinne, und zwar aufgrund der folgenden Annahmen: 1. Die erwähnte projizierte Welt ist mental durch Konzepte repräsentiert. 2. Die Bedeutungen der so genannten Inhaltswörter sind Bedingungen für das Gelingen von Akten der Benennung, die mental als konventionalisierte Konzepte repräsentiert sind (Schwarze / Schepping 1995: 283f.). 3. Zwischen Konzepten bestehen Beziehungen, z.B. die der Kontiguität, die die Variation lexikalischer Bedeutungen begründen können. Diese Annahmen allein rechtfertigen m.E. jedoch noch nicht das Prädikat „kognitiv". Eine wirklich kognitive Linguistik muss kognitionswissenschaftlichen Ansprüchen genügen; sie muss insbesondere ein Modell des Sprechers bzw. Hörers enthalten, das nur interdisziplinär gewonnen werden kann (Kanngießer 1996).

1. Die Lesarten von it. rimanere

Ich werde die Lesarten von rimanere in zwei Gruppen einteilen, Zustandslesarten und Ereignislesarten. Die Begriffe 'Zustand' und 'Ereignis' spielen bekanntlich eine zentrale Rolle in der Diskussion über die Verbsemantik, zu der es eine abundante Literatur und eine fein differenzierte, aber auch uneinheitliche Terminologie gibt.1 Für die Zwecke dieses Beitrags sind jedoch nur die Grundbegriffe 'Zustand' und 'Ereignis' erforderlich. Ich will meinen Gebrauch dieser Termini kurz erläutern. Die folgenden umgangssprachlichen Definitionen sind angelehnt an die expliziten Definitionen von Steinitz (1999); auch die Beispiele für jeweils typische Prädikate übernehme ich von dort. - Zustände sind in ihrer Zeitkonstitution homogen, d.h. jeder zeitliche Ausschnitt des Zustands gleicht dem Zustand insgesamt. Typische Beispiele für Zustandsprädikate sind 'groß sein', 'größer sein', 'schwanger sein'. - Ereignisse sind in ihrer Zeitkonstitution inhomogen. Sie bestehen aus dem Übergang von einem Vorzustand in einen Nachzustand, wobei der Nachzustand ihr Ziel ist. Typische Ereignisprädikate sind 'groß werden', 'schwanger werden'. Zustände und Ereignisse haben noch weitere unterscheidende Eigenschaften. Zustände sind ihrer Natur nach unbegrenzt (obwohl sie faktisch meist endlich sind). Deshalb kann ihre tatsächliche Dauer sinnvoll durch Adverbiale spezifiziert werden; vgl. z.B.: (2)

Il cielo sarà sereno tutta la giornata.

Ereignisse sind ihrem Wesen nach zeitlich begrenzt. Auch wenn sie real eine zeitliche Extension haben, werden Ereignisverben nicht mit Angaben der Dauer kombiniert, es sei denn, sie werden iterativ gedeutet:

1

Den Stand der Forschung hat kürzlich Hölker ( 1998) prägnant zusammengefasst.

'Bleiben ' und 'werden '. Zur Polysemie von it. rimanere

(3)

21

*Mi sveglierò tutta la giornata.

Ereignisbeschreibungen können Antworten auf Fragen des Typs „Was ist geschehen?" sein (4); Zustandsbeschreibungen können dies nicht (5): (4) (5)

Che cosa è successo? - E morto il gatto. Che cosa è successo? - *I1 cielo è stato sereno.

Diese Eigenschaften können bekanntlich auch als Tests genutzt werden. Ich werde diese Möglichkeit bei der Einführung der Ereignislesarten nutzen. Dort wo die Präzision der Analyse wichtig ist, werde ich versuchen, diese nicht durch eine strenge Begrifflichkeit, sondern durch eine explizite Notation zu erreichen. Die Sprache dieser Notierung beruht auf der Prädikatenlogik; sie enthält das folgende Vokabular: a.

Konstanten - Quantoren: 3 - Sachverhaltsprädikate: state, event, change, exist - Sonstige Prädikate: finestra, porta,...

b.

Junktoren: &, -i

c.

Variablen - Sachverhaltsvariablen: s 1; s 2 , ...; e h e 2 , ... - Variablen für Zeitintervalle: t h t 2 , . . . - Individuenvariablen: χ, y , . . .

Das fur die Beschreibung der Lesarten wesentliche Vokabular besteht aus den Sachverhaltsprädikaten, den beiden Junktoren, den Sachverhaltsvariablen und den Variablen für Zeitintervalle; die übrigen Konstanten und Variablen werden nur ad hoc, bedingt durch die Beispiele, gebraucht.

1.1. Die Zustandslesarten 1.1.1. Die Grundbedeutung: das Fortbestehen eines Zustands In seiner Grundbedeutung bezeichnet it. rimanere das Fortdauern eines Zustands. Der Zustand 2 selbst wird, wenn er lokal ist, durch einen Obliquus, sonst durch ein adjektivisches oder nominales Komplement bezeichnet; vgl. z.B.: (6)

Sono rimasto {a casa, seduto, celibe, un tifoso della Juve}.

Zusätzlich zu dem offen bezeichneten Zustand s¡ impliziert rimanere einen weiteren Zustand s2, sowie ein mögliches Ereignis e. Dieses besteht darin, dass es den Zustand s¡ beendet und einen anderen, mit j ; nicht verträglichen Zustand s2 herbeiführt. Die zeitlichen Relationen sind so, dass s ι zum Zeitpunkt t¡ und s2 zum Zeitpunkt t2 gilt und dass das mögliche

2

Tommola (1995: 127) unterscheidet explizit zwischen der lokalen und der nicht lokalen Bedeutung: „Cross-linguistically, 'remain' is divided into two main meanings according to the syntactic structure, one of which presupposes a negation of 'moving from a place', the other one being a negation of 'become'." Für unsere Überlegungen können beide Varianten zusammengefasst werden.

Christoph Schwarze

22

Ereignis, wenn es einträte, zwischen t¡ und t2 läge.3 Demnach lässt sich die Bedeutung von (7) durch (7') repräsentieren: (7)

La finestra rimane aperta.

(7')

3 si, 3 s2, -ι 3 e, 3 ti, 3 t2, 3 t¡, 3 χ | state (s,, t,) & state (s2, t2) & event (e, t¡) & aperto (s,, x) & -ι aperto (s2, x) & finestra (x) & change (e, s ) ; s 2 ) & t| < t¡ < t2

Über das Eintreten des Zustands sj besagt rimanere nichts; der Zustand wird einfach als bestehend betrachtet. Der Zustand s2 ist nur negativ definiert, auch wenn er oft erschlossen werden kann. So kann aus (7) auf Grund der Komplementarität von aprire und chiudere der Satz (8) gefolgert werden: (8)

La finestra non viene chiusa.

Das Ereignis e bleibt ebenfalls unbestimmt, es ist nur anhand seiner Wirkung definiert.

1.1.2. Eine Variante: das Fortbestehen eines intermittenten Zustands Eine Variante dieser Lesart liegt dann vor, wenn der Zustand s¡ selbst intermittent ist, d.h. regelmäßig unterbrochen wird, so wie z.B. die Öffnungszeit eines Geschäfts (9) oder eines Fahrkartenschalters (10): (9) Il negozio rimane aperto la domenica. (10) La biglietteria rimane aperta dalle 9 alle 20.

In diesen Beispielen besteht der fortdauernde Zustand s¡ seinerseits aus einer Sequenz gleichartiger TeilzuständeCT¡,... a i+n .

1.1.3. Die Vorhandenseinslesart Eine weitere Zustandslesart liegt vor, wenn rimanere kein Komplement (11), (12) und fakultativ einen lokalen Obliquus regiert (12): (11) Rimane un problema. ( 12) Qui ne rimangono solo due.

In diesen Fällen ist der Zustand s¡ das bloße Vorhandensein (oder das Vorhandensein an einem Ort) des durch das Subjekt bezeichneten Arguments von rimanere. Die semantische Repräsentation von z.B. (11) ist (11 '): (1Γ) 3 s,, 3 s2, -. 3e, 3 t,, 3 t2, 3 t¡, 3 χ | state (s,, t,) & state (s2, t2) & event (e, t¡) & exist (s,, χ) & -. exist (s2, χ) & problema (χ) & change (e, S|, s2) & ti < t¡ < t2

Diese Lesart unterscheidet sich von der in (7') angegebenen Grundbedeutung von rimanere zunächst nur dadurch, dass der fortdauernde Zustand stets als das bloße Vorhandensein von χ definiert ist. 3

Diese Bedeutungsanalyse findet sich sinngemäß fur frz. rester auch bei Kelling (1999: 87f.). Dass engl, to remain die Negation einer Zustandsveränderung impliziert, betont auch Tommola (1995: 126).

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Bemerkenswert an dieser Lesart ist jedoch, dass sie pragmatisch mehr implizieren kann als das bloße Fortdauern eines Zustande. Wenn, wie in (12), eine partitive Qualifikation erfolgt, dann ist der Zustand s¡ in diesem Punkte ein veränderter Zustand, verändert gegenüber einem nicht genannten Zustand s2, in dem die Zahl eine andere war: Wenn nur noch zwei übrig sind, waren es vorher mehr als zwei. Man könnte sich vorstellen, dass solche „kleinen" Änderungen des Zustands s¡ die Brücke von der Zustands- zur Ereignislesart bilden.

1.1.4. Rimanere als lokale Kopula Rimanere kann in Sätzen, die die lokale Befindlichkeit eines Objekts mit Hilfe eines LokalObliquus angeben, als Kopula verwendet werden; so z.B. in: (13)

Dove rimane piazza Duomo?

Die Verwendung von rimanere in dieser Lesart ist allerdings stilistisch markiert und auf unbelebte Objekte beschränkt. Das Verb bezeichnet hier nichts anderes als einen lokalen Zustand. Die Verschiedenheit gegenüber der Grundbedeutung ist beträchtlich: Es ist weder von mehreren Zuständen noch von einem möglichen Ereignis die Rede; rimanere kann durch essere ersetzt werden. Eine vergleichbare Bedeutungsreduktion liegt in der Passiv-Lesart vor, auf die wir unten (1.2.2.) eingehen.

1.2. Die Ereignislesarten 1.2.1. Die ingressive Lesart In einer seiner Lesarten bezeichnet rimanere ein Ereignis, das im Eintreten eines Zustands s2 besteht, der einem vorausgehenden, gegensätzlichen Zustand s¡ folgt; so z.B. in: (14)

Sono rimasto {perplesso, di stucco, vedovo, orfano}.

Es handelt sich allerdings um untypische Ereignisbeschreibungen. Daher zeigen auch die üblichen Tests nicht ohne weiteres klare Ergebnisse. So kann der Test der Dauerangabe scheitern, weil diese so gedeutet werden kann, dass nicht das Eintreten des Zustands, sondern der Zustand selbst gemeint ist. Wenn in (15) tutta la giornata auf das implizierte essere perplesso bezogen wird, dann ist die Angabe der Dauer sinnvoll und der Satz akzeptabel. (15)

?

Sono rimasto perplesso tutta la giornata.

Wird tutta la giornata jedoch auf die Verbalphrase rimanere perplesso bezogen, ist die Angabe der Dauer nicht sinnvoll und der Satz inakzeptabel. So zeigt sich doch, dass sono rimasto perplesso keine Zustands-, sondern eine Ereignisbeschreibung ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Fragetest. Auf die Frage „Was ist geschehen?" erwartet man eine Antwort, in der das Ereignis anhand eines charakterisierenden Prädikats bezeichnet wird. Eine Frage-Antwort-Sequenz wie (16) verstößt hiergegen: ( 16) Che è successo? - ? Sono rimasto perplesso.

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Man kann jedoch Kontexte konstruieren, in denen der Test das erwartete Ergebnis zeigt; so z.B. bei: (17) Che è successo? - Ho scoperto la loro manovra. - E poi? - Sono rimasto perplesso. Die erste Antwort in (17) nennt ein Ereignis anhand eines charakterisierenden Prädikats und erfüllt somit die genannte Erwartung. Nun kann sono rimasto perplesso als Antwort auf eine weitere Frage des gleichen Typs angefugt werden. (Ich setze voraus, dass E poi? als „und was ist dann geschehen?" gedeutet wird.) So lässt sich die Intuition, derzufolge in Beispielen wie (14) nicht vom Fortdauern, sondern vom Eintreten eines Zustands die Rede ist, mit einiger Mühe auch durch Tests untermauern. Welches ist nun die Semantik von rimanere in Sätzen wie (14)? Wir werden die Frage auf einem Umweg beantworten, und zwar über die Bedeutungsanalyse von it. diventare, mit dem das Eintreten eines Zustands standardmäßig bezeichnet wird, wie z.B. in: (18) Il caffè è diventato freddo. Wie bei den Zustandssätzen mit rimanere ist von zwei gegensätzlichen Zuständen, s ι und s2, und von einem Ereignis e die Rede. Anders als bei den Zustandssätzen mit rimanere tritt das Ereignis jedoch ein, und es besteht im Übergang von Zustand s¡ zu Zustand s2. Die Bedeutung von (18) lässt sich somit wie folgt repräsentieren: (18') Ξ si, Ξ s2, 3 e, 3 t,, 3 t2, 3 t3, 3 χ | state (Sj, t,) & state (s2, t3) & event (e, t2) & -.freddo (s,, χ) & freddo (s2, χ) & caffè (χ) & change (e, s ( , s2) & ti < t2 < t3 Diventare zeigt eine Asymmetrie gegenüber seinem Antonym rimanere: Es unterliegt Beschränkungen, die analog auch für dt. werden bestehen (Steinitz 1999: 123). Systematisch ausgeschlossen sind lokale Zustände (*diventare nella casa), und bestimmte Adjektive werden vermieden (diventare morto, 1 diventare rotto). Die Gründe hierfür sind nicht klar: Eine Erklärung, zumindest für die italienischen Beispiele, könnte sein, dass die Ausdrücke durch die Verben, von denen die Adjektive abgeleitet sind (morire, rompersi), blockiert werden. Die Semantik von diventare, mit den genannten Beschränkungen, gilt nun offensichtlich auch für rimanere in der ingressiven Lesart. Die Bedeutung eines Satzes wie (19) lässt sich also durch (19') repräsentieren: (19) Lo zio è rimasto perplesso. (19') 3 S], 3 s2, 3 e, 3 ti, 3 t2, 3 t3, 3 χ | state (sj, ti) & state (s2, t3) & event (e, t2) & -.perplesso (si, x) & perplesso (s2, x) & zio (x) & change (e, Si, s2) & ti < t2 < t3 Nun ist aber rimanere in der ingressiven Lesart trotz dieser semantischen Übereinstimmung nicht frei mit diventare vertauschbar; vgl. (20): (20) II caffè è {diventato, !rimasto} freddo.4 Die Beschränkung von rimanere gegenüber diventare liegt offenbar darin, dass das Argument χ ein menschliches Wesen sein muss.

4

Das Ausrufungszeichen soll ausdrücken, dass der Satz mit rimasto zwar nicht ungrammatisch ist, aber nicht die ingressive Bedeutung hat.

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1.2.2. Die passivische Lesart Am deutlichsten ist der Ereignischarakter von rimanere-Sätzen dann, wenn das Verb ein Komplement regiert, das ein Passiv-Partizip ist, wie z.B. ucciso, ferito-, vgl.: (21) Tre persone sono rimaste {uccise, ferite} nell'incidente. Wie in der Kopula-Lesart, so ist auch hier rimanere mit essere vertauschbar: (22) Tre persone sono {rimaste, state} {uccise, ferite} nell'incidente. Der semantische Unterschied zur ingressiven Lesart besteht darin, dass die zustandsbezeichnenden Formen (ucciso, ferito) Passiv-Partizipien von Handlungsverben sind. Solche Verben sind typische Ereignisprädikate. Deshalb enthalten die Beispiele in (21) mehr Information über das Ereignis als es bei der ingressiven Lesart der Fall ist. Bei letzterer wird ein Ereignis nur als ein Übergang von einem Zustand s¡ in einen Zustand s2, nicht aber durch ein eigenes Prädikat bestimmt. In Sätzen wie (21) wird zusätzlich auch das Ereignis e selbst durch ein eigenes Prädikat bestimmt. Weiterhin bringt dieses Prädikat seine Argument- und Rollenstruktur mit, was man einfacher an klassischen Passiv-Sätzen wie (23) sieht: (23) Un passante è stato ferito. Wie das finite Verb ferire, so hat bekanntlich auch das Passiv-Partizip ferito zwei Argumente, einen Agens χ und einen Patiens y, wobei χ nur existenziell gebunden ist, während y als Subjekt erscheint. Die semantische Repräsentation von (23) ist daher (23') 3 e, 3 t, 3 χ, Ξ y I event (e, t) & ferire (e, x, y) & passante (y) Dies gilt nun auch dann, wenn statt des Passiv-Auxiliars essere das Verb rimanere wie in

steht,

(24) Un passante è rimasto ferito. Die semantische Repräsentation von (23) und (24) ist dieselbe. Die beiden Zustände, die in fast allen anderen Lesarten von rimanere eine Rolle spielen, sind natürlich auch hier gegeben: Der Passant ist erst nicht verletzt, dann verletzt. Aber sie folgen nicht mehr aus der Bedeutung von rimanere, sondern aus der des Partizips ferito. Man sieht: rimanere ist hier zum bloßen Passiv-Auxiliar geworden. 1.3. Ein Synonym: restare Rimanere hat bekanntlich ein Synonym, restare. Dieses Verb teilt einige Lesarten mit rimanere, nämlich

a. Die Grundbedeutung (25) Sono {rimasto, restato} {a casa, seduto, celibe, un tifoso della Juve}.

b. Die Variable „ intermittenter Zustand" (26) Il negozio {rimane, resta} aperto la domenica.

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c. Die Existenzlesart (27)

{Rimane, resta} un problema.

d. Die Lesart „lokale Kopula" (28)

Dove {rimane, resta} questa strada.

e. Die ingressive Lesart (29)

È {rimasto, restato} vedovo.

Nur in der passivischen Lesart ist rimanere nicht durch restare ersetzbar: (30)

Un passante è {stato, rimasto, * restato} ferito.

2. Vergleichbare Polysemie in anderen Sprachen

Anhand einer kurzen sprachvergleichenden (und sicherlich nicht erschöpfenden) Übersicht lässt sich feststellen, dass die Polysemie von it. rimanere kein isoliertes Faktum ist. Es ist bekannt, dass viele Sprachen eine systematische Beziehung zwischen den Bezeichnungen für Zustände und für das Eintreten derselben Zustände haben (vgl. Comrie 1985: 342). Diese Beziehung ist oft morphologisch realisiert; sie kann aber auch ohne morphologische Markierung, als bloße Variation der Bedeutung auftreten. Wir beschränken uns hier auf den letzteren Fall, der ja bei rimanere gegeben ist. Ich gehe auf die folgenden Fälle ein: 1. Das Wort für 'bleiben' hat eine systematische Variation zwischen Zustandslesart und ingressiver Lesart (Französisch, Deutsch). 2. Die systematische Variation zwischen Zustandslesart und ingressiver Lesart ist verallgemeinert (Arabisch). 3. Die Passivlesart ist vollständig grammatisiert (Schwedisch).

2.1. Die Zustandslesart und die ingressive Lesart von 'bleiben' Das Französische rester zeigt die meisten der hier für das it. rimanere aufgeführten Lesarten analog; die Grundbedeutung (31), die Vorhandenseins-Lesart (32) und die ingressive Lesart (33): (31) Je suis resté {chez moi, assis, célibataire, un supporteur d'OM}. (32) Il reste un problème. (33) Je suis resté {perplexe, interdit, veuf, orphelin}.

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Das deutsche bleiben hat neben der grundlegenden Zustandslesart (34) auch eine Ereignislesart (35): (34)

Ich bleibe {zu Hause, ledig, ein Fan der Juve}. Gestatten Sie, dass ich sitzen bleibe?

(35)

Absalon blieb mit den Haaren an einer Eiche hängen. Mit einem Ruck blieb der Zug stehen.

Die Ereignislesart ist im Deutschen typischerweise an die Konstruktion „bleiben + Infinitiv" und an Verben gebunden, die Körperhaltungen (liegen bleiben, sitzen bleiben) oder Modi der Fixierung an einen Untergrund bezeichnen (haften bleiben, kleben bleiben, stecken bleiben). Sie kann auch in anderen Kontexten vorkommen, z.B.: (36)

Er konnte das Tempo der anderen nicht halten und blieb schnell zurück.

Die für das it. rimanere in seiner Ereignislesart typischen adjektivischen und nominalen Komplemente hingegen regiert dt. bleiben in der Ereignislesart nicht; hier muss werden eintreten: (37)

La regina è rimasta incinta - Die Königin wurde schwanger.

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass dt. bleiben, das einen geringeren Grad von Polysemie hat als it. rimanere, doch die Variation 'Fortdauern eines Zustands' vs. 'Ereignis' aufweist. 5

2.2. Die Verallgemeinerung der Variation Zustandslesart - ingressive Lesart Im Arabischen (klassisches Arabisch, modernes Hocharabisch) gibt es Verben, die ich der Einfachheit halber etwas ungenau als „deadjektivische Zustandsverben" bezeichnen möchte. Ein deadjektivisches Zustandsverb hat die folgenden Eigenschaften: 1.

Es besitzt eine konsonantische Wurzel, auf der auch ein Adjektiv beruht.

2.

Seine Bedeutung ist von der des Adjektivs abgeleitet: Wenn die Bedeutung des Adjektivs 'P' ist, dann hat das Verb zwei Bedeutungen, nämlich 'P sein' und 'P werden'.

Beispiele sind: 6 (38)

Verb: jik täla 'lang sein oder werden' (Wurzel: Jji. twl) Adjektiv: j ^ i tawirlang' Verb: kabura 'groß sein oder werden' (Wurzel: Adjektiv: kabir'groß'

5

6

kbt)

Tommola (1995: 126) weist auf ähnliche Verhältnisse im Schwedischen und im Russischen hin: „Interestingly, 'changing' ('to become') and negation of 'changing' ('to remain') can also be expressed by one and the same verb (Swed. bli 'become, remain') or etymologically related verbs (cf. Russ. stat' 'become', o-stat'-sia 'remain')." Tommola (1995: 133ff.) analysiert dann ausführlich das estnische Verb jääma, das sowohl 'bleiben' als auch 'werden' bedeuten kann. Die Bedeutungsangaben sind aus drei Wörterbüchern entnommen, in denen deutsche (Wehr 1985), englische (Wehr / Cowan 1976) und französische (Reig 1983) Übersetzungsentsprechungen angegeben werden. Die Polysemie der arabischen Beispiele gebe ich nur insoweit wieder, wie sie fur unseren Zusammenhang relevant ist.

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Für solche deadjektivischen Zustandsverben ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Aber auch andere Verben haben dieselbe Variation zwischen Zustandslesart und ingressiver Lesart, so z.B.: (39) υ«!?, galasa 'sitzen oder sich setzen' ^J labisa '(ein Kleidungsstück) tragen oder anziehen'7

Und, wie zu erwarten, gibt es auch ein Verb für 'bleiben', dessen Bedeutungsvariation in etwa derjenigen von it. rimanere entspricht. (40) i k zalla 'sein, bleiben oder werden'

2.3. Die grammatisierte Passiv-Lesart von 'bleiben' Im Schwedischen hat sich bli(va), das aus dem Niederdeutschen entlehnt wurde, wo es 'bleiben' hieß, zum Passiv-Auxiliar entwickelt: (41 ) Räven blev skuten av jägeren. 'Der Rabe wurde vom Jäger geschossen'.

Dies ist eine offensichtliche Parallele zur Passiv-Lesart von it. rimanere.

3. Die Variation der Zeitkonstitution als Metonymie

Die Bedeutungsvariation, mit der wir uns hier beschäftigen, steht, wie schon gesagt, im größeren Zusammenhang, dem der Variation der Zeitkonstitution von Verben, und, spezieller, mit derjenigen einstelliger Verben. Hölker (1998) hat diese Art von Variation bei einer Anzahl französischer Verben untersucht. Ein Beispiel ist disparaître (Hölker 1998: 52); in (42) bezeichnet das Verb einen „Umschwung", in (43) einen Zustand: (42) Les voitures disparurent, l'une après l'autre, derrière le tournant. (43) La maison disparaissait derrière les arbres.

Nach Hölker ist die Zustandslesart abgeleitet, und zwar durch Metonymie: Der Zusammenhang zwischen den beiden Lesarten von disparaître „beruht auf Wissen über einen Sachzusammenhang: wenn ein Objekt verschwindet, dann ist der Folgezustand der, dass es nicht mehr zu sehen ist". Ausgelöst wird die metonymische Interpretation nach Hölker durch den Widerspruch zwischen der primären Bedeutung des Verbs (disparaître impliziert Fortbewegung) und dem Kontext (Häuser können sich nicht fortbewegen). Hölker begründet also diese Art von Variation aus der Interaktion von lexikalischer Bedeutung, Kontext und nichtsprachlichem Wissen, in Verbindung mit den bekannten tropischen Relationen (Metapher

7

Auf dieses Beispiel weist auch Comrie (1985: 342) hin.

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und Metonymie). 8 Er zeigt, dass diese Relationen nicht nur für die diachronische Entwicklung (Blank 1997), sondern auch für die synchronische Variation Gültigkeit besitzen. Auf diesen Annahmen beruht auch die folgende Analyse von rimanere. Die tropische Relation, die der Polysemie von rimanere zu Grunde liegt, ist offensichtlich die der Metonymie. Die klassischen Beispiele von Metonymie (z.B. 'die Penaten* für 'das Haus', 'Seelen' für 'Einwohner') stammen meistens aus der Nominal-Semantik. Aber wie Blank (1997: 260ff.) und Hölker (1998) aus ganz unterschiedlicher Perspektive gezeigt haben, spielt sie für die Semantik nicht nur von Nomina, sondern auch von Verben eine wichtige Rolle. Was speziell die metonymische Relation zwischen einerseits den Zustandslesarten und andererseits den Ereignislesarten von rimanere angeht, so beruht sie offensichtlich darauf, dass zwischen Zuständen und Ereignissen eine konzeptuell deutliche Kontiguität besteht. Zustände und Ereignisse sind nicht nur in der von uns wahrgenommenen Welt oft zeitlich oder kausal miteinander verbunden, sondern auch in den elementaren Strukturen der Semantik, sowohl der lexikalischen Semantik als auch der Textsemantik. Die Semantik transformativer Verben wie 'öffnen' oder 'töten' beruht j a auf Relationen zwischen Zuständen und Ereignissen. Und auf der Ebene der Semantik erzählender Texte sind Zustände oft die Voraussetzungen oder der Rahmen von Ereignissen. Hierbei wirken Ereignisse wiederum auf bestehende Zustände ein und bringen neue hervor, oder ein Ereignis ist nur virtuell, und der aus ihm normalerweise resultierende Zustand tritt nicht ein. Dies ist genau die Situation, auf die das Verb rimanere referiert. Damit ist allerdings nur die Kontiguität erfasst, die konzeptuelle Relation zwischen Zustand, Ereignis und Fortdauern eines Zustands. Die Kontiguität ist jedoch nur die Grundlage der Metonymie, nicht die Metonymie selbst. Diese ist eine Relation nicht zwischen Konzepten, sondern zwischen Konzepten und einem Wort, oder, konventioneller gesagt, zwischen den Bedeutungen eines Wortes. Hieraus ergibt sich, dass die Relationen, auf der die konzeptuelle Kontiguität beruht, die Struktur der metonymischen Polysemie nur motivieren, aber nicht determinieren. Wesentlich filr die Struktur der metonymischen Polysemie ist die Richtung der Ableitung. Auch sie folgt nicht zwangsläufig aus den Kontiguitätsrelationen, auf denen die Metonymie beruht. Die Ableitungsrichtung ist zunächst offen. Das heißt im Falle von rimanere: Ist die Bedeutung 'bleiben' aus 'werden' abgeleitet oder, umgekehrt, die Bedeutung 'werden' aus 'bleiben'? Hölker (1998: 56) kommt bei seiner Untersuchung französischer Verben zu dem Ergebnis, der semantische Typ 'Zustand' sei immer abgeleitet, sei es aus dem Typ 'Aktivität' oder dem Typ 'Umschwung'. Die umgekehrte Richtung, d.h. die Ableitung einer Ereignislesart aus der Zustandslesart, nennt Hölker in seiner Liste von Typen des „Zeitschemawechsels"

8

Zusammenfassend sagt Hölker (1998: SSf.): „Verben verändern ihre Bedeutungen in der Satzumgebung, im Kotext und im Kontext. Grundlegende Reinterpretationsverfahren sind hierbei die bekannten tropischen Prozesse wie Metapher, Metonymie und Synekdoche [...] Diese Prozesse führen zur polysemen AusdifTerenzierung einzelner Wörter, wobei sich die abgeleiteten Bedeutungen bezüglich ihrer Zeitschemainformation von der jeweiligen Grundbedeutung unterscheiden können." - Den Metaphernbegriff hat bekanntlich schon Weinrich (1964) auf die zeitlichen Aspekte der Verbsemantik angewendet; zur Weiterentwicklung dieser Idee vgl. Bertinetto (1997: 135ff.).

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nicht, und er schließt sie auch grundsätzlich aus (Hölker 1998: 54f.): Metonymien seien nicht möglich, wenn „die [...] nötigen Sachzusammenhänge fehlen"; diese Sachzusammenhänge bestünden im Allgemeinen darin, dass es „zu einem Sachverhalt eine typische oder gar notwendige Konsequenz" gebe, und Zustände hätten „überhaupt keine typischen Konsequenzen". Nun sprechen aber die Daten zu rimanere sämtlich für die Entwicklung 'Zustand' -> 'Ereignis'. Zunächst die Chronologie: Wenn man Lewis / Short (1879) glauben darf, ist für lat. titànio, remànëo die Bedeutung 'bleiben' gut, die Bedeutung 'werden' hingegen nicht belegt; die Ereignislesart muss also aus der Zustandslesart entstanden sein. Für das ältere Italienisch verfüge ich leider nicht über hinreichende Daten. Es gibt aber eine Stelle bei Dante, wo rimanere zwar in der normalen Zustandslesart verwendet wird, dies jedoch in einem Kontext, wie er für die Ereignislesart typisch ist: (44)

Quando si parte il gioco della zara colui che perde si riman dolente, repetendo le volte, e tristo impara. (Purg. VI, 1-3)

Rimanere bezeichnet hier das Verbleiben an einem Ort (vgl. 1.1.3.), d.h. es ist ein Zustandsverb. Aber es ist mit einem adjektivischen Komplement (dolente) konstruiert, wie es beim heutigen rimanere in der Ereignislesart der Fall ist. Darüber hinaus ist das Zurückbleiben des Verlierers (colui che perde si rimari) ein Zustand, der zu Ende der Zara-Partie, wenn die Spieler auseinander gehen (si parte il gioco della zara), neu eintritt. Derartige Kontexte können als Katalysatoren für die diachronische Entwicklung von der Zustands- zur Ereignislesart gedeutet werden. Falls die These einer Entwicklung der Ereignislesart aus der Zustandslesart richtig sein sollte, ließe sie sich anhand solcher Beispiele plausibel machen. Ein zweites Argument für die Richtung 'Zustand' 'Ereignis' sind die Beschränkungen für die Ereignislesart. Wenn von zwei Lesarten eine nur in beschränkten Kontexten auftritt, so kann man zumindest bis auf weiteres vermuten, dass sie die abgeleitete ist. Eine solche Beschränkung haben wir bereits gesehen (1.2.1.): In der Ereignislesart von rimanere muss das Subjekt ein menschliches Wesen bezeichnen. Eine weitere Beschränkung besteht hinsichtlich der Adjektive und Nomina, die in dieser Lesart als Komplement auftreten: Es handelt sich semantisch um Prädikate für privativ definierte soziale Typen (45), für Zustände des Körpers (46) oder der Seele (47). (45) rimanere {orfano, vedovo} (46) rimanere {incinta, invalido} (47) rimanere {contento, male}

Viele andere Prädikate bewirken, dass für rimanere nicht die Ereignislesart gewählt wird; so z.B. in: (48)

Mario è rimasto {autista, padre, celebre, infedele}.

Hölkers grundsätzlicher Ausschluss der Metonymie 'Zustand' -> 'Ereignis' beruht offenbar auf einer zu engen Bestimmung der Kontiguitätsbeziehung zwischen Sachverhaltstypen als Relationen der Form ist Konsequenz von cf\ Im Übrigen kann ja auch die tempusinduzierte Sachverhalts-Variation die Richtung 'Zustand' - » 'Ereignis' haben; vgl. die bekannten Anpassungen der lexikalischen Bedeutung an die Tempus-Bedeutung, z.B. in (nach Bertinetto 1997: 116):

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(49) (50)

von it. rimanere

31

La ragazza era molto felice, quel mattino. La ragazza fu molto felice di apprendere la notizia.

Aber zurück zur lexikalischen Variation. Wir müssen offenbar allgemein mit 'Zustand''Ereignis'-Metonymien in beiden Richtungen rechnen. Dies ist auch insofern nicht verwunderlich, als, wie gesagt, die rein konzeptuellen Relationen der Kontiguität die semantische Variation der Wörter zwar motivieren, aber nicht determinieren können. Welche Richtung die Metonymie im einzelnen Falle hat, ist eine Frage der faktischen einzelsprachlichen Entwicklung. Dies gilt analog auch für die Grammatisierung, wie sie in der passivischen Lesart von it. rimanere und schwed. blifva) vorliegt. Diese Lesart hat sich offensichtlich aus der Ereignislesart entwickelt. Die Ereignislesart von 'bleiben' referiert ja auf Ereignisse, die die folgenden Eigenschaften haben: A. Sie sind nur anhand des aus ihnen resultierenden Zustands spezifiziert. B. Sie sind Zustöße, d.h. sie entsprechen Prädikaten, deren einziges Argument der vom Ereignis Betroffene ist. Typische passivische Sätze teilen mit passivischen rimanere-Sätzen die Eigenschaft B, mit dem einzigen Unterschied, dass sie einen Urheber postulieren und dessen Nennung erlauben. Die eigentliche Grammatisierung von rimanere zum Passiv-Auxiliar, d.h. der Verlust seiner lexikalischen Bedeutung, kann allerdings nicht mehr durch den Rekurs auf die konzeptuelle Ebene erklärt werden. Zwar beruht die Auswahl bestimmter Verben als Kandidaten für die Funktion des Passiv-Auxiliars ('sein', 'kommen', 'gehen', 'werden', 'bleiben' usw.) offensichtlich auf konzeptuellen Gegebenheiten, nicht aber die faktische Auswahl des Kandidaten in einer gegebenen Sprache. Darauf, dass natürliche Sprachen nach Prinzipien organisiert sind, die gegenüber den konzeptuellen Strukturen autonom sind, deutet auch der Sprachvergleich hin. Eine gegebene semantische Variation kann in den einzelnen Sprachen unterschiedlich stark ausgebaut sein (z.B. Italienisch vs. Arabisch), und sie kann sich in ganz unterschiedlichen syntaktischen Formen realisieren (z.B. Italienisch vs. Deutsch).

4. Zusammenfassung und Fazit

Ich habe zunächst die Polysemie eines it. Verbs beschrieben, sie dann in einen sprachvergleichenden Zusammenhang gestellt und schließlich versucht, die beobachtbaren widersprüchlichen Lesarten als einen Fall von Metonymie zu deuten, der kognitiv auf der Kontiguität der Konzepte 'Zustand' und 'Ereignis' beruht. Die sprachvergleichend unterschiedliche Reichweite der Polysemie von 'bleiben', die Unterschiede hinsichtlich der jeweils geltenden Beschränkungen, die unterschiedliche Richtung der Metonymie und die Prozesse der Grammatisierung lassen aber auch die Begrenztheit kognitiv-onomasiologischer Erklärungen erkennen: Die konzeptuellen Strukturen werden in den einzelnen Sprachen lexikalisch und grammatisch überformt.

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Christoph Schwarze

Literatur

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Daniel Jacob (München) 'Possession' zwischen Semasiologie und Onomasiologie Stava l'innominato tutto raccolto in sè, pensieroso, impaziente che venisse il momento d'andare a levar di pene e di carcere la sua Lucia: sua ora in un senso cosi diverso da quello che lo fosse il giorno avanti. (Alessandro Manzoni, /promessi sposi, Kap. 23)

,ßeine in einem so anderen Sinne, als sie es noch am Vortage gewesen war ..." - dies ist das Thema des vorliegenden Beitrags: die verschiedenen Weisen, in denen etwas mein (oder dein, ihr, sein usw.) sein kann. Anders gesagt: Es geht um die Frage Was ist 'Possession '? Wie wir sehen werden, liegen die beiden sensi così diversi, die in diesem Zitat angesprochen sind (nämlich zunächst die pure Verfügungsgewalt des innominato, der besagte Lucia entführt und eingekerkert hat, um dann aber über Nacht in eine heftige Zuneigung zu seinem Opfer zu verfallen), sogar noch sehr eng beieinander auf der Skala der möglichen Bedeutungen und Funktionen, die den 'Possessivpronomina' und anderen üblicherweise als 'besitzanzeigend' geltenden Ausdrucksmitteln zukommen. In dem concetto Manzonis haben wir es ganz klar mit einer semasiologischen Erwägung zu tun: der Frage nach der Vieldeutigkeit des 'Possessivadjektivs' im Italienischen. Andererseits benennen die Termini Possession / possessiv natürlich primär einen begrifflichen Inhalt bzw. eine semantische Qualität. Üblicherweise ist die in der Sprachtypologie gestellte Frage nach der Possession eine onomasiologische: die nach den sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten eines als gegeben angenommenen relationalen Konzeptes. Seiler (1983: 4) benennt dieses Konzept als „the relationship between a substance and another substance" und fasst 'Possession' in diesem Sinne als einen „cognitive-conceptual domain" auf, dem eine „linguistic dimension of POSSESSION" gegenübersteht (1990: 8). Es versteht sich, dass die onomasiologische Untersuchung eine methodisch saubere Bestimmung und Eingrenzung des 'cognitive domain', des kognitiven oder 'noematischen' Feldes voraussetzt, von dem sie ausgeht. Und es ist ebenso evident, dass eine solche Eingrenzung zwar eigentlich unabhängig von der zu beschreibenden Sprachstruktur zu sein hätte, dass dieser Anspruch aber sowohl aus heuristischen Gründen wie auch wegen der grundsätzlichen Nicht-Hintergehbarkeit der Sprache letztlich nicht einlösbar ist. Das heißt, dass die semantische oder kognitive 'Landkarte', oder das 'noematische System', von dem die onomasiologische Untersuchung ausgehen soll, normalerweise auf semasiologischem Wege gewonnen ist, nämlich aus der Funktionsanalyse bestimmter sprachlicher Ausdrucksmittel.1 Ein Anliegen dieses Artikels ist es zu zeigen, dass ein funktionaler Bereich 'Possession' nicht allein aus heuristischen, sondern auch aus systematischen Gründen, wenn überhaupt, dann nur in einer dialektischen Hin- und Her-Bewegung zwischen semasiologischer und onomasiologischer Betrachtung zu definieren ist.

1

Wobei diese semasiologische Grundlegung nicht immer mit gleicher Offenheit und Bewusstheit erkannt oder zugegeben wird. Die anspruch voi Iste Reflexion zu dieser Frage bietet aus meiner Sicht bis heute das Theoriengebäude von K. Heger, vgl. dazu Jacob im Druck a: Abschnitt 3.1.

Daniel Jacob

34 1. D i e Ausdrucksseite: ' P o s s e s s i v e Konstruktionen'

Beginnen möchte ich auf der Ausdrucksseite: Es gibt eine Reihe von syntaktischen Konstruktionen und von Morphemen, die gemeinhin als 'possessiv' angesehen werden. Zu den im Eingangszitat diskutierten Possessivadjektiven kommt eine große Zahl anderer Ausdrucksmittel hinzu. Um nur einen Eindruck von der Vielfalt zu geben, hier eine ganz vorläufige, auf die bekanntesten SAE-Sprachen beschränkte Auswahl ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit 2 : (1)

a. Possessivartikel / -pronomen / -adjektiv (mon parapluie, le mien, il mio ombrello)', b. Genitiv bzw. äquivalente Präpositionalausdrücke (Peters Regenschirm, le parapluie de Pierre)', c. Das Verb haben bzw. dessen Äquivalente: Pierre a un parapluie; d. 'Verfìigungsverben' (vgl. Koch 1981), d.h. spezifische Lexeme, in denen das Konzept des 'Besitzes' (bzw. allgemeiner das Konzept der 'Verfügung') mit weiteren semantischen Komponenten verbunden ist. Diese können entweder klassematischer Natur sein (Ingressivität / Egressivität / Durativität, Modalität, Negation, Kausativität: bekommen / verlieren / behalten, benötigen, entbehren, vorenthalten, geben / nehmen ...), valenzielldiathetischer Natur (haben /gehören), oder aber spezifisch-lexikalischer Natur (besitzen, verfügen, rauben, schenken, leihen, schulden, ...); e. Dativ und Äquivalente (dieser Regenschirm ist mir, ce parapluie est à moi); f. Diverse adnominale Präpositionalausdrücke (le parapluie à Pierre, der Regenschirm von Peter, l'homme au parapluie, der Mann mit dem Regenschirm).

Daneben gibt es eine Reihe von syntaktischen Konstruktionen, die in der Literatur immer wieder mit Possession in Zusammenhang gebracht werden: g. 'Possessor Promotion' ('possessor ascension', 'externer Possessor'3: je lui déchire le parapluie, je le prends par la main); h. 'Possessor Deletion' (il a perdu le parapluie); i. 'Absolut-Konstruktionen' (il s'en va, le parapluie sur l'épaule, besser: les mains dans les poches); k. 'Respektivkonstruktionen'4: 'Akk. / Abl. graecus' (puer ferox ingenio) und deren Nachbildung (Sylvie est jolie des yeux, Ein Knabe wild an Charakter); 1. Adjektivierungen des Possessums: Bahuvrihi (rhododáktylos „rosenfingrig"), 'Privativkompositum' (iners „kraftlos"), Suffixderivationen wie rothaarig, behaart, red-nosed; m. Adjektivierungen des Possessors ('Relationsadjektiv': das väterliche Haus, la voiture présidentielle); usw. Der 'possessive' Charakter all dieser Konstruktionen ergibt sich daraus, dass sie - jeweils in bestimmter Verwendung - unter Rückgriff auf den 'Possessivartikel' oder das Verb haben

2

3 4

Zur sprachübergreifenden Vielfalt 'possessiver' Ausdrucksmittel vgl. bes. Seiler 1983; Nichols 1988; Chapell / McGregor 1996; Heine 1997. Vor allem lokative und komitative Konstruktionen werden sprachübergreifend häufig als 'possessiv' angesehen (vgl. Givón 1984: 103; Heine 1997: 41 f., 50ff.; Koch 1999). Vgl. dazu in unserer Aufstellung die Präpositionen dt. von, mit und frz. à, de. Vgl. Chappell / Mc Gregor 1996: 6; Haspelmath / König 1998; Payne / Barshi 1999. Der Terminus ist eine arf-Aoc-Bildung von mir. Zum Phänomen vgl. vor allem Bally 1926; Frei 1939. Zu den Respektivkonstruktionen sind auch die 'body part locative constructions' (Chappell / McGregor 1996: 5) vom Typ er zieht ihn an den Ohren zu zählen

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Onomasiologie

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paraphrasiert werden können. Ich möchte im Folgenden alle diese Ausdrucksmittel, seien sie eher lexikalischer oder eher grammatischer Natur, unter dem Terminus 'Possessive Konstruktionen' zusammenfassen, wobei die Beibehaltung der Anführungszeichen signalisieren soll, dass mit dieser Terminologie nichts über die Semantik oder Funktion dieser Konstruktionen präjudiziell sein soll. Auch die Termini 'Possessor' und 'Possessum' sind nicht semantisch zu verstehen, sondern rein syntaktisch: Sie beziehen sich auf die Nominalausdrücke, die in einem Haben-Kusdruck (oder bei der Überführung in einen Haben-Ausdruck) respective das Subjekt bzw. das Direkte Objekt bilden, beim Possessivartikel / -adjektiv respective das Antecedens bzw. das Head-Noun (l'homme au parapluie > l'homme a un parapluie > son parapluie).

2. Die Inhaltsseite: die Bedeutungsvielfalt possessiver Konstruktionen und die Erklärungsansätze

Ebenso große Vielfalt wie bei den Ausdrucksmitteln gibt es auf der Inhaltsseite. Es ist symptomatisch, dass auch Arbeiten zur Onomasiologie der Possession üblicherweise mit einem semasiologischen Schlenker beginnen, in dem die Vielfältigkeit des Konzeptes 'Possession' an Hand der Vieldeutigkeit des Possessiv-Artikels oder des Verbs haben demonstriert wird. So stellt Seiler (1983: 2) die folgende Reihung auf: (2)

my father, my sister, my nose, my spit, my pants, my car, my job, my word

Im Vorgriff auf meine folgende Argumentation möchte ich einige weitere Beispiele hinzufügen 5 : (3)

a. mon plat préféré b. mon premier 14 juillet en France / meine erste totale Sonnenfinsternis

Langacker (1991: 338) demonstriert die Vieldeutigkeit des engl. Verbs have (vgl. auch Heine 1997: lf): (4)

a. Sam has a wart on his elbow. b. That theory has many serious problems. c. We have a lot of coyotes around here.

Auch hier sei bereits jetzt ein m.E. bedeutsamer Verwendungstyp hinzugefügt: (5)

Jeder Jugendliche hat jemanden, den er bewundert.

Es wäre allerdings falsch zu glauben, die unterschiedliche Bedeutung ergebe sich aus den Nomina, die das 'Possessum' bilden. So zeigt etwa der Ausdruck mon livre die gleiche Bedeutungsoffenheit wie die Beispiele unter (2) und (3), ohne dass dies von der lexikalischen Besetzung der 'Possessum'-Position abhängig wäre:

5

Der Rückgriff auf unterschiedliche Sprachen fällt hier nicht ins Gewicht: Die hier gegebenen Beispiele sind, genauso wie die meisten anderen Beispiele dieses Aufsatzes, problemlos von einer SAE-Sprache in die andere übertragbar. Zu kontrastiv-typologischen Unterschieden vgl. weiter unten.

Daniel

36 (6)

mon livre: a) 'das Buch, b) 'das Buch, c) 'das Buch, d) 'das Buch, e) 'das Buch, usw.

Jacob

das ich geschrieben habe' von dem ich gerade gesprochen habe' das ich gerade lese [im Gegensatz zu dem, das Du liest]' das ich referieren soll' das mir gehört'

2.1. Possession als lokales Konzept Unbestreitbar besteht ein enges metonymisch/metaphorisches Verhältnis zwischen 'possessiven Konstruktionen' und Ausdrücken der LOKALISIERUNG (A hat Β *-* Β ist bei A). Während etwa Lyons (1967), und Koch (1999) hier eine konzeptuelle Nachbarschaft und somit - zu Recht - eine metaphorisch/metonymische Quelle fur 'Possession' sehen, gibt es den Versuch, 'Possession' begrifflich-synchron auf LOKALITÄT zurückzuführen 6 . Ohne die Realität solcher Bezüge in der Sprecherintuition, und damit auch deren Relevanz für die Bildung 'possessiver' Ausdrücke in Frage zu stellen, geht es im vorliegenden Artikel darum, gerade das Spezifische, von der LOKALITÄT eben Unterscheidbare der 'possessiven Konstruktionen' herauszuarbeiten - dies nicht zuletzt, um auch die Spezifität gegenüber anderen Funktionsbereichen wie den Tempus- oder den Kasussystemen beschreiben zu können, in denen die Sprachwissenschaft ebenfalls gern auf lokalistische Metaphorik zurückgreift.

2.2. Possession als unspezifisches relationales Konzept? In einer rein semasiologischen Perspektive wäre es denkbar, die Gebrauchsvielfalt 'possessiver Konstruktionen' im Sinne einer sehr unspezifischen Bedeutung der beteiligten Ausdrucksmittel zu beschreiben, d.h., die unterschiedlichen demonstrierten Verwendungen als Gebrauchsvarianten einer sehr generellen, abstrakten relationalen Bedeutung aufzufassen. Allerdings dürfte es schwer fallen, eine angemessen abstrakte Definition fiir diese generelle Bedeutung zu finden, die annähernd all das abdeckt, was in den obigen Beispielen an Verwendungsmöglichkeiten angedeutet ist. So passt z.B. der von Koch (1981, in anderer Perspektive) angesetzte Begriff der VERFÜGUNG nur auf einen Teil der oben angeführten Verwendungen. Allgemein lässt sich zeigen, dass sich die unterschiedlichen Gebrauchsvarianten durchaus unterschiedlich auf die ausdrucksseitigen Strukturen verteilen. Während es ohne weiteres möglich ist, die Gebrauchsweise aus (3a) in einen Ausdruck mit dem Verb avoir zu überführen, ist avoir für die in (3b) demonstrierte Verwendung nicht einsetzbar: (7)

a. J'ai un plat préféré. / Je n'ai pas de plat préféré. b.* J'ai le pemier 14 juillet en France. / * le pemier 14 juillet en France que j'ai

Ähnlich verhält es sich bei den unterschiedlichen Interpretationen des Beispiels (6). Auch die Konstruktionen der possessor deletion und die possessor promotion sind bei weitem

6

Vgl. Spanoghe 1995: 30ff., die selbst vom .possessor' als „entité spatiale animée" spricht. Vgl. auch Heine 1997: 4Iff., SOff., der in den lokalen Ausdrücken ebenfalls nur eine diachrone Quelle sieht.

'Possession ' zwischen Semasiologie

und

Onomasiologie

37

nicht auf alle der in (2)—(6) demonstrierten „Bedeutungen" anwendbar (vgl. Abschnitt 2.3.). Eine einheitliche Bedeutung POSSESSION, die alle als 'possessiv' empfundenen Ausdrücke erklärt, ist also nicht definierbar. Insbesondere ist auf diese Weise keine Ausgangsbasis fur eine onomasiologische Betrachtung zu gewinnen. Damit entfällt auch die Lösung A. Meillets, 'Possession' als „relation du type le plus général", d.h. als RELATIONALITÄT an sich zu definieren 7 . Dass selbst die generellsten possessiven Ausdrücke, nämlich das Verb haben und die Possessivartikel (bzw. -adjektive oder -pronomina), eine spezifischere Bedeutung haben als die reine RELATIONALITÄT, zeigt nicht nur die oben demonstrierte unterschiedliche Distribution, sondern auch der Vergleich mit anderen Konstruktionen und Formen, die als Träger einer solch allgemeinen Relationalität gelten können. So ist z.B.: (8)

Le musée expose une vingtaine d'objets qui ont rapport à lui.

nicht paraphrasierbar durch: (9)

* Le musée expose une vingtaine de ses objets.

Ein Ausdrucksmittel fur unspezifische RELATIONALITÄT ist bekanntlich auch die deutsche Nominalkomposition (wie das vielbemühte Schweineschnilzel-Jägerschnitzel-Esp. beweist). Aber auch die Nominalkomposition funktioniert völlig anders als die 'possessiven' Ausdrücke, und es besteht keine gegenseitige Paraphrasierbarkeit. So können Ausdrücke wie (10)

die letztjährigen Rilke-Tage, der Italien-Band (in einer Buchreihe)

nicht paraphrasiert werden mit (11)

* die letztjährigen Tage Rilkes, * der Band Italiens

Ebensowenig sind die entsprechenden Aaòew-Konstruktionen hier einsetzbar. Zusammengefasst: 'Possessive' Ausdrucksmittel verhalten sich untereinander sehr unterschiedlich bezüglich ihrer semantischen Distribution bzw. ihrer referenziellen Möglichkeiten; vor allem aber besitzen selbst die generischsten Ausdrucksmittel (nämlich das Verb haben und der Possessivartikel (-adj. / -pron.) ganz klare semantische S p e z i f i t ä t e n , so dass wir nirgends einfach eine „relationale Generizität", Abstraktheit ansetzen können 8 . Es gilt also, den semantisch-funktionalen Bereich, der durch die 'possessiven Konstruktionen' realisiert wird, genauer zu bestimmen und in sich zu differenzieren. Ob dabei überhaupt ein irgendwie gemeinsamer „cognitive domain" für alle aufgeführten Ausdrucksmittel definierbar ist, steht in Frage.

7

s

„Le plus souvent, le fr. avoir n'indique rien d'autre qu'un rapport entre le sujet et l'objet considéré" (Meillet 1923: 9); „Car, tel qu'il est dans les grandes langues modernes de l'Europe occidentale, «avoir» exprime une relation entre un sujet et un objet; cette relation n'est pas seulement celle de possession; elle est du type le plus général" (ebd. 11). Damit entfällt auch der Vorschlag, den David Beck in der Diskussion über die LINGTYP-List geäußert hat, nämlich Possession in eine kontinuierliche Skala mit den Kategorien modification und attribution zu stellen, d.h. als eine extrem generische Verknüpfung zweier nominaler Prädikate innerhalb einer NP aufzufassen. Vgl. hierzu noch unten Abschnitt 4.

Daniel Jacob

38 2.3. Die inalienability fallacy

Die bis heute erfolgreichste Differenzierung, um dem Problem der 'Possession' näher zu kommen, ist die Unterscheidung zwischen alienabler und inalienabler Possession. Diese Unterscheidung beruht auf der Feststellung, dass Bezeichnungen für Verwandtschaft, für Körperteile, für Gegenstände des persönlichen Gebrauchs im Rahmen possessiver Konstruktionen oft syntaktisch oder morphologisch besonders behandelt werden gegenüber den eigentlichen „Besitzverhältnissen". Vor allem die unter (lg-1) gegebenen Konstruktionen, ganz besonders die possessor deletion und die possessor promotion gelten als typische Ausdrucksmittel für 'inalienable Possession': (12) (13)

Ce feu m'a chauffé Je corps, Pierre ouvre les veux.

vs. vs.

Ce feu a chauffé ma maison. Pierre ouvre son cartable.

Die offensichtlichen Unterschiede, die hierbei zwischen den einzelnen Sprachen herrschen (vgl. pg. a este carro avariaram os travöes vs. les freins de cette voiture sont tombés en panne), sind ein Grund dafür, diese Opposition zu relativieren: dies geschieht zum einen durch Ansetzen eines skalaren (z.B. Seiler 1983)9 oder prototypischen (Haiman 1985: 130ff.; Velázquez Castillo 1996: 3Iff., Heine 1997: § 1.3) Begriffs bzw. einer implicational hierarchy10, in der die Grenzziehung zwischen „Alienabilität" und „Inalienabilität" von Sprache zu Sprache anders verlaufen kann; vor allem aber hat man abstraktere, weniger ontologie-verdächtigen Formulierungen der Opposition vorgeschlagen, wie die sphère personnelle von Bally (1926) oder den Intimitäts- bzw. dem Inhärenzgrad des possessiven Verhältnisses (Seiler 1983, bes. 5; vgl. auch Spanoghe 1995: 39f.), wodurch die Unterscheidung auch einen quantitativen Aspekt bekommt. Zur Erklärung der in Frage stehenden Konstruktionen (lg-1) insistiert jedoch auch diese Deutung m.E. zu sehr auf dem apriorischen Verhältnis, das zwischen den Referenten des 'Possessor'- und des 'Possessum'-Ausdrucks auf ontologischer Ebene besteht. Dass die apriorische Beziehung zwischen den beiden Referenten bestenfalls Korrelat, nicht aber Auslöser der gewählten Form ist, demonstrieren die folgenden Beispiele: (14) Le ha insultado la madre, vs. (15) a. os filhos ficam-me doentes b. * os filhos estäo-me doentes c. * os filhos recuperam-me

* Le ha encontrado la madre ayer en el café.

In diesen Beispielen ist es nicht die Relation zwischen 'Possessor' und 'Possessum', sondern die Verbsemantik, die über die Verwendung der 'alienablen' oder 'inalienablen' Konstruktion entscheidet".

9

Ähnlich Heine 1997: 33ff, der mehrere unterschiedliche „possessive notions" sieht, die in einer Matrix durch mehrere „prototypical properties" (Belebtheit, Zeitablauf etc.) parametrisiert sind

,o

(39)

·

ZB. Nichols 1988: 572 (kin-terms / body parts > part-whole / spatial relations > culturally basic possessed items)·, ähnlich Payne / Barshi 1999: 14. Zu den Problemen solcher Hierarchien vgl. Chappell / McGregor 1996: 8f. " Zur genaueren Analyse der hier relevanten semanto-syntaktischen Einflussfaktoren (Stativität, Wertung des verbal ausgedrückten Prozesses, restriktives oder explikatives Attribut beim Possessum etc.) vgl. Jacob 1993; Spanoghe 1995; Haspelmath / König 1998.

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39

Auch wenn in Fällen wie (14) und (15) die Wahl des Ausdrucksmittels durch die Verbwahl zwingend vorgegeben ist, könnte man hier trotzdem noch so argumentieren, dass die unterschiedliche Verbwahl j a auch eine unterschiedliche Konzeptualisierung des Possessionsverhältnisses zwischen Possessor- und Possessum-Referent und damit auch unterschiedliche Intimität impliziere. In dem folgenden Beispiel jedoch haben wir den Fall, dass die Verbwahl bezüglich der beiden wichtigsten Konstruktionen, denen üblicherweise Ί η alienabilität' unterstellt wird (nämlich der possessor deletion und der possessor promotion), nicht nur unterschiedliche, sondern genau gegenläufige Selektion provoziert: (16)

a l . Jean lève le menton, vi. a2. * Jean se lève le menton, b l . * Jean rase le menton.vs. b2. Jean se rase le menton.

Diese Konstellation scheint mir zu beweisen, dass die Wahl der einen oder der anderen Konstruktion nicht von dem ontologischen oder auch nur dem konzeptuell in den Satz eingebrachten Grad der Intimität oder Alienabilität des Verhältnisses zwischen den beiden Referenten abhängt, sondern von anderen Faktoren, die im folgenden noch zu klären sind 12 . Auch wenn unbestritten ist, dass semantische Relationen oder Referentengruppen wie VERWANDTSCHAFT,

KÖRPERTEILE, TEIL-GANZES-BEZIEHUNG, GEGENSTÄNDE DES

PERSÖNLI-

sprachtypologisch relevante Kategorien darstellen und dass die entsprechenden Skalen oder Hierarchien somit für die Sprachtypologie von zentraler Bedeutung sind, muss festgehalten werden, dass sie für die in den SAE Sprachen zur Debatte stehenden, unter (1) aufgeführten Konstruktionen keinen unmittelbaren Erklärungsansatz liefern, sondern mit diesen nur über andere Faktoren korreliert sind, die es zu eruieren gilt. CHEN GEBRAUCHS

3. Drei F u n k t i o n s b e r e i c h e ' P o s s e s s i v e r K o n s t r u k t i o n e n '

Im Folgenden sollen in semasiologischer Perspektive drei grundlegende Funktionsbereiche ausgewiesen werden, auf denen die in (1) aufgeführten 'possessiven Konstruktionen', und insbesondere die in den Abschnitten 1. u. 2. gegebenen Beispiele operieren. Man wird sehen, dass alle drei Funktionsbereiche in der Literatur über Possessivität oder über einzelne der oben aufgeführten Konstruktionen schon diskutiert worden sind, dass aber eine umfassende und systematische Rückführung der 'Possession' auf diese drei Funktionsbereiche (um nicht zu sagen eine 'rationale Rekonstuktion' des Begriffs 'Possession') und damit auch die Schaffung einer Grundlage für eine onomasiologische Analyse dieses Problemkomplexes noch nicht geleistet worden ist. Begriffliche Konzepte wie B E S I T Z , E I G E N T U M , 13 V E R F Ü G U N G werden im Folgenden allenfalls eine marginale Rolle spielen .

12

13

Nur angedeutet sei, dass ich das Dativpronomen hier nicht als Ausdruck eines BESITZERS, sondern als eine von dem verbal ausgedrückten Vorgang betroffene Person (EXPERIENCER) ansehe (vgl. auch Blake 1984: 451: „If you hit my hand, you affect me"; Spanoghe 1995, bes. 229f.). Nur so lässt sich die in diesen Beispielen evidente Affinität bzw. Bindung der Konstruktion an ganz bestimmte, in Anm. 11 angedeutete Eigenschaften des Verbs erklären (vgl. Jacob 1993). Vgl. Weinrich (1969: 73): „Mit «Besitz» oder ähnlichen nichtlinguistischen Kategorien ist der Linguistik bei der Erklärung der «besitzanzeigenden Fürwörter» nicht gedient."; Meillet (1923:

Daniel Jacob

40 3.1. Sättigung nominaler Valenz

Wenn oben der Seilersche Begriff der 'Inhärenz' als Qualität der auszudrückenden Relation - und deren Verknüpfung mit dem 'Intimitätsgrad' - in Frage gestellt wurde, so gilt dies nicht für die syntaktisch-semantische Bestimmung, die Seiler der Inhärenz gegeben hat und die in der Tat ein Schlüssel zur Funktionsweise possessiver Konstruktionen ist 14 . Zentral ist hierbei die Unterscheidung zwischen absoluten und relationalen Substantiven: „A relational noun opens a position for another nominal in a way comparable to a verb that opens positions or places for arguments" (Seiler 1983: 11, vgl. auch Fillmore 1968: 61). Ein suggestives Beispiel für relationale Nomina sind die Verwandtschaftsbezeichnungen: die Tochter ist immer die Tochter von jemandem, die Mutter immer die Mutter von jemandem. Die Leistung dieser Lexeme liegt also nicht nur in der Referenz auf eine bestimmte Person, sondern vor allem in der Benennung der Relation, die diese Person mit einer anderen (nämlich dem 'Possessor') verbindet. In einem Ausdruck wie meine Tochter steckt die R e l a t i o n a l s t und die Benennung der Relation, die zwischen den beiden Referenten besteht, ausschließlich in der Bedeutung des Substantivs Tochter. Die Leistung des Possessivartikels besteht primär in dem Anschluss eines Referenten an die durch die Relation eröffnete Leerstelle. Wie Seiler bemerkt, entspricht diese Konstellation genau der Konstellation eines Verbs mit seinen Aktanten: Auch in einem Ausdruck wie Peter liebt Haferbrei sind die relationalen Bedeutungselemente (nämlich die semantischen Rollen der Aktanten) j a Bedeutungselemente des Verballexems, während die syntaktischen Aktantenausdrücke und deren morphosyntaktische Form nur den Anschluss der Referenzterme an diese Rollen leisten 15 . Hieran lassen sich weitergehende Überlegungen zur Relationalität von Substantiven in den uns geläufigen Sprachen anschließen: Wie dargestellt, leisten die Verwandtschaftsbezeichnungen Doppeltes, nämlich neben der Benennung einer Relation auch die Referenz auf eines der Individuen, die in dieser Relation stehen. Es gibt aber auch relationale Substantive, deren Bedeutung eine Individuen-Referenz nicht beinhaltet. Ein Grund kann sein, dass gar keine zweistellige Relation im Spiel ist, sondern ein einfaches Prädikat (Mut, Hunger, Tod...)16. Die 'Possessor'-Stelle bleibt davon unberührt: Auch in diesem Fall hat sie die Aufgabe, die offenstehende Argumentstelle zu besetzen, nur dass es sich eben um die einzige Argumentstelle handelt, die im Spiel ist. Weiterhin gibt es Substantive, die eine zweistellige Relation beinhalten, aber beide Argumentstellen offen lassen (Ehe, Einfluss, Abstand). Der 'Possessor'-Ausdruck besetzt hierbei jeweils eine Argumentstelle, während die andere unbesetzt bleibt oder aber mit einer Präposition anschließbar ist (meine Ehe mit x, mein Einfluss aufy, mein Abstand zu z). Die an-

14

15 16

9): „Pareil verbe «avoir» marque parfois, dans une certaine mesure, la possession" (Hervorhebung D.J.). „Inherent POSSESSION means that the possessive relationship is inherently given in one of the two terms involved, that's to say the POSSESSUM: The POSSESSUM contains reference to the POSSESSOR" (Seiler 1983: 5). In der Tat sehe ich bei Seiler ein gewisses Oszillieren in der Frage ob die Opposition 'established' / 'inherent' sich auf die sprachliche Operation bezieht oder auf eine darzustellende Eigenschaft der bezeichneten Relation. Vgl. auch Kirchmeier-Andersen / Schesler 1998. Die Frage der Hypostasierung solcher Prädikate zu Referenzausdrücken (bis hin zu allegorischen Personalisierungen), die sich durch den nominalen Charakter der Formen ergibt, kann hier nicht diskutiert werden.

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Onomasiologie

41

gemessene Präpositionalform wird dabei von dem relationalen Nominallexem selektiert oder „regiert", ganz wie Verballexeme die Form ihrer Aktanten regieren. Die Fähigkeit der 'possessiven Konstruktionen', Valenzen zu sättigen, kommt natürlich auch zum Tragen, wenn es sich bei den Nomina um Derivationen aus anderen Wortarten handelt. Dann nämlich dient die 'possessive Konstruktion' dazu, eine der Positionen zu füllen, die das jeweilige Lexem in der Ausgangswortklasse eröffnet (vgl. Seiler 1999: 165ff.; Koptjevskaja-Tamm 1993). Bei einstelligen Adjektiven geht im Fall der Nominalisierung die Position des Bezugsnomens an den 'Possessor' über: Peter ist groß / der große Peter > Peters Größe. Genauso bei relationalen Adjektiven: Während auch hier der 'Possessor' die Rolle des Bezugsnomens der adjektivischen Ausgangskonstruktion übernimmt, gilt hier wiederum, dass die zweite eröffnete Argumentstelle mittels einer Präposition anzuschließen ist, die von dem Adjektivlexem regiert wird: Peter ist Hans überlegen > Peters Überlegenheit über Hans; Das Haus ist dem Fluss nahe > die Nähe des Hauses zum Fluss). Bei der Nominalisierung einstelliger Verben übernimmt der 'Possessor' ganz natürlich die Funktion des Subjekts der Ausgangskonstruktion (Peter kommt an > Peters Ankunft). Bei der Nominalisierung mehrstelliger Verben entsteht die geläufige Alternative genitivus objectivus / genitivus subjectivus, also die Entscheidung darüber, welcher der Verbalaktanten in die 'Possessor'-Position rückt, eine Unterscheidung, die nicht nur den Genitiv, sondern auch andere 'possessive' Ausdrücke betrifft17. Auch hier gilt wieder, dass die übrigen offenen Positionen mit Hilfe von adnominalen Präpositionalausdrücken gefüllt werden, wobei die Präpositionen teilweise durch die Verballexeme, teilweise durch grammatische Diatheseregeln selektiert werden18. Zusammengefasst ergibt sich folgende Klassifikation relationaler Substantive: 1-stelliges Prädikat: Freude, Mut, Hunger, Tod, Charme, Diskurs, Rolle... nominalisierte Adjektive: Größe, Geschwindigkeit... nominalisierte intransitive Verben: Bedeutung, Ankunft, Abstieg... 2-stelliges Prädikat: Ehe, Abstand, Einfluss, Streit, Sympathie,... nominalisierte relationale Adjektive: Überlegenheit, Nähe ... nominalisierte transitive Verben: Untersuchung, Liebe, Zerstörung, Kenntnis... 2-stelliges Prädikat + Referenz auf ein Argument: Nachbar, Feind, Mutter, Seite, Ende, Anlass, Effekt...

Bei solchen Substantiven von 'Possessum' zu sprechen, wenn sie in einer der in (1) aufgeführten Konstruktionen erscheinen, ist am ehesten noch für die letzte Gruppe gerechtfertigt, wo ja zumindest ein Referenzausdruck impliziert ist. Es ist aber noch einmal zu betonen, dass die semantische Relation, die diesen Ausdrücken zugrunde liegt, auch in diesen Fällen nicht von der 'Possessiven Konstruktion' sondern vom Nominallexem des sogenannten 'Possessums' transportiert wird. Die Beziehungen zwischen Verbalaktanz und 'Possession' äußern sich typologisch nicht nur, wie gesehen, in der häufig konstatierten transformativen Beziehung zwischen ad-ver17

18

Der Dozent bildet die Studenten aus > die Ausbildung der Studenten; ihre Ausbildung; die Studenten haben / erhalten eine Ausbildung; die studentische Ausbildung. Der Arzt untersucht den Patienten > die Untersuchung des Arztes / des Patienten, der Patient erhält (Ider Arzt hat) eine Untersuchung; die ärztliche Untersuchung. Der Arzt untersucht die Studenten > die Untersuchung des Arztes an den Studenten / die Untersuchung der Studenten durch den Arzt. Peter übergibt Hans das Buch > die Übergabe des Buches durch Peter an Hans.

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balen Aktantenpositionen und 'Possessor'-Ausdrücken, sondern in einer typologischen Tendenz zur morphologischen Identität (z.B. der Identität von Objektspronomen und Possessivadjektiv, vgl. Seiler 1999). Solche Nähe zwischen Aktanten und 'Possessor' ergibt sich zwangsläufig, wenn ein relationales Prädikat nicht explizit als finîtes Verb, sondern als Substantiv codiert ist oder wenn eine klare Wortklassenunterscheidung zwischen verbalen und nominalen Prädikaten nicht gegeben ist. Es stellt sich dann in systematischer Weise die Frage, ob besondere Affinitäten zwischen der 'Possessor'-Position und bestimmten syntaktischen Aktantenpositionen (S, DO, 10) aufgestellt werden können 19 .

3.2. Ausweisung von Referenzbereichen Die unter 3.1. analysierte Funktionsweise 'possessiver Konstruktionen' ist natürlich nur bei relationalen Nomina gegeben. Andere Verwendungsweisen (wie etwa in den Beispielen (3) oder (6)) lassen sich eher greifen mit der Funktionsbeschreibung, die R. Langacker (1991: 338) für die 'possessiven Konstruktionen' gegeben hat: „What all possessives share, I believe, is that one entity (the 'possessor') is used as a reference point (R) for purposes of establishing mental contact with another, the target (T)". In Jacob (1993) habe ich mich um eine weniger kognitivistisch und mehr referenzsemantisch gehaltene Formulierung dieser Funktionsbeschreibung bemüht. Eine ähnliche Idee ist, mit Blick auf den Possessivartikel, bereits bei Weinrich (1969: 73) formuliert: „[...] das Possessivpronomen 'mein' weist den Hörer an, für das Artikulat [...] die spezifische Determination der Vorinformation bei dem Personalpronomen 'ich' und seinen Varianten zu suchen". Gängige Referenztheorien (z.B. Strawson 1972; Hawkins 1978; Fauconnier 1984) gehen davon aus, dass identifizierende Referenz, die nicht deiktisch oder mit Eigennamen operiert (d.h. Referenz mit dem defmiten Artikel), immer den Bezug auf einen anderen identifizierten Referenten voraussetzt 20 . So beruht in einem Satz wie ( 17)

Dans un bon restaurant, le garçon vous apporte la carte sans vous faire attendre.

die definite R e f e r e n z v o n le garçon

u n d ¡a carte auf d e m A u s d r u c k dans un bon

restaurant.

Der Ausdruck restaurant eröffnet also einen Referenzbereich, in dem der Referenzprozess für garçon und carte stattfindet. Noch nicht umfassend geklärt ist, wie solche referenziellen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Referenztermen oberflächensyntaktisch markiert werden 21 . Das Beispiel (17) scheint zu zeigen, dass die thematische Voranstellung des Nominalausdrucks un bon restaurant die nachfolgenden Referenzterme in dessen Skopus setzt. Die Nachstellung des gleichen Ausdrucks würde den Satz wesentlich problematischer machen bzw. eine völlig unabhängige Referenz von le garçon bewirken:

19

20

21

Seiler 1999 sieht den genitivus objectivus (also die Beförderung des DO zum 'Possessor' bei nominalisiertem Verbausdruck) als die natürlichere Konstellation gegenüber dem genitivus subjectivus an (Vgl. 166). Zu Gründen hierfür vgl. auch Jacob im Druck b. Hawkins spricht von trigger, Fauconnier von introducteur. Zu Unterschieden und Problemen dieser Theorien vgl. Jacob 1992. U.a. kann in Zweifel gezogen werden, dass der Referenzterm, auf den ein identifizierender Referenzterm aufbaut, selbst identifizierend sein muss. Einer der bekanntesten Ansätze hierzu war der Versuch von Montague 1973, die gegenseitige Dependenz referenzieller („quantifizierender") Ausdrücke mit einer syntaktischen Hierarchie zu korrelieren.

'Possession ' zwischen Semasiologie (18)

und

Onomasiologie

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? Le garçon vous apporte la carte dans un bon restaurant sans vous faire attendre.

Hingegen erlaubt die Setzung einer 'possessiven Konstruktion' wieder eine einwandfreie Bezugsetzung von le garçon auf un bon restaurant: (19)

Le garçon d'un bon restaurant vous apporte la carte sans vous faire attendre.

Neben der Thema-Hierarchie scheinen also der Genitiv und die Possessivartikel / -adjektive eine zentrale Rolle bei der Klärung solcher referenziellen Abhängigkeiten zu spielen. Anders gesagt: Eine Funktion dieser Formen ist es, durch den 'Possessor'-Ausdruck einen Referenten zu benennen, der die Basis für die Referenzierung eines anderen Nominalausdrucks (nämlich das 'Possessum') darstellt. So erklären sich die Verwendungen aus Beispiel (3) (,mon plat préféré / mon premier 14 juillet / meine erste Sonnenfinsternis): Der Possessivartikel benennt jeweils eine Person, in deren Kontext die Superlative préféré, premier, erste erst ihren eindeutig identifizierenden Effekt entwickeln können ('in Bezug auf mich die erste Sonnenfinsternis'). Die Beispiele (17>—(19) zeigen auch die besondere Rolle, die in diesem Zusammenhang den sogenannten Frames (vgl. Schänk / Abelson 1977; Quaderni di semantica (1985 / 86)), d.h. festgefiigten Vorstellungsschemata über bestimmte Sachzusammenhänge zukommt. Zusammengehörigkeit in einem Frame ist ein besonders geeignetes Mittel zur Referenzsicherung. In dem Satz 22 (20)

Jean, sa mobylette, il y a les freins qui déconnent.

basiert die definite Referenz les freins auf dem thematisierend vorangestellten sa mobylette, unterstützt durch den Frame MOFA, in dem die Bremsen vorgesehen sind. Die definite Referenz sa mobylette basiert auf Jean. Da hier kein Frame die Beziehung unterstützt, muss dieser Zusammenhang durch den expliziten Possessivartikel sa hergestellt werden. Der Nominalausdruck, auf dem ein anderer Referenzterm beruht, benennt also sehr häufig einen Frame (restaurant) oder einen Referenten, der für einen Frame zentral ist: So bildet ein Personenausdruck das Zentrum eines Frames, der sich aus all den Dingen konstituiert, die man einer Person in einer Kultur üblicherweise zuordnet. Hier erweist sich, dass Ballys sphère personnelle bzw. die verschiedenen Fälle von 'inalienabler Possession' (nämlich die Körperteilbezeichungen und die persönlichen Gegenstände) nichts weiter sind als Elemente eines privilegierten Frames, der sich um eine Personenbezeichnung herumgruppiert 23 . Es ist kein Zufall, dass die meisten in den europäischen Sprachen der 'inalienablen Possession' zugeordneten syntaktischen Konstruktionen (1 g-1) sich gerade durch die Absenz 'possessiver' Morpheme auszeichnen. Aus meiner Sicht handelt es sich um normale Fälle von frame-gesteuerter Referenz, in denen nicht die Benennung einer 'possessiven' Relation ausgefallen ('deleted') oder transformiert (z.B. 'promoted') ist, sondern in denen, auf Grund der frame-bedingten referenziellen Eindeutigkeiten, überhaupt kein An-

22 23

Zitiert von A. Grésillon in einem anderen Zusammenhang, vgl. Jacob 1993: 145. Auch die Verwandtschaftsbezeichnungen, die ja als relationale Nomina primär unter die Funktion 1 fallen, gehören in einem weiten Sinne einem anthropologisch zentralen Frame an, der sich um eine Personenbezeichnung organisiert. Umgekehrt sind im Bereich der Teil-Ganzes-Beziehung auch eine Reihe relationaler Ausdrücke zu finden. Hier ergibt sich also ein gewisses Ineinanderfließen der Verwendungstypen 1 und 2

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lass für den Gebrauch referenzsichernder Mittel wie des Genitivs oder der Possessivartikel besteht (vgl. dazu eingehend Jacob 1993). Schließlich sind auch die häufig unter 'inalienable Possession' subsumierten 'TeilGanzes-Beziehungen' als spezielle Fälle von Frame-Beziehungen zu verstehen, die die Verwendung von 'Possessiva' als referenzsichemden Verknüpfungen unnötig machen.

3.3. Semantische Relation In den beiden dargestellten Funktionsweisen erscheinen die unter (1) aufgelisteten Ausdrucksformen weniger als bedeutungstragende Sprachformen denn als syntaktische Operationen, denen auch auf der funktionalen Ebene eher syntagmatische Operationen entsprechen als konkret benennbare Bedeutungen. Es kann jedoch nicht abgestritten werden, dass es prominente Verwendungsweisen der in (1) ausgewiesenen Konstruktionen gibt, in denen tatsächlich eine semantische relationale Konstante im Spiel ist, die durch die 'possessive Konstruktion' eingebracht wird, somit als deren Bedeutung anzusehen ist. Dazu sei das Ausgangsbeispiel la sua Lucia noch einmal bemüht. Da das 'Possessum' Lucia weder ein relationales Substantiv ist, noch, als Eigenname, der referenziellen Abstützung bedarf, kann die Rolle des Possessivadjektivs nur die sein, eine semantische Relation zu bezeichnen, die zwischen den beiden Referenztermen / 'innominato und Lucia „etabliert" wird Es stellt sich also die Aufgabe, eine semantische Konstante zu definieren, die generisch genug und gleichzeitig konkret genug ist, um die intuitive semantische Gemeinsamkeit der verbleibenden Verwendungsweisen zu greifen, die somit als die gemeinsame Bedeutungskomponente aller semantisch operierenden Fälle 'possessiver Konstruktionen' aufgefasst werden kann. Eine solche Konstante ist bereits von der 'Kasusgrammatik' in der Folge Filimores (1968) formuliert worden. Fillmore hat dabei einen alten Topos aus der typologisch-vergleichenden Sprachwissenschaft aufgegriffen: das quasi-transformative24 Verhältnis zwischen dem Verb haben und dem Dativ (ich habe ein Buch - mir ist ein Buch, ich habe kalt - mir ist kalt usw.), zumeist behandelt in einer typologischen Perspektive, die die Sprachen danach klassifizierte, ob sie zum Ausdruck der Possession sein oder haben verwenden 25 . Für die Kasusgrammatik liegt die Gemeinsamkeit zwischen dem Dativ und dem Verb haben allerdings nicht in der Besitzrelation, sondern in einer bestimmten semantischen Kasusrolle. Dabei wird das Verb haben als dasjenige Verb angesehen, das, bei ansonsten ganz generischer, unspezifischer Bedeutung, die Aufgabe hat, eine ganz bestimmte semantische Aktantenrolle an der Subjektstelle zu codieren 26 (DATIVE bei Fillmore 1968,

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25

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01/así-transformativ, weil, wie gesehen (vgl. auch noch unten) die gegenseitige Paraphrasierbarkeit sprachintern-synchronisch nie durchgängig ist: Nicht alles, was man mit dem Dativ ausdrücken kann, kann man auch mit haben ausdrücken und umgekehrt. So lässt sich dt. ich habe nötig nicht mit mir ist nötig paraphrasieren (vgl. aber frz. j'ai besoin vs. il me faut); dt. er gefällt mir entspricht nicht ich habe sein Gefallen. Für eine generativistische Darstellung der Äquvalenzen zwischen haben und der Kombination sein + Dativ vgl. Guéron 1998. Vgl. u.v.a. Havers 1911; Meillet 1923; Vendryes 1937; Van Ginneken 1939 / 1972; Benveniste 1960 / 1966; Isaôenko 1974; Givón 1984: 103; Manoliu-Manea 1985: Abschnitte 3.2.; 6.2.-6.4.; Drossard 1991. Vgl. u.v.a. Fillmore (1968: 47); in der Folge u.a. Manoliu-Manea (1985: Abschnitte 3.2, 6.2-4); Barnes 1980; vgl. auch Heger (1976, bes. 140, Modell 17a); Jacob (1991: 171ff„ bes. 175f.). Fill-

'Possession ' zwischen Semasiologie und

Onomasiologie

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bei Heger 1976). Wichtig ist, dass es sich dabei um eine der drei zentralen Rollen, der 'top three' (Givón 1984: 87) des semantischen Rolleninventars handelt. Damit ist haben der abstrakteste Repräsentant, quasi verbum vicarium27 für einen ganz bestimmten Verbtyp, der durch einen von mehreren grundlegenden Kasusrahmen bestimmt ist. D.h., haben steht, vergleichbar den Verben sein und tun, für ein in unseren Sprachen grundlegendes oberflächensyntaktisches Realisierungsmuster einer ebenso grundlegenden rollensemantischen Kategorie (Subjekt = D A T I V E / E X P E R I E N C E R / B E N E F I Z I E N T ) 2 8 . Es kann hier nicht die Problematik und Methodik der Definition einer solchen semantischen Kasusrolle diskutiert werden (vgl. u.v.a. Koch 1981; Jacob 1991, im Druck a). Vielleicht ist die Rolle am besten bestimmt als die eines B E T R O F F E N E N , d.h. eines Aktanten, der hoch-individuiert und hoch personalisiert ist (im Sinne der Individuiertheits- / Belebtheitsskala nach Silverstein 1976 u.a.), der aber mittelbarer in den Prozess involviert ist als der in den allermeisten Fällen ebenfalls vorhandene - P A T I E N S . Unter diese generische Definition der dritten von „three major case roles" lassen sich nun spezifischere Relationen subsumieren (vgl. Jacob 1991): die W A H R N E H M U N G , die B E T R O F F E N H E I T V O N M O D A L I T Ä T , der BESITZ (von Heger 1976, Modell 17a, extrem generisch interpretiert als die 'Betroffenheit von der Existenz eines anderen Referenten') usw. In all diesen Bedeutungsbereichen spielen der Dativ und das Verb haben eine zentrale Rolle. Besitzanzeigende Verben und verba sentiendi sind sehr häufig mit Hilfe des Verbs haben paraphrasierbar; viele Verben setzen den entsprechenden Aktanten an die Position des Dativaktanten oder Indirekten Objekts (vgl. Jacob 1991). Die offene Liste der unter (ld) aufgeführten 'Verfügungsverben' kombiniert die Betroffenenfunktion jeweils auf lexikalischem Wege mit weiteren Bedeutungselementen. Gleiches gilt für die offene Liste der Wahrnehmungsverben. FINALFUNKTION

Die relationale Bedeutungskonstante, die 'possessiven Ausdrücken' wie dem Dativ, dem Verb haben und den 'Verfügungsverben' gemeinsam ist (und die diese Formen auch für den

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28

more (1968: 47) führt aus: „The general position I am taking on the verb have is that in ν e r b l e s s sentences (that is, when the V constituent is present but l e x i c a l l y e m p t y have is obligatorily inserted just in case the subject is an NP which is not from the case O. The most obvious case is that of the empty verb in the frame [ O + D], a context which in English requires D to be the subject, resulting in the typical have sentences." [Sperrung von mir; Ό ' und 'D' stehen in diesem Zitat für die semantischen Rollen OBJECTIVE bzw. DATIVE], Auch hier setze ich ein einschränkendes 'quasi', weil haben nicht wirklich alle Verben paraphrasierend ersetzen kann, deren Kasusrahmen es repräsentiert. Es ist nur einfach der generischste Vertreter der Verben, die an Subjektstelle keinen Agens oder Patiens, sondern eben einen DATIVE oder BETROFFENEN (s.u.) führen. Es ist also nicht wirklich verbum vicarium in dem operationalen Sinne, in dem z.B. Koch 1981 die verba vicaria als Aufïindungsprozedur verwendet, sondern „verbe de référence" im Sinne Kochs. Die Ersetzbarkeit ist vor allem durch die stative Aktionsart von haben eingeschränkt, die den Austausch bei nicht-statischen Prozessen verbietet. Nicht umsonst sind im Engl, und Dt. die Verben to get und bekommen ebenfalls sehr zentrale Verben mit diathetischen Funktionen, während in den romanischen Sprachen, wo haben ja auch ingressive Bedeutung haben kann, keine ingressiven 'Besitz'-Verben in dieser zentralen Funktion existieren. In anderer Terminologie würde man von Partizipationssystemen sprechen. Die zentralen Grundmuster unserer akkusativischen Sprachen sind: Subj.=PATLENS (wie in sterben, schlafen)·, S=AGENS - DO=PATIENS (wie in töten, tragen); S = A G - D O = P A T - IO=EXP/BEN (wie in geben, sagen, zeigen); S=EXP/BEN - D O = P A T (wie in hören, lieben, wissen, bekommen) (vgl. hierzu Jacob 199i:171ff., bes. 175f.). Das Vicarverb tun steht für die Konstellation S=AG, das Verb sein für die Typen S=PAT, das Verb haben für den Typ S=EXP/BEN.

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Ausdruck von Modalität und Wahrnehmung prädestiniert, vgl. Jacob 1998), wäre also zu paraphrasieren als 'mittelbare, nicht agentivische BETROFFENHEIT'. Im Sinne einer solchen relationalen Bedeutungskonstante lassen sich die verbleibenden der in den Abschnitten 1. u. 2. aufgeführten Verwendungsformen 'possessiver Konstruktionen' deuten (z.B. lc,d,e,f; 4a,c; 6e). Schließlich lassen sich auch die beiden sensi così diversi von sua aus dem Manzoni-Zitat, nämlich die 'Verfügungsgewalt' und die 'Affektion' hier subsumieren, die sich somit in der Bandbreite möglicher Funktionsweisen des Possessivadjektivs in unmittelbarer Nachbarschaft befinden.

4. Fazit: W a s ist ' P o s s e s s i o n ' ?

Wie wir gesehen haben, weisen Formen wie der Genitiv, die Possessivmorpheme und das Verb haben jeweils sehr vielfältige Verwendungsweisen auf, die sich auf drei grundlegende Funktionsweisen zurückführen lassen: A. die Sättigung nominaler (im 'Possessum'-Ausdruck angelegter) Valenzen B. die Nennung eines Referenzpunktes oder eines Referenzbereiches als Basis für die Referenz eines anderen Nominalausdrucks C. die Bezeichnung einer relationale Konstante, die für den 'Possessor' 'Belebtheit' und 'mittelbare, nicht-agentivische BETROFFENHEIT von x' impliziert. Auch die übrigen unter (1) aufgeführten 'possessiven Konstruktionen' sind auf diese Funktionen zurückzuführen, bzw. es lässt sich zeigen, dass die intuitive Zuordnung der Formen zum Bereich 'Possession' mit diesen Funktionen zusammenhängt. Ich spreche von 'Funktionsweisen' und nicht von 'Bedeutungen', weil es sich in den Fällen A und Β um semiotisch-strukturelle Operationen handelt, die zwar semantische Relevanz haben; dieser semantische Effekt ist allerdings eher syntagmatischer Natur und nicht verstehbar als eigentliche 'Bedeutung' im Sinne prädikativer oder relationaler Konstanten. Im Fall C wird eine solche Konstante zwar benannt; sie ist allerdings so generisch gefasst, dass sie eher dem Bereich Grammatik (nämlich den Aktantenrollen) als dem Lexikon zuzuordnen ist. Dies entspricht auch dem tendenziell grammatikalischen Charakter des Verbs haben, dem selbst da, wo es nicht auxiliar funktioniert, häufig „Bedeutungsleere", „Kopulacharakter", „rein formale Funktion" usw. zugeschrieben wird29. Insgesamt scheinen mir die ausgewiesenen Funktionen den hochgradig grammatikalischen Charakter 'possessiver Konstruktionen' besser zu rechtfertigen als ein unter semiotisch-kommunikativen Gesichtspunkten doch eher kontingentes begriffliches Konzept wie 'Besitz'. Deshalb würde ich auch Langacker nur bedingt zustimmen, wenn er schreibt: Such considerations have led me to hypothesize that the linguistic category of possession has an abstract basis [...] with respect to which ownership, part/whole, and kinship relations constitute special, prototypical cases. (Langacker 1991: 339)

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VGL. z.B. das Fillmore-Zitat in Anm. 26. Die Gegenposition vertritt Guéron 1998.

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' zwischen

Semasiologie

und

Onomasiologie

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Auch wenn Langacker darin beizupflichten ist, dass VERWANDTSCHAFT, TEIL-GANZES-BEund BESITZ nur Sonderfälle dessen sind, was man als 'Possession' bezeichnet, so kann man nach der von mir gegebenen Funktionsbeschreibung diesen Konzepten keinen prototypischen Status zuweisen. Bestenfalls handelt es sich bei diesen drei Kategorien um die jeweils konkretesten Anwendungsfälle der drei von mir ausgewiesenen Funktionen Α, Β und C, und damit um die Fälle, die der Intuition und auch der metasprachlichen Reflexion jeweils am besten zugänglich sind. Dies macht sie eventuell auch zu privilegierten metaphorischen oder metonymischen Spendern fìir die Grammatikalisierung der von mir angesetzten Funktionen. So ist es unbestritten, dass das Verb haben und seine Äquivalente in anderen Sprachen sich häufig aus der anthropologisch relevanten Kategorie des PHYSISCHEN ZUGRIFFS speisen (vgl. Meillet 1923; Heine 1997: 47ff.). Dies lässt sich aber nicht in dem Sinne verallgemeinern, dass 'possessive' Ausdrücke grundsätzlich bei der semantischen Funktion C ihren Ausgang nähmen, um dann in die abstrakt-syntagmatischen Funktionen A und Β zu wechseln. Andere Quellen, wie die lokale Relation (vgl. frz. à, de, dt. von) oder der Komitativ (vgl. dt. mit) scheinen vielmehr direkt und ohne die semantische Zwischenstufe BESITZ auf die abstrakten Funktionen überzugehen. Schließlich scheint es mir bezeichnend, dass die 'possessiven Konstruktionen' ihre Quellen sehr oft gerade nicht in konkretisierenden Metaphern / Metonymien haben, sondern sich aus ausgesprochen abstrakten Funktionen herleiten lassen, wie Topikalisierung (vgl. die 'Respektivkonstruktion'), Derivationsmorpheme, abstrakte syntaktische Verfahren (vgl. bes. Heine 1997: § 2.1; Koch 1999). ZIEHUNG

Äußerst problematisch erscheint es vor der gegebenen Darstellung, einen „cognitive domain" POSSESSION oder überhaupt einen Gegenstandsbereich 'Possession' zu definieren. Auf der funktionellen Seite haben wir es mit drei voneinander völlig unabhängigen semiotisch-semantischen Aufgaben zu tun, deren Zusammenhang sich überhaupt nur aus der semasiologischen Betrachtung ergeben hat. Jedoch ist der Ausgangspunkt dieser Betrachtung, die unter (1) aufgestellte Liste 'possessiver' Ausdrucksmittel auch nur intuitiv und völlig unmethodisch ermittelt und stellt somit keinen theoretisch angemessenen Ausgangspunkt für eine semasiologische Analyse dar. Da die einzelnen Ausdrucksmittel, sich zudem, wie gesehen, nur sehr unterschiedlich und immer nur teilweise auf die einzelnen Funktionen verteilen, wäre 'Possession' bestenfalls als eine Art Geflecht von Synonymien und Polysemien zu definieren, das nur im Sinne einer Familienähnlichkeit als kontinuierlicher semantischer Bereich zusammenhängt und das nur in einem mehrfachen Wechsel von semasiologischer und onomasiologischer Betrachtung festzulegen wäre. Aus meiner Sicht jedoch ist die folgende Darstellung die angemessenere: Das Gemeinsame an den in (1) unter dem Etikett 'possessive Konstruktionen' versammelten Ausdrucksmitteln ist, dass es sich jeweils um die direkte syntaktische Verknüpfung zweier nominaler Referenzausdrücke handelt 30 . Die drei gegebenen Funktionsbereiche sind die grund30

Vgl. Seiler (1983: 4): „Syntactically speaking, POSSESSION is a relation between nominal and nominal, which is not mediated by a verb". Zu betonen ist aber, dass es um die Verknüpfung von Referenzausdrücken, nicht um die von Nominalkonzepten geht: Letzteres wäre der Fall bei der dt. Nominalkomposition oder beim romanischen Typ der Verknüpfung nicht determinierter Nomina mit den Präpositionen a und de. Hierin unterscheidet sich meine Definition auch von dem in Anm. 8 erwähnten Vorschlag von David Beck, 'Possession' in ein Kontinuum mit modification und attribution zu stellen. Seilers schon erwähnte semantische Definition von Possession als „Relation zwischen zwei Substanzen" unterscheidet sich von der hier gegebenen darin, dass sie wesentlich mehr über den semantischen Effekt der syntaktischen Verknüpfung präjudiziell, in Form einer

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legendsten Funktionen, denen eine solche syntagmatische Kombination von zwei Referenztermen innerhalb einer Nominalphrase dienen kann. Unter den verbalen Ausdrucksmitteln partizipiert allein das Verb haben auf Grund seiner semantischen Entleerung ansatzweise an den Funktionen 1 und 2. Alle anderen aufgezählten Verben (ld) haben eine semantisch-prädikative Bedeutung und sind damit auf die Funktion 3 begrenzt. Dies aber heißt: 'Possession' in dem in der Literatur angenommenen und im Eingangskapitel angedeuteten weiten Sinne gibt es in den SAE-Sprachen nicht. Allenfalls könnte man den Terminus auf den sehr viel engeren Gegenstandsbereich der 'Verfügungsverben' beschränken und sich fragen, inwieweit dieses enge, konkrete, relationale semantische Konzept und seine Ausdrucksmittel eine Rolle als Metaphernspender bei der Grammatikalisierung der drei oben ausgewiesenen Bereiche sprachlicher Funktionalität spielen.

5. Onomasiologische Erwägungen

In den vorhergehenden Abschnitten habe ich bereits versucht zu zeigen, inwieweit die von mir gegebenen Funktionsbeschreibungen die Eigenschaften und Distributionen verschiedener 'possessiver Konstruktionen' erklären können. Im Folgenden möchte ich einige weitere onomasiologische Erwägungen anstellen, sowie einige Möglichkeiten andeuten, die sich aus meinen Funktionsbeschreibungen im Rahmen einer romanistischen Onomasiologie ergeben könnten, allerdings nur in Form von ganz vorläufigen Ausblicken oder Anregungen:

5.1. „Prädikativität": die Verwendbarkeit von haben Unter den in (1) aufgeführten Ausdrucksmitteln gibt es solche, in denen die Verknüpfung der beiden Referenzterme mittels eines Verbs hergestellt wird (lc,d). Seiler (1983) beschreibt dies als unterschiedlichen Grad in der Explizitheit bzw. der Prädikativität der possessiven Relation. Wenn man Prädikation als Zuweisung von Attributen oder Relationen definiert, trifft diese Interpretation sicher auf die unter (ld) angesprochenen 'Verfügungsverben' zu. Erwartungsgemäß sind diese Verben auf den Funktionsbereich C (Bezeichnung einer relationalen Konstante) beschränkt. In den Funktionsbereichen A (Sättigung nominaler Valenz) und Β (Bezugspunkt bei der Referenz) hat die Prädikativität der Verfügungsverben keine Anwendung. Etwas anders liegen die Verhältnisse für das Verb haben: Auch dieses fungiert vornehmlich im Funktionsbereich C. Seine Aufgabe ist vornehmlich diathetischer Art: es dient dazu, den BETROFFENEN an Subjektstelle zu rücken31. Allerdings kann man, wie gesehen, dem Verb haben in manchen Verwendungskontexten einen eigenständigen

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„binary relation" von „bio-kultureller" Natur (Seiler 1993 : 4). Bei Ausdrücken wie Peters Mut kann ich eine solche „binary relation" nicht erkennen. Vgl. Jacob 1991. Auf dieser Funktion beruhen auch die modalen und temporalen Auxiliarfunktionen des Verbs haben, vgl. Jacob 1998 u.ö.

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semantisch-prädikativen Wert absprechen 32 . Auch unter dieser Bedingung aber bringt haben eine Reihe von verbtypischen Eigenschaften mit sich: Es ist spezifizierbar bezüglich Tempus, Modus und Aspekt. Es weist eine eigene Aktionsartspezifizität (nämlich Durativität) auf. Es ist illokutiv spezifizierbar (es kann z.B. als finîtes Verb Träger von 'Assertion' sein). Als finîtes Verb ist haben tendenziell rhematisch bzw. erlaubt auch eine intonatorische oder positioneile rhematisierende Hervorhebung. Schließlich stellt das Verb haben eine Anschlussstelle für Negation (nicht haben) und andere adverbiale Spezifizierungen dar. All dies sind Leistungen, die sich mit den Funktionen A und Β nicht vertragen. Dies ist auch der Grund, warum haben bezüglich dieser Funktionen starke Blockaden hat. Man versuche, etwa die Verwendungen (a-d) des Ausdrucks mon livre (Beispiel (6)) durch haben zu paraphrasieren. Auch Beispiel (7b) (* j'ai le premier 14 juillet) zeigt die Blockade von haben beim Funktionsbereich B. Andererseits scheint Bsp. (7a) (j'ai un plat préféré) zu zeigen, dass die Verwendung von haben auch fìlr diesen Funktionsbereich nicht völlig ausgeschlossen ist. Tatsächlich bekommt der //a6e«-Ausdruck hier eine prädikative Funktion, nämlich die Prädikation von EXISTENZ: Anders als in dem Nominalausdruck le plat préféré de Pierre geht es in dem Satz Pierre a un plat préféré nicht mehr darum, plat préféré durch Verweis auf Pierre in dessen Referenzumfeld zu situieren und damit identifizierbar zu machen, sondern darum, anzuzeigen, dass in dessen Referenzumfeld ein plat préféré existiert 33 . Ähnlich verhält es sich bei relationalen 'Possessum'-Nomina: Ein Satz wie Peter hat einen Nachbarn dient nicht wie in Peters Nachbar dazu, die Leerstelle von Nachbar mit dem Referenzterm Peter zu füllen, sondern die Existenz eines Individuums zu prädizieren, die in dem im 'Possessum' vorgesehenen Relationsverhältnis zu Peter steht. Besonderen Restriktionen unterliegt das Verb haben auch bei der Benennung von Bezügen innerhalb von Frames. Ein Satz wie Dieses Auto hat Räder bedarf sehr enger Kontextbedingungen, um pragmatisch möglich und sinnvoll zu sein. Da Beziehungen innerhalb von Frames bzw. die Existenz der zu einem Frame gehörigen Elemente innerhalb eines instanziierten Frames zu den Gesprächspräsuppositionen gehören, wirkt die Verwendung von haben innerhalb der Frames tautologisch. Keine Tautologie und keine Verwendungssperre besteht hingegen, wenn der Frame selbst zum Thema gemacht wird, etwa bei den Definitionen des Frames (Jedes Auto hat Räder) oder bei der Thematisierung / Infragestellung der Zugehörigkeit eines Elements zu einem Frame bzw. bei der Frage, ob der Fraume in einem bestimmten Einzelfall tatsächlich realisiert ist: Hat dieses Auto überhaupt Räder? Hat das Auto etwa keine Räder? Dies ist ein Auto, denn es hat Räder usw. Ebenfalls kein Problem macht die Verwendung von existenzprädizierendem haben innerhalb eines Frames dann, wenn es um die individuelle Ausprägung der Elemente (gewissermaßen um die Variablenbesetzung) eines instanziierten Frames geht: Dieses Auto hat alte Räder. Genau betrachtet ist es ein kommunikativer Umweg, die spezifische Ausprägung eines bestimmten, im Frame erwarteten Elementes auszudrücken, indem man die EXISTENZ des in bestimmter Weise ausgeprägten Elementes prädiziert. Der direkte, strukturell ikoni-

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Eventuell muss die bekannte Passiv-Unfähigkeit des Verbs haben hierauf zurückgeführt werden: Die Funktionen A und Β sowie die diathetische Funktion von haben im Bereich C geben keinen Anlass und keine Möglichkeit, haben selbst noch einmal einer Diathese zu unterwerfen. Koch ( 1 9 9 9 ) bezeichnet diese Konstellation als 'rhematic possession' und zeigt, dass sich solche Ausdrücke sprachübergreifend zu Ausdrücken nicht-relationaler Existenz (d.h. Existenz unabhängig von einem Referenzbereich) wandeln.

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schere Weg wäre, die Ausprägung des erwarteten Elementes direkt zu beschreiben: Die Räder dieses Autos sind alt. Man sieht jedoch, dass der semantische „Umweg" über die Existenz syntaktisch gesehen sogar ökonomischer ist, weil das Verb haben neben der Existenzprädikation auch die referenzabstützende Funktion Β übernimmt, die im anderen Fall durch einen Genitiv ausgedrückt werden muss. Gewissermaßen eine Kontamination dieser beiden Strategien (Prädikation der Existenz spezifizierter Frame-Elemente und direkte Zuweisung der Spezifikation an die präsupponierten Frame-Elemente) stellt die Standardform des Französischen dar: Cette voiture a les roues vieilles. Diese Konstruktion ist insofern als Enallage, d.h. als ein Fall nicht-ikonischer Syntax anzusehen, als hier die Assertion, die eigentlich das Prädikativum vieilles betrifft, dem Verb haben anhängt, das in diesem Fall nur die Frame-Zugehörigkeit markiert. Es ist kein Zufall, dass manche Sprachen (wie das Spanische oder Portugiesische) gerade an diesem Punkt oszillieren (span, este coche tiene (las) ruedas viejas). Eine weitere Strategie zur Spezifikation von Frame-Elementen stellen schließlich die unter (lk) erwähnten 'Respektiv-Konstruktionen' dar: Hier wird die Spezifikation des Frame-Elementes dem zentralen Begriff des Frames prädiziert, unter Hinzufügung einer hedgeartigen Einschränkung dieses Prädikates auf das Frame-Element: Sylvie est jolie des yeux. Es wäre ein interessantes Untersuchungsthema, zu klären, in welchen Fällen diese Strategie möglich, in welchen blockiert ist (? Cette voiture est vielle aux roues / ? Dieses Auto ist alt an den Rädern / Dieses Auto ist kaputt an den Rädern).

5.2. 'Possession' und definiter Artikel Die Funktion 'possessiver' Ausdrücke im Bereich der nominalen Referenz, bei der die 'possessiven' Elemente eng mit dem definiten Artikel korrespondieren, führt dazu, dass in manchen Fällen die 'possessive Konstruktion' die Funktion des definiten Artikels auf Systemebene als Bedeutungskomponente in sich aufgenommen hat. Sehr signifikant ist hier der sogenannte „sächsische Genitiv" des Deutschen und des Englischen, in dem die 'possessive Konstruktion' den definiten Artikel unnötig macht: Peter 's house; Des Vaters Bücher. Vergleichbares haben wir in den romanischen Sprachen nur da, wo der Genitiv überlebt hat, nämlich beim Relativpronomen des Typs cuius im Spanischen und Portugiesischen: auch hier ersetzt der Genitiv des Relativpronomens den Artikel des Head Nouns {el hombre cuyo coche he visto vs. l'homme dont j'ai vu la voiture). Vor allem aber geht der Artikel bekanntlich in vielen Sprachen im Possessiv-Adjektiv auf, das dadurch zum Possessiv-Artikel wird (frz. ma soeur, sp. mi hermana)3*. Manche Sprachen haben diese Entwicklung vollständig durchgeführt, manche nur teilweise. Es gibt durchaus Unterschiede bei der Möglichkeit, das Possessivum und den Artikel noch zu kombinieren. Im Französischen ist, besonders durch den Verlust eines betonten Possessiv-Adjektivs, die strukturelle Verschmelzung des Possessivums mit dem definiten Artikel sehr weit fortgeschritten. Um die Artikelfunktion und die Funktionen des Possessivums voneinander getrennt auszudrücken, z.B. um das Possessivum und dessen Funktion zu betonen

34

Einher geht mit der funktionellen Amalgamierung die Herausbildung einer „unbetonten", d.h. klitischen Reihe des Possessivums, was eigene interessante Fragen aufwirft.

'Possession ' zwischen Semasiologie und Onomasiologie

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oder insbesondere, um das Possessivum (im Falle der Funktionen A und C) mit dem indefiniten Artikel zu verbinden, muss man auf andere Konstruktionen, etwa die Präpositionalkonstruktion ( 1 f) ausweichen: la/ une soeur à moi/de moi. Etwas gemäßigter ist die Amalgamierung von Possessivum und definitem Artikel im Spanischen, wo es immerhin möglich ist, den Artikel mit dem betonten Possessiv-Adjektiv zu kombinieren (el / un hermano mio). Schließlich gibt es Sprachen, in denen der Zusammenfall zwischen Artikel und Possessivum der Sonderfall geblieben ist (Rum., Standard-Ital., it. Dialekte, Sard., Kat., Pg.; vgl. it. la mia macchina). Die klare Distribution dieser Fälle mit Verwandtschaftsbezeichnungen (insbesondere solchen der nahen Verwandtschaft) und archaischen Anredeformen wird üblicherweise mit der häufig vokativischen Verwendung dieser Ausdrücke begründet, die sich dann auch auf die nicht-vokativischen Verwendungen übertragen haben. Da der Vokativ keinen Artikel erfordert, liegt es nahe, in diesen Fällen nicht eine Amalgamierung mit dem definiten Artikel, sondern Absenz desselben anzunehmen (zumal es in diesen Fällen häufig auch die betonte und nicht die unbetonte Form des Possessivums ist, die auftritt). Zudem würde es nahe liegen, die Funktion des Possessivums in der Anrede bzw. in der Bezeichnung naher Verwandter in der Kategorie C (BETROFFENHEIT des Sprechenden bzw. des Antezedens-Referenten durch Affektion, Verpflichtung usw.) zu suchen. Nun sind es aber im Italienischen bekanntlich gerade die affektiven Formen, die dem Standardschema 'Artikel + Possessivadjektiv' folgen {la mía sorellina, la nostra mamma, il tuo buon padre). Es wäre also zu fragen, ob die besondere, artikellose Verwendung des Possessivums bei Verwandtschaftsbezeichnungen nicht doch eher im Sinne der Funktion A mit der Einsetzung des 'Possessors' (bei der Anrede: des Sprechers) in die nominal ausgedrückte Verwandtschaftsrelation zu erklären ist, die dann für den 'Possessor' auch die Einordnung in die mit der Verwandtschaftsrelation verbundene gegenseitige soziale Situierung - bzw. für den Sprecher die Anerkennung derselben - impliziert. Hierfür würde auch die tendenzielle Begrenzung der Konstruktion auf Bezeichnungen der nahen Verwandtschaft sprechen.

5.3. Ausblick: weitere Fragen im Rahmen einer romanistischen Onomasiologie Nur angedeutet wurde in den Abschnitten 2. und 3.2. die Problematik der unterschiedlichen

Distribution des dativus sympatheticus (possessor promotion, possesseur externe) in den unterschiedlichen Sprachen. In Jacob 1993 wird der possessive Charakter des Dativpronomens in Frage gestellt und dieses als EXPERIENCER des verbal ausgedrückten Prozesses interpretiert. Gestützt wird diese Deutung durch die Distribution der Konstruktion, die auf ganz bestimmte Eigenschaften des Verbalausdrucks begrenzt ist, die in ähnlichen Bereichen liegen wie die Transitivitäts-Parameter im Sinne von Hopper / Thompson (1980). Allerdings gibt es in den verschiedenen romanischen Sprachen und Sprachzuständen durchaus unterschiedliche Distributionen der Konstruktion, wobei insbesondere die Kollokation mit niedrig-transitiven Verben im Sinne v. Hopper / Thompson auffällt: (21) a. rum. i-am väzut profilul. b. rum. ti-a venit fratele. (22) a. pg. sempre gostei tanto de ditaduras, seja quai lhes for a cor... b. pg. näo tivemos opertunidade de observar-lhe os inventos. c. pg. vi-lhe a cara. (23) sp. Once [hijos] le nacieron y once le viven. (C.J. Cela, La colmena, 329)

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(24) a. altsp. e dios le abra el alma. (Poema de Mío Cid fol. 35r, v. 1696) b. altsp. A Mynaya Alvar Fañez bien l'anda el cavallo. (Poema de Mío Cid fol. 17r) Das Dativpronomen erscheint hier tatsächlich als ganz formelles Äquivalent des PossessivArtikels, in den Funktionen A bzw. B. Eventuell hat man es hier mit Ansätzen eines Grammatikalisierungs- bzw. Reanalyse-Prozesses zu tun. Dieses wäre in einer eingehenden, sprachübergreifenden Analyse der Distribution des dativus sympatheticus nach Verblexemen (Transitivität), TMA-Kategorien des Verbs und weiteren Merkmalen zu untersuchen. Schließlich gibt es weitere historische oder aktuelle Tendenzen der Grammatik romanischer Sprachen, die sich auf den ersten Blick zumindest zeitweise entlang der Grenzen der von mir ausgewiesenen drei Funktionen zu bewegen scheinen. So wäre zu untersuchen, ob die engen, fast formelhaften Gebrauchsrestriktionen des sog. juxtapositionellen Genitivs des Altfranzösischen ihre Erklärung in den Funktionen A oder Β finden können. Wiederfinden lassen sich die drei Funktionen auch beim Prozess der Ersetzung des HABERE-Typus durch den TENERE-Typus in den iberoromanischen Sprachen. Beim Prozess des zunehmenden Einrückens von tener auch in abstrakte Verwendungen von haber im Altspanischen sind es die relationalen Nomina, die am längsten bei haber zu bleiben scheinen.

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'Possession ' zwischen Semasiologie und

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Teil 2: Zwischen Onomasiologie und Semasiologie

Andreas Dufter (München) Konzessivität als markierte Kookkurrenz

0. Einleitung

Neben Komplement- und Relativsätzen bilden adverbiale Nebensätze die dritte große Gruppe subordinierter syntaktischer Strukturen. Schon in der traditionellen Grammatik werden im Adverbialsatzbereich eine Reihe semantisch definierter Subtypen unterschieden und die entsprechenden Subordinatoren beispielsweise als 'kausal', 'konditional' oder 'konzessiv' kategorisiert. Diese interpropositionalen Relationen können jedoch auch durch satzverknüpfende Adverbien oder Präpositionen enkodiert werden, wie wir für den konzessiven Nexus anhand von (1) ersehen: (1)

Syntaktische Typen konzessiver Konstruktionen a. fr. Bien qu'il pleuve, Pierre se promène. b. fr. Il pleut. Néanmoins, Pierre se promène. c. fr. Malgré la pluie, Pierre se promène.1

Konzessive Konjunktionen gelten hierbei häufig als „the odd one out" (Kortmann 1997: 208), da sie eine Reihe von Besonderheiten aufweisen: So werden sie von Kindern nach allen anderen Haupttypen adverbialer Subordinatoren erlernt, sind typischerweise morphologisch komplex, weisen jedoch in der Regel transparente Bildungsmuster auf. Monofunktionale konzessive Konnektiva2 finden sich nicht in allen Sprachen der Welt; falls eine Sprache jedoch eine eigene Klasse von Konzessiva aufweist, kann diese recht groß sein.3 Ferner gibt es Hinweise, dass sie im Sprachkontakt besonders häufig entlehnt werden (vgl. Stolz / Stolz 1996: 100). Dieser beachtlichen lexikalischen Dynamik steht jedoch eine bemerkenswerte semasiologische Inflexibilität gegenüber: Im Unterschied zu anderen Typen von Konnektiva können konzessive nämlich in jedem Falle nur wörtlich interpretiert werden (vgl. König 1991b: 632). Im Folgenden werden wir einige typische Explikationsversuche des konzessiven Nexus kurz herausgreifen und eine eigene, stärker auf Sprechersubjektivität eingehende Definition vorschlagen. Im zweiten Teil des Beitrags soll das Verhältnis von Konzessivität und Kausalität im Mittelpunkt stehen, woraufhin wir im dritten Kapitel auf Voraussetzungen für konzessive Lesarten und für die Spezialisierung von Konnektiva auf Konzessivität zu sprechen kommen. Hierbei wird unser onomasiologischer Ausgangspunkt (Welche Mittel stellen die Sprachen zum Ausdruck der Konzessivität bereit?) zunehmend in eine semasiologi1

2

3

Bei konzessiven Präpositionen scheint die regierte NP immer eine Proposition zu enkodieren; scheinbare Ausnahmen wie fr. malgré Pierre lassen sich zu einer (unterbestimmten) Proposition der Art 'trotz einer Eigenschaft P, die auf Pierre zutrifft' erweitern; vgl. Martin 1982:27. Unter dem Begriff der Konnektiva fassen wir Konjunktionen, satzverknüpfende Adverbien und entsprechende Präpositionen mit propositionsdenotierenden NPs zusammen. Handke (1984: 112) spricht sogar von einer „huge number" konzessiver Konnektiva in vielen Sprachen.

Andreas Dufter

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sehe Fragestellung umschlagen: Warum favorisieren manche Propositionsverknüpfungen im Unterschied zu anderen konzessive Lesarten? Was zeichnet Konnektiva aus, die sich im Laufe der Sprachgeschichte auf den Ausdruck von Konzessivität beschränkt haben? Zunächst jedoch wollen wir auf die semantische Charakterisierung unserer zu diskutierenden Relation eingehen.

1. S e m a n t i k u n d P r a g m a t i k k o n z e s s i v e r K o n s t r u k t i o n e n

1.1. Informelle Charakterisierungen 4 Wie lässt sich die Bedeutungsrelation zwischen der Proposition des konzessiven und der seines übergeordneten Bezugssatzes beschreiben? Bisweilen ist man in der Literatur über bloße Paraphrasen nicht hinausgekommen: So erläutert Mitchell (1985: 706) Konzessivität wie folgt: „[...] in a concessive sentence, the truth of the main clause is asserted, despite the proposition contained in the subordinate clause [...]". Eine Explikation der konzessiven Relation, die ein konzessives Konnektiv im Definiens verwendet, ist aber natürlich zirkulär. Andere Definitionsversuche nehmen die Kausalrelation zum Ausgangspunkt: Bereits Burnham ( 1 9 1 1 : 2 ) bestimmt Konzessivität als „blocked or inoperative cause or reason", also als Grand, der sozusagen folgenlos bleibt - wobei wir die schwierige Frage, unter welchen Umständen ein Grund ohne Folge dennoch als Grund angesehen werden kann, wohl den Philosophen zur Klärung überlassen müssen. Ähnlich formuliert aber noch die DUDENGrammatik: „Zwischen zwei Teilsätzen besteht ein Verhältnis des unzureichenden Gegengrundes [...]" 5 - eine Bestimmung, die Hermodsson (1994: 70) mit den Worten „ein wahrhaft rätselhaftes Verhältnis" meiner Ansicht nach treffend kommentiert. Manche Autoren betonen stärker den subjektiven Erwartungshintergrund, besonders deutlich Pötters (1992: 3), der behauptet, dass „[...] im Konzessivsatz [...] der Gedanke des wider Erwarten eintretenden Ereignisses grammatikalisiert" sei. Allerdings würden wir z.B. in ( l a ) wohl eher den Inhalt des Matrixsatzes als unerwartet ansehen, und auch das durch ihn denotierte Ereignis ist nicht per se unerwartet, sondern allein auf Grund der Information, die uns der Adverbialsatz gibt. Die subjektive Tönung des konzessiven Nexus will offenbar auch Eggs (1977: 123) herausstellen, wenn er schreibt: „[...] die Konzessivkonstruktion ist der Ort, an dem unsere Erfahrung, daß Meinungen nicht notwendig, sondern nur meistens und normalerweise wahr sind, grammatikalisiert ist [...]". In (1) wäre wohl die dahinterstehende Erwartung, dass man bei Regen besser nicht spazieren geht. Auch wenn Pierre sich jedoch entgegen unserer Erwartung verhält, bleibt unsere Ansicht über günstige bzw. ungünstige Wetterverhältnisse für Spaziergänge hiervon unberührt: Unsere Meinung ist deswegen nicht weniger 'wahr' - und notwendig sowieso nicht.

4 5

Vgl. auch die ausführlichen Forschungsberichte in Rudolph 1996 und Di Meola 1997. DUDEN ("1984: 695 und identisch 61998: 794).

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Im folgenden Unterabschnitt wenden wir uns einer neueren Explikation zu, welche zwischen einer semantischen und einer im Hintergrund stehenden pragmatischen Ebene trennt und hierdurch ein angemesseneres Bild der konzessiven Relation vermitteln kann. 1.2. Die 'Normalitätstheorie' In seinen wichtigen Arbeiten zu konzessiven Konnektiva hat Ekkehard König neben etymologischen Untersuchungen auch eine Analyse der Verwendungsbedingungen konzessiver Konstruktionen spezifiziert, die wir im Folgenden als 'Normalitätstheorie' der Konzessivität bezeichnen wollen. In diesem Ansatz wird die Semantik von obwohl p, q einfach mit der aussagenlogischen Konjunktion ρ & q identifiziert und als Bedingung dafür, eine konzessive Konstruktion angemessen äußern zu können, zusätzlich gefordert, dass bei Vorliegen des ersten Sachverhaltes ρ der zweite, also q, normalerweise gerade nicht der Fall sein sollte: (2)

Gebrauchsbedingungen für obwohl p, q (König 1991b: 633) Semantik: ρ &q Pragmatik: ρ ' -> normalerweise ', wobei ρ ' und q ' geeignete Generalisierungen von ρ und q darstellen.

Nun ist unschwer zu erkennen, dass wir uns mit der Definition unter (2) eine gewisse Unscharfe einhandeln. So bleibt offen, wie weit Generalisierungen zulässig sind: Schließlich könnte man die konzessivische Hintergrundannahme bei (1) auch ansetzen als 'Normalerweise, wenn schlechtes Wetter ist, geht man nicht nach draußen'. Intuitiv haben wir uns damit jedoch etwas zu weit vorgewagt - doch wo liegt die Grenze, ab wann ist eine Generalisierung nicht mehr „geeignet", die Pragmatik konzessiver Satzgefüge wiederzugeben? Auch Robert Martin (1982) bemängelt, dass die Normalitätstheorie nicht für alle konzessiven Konstruktionen angemessen erscheint: Un commentaire volontiers utilisé consiste à dire: „normalement si p, alors q"; mais cette généralisation [...] serait abusivement étendue à tous les cas de concession. De la phrase II est parti malgré le retour de Sophie, il serait absurde de tirer l'idée généralisante qu'on ne part pas quand quelqu'un revient! (Martin 1982: 31)

Sollte man nicht besser vorsichtiger verfahren und auf die Generalisierungsoption überhaupt verzichten, die Normalitätsbeziehung in (2) also einfach zwischen ρ und q selbst ansetzen? Offensichtlich bestehen aber nicht zwischen allen konzessiv relationierbaren Propositionen solche ¿/e/aw/Mmplikationen, wie wir aus folgendem Beispiel ersehen können: (3)

Konzessive Relationierung bei singulären Sachverhalten Obwohl Tschernobyl schon fast fünfzehn Jahre zurückliegt, leidet die Ukraine immer noch unter den Folgen.

Allenfalls könnte man hier, um Königs Normalitätsansatz zu retten, Tschernobyl als Beispiel eines Katastrophenfalls werten und formulieren: 'Normalerweise, wenn eine Katastrophe fast fünfzehn Jahre zurückliegt, leidet das Gebiet nicht mehr darunter'. Ist dies jedoch wirklich eine gültige Normalitätsbeziehung? Gibt es überhaupt Normalitätsbeziehungen für Katastrophen als den Ausnahmesituationen par excellence? Selbst wenn unser Denken weitgehend analogisch funktionieren und unser kognitiver Apparat immer auf der Suche nach Präzedenzföllen sein sollte, so ist damit noch keineswegs die konzessive Relation in der Sprache beschrieben.

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Noch problematischer erscheint meines Erachtens die Normalfallexplikation aber bei der konzessiven Relationierung von Sachverhalten, die in jedem Falle nicht mehr als Instantiierung bestimmter Sachverhaltsstypen interpretierbar sind. Man vergleiche den folgenden Beleg: (4)

Klassisches Nahuatl (Stolz / Stolz 1996: 101 ) Manel muchin-tin te-teo o-mic-que zannel amo huel ic olin in tonatiuh. 'Obwohl alle Götter gestorben waren, bewegte sich die Sonne trotzdem nicht'

Hier wird vollends deutlich, dass Konzessivität nicht immer auf objektiven Normalitätsbeziehungen, statistischen Korrelationen oder Normen im deontischen Sinne basiert, sondern wesentlich subjektiven Charakter hat. Weniger um Normalitätsbeziehungen als solche geht es also, sondern vielmehr um Annahmen über Kookkurrenzen von Sachverhalten. Ein Sprecher, der obwohl p, q assertiert, legt sich zum einen auf das Zutreffen von ρ wie auch q fest, bringt aber darüber hinaus zum Ausdruck, dass er gerade den gegenteiligen Sachverhalt q erwartet hatte: q ist zwar der Fall, jedoch „unglaublicherweise" angesichts von p. Implikative Annahmen des Typs ρ -> ->q oder ρ -> q scheinen hierbei zumindest in einigen Fällen auch einen anderen Ursprung aufzuweisen: So können z.B. auch religiöse oder moralische Glaubensinhalte den epistemischen Hintergrund für eine konzessive Relationierung liefern. Nicht in allen Fällen gilt also, was Raíble (1997: 46) so formuliert: „In konzessiven Propositionsgefilgen wird [...] eine Erwartung enttäuscht, die man auf Grund seiner Lebenserfahrung hegen durfte." Unter Vermeidung der etwas unscharfen Generalisierungsoption sowie des Rekurses auf „normale Verhältnisse" in (4) können wir alternativ die Gebrauchsbedingungen für konzessive Konstruktionen folgendermaßen ansetzen: (5)

Minimale Gebrauchsbedingungen für obwohl p, q Semantik: ρ &q Pragmatik: Annahme, dass (p —» -•q)

Im folgenden Kapitel werden wir, ausgehend von unserer Explikation der konzessiven Relationierung unter (5), auf das Verhältnis kausaler und konzessiver Ausdrucksstrukturen und Interpretationsmöglichkeiten in Synchronie und Diachronie zu sprechen kommen.

2. Konzessiva und kausale Konnektiva

2.1. Konzessivität als negierte Implikation In der linguistischen Diskussion interpropositionaler Relationen spielt das Verhältnis von Kausalität und Konzessivität eine besondere Rolle. Einige Autoren bestimmen den konzessiven Nexus sogar explizit unter Rekurs auf die Kausalbeziehung; stellvertretend sei der Ansatz von Blumenthal zitiert: Gehen wir aus von dem Satz: bien qu 'il pleuve, je me promène. Dieser Satz kann wie folgt paraphrasiert werden: „es trifft nicht zu, dass der Regen dazu fuhrt, dass ich nicht spazieren gehe." Dies entspricht der aussagenlogischen Formulierung

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(A —>B) [bzw. ~iA - > - B ) ] wobei A = il pleut und Β = je me promène. Bei Weglassen des Negators des Gesamtausdrucks ergibt sich A -> B, was sprachlich wiedergegeben werden kann durch: „puisqu'il (s'il) pleut, (alors) je ne me promène pas." Dieser Kausal- bzw. Konditionalsatz kann natürlich auch als Negation des zitierten Konzessivsatzes dargestellt werden:

(A -> Β) « Α λ ß (A

Β) (Α λ Β)

(Α λ Β) ist die Verneinung von Α λ Β. [...] Diese Formalisierung [...] erlaubt [...], den Konzessivsatz eindeutig als negierte Implikation zu beschreiben. (Blumenthal 1974: 274f.; Hervorhebung im Original)

So schlüssig diese einfache aussagenlogische Ableitung auf den ersten Blick auch scheinen mag, sie birgt dennoch einen entscheidenden Nachteil in sich: Von der angegebenen Paraphrase der Konzessivkonstruktion aus gelangt man nicht nur zu Α & Β, sondern auch von der logischen Konjunktion aus zurück; die Paraphrasebeziehung ist ja per defmitionem symmetrisch. Die Ableitung ist in beide Richtungen möglich! Dies bedeutet aber, dass nach dem Ansatz von Blumenthal jede Konjunktion zweier Propositionen auch in einer Konzessivkonstruktion formulierbar ist - ein Ergebnis, das jeglicher Intuition entgegensteht. Im folgenden Unterabschnitt wollen wir uns einer Analyse zuwenden, welche nicht mehr auf die Aussagen-, sondern auf die Quantorenlogik zunlckgreiñ und ein differenzierteres Bild der Gegensätzlichkeit kausaler und konzessiver Satzverknüpfung entwirft.

2.2. Die Dualitätsauffassung und ihre Probleme Es ist eine der Grundtatsachen der klassischen Prädikatenlogik, dass sich die beiden Standardquantoren, nämlich der All- und der Existenzquantor (üblicherweise symbolisiert durch 'V' bzw. 'Ξ'), wechselseitig durch den jeweils anderen Ausdruck definieren lassen: So gilt einerseits Vx φ[χ] = ^3χ^φ[χ], andererseits jedoch auch Ξχ φ[χ] = ^Vx-^pfx], Die rechts stehende Formel geht also jeweils aus der linken durch Hinzusetzen einer außerhalb des Quantorenskopus stehenden und einer inneren, unmittelbar vor die quantifizierte Teilformel φ tretenden Negation sowie durch die Vertauschung von All- und Existenzquantor hervor. Solche Paare von logischen Operatoren, welche sich durch eine Kombination von skopusinterner und -externer Negation mittels ihres Pendants definieren lassen, werden in der Logik auch als Duale bezeichnet. Wie Löbner 1990 in seiner Monographie eindrucksvoll gezeigt hat, bilden solche Dualitätsbeziehungen auch in der Sprache eine wichtige semantische Relation, wie wir uns exemplarisch anhand der Wortpaare jeder / mancher, immer / manchmal, überall / mancherorts, notwendig / möglich oder befehlen / erlauben vergegenwärtigen können. Analoge duale Verhältnisse sind schon seit längerem auch zwischen kausalen und konzessiven Satzgefügen vermutet worden. So schreibt Eggs 1977: [...] ein Konzessivsatz wird bei Beibehaltung von Unterstellungen und Präsuppositionen negiert, indem der Hauptsatz negiert wird und die Konzessivkonjunktion durch eine Kausalkonjunktion ersetzt wird. (Eggs 1977: Anm. 14)

Andreas Dufter

62

Die hinter dieser Aussage stehende Intuition einer Äquivalenz dual negierter kausaler und konzessiver Konstruktionen findet sich am genauesten bei König 1991a ausgearbeitet. Seiner Auffassung nach erklärt sich die Äquivalenz von obwohl p, q und nicht weil p, nicht q semantisch als Synonymie auf Grund dualer Negation. Unter (6) stellen wir die postulierten semantischen Verhältnisse in einem sog. Aristotelischen Quadrat graphisch dar: (6)

Kausale und konzessive Relationen als Duale (König 1991a: 201) (weil p), q

- Prädikatsnegation

i

nicht ((weil ρ), q) = (obwohl p), nicht q

(weil p), nicht q

ST

I Quantornegation

~

duale Negation

— Prädikatsnegation

Quantornegation

i

~

(obwohl p), q = nicht ((weil p), nicht q)

Die Dualitätsauffassung für kausale und konzessive Ausdrucksstrukturen bringt nun aber eine Reihe von Problemen mit sich, von denen wir hier nur zwei herausgreifen können: So führt König (1991a: 202) als linguistische Evidenz für eine Dualitätsbeziehung die Existenz von Konzessiva an, welche seiner Ansicht nach als negierte kausale Konnektiva analysierbar sind. So enthält etwa das als konzessive Präposition fungierende deutsche ungeachtet ebenso wie engl, unimpressed by oder ndl. ondanks eine explizite morphologische Negation. Zwar sind weder geachtet noch engl, impressed by als Konnektiva lexikalisiert, doch immerhin findet sich im Niederländischen zu konzessivem ondanks eine kausale Präposition dankzij. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass Königs Argument nicht nur nicht stichhaltig ist, sondern sogar gegen die Ansetzung einer Dualitätsbeziehung spricht: Alle oben genannten Konnektiva enthalten nämlich keine syntaktische, sondern eine morphologische Negation. Im Gegensatz zur syntaktischen Negation negiert die morphologische aber in der Regel konträr, seltener kontradiktorisch. Duale Lexeme sind aber nicht kontradiktorisch zueinander und schon gar nicht konträr, sondern semantisch kompatibel, die naheliegende Schlussfolgerung von manchmal ρ auf 'nicht immer ρ' stellt lediglich eine skalare Implikatur dar, wie man sich anhand der Aufhebungs- und Suspendierungstests leicht klar macht: Sowohl manchmal p, ja sogar immer ρ als auch manchmal p, vielleicht sogar immer ρ sind semantisch akzeptabel. Ein Sprecher, der in einer Äußerungssituation jedoch zwei Sachverhalte sowohl kausal als auch konzessiv relationiert {weil p, q und obwohl p, q), macht sich in seiner sprachlichen Kompetenz unglaubwürdig.6 Ein zweiter Befund, der für eine Dualitätsbeziehung zwischen kausalen und konzessiven Ausdrücken herangezogen wurde, stammt aus der Etymologie: In vielen Sprachen, insbesondere auch den romanischen, finden wir Konnektiva, die in ihrer ursprünglichen Lesart bloße temporale Gleichzeitigkeit (bzw. epistemische Kopräsenz) zweier Sachverhalte kodieren, jedoch sowohl für kausale wie konzessive Interpretationen offen sind. So sind beispielsweise für aengl. nu, ait. mentre che8 und mhd. / nhd. da9 sowohl kausale als auch

6

7

Dass eine disjunktive Verknüpfung (obwohl oder gerade weil p, q) möglich ist und nicht als tautologisch empfunden wird, zeigt meines Erachtens, dass kausale und konzessive Relationierung sich antonymisch und eben nicht kontradiktorisch zueinander verhalten (Tertium datur, s.u.). Vgl.Burnham 1911: 72.

Konzessivität als markierte

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Kookkurrenz

konzessive Interpretationsmöglichkeiten konstatiert worden. Auch lat. quando konnte im Spätlateinischen konzessiv gebraucht werden, wie noch heute fr. quand oder sp. cuando. In den klassischen Beispielen für duale Lexeme findet sich jedoch kein einziges Dualitätspaar mit gleicher Etymologie, die Existenz solcher intermediärer Lexeme scheint im Lichte der Dualitätstheorie auch kaum verständlich, wohingegen sie kognitiv recht naheliegt: Auch kausale und konzessiv relationierte Sachverhalte ρ und q bestehen ja objektiv in dem gleichen Zeitintervall oder sind zumindest dem Sprecher gleichzeitig präsent. Kausale wie konzessive Relationierungen sind nichts grundsätzlich anderes als additive oder temporale Koordination, sondern nur Unterfälle hiervon. Schließlich darf die Analyse der Verwendungsbedingen kausaler Ausdrucksstrukturen in der Sprache keinesfalls mit der philosophischen Frage nach dem Wesen der Kausalität verwechselt werden. 10 Abraham (1976b: 63) nennt die kausale Beziehung in der Sprache eine „Erwartungsimplikation" und verweist auf Hume, der bereits erkannte, dass Kausalität „nur eine gedankliche Erfahrung und nicht material notwendig in der physischen Welt" ist. Kausalität in der Sprache scheint also ebenso wie der konzessive Nexus nicht vom epistemischen Hintergrund des Sprechers ablösbar zu sein; wer weil p, q angemessen äußern will, muss eine Annahme hegen, derzufolge sich aus ρ bereits auf q schließen lässt. Ein fehlender Glaube an eine Beziehung ρ -> q impliziert aber noch nicht die Annahme eines Zusammenhangs ρ —> ^q. Ein Sprecher, der keine kausale Beziehung zwischen zwei Sachverhalten ρ und q herstellt, verpflichtet sich dadurch keineswegs auf die Annahme einer konzessiven Relationierung und umgekehrt: Tertium datur. Somit können wir die drei pragmatischen Relationierungen in einer Skala wie in (7) von erwartungskonträrer über als kontingent angesehener zu erwartungskonformer Kookkurrenz darstellen: (7)

Kausalität und Konzessivität als spezielle Kookkurrenzrelationen Konzessivität Annahme, dass (p —>

keine Annahme

Kausalität Annahme, dass (p —> q)

Kausale und konzessive Beziehungen stehen nach diesem Ansatz in entgegengesetzten Bereichen einer Skala, die entsprechenden Konnektiva bilden Antonyme hinsichtlich einer pragmatischen Skala von negativer zu positiver epistemischer Korreliertheit. Im Gegensatz zur Dualitätsthese ist die immer wieder beobachtete Koexistenz kausaler und konzessiver Lesarten bei gleichen oder etymologisch verwandten Konnektiva im Lichte von (7) geradezu erwartbar. Sowohl kausale wie konzessive Interpretationen epistemisch „neutraler" Konnektiva bilden also pragmatische Verstärkungen, allerdings sozusagen in „entgegengesetzte Richtungen". Nichtsdestotrotz scheint die Tendenz zur Interpretation von nicht weil p, q als 'obwohl p, nicht ziemlich stark zu sein. Nun ist aber seit langem bekannt, dass sich bei negierten Prädikaten des Typs Ich glaube nicht, dass ρ in allen Standardsituationen die stärkere Lesart 'Ich glaube, dass nicht ρ ' geradezu aufdrängt. Interpretative Verstärkungspräferenzen wie im Falle dieser so genannten Negationsanhebung liefern jedoch keineswegs einen Nachweis der semantischen Gleichwertigkeit der beiden Satzstrukturen, sondern manifestieren 8 9 10

Vgl. Pötters 1992: 77. Vgl. Abraham 1976a: 45. Vgl. zu einer grundlegenden Erörterung des Verhältnisses philosophischer und linguistischer Kausalitätskonzepte Störl-Stroyny 1997.

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Andreas Dufter

lediglich das Wirken einer generalisierten konversationeilen Implikatur.11 Bei antonymischen Verhältnissen finden wir rekurrent eine kognitive Präferenz für dichotomische Konzeptualisierungen. Obwohl kontradiktorische und antonymisch-konträre lexikalische Einheiten und Propositionen sich semantisch klar voneinander differenzieren lassen, wird in der Verwendung von Ausdrücken, die in Antonymiebeziehungen zu anderen stehen, diese Unterscheidung häufig nicht getroffen. Man „tut so", als gäbe es nur reich und arm, nur jung und alt oder eben nur erwartungskonforme oder erwartungskonträre Kookkurrenz: Tertium non videtur. Lyons führt hierzu aus: For most practical purposes we can usually get along quite well by describing things, in a first approximation as it were, in terms of a yes/no classification, according to which things are either good or bad, big or small etc. (relative to some relevant norm). If we deny that something is good or assert that it is not good without qualifying our statements in any way or supplying any further information relevant to this dichotomous yes/no classification, it is reasonable for the other participants to assume that we are satisfied with a first approximation in terms of which gradable antonyms are interpretable as contradictories. (Lyons 1977: 277f.)

Meiner Überzeugung nach gründet auch die Tendenz zur Interpretation negierter kausaler Konstruktionen (nicht Konnektiva!) auf eben dieser viel allgemeineren kognitiven Präferenz. Im Sprachwandel wurde bei zahlreichen temporalen Konnektiva, die ursprünglich bloß das gleichzeitige Bestehen zweier Sachverhalte zum Ausdruck bringen, eine Einschränkung der Verwendungsmöglichkeiten auf kausale oder konzessive Relationierungen beobachtet.12 Hingegen fehlen überzeugende Beispiele für eine Erweiterung eines ursprünglich konzessiven oder kausalen Konnektivs hin zu einer epistemisch unspezifischeren Kookkurrenzmarkierung: Monofunktionale kausale wie konzessive Konnektiva können also aus temporalen Einheiten entstehen; einmal auf kausale oder konzessive Verwendungen festgelegt, können sie aber offenbar in keinem Fall eine umgekehrte Entwicklung durchlaufen. Folglich nehmen sie zwar häufig epistemische Gebrauchsbedingungen hinzu, bauen sie jedoch nicht wieder ab, wir finden 'Epistemisierung', jedoch keine 'Deepistemisierung'. Haben wir es hier mit einer Besonderheit unserer untersuchten lexikalischen Einheiten zu tun? Freilich scheint im Sprachwandel eine solche unidirektionale Entwicklung der Gebrauchsbedingungen hin zu einem 'Mehr an Pragmatik' generell beobachtbar. Auch Traugott (1999) postuliert die Existenz eines Grammatikalisierungspfades, in dem Bedeutungen, welche in der außersprachlichen Situation verankert sind, sich allmählich weiterentwickeln zu solchen, die mit der Einstellung des Sprechers zu tun haben. Genau eine solche

11

12

Vgl. zu einer umfassenden Ausarbeitung der Grice'schen Theorie zuletzt Levinson (2000). Auch König / Siemund (2000: 355) sprechen ausdrücklich nicht mehr von einer Dualitätsbeziehung, betrachten jedoch im Unterschied zum hier vertretenen Ansatz die konzessive Interpretation von nicht weil p, q weiterhin als Manifestation einer semantischen Äquivalenz. Kausale Lesarten entstehen darüber hinaus häufig auch bei Nachzeitigkeitskonnektiva nach dem berühmten logischen Fehlschluss des Post hoc, ergo propter hoc, der ja gerade deswegen so häufig begangen wird, weil er kognitiv oftmals naheliegend erscheint. Allerdings vermerkt Abraham (1976a: 62), dass zeitliches Vorausgehen keine notwendige Bedingung für die Verwendung einer Kausalkonstruktion zu sein scheint. Ferner ist nach Abraham (1976a: 53) in vielen Fällen die genaue zeitliche Relationierung, also etwa die Spezifizierung von Anteriorität, Simultaneität oder Posteriorität, durch „eine gewisse Trägheit in der morphologischen Markierung" gekennzeichnet, auf Grund derer sich leicht „der Eindruck der Gleichzeitigkeit" ergeben kann.

Konzessivität als markierte

Kookkurrenz

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Verlagerung von deskriptiver zu epistemischer Äußerungsbedeutung liegt aber meiner Ansicht nach auch den beiden Einbahnstraßen 'temporal -> konzessiv' und 'temporal —• kausal' zugrunde. Die beobachtete Unidirektionalität in der Bedeutungsdynamik erscheint in dieser Sichtweise somit keinesfalls idiosynkratisch, sondern entspricht allgemeinen Tendenzen des Bedeutungswandels.

2.3. Zur Monosemie kausaler und konzessiver Konnektiva Ungeachtet der bereits in 1.1. erwähnten These, derzufolge Konzessiva eine „Endstation für jede Interpretationserweiterung" bilden, ist dennoch für einige monoseme konzessive Ausdrücke eine Bedeutungserweiterung angesetzt worden. So zeigt Günthner (2000), dass sich im Gegenwartsdeutschen obwohl auch mit Verbzweitstellung findet und in diesem Falle als Diskursdeiktikon fungiert. Während uns ein solches Weitergehen auf dem Pfad der diskursiven Involviertheit nicht überrascht, erscheint die Entwicklung einer kausalen Nebenbedeutung bei „echten", monosemen Konzessiva für unsere Auffassung problematischer: So sind einige Okkurrenzen von asp. maguer que als Evidenz für eine kausale Leseart gewertet worden. Mit Ausnahme eines einzigen Belegs, bei dem es sich aber um ein Textverderbnis handeln könnte, sieht Rivarola (1976: 24f.) jedoch in allen Fällen eine andere Interpretation als plausibler an. Auch Kortmann (1997: 203) ist bei seiner typologischen Grundlagenstudie über adverbiale Subordinatoren zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: „[...] there is not a single instance where a polyfiinctional subordinator has Concession as a primary reading and a causal [...] reading as a secondary one [...]". Umgekehrt ist für die Kausalkonjunktionen ait. perché und asp. por que auf Grund von Belegen wie den folgenden eine eigene konzessive Lesart reklamiert worden: (8)

ait. perché, asp. por que 'konzessiv' (Pötters 1992: 76; Rivarola 1976: 60) ait. ... la quale [novella], perché l'effetto della passata somigli, non vi dovrà per ciò essere men cara (Boccaccio I 8,3) asp. Non ayades pavor por que me veades lidiar (Cid, 1653)

Wir erkennen jedoch sofort, dass die konzessive Interpretationsmöglichkeit der beiden Sätze (nicht der Konjunktionen!) wiederum auf der pragmatischen Dichotomisierungspräferenz beruht. Typischerweise basieren Hypothesen, denen zufolge bestimmte kausale Konjunktionen in allen oder - vorzugsweise - nur in frühen dokumentierten Epochen der Geschichte der jeweiligen Sprache in negierten Kontexten auch konzessive Lesarten aufweisen, auf einer solchen Verwechslung der Semantik kausaler Lexeme mit der Pragmatik negierter kausaler Konstruktionen; die Ansetzung einer weiteren, konzessiven Leseart ist meiner Ansicht nach in solchen Fällen nicht nur nicht notwendig, sondern sogar falsch: Die Tatsache, dass Kausalkonjunktionen in negationshaltigen Kontexten, aber auch nur dort, immer konzessive Relationierungen nahe legen, zeigt, dass hier eine von der Wahl des Konnektivums unabhängige Interpretationspräferenz greift und nicht Polysemie des jeweiligen Konnektivums vorliegt. Einen besonders bewegten etymologischen Lebenslauf weist schließlich das fr. Konjunktionaladverb pourtant auf, welches als afr. portant überwiegend kausale Verbindungen herstellt, im frühen Nfr. jedoch immer seltener kausal interpretiert werden kann. Hingegen findet sich bereits 1538 ein erster Beleg einer naheliegenden konzessiven Lesart ohne Ne-

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gationskontext, und im Laufe des 17. Jhs. schließlich entwickelt sich das Adverb zu einem monofunktionalem Konzessivum. Hat sich hier also einmal ein kausales Konnektiv zu einem 'echten' Konzessiv weiterentwickelt? Anscombre 1983 bejaht diese Frage und geht in seiner Antwort vom Neufranzösischen aus: Dort unterscheidet er drei Lesarten von pourtant, wobei er ein pourtant d'étonnement (kurz: pourtante), also eine häufig in Exklamationen vorfindbare Markierung des Erstaunens, als Grundbedeutung ansieht. Konzessives nfr. pourtant ist nun nach Anscombre 1983 aus seinem kausalen Vorgänger durch „illokutive Derivation" hervorgegangen: Le mécanisme à l'œuvre ici est [...] plus complexe qu'il n'y paraît au premier abord. Pour en saisir le fonctionnement, nous ferons appel à une nouvelle sorte de polarité, la polarité ironique. Nous dirons qu'une expression M est à polarité ironique si sa valeur sémantico-pragmatique ne peut se déduire de sa structure superficielle que par l'introduction d'une négation supplémentaire. [...] Notre hypothèse sera que pourtant a perdu sa valeur causale et est devenu un pourtant à polarité ironique - polarité qui n'est plus perceptible de nos jours - par intégration d'une Loi d'Absurdité. En ce sens, pourtant,, est un ancien marqueur de dérivation, la valeur causale ou conclusive ayant disparu. [...] La valeur d'opposition provient [...] de la mise en branle de la Loi d'Absurdité au travers d'un pourtant causal. L'étonnement est signalé non par l'opposition entre les deux faits exprimés par les propositions - ces faits sont opposés avec ou sans pourtant - mais par la relation causale que le locuteur feint de voir entre ces deux faits. (Anscombre 1983: 80f.; Hervorhebungen im Original)

Bildet die konzessive Verwendung dieses Adverbs also das Ergebnis einer Konventionalisierung ironischer Gebrauchsweisen? Müssen wir somit tatsächlich unsere Liste pragmatischer Maximen um eine Loi d'Absurdité ergänzen? Soutet (1992: 118) bemerkt, dass im Mfr. tant im Zuge einer Differenzierung von ursprünglich synonymem autant allmählich von seinen beiden semantischen Merkmalen 'Identität' und 'hoher Grad' das erste verliert, und nimmt einen Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und der Spezialisierung von portant an: tant ist nämlich im frühen Nfr. zu einer bloßen Intensitätsmarkierung verblasst. Gerade solche semantisch weitgehend leeren emphatischen Partikeln sind aber, wie wir in 3.3. noch ausführlicher sehen werden, typisch für Konzessiva. In dieser Reduktion von tant auf eine bloße Emphasemarkierung sowie dem entstandenen „Bedarf nach einem konzessiv verwendbaren Adverb ist meiner Meinung nach eher der Ansatz zur Klärung dieses Problems der französischen Wortgeschichte zu finden. 13 Während das Auftreten konzessiver Lesarten bei unspezifischen Konnektiva also im Lichte von (7) durchaus plausibel erscheint, muss jede Erklärung der Konventionalisierung des konzessiven Gebrauchs weitere Aspekte berücksichtigen. Auf die Frage, was ein Kookkurrenz-Konnektivum zu einem „guten Kandidaten" für konzessive Spezialisierung macht, werden wir im nächsten Kapitel eine Antwort suchen. Eine Postulierung pragmatischer Maximen „nach B e d a r f wie in Anscombre 1983 würde die linguistische Pragmatik dagegen nur allzu schnell um ihre Legitimation bringen. Konversationsmaximen dürfen nicht als deus ex machina dort evoziert werden, wo sprachwissenschaftliche Erklärungen versagen, sondern beruhen auf wohldefinierten Prinzipien der Kooperativität beziehungsweise Rationalität. Eine Loi d'Absurdité führt sich meiner Meinung nach aber im Lichte dieser Grundlagen der Implikaturentheorie selbst ad absurdum.

13

Vgl. auch die Diskussion in Rodríguez Somolinos 1998.

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Kookkurrenz

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3. Z u r Entstehung konzessiver Lesarten

3.1. Konzessivität und Informativität Auf welche Maxime können wir uns bei einer Rekonstruktion der konzessiven Interpretationsmöglichkeit als Implikatur berufen? Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass wir es, ähnlich wie bei semantischen Skalen des Typs , mit einer Art „Stärkeskala" interpropositionaler Relationen zu tun haben: Trotz der Verwendung eines „schwächeren" Temporalkonnektivs wird bei konzessiver Interpretation pragmatisch gerade auf eine stärkere Lesart geschlossen. Atlas / Levinson 1981 haben die Existenz solcher pragmatischen Verstärkungen zum Anlass genommen, den Grice'schen Maximenkatalog um ein weiteres Prinzip, ihr Principle of Informativeness, zu erweitern, das wir hier in einer informellen Formulierung anfuhren: (9)

Informativitätsprinzip (Atlas / Levinson 1981; Levinson 1987) Innerhalb einer Menge möglicher Interpretationen einer Äußerung ist die informativste derjenigen Interpretationen zu wählen, die mit dem gemeinsamen Hintergrund von Sprecher und Hörer noch vereinbar sind.

Dieser Rekurs auf die Informativität sprachlicher Äußerungen stellt uns unweigerlich vor das Problem, eine linguistisch tragfähige Explikation von Informativität zu geben. 14 Nichtsdestotrotz ist das Informativitätsprinzip häufig zur Herleitung solcher pragmatischen Verstärkungen verwendet worden, und auch zur Erklärung unserer diskutierten konzessiven Implikatur ziehen es König / Traugott 1988 heran: Mere co-occurrence or concomitance o f two situations is never highly relevant information. There are so many things going on simultaneously that this is only worth pointing out in special cases. And one of these cases where co-occurrence is highly relevant and newsworthy is that where there is a general incompatibility between two situations, where one situation does not normally cooccur with the other. And this is exactly what concessive connectives express. (König / Traugott 1988: 114; Hervorhebung von mir)

Nun mag Konzessivität zwar den typischen Fall einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit darstellen, jedoch durchaus nicht den einzigen: So wäre, um nur ein besonders drastisches Beispiel zu geben, in einem Flugzeug mit nur einem Piloten und nur einem Sicherungssystem auch die Kookkurrenz von 'Der Pilot hat einen Schwächeanfall' und 'Die AutopilotAnlage spielt verrückt' wohl ebenfalls höchst „bemerkenswert". Atlas / Levinson (1981: 44) haben sich auch mit den Voraussetzungen für das Zustandekommen konversationeller Implikaturen befasst und formulieren die folgende Beschrän-

14

Die beiden in der Literatur üblicherweise vorgetragenen Ansätze zu einer Präzisierung des Informativitätsbegriffs sind beide wenig brauchbar: So ist zum einen versucht worden, die Informativität einer Äußerung über die Klasse der aus ihr ableitbaren logischen Folgerungen zu bestimmen. Hierbei erscheint jedoch eine Einengung auf im Diskurszusammenhang relevante zulässige Schlüsse notwendig. Zum anderen ist eine Äußerung als umso informativer aufgefasst worden, je größer die Klasse ihrer möglichen Falsifikatoren ist. Auch hier jedoch fehlt offensichtlich der Rekurs auf die situative Einbettung: So kann die Äußerung Heute ist Montag durchaus informativer sein als eine alternative Äußerung wie Heute ist der 13. März, obwohl die zweite Aussage eine wesentlich höhere Falsifikationsmöglichkeit aufweist...

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kung: „[...] to constitute a genuine scale, [...] all the items are 'about' the same thing [...]". Mit diesem Prinzip versuchen Atlas und Levinson z.B. zu begründen, warum die Verwendung von und bei Satzkoordination in keinem Fall eine skalare Implikatur auf 'nicht weil' auslöst: There is no Horn scale (A because Β, A and then B, A and B), as because and and then introduce relations other than the kind the Horn scale is „about", the paradigm of which is logical conjunction. (Atlas / Levinson 1981: 44)

Wenn und und weil aber tatsächlich ganz anderen semantischen Kategorien entstammen beziehungsweise ganz andere pragmatische Alternativen involvieren, wie können wir dann die häufige Tendenz zur pragmatischen Verstärkung von und zu 'weil' verstehen? Wie sind die kausalen wie konzessiven Interpretationen bei Gleichzeitigkeitskonnektiva pragmatisch erklärbar, wenn nicht als pragmatische Spezifizierung einer Subklasse von Kookkurrenzbeziehungen? Wenn somit umgekehrt pragmatische Verstärkungen, wie es Atlas / Levinson 1981 nahe legen, gerade eine gewisse Verschiedenheit der konzeptuellen Bereiche erfordern, wie „verschieden" dürfen diese Domänen dann sein? Es kann ja offensichtlich nicht Beliebiges in beliebige Richtung „weiterinterpretiert" werden, vielmehr unterliegen alle Fälle solcher Verstärkungen ebenfalls sehr starken Beschränkungen. Welcher Art sind aber diese Beschränkungen? Das implizit von Atlas / Levinson 1981 geforderte „Skalenverbot" für pragmatische Verstärkungen wirft daher, wie ich meine, insgesamt mehr Fragen auf, als es löst. Der bislang expliziteste Vorschlag, im Bereich der Junktion von Sachverhaltsdarstellungen verschiedene semanto-pragmatische Relationen hinsichtlich ihrer relativen Informativität zu bewerten, findet sich in der Arbeit von Kortmann 1991. Er postuliert eine - wohl als universell einzustufende - Ordnungsrelation, wobei er, wie unter (10) zu sehen, Konzessivität an die Spitze seiner Skala der Informativität setzt: ( 10) Skala der Informativität interpropositionaler Relationen (Kortmann 1991: 121) informativer Anteriority Posteriority

^

Instrument Cause

Purpose

Condition

Contrast

Concession

Kortmann begründet in diesem Zusammenhang seine Wertung der Konzessivrelation als 'maximal informativ' wie folgt: [...] the higher degree of world knowledge/evidence required for the identification of a concessive relation is stressed by the high frequency of adjuncts/absolutes which receive lexical extra-support in order to facilitate the identification of concessivity. [...] No other semantic relation available to the construction types investigated here is so frequently found to receive lexical marking [...] From these arguments it follows naturally that concession must be put on top of the scale. (Kortmann 1991: 127)

Wir halten die wichtige Beobachtung fest, wonach gerade die konzessiv zu interpretierenden infiniten Konstruktionen sich durch häufige zusätzliche Markierungen dieser Relation auszeichnen, ohne jedoch deswegen auch Kortmanns Schlussfolgerung zu übernehmen. Der ausdrucksseitige Aufwand sprachlicher Markierungen korrespondiert nämlich keineswegs immer mit ihrem Informationsgehalt: wer mehr „Worte macht", hat deswegen noch keineswegs mehr mitgeteilt.

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Auch unabhängig davon erscheint es mir wenig plausibel, beispielsweise einer kausalen Relationierung weniger Informativität als einer konzessiven zuzusprechen. Die Äußerung kausaler Konstruktionen liefert dem Adressaten im allgemeinen nicht mehr Information als die Äußerung einer konzessiven, sondern eben nur eine andere Art von Information. Immerhin scheinen beide Propositionsverknüpfungen im Allgemeinen informativer, weil spezifischer, zu sein als die bloße Assertion einer Kookkurrenz zweier Sachverhalte. Hinsichtlich der Interpretation infiniter Konstruktionen formuliert Kortmann 1991 außerdem die These, dass - in enger Anlehnung an Atlas / Levinson 1981 - der Hörer bei der Interpretation einer Äußerung so lange auf der Skala unter (10) nach oben gehe, wie dies der Kontext zulasse. Dies würde jedoch bedeuten, dass jede konzessive Konstruktion a fortiori auch kausal auffassbar wäre. Doch scheint in jedem situativen Kontext ja immer nur höchstens eine der beiden Relationierungen angemessen; Konzessivität impliziert eben gerade nicht Kausalität, sondern ist, wie wir in 2.2. gesehen haben, mit ihr pragmatisch inkompatibel.

3.2. Eine alternative Rekonstruktion Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass der Ausdruck konzessiver Relationen eine Affinität zu mehr als minimalen, „unökonomischen" Kodierungen aufweist. 15 Die konzessive Lesart lässt sich häufig nicht allein aus der Semantik ableiten, sondern folgt pragmatisch aus der Wahl nicht maximal einfacher, typischerweise längerer Ausdrucksstrukturen. Eine solche pragmatische Folgerung auf Grund der Form einer Äußerung ist nun gerade das Kennzeichen der Klasse der Modalitätsimplikaturen im Maximenkatalog von Grice. Indem der Sprecher seine Festlegung auf das Zutreffen von ρ & q mit mehr als minimalem Aufwand enkodiert, kann er damit zugleich zum Ausdruck bringen, dass die Kookkurrenz der beiden Sachverhalte für ihn 'epistemisch markiert' ist.16 In dieser scheinbar unnötig aufwendigen Kodierung des Bestehens eines Sachverhaltes angesichts eines anderen bzw. des gleichzeitigen Bestehens von ρ und q scheint mir auch die wesentliche Asymmetrie zwischen kausalen und konzessiven Interpretationsmöglichkeiten zu liegen. Während nämlich eine nicht offensichtlich redundant markierte Kookkurrenz wie unter ( I I a ) oder (11c) semantisch unspezifisch erscheint und bei geeignetem Kontext sowohl rein temporal wie auch kausal und evtl. sogar konzessiv interpretierbar ist, lassen sich meiner Meinung nach ( I I b ) und ( l l d ) nur neutral-temporal oder aber konzessiv, kaum hingegen kausal verstehen: (11)

Konzessivität als Modalitätsimplikatur a. dt. Peter versucht es seinem Chef immer recht zu machen und ist überall beliebt. b. dt. Peter versucht es seinem Chef immer recht zu machen. Gleichzeitig ist er überall beliebt. c. fr. Pierre est végétarien. II est toujours en bonne santé. d. fr. Pierre est végétarien. En même temps, il est toujours en bonne santé.

Auch die lateinische Universalkonjunktion cum, welche, wie aus dem Schulunterricht hinlänglich bekannt, eine ganze Reihe typischer Adverbialsatzrelationen enkodieren kann, fin15

16

Vgl. ähnlich auch Hunnius (1999: 243), demzufolge „der Konzessivsatz einen Kristallisationspunkt für die verschiedensten Formen sprachlicher Emphase bildet." Gleichzeitig liegt sicherlich ein weiterer Fall einer konventionalisierten alltagsrhetorischen Beglaubigungsstrategie vor; vgl. hierzu genauer Detges 1998.

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70

det sich bei konzessivem Gebrauch bereits im frühen Latein häufig zusammen mit einem verdeutlichenden Korrelat im Bezugssatz; vgl. den folgenden Beleg: (12)

Monument des Marcus Statius Chilo (Mikkola 1964: 43) Heus tu viator lasse, qu[i] me praetereis, cum diu atribulareis, tarnen hoc veniundum est tibi

Mikkola kommentiert diese Inschrift ganz im Sinne unserer Argumentation mit den Worten: Wir haben hier ein aufschlußreiches Beispiel von der Entwicklung des temporalen Ausdrucks zum konzessiven. Wir könnten hier ein gewöhnliches cum historicum sehen, mit dauerbezeichnendem diu versehen, wenn wir nicht das Reversativ tarnen hier hätten; erst dies macht cum zum cum concessivum, und aus dem Ausdruck wird eine wirkungsvolle temporale Konzession. (Mikkola 1964: 43)

Eine solche disambiguierende Funktion von Korrelaten in Matrixsätzen ist gerade bei konzessiven Konnexionen jedoch für viele Sprachen festgestellt worden. 17 Im folgenden Abschnitt wollen wir solche mehr-als-minimalen Markierungsstrategien anhand von Beispielen aus der französischen Sprachgeschichte noch etwas genauer betrachten.

3.3. Zum renforcement adverbial im Französischen Zumindest im Bereich der konzessiven Konnektiva finden wir in den ältesten französischen Texten keinerlei Hinweise mehr auf eine Weiterfilhrung der lateinischen Lexeme. Weder quamquam, die wichtigste Konzessivkonjunktion im klassischen Latein, noch quamvis oder das spätlateinisch häufig konzessiv bezeugte licet finden sich in den romanischen Sprachen fortgeführt. 18 Hingegen manifestiert sich bereits in den frühen Texten eindrucksvoll eine Markierungsstrategie, welche vornehmlich Adverbien zu epistemisch neutralen Konnektiva hinzusetzt, ohne dass diese adverbiale Modifikation in jedem Falle semantisch plausibel erscheint. Soutet (1992: 25) spricht hierbei sehr anschaulich von einem renforcement adverbial. Zur etymologischen Erläuterung des im Afr. häufigsten konzessiven Konjunktionalsyntagmas ja soit ce que (mit zahlreichen Varianten) hat man vielfach auf die aspektuelle Bedeutung der Partikel ja hingewiesen und die Wendung etwa mit 'Dann sei es, dass... / Sei es auch schon, dass...' glossiert. Jedoch weisen gerade solche aspektuellen Partikeln typischerweise weitere Gebrauchsweisen auf, in denen sich ihr Vorkommen semantisch nur schlecht verstehen lässt und sie wohl nur noch pragmatische Funktionen haben. Auch bei ja finden sich Fälle, in denen die temporal-aspektuelle Auffassung kaum noch plausibel erscheint. Soutet (1992, 51) postuliert die Existenz eines eigenen Ja dit de renforcement d'affirmation" und führt hierfür u.a. folgenden Beleg an:

17

18

Vgl. Behaghel (1928: 236f.) zum Deutschen, Buchholz (1993: 13) zu Balkansprachen und allgemein König (1991c: 131). Vgl. zur Frage der Kontinuität der Junktionsverfahren vom Lateinischen zum Afr. zuletzt Martinez Moreno 1998.

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(13) Afr.y'a als bloße Emphasepartikel (Soutet 1992: 52) „Dame, fet il, que volez vos queje face?" - „Je voil, fet ele, que en amende de mon serpent deviegniez mes hons." Et il respont que ce ne feroit il pas. - „Non? fet ele. Ja le fustes vos ja." (Queste de Saint Graal) '... und doch wart ihr es schon einmal'

Im letzten Satz von (13) kommt die Rekrutierung von afr. ja als Marker von Erwartungskontrarietät besonders deutlich zum Ausdruck, da wir hier nämlich noch ein weiteres, temporal zu interpretierendes Vorkommnis der Partikel finden. Falls das konzessivische ja seine postulierte Aspektbedeutung hier noch aufweisen würde, wäre eine nochmalige Markierung mit genau der gleichen Partikel wohl kaum zu erwarten. Ebensowenig wie also ja soit ce que nicht mehr kompositional auffassbar ist, hat auch tout in der Konstruktion „tout + Gerund" nichts mehr mit dem allquantifizierenden - oder genauer, emphatisch Totalität zum Ausdruck bringenden - Adjektiv tout, toute zu tun, sondern dient als bloßes adverbe d'intensité zu einer mehr als minimalen Markierung der Koexistenz zweier Sachverhalte. 19 So ist adverbiales tout im Gegensatz zu adjektivischem beispielsweise auch bei nicht-gradierbaren Prädikaten möglich: (14) Nfr. tout als bloßes Emphase-Element (Soutet 1992: 44) Toute enceinte qu'elle est, elle monte les escaliers quatre à quatre. •Elle est toute enceinte.

Diese nur pragmatisch erklärbare Lexikalisierung verstärkender Adverbien bei der Herausbildung spezifischer Konzessiva wollen wir noch an einem weiteren Fall aus der französischen Sprachgeschichte aufzeigen, nämlich der Konjunktion nfr. bien que. Einige Forscher haben die nfr. durchaus häufige Konzessivkonjunktion aus dem konjunktionalen Syntagma afr. bien soit que herzuleiten versucht, welches zwar in den Texten erscheint, jedoch nur mit „très médiocre fréquence"20. Ein weiterer Ansatz leitet bien que aus dem häufiger attestierten combien que her, wobei die postulierte Aphärese jedoch eigens erklärt werden müsste. 21 Soutet (1992: 220) fuhrt in diesem Zusammenhang aus, dass combien ja in der Tat allmählich das semantische Merkmal 'hoher Grad' verliert, was den Ausfall der ersten Silbe als Verlust eines Morphems verständlich machen würde, dessen semantischer Beitrag ebenfalls entfällt. Die Bewahrung von bien erklärt sich somit wohl gleichfalls am besten auf Grund seiner Verwendbarkeit als semantisch weitgehend leeres Emphase-Element. Auch fr. beau wird in konzessiven Ausdrucksstrukturen, nämlich der Verbalperiphrase avoir beau herangezogen, und auch hier wäre es wenig erhellend, eine semantische Erklä-

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Vgl. Soutet 1992: 44. Genau der gleiche Vorgang der Rekrutierung emphatischer Totalitätsmarkierungen zur Bildung spezifisch konzessiver Ausdrucksstrukturen ist übrigens auch in der englischen Sprachgeschichte festgestellt worden; so vermerkt Burnham (1911: 114) zu der im Altenglischen kausal wie konzessiv gebrauchten Präposition for. „But when for is accompanied by eall, the contrast between the 'cause' referred to and its 'ineffectiveness' becomes explicit, and the meaning of the preposition shifts to 'in spite o f . " Somit erübrigt es sich meiner Meinung nach, im Zusammenhang mit Konnektiva wie fr. bien que oder tant einen - kaum unabhängig motivierbaren - „transfert sémantique de quantité à concession" zu postulieren, wie dies Bat-Zeev Shyldkrot / Kemmer (1988: 16) tun. Soutet 1992: 220. Noch unplausibler erscheint die Erklärung angesichts weiterer romanischer Parallelen wie it benché oder sebbene, wo keine Entsprechung von fr. combien als Ausgangselement zur Verfügung steht.

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rung zu versuchen, zumal angesichts der Existenz von Konzessiva wie kat. mal que oder auch fr. malgré?2 Eine solche lediglich als Intensitätsmarkierung zu verstehende Verwendung von fr. beau findet sich auch an anderer Stelle; Soutet 1992 führt die folgenden beiden literarischen Belege an: (15) Nfr. beau als bloßes Emphase-Element (Soutet 1992: 79) Celui-ci, vieux joueur, avait un beau sang-froid qui le rendait redoutable. (Zola) L'expression des gens parfois que l'on croise sur les trottoirs, c'est comme un cinéma permanent quand on entre au beau milieu. (Aragon)

In diesem Unterabschnitt haben wir deutlich zu machen versucht, wie als konzessiv zu interpretierende Ausdrucksstrukturen sich gegenüber dem Ausdruck epistemisch neutral aufgefasster Kookkurrenz typischerweise durch höheren formalen Markierungsaufwand auszeichnen. Im Folgenden wollen wir unseren Blick auch auf die in einem historischen Sprachzustand vorhandenen lexikalischen Alternativen richten.

3.4. Zur Entwicklung von afr. que que und quoi que Ein interessantes Minimalpaar bilden die schon in frühen afr. Texten neben ihren Verwendungen als indefinite Relativpronomina auch als Konjunktionen belegten Einheiten que que und quoi que. Das konjunktionale Syntagma que que wird fast ausschließlich mit dem Indikativ konstruiert und ist in den meisten Fällen lediglich als bloßes Gleichzeitigkeitskonnektiv zu interpretieren, wie etwa in den folgenden beiden Belegen aus Chrétien: (16)

Aft. que que temporal (Soutet 1992: 179) a. Cil ambrunele et cháncele. Que qu'il cháncele, Erec le bote Et cil chiet sor le destre cote. (Erec, 978 ff.) b. Que qu'il parloient ensi Li orguilleus del bois issi. (Perceval, 3813f.)

Auch quoi que findet sich in der gleichen, rein temporalen Lesart bereits in der ersten Hälfte des 13. Jhs.: (17)

Afr. quoi que temporal (Soutet 1992: 180) Quoy que le feste estoit plus plaine, et Aucassins fu apoiiés a une puie tos dolans et tos souples. (Aucassin et Nicolette XX, 12)

Erst im Mir. bei Froissait finden sich eindeutige Belege für konzessivische Verwendungen dieser Konjunktion: (18)

Froissart, Chroniques (ca. 1380) Jean de Haynnau, qui a grant dur et moult envis avoit eut congiet de monseigneur son frere, quoy qu'il se fuist de premiers acordés et asentís ad ce voiage.

Im 15. und 16. Jh. ist konzessives quoi que bereits durchgängig attestiert, obwohl es mit ja soit que und später combien que immer schon häufiger in den Texten erscheinende alternative Konzessivkonjunktionen gibt. Konzessivische Verwendungen von que que sind jedoch überaus selten; Soutet 1992 gibt ganze zwei mögliche Belege an und zieht dabei die kon-

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Vgl. Harris 1988:81.

Konzessivität als markierte Kookkurrenz

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zessive Lesart eines der beiden selbst in Zweifel. Demgegenüber hat sich zwar quoi que ab dem 14. Jh. als konzessive Konjunktion etabliert, ist aber kaum noch als reines Temporalkonnektivum belegt. Gleichzeitig sind jedoch die indefiniten Relativpronomina que que und quoi que ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied sowohl im Afr. als auch im Mfr. mit etwa gleicher Häufigkeit anzutreffen. Angesichts dieser Datenlage fragt Soutet verwundert: [...] comment se fait-il qu'à partir de deux relatifs indéfinis à première vue synonymiques, on puisse obtenir une locution conjonctive temporelle (que que) et une locution conjonctive concessive (quoi que)"} (Soutet 1992: 181) Traditionelle Erklärungsversuche haben die indefiniten Relativpronomina als Ausgangspunkt der Konjunktionen angenommen und sowohl filr que que als auch für quoi que eine semantische Entwicklung 'aleatorische exhaustive Spezifikation von Zeitpunkten' angesetzt. In diesem Stadium ihrer Entwicklung hätten also beide Lexeme eine konzessiv-konditionale Lesart, welche sich dann bei quoi que zur faktisch-konzessiven verstärkt, bei que que jedoch sozusagen zur rein temporalen „zurückentwickelt" habe. Hiergegen spricht zum einen, dass que que als Konjunktion meist mit Indikativ, als Indefinitpronomen jedoch überwiegend mit subjonctif gebraucht wird. Weit problematischer erscheint jedoch der postulierte Bedeutungswandel, da allgemein auch im Sprachwandel von Konditionalität zu Konzessivität Unidirektionalität vermutet wird. Imbs 1956 setzt ebenfalls ein konzessivkonditionales „Vorstadium" von konjunktionalem que que an und versucht, die Festlegung der Konjunktion auf die temporale Lesart als Einfluss der Dichtersprache von Chrétien de Troyes auf die allgemeine Sprachentwicklung zu erklären. Ohne auf die Plausibilität der Hypothese von Imbs eingehen zu können, vermerken wir lediglich, dass die kognitive Plausibilität der postulierten Bedeutungsentwicklung 'konditional-konzessiv -> temporal' alles andere als geklärt scheint. Anhand der ausführlichen Dokumentation bei Soutet wird aber deutlich, dass im Afr. sowohl que que als auch quoi que rein temporal verwendet werden konnten, wie wir in (16) und (17) gesehen haben. Es erscheint also wenig attraktiv, die temporale Lesart von que que als Ergebnis einer diachronen Auseinanderentwicklung ursprünglich konzessiv-konditionaler Konjunktionen anzusehen. Meiner Auffassung nach gibt es eine einfachere Interpretation der Datenlage: Sowohl que que wie auch quoi que waren im Afr. pragmatisch unspezifische Gleichzeitigkeitskonnektiva, d.h. sie waren prinzipiell dazu geeignet, unmarkierte wie epistemisch markierte Kookkurrenz von Sachverhalten auszudrücken. Allerdings hat sich im Laufe der mfr. Epoche eine Spezialisierung vollzogen, welche nicht nur der vielfach konstatierten Tendenz zum diachronen Abbau von Synonymie entspricht, sondern auch formal plausibel ist: Während unmarkierte Kookkurrenz allmählich nunmehr durch das phonetisch schwächere que que denotiert werden konnte, wurde die phonetisch „gewichtigere" und akzentuierbare Form quoi que allmählich auf den Ausdruck markierter Kookkurrenzbeziehungen beschränkt. Ganz analoge Verhältnisse finden wir in der französischen Sprachgeschichte j a auch an anderer Stelle, nämlich bei den Personalpronomina: Auch dort wird „markierte" Referenz ja im Nfr. nur noch durch die starktonigen Pronomina, „unmarkierte" ausschließlich durch die pronoms atones ausgedrückt, vgl. etwa nfr. Lui est venu im Gegensatz zu II est venu. Auch die Geschichte der beiden ungleichen Brüder que que und quoi que erscheint also bei einer Auffassung von Konzessivität als markierter Kookkurrenz durchaus erklärbar.

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4. Z u s a m m e n f a s s u n g

Nach diesen knappen semasiologischen Ausführungen zur Entstehung konzessiver Konnektiva und Konstruktionen im Französischen wollen wir unsere onomasiologischen Thesen abschließend noch einmal kurz wiederholen: 1. Konzessivität ist eine Relation, die nur unter Bezug auf Sprecherannahmen angemessen beschrieben werden kann. 2. Konzessivität ist weder ein aussagenlogisch-kontradiktorisches noch ein duales Gegenteil von Kausalität, sondern zu kausaler Relationierung pragmatisch konträr; die beobachteten Dualitätseffekte sind durch die allgemeine kognitive Präferenz für dichotomische Verhältnisse zu erklären. 3. Im Sprachwandel finden wir lediglich Spezialisierungen von unspezifischen Kookkurrenzkonnektiva auf kausale oder konzessive Lesart; gelegentlich angeführte Beispiele von Bedeutungserweiterungen bei monosemen kausalen oder konzessiven Einheiten beruhen, wie in 2.3. ausgeführt, auf unzulänglichen Analysen. Im Lichte unserer Explikation der Gebrauchsbedingungen erscheint diese Beschränkung als erwartbare Folge der Unidirektionalität im Sprachwandel hin zu stärker subjektbezogenen Lesarten. 4. Die epistemische Markiertheit der Konzessivität kann ohne Rekurs auf problematische Quantifizierungen von Informativität begründet werden und spiegelt sich ikonisch in der Tendenz zu mehr-als-minimaler ausdrucksseitiger Markierung. In einem Erklänrungsrahmen, der sich auf das Informativitätsprinzip stützt, bleibt darüber hinaus unerklärt, weshalb sich bei dem synonymen Paar afr. que que und quoi que nur eine, und zwar gerade die aufwendigere Form zum Konzessivum entwickelt. Semasiologische Einzeluntersuchungen hegen, wie wir in 3.2. gesehen haben, häufig ein zu großes Vertrauen in das explikative Potential der lexikalischen Semantik bei der Entstehung neuer Konnektiva. Erst in einer onomasiologischen Gesamtschau tritt jedoch das Gemeinsame der angeführten konzessiven Ausdrucksstrategien stärker hervor, nämlich die auffällige Markierung auffälliger Gleichzeitigkeit.

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Sabine Heinemann

(Regensburg)

Zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen am Beispiel von Präpositionen

1. Allgemeine Bemerkungen zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen

Für die Referenz auf TEMPORALITÄT gibt es in den einzelnen Sprachen unterschiedlichste Möglichkeiten der Darstellung. Als typische Mittel auch des Italienischen seien hier Adverbien (ieri), temporale Gliedsätze (quando arrivò Gianni, auch infinit: guardando la tv), Präpositionalphrasen {alle sette di mattina) sowie reine Nominalphrasen (giovedì prossimo) genannt, wobei fìir den letztgenannten Fall anzumerken ist, dass in verschiedenen Kontexten eine parallele Konstruktion mit Präposition möglich ist, ohne Differenzen auf der semantischen Ebene hervorzurufen. FUr die bisher genannten Konstruktionen ist deren Funktion als adverbiale Bestimmung im syntaktischen Kontext maßgeblich. Zentral sind natürlich weiter die verbalen Kategorien Tempus und Aspekt sowie Aktionsart. Dabei gilt für Tempora, dass zwar die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen mit Orientierung an der dreigliedrigen Zeitachse (Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft)1 gegeben ist, allerdings eine Spezifizierung im Hinblick auf eine genauere zeitliche Einordnung des / der Ereignisse(s) in der Regel durch Temporaladverbiale erfolgt.2 Hierbei ist natürlich die semantische Verträglichkeit zu beachten. Im Falle der lexikalisch-semantischen Kategorie der Aktionsart dagegen wird zwar die Handlung als solche näher determiniert (Phasen, Abschnitte), die indirekt - nämlich kontextuell bedingt - eine zeitliche Fixierung ermöglicht {stavo per partire quando squillò il telefono), aber auch hier ist wie angedeutet eine eindeutige zeitliche Referenz nicht gegeben. In abgeschwächter Form gilt dies für den verbalen Aspekt als grammatische Kategorie, der die Betrachtung verbal formulierter Vorgänge nach ihrem inneren Verlauf (perfektiv - imperfektiv) beschreibt.3 Die Besonderheit, die temporale Adverbiale gegenüber anderen Möglichkeiten zur Versprachlichung des Konzepts der TEMPORALITÄT auszeichnet, besteht also offensichtlich

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Bei Betrachtung der adverbialen Verwendung der zu besprechenden Morpheme ist auffällig, dass zwar mittels prima und dopo problemlos auf Vor- und Nachzeitigkeit verwiesen werden kann, allerdings ist für die Gegenwart kein Analogen zu finden. Lediglich mit ora (oder mit Hilfe komplexer Syntagmen wie in questo momento etc.) kann auf den Sprechzeitpunkt referiert werden. Das Zusammenspiel von Tempus und Temporaladverbialen im Französischen zeigt Tabatchnik (1998) auf (vgl. Fälle wie Attends-moi, encore deux minutes, et j'ai fini. vs. J'aurai fini mon travail dans deux minutes. (1998: 100)). In der vorliegenden Untersuchung werden Präpositionalphrasen unabhängig von dem jeweiligen Tempus betrachtet, da nicht bestimmte tempusabhängige Restriktionen in der Wahl der Präposition, sondern die konzeptuelle Gliederung im Vordergrund des Interesses steht. Vgl. Schwarze (1995: 718ff.); Klein (1994: 142ff.). Klein (1994: 142) weist daraufhin, dass Aspekt und Tempus als Kategorien in einigen Sprachen nicht verwendet werden, nie jedoch ein Fehlen von Temporaladverbialen zu verzeichnen ist.

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in der Art der geleisteten Relationierung, die sich insbesondere im Falle der Präpositionalphrase zeigt. Wie sich in den nachfolgenden Beobachtungen herausstellen wird, gehört die Bezugnahme auf Zeitpunkte wie -intervalle zu den zentralen Eigenschaften temporal verwendeter Präpositionen innerhalb der Präpositionalphrasen mit adverbialer Funktion. Bei Betrachtung der Konzepte ZEIT und RAUM - viele Präpositionen sind in temporalen und lokalen Kontexten verwendbar - fällt nun zunächst auf, dass die Annahme der Linearität von Zeit in vielen Kulturen verankert ist. Im Vergleich zur Relationierung im Raum ist also bei der metaphorischen Übertragung auf die Zeit 4 eine Reduktion in der Anzahl der involvierten Dimensionen zu verzeichnen. Zeit kann daher als eindimensional im Sinne einer Abfolge von Zeitpunkten auf einem Zeitstrahl aufgefasst werden: [...] rispetto ad Ego il tempo è visto come un asse orientato nel senso davanti-dietro [...] Questa visione emerge dai gesti che facciamo per riferirci a un momento passato [...] o invece a un qualcosa futuro [...] (Cardona 1985: 69)5 Ein wesentlicher Punkt für die Relevanz der frontalen Achse ist allerdings auch durch die Bewegungsrichtung des Menschen vorgegeben, was gleichzeitig die untergeordnete Bedeutung der vertikalen und lateralen Achse neben anderen Kriterien erklärt: The reason why speakers of human languages so consistently choose the frontal axis for expressing sequential location is of course that the passing of time is conceived of in the same way as movement through space. In this way an immediate link with the frontal axis is established, because this axis, too, is defined with respect to movement. (Haspelmath 1997: 22) Primär sind also nicht die Achsen der Vertikalität und der Horizontalität mit seitlicher Ausrichtung (lateral, also links - rechts), sondern entscheidend ist die frontale Achse mit den Komponenten vor / vorne - hinter / hinten, was sich sprachlich auf unterschiedliche Weise realisieren lässt. Entweder der Mensch bewegt sich auf der Linie der Zeit {stiamo raggiungendo la fine dell'anno [...]) oder aber der Mensch bewegt sich nicht, sondern die Zeit (/' grandi tempi sono passati). Für die europäischen Sprachen, so auch für das Italienische, gilt in jedem Fall die Ausrichtung nach vorne, in die Richtung, in die die Wahrnehmungsorgane bei aufrechter Körperhaltung weisen, „der Blick in die Zukunft".6 Interessant ist nun, in-

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Zur Raum-Zeit-Metapher, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden soll, da hinlänglich bekannt, sei hier auf die Ausführungen bei Haspelmath (1997: 17ff.) verwiesen. Interessant ist unter diesem Aspekt auch die Studie von Calbris (1985: 43-55), aus der die Parallelitäten zwischen verbaler und non-verbaler Kommunikation noch deutlicher werden. So z.B. lässt sich feststellen, dass eine Bewegung nach vorne die Zukunft, nach hinten die Vergangenheit symbolisiert, wobei die Weite der Handbewegung als Indiz für die Länge der Zeitspanne gewertet werden kann. Gerade in Bezug auf die Referenz auf Vor- und Nachzeitigkeit ist von Bedeutung, dass es offensichtlich - zumindest im französischen Kulturraum - möglich ist, auf verschiedene Arten auf die Vergangenheit und die Zukunft zu verweisen. Neben der achsenausgerichteten Bewegung der Hand (frontal; vorne - hinten) ist auch die laterale Bewegung maßgeblich. Mit einer Bewegung nach links wird auf Vergangenes Bezug genommen, mit einer Bewegung nach rechts auf Zukünftiges hingewiesen. Diese Determination hat ihre Begründung möglicherweise in der Schreibrichtung von links nach rechts, was eine Übertragung des Bildes auf die Gestik bedeuten würde. - Zum Arabischen, das die Bezeichnung von Körperteilen zum Ausdruck primärer Orientierungsrelationen heranzieht (auf räumlicher und temporaler Ebene) vgl. speziell Lory 1988. Vgl. hierzu die Ausführungen bei Lakoff / Johnson (1980: 41fT.), vgl. auch Marcq (1988: 34). Dahl (1995) führt aus, dass im Madagassischen eine Umkehrung vorliegt dahingehend, dass Zukünftiges als 'hinter dem Menschen' liegend betrachtet wird, da unklar ist, wie die Zukunft aus-

Zur Versprachlichung des Temporalitätskonzepts im Italienischen

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wieweit und auf welche Weise sich die verschiedenen Präpositionen einer Sprache zum Ausdruck von TEMPORALITÄT heranziehen lassen, die im Falle lokaler Relationierung in der Regel mehr als eine Dimension ansprechen. Notwendige Bedingung für die zeitliche Referenz mit Hilfe von Präpositionalphrasen ist der Bezug auf Gleich-, Vor- und Nachzeitigkeit, wie er auch im Rahmen der Tempusformen der Verben gegeben ist, mit dem Unterschied, dass die genannte Referenz auf Zeitpunkte genauso wie die auf Zeitintervalle gewährleistet sein muss. Im Folgenden stehen die Präpositionen des Italienischen im Zentrum des Interesses, die unterschiedliche Abschnitte des Gesamtkonzepts der TEMPORALITÄT fokussieren. Dafür ist zunächst eine semasiologische Betrachtungsweise erforderlich, die schließlich eine Abstraktion mit Blick auf Teilkonzepte ermöglicht, so dass sich der Kreis in einer zusammenfassenden Betrachtung der einzelnen zeitbezogenen Konzepte mit ihrer einzelsprachlichen Repräsentation schließt. Insgesamt ist hier jedoch nicht nur von Interesse, welche Präpositionen welche Teilkonzepte abdecken, sondern auch die Frage nach der Entwicklung der temporalen Verwendungsweisen der einzelnen Präpositionen seit dem 13. Jahrhundert, so dass im Rahmen der semasiologischen Betrachtung korpusgestützt einige Entwicklungen nachgezeichnet werden.7 Generell ist für die Relationen, die hier im Zentrum des Interesses stehen, wesentlich, dass Handlungen bzw. Ereignisse in Bezug aufeinander oder unter Rückgriff auf mehr oder weniger konkrete Zeitangaben relationiert werden. Nach der Grammatik von Schwarze zählen zu den Präpositionen, die primär temporal, aber auch übertragen verwendet werden, dopo, entro und prima* Weitere Präpositionen, die einen Gebrauch unter Bezug auf die temporale Ebene zulassen, sind etwa per, su und in, für die Schwarze auf den in der lokalen Relationierung begründeten Ausgangspunkt hinweist. Das zeigt sich insbesondere auch bei da und a, denen die Referenz auf Quelle und Ziel zu eigen ist. Da und a, die für die temporale Relationierung ebenso von entscheidender Bedeutung sind, werden nun bei Schwarze als grammatische Präpositionen eingestuft; der Grund für diese Klassifizierung liegt möglicherweise in der häufig beschriebenen,9 und in einigen Kontexten tatsächlich anzutreffenden relativen Bedeutungsentleerung10 der genannten Präpositionen. Wichtig ist jedoch, dass die erwähnten temporalen Präpositionen im mo-

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sieht, denn „it is time that moves from behind and passes the observer" (1995: 199). Der Beobachter „sieht" sie erst dann, weshalb letztlich Vergangenes als 'vor dem Beobachter' befindlich charakterisiert ist. Anders als bei Marcq (1988: 39ff.) soll im Folgenden eine Differenzierung nach Relationen (statisch, perlativ, ablativ, direktiv) nicht die Vorgehensweise prägen; vielmehr steht die Gliederung des Konzepts im Vordergrund, die die genannten Relationen eher als Ziel ausweist. - Zu einer ausfuhrlichen Diskussion präpositionaler Semantik sowie der Entwicklung des Bedeutungsspektrums ausgewählter Präpositionen vgl. Heinemann (2001). Diese Einteilung ist für die synchrone Sprachbetrachtung zwar akzeptabel, aber etymologisch betrachtet ist auch hier auf den Ausgangspunkt im lokalen Bereich hinzuweisen. Auch die adverbiale Verwendung der genannten Morpheme ist zu berücksichtigen, da diese für prima und dopo einen zumindest vergleichbaren Stellenwert bei der einfachen Referenz (ohne nominales Element) auf zeitliche Verhältnisse bedeutet. Vgl. dazu den BegrifF der prépositions incolores sowie entsprechende wegweisende Arbeiten auf diesem Gebiet (Spang-Hanssen 1963; Gougenheim 1959; Wandruszka 1976; Weinrich 1978; vgl. Cadiot 1989 bezüglich einer „mittleren Bedeutungsstufe" bei Präpositionen). Die Semantik der betroffenen Präpositionen di, da und a wird in der Funktion stark reduziert, so dass diese in die Nähe der reinen Relation rückt.

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demen Standarditalienischen in der Regel auch eine lokale Interpretation zulassen, zumindest aber für die ältere Sprachstufe eine lokale Bedeutung auszumachen ist. Als Ausgangspunkt fìir temporalen Gebrauch ist also offensichtlich stets eine lokale Lesart als Grundlage anzusehen.11

2. Untersuchungsgegenstand

Auf die temporalen Verwendungsweisen aller Präpositionen des Italienischen kann hier nicht eingegangen werden; die folgenden Ausführungen verbleiben bei verschiedenen präpositionalen Gruppen. So sind zunächst solche Präpositionen zu betrachten, die sich durch das Merkmal der Interiorität auszeichnen (hierzu gehören neben in auch entro, dentro und für die ältere Sprachstufe auch (injfra bzw. (in)trä). Die Problematik besteht hier in der Aufgliederung des Konzepts, da alle Präpositionen Bezug nehmen auf ein Intervall. Daraus ergibt sich die Frage, ob und inwieweit die genannten Präpositionen austauschbar sind. Eine zweite Gruppe bilden die Präpositionen der Vertikalität, bei denen sich die hauptsächliche Schwierigkeit in der Übertragung von der räumlichen auf die zeitliche Ebene stellt. Entsprechend den vorausgehenden Bemerkungen ist die involvierte Ebene der Vertikalität für den zeitlichen Bezug nicht zentral, die Präpositionen sopra, su und sotto sind offensichtlich in temporaler Verwendung eher selten anzutreffen. Ein weiterer Grund für die geringe Häufigkeit dieser Präpositionen im Rahmen der zeitlichen Situierung liegt in der starken Konkurrenz von prima und dopo begründet, die als prototypische, häufigste Verwendungsweise anders als sopra, su und sotto nicht diejenige mit lokalem, sondern vielmehr diejenige mit zeitlichem Bezug aufweisen. Als Reflex der lokalen Verwendung und etymologisch gestützt ist bei sopra, su und sotto möglicherweise eine engere Verbindung der von der Relation betroffenen Größen zu erwarten. Eine dritte Gruppe umfasst die zentralen Präpositionen a und da sowie mit Einschränkung di, da hier die di eigene partitive Bedeutung zum Ausdruck kommt. In diese letzte Gruppe fallen also diejenigen Präpositionen, die in anderen Kontexten Grammatikalisierungen zeigen. Zusätzlich dazu soll auch per in die Untersuchung miteinbezogen werden, da es sich hierbei ebenfalls um eine hochfrequente Präposition handelt, die in Konkurrenz zu den Präpositionen der Interiorität tritt, sofern diese die Dauer eines Ereignisses ansprechen.12 Anders als bei Langacker (1987: 217), dessen Terminologie (trajector, landmark) gestaltpsychologisch orientiert ist und damit primär die räumliche Inbezugsetzung von mindestens zwei Größen betrifft, wird hier eine Generalisierung angestrebt, die auch bei tempo11

12

Mit Bezug auf Jackendoffs Annahme einer „abstract organization that can be applied with suitable specialization to any field" (1983: 310) stellt Haspelmath (1997: 141) fest: „[...], the crucial aspect is the secondary nature of temporal markers with respect to spatial markers". Altitalienisch ist für per zum Agensanschluss parallel zu da noch die filr das Französische und Iberoromanische grammatikalisierte Verwendung zu erkennen. Da setzt sich in diesem Kontext jedoch zunehmend durch und verdrängt schließlich per vollständig, wodurch per von der letztgenannten Gruppe abzugrenzen ist. Weitere mit den zu besprechenden Gruppen bedeutungsverwandte Präpositionen werden in den zugehörigen Abschnitten mit wenigen erläuternden Beispielen angesprochen.

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raier Relationierung die Definition einer Bezugs- und einer zu relationierenden Größe (BG bzw. RG) ermöglicht (vgl. etwa tre gradi sotto zero mit zero als Bezugsgröße (BG) und tre gradi als Versprachlichung für die zu relationierende Größe RG; durch die Präposition wird die Relation zwischen RG und BG spezifiziert). Auf der Ebene der Temporalität erhalten die Größen ihre inhaltliche Füllung als Zeitpunkt, -intervall oder als Ereignis. Dies gilt zumindest stets für BG; RG ist nur sekundär auf diese Weise zu definieren, weil der Bezug auf BG vorliegt, so dass eine bestimmte Ausdehnung in der Zeit immer vorgegeben ist.

2.1. In und verwandte Präpositionen Beginnend mit der Präposition in ist für das Altitalienische primär der Bezug auf einen Zeitraum als Bezugsgröße (BG) zu konstatieren. (1)

Onde io ricordandomi, trovai che questa visione m'era apparita ne la nona ora del die; [...] (vita, 45)13

Die nachfolgenden Beispiele (2) und (3) lassen eine eindeutige Bestimmung der Intervallgrenzen, also des Anfangs- und Endpunktes des Zeitraumes nicht zu, d.h. die Ränder des Intervalls erscheinen als unklar, vage.14 Die angesprochenen Intervalle giovinezza und battaglia sind allerdings offensichtlich auf Grund des Kernbereichs ausreichend, um eine zeitliche Fixierung einer Handlung, eines Ereignisses etc. zu ermöglichen. (2) (3) (4)

[...] i costumi, che volentieri amano nella giovinezza, [...] (dec., 2. Tag, Nov. 5.15) [...] li baroni che si portare bene nella battaglia, [...] (mil., Kap. 80.3) Aveva la donna, nel venire del fante di Rinaldo nel castello, di questo alcuna cosa sentita, [...] (dee., 2. Tag, Nov. 2.19)

Im Falle von Beispiel (3) ist gleichzeitig ein Berührungspunkt mit der Präposition su gegeben, die in diesem Kontext ebenfalls möglich ist. Stärker tritt diese Überlagerung jedoch in (4) hervor. Die Interpretation ist bei Verwendung von in eindeutig durch das Behälterkonzept gelenkt. Im modernen Sprachgebrauch wird mit in ebenfalls hauptsächlich eine intervallbezogene Relation hergestellt, wie die unter (5) und (6) aufgeführten Korpusbelege zeigen. Dabei ist offensichtlich die zeitliche Ausdehnung des Ereignisses zumeist irrelevant, d.h. die zu relationierende Größe (RG) kann gleichermaßen einen Zeitpunkt oder auch ein Intervall als

11

14

Die Beispiele sind den herangezogenen Korpora GATTO und LIZ entnommen, für das Neuitalienische zusätzlich zu LIZ auch LIP sowie der Tageszeitung la Repubblica. Bei den untersuchten Texten handelt es sich um Giambonis Libro de ' Vizi e delle Virtudi (abgekürzt vizi) und das Trattato di Virtu e Vizi (tratt.), Latinis Rettorica (rett.), Dantes Vita Nuova (vita), Novellino (nov.), Cronica fiorentina (cron. fior.) sowie die Capitoli della Compagnia di San Gilio (cap. I), die Capitoli della Compagnia della Madonna d'Orsanmichele (cap. II) und das Libro degli ordinamenti della Compagnia di Santa Maria del Carmine (libro) aus GATTO, Marco Polos Milione (mil.), Tristano Riccardiano (Trist.), die Divina Commedia von Dante (comm.), sowie Convivio desselben Autors (conv.), eine Cronaca Compagnis (Comp.) und schließlich Boccaccios Decameron (dec.) aus LIZ. Zu den genauen bibliographischen Angaben sei hier verwiesen auf die Anmerkungen in GATTO und LIZ. Die Zitation der Belegstellen folgt der Notation in den entsprechenden Korpora. Vgl. auch Klein (1994: 156), der auf die fuzzy boundaries der Intervalle mit Bezug auf das Englische aufmerksam macht.

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Bezugsgröße betreffen. Die Bezugsgröße gibt also letztlich durch die Begrenzung einen zeitlichen Rahmen vor. (5) (6) (7) (8)

[...] una nota di novantasette visite a fare in dicembre e in aprile, [...] (Fog., Kap. 1, 1.9) [...], il presidente del Consiglio ha deciso in tempo record [...] (Repu., 6) Nella vecchiaia mi sembrate un uomo molto divertente. (Svevo, Kap. 5.45) Il mio spirito era fervido, fertile e fatale come nel principio dell'amore. (D'Ann., Leda 6.94)

In (6) steht dabei die zeitliche Ausdehnung von RG eindeutig im Vordergrund, nicht so sehr die Situierung als solche. Allerdings ist BG hier wohl kaum als eine Vorgabe für die 'Entscheidung' zu verstehen, vielmehr zeichnet sich die 'Entscheidung' durch das in BG genannte Kriterium aus, d.h. mit in verbindet sich anders als mit per in analogen Kontexten eine resultative Komponente. Allerdings gibt es auch für in Fälle, in denen die Größe des Intervalls vorgegeben ist, das RG gänzlich ausfüllt, wie sich aus Verwendungen wie in un mese ho fatto grandi progressi ersehen lässt. Mit derartigen Verwendungen rückt in hier in die Nähe von per, das, wie noch zu erläutern sein wird, bei Referenz auf einen Zeitraum in der Regel das gesamte Intervall durch RG ausgefüllt sieht. Für in ist nun auch die Möglichkeit gegeben, auf Lebensabschnitte in der Funktion von BG abzuheben, die keine offensichtliche Limitierung aufweisen, wie dies bereits zum Altitalienischen angemerkt wurde und aus Beispiel (7) ersichtlich wird. Ähnlich stellt sich der unter (8) zitierte Fall dar. Die nachfolgenden Belege (9) bis (11) zeigen nun allesamt die Fokussierung der Gleichzeitigkeit zweier Handlungen, Ereignisse etc. Die in (9) aufscheinende Konstruktion „Präposition + Artikel + Infinitiv" ist in ihrer Funktion der des Gerunds vergleichbar, und auch in den Beispielen (10) und (11) wird in ähnlicher Weise ein Zeitrahmen durch eine Handlung bzw. einen Zustand aufgespannt, der eine punktuelle ebenso wie eine intervallumfassende Referenz ermöglicht. (9)

Voleva dire che s'era commossa «e//'immaginar l'Elisa in quel giardino. (Fog., Kap. 4, 2.42) (10) L'ho visto in allenamento, giocherà tranquillo. (Repu., 42) (11) Nel dormiveglia ricordo che il mio testo asserisce che con questo sistema si può arrivar a ricordare la prima infanzia, [...] (Svevo, Kap. 2.6 preamb.) (12) [...] perché, è la gita scolastica? - sì, in pochi giorni [...] (LIP, fb 11)

Der unter (12) angeführte Beleg, der zudem einem Korpus der gesprochenen Sprache entstammt, bildet eine Ausnahme im Vergleich zu den zuvor diskutierten Verwendungen. Anders als bisher wird hier Bezug genommen auf den Endpunkt eines Zeitintervalls; es liegt also eine Verschiebung in der Fokussierung vor, die entwicklungsgeschichtlich so nur bei (in)tra bzw. (in)fra zu beobachten ist.15 Im Hinblick auf entro ist für die ältere Sprachstufe zu bemerken, dass eine Beschränkung auf die räumliche Relationierung vorliegt, was auf den ersten Blick verwunderlich erscheint, da für das moderne Standarditalienisch eine fast ausschließliche Bezugnahme auf temporale Kontexte zu verzeichnen ist und die lokale Relationierung eher eine marginale Rolle spielt. Altitalienisch ist allerdings ähnlich wie bei in in lokalem Kontext die Dominanz des Behäl15

Es handelt sich hierbei um den einzigen Beleg dieser Art für in, so dass fraglich ist, ob hier nicht eine Änderung in der Satzorganisation eingetreten ist, so dass hier möglicherweise eine Kontamination unterschiedlicher Konstruktionen vorliegt (in questa settimana, nella prossima settimana wären ebenso denkbar wie fra pochi giorni). Verzögerungen, die einen entsprechenden Hinweis liefern könnten, werden im LIP-Korpus nicht notiert.

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terkonzepts vorherrschend, so dass auf temporaler Ebene eine Bezugnahme auf Zeiträume, die einen beidseitigen Einschluss, eine Begrenzung erfahren, als Übertragung logisch erscheint. Durch RG wird nie auf Zeitpunkte referiert, sondern stets eine Lokalisierung innerhalb eines Intervalls bei entsprechender Ausdehnung von RG angegeben. Wie nun die Beispiele (13) und (14) zeigen, ist für entro im Vergleich zu in und offensichtlich durch die dominante Position von in auch im zeitlichen Bereich bedingt eine Bezugnahme auf einen späteren Abschnitt des Zeitintervalls festzuhalten. (13) (14)

[...] c'era scritto nel documento che andava fatta un'assemblea entro la metà di marzo [...] (LIP, fb 5) [...] vi arriverà per posta al massimo entro venti giorni dalla prenotazione [...] (LIP, md 7)

Durch BG wird gleichzeitig die „rechte" Begrenzung des Zeitintervalls aufgezeigt; die „linke" Begrenzung 16 kann durch den Sprechzeitpunkt gegeben werden; liegt sie vor dem Sprechzeitpunkt, bleibt sie unfixiert, sofern nicht wie in Beleg (14) die Begrenzung durch die Präpositionalphrase dalla prenotazione hervorgehoben wird. Entro rückt damit in die Nähe von verso und dopo, wobei allerdings anzumerken ist, dass entro klar Bezug nimmt auf einen Zeitabschnitt, der diesseits der Intervallgrenze liegt. Dagegen setzt dopo am Endpunkt des Zeitraumes an mit einer Ausrichtung in die Zukunft, und verso schließlich leistet eine approximate Angabe ohne Intervallbezug. Als interessant erweist sich nun auch die Betrachtung von dentro in temporalen Kontexten, besonders im Vergleich zu entro, da auch mit dentro ein Morphem mit eher geringer Gebrauchshäufigkeit gegenüber dem dominierenden in vorliegt. Während für entro eher überraschend ist, dass trotz des Vorherrschens von in in allen Kontexten ein sekundäres Erschließen der temporalen Ebene eintritt, das jedoch von Anfang an eine Spezialisierung im Vergleich zu in zeigt, so ist für dentro der lokale Anwendungsbereich im Alt- und Neuitalienischen zentral. Belege wie der unter (15) genannte bilden also eher die Ausnahme. Die hier verwendete komplexe Präposition dentro a - die semantische Beeinflussung seitens a ist sicher als gering einzustufen - erhält dabei den Wert, der für neuitalienisches entro auszumachen ist. Der Beleg unter (16) dagegen, dem ebenfalls der Status eines Sonderfalls zukommt, ist wohl eher im Sinne einer Betonung des gesamten Zeitraumes, ähnlich wie bei in gesehen, zu deuten. (15)

[...], io il voglio cominciare a fare: cioè a restrignere dentro a alcun termine quello di che dobbiamo novellare [...] (dec., 1. Tag, Schluss 4) (16) [...] a me servivano dentro questa settimana [...] (LIP, rb 9)

Neben entro und dentro sind nun auch (in)tra und (injfra, zumindest für die ältere Sprachstufe als weitere Morpheme mit Bezug auf das in räumlicher Verwendung dominierende Behälterkonzept zu nennen, das hauptsächlich durch in vertreten wird. Dabei ist für beide Belege von altitalienischem infra in temporalem Kontext die für heutiges entro gültige Bedeutung mit Endpunktfokussierung festzustellen. (17) (18)

16

[...], li capitani li debbiano pacificare infra cinque di, [...] (cap. I, 46) [...] che i capitani di questa Compagnia siano tenuti di fare correctione due volte almeno infra i sei mesi ch'ànno a stare, (cap. 1,41)

„Links" und „rechts" nehmen hier natürlich auf die graphische Darstellung des Zeitstrahls Bezug, der die Vergangenheit links, die Zukunft rechts ausweist.

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Für das moderne Standarditalienische ist für fra und tra eine Entwicklung zu beobachten, die deutlich von derjenigen abweicht, die für in und entro aufgezeigt wurde. Durch die Definition des Zeitintervalls mit Hilfe des sprachlich ausgedrückten Endpunkts sowie andererseits durch das Nunc der Sprecherorigo17 ist in gewisser Weise eine Betonung des Endpunktes vorgegeben (deiktische Verwendung). Dagegen wird bei in vorzugsweise eine Charakterisierung des Bezugsobjekts durch Referenz auf die von den beiden zeitlichen Endpunkten des Intervalls eingeschlossene Zeitspanne geleistet, wodurch also BG als ein Zeitraum zu identifizieren ist. Nur wenn nicht der Sprechzeitpunkt als erste Begrenzung des Intervalls fungiert, sondern das interessierende Intervall sprachlich expliziert wird, bleibt neuitalienisch eine semantische Parallele von fra / tra zu in bewahrt (fra marzo e luglio·, nichtdeiktische Verwendung).

2.2. Sotto, sopra und (in) su Was die Präpositionen betrifft, die bei räumlicher Relationierung primär die vertikale Achse ansprechen, so ist zunächst auf sotto einzugehen. Für das nachfolgende Beispiel, das gleichzeitig einen der wenigen Belege des immer gleichen Typs für sotto im Altitalienischen darstellt, ist nicht eindeutig zu klären, ob hier mit BG ein Zeitraum vorgegeben ist, der als Bezugsrahmen für die beschriebene Situation gilt. Dies würde eine Substitutionsmöglichkeit durch in eröffnen, erscheint daher als wenig wahrscheinlich und auch entwicklungsgeschichtlich schwer nachvollziehbar, wenn die Relationierung, wie sie auf lokaler Ebene gegeben ist, eine Übertragung auf die temporale Ebene zeigen soll. Möglich ist auch die Interpretation im Sinne einer imaginären Skala, einer Schwelle für BG, was auch durch die Vorgaben der räumlichen Relationierung gestützt wäre. Damit würde mit sotto ein Verhältnis der Vorzeitigkeit hergestellt, das sich auch im Neuitalienischen in Beispielen wie (20) aufzeigen lässt. (19) Nel tenpo di costui, sotto l'anno del MCC anni, la città di Costantinopoli fu presa per li Francesschi [...] (cron.fior., 113) (20) [...] quando ritorno magari sotto Natale [...] {LIP, rb 7)

Dabei wird im Falle von (20) also nicht nur auf die Festtage referiert, was auf eine Gleichzeitigkeit von Ereignissen hindeutet, sondern eben auch die in anderen Kontexten einzige Interpretation im Sinne der Vorzeitigkeit (essere sotto l'esame) angesprochen, im konkreten Fall zu definieren als 'Adventszeit'. Weder fiir das Alt- noch das Neuitalienische sind weitere Beispiele mit eindeutig temporalem Bezug auszumachen; häufig jedoch finden sich Verwendungen wie in sotto il dominio, sotto tormenti etc., die eine zusätzliche zeitliche Verortung der Ereignisse erkennen lassen, so dass hier eine indirekte temporale Situierung vorliegt. Für sopra ist altitalienisch die zeitliche Nachordnung zu erwähnen, wie sie aus Beispiel (21) ersichtlich wird. Als Grundlage dient hier die lokal determinierte Vorstellung der Schichtung, die sich auf temporaler Ebene durch die Reduktion in der Dimensionalität im Sinne einer Überlagerung vergangener, früher liegender Ereignisse oder Handlungen durch

17

Hiermit erhält die Relationierung eine deiktische Komponente.

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neue, spätere Geschehnisse manifestiert. Dabei liefert die Identität der sprachlich aufscheinenden Lexeme ein weiteres Indiz für die Übertragung der räumlich verankerten Idee. (21)

[...] / ché sempre l'omo in cui pensier rampolla / sovra pensier, [...] (comm., 5.16-17)

Purg., can.

Wie jedoch bereits angemerkt wurde, wird die zeitliche Nachordnung sehr viel stärker durch die primär temporal bestimmte Präposition dopo zum Ausdruck gebracht. Von Interesse ist entsprechend, dass nur zwei Belege aus dem gesamten untersuchten Korpus eindeutig als temporal betrachtet werden können. In diesen Fällen wird durch BG ein Zeitintervall vorgegeben, das Begleitzustand und Fixpunkt zur zeitlichen Positionierung des Ereignisses oder der Handlung zugleich ist. Die Funktion ist derjenigen des Gerunds vergleichbar. (22) (23)

Quelli della congiura fatta contro a Giano, essendo sopra rinnovare le leggi nella chiesa d'Ognissanti, [...] (Comp., Buch 1, 13.3) E avendo giucato insieme due giuochi, ed ierano sopra lo terzo giuoco ed iera grande kaldo, [...] (Trist., Kap. 57.2)

Die Entwicklung von Verwendungsweisen dieses Typs erweist sich als schwer erklärbar; möglicherweise spielt die räumlich induzierte Überlagerungsvorstellung eine Rolle. Für den modernen Sprachgebrauch sind die eher selten anzutreffenden Gebrauchsweisen des folgenden Typs auffällig: (24)

Conveniva romperla sopra una questione amministrativa. (Fog., Kap. 3, 1.31)

Hier ist allerdings aus dem Kontext nicht eindeutig zu schließen, ob eine zeitliche Nachordnung der Geschehnisse anzunehmen ist, da auch die für das Altitalienische typische Überlagerung durchaus als Interpretationsmöglichkeit in Betracht zu ziehen ist, die im konkreten Fall ein Nebeneinander von Gesprächssequenzen bedeuten würde. Ähnlich gelagert sind die Fälle bere un bicchiere sopra la pasta oder farsi fare un vestito sopra misura. Wenngleich die letztgenannte Verwendung von Muttersprachlern als in der Form nicht mehr akzeptabel beschrieben wird, sondern eine Substitution von sopra durch su als notwendig erachtet wird, ist das zugrunde liegende Muster bei beiden Präpositionen identisch. Auch hier liegt eine zeitliche Nachordnung vor, die das 'Maßnehmen' als Voraussetzung für das 'Anfertigen des Anzugs' sieht. Der genannte Gebrauch von sopra in bere un bicchiere sopra la pasta dagegen zeigt die Parallelität zweier Ereignisse, die sich für das Altitalienische nachweisen ließ, heute jedoch als ungebräuchlich markiert ist.18 Als Grund für das Ausfallen einiger Verwendungsweisen lässt sich möglicherweise die geringe Durchsichtigkeit in der Entwicklung anführen, zumindest, solange nicht su für sopra eintritt, dessen Ausdehnung auch in anderen Kontexten zu einer Verdrängung von sopra geführt hat. 19 Diese Substitution von sopra durch su vollzieht sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte und ist für die ältere Sprachstufe noch nicht zu erkennen. Hier tritt su vorwiegend in Ver-

18

19

Laut einigen befragten Muttersprachlern ist eine Interpretationsmöglichkeit im Sinne einer temporalen Aufeinanderfolge hier nicht zentral. In UP ist su als Präposition 1781, als Adverb lediglich 6 9 mal belegt. In adverbieller Funktion wird damit eine Parallele zu sopra erkennbar (63 Belege), das allerdings nur 24 mal in Funktion einer Präposition auftritt. Diese Daten zeigen einen primären Verdrängungsprozess im Rahmen präpositionaler Verwendung.

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bindung mit in in der komplexen Präposition in su auf.20 Vergleichsweise selten erscheint (in) su nun auch in temporalen Verwendungskontexten. Die hier folgende Behandlung des Großteils der Belege ist durch die Tatsache begründet, dass sich damit wichtige Entwicklungsschritte nachvollziehen lassen, die auf die Verhältnisse, wie sie sich heute für su nicht nur auf temporaler Ebene zeigen, hinführen. Während in Beispiel (25) noch die bereits für sopra diskutierte Nachordnung anzunehmen ist - denkbar ist auch die Interpretation von vittoria als Basis für eine Regentschaft, was zu einer nur indirekten zeitlichen Situierung führen würde - , zeichnen sich die nachfolgenden Beispiele durch ihren eindeutigen Zeitbezug aus. (25) E andolla conquistando, e regnò VI anni su questa vittoria, [...] {mil., Kap. 67.1) (26) „Tu vedi che egli è in su la nona: [...]" (dee., 3. Tag, Nov. 1.20) (27) E acciò che questo abbia effetto, farai che in su la mezzanotte tu venghi alla camera mia: [...] (dee., 7. Tag, Nov. 7.16)

(28) [...], intorno della bella fontana di presente furono in sul danzare, quando al suono della cornamusa di Tindaro e quando d'altri suon carolando, (dee., 7. Tag, Schluss 3) (29) La mattina adunque seguente, in su l'ora del mangiare, primieramente i quattro fratelli di Tedaldo, [...] vennero a casa Aldobrandino, [...] (dee., 3. Tag, Nov. 7.46) (30) [...], cioè il mercoledì, in su lo schiarir del giorno, [...] (dec., 1. Tag, Einl. 20) (31) [...], la donna si levò in su l'aurora e acconciossi e andossene alla chiesa [...] (dee., 7. Tag, Nov. 5.10) Dass die meisten der Beispiele dem Decameron entstammen, spiegelt die Belegsituation wider, denn die temporale Verwendung von (in) su findet sich fast ausschließlich in Boccaccios Werk; nur vereinzelt treten derartige Verwendungen in der Nuova Cronica von Villani und Marco Polos II Milione auf. Generell betrachtet bildet offensichtlich auch bei (in) su, wie dies für in gezeigt wurde, die als BG definierbare Größe ein Zeitintervall. RG ist nun zumindest im Hinblick auf die ersten Belege offensichtlich als ein Ereignis oder Geschehnis zu klassifizieren, das hinsichtlich seiner zeitlichen Ausdehnung das durch BG vorgegebene Zeitintervall partiell abdeckt oder überlagert. Damit würde der Ursprung temporaler Verwendungsweisen von (in) su wahrscheinlich von semantisch ähnlichem sopra induziert. Die zeitliche Ausdehnung RGs ist jeweils kontextuell zu erschließen, so dass also prinzipiell wiederum ein punktuelles Ereignis ebenso möglich erscheint wie ein solches, das den gesamten durch BG beschriebenen Zeitabschnitt ausfüllt. Andererseits ist, wie für die lokalen Verwendungen auch, parallel eine Interpretation unter Berücksichtigung der Präposition in möglich, die sich aber auch aus der vorbenannten Interpretationsmöglichkeit ableiten lässt. Somit könnte nun auch BG als Zeitraum oder -spanne betrachtet werden, der bzw. die das Ereignis RG umschließt. Dies zeigt eine Aktivierung des Behälterkonzepts, wie sie zumindest für die Beispiele (26) und (27) zulässig ist. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Tatsache, dass für su wohl keine eigenständige, einflussfreie Entwicklung anzunehmen ist, wenn man bedenkt, dass es im Korpus keinen einzigen Beleg für die alleinige Verwendung von su in temporalem Kontext altitalienischer Texte gibt. Eine zusätzliche Parallele von in und (in) su offenbart sich in der Verwendung der jeweiligen Präposition in Verbindung mit einem Infinitiv (Bsp. (4) und (28), (30)), was die eigenstän20

Möglicherweise ist in su als komplexe Präposition durch in mit gleicher inhaltlicher Bestimmung zurückgedrängt worden; in su erscheint gegenüber einfachem in gleichzeitig als weniger motiviert, da in als prototypische Präposition der räumlichen Relationierung semantisch in bedeutendem Maße durch das Behälterkonzept determiniert ist.

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dige Entwicklung der intervallbezogenen Gebrauchsweisen unwahrscheinlich macht. Dies ist insbesondere auch dahingehend interessant, als für su generell kaum eigenständige Entwicklungen zu verzeichnen sind. Die meisten Lesarten für su erweisen sich als „Übernahmen" von sopra, hervorgerufen offensichtlich durch die Vergleichbarkeit der (bei lokaler Verwendung aufscheinenden) zugrunde liegenden Konzepte. Zu den angeführten Beispielen ist zunächst festzuhalten, dass diese Gruppe relativ homogen zu sein scheint, zieht man die für das Neuitalienische typische approximative Bedeutung (ci vediamo sulle otto 'gegen acht Uhr') heran. Jedoch tritt mit la nona in Beleg (26) ein Intervall (14-15 Uhr) in der Funktion von BG auf, und nicht etwa ein punktuell definiertes BG, wie es für den temporalen Gebrauch von su im modernen Sprachgebrauch typisch zu sein scheint. Für (27) ist ebenfalls festzustellen, dass hier mezzanotte offensichtlich nicht punktuell aufzufassen ist, sondern die Stunde unmittelbar vor Mitternacht angesprochen wird. Und auch mit (28) wird dies zumindest angedeutet, da essere in sul fare als Verbalperiphrase inchoativen Charakters zu deuten ist.21 Bei Betrachtung der unter (29) bis (31) angeführten Beispiele fällt auf, dass sich BG anders als in den Fällen (26) und (27) durch eine Ungenauigkeit in der Spezifizierung auszeichnet, also eine Vagheit in der zeitlichen Situierung für RG vorgegeben wird, womit sich jedoch die Möglichkeit einer approximativen Angabe eröffnet. Daher ist offensichtlich davon auszugehen, dass die approximative Bedeutung, die der Präposition su neuitalienisch nicht nur auf temporaler Ebene zukommt (vgl. aber hierzu auch Verwendungen wie etwa ho lavorato sulle tre ore), sondern auch bei Bezugnahme auf unterschiedlichste Maßangaben (so auch Alter, vgl. z.B. avrà sui quarant'anni), ihren Ursprung in dieser temporalen Verwendung hat. Es handelt sich im Altitalienischen mit dieser Gebrauchsweise von su um die einzige metaphorisch bedingte, die übrigen Kontexte sind zu dieser Zeit durch den ausschließlichen Bezug auf die räumliche Ebene im Sinne einer (zumindest partiellen) Überlagerung von BG durch RG gekennzeichnet. 22 Abschließend ist zu dieser approximativen Lesart von su zu bemerken, dass unter Verwendung von su ein Zeitpunkt nicht im Sinne einer genauen zeitlichen Fixierung von RG angesprochen werden kann. Zu diesem Zweck ist die Präposition a zu verwenden. Dieses Faktum weist möglicherweise gleichzeitig die „gelenkte" Entwicklung von su aus, da nicht mit Sicherheit angenommen werden kann, dass su, wenn auch unter Berücksichtigung der durch in vermittelten Bedeutungskomponente, unabhängig von umgebenden Präpositionen mit ihren jeweiligen temporalen Bedeutungen diese approximative Lesart entwickelt hat. So ist in jedem Fall die eindeutige temporale Referenz mit Hilfe von a, die sich im Altitalienischen verstärkt feststellen lässt, anzuführen, die eine parallele Entwicklung für su wenig wahrscheinlich macht. Für den modernen Sprachgebrauch ist eine weitere Ausdehnung des diskutierten approximativen Gebrauchs zu verzeichnen, der primär einen Bezug auf klar definierte Zeitpunkte als BG zeigt. Nur mehr vereinzelt treten Verwendungen wie sul far del giorno etc. auf. Für die ältere Sprachstufe mit den untersuchten Texten noch nicht zu belegen ist der bei sopra bereits angesprochene Gebrauch in un abito su misura, incontro su appuntamento etc., der im ersten Fall misura gleichzeitig die Funktion einer Basis, eines Modells zuweist, aber doch mit der zweiten Verwendung die zeitliche Nachordnung für RG in Bezug auf BG ge21 22

Vgl. hierzu auch die Anmerkung in der Ausgabe von Branca (1985: 1096): 'si misero a danzare'. Bei dieser Bedeutung von su handelt es sich um eine der wenigen eigenen Entwicklungen, die eine semantische Differenzierung von su und sopra bewirkt.

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mein hat. Hier wird su, das deutlich häufiger als das zurückgedrängte sopra in derartigen Kontexten erscheint, dopo vergleichbar (vgl. dazu die Beispiele (32) und (33)), das die zeitliche Nachordnung deutlicher zum Ausdruck bringt.23 Interessant ist hier auch die Parallelität zu dietro etwa in dietro ricetta. Auch hier geht das 'Vorlegen des Rezepts' der 'Aushändigung des Medikaments' voraus. Auffällig ist, dass hier Präpositionen Verwendung finden, die primär zur lokalen Relationierung gebraucht werden und im einen Fall durch die Referenz auf die vertikale, im anderen Fall auf die horizontale Achse (frontal) determiniert sind. Bei dietro wird dabei der Betrachterstandpunkt berücksichtigt, der eine Umdeutung der Verhältnisse für die temporale Verwendung erleichtert. Insgesamt ist dietro auf Grund des einfacheren Bildes eine stärkere Betonung der zeitlichen Nachordnung beizumessen. Hervorzuheben ist auch, dass abgesehen von den stärker idiomatisierten Verwendungen wie un abito su misura etc., die keine Substitutionsmöglichkeit von su durch dopo oder auch in seguito a zulassen, in Kontexten wie mi ha posto domande su domande die Setzung von su als Relationierer sprecherseitig als markiert empfunden wird und hier häufig dopo oder in seguito a an die Stelle von su tritt. Dies kann als Reflex für die mangelnde Durchsichtigkeit im Falle des Gebrauchs von su angesehen werden. (32) (33)

[...] - qui tutto è lavorato su disegni del pittore Fusarin. (Fog., Kap. 5, 3.6) [...] per casi particolari su appuntamento anche la domenica [...] (LIP, fe 15)

Dass die Interpretation der Präpositionalphrase als approximative Angabe entschieden von der Strukturierung der Bezugsgröße abhängt, wurde bereits erwähnt. Nur bei punktuellem BG ist die Interpretation im Sinne einer approximativen Angabe gegeben; damit rückt die Verwendung von su in die Nähe von verso, circa, intorno a etc., die allgemein betrachtet eine zeitliche sowie z.T. auch eine Maßangabe ermöglichen. Sobald nun BG als Intervall aufgefasst werden kann, ist eine approximative Interpretation nicht mehr möglich. Vielmehr tritt hier die in der Semantik von su wie sopra enthaltene zumindest teilweise Überlagerung von BG durch RG in den Vordergrund, die auf temporaler Ebene eine parallele Abfolge von RG und BG bedeutet. Als Belege für diese schon bei sopra besprochene Verwendung lassen sich die Beispiele (34) und (35) anführen, wohingegen eine eindeutige Interpretation für (36) nicht gegeben werden kann, wenngleich die zeitliche Nachordnung als Deutung dominiert.24 (34) (35)

„[...], io faccio un poco il grazioso e sull'aurora tutto il sogno sfuma in landau verso l'oriente." (Fog., Kap. 3,4.14) [...] non può significare diritto ad un lavoro nocivo [...] alla morte sul lavoro [...] (LIP, nd

Π) (36) Su quella parola egli s'era interrottof...] (D'Ann., Leda 6.74)

2.3. Da, a, di und per Aus der Gruppe der Präpositionen, die in einigen Kontexten grammatikalisiert sind, ist die Präposition da hervorzuheben, die ausgehend vom Altitalienischen eine interessante Ent23

24

Dopo ist in den angegebenen Fällen aber nicht mit su austauschbar, bietet hier also keine Alternative zu su. Vgl. für das Französische Anscombre (1993: 111, 113ff., 142).

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wicklung zeigt. In der älteren Sprachstufe wird mit Hilfe von da Bezug genommen auf einen präzisen Ausgangspunkt, der gleichzeitig den Beginn eines Zeitintervalls beschreiben kann. Dieses Zeitintervall ist bei alleiniger Verwendung von da „auf der rechten Seite" durch das Nunc der Sprecherorigo begrenzbar, wobei die kontextuelle Einbettung für eine entsprechende Interpretation als maßgeblich angesehen werden kann. Prinzipiell nämlich bildet auch das Nunc nur einen Punkt innerhalb des Intervalls, das hinsichtlich seiner „rechten" Begrenzung unspezifiziert erscheint. Nur bei lexikalischer Realisation kann eindeutig entschieden werden, ob der Sprechzeitpunkt oder ein Zeitpunkt in der Zukunft die „rechte" Begrenzung für das Intervall darstellt; dies ist durch die Ergänzung einer weiteren Präpositionalphrase mit α als Kopf gegeben. Bei genauerer Betrachtung der temporalen Relationierung ist die Übertragung der prototypischen lokalen Bedeutung erkennbar.25 D.h. ausgehend von einem konkreten Punkt auf der Zeitachse erfolgt eine Ausrichtung, „Bewegung" auf die Zukunft hin.26 Stellvertretend hierfür seien die Beispiele (37) und (38) genannt. Dabei zeigt der Beleg (38) die Möglichkeit, die Distanzangabe temporaler Art durch eine zusätzliche Angabe unter Verwendung von a mit Blick auf den Endpunkt des Intervalls zu präzisieren.27 Dass nun als Ausgangspunkt auch eine weniger präzise Angabe möglich ist, zeigt das Beispiel (37), ebenso (38), wobei im letztgenannten Fall eine kontextuelle Spezifizierung erfolgt. Eine vollkommene Kontextabhängigkeit wird schließlich in (41) erkennbar, da hier eine zeitliche Fixierung vom Nunc der Sprecherorigo abhängig ist. (37) (38) (39) (40) (41)

[...], et abbia divieto ciaschuno in questo officio per uno anno dal die che finiranno li quattro mesi del capitanato, {cap. Il, 664) [...], che da indi ala Pentacosta qualunque cavaliere volesse conbattere per amore di dama, [...] (Trist., Kap. 26) Questo suo padre dalla fantilitade si cominciò e fecelo nodrire intra savi uomini di tempo, [...] (nov., 134) [...]; e questo fu CCL anni dal cominciamento di Roma, [...] (vili., Buch 1, Kap. 28.4) Da quinci inanzi dicerà come noi li potemo mettere in loro invidia, (reti., 181)

Als ebenfalls interessant, da metonymisch motiviert, stellt sich der unter (42) angeführte Beleg dar. Die hier angegebene apparizione kann also auf Grund ihrer räumlich-zeitlichen Verortung als Referenzpunkt für den Beginn eines zeitlichen Intervalls verwendet werden. (42)

[...], anzi quasi tutti infra Ί terzo giorno dalla apparizione de' sopraddetti segni [...] morivano. (dec., 1. Tag, Einl. 3) (43) Onde vedemo ne le cittadi d'Italia, se bene volemo aguardare, da cinquanta anni in qua molti vocabuli essere spenti e nati e variati; [...] (conv., Trakt., 1, 5.3)

In (42) deutet sich bereits die für das moderne Standarditalienische zusätzliche temporale Verwendung von da an, die in (43) noch deutlicher hervortritt. D.h. es wird nicht mehr direkt auf den Beginn des Zeitintervalls Bezug genommen, sondern nur mehr indirekt, und zwar indem eine Angabe zur Zeitspanne ausgehend von dem Nunc der Sprecherorigo ge-

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Für den modernen Sprachgebrauch sind zwei prototypische Bedeutungen anzunehmen, ein distanzbezogener (è venuto dal campo), der im Altitalienischen ebenfalls präsent ist, und ein nähebezogener (vado da lui), der sich erst in der älteren Sprachstufe herauszubilden beginnt. Die genannte direktionale Komponente, die jedoch auch stark von der verbalen Semantik abhängig ist, lässt sich gleichermaßen für a anführen. Auch hier zeigt sich eine Abbildung räumlicher auf zeitliche Verhältnisse, die bei a auf lokaler Ebene einen konkreten Zielpunkt anzeigt.

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macht wird, die eine Ermittlung des Anfangspunktes des Zeitraumes ermöglicht. Da dient im Altitalienischen noch nicht der ausschließlichen Bezugnahme auf ein zurückliegendes Zeitintervall, wie es im modernen Sprachgebrauch etwa in sto lavorando da due ore vorliegt. Vielmehr wird ergänzend in qua eingefügt, das eine Referenz auf die Sprecherorigo birgt; dieser Zusatz ist für das Neuitalienische als eher selten zu bezeichnen. Im modernen Sprachgebrauch zeigt sich nun eine klare Differenzierungsmöglichkeit im Rahmen der temporalen Verwendungsweisen. Bei Referenz auf einen Zeitpunkt (BG) bildet dieser den Anfangspunkt des Intervalls; diese Verwendung tritt in dieser Form auch altitalienisch auf. Daneben ist bei Referenz auf eine Angabe zur Länge des Zeitintervalls der Ausgangspunkt nur indirekt gegeben; die Beispiele (47) und (48) verdeutlichen jedoch, dass die Referenz auf den Anfangspunkt des Intervalls nicht immer eindeutig festzumachen ist, sondern eine weitere Spezifizierung unterbleiben kann. Wichtig ist in jedem Fall, dass im ersten Verwendungskontext mit Hilfe von da die „linke" Begrenzung des Zeitintervalls fokussiert wird, während im zuletzt besprochenen Fall der Zeitraum als solcher eine Betonung erfährt.28 Ergänzend dazu ist die Postposition fcP zu erwähnen, die eine Fokussierung des Beginns des Zeitabschnitts bietet, womit auf den sprachlich nicht explizierten Ausgangspunkt des Zeitintervalls Bezug genommen wird. (44) A partire dal gennaio del 2001 la liberalizzazione sarà completa. {Repu., 8) (45) [...] quel terribile periodo che comprende vent'anni dalla prima alla seconda guerra mondiale [...] (LIP, fc 5) (46) Scadeva il quinto giorno dalla mia ultima visita in casa Malfenti. (Svevo, Kap. 5.231) (47) [...] e il minareto non ha più il muezzin che invita alla preghiera ma tace da diversi anni [...] (LIP, fd 17) (48) Guardai le stelle con ammirazione come se le avessi conquistate da poco. (Svevo, Kap. 3.169) (49) Una volta, allorché da studente cambiai di alloggio, [...] (.Svevo, Kap. 3.36)

Der in (49) vorliegende Gebrauch scheint auf den ersten Blick gesehen mit Verwendungen von in in nella gioventù etc. vergleichbar zu sein. Wenngleich auch hier Bezug genommen wird auf einen Lebensabschnitt, dem eine zeitliche Fixierung zu eigen ist, ist für den angeführten Fall doch eine Dominanz der Charakterisierung der Person als 'Student' anzunehmen, wobei die jeweilige Bezugsperson lexikalisch nicht immer im Kontext spezifiziert sein muss.30 Die für a bereits festgestellte Referenz auf einen Zeitpunkt zeigt sich im Altitalienischen nur in etwa der Hälfte der temporalen Verwendungskontexte. Häufiger ist statt eines Zeitpunktes in der Funktion der Bezugsgröße die Bezugnahme auf ein Intervall, das beispiels-

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Interessant ist die häufig in Spaltsätzen zu beobachtende Elision von da: È due ore che sto lavorando (Kongruenz ist hier möglich: Son due ore che sto lavorando)·, vgl. dazu Manzotti / Rigamonti (1983: 199). Wie Haspelmath (1997: 87) erläutert, gibt es nicht nur im Italienischen, sondern auch in anderen Sprachen (in der Romania z.B. im Spanischen) die Möglichkeit, mit Verben des Typs 'machen' auf zeitliche Distanz zu referieren, wobei im Italienischen im Vergleich zum Spanischen (hace) die Postposition einen Hinweis auf die stärkere Grammatikalisierung von fa gibt, das zudem nicht mehr konjugierbar ist. Daneben kommt auch Existenzverben (vgl. frz. il y a, it. or sono) diese Funktion zu. Vgl. parallel dazu etwa da buon italiano. Das an da angeschlossene Element ist in der Regel als Substantiv gekennzeichnet und erlaubt eine Klassifizierung.

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weise auch durch ein Ereignis, eine Handlung metonymisch bedingt in (50) zum Ausdruck kommt. In (51) ist die durch suono dei corno eingenommene Zeitspanne nicht genau zu bestimmen, eine punktuelle Referenz erscheint hier jedoch wahrscheinlicher. Das unter (52) zitierte Beispiel weist durch den erneuten Bezug auf einen Zeitraum eine Parallelität zu den Konstruktionen „in / (in) su + definiter Artikel + Infinitiv" auf, womit sich gleichzeitig die Frage nach der semantischen Differenzierung stellt, die sich als minimal herausstellen dürfte. (50) [...] avenne una mattina tra l'altre che egli udì alla messa uno evangelio, [...] (dec., 1. Tag, Nov. 6.6) (51) [...], al matino al suono del corno sarete fuori de lo castello [...] (Trist., Kap. 59.2) (52) La mattina, al fare del giorno, Metello armato con tutta sua gente [...] (vili., Buch 1, Kap. 34.2) (53) [...], giurato e pormesso di venire per la corona all' agosto prossimo, [...] (Comp., Buch 3, 24.1) (54) Or avenne che al tempo di Mogu Kane, [...] (mil., Kap. 58.2) (55) [...] a dl Vili d'aprile del detto anno quasi alle Vili ore del dì, [...] (vili., Buch 11, Kap. 200.4) (56) Fue a uno Natale a una cittade dove si donavano molte robe, [...] (nov., Kap. 25, 189.1) (57) Non dichiarò se cominciasse alla natività di Maomet o alla sua motte, [...] (vili., Buch 3, Kap. 8.12) (58) [...], et in molte parti per lo reame, per le fessure della terra, cominciò a uscire fummo di fiiocho, si grandi e forti, che poi a due anni, né per piova né per ghiacci né per altro humidore non si poteano spegnere: [...] (cron.fior., Kap. 99.11) (59) [...], e vannone nel diserto a cacciare. (Trist., Kap. 3.5) Für die Verwendungen unter (53) und (54) ist auf die erneute Bezugnahme auf Zeitspannen zu verweisen, wenn auch hier eine genauere Bestimmung als in den ersten Beispielen aufscheint. Im Laufe der Entwicklung steht aber offensichtlich die Referenz auf Zeitpunkte oder zumindest punktuell erfassbare Zeiträume im Vordergrund, da Kontexte, wie in (53) gegeben, eher selten die Verwendung der Präposition a als vielmehr diejenige von in nach sich ziehen, wie sie sich schon im Lateinischen zeigt. D.h. es ergibt sich für in und a eine Differenzierung hinsichtlich des intervallbezogenen Gebrauchs dahingehend, dass eine eindeutige Funktionszuordnung (Zeitpunkt vs. Intervall) erfolgt. 31 Als äußerst interessant erweist sich Beleg (58), da hier anders als in den übrigen Kontexten offensichtlich eine durative Komponente in den Vordergrund tritt, wie sie auch für das Lateinische vorliegt.32 Die in (59) erscheinende finale Periphrase „andare a + Infinitiv", die sich für die Ausbildung einer Futurperiphrase anbietet, ist sicher durch die Ausrichtung eines Bewegungsverbs wie andare auf einen Zielpunkt in rein lokalem Kontext bedingt und erfährt aufgrund der Tatsache, dass Bewegung im Raum gleichzeitig eine bestimmte Zeitspanne ausfüllt, einen somit metonymisch bedingten temporalen Bezug. 33 Auffällig ist, dass neben a, sofern im modernen Sprachgebrauch Uberhaupt noch in analogen Kontexten vertreten, auch eine einfache

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Damit soll nicht behauptet werden, dass a in derartigen Kontexten zu einer nicht akzeptablen präpositionalen Konstruktion führt; regional tritt a hier durchaus in Konkurrenz zu in (zumindest regional sind Aussagen wie / 'ho conosciuto a gennaio als korrekt für die Gebrauchsnorm zu werten). Ein Reflex liegt neuitalienisch nur mehr in idiomatischen Wendungen des Typs da oggi a due (anni) vor. A due anni ist jedoch nicht mehr alleine stehend durativ verwendbar. Zur Grammatikalisierung von Bewegungsverben zu Tempusmarkern vgl. speziell Detges (1999).

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Referenz im Sinne eines bloßen Nomens (vgl. z.B. la sera vado spesso a nuotare) und nicht nur mittels einer Präpositionalphrase unter Verwendung von a möglich ist. Dieses Faktum weist möglicherweise auf die hier durch α hergestellte fundamentale Relation hin. 34 Für das Neuitalienische steht nun, wie dies bereits mehrfach angesprochen wurde, die Bezugnahme auf solche Größen im Vordergrund, die eine Präzision in der temporalen Angabe erlauben, wobei auch eine Altersangabe möglich wird, wie Beispiel (60) zu entnehmen ist. (60) (61) (62) (63) (64)

A pena stabilitosi a Siena, a vent'anni, [...] (Tozzi, Kap. 1.6) Alle quattro e un quarto erano sette. (Fog., Kap. 3, 2.1) Λ/battere delle undici tutta la brigata si rovesciò in frotta [...] (Fog., Kap. 1, 2.17) Già alle prime parole che scambiammo sentii qualche stonatura, [...] (Svevo, Kap. 5.98) [...] pareva più facile di non mangiare per tre volte al giorno che di non fumare [...] (Svevo, Kap. 3.72) (65) [...]; ma uno alla volta, a vicenda, si rivolgevano agli altri [...] (Tozzi, Kap. 7.29) (66) A primavera, meno il lavorato con l'aratro o con la vanga, doventava di cento verdi, [...] (Tozzi, Kap. 1.23) Bildet ein Ereignis die Bezugsgröße für RG, dann ist von einer Gleichzeitigkeit der Geschehnisse auszugehen. Dies zeigt sich etwa in (62) mit der bereits für das Altitalienische besprochenen Verwendung zusammen mit einem Infinitiv sowie in (63). In derartigen Kontexten ist zwar ein Austausch von a höchstens durch su möglich, und zwar vermutlich bedingt durch die Tatsache, dass die hier vorliegenden Geschehnisse eher über eine geringe zeitliche Ausdehnung verfügen und RG nur eine partielle Parallelität beschreibt. Der Übergang zur Verwendung von in anstelle a scheint ebenso wie die Spezifizierung der Relation durch durante oder einen temporalen Gliedsatz mit mentre von der Ausdehnung des Intervalls abzuhängen. Interessant ist nun neben diesen auch für den Sprachgebrauch des 13. Jahrhunderts beobachtbaren Gebrauchsweisen die in (64) und (65) auftretende Verwendungsweise. Durch die mehrfache Referenz auf die als Intervall interpretierbare Bezugsgröße wird diese zu einer Maßeinheit. (66) kommt hier eher eine Ausnahmestellung zu, da für das Standarditalienische eine punktuelle Betrachtung eines größeren Zeitraumes weniger gut möglich zu sein scheint, als dies noch im Altitalienischen zu beobachten ist.35

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Vgl. auch Haspelmath (1997: 50, 107, 116), der daraufhinweist, dass bei regelmäßig wiederkehrenden kanonischen Zeitabschnitten in den verschiedenen Sprachen spezielle Adpositionen ausgebildet sind. Neben di ist im Italienischen allerdings wie beschrieben auch die bloße Setzung des Nomens möglich, was insbesondere bei Verbindung mit Demonstrative (quest 'estate) oder Indefinita (ogni martedì) gilt. Die Präpositionen da und a verbindet zusätzlich zum häufig gemeinsamen Auftreten von mit ihnen konstruierten Präpositionalphrasen zur Bestimmung von Anfangs- und Endpunkt der interessierenden Zeitintervalle auch die Konstruktion mit fino. Dadurch wird eine stärkere Betonung des Anfangspunktes des Zeitraumes erzielt (lo sto cercando fin da ieri). Bei Betonung des Intervalls (da due ore) ist dagegen eine Verstärkung durch fin(o) nicht möglich (vgl. dazu auch Manzotti / Rigamonti (1983: 203f.)). Bei fino a wird der bis zum Endpunkt des Intervalls zu durchlaufende Zeitabschnitt fokussiert, während bei einfacher Verwendung von a der Zielpunkt im Vordergrund steht. Dagegen wird die Distanz bei fin da lediglich verstärkt, die bei Verwendung mit quantifizierten Zeitangaben ebenso im Vordergrund steht. Eine analoge Struktur ist für neuitalienisches a nicht mehr gegeben. Darin ist möglicherweise der Grund zu sehen, dass bei Insertion von fino eine Kombination mit einer weiteren Präpositionalphrase, die zu einer gleichzeitigen Fokussierung der entgegengesetzten Relation führen würde, zumindest bei Verstärkung von da nicht möglich erscheint: *Lavora fin dalle otto alle dodici, aber: Lavora dalle otto fino alle dodici).

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Die Präposition di kann, wie bereits in den einleitenden Bemerkungen angedeutet wurde, nur in begrenztem Maße als temporal determiniert angesehen werden, da in den entsprechenden Verwendungskontexten ähnlich einem Großteil weiterer Verwendungen von di die partitive Komponente im Vordergrund steht. In zeitlich spezifizierten Kontexten wird durch di eine einfache Referenz auf einen Zeitraum gleich welchen Ausmaßes geleistet. Damit geht jedoch keinerlei Angabe hinsichtlich der Ausdehnung von RG einher, das im Übrigen häufig sprachlich nicht expliziert wird (vgl. dazu die Beispiele (67) und (68), für das Neuitalienische (69)). Interessant ist letztlich bei (69) der nur mehr durch marzo gegebene temporale Bezug, die zeitliche Fixierung wird also durch die marzo zugewiesene Attributfunktion hergestellt. (67) Del mese Caprile 1302 avendo fatti richiedere molti cittadini [...] (Comp., Buch 2, 25.6) (68) [...] li fiumi, ch'erano grandi e di verno e di state, [...] (mil., Kap. 13) (69) [...] una voce che somiglia a una di quelle giornate torbide di marzo, [...] (D'Ann., Leda 1.2) Als weit interessanter gegenüber di erweist sich nun per, eine Präposition, deren Verwendung auf temporaler Ebene Ähnlichkeiten zu den intervallbezogenen Präpositionen aufweist. Die fìir das Altitalienische unter (70) bis (72) notierten Belege der insgesamt eher selten auszumachenden temporalen Verwendungen zeigen die beiden für per anzunehmenden Typen zeitlicher Verwendung. In den beiden ersten Beispielen wird ein begrenztes Intervall angesprochen, das in seiner ganzen Ausdehnung von RG betroffen ist.36 RG ist dabei in der Regel als Handlung spezifiziert, die diesen Zeitraum ausfüllt. Allerdings erscheint RG teilweise nur indirekt an der sprachlichen Oberfläche, so etwa in Form von spese in (70), das in gewisser Weise stellvertretend für die lebenserhaltende Nahrungsaufnahme steht. In Beispiel (72) tritt nun eine mit der bereits diskutierten Verwendung von a in der Periphrase andare a fare qc. vergleichbare Gebrauchsweise von per zutage. Auch hier ist neben der für per wohl zentraleren Finalität, die auch in Kontexten wie questo regalo è per te mit benefaktiver Komponente angedeutet wird, die metonymisch bedingte Ausrichtung auf Futurisches in temporalen Kontexten anzumerken, wie sie in dem genannten Beispiel erkennbar wird - hier gestützt durch die verbale Semantik. 37 (70) [...] e Ί Grande Kane diede loro le spese per due anni, (mil., Kap. 18.2) (71) [...]; e andarono per tutto lo giorno e-nno-llo trovarono in neuna parte. (Trist., Kap. 2.3) (72) [...]; e quando questi si partirò per tornare i-loro paese [...] (mil., Kap. 18.4)

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Vom pragmatischen Standpunkt schwer nachvollziehbar erscheint die Anmerkung Haspelmaths (1997: 34), dass in einem Satz wie She worked until six o'clock die nicht notwendige Beendigung der 'Arbeit' angelegt ist und dass ein Satz des Typs She worked until six o 'clock and even longer ebenso akzeptabel erscheint. Ähnliche Beobachtungen stellt Haspelmath (1997: 38) zur zeitlichen Ausdehnung einer Handlung an: The children watched television for five hours, and in fact all day. Hier ist wohl eher eine Rücknahme der Aussage anzusetzen, der sich in einer Korrektur niederschlägt ('Sie arbeitete bis sechs Uhr, ach nein, eigentlich noch viel länger.'). Interessanterweise ist zumindest neuitalienisch festzustellen, dass kalendarische Einheiten sowie qualitative Zeitabschnitte (Jahreszeiten, Monats-, Tages- und Tageszeitbezeichnungen) nur der Situierung dienen, nicht dagegen als Maß für die zeitliche Ausdehnung zur Verfügung stehen (*per due aprili, *per due inverni etc.; vgl. Haspelmath (1997: 27)). So ließe sich auch in (64) für per due anni eine Futurität in der Vergangenheit annehmen, da der Augenblick der Nahrungszuftihr dem Übergeben des Proviants nachfolgt. Wesentlicher erscheint jedoch die Referenz auf eine festgelegte Zeitspanne.

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Beide Verwendungsweisen lassen sich auch für den modernen Sprachgebrauch nachweisen; im Falle der stärker futurisch ausgerichteten Gebrauchsweise ist hier auf den Beleg unter (75) aufìnerksam zu machen, da die Möglichkeit, per in diesem Kontext zu verwenden, eben in dieser Ausrichtung auf Zukünftiges begründet liegt. Bei Gebrauch von di oder auch a wäre in jedem Fall eine direkte Referenz auf die Bezugsgröße gegeben, der eine punktuelle Referenz auf wiederkehrende Einheiten, die nicht weiter kontextuell spezifiziert sind, inhärent ist. Weiter wird durch die Verwendung von per nur eine Art Ausblick gegeben, der bei Gebrauch von in nicht möglich wäre, da in nur dann zur Relationierung herangezogen werden kann, wenn RG von seiner zeitlichen Ausdehnung her betrachtet eine Einbettung in BG erfährt. Damit erweisen sich die Gebrauchsweisen von per mit temporalem Bezug weit weniger eng verbunden als etwa diejenigen von da, die sich leichter über eine metonymische Beziehung erklären lassen. Wie bei da lässt sich jedoch auch für per feststellen, dass bei per mit einem Nomen zur Bezeichnung eines Datums, allgemeiner eines Termins die futurische Komponente dominiert, während bei quantifizierten Angaben, also bei Referenz auf Zeitspannen die Ausfüllung des Intervalls durch RG definierend ist. (73) Un'ombra di malcontento le restò in viso per tutta la serata, [...] (Fog., Kap. 1, 2.2) (74) Ma era dimenticata, perduta per sempre. (Svevo, Kap. 2.2) (75) „[...] che i signori Dessalle aspettassero amici da Venezia proprio per domenica." (Fog., Kap. 1,2.11) Interessant sind letztlich neben möglichen Elidierungen von per unter bestimmten Bedingungen die Verwendungen bei räumlicher Relationierung. In einem Kontext wie ha dormito per cento chilometri38 wird deutlich, dass hier keineswegs nur eine Relation auf lokaler Ebene hergestellt wird, sondern gleichzeitig eine temporale Relationierung ermöglicht wird, und zwar auf Grund der für die Zurücklegung der angegebenen Strecke benötigten Zeit, die nicht gesondert sprachlich expliziert wird. Dadurch wird die Nähe von Raum und Zeit deutlich, die die oft filr die Übertragung räumlicher auf zeitliche Verhältnisse angesetzte Metaphorik in einigen Fällen als fraglich erscheinen lässt. Ebenfalls eine metonymische Relation zwischen lokaler und temporaler Verwendung ist in folgendem Kontext für dopo nachzuvollziehen: Verbunden sind z.B. die Verwendungen von dopo, die ebenfalls die Betonung der zeitlichen Komponente auf Grund der Bewegung (hier mit einer Möglichkeit zur Differenzierung nach Sprecher und Rezipient) erlauben: passate questo palazzo e voltate subito dopo il prossimo?9

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Hier zeigt sich eine weitere Parallele mit da: dorme da duecento chilometri etc. In den angeführten Beispielen deutet sich an, dass es Restriktionen bezüglich der Tempuswahl gibt bzw. bei den einzelnen Tempora nicht beide Präpositionen parallel auftreten können (JHa dormito da duecento chilometri). Auffällig ist in diesem Kontext auch, dass bei Verben der Vergangenheit offensichtlich da ausreicht, um auf den Anfangspunkt zu verweisen, bei Verben der Gegenwart und Zukunft jedoch eine Ergänzung durch in poi (da domani in poi) oder a partire (a partire da domani) erforderlich wird. Anders als in den bisherigen Verwendungskontexten ist hier das Hic der Sprecherorigo bedeutsam. Wesentlich ist für die Interpretation solcher Verwendungen auch das von Langacker (1991: 22, 327) beschriebene sequential scanning.

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3. Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Zusammenfassend und zurückkehrend zur onomasiologischen Betrachtungsweise kann nun eine Gliederung des Konzepts der TEMPORALITÄT für das Italienische gegeben werden, wie es sich aus der semasiologischen Analyse ergibt. Zentral scheint das Konzept der Interiorität in Bezug auf ein Zeitintervall zu sein, für das im Italienischen vor allem in zur Versprachlichung zur Verfügung steht. Durch entro kann dabei insbesondere auch derjenige Abschnitt des Intervalls betont werden, der den späteren der intervallbeschreibenden Zeitpunkte anspricht. Für fra und tra gilt ähnliches, allerdings mit der Einschränkung, dass das durch das Nunc der Sprecherorigo auf der einen und durch BG auf der anderen Seite begrenzte Intervall nicht mehr als solches wahrgenommen wird. Damit tritt eine Loslösung von BG ein, da der Sprechzeitpunkt nicht als konstituierend erkennbar ist, so dass vom Sprechzeitpunkt aus betrachtet die Referenz auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt möglich ist. Während im Falle von in keine spezifischen Vorgaben an die zu relationierende Größe gestellt sind und dem Zeitraum eher die Funktion eines Orientierungsrahmens zukommt, ist bei Gebrauch von per das Zeitintervall als Ganzes angesprochen und im Zentrum des Interesses. Aber auch zu fra und tra gibt es bei per durch die Ausrichtung auf einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt Überschneidungspunkte. Dabei wird im Falle von fra und tra jedoch die Distanz zu diesem Zeitpunkt expliziert, wodurch der angesprochene Intervallbezug wieder hergestellt wird. Auch mit di kann offensichtlich auf einen Zeitraum, allerdings nur in äußerst unspezifischer Weise, Bezug genommen werden. Für die Fokussierung eines aus der Sprecherperspektive gesehen zurückliegenden Zeitraumes steht die Präposition da in Verbindung mit einem Quantifikator ebenso zur Verfügung wie die Postposition fa, die jedoch den Beginn und damit den Anfangspunkt des Intervalls stärker betont. Hervorzuheben ist in jedem Fall der Gegenwartsbezug, der durch die Sprecherorigo gegeben ist, die maßgeblich in die Relation mit einfließt. Zur Angabe der Dauer steht wie erwähnt auch per zur Verfügung, das jedoch nicht retrospektiv angelegt ist, sondern unspezifiziert erscheint und keinen Bezug zum Sprechzeitpunkt herstellt. Mit per ist eher auch su vergleichbar, wenngleich hier die approximative Angabe im Vordergrund steht. Aber auch die partielle Überlagerung von zwei Geschehnissen kann durch su, aber auch durch sopra sowie bei Perspektivenwechsel durch sotto zum Ausdruck gebracht werden. Bedeutender ist jedoch die Bezugnahme auf zeitliche Abfolgen, die nicht nur durch su (zeitliche Nachordnung) und sotto (Vorordnung), sondern primär durch prima und dopo (beide nicht-deiktisch) versprachlicht wird. Jedoch kann mit su und sotto ein unmittelbarer Anschluss an das Zeitintervall oder den Zeitpunkt geleistet werden. Von diesen eher intervallbezogenen Konzepten sind natürlich solche abzugrenzen, die eine punktuelle Referenz zum Inhalt haben. Für eine präzise Relationierung steht hier vor allem a zur Verfügung, aber auch per, wie bereits erwähnt, sofem bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Während für eine präzise punktuelle Angabe mit a nur eine Präposition auf alle entsprechenden Kontexte anwendbar zu sein scheint, gibt es für die approximative Referenz auf einen Zeitpunkt mit su, verso und intorno, letzteres nur in Verbindung mit a,

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deutlich mehr Mittel aus dem Bereich der Morpheme mit präpositionaler Funktion.40 Zur Betonung des Intervallbeginns steht da zur Verfügung, die Länge des Intervalls lässt sich nur indirekt aus dem Sprechzeitpunkt ableiten; genauer lässt sich der Zeitraum nur fassen, wenn gleichzeitig das Intervallende beschrieben wird. Allgemein lässt sich abschließend festhalten, dass sich zumindest für das Italienische eine relativ feine Gliederung des zeitlichen Bezugs aufzeigen lässt. Häufig lassen sich bei parallelem Gebrauch verschiedener Präpositionen nur minimale Bedeutungsunterschiede (bei den Präpositionen) und damit auf konzeptueller Ebene geringfügige Verschiebungen im Sinne von Betonungen von Spezifika feststellen. Dabei können diese leichten Differenzen etymologisch bedingt sein oder resultieren gerade aus dieser Parallelität, auf semantischer Ebene zu verstehen als Gegenentwicklung zu Synonymierelationen. In der zusammenfassenden graphischen Darstellung sollen einige der Konzepte veranschaulicht werden, die durch zentrale Präpositionen des Italienischen versprachlicht werden. in

prima / sotto vs. dopo /su/

Γ

I

(sopra)

't

^

Fig. 1

^

di

a

—WÊÊÊÊ—% 1 Referenzzeitpunkt

«

^

Fig. 6

Fig. 3

— ¡ ¡ i i i i i i i i —

su, verso, intorno a Referenzzeitpunkt

1 — «

da



Fig. 5

per

Fig. 2



Γ

Τ

^

-t

Fig. 7 Sprechzeitpunkt

Fig. 4 Für in (Fig. 1) zeigt sich also wie auch für dentro und entro mit den beschriebenen Abweichungen eine primäre Referenz auf einen Zeitraum, der durch RG mehr oder weniger vollständig ausgefüllt sein kann. Bei per dagegen ist bei einer Verwendung wie in ha lavorato per tre ore das Zeitintervall stets in seiner Gänze angesprochen (Fig. 2). A (Fig. 3) und da (Fig. 4) referieren explizit oder implizit auf einen Zeitpunkt, wobei da häufig einen Vergan40

Für circa ist die Verbindung mit a zu erwähnen: alle due circa, circa alle due. Circa kann bei

Referenz auf einen Zeitpunkt also offensichtlich nicht alleine stehen.

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genheitsbezug erhält (vgl. dagegen da domani in poi). Stärker auf Anteriorität ausgerichtet sind die Präpositionen prima und sotto, die Posteriorität lässt sich mithilfe von dopo, su und im modernen Italienisch nur mehr in eingeschränktem Maße auch durch sopra versprachlichen (Fig. 5). Eine eher vage zeitliche Relationierung wird einerseits durch di erreicht, dessen partitive Bedeutung hier deutlich sichtbar wird (Fig. 6), andererseits durch su, verso und die komplexe Präposition intorno a, denen die approximative Bedeutungskomponente gemein ist (Fig. 7). Wie in den voraufgehenden Untersuchungen sichtbar wurde, bedeutet aber die genannte Parallelität mehrerer Präpositionen keineswegs eine Deckungsgleichheit in den Verwendungskontexten. Vielmehr lassen sich hier Differenzierungen auf der konzeptuellen Ebene ausmachen, die sich entsprechend auch in der sprachlichen Realisierung widerspiegeln.

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Heiner Böhmer (Graz) Semantische Analyse von Verfugungsverben und Redensarten des Bereichs 'Geld, Besitz' im Spanischen

Redensarten wie sp. soltar la mosca 'Geld locker machen' oder dt. hinter vorgehaltener Hand sind ein komplexer Gegenstand für die Semantik. Denn ihre Bedeutung beinhaltet oft ein metaphorisches Element und nicht selten ein festes Konnotat, das nicht erst durch den Kontext geliefert wird, sondern bei der Bedeutungsbeschreibung auf Systemebene berücksichtigt werden muss. Auch die Charakterisierung ihres Denotats erscheint häufig nicht einfach, da viele Phraseologismen die Bedeutung sinnverwandter Verben oder Adverbien durch eine Reihe von zusätzlichen Informationen nuancieren. Trotz dieser Komplexität sollten Redensarten nicht aus der semantischen Beschreibung herausgelassen, sondern als Konkurrenten, Ergänzungen, Ausdrucksalternativen zu Einzellexemen beschrieben werden (Böhmer 1998). Sie können somit auch an Wortfelder angeschlossen werden. Soltar la mosca, ser pobre como una rata, ganarse la vida und andere derartige Redensarten lassen sich z.B. dem Wortfeld von 'Besitz, Tausch und Verfügung über etwas* zuordnen. Etwas abstrakter ausgedrückt und mit Hinblick auf die Wortart: dem Feld der 'Verfügungsverben', gemäß der Terminologie von Koch (1981). Eine zunächst naheliegende Darstellungsform dieses Feldes würde der herkömmlichen Wortfeld-Methode folgen (vgl. Tab. 1). Nach einer Herausarbeitung der die Verfügung betreffenden Teilbedeutungen der Polysemien von tener, dar, comprar usw. könnte man eine Tabelle aufstellen, die das Wortfeld gemäß seinen unterschiedlichen Merkmalsdimensionen entfaltet (vgl. Krassin 1984). Ein Pluszeichen bedeutet wie üblich, dass ein bestimmtes Merkmal der Bedeutung eines Wortes zugesprochen wird, ein Minuszeichen heißt, dass es ihr abgesprochen wird. 0 soll hier für nicht spezifiziert stehen (vgl. Krassin 1984), d.h. ein Merkmal kann im Semem eines Worts enthalten sein oder auch nicht, das hängt vom Kontext ab. Nehmen wir die Beschreibung von dar\ Es handelt sich um ein Verb, das etwas mit faktischen Verfügungsverhältnissen zu tun hat. Die Verfügung ist nicht etwa rein potenziell gemeint wie bei necesitar. Dar ist kausativ und inchoativ, da jemand durch sein Geben bewirkt, dass ein anderer beginnt, über das Gegebene zu verfügen. Dar ist kein Zustand, also nicht durativ wie etwa tener, necesitar oder auch costar. Bei dar ist derjenige Benefizient, der das Übergebene empfängt, nicht das Subjekt. Dagegen ist bei tomar und recibir gerade das Subjekt der Nutznießer. Bei dar kann entweder das Geld das Übergebene sein - wenn jemand einem anderen Geld leiht - oder aber es gibt eine geldliche Gegenleistung - wenn das Geben im Rahmen eines Kaufs erfolgt. Comprar dagegen ist so definiert, dass das Objekt in der Regel nicht Geld ist, denn mit Ausnahme von irgendwelchen Geldmarktgeschäften handelt es sich ja um Gegenstände, die gekauft werden. Ein spezieller Fall von comprar wären demgegenüber eben Geschäfte des Geldmarkts zwischen Banken. Die Kategorie 'Aktivierung zum Zweck' spielt bei dar keine Rolle (-), wohl aber bei utilizar oder gastar, die bezeichnen, dass ein Gegenstand, den man zur Verfügung hat, oder Geld, das man besitzt, im Sinne seiner Funktion eingesetzt wird. Ob das Geben betrügerisch ist oder nicht, ist nicht

Heiner Böhmer

100

spezifiziert: man kann auch eine illegale Geldspende übergeben. Es gibt andere Verben der Tabelle, die klar Betrügerisches meinen (timar) und solche, die im Prinzip einen legalen Verfügungswechsel bedeuten {comprca·). Ob der Akt des Verfügungswechsels durch eine Bewegung geschieht oder durch einen kommunikativen Akt, ist bei dar nicht spezifiziert. Oft übergibt man einfach einen Gegenstand. Wenn man aber sagt Te daré mi coche para mañana ('ich geb' dir mein Auto für die Fahrt morgen'), dann ist der Gegenstand für eine direkte physische Übergabe zu groß. Vielmehr wird der Sprecher dem Angesprochenen seinen Autoschlüssel übergeben und ihm verbal erlauben, den Wagen für eine Fahrt zu benutzen. Hier wird die Übergabe im Wesentlichen durch einen kommunikativen Akt umgesetzt. Was schließlich die Frage betrifft, ob der Referent des ersten Arguments eines Verfügungsverbs der erste Besitzer des Gegenstandes ist, so scheint dar nicht spezifiziert. Natürlich kann auch eine Hobbybastlerin etwas an einen Freund übergeben, das sie selbstständig hergestellt hat. Oder es kann sich andererseits um einen Gegenstand handeln, der schon zum x-ten Mal auf dem Flohmarkt seinen Besitzer gewechselt hat. Es gibt aber eben nun Verben, deren Bedeutung eine explizite Verneinung der Erst-Besitzerschaft durch den Referenten ihres ersten Arguments beinhaltet: z.B. devolver oder hurtar. Verb

Verfügung

Modalität: Verfügung nur potenziell

Kaus

Incho

Dur

Benefizient Objekt = Subj. Geld

tener necesitar dar tomar recibir devolver utilizar comprar gastar hurtar timar

+

-

-

-

+

+

-

-

+ +

0 0

+

-

+

-

+

+

-

-

+

+

-

+

-

-

+

-

+ +

+

-

0

-

+ + +

-

-

+ + +

-

+

+ +

-

+

+ +

-

Verb

Geld als Gegenleistung

tener necesitar dar tomar recibir devolver utilizar comprar gastar hurtar timar

-

Aktivierung als Mittel zum Zweck 0

-

-

0 0 0

-

-

+ + + +

+ +

-

+

-

0 0 0 0 0 0 -

-/+

+

-



0

-

+

+

Betrug, Illegalität 0

Bewegung zur Umsetzung 0

-

0 0 0

-

-

-

+

0

+

-

-

0 0 0 0 0 0

0 0 0 0 0 0

-

+

-

0

-

0 +

-

-

+

-

-

-

-

+

-

+

-

0

Kommunikativer Akt zur Umsetzung -

Tab.l: Ein Ausschnitt aus dem Wortfeld der Verfllgungsverben im Spanischen

Ref. 1. Arg. = Erster Besitzer 0 0 0 0 -

0 -

Semantische Analyse von Verfìigungsverben und Redensarten

101

Auf ähnliche Weise kann man auch die anderen Glieder des Wortfelds Merkmal für Merkmal durchgehen. Das Ergebnis einer solchen Analyse ist irgendwie nicht befriedigend. Vielleicht mag man mit einer genaueren methodischen Vorgehensweise - etwa ausführlichen Kommutationen in Satzkontexten (vgl. Coseriu 1970; Krassin 1984) - bessere Einzelmerkmale finden. Darum geht es aber gar nicht. Was an der Tabelle stört, ist die Gleichbehandlung aller Merkmale. Sie erhalten keineswegs unterschiedliche Stellenwerte in einem Beschreibungsschema für die Verbbedeutung. Sondern alle stehen auf gleicher Stufe innerhalb einer bloßen Reihe, eines additiven Zusammenwurfs: Inchoativität steht gleichberechtigt neben den Gesichtspunkten der Modalität und der Besitzerreihenfolge und hat zur Gesamtbedeutung des jeweiligen Semems das gleiche Verhältnis wie diese. Um die Bedeutung von Verben zu beschreiben, benötigt man aber ein anderes, dynamisches Schema, in dem der Handlungs- oder Prozesscharakter besser zum Ausdruck kommt. Für Verbbedeutungen sind drei unterschiedliche Schemata anzusetzen: • Handlungen sind kontrolliert initiiert und gesteuert, sie führen von einer Ausgangssituation Uber eine dazwischenliegende Mittelsituation zum Ziel, wobei sich das 'Mittel' des mittleren Glieds sowohl auf seine zeitliche Position als auch auf seine Funktion als Mittel zum Ziel bezieht. Wenn z.B. ganz einfach ein leeres Blatt Papier vor einem liegt und man etwas darauf schreibt, dann steht nach Beendigung des Schreibvorgangs ein Text auf dem weißen Papier, den andere lesen können. Der Ausgang des Schreibens ist die Situation 'leeres Blatt Papier', 'nicht vorhandene Nachricht', das Ziel des Schreibens ist ein Text, das Vorhandensein einer Nachricht. Dazwischen liegt zeitlich ein Vorgang der Erzeugung eines Textes, das Mittel zur Erreichung des Ziels. • Verben bezeichnen aber auch eine Reihe von Vorgängen, die ohne Kontrolle eines Subjekts ablaufen. Um solche Prozesse zu charakterisieren, kann ebenfalls ein Dreierschema angesetzt werden, dessen Stationen aber andere sind. Es gibt zwar auch eine Ausgangssituation, aber es kann ja keine Rede davon sein, dass ein uninitiierter und / oder unkontrollierter Vorgang auf ein Ziel zuläuft. Was sich aus einer Änderung einer Ausgangssituation durch einen solchen Prozess ergibt, ist vielmehr eine Folge dieses Prozesses. Zu dieser Folge kommt es im Durchgang durch bestimmte Zwischensituationen. Nehmen wir als Beispiel den Prozess des Fallens. Ausgangspunkt ist hier die Situation, dass jemand geht oder aufrecht dasteht. Das Ergebnis ist die Situation, dass die vorher stehende oder gehende Person auf dem Boden liegt. Die Situationen des Gehens oder Stehens hat sich im Durchgang durch eine Mittelsituation in eine veränderte Lage verwandelt, wobei diese Mittelsituation ein Stolpern, in die Knie gehen und Vornüber-Beugen des Oberkörpers beinhaltet. Alle diese Vorgänge sind aus der Sicht der zu Boden gehenden Person unfreiwillig. • Schließlich bezeichnen Verben auch statische Situationen, in denen es bloß um das Bestehen bestimmter Zustände oder Beziehungen geht. Hier genügt die kurze Kennzeichnung als 'Situation', um dies von Handlungen oder uninitiiert-unkontrollierten Prozessen zu unterscheiden. Zustände bestehen z.B., wenn jemand sich an einem bestimmten Ort befindet oder eine Zeit lang eine bestimmte Körperlage einnimmt. Das Schema 'Ausgang-Mitte-Ziel' erzählt die Bedeutung eines Verbs als Geschichte (vgl. Blumenthal 1998: 3-27). Dies erinnert an die Scripts von Schänk und Abelson (1978). Zum Teil hat die vorgeschlagene Form der Beschreibung in der Tat etwas mit den vorbereiteten

102

Heiner Böhmer

Wissensschemata Uber den Ablauf von Restaurantbesuchen usw. zu tun. Denn gemeint ist eine Beschreibung der sprachlich repräsentierten Ereignisse von der Sache her. Es wird angefangen bei den Eigenheiten der bezeichneten Realität, ganz im Sinne von Schuchardts Onomasiologie-Verständnis (Schuchardt 1928). Onomasiologie kann in der aktuellen linguistischen Theorienlandschaft auf die Grundlage der kognitiven Semantik gestellt werden; d.h., eine solche Beschreibung basiert auf der Idee, dass durch sprachliche Einheiten repräsentierte Inhalte Konzepte sind und Konzepte die Elemente eines geeigneten mentalen Modells sind, mit dem menschliche Subjekte, also sprechende und erlebende Organismen, ihre Umwelt auffassen und mental organisieren (Jackendoff 1983 und Barwise / Perry 1983). Eine Schlüsselrolle für ein solches Modell bilden Situationen (Barwise / Perry 1983). Zur Ausarbeitung des Situationen-Schemas finden sich Gestaltungshilfen in der kognitiven Semantik und z.T. in der generativen Semantik. Man kann sich zu Nutze machen: die semantischen Primitive von Anna Wierzbicka (1996, 1997); die elementaren Prädikate und Quantorenbezeichnungen in der Theorie von Mc Cawley (1968) und der auch von Jackendoff (1983) angewandten Prädikatenlogik. Mit Hilfe dieser Elemente kann man nun versuchen, die Inhaltsseite von Verfllgungsverben und verbalen Redensarten der Verfügung darzustellen. Zunächst sollen Beschreibungen der Bedeutung von zwei Verfügungsverben - einem statischen und einem dynamischen vorgestellt werden. Das prototypische Verfügungsverb ist tener: χ tiene y

SituationI

HAVE (χ,y) AND(POT(Bild))

Abb. 1 : Das durch tener repräsentierte Verfilgungskonzept

Ein Schema wie das oben gezeigte besteht jeweils aus einem Kasten (zwei eckige Klammern), der als Überschrift das gemeinte Verb enthält, und zwar konjugiert in der 3. Person Singular Indikativ Präsens, und ergänzt durch seinen Valenzrahmen. Die Überschrift besteht also in einem Satz in nuce. Innerhalb des Kastens erkennt man in dem Beispiel oben die Kennzeichnung 'Situation': tener bezeichnet einen Zustand und keine Handlung. Bei Verben, die Handlungen oder Vorgänge bezeichnen, ist die Information innerhalb des Kastens auf einer ersten Ebene grob strukturiert, nämlich entweder durch das Schema 'Ausgang: ; Mittel: ; Ziel: ;' oder aber durch das Schema 'Ausgang: ; Durchgang: ; Folge: ;'. Der größte Teil der Information im Kasten besteht aus semantischen Primitiven, die von Wierzbicka herausgearbeitet worden sind. Dabei weisen die Primitive mit relationalem Charakter eine Prädikat-Argument-Struktur auf, an deren Argumentstellen Variable zu stehen kommen wie 'x,y,z'. Diese Variablen sind z.T. identisch mit den Variablen des Valenzrahmens der Überschrift. Gemeint ist damit, dass sie dasselbe Individuum bezeichnen. Die mit dem χ in χ tiene y gemeinte Person ist identisch mit der durch das χ in HAVE (χ,y) gemeinten Person.

Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten

103

Die Namensgleichheit der Variablen kann auf diese Weise der Erläuterung der Bedeutung dienen. Der obige Kasten enthält außerdem ein bildhaftes Element, das ins Spiel kommt, wenn man an tener denkt. HOLD ist kein semantisches Primitiv; würde man es durch Merkmale beschreiben, dann käme ein komplizierte Liste vielfältiger Eigenschaften wie Daumenpositionen, Fingerpositionen, Kraftanwendung u.ä. heraus. Doch das Sprecher-Subjekt weiß diese Merkmale nicht atomar, als Liste, sondern kennt vielmehr das typische Bild des Haltens. In diesem Bild sind die Merkmale alle simultan gegenwärtig, an diesem Bild lassen sie sich festmachen. Es ist natürlich möglich, sie aufzuzählen; dies ist aber wohl erst eine nachträgliche Analyse und es erscheint nicht nötig anzunehmen, dass der Begriff des Haltens so komplex aufgebaut ist, wenn man an die bildliche Vorstellung denkt, die viele sprachliche Aussagen begleitet. Das POT bei HOLD steht filr 'potenziell' und soll bedeuten, dass nicht jedes Haben in einem Halten besteht oder durch ein solches begleitet wird. Kontrolle über einen Gegenstand kann natürlich auch anders ausgeübt werden, etwa rein juristisch (Eigentum). Aber die einfachste Form des Habens ist das Halten und die Kennzeichnung (POT(Bild) unterstellt, dass die Bedeutung von tener (frz. avoir, engl, to have, poln. mac und vergleichbaren Verben in vielen anderen Sprachen) sich z.T. auf so ein Bild stützt. AND ist ein Primitiv im Sinne von Wierzbicka und soll hier die Hinzuftlgung einer weiteren Information anzeigen, die zur Vervollkommnung der Bedeutung von tener notwendig ist. Als nächstes Verb nehmen wir das oben schon beschriebene dar: χ day α ζ

Ausgang:

HAVE(X, y ) AND{POT(Bild) AND(NOT(HAVE(Z, y))

Mittel:

DO(x, HAVE(Z, y)) AND(POT(Bild)

Ziel:

HAVE(Z, y ) AND(POT(Bild)

Abb. 2: Das durch dar repräsentierte Verfügungskonzept

Die Information innerhalb des Kastens ist so zu lesen: In der Ausgangssituation hat χ das y, ζ hat das y nicht. Nun bewirkt χ auf irgendeine Weise, beispielsweise durch physisches Übergeben oder durch kommunikative Veranlassung von Dritten, dass ζ das y hat. Ziel die-

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Heiner Böhmer

ses Bewirkens ist die tatsächliche Situation, dass ζ das y hat. Potenziell begleitende Bilder sind HOLD und HAND (= Vorgang des Reichens von Hand zu Hand). 1 Geht man von konzeptuellen Einheiten aus, die also nicht wie Wortfeld-Einheiten im Sinne von Coseriu wortarten-bestimmt sind, dann kann man auch Adjektive wie rico und pobre in das semantische Feld miteinbeziehen. Bei der Beschreibung von rico kommt das Primitiv MANY ins Spiel:

χ es rico

Situation

(HAVE (x,many-y))-AND-(¿/nero(y))

Abb. 3: Das durch rico repräsentierte Verfügungskonzept

Das kursiv gedruckte dinero ist ein objektsprachliches Element und steht für die komplexe Erscheinung des Geldes, d.h., für den semantischen Stereotypen, die Gesamtheit des Wissens über Geld, das sich die Sprechersubjekte der spanischen Gesellschaft teilen (sprachliche Arbeitsteilung im Sinne von Putnam 1975). Dinero ist also kein Primitiv und es wurde eben aus diesem Grunde keine englische, sondern eine objektsprachliche Bezeichnung gewählt. Pobre lässt sich aus rico durch Einsetzung des Primitivs NOT konstruieren: χ es pobre Situation

(NOT(HAVE(x,many-y))-AND-(rfiMe/O(y))

Abb. 4: Das durch pobre repräsentierte Verfügungskonzept

So weit zu einfachen Verben und Adjektiven. Kommen wir nun zu komplexen Mehrwortausdrücken, genauer gesagt zu verbalen Redensarten aus dem Bedeutungsbereich der Verfügung! Wir sagten weiter oben, dass solche Ausdrücke in ihrer maximalen semantischen Ausformung, über ein Denotat (zerfallend in Grundbedeutung und Nuancierung), eine metaphorische Seite sowie ein dauerndes, auf Systemebene bereit liegendes Konnotat verfügen. Sehen wir uns daraufhin einzelne Redensarten an und beschreiben wir sie sementiseli!

1

Konzepte wie HOLD und HAND erinnern an Winograds System SHRDLU (Winograd 1972). Allerdings sind sie dort nicht nur rein bildlich formuliert, wichtiger ist für Winograd vielmehr die prozedurale Definition. In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu dem hier verfolgten Prinzipien.

Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten

105

Nehmen wir den adjektivischen Mehrwortausdruck pobre como una rata. Er soll hier dazu dienen, eine mögliche Beschreibung für das bildliche Element vieler verbaler Redensarten zu demonstrieren. - L I K E - steht für das Vergleichsverhältnis zwischen zwei Situationen. χ es pobre como una rata

Assoziationen:

Situation!

Bildhañigkeit - Ratte - schleicht die Wände entlang - friert - blickt hungrig um sich

(HAVE (Χ, VERY-NOT-many-y))

AND-(dineroiy))

LIKE

Abb. 5: Kästchenbeschreibung von ser pobre como una rata

Die erste Situation wäre detailliert zu beschreiben mit Hilfe der Primitive und Prädikat-Argument-Ausdrücke. Doch der bildhafte Teil ist angemessener beschrieben, wenn man nicht die formal-strikte Art des linken Rahmens für ihn übernimmt. Im rechten Rahmen sollte vielmehr von Assoziationen die Rede sein, die man bei dem Ausdruck hat. Hier ist zunächst die Bildhañigkeit überhaupt wichtig, denn es ist schwer zu sagen, ob jedem/r Sprecher/in in jeder Situation das Bild selber in seinen Elementen bewusst ist. Oft zählt die Bildhañigkeit, die Anschaulichkeit mehr als ein konkretes Bewusstsein von der Art des Bildes. Die weiteren Assoziationen sind bei der vorliegenden Beschreibung lose-umgangssprachlich umschrieben. Dieser Darstellungsform liegt eine doppelte Überlegung zu Grunde: Erstens müsste man eigentlich besser ein Bild hierhin setzen als eine sprachliche Umschreibung. Wie bei HOLD, GRASP und HAND oben ist ein Bild als simultane Zusammenfassung der Eigenschaften im Prinzip angemessener als eine Gesamtheit der Eigenschaften. Doch im Fall von bildlichen Redensarten kommt noch eine besondere Schwierigkeit hinzu: Wer kann sagen, ob sich alle Sprecherindividuen das Gleiche bei einem bildlich gemeinten sprachlichen Ausdruck denken? Wahrscheinlicher ist doch, dass sich verschiedene Sprecherindividuen unterschiedliche Vorstellungen machen. Der eine kann an eine frierende Ratte denken, der zweite an einen Cartoon von Walt Disney, der dritte an eine Ratte, die Wände entlang schleicht oder einsam und verlassen in einem dunklen Kanalschacht sitzt. Mit anderen Worten: hier ist ein semantisches Gebiet, dessen Gestalt stark von dem beeinflusst wird, was Putnam „sprachliche Arbeitsteilung" nennt, allerdings nicht in Folge von Unterschieden zwischen Experten- und Laienwissen, sondern durch unterschiedliche individuelle Erfahrungen und unterschiedliche individuelle Intensität und Kreativität der Vorstellung. Daher erscheint bei verbalen bildlichen Redensarten eine additive Aufzählung von lockeren Beschreibungen von Bildelementen in einer Metasprache angemessener. Je nach Individuum können die Bildelemente alle vorhanden sein oder es können einzelne von ihnen fehlen. Nachdem nun die Beschreibungsweise der Elemente vorgestellt worden ist, kommen wir zu einer Gesamtubersicht (Abb. 6 ). Diese Übersicht soll zweierlei zeigen: erstens, in wel-

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Heiner Böhmer

cher Beziehung die Einzellexeme, die zum Bereich der Verfügungsverben und Adjektive der Verfügung gezählt werden können, innerhalb des semantisch-konzeptuellen Feldes zueinander stehen; zweitens, wo sich die Redensarten dieses Feldes im Wesentlichen ansiedeln. Die obigen Darlegungen haben gezeigt, dass sich Verfügungsverben nach dem Schema 'Ausgang: ; Mittel: ; Ziel: beschreiben lassen, wobei 'Ausgang' und 'Ziel' Zustände oder Situationen meinen. Dies legt nahe, Verben, die semantisch-konzeptuell als Situationen bezeichnet worden sind, als Haltepunkte anzusetzen und Verben, deren Bedeutung durch einen Dreierschritt beschreibbar ist, als Übergänge zwischen solchen Haltepunkten. So entstehen Netze, deren Haltepunkte tener oder poseer sind, womit unterschiedliche Besitzverhältnisse gemeint sind, und deren Übergänge in verschiedenen Formen der Änderung von Besitz-Zuweisungen bestehen. Auf diese Weise werden Geschichten erzählt, mögliche konkrete Geschichten im tatsächlichen Sprachgebrauch vorweggenommen. Im Schema sind sechs Netze angesetzt. Das oberste könnte man 'Netz des allgemeinen Verfügungswechsels' nennen. Es beginnt am linken Rand mit der Kennzeichnung eines Tausches 'Verfügung über a gegen Verfügung über b' {trocar). Die Verfügung wechselt einseitig, wenn eine Person etwas an eine andere Person gibt (dar, entregar) oder aber eine Sache an viele Personen verteilt (distribuir, repartir). Die Verfügung kann enden, weil man etwas verliert {perder), wobei dann kein Folgezustand tener mehr eintritt, jedenfalls keiner, der als Ziel geplant war. Im Gegensatz dazu kann man, angesichts einer Möglichkeit des Verfügungsverlusts, die Verfügung auch durch bewussten Einsatz aufrechterhalten. Es besteht dann eine Situation des Aufrechterhaltens von Verfügung (,quedarse cori). Ein weiterer Verlust ereignet sich, wenn jemand etwas stiehlt (hurtar, robar) oder sich betrügerisch aneignet (timar) [Pfeile über Eck]. Der Dieb kann das gestohlene Gut an einen Hehler weiterverkaufen oder aber selbst benutzen. Die Möglichkeit von Benutzung oder Verkauf ist andererseits auch das Grundrecht, in dem jedes rechtmäßige Eigentum besteht [gerader Pfeil nach schräg oben und anschließende Gabelung von zwei Pfeilen]. Gehen wir nun wieder hinunter zu dar\ Ein Akt des Gebens gelingt nur, wenn als Antwort oder Entsprechung ein Empfang seitens des Adressaten der Übergabe stattfindet (recibir). Da dieser Empfang aber in jedem Fall die Initiative des Gebenden voraussetzt, wurde der rec/Wr-Pfeil hinter den dar-Pfeil piaziert - selbst wenn es sich um Teilvorgänge innerhalb eines Gesamtvorgangs handelt. Ähnliche Pfeil-Pfeil-Folgen sieht man in unteren Netzen, und zwar immer dort, wo eine Art von Gebe-Initiative und eine Empfangsantwort einander entsprechen: heredar ('vererben') - heredar ('erben'); pagar ('jemanden bezahlen') - ganar ('verdienen') u.a. Durch dar-recibir ist jetzt ein neues Besitzverhältnis erreicht: tener. Der nächste denkbare Schritt in einer solchen Geschichte des Verfügungswechsels wäre die Rückgabe (devolver). Ähnlich sind die anderen Netze zu lesen. Hier genügen einige Hinweise. In dem zweiten Netz, dem des 'Brauchens und Benutzens' ist tornar deswegen zweimal angesetzt, weil es ein Nehmen aus einem Bedürfiiis heraus gibt, man aber auch etwas nehmen kann, ohne es unbedingt zu brauchen, d.h., ohne Ausgang von einer Situation necesitar.

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Semantische Analyse von Verfìigungsverben und Redensarten

devolver

>

ra

emplear

Abb. 6: Übersicht über das gesamte Netz der Verfügungsverben und verbalen Redensarten der Verfügung im Spanischen

Das dritte Netz, das der 'außergewöhnlichen Geld- und EigentumswechseP, ist seinem inhaltlichen Grundverständnis her dem unter ihm stehenden 'Netz des gewöhnlichen GeldWaren-Verkehrs' entgegenzusetzen. Im dritten Netz ist das Vorkommen der außergewöhnlichen Folgesituation deber (schulden) zu beachten. Das fünfte und das sechste Netz hängen eng miteinander zusammen und bezeichnen den 'reinen Geldweg'. Die spanischen Redensarten dieses konzeptuellen Feldes massieren sich nun an bestimmten Punkten. Es gibt besonders viele Redensarten, die sich um den betrügerischen Erwerb von Geld drehen sowie um die Preise, das Geldverdienen, Armut und Reichtum (zu entnehmen z.B. aus Slaby / Grossmann / Iiiig 1994 oder Domínguez / González et al. 1988): ( 1 ) GELD VERDIENEN

a. ganarse la vida 'seinen Lebensunterhalt verdienen* b. hacer su agosto 'sein Schäfchen ins Trockene bringen' ( 2 ) GELD AUSGEBEN

a. aflojar /soltar la mosca 'Geld locker machen' b. echar la casa por la ventana 'Geld zum Fenster hinauswerfen'

Heiner Böhmer

108 ( 3 ) ARMUT UND REICHTUM

a. b.

no tener con qué caerse muerto 'bettelarm sein' forrado de dinero 'steinreich sein', nadar en dinero 'im Geld schwimmen'

Die Netze sind onomasiologisch, insofern als sie die Perspektive eines sprachlichen Senders (Sprecher oder Schreibende) wiedergeben, den Weg vom Gedanken zum sprachlichen Ausdruck. Will ein Sprecher des Spanischen eine besondere Intensität erzielen, indem er sich bildlich ausdrückt, dann steht in semantischer Nähe, an einem entsprechenden Punkt eines Netzes eine verbale Redensart zur Verfügung. Im obigen Schema sind solche Punkte durch ein PHRAS markiert, an denen sich Redensarten als Ausdrucksergänzungen bzw. Ausdrucksalternativen häufen. Dies wird durch die obigen Beispiele [( 1 )—(3)] gezeigt. Ob noch andere Häufungspunkte in diesen Netzen existieren, wäre nur durch eine eigene Untersuchung zu klären. Wie sind diese Netze nun einzustufen? Wie viel mentale Realität kann man ihnen zusprechen? Bedenkt man die Aktivierung von Weltwissen bei Erwähnung von bestimmten Themen (Minsky 1974, 235ff.), dann ist vielleicht zumindest davon auszugehen, dass Sachbereiche oder Frames im Sinne von Blank (1997) und Koch (1995) beim Verfassen von Texten oder im Gespräch aktiviert werden, d.h. dass metonymie-trächtige, von Kontiguität bestimmte Begriffsvernetzungen in der Psyche bestehen. Auf die Realität solcher Netze verweisen auch die Forschungen Lurijas (1976, 55ff.). Ob daneben noch taxonomische Relationen zur Architektur unseres Begriffsvorrats beiträgt, mag offen bleiben. Man erkennt bei den obigen Netzen, dass sie sich irgendwie auch taxonomisch überlagern: pagar und legar sind Formen von dar, vender ist eine Form von distribuir, hurtar eine Art von tomar usw. In jedem Fall dominiert aber das Kontige, die Abfolge. Vielleicht könnte man den obigen Netzen also zumindest in dem Sinne psychologische oder mentale Realität zusprechen, dass man sie zu einem Bauelement von Frames macht. Es wäre etwa anzunehmen, dass sich Frames (im Sinne von Koch und Blank) zusammensetzen aus folgenden Faktoren: die fiir den jeweiligen Bereich typischen Personen und Dinge mit ihren typischen Eigenschaften und typischen Aktivitäten. Der Grundaufbau des Frames ließe sich vorstellen als Überlagerung von drei Netzen: dem zeitlich determinierten Netz der Prädikate (Aktivitäten, Eigenschaften); dem Netz der Gruppen, denen die Personen zugeordnet wären; dem Netz der Orte, denen die Dinge zugeordnet wären. Will man dies nicht akzeptieren oder nicht so leichtsinnig sein, diese Hypothese anzusetzen, wird man wenigstens sagen können, dass durch solche Netze eine neue, eigenständige Form der Semantik angezeigt wird, die, insofern sie in dem Dreierschema 'Ausgang: ; Mittel / Durchgang: ; Ziel: ;' wurzelt, den Verbbedeutungen angemessener erscheint als etwa die Stereotypen- oder Prototypensemantik. Die Eigenart dieser Netze ist einem Schachoder Damespiel vergleichbar. Es bestehen bestimmte Ausgangspositionen, und diese sind durch bestimmte Zugformen (eben die dynamisch-transformativen Verben) veränderbar. Deswegen könnte man so eine Semantik vielleicht 'Spielbrett-Semantik' nennen.

Semantische Analyse von Verfügungsverben und Redensarten

109

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Claudia Polzin-Haumann

(Bonn)

Sprechen über Sprache: Zu konzeptuellen Aspekten des spanischen metasprachlichen Diskurses (18. Jahrhundert)

1. Problemstellung

Der Diskurs über Sprache, die Metasprache im Sinne Jakobsons (1971/72: 147, 150-152), stellt wohl ein uraltes Phänomen dar und begegnet uns spätestens seit der griechischen und römischen Antike in vielerlei Ausprägungen. In der Folge der so genannten kognitiven Wende, die das Forschungsinteresse mehr und mehr auf die konzeptuellen Grundlagen der Sprache bzw. des Sprechens gelenkt hat, lässt sich auch diese Fragestellung um fruchtbare Analysedimensionen erweitern. In der Frage nach den Konzeptualisierungen von Sprache in (im weiteren Sinne) wissenschaftlichen Texten, dem Aspekt, den ich in meinem Beitrag behandeln möchte, eröffnen die neueren kognitiven Ansätze interessante Perspektiven, insbesondere durch ihre Auseinandersetzung mit dem Status der Metapher. Metaphorisches Sprechen ist besonders durch die Verbindung von kognitiven mit kommunikativpragmatischen Aspekten endgültig von seiner Randexistenz als ornativ-stilistisches Beiwerk in der literarischen oder rhetorischen Rede mitten in den Alltag sprachlichen Handelns befördert worden. Auch wenn man sicher im Einzelnen noch darüber diskutieren müsste, ob wir tatsächlich 'in Metaphern leben' (wie es im deutschen Titel von LakofF/ Johnsons Metaphors We Live by formuliert ist): Das konzeptuelle Zueinander-in-Bezug-Setzen zweier Objektbereiche ist sicher ein ganz zentrales Merkmal unseres Sprechens und kann quasi als ein Grundprinzip menschlicher Kommunikation angesehen werden. Was für die Alltagssprache gilt, besitzt in nicht geringerem Maße für die Sprache der Wissenschaft Gültigkeit: Wohl kaum eine wissenschaftliche Abhandlung, kaum eine Theorie kommt ohne metaphorische Übertragungen aus. Wenn es darum geht, Neues und Unbekanntes zu erforschen und zu benennen bzw. Bekanntes unter neuen Vorzeichen auszuloten und in neue Zusammenhänge zu setzen, dürften diese Projektionen geradezu konstitutiv sein. Dies gilt in besonderem Maße ftir das Sprechen Uber Sprache. Grundsätzlich können dabei der Metasprache, wie ich an anderer Stelle ausführlich erörtert habe (Polzin 1998: 448f.), verschiedene Funktionen zugeschrieben werden, und zwar im Einzelnen - ohne dass sich jeweils eine klare Trennung etablieren ließe - die Bezeichnungsfunktion, die Bewertungsfunktion und die methodologische Funktion. Im Folgenden möchte ich anhand dieses methodischen Zugriffs ausgewählte spanische Texte aus dem Umfeld des 18. Jahrhunderts untersuchen, einer Epoche, die bislang seitens der Sprachwissenschaft im Vergleich zu anderen Epochen eher marginal berücksichtigt wurde.1 Im Mittelpunkt soll die Frage nach den verschiedenen Annäherungen der Autoren

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Zu Recht gibt hierzu allerdings Lázaro Carreter (198S: 39) in seiner fundierten Monographie noch immer die einzige umfassende Darstellung der Sprachdiskussion des 18. Jahrhunderts in Spanien - zu bedenken, dass sich in der Sprachbetrachtung des 18. Jahrhunderts viele Aspekte im

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an das Phänomen 'Sprache' stehen. Dabei gehe ich davon aus, dass die Untersuchung der metaphorisch motivierten Konzeptualisierungen, die ihren Aussagen zugrunde liegen, einen Zugang zu diesen Annäherungen ermöglicht. 'Sprache' soll dabei bewusst im weitesten Sinne verstanden werden, d.h. ebenso die menschliche Sprechfähigkeit wie die Sprache als historische Einzelsprache und schließlich konkrete Sprach- bzw. Textproduktion umfassen. Die Perspektive dieses Beitrags ist also insofern eine onomasiologische, als es grundsätzlich um die Konzepte geht, die sich in den metasprachlichen Äußerungen der Autoren erkennen lassen; sie kann dort als semasiologisch bezeichnet werden, wo die sprachlichen Formulierungen selbst, etwa im Hinblick auf ihr textuelles Potenzial, in den Mittelpunkt rücken. Eine solche Analyse lässt zum einen für die Sprachgeschichte im weiteren Sinn Aufschluss darüber erwarten, welche Problemfelder in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen 'Sprache' auftauchen und wie die Autoren im Kräftefeld von Tradition und zeitgenössischem Hintergrund ihre Erkenntnisse vertexten. Auf lange Sicht müsste es auf der Grundlage von Untersuchungen dieser Art zudem möglich sein, die dem metasprachlichen Diskurs zu Grunde liegenden Konzepte zusammenzustellen und hinsichtlich ihrer Extension zu beurteilen: Inwieweit sind sie auf bestimmte Autoren, Autorengruppen oder Epochen beschränkt? Lassen sich etwaige Verbindungslinien (zu anderen Autoren bzw. Epochen) aufzeigen? Wo liegen Konvergenzen und Divergenzen zwischen verschiedenen romanischsprachigen (und in einem weiteren Schritt zwischen diesen und nicht-romanischsprachigen) Ländern? Wie stehen insgesamt in der Metasprache Kontinuität und Wandel zueinander?

2. Theoretischer Hintergrund

2.1. Metasprache aus kognitiv-linguistischer Sicht Die Kritik an metaphorischem Sprechen in der Wissenschaft hat eine lange Tradition; sie reicht von Aristoteles (ed. 1980: 176, 178) über Galilei, Hobbes, Locke, Descartes, Leibniz (Debatin 1997: 148-150; de Man 1978: 13-22; Nieraad 1977: 85-90), Condillac (ed. 1973: 255-259; vgl. auch de Man 1978:22-25) u.a. bis in die Gegenwart. Noch in der so genannten Bochumer Diskussion zur Metapher (1968) vertritt Heckhausen die Auffassung der fortschrittshinderlichen Wirkung der Metapher, denn „[...] Metaphern können zu schiefen Ansichten 'verführen'" (104, 8. These). In den unterschiedlichsten Theorien und aus verschiedenen Gründen wurden bzw. werden Metaphern und Wissenschaft häufig als unvereinbar angesehen, u.a. weil sie unpräzise seien und zu Unklarheiten oder Missverständnissen führten, oder weil sie keinen argumentativen Wert hätten (Nieraad 1977: 90f.). 2 Häufig haftet ihnen der Makel des 'uneigentlichen Sprechens' an oder ihre Rolle wird auf den pädagogisch-didaktischen Bereich begrenzt. Wissenschaftssprache dagegen habe - gemäß der opti-

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Keim erkennen lassen, die auch nachfolgende Linguistengenerationen beschäftigt haben, dass also letztendlich mit dieser Epoche auch der Ausgangspunkt vieler moderner Fragestellungen übergangen wird (vgl. ausführlich Kap. 2.2.). An sich ist keines dieser Argumente ganz falsch, wie sich auch im Weiteren noch zeigen wird. Dennoch kann auf dieser Grundlage nicht gegen die Funktion der Metapher im wissenschaftlichen Diskurs argumentiert werden, denn im Grunde machen sie gerade den Kern ihrer Leistung aus.

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sehen Metapher VERSTEHEN ist SEHEN, die die visuelle Wahrnehmung und das intellektuelle Begreifen verknüpft - klar und transparent zu sein. Diese Vorschrift, die sich bereits im antiken Ideal der perspieuitas findet, verlangt ftlr wissenschaftliche Abhandlungen eine klare Darstellung der als objektiv gegeben gedachten Wirklichkeit, die durch die Sprache hindurch erkennbar sein soll (vgl. ausführlich Kretzenbacher 1995: 19-26). Diese Argumente implizieren überdies, dass der metaphorische Sprachgebrauch auf einer bewussten Wahl des Sprechers beruht. Bezeichnend ist indes, dass keiner der Metaphernkritiker - bei denen ja ein gewisses Problembewusstsein vorausgesetzt werden darf - es schafft, seine Positionen in einer strikt metaphernlosen Sprache darzulegen (vgl. auch Debatin 1997: 150). Dies legt den Schluss nahe, dass sich offenbar bestimmte (und zahlreiche) Wissensbestände nicht ohne den Rekurs auf metaphorische Projektionen formulieren lassen; einige Autoren (z.B. Boyd 1979: 360f.) sprechen daher folgerichtig von 'theoriekonstitutiven' Metaphern. Damit wird die Metapher von einem nach Belieben einsetzbaren sprachlichen Mittel zu einem zentralen Prinzip im Denk-, Erkenntnis- und Kommunikationsprozess. Allen ablehnenden Stimmen zum Trotz spielen also auch oder gerade in wissenschaftlichen Denk- und Erkenntniskontexten Metaphern eine grundlegende Rolle. Gerade hier scheint die damit gegebene Möglichkeit der (Neu-)Relationierung zweier Bereiche nötig, um auf der Grundlage von bereits Bekanntem Unbekanntes zu erfassen und zu formulieren oder Bekanntes in neue Zusammenhänge zu setzen. Bereits 1963 / 1967 - also noch vor dem Höhepunkt der kognitiven Richtung3 - hat D. Schon hierzu den treffenden Ausdruck des 'displacement of concepts' geprägt. Dem liegt seine Überlegung zugrunde, dass [...] all formation of new concepts, all change in concepts, involves discovery of the world - that is, the development of a new looking at the world. [...] Metaphors, in this sense, are the traces left by the displacement of concepts. (1967: 36, 41)

Das displacement of concepts ist damit insgesamt als ein Prozess zu verstehen, als „a way of treating the new as the old" (1967: 31). Die Leistungen, die dieser Projektion im einzelnen zugeschrieben werden, sollen hier nicht ausführlich diskutiert werden; es dürfte sich ohnehin als schwierig erweisen, sie immer exakt zu differenzieren. Während z.B. Pielenz (1993: 117) „das erkenntnisstiftende Potential konzeptueller Metaphern" (ähnlich Nieraad 1977: 88f.) hervorhebt, weist Gessinger (1992: 30) daraufhin, dass in bestimmten Fällen die Leistung der metaphorischen Projektion gerade auch in ihrer Vagheit bestehen kann; ähnliche Aspekte spricht Boyd (1979: 357) mit der „open-endedness" und der „inexplicitness" an. Für Burkhardt (1987: 64) handelt es sich daher manchmal um kaum mehr als „Scheinerklärungen". Die epistemologische Kraft, die Metaphern zweifellos besitzen (Leatherdale 1974: 118-120), könnte man allgemein (und metaphorisch) vielleicht dahingehend zusammenfassen, dass sie Wege weisen - auch wenn es sich im Einzelfall um Holzwege handeln kann - ,

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Dass die Publikation von Lakoff / Johnson (1980) zwar eine enorme Popularitätssteigerung der kognitiven Metapherntheorie bewirkt, aber keinesfalls deren eigentlichen Beginn markiert, wird immer wieder hervorgehoben. Besonders in der europäischen Tradition existieren zahlreiche Arbeiten, die mit gutem Recht als Vorläufer - z.T. avant la lettre - der kognitiven Metaphernforschung bezeichnet werden können. Eine systematische Zusammenstellung dieser Studien steht noch aus, doch dürfte sie, wie auch die Ausführungen in Klein (1998) und Hülzer (1987: 23-139), unter Beweis stellen, dass der kognitive Zugang zu sprachlichen Phänomenen nicht erst im 20. Jahrhundert einsetzt.

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Anhaltspunkte bieten oder Modelle bereitstellen, die die (Re-)Konzeptualisierung eines gegebenen Objekts bzw. Objektbereichs erlauben bzw. erleichtern. Eine der Hauptthesen von Lakoff / Johnson (1980/1998) besteht nun in der Annahme, dass diese (Re-)Konzeptualisierung auf der Basis grundlegender körperlicher und kultureller Erfahrungen geschieht. Insbesondere Johnson 1987 (bes. 21-23, 39f.) und Lakoff 1987 (bes. 267, 271-273, 283f.) haben diese These detailliert ausgearbeitet und gezeigt, dass häufig unsere Wahrnehmung von Räumlichkeit und Bewegung das Ausgangsprinzip bildet, nach dem Abstraktes oder sinnlich nicht Erfahrbares strukturiert und formuliert wird. Drehund Angelpunkt sind dabei unser Körper als Entität in seiner Relation zur Umwelt und die damit verbundenen grundlegenden Erfahrungen etwa von 'innen - außen', 'oben - unten', 'Teil - Ganzes', 'Zentrum - Peripherie' u.a.m. (Lakoff / Johnson 1998: 26-28; Lakoff 1987: 267). Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass mit metaphorischen Projektionen immer eine bestimmte Perspektivierung verbunden ist. Ihre Wirkung gleicht der eines Filters, der bestimmte Aspekte stärker betont, andere in den Hintergrund rückt oder ganz unterdrückt (Pielenz 1993: 100-104); der charakterisierte Gegenstand erscheint in einem bestimmten Licht. Insofern ist also keine metaphorische Projektion „neutral", „objektiv" oder „vollständig", im Gegenteil: Sie verdeckt immer auch bestimmte Aspekte, oder wie Brünner (1987: 107) formuliert, sie besitzt immer auch einen „toten Winkel". Abgesehen davon, dass damit bestimmte Wertungen erzielt werden können, liegt hierin auch die Möglichkeit einer verständniserschwerenden oder -hemmenden Wirkung (Debatin 1990: 800-802; Gessinger 1992: 47f.). Metaphorische Konzeptualisierungen tragen also nicht nur dazu bei, ein gegebenes Stück Wirklichkeit in einer bestimmten Weise zu versprachlichen; sie schaffen auch eine spezifisch subjektive Wirklichkeit (Gil 1998: 89).

2.2. Bedingungen des sprachwissenschaftlichen Diskurses im Spanien des 18. Jahrhunderts „Das Neuspanische (18. bis 20. Jahrhundert) nimmt in den Sprachgeschichten einen untergeordneten Stellenwert ein", lautet die nüchterne Bilanz von Brumme (1997: 21). Als Gründe für dieses Urteil führt die Autorin u.a. wissenschaftsgeschichtliche an: Die historische Beschreibung einer Einzelsprache erschöpfe sich in der Regel in der Betrachtung von Teilbereichen wie Phonetik, Morphologie, Syntax und Lexik; darüber hinausgehende Ebenen werden ausgeklammert, so dass die Sprache nicht in ihrer Gesamtheit als soziales Phänomen erfasst werde (1997: 12,22f.). Eine Analyse der Metasprache aus konzeptueller Sicht kann - wenngleich angesichts des gegebenen Rahmens notwendigerweise exemplarisch - einen ersten Beitrag zur Aufarbeitung dieses komplexen Phänomens darstellen. Hierzu sollen im Folgenden wenigstens ansatzweise die Bedingungen skizziert werden, unter denen sich der metalinguistische Diskurs des 18. Jahrhunderts vollzieht, um so das epochale Umfeld der Korpustexte zu umreißen. Drei Problemkomplexe bestimmen die Sprachreflexion der Autoren des 18. Jahrhunderts: die Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Epoche, insbesondere mit den Auswüchsen des Barocks, die Rolle des Lateins und im Zusammenhang damit der Stellenwert des Kastilischen (auch Norm, Anwendungsbereiche; Bildung), sowie der im Laufe des Jahrhun-

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derts zunehmende französische Einfluss (Lázaro Carreter 1985: 207-210). Die Diskussion um die spanische Aufklärung kann hier nicht nachgezeichnet werden (vgl. z.B. Tietz 1980); doch unterstreicht die ausführliche Darstellung bei Abellán (1981: bes. 372-410, 449-461, 477-490) allen Kontroversen zum Trotz die auch in Spanien sich vollziehenden tiefgreifenden Veränderungen in sozialer und technischer, aber auch in wissenschaftlicher und methodischer Hinsicht (Sarrailh 1954: 411-708), wobei die spezifische Situation Spaniens im Wesentlichen durch die starke Rolle und den großen Einflussbereich der katholischen Kirche wie auch des Staates bestimmt wird (Häßler 1990: 14lf.). Diese Veränderungen dürften auch Rückwirkungen auf das zeitgenössische Bedingungsgefüge haben, unter denen der metasprachliche Diskurs sich vollzieht. Zum einen richtet sich das Erkenntnisinteresse auf neue Fragen, werden Probleme unter neuen methodischen Vorzeichen thematisiert; zum zweiten wandeln sich auch die Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation selbst, etwa durch steigende Verbreitung des Buchdrucks und die damit u.a. verbundene Entstehung neuer Textsorten (Brumme 1995: 12-20), um nur einige Aspekte exemplarisch herauszugreifen. Trotz der Knappheit der Darstellung dürfte nachvollziehbar sein, dass in diesem Kontext auch die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sprache spezifische Ausprägungen annimmt.

3. W a s f ü r ein Bild machen sich die Autoren von der Sprache? Metaphorische Konzeptualisierungen in ausgewählten Werken

Konzeptionen von Sprache werden nicht nur in Grammatiken und Sprachgeschichten im engeren Sinne niedergelegt, sie sind z.B. auch (in je unterschiedlichen Anteilen) in rhetorischen, poetologischen, (sprach)philosophischen, pädagogischen und juristischen Schriften enthalten. Für eine umfassende Untersuchung sollte das Korpus also möglichst breit angelegt sein und viele dieser Teiltextsorten umfassen. Bei der Auswahl der Texte, auf denen die im Folgenden präsentierten Beobachtungen basieren, habe ich versucht, dieser Überlegung Rechnung zu tragen. Alle Texte sind in den Kontext der Epoche der Aufklärung einzuordnen. Neben den Observaciones críticas von Capmany, die als Teil des umfassenderen Projekts Teatro histórico-crítico de la lengua castellana philologische Reflexionen über das Kastilische enthalten, haben die Schriften von Jovellanos eine weitgehend pädagogische Ausrichtung, ebenso die von Quintana, wobei im gegebenen Fall noch administrativjuristische Aspekte hinzukommen. Von Luzán wurden die Poetik und die Rhetorik analysiert, aus Mayáns i Siscars Werk schließlich die bekannte Sprachgeschichte sowie seine kurzen Überlegungen zur Rhetorik.4 Ausgehend von den oben dargelegten Überlegungen sollen nun die verschiedenen Konzeptualisierungen des Phänomens Sprache herausgearbeitet werden, die sich in diesen Werken manifestieren. Dabei stehen metaphorische Projektionen im Mittelpunkt.

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Für die genauen bibliographischen Angaben vgl. Kap. 5.1.

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116 3.1. Die GEFÄSS-Metapher

In allen untersuchten Texten ist das GEFÄSS-Konzept5 präsent, wobei sich im Einzelnen verschiedene Ausprägungen unterscheiden lassen. Zum einen wird es auf die Sprache als Ganzes projiziert, wie etwa die Aussage von Capmany (1786/1991: 76) verdeutlicht, wenn er von (1)

[...] los primores y riquezas que encierra la lengua española 6

spricht. Historische Einzelsprachen werden in dieser Sichtweise zu Behältnissen von Wissen, wie die folgende Passage zeigt: (2)

Estudiemos las lenguas de las naciones cultas, estudiemos por lo menos aquellas que atesoran las riquezas de la antigua y moderna sabiduría [...]. (Jovellanos 1794/1979, 140)

Es genügt damit, sich die jeweilige Sprache anzueignen, um sich auch das Wissen zunutze machen zu können; das Wissen - als feststehende Größe - wird quasi mit der Sprache versetzt: (3)

[...] y adquiriendo las que hablaron Newton y Priestley, Buffon y Lavoisier, traslademos á nuestra patria los grandes monumentos de la razón humana" (ebd.); vgl. auch 1804/1979, 263: [...] la mayor suma de instrucción depositada en la lengua ó lenguas que se estudiaren

Daneben vermittelt das GEFÄSS-Konzept auch die Idee der Abgegrenztheit; eine Sprache erscheint damit als geschlossenes Ganzes, in das Dinge, z.B. Lexeme aus anderen Sprachen, eingeführt werden können („[...] la introducción de un Vocablo de otra Lengua [...]"; Mayáns i Sisear 1737/1981: 193; „[...] introducir nuevos términos de otras naciones [...]"; Luzán 1729/1991: 99). Innerhalb des solchermaßen konzipierten Gefäßobjekts Sprache lassen sich also, wie sich hier zeigt, die Wörter als nächstkleinere Einheiten abgrenzen. Diese stellen quasi den materialisierten Träger der Gedanken dar: (4)

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Mas como las verdades descubiertas por los primeros hombres pudieron comunicarse de unos á otros por medio de la palabra, y conservadas despues en la memoria, pasar de una a otra generación [...]. [...] pues pudiendo representar ya sus ideas con palabras [...]. (Jovellanos 1804/1979: 245; [vgl. auch unten Bspe. (6) und (8)])

Bei Lakoff / Johnson (1980/1998), Johnson (1987: 21-23, 39f.) und Lakoff (1987: 267, 271-273) „CONTAINER-schema". Die Implikationen dieser räumlichen Strukturierung führt besonders Johnson (1987: 22) aus, u.a.: Schaffung einer Innen-außen-Orientierung; dadurch gilt für Objekte im Behälter 1) Schutz / Widerstand vor äußeren Einwirkungen, 2) eingeschränkte Kraftentfaltung, 3) relativ feste Lokalisierung, dadurch 4) von außerhalb erleichterte Zugriffsmöglichkeit (wegen des Fixierens) oder erschwerte Zugriffsmöglichkeit (wegen des Einschließens). In den Textzitaten erfolgt die Hervorhebung der Schlüssellexeme durch Kursivsatz. Deutlich hervor tritt in dieser Aussage ebenfalls die Wertschätzung der modernen Sprachen, die neben der Auseinandersetzung mit dem Kastilischen, für dessen Einsatz im Schulunterricht er sich vehement ausspricht, eine zentrale Position in Jovellanos' Schriften einnehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er die klassischen Sprachen Latein und Griechisch ablehnt; auch auf diese bezieht sich die Gefäßmetaphorik (vgl. z.B. 1804/1979: 252), und so spricht sich Jovellanos bezüglich bestimmter Personengruppen für die unbedingte Priorität des Lateinischen aus (ebd.: 263).

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Der Lexem-Ebene messen grundsätzlich alle Autoren eine große Bedeutung bei; dabei wird in der Regel formal-materielle Quantität gewissermaßen mit Ausdrucks- bzw. Leistungsfähigkeit gleichgesetzt, etwa, wenn Capmany (1786/1991: 76, 106) im Zusammenhang mit dem Phänomen der Synonyme Folgendes feststellt: (5)

Carecemos de vocabularios técnicos [...]; carecemos de un diccionario de sinónimos [...]. Quando poseamos estos tesoros y una gramatica elemental conoceremos los primores y riquezas que encierra la lengua española. Otro de los riquísimos tesoros de la lengua es el gran caudal de sinónimos [...].8

Hier zeigt sich, dass diesen Gedanken offenbar ein statisches Sprachbild zugrunde liegt. Die Auffassung, dass Inhalte nur dann exakt ausgedrückt werden können, wenn die Sprache möglichst viele Lexeme besitzt, setzt voraus, dass es eine objektive Wirklichkeit gibt, die eins-zu-eins lexematisch abgebildet werden kann - und dies umso effektiver, je größer und differenzierter der Wortschatz ist. Ausgeblendet werden so die Prozesshaftigkeit und die Situationsabhängigkeit des Sprechens, die Person des Sprechers wie des Rezipienten 9 und die gesamte textuelle Dimension. Wörter wiederum sind in Büchern enthalten, womit erneut die GEFÄSS-Metapher aktiviert wird. Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit den Wörtern kommt der Schrift bzw. den Buchstaben - ihrerseits als Behältnisse konzeptualisiert - zu.10 Dadurch, dass es in den Behälter 'Schrift' verpackt ist, ist das menschliche Wissen nicht nur gut aufgehoben, sondern auch „handhabbar": Das Wissen vorangegangener Generationen bleibt ftlr nachfolgende erhalten, und außerdem kann es über die eigenen Landesgrenzen hinweg ausgetauscht werden, so dass der „allgemeine" Wissensbestand immer größer wird: (6)

[...] pues pudiendo representar ya sus ideas con palabras, sus palabras con signos convenientes á cada una, y siendo estos signos mas inalterables y duraderos que las palabras transitorias, la memoria, siempre frágil y limitada, no tenia ya necesidad de retenerlas [...]. Pero si la escritura es un medio menos perfecto de alcanzar la verdad, es, por otra parte, el mas fácil y de mayor extension para conservarla y transmitirla, pues que no hay verdad de cuantas han descubierto y acumulado las generaciones pasadas que no se pueda derivar por él á la generación presente. Se extiende al mismo tiempo á todos los paises, asi como á todas las edades, y viene á ser el verdadero tesoro en que el espíritu humano va depositando todas las riquezas, y donde deben entrar también todas las que fuere adquiriendo en la sucesión de los tiempos. Y bien; si toda la riqueza de la sabiduría está encerrada en las letras [...]. (Jovellanos 1804/1979: 245f.)

Doch stellen die Behälter auch ein Ordnungsmoment dar: Die verschiedenen Behälter mit dem gewissermaßen vorsortierten Wissen können in einem weiteren Schritt zusammengefügt werden, um so das Wissen zu steigern. Hier konstatiert man allerdings eine Art Bild-

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Eine ähnliche Gleichsetzung von formalem Erscheinungsbild und Eigenschaften lässt sich in Mayáns i Siscars Urteil über das Kastilische erkennen: „Sus Vocablos regularmente son grandes, y esto hace el Lenguage magestuoso" (1737/1981: 195). Abgesehen davon, dass er die - ihm vorgegebene - Sprache als Instrument einsetzt; vgl. hierzu die folgenden Ausführungen sowie Beispiel (11). Daher begrüßt Jovellanos die Erfindung des Buchdrucks, weil in seiner Sicht die damit einhergehende Vervielfältigung und erleichterte Zugänglichkeit schriftlicher Sprachproduktion die Wirkung der Schrift als „fiel depositario de los conocimientos humanos" steigere (1804/1979: 246).

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brach; die Behälter werden zu Kettengliedern, die aufgereiht werden, wie aus folgender Passage hervorgeht: (7)

[...] conviene ensartar en una série el mayor número de verdades posibles [...]. Porque la verdad es una, y estas nociones, á que damos el nombre de verdades, no son otra cosa que porciones de una verdad. [...] Todas son eslabones11 de una cadena inmensa, cuya interrupción marca los espacios de ignorancia, y cuya continuidad lo que llamamos ciencia. Cada ciencia forma una série, una porcion de cadena separada. En ella se han ido eslabonando las verdades descubiertas por las generaciones pasadas, y se eslabonarán las que descubrieren la que respira y las que no han nacido aun. (Jovellanos 1804/1979: 269)

So wird zwar die abstrakte Größe 'Wissen(schaft)' weiterhin als konkret fassbares Objekt konzipiert, womit auch die Vorstellungen der Abgegrenztheit (auch des Schutzes vor äußeren Einwirkungen) und der Finitheit erhalten bleiben, doch ändern sich die Dimensionen. Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass die Verräumlichung strukturiert und hierarchisiert ist: Innerhalb des großen Behälters 'Sprache' wird anhand der Schrift als Medium das Wissen der Menschheit quasi fixiert; wenn es dann in Lexemform vorliegt, kann es in Büchern aufbewahrt, ausgetauscht und vermittelt werden. Sprache - in Form einer historischen Einzelsprache wie auch als grundlegende menschliche Fähigkeit - erscheint zum einen als Gefäßobjekt, zum andern als GefÜßsubstanz. Daneben kann sich die Verräumlichung aber auch auf den Menschen beziehen, wie sich im folgenden Beispiel zeigt, das als charakteristisch für dieses Konzept gelten kann: (8)

Al mismo tiempo que van saliendo a la luz los pensamientos, van tomando cuerpo y color y vestido por medio de las palabras [...]. (Luzán 1729/1991: 88; vgl. hierzu auch Kap. 3.2.)

Durch die Opposition 'innen-außen', ausgedrückt durch das Verb salir,11 wird hier der Mensch als Behälter konzeptualisiert,13 und zwar als Behälter von Gedanken, die ihrerseits in Form von Wörtern nach außen treten. Die Gedanken werden im Gedächtnis aufbewahrt („[...] conservadas depues en la memoria [...]"; Jovellanos 1804/1979: 245) oder auch versteckt, so dass sie erst zutage gefördert werden müssen: (9)

Nò es assi que se inventò el Lenguage para representar a los Oyentes con la mayor viveza una clarissima Idea de lo que la Mente esconde? Pues, qué locucion mejor, que la que mas bien explica nuestros mas ocultos pensamientos? (Mayáns i Sisear 1727/1981: 200)

(10) [...] sacarlos [los pensamientos; C.P.-H.] de los íntimos escondrijos de su alma [...]. (Jovellanos 1794/1979: 139) Diese Konzeptualisierung schafft zwei klar abgegrenzte Bereiche, wobei die Sprache im Verhältnis zum Menschen, wie die angeführten Passagen zeigen, der externen Seite zugeordnet wird. Hier besteht ein wichtiger Berührungspunkt mit einem weiteren zentralen Kon-

" Vgl. DCECH, s.v. eslabón: „'anillo de una cadena', del anticuado esclavón id., que antes habla significado 'esclavo' [...], procedente del nombre de raza y de familia lingüistica eslavón 'esclavo', por el tráfico de que ñieron objeto en la Edad Media los individuos de este grupo étnico: se comparó el eslabón con un esclavo por la imposibilidad de separarse de su cadena". Hier zeigt sich deutlich die gegenseitige Durchdringung der Konzeptualisierungen (vgl. auch die weiteren Ausführungen). 12 Vgl. DCECH, s.v. salir: „'pasar de dentro afuera'"; vgl. auch 139f. 13 Möglicherweise beeinflusst durch die Descartes'sehe Lehre von der Dualität von Körper und Geist; für die sich daraus ergebenden Implikationen für die Sprache bzw. das Sprechen sowie das Verhältnis Sprechen - Denken vgl. Häßler (1984: 10f.).

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zept, das in den analysierten Texten ermittelt wurde, im folgenden jedoch nicht ausführlich diskutiert werden kann: dem INSTRUMENT-Konzept, das Sprache als ein Werkzeug mit den verschiedensten Funktionen konzeptualisiert. Folgender Ausschnitt aus Jovellanos möge genügen, um dies anzudeuten: (11) Cultivemos primero el don de la palabra, cultivemos este admirable instrumento de perfección y comunicación, dado al hombre solo para analizar y ordenar sus pensamientos, para sacarlos de los íntimos escondrijos de su alma, para imprimirlos en las de sus semejantes, para extenderlos por toda la tierra y transmitirlos de generación en generación hasta la mas lejana posteridad, (ebd.; vgl. auch 1804/1979: 257; vgl. auch Quintana 1813/1979: 379) Festzuhalten bleibt insgesamt, dass die GEFÄSS-Metapher eine der zentralen Konzeptualisierungen im untersuchten Textkorpus darstellt. Der Blick der Autoren auf die Sprache ist geprägt von der grundlegenden Opposition 'innen-außen', die auf unterschiedlichen Ebenen wirksam ist. Infolge dieser Perspektive erscheint die Sprache als solche und das Kastilische im Besonderen als gegenständlicher Träger von Gedanken und Wissen als objektiv vorhandenen Größen, der als Instrument der Kommunikation und Bildung genutzt werden kann. Damit wird auf die Darstellungs- und die Ausdrucksebene fokussiert, wodurch alle Faktoren, die die Umstände des Sprechens selbst betreffen (wie Situation, Sender und Rezipient etc.), und letztlich auch dessen konstruktive Dimension, zurücktreten. Sprache bzw. die als ihre Hauptbestandteile in den Vordergrund gerückten Wörter werden als etwas Gegebenes und Feststehendes und in ihrer Existenz vom Sprecher Unabhängiges angenommen. In dieser Sicht kann also lediglich der Wortschatz als ganzer erweitert werden, z.B. durch das Hinzufügen von Lexemen. Eine ganz andere Sichtweise wird dagegen durch Übertragungen aus dem Bereich NATUR vermittelt: Hier kann die Sprache quasi aus sich selbst heraus wachsen oder erweitert werden (vgl. Kap. 3.3.). Die herausragende Bedeutung der GEFÄSS-Konzeptualisierung liegt nicht zuletzt in der Tatsache, dass sie die konzeptuelle Grundlage für zahlreiche weitere Projektionen darstellt, wie anhand der INSTRUMENT-Konzeptualisierung angedeutet wurde und auch im Weiteren noch deutlich wird.

3.2. Anthropomorphisierende Konzeptualisierungen Sprache wird ebenfalls anhand der Kategorie MENSCH konzeptualisiert, wobei verschiedene Teilbereiche 14 aktiviert werden. Eine erste Untergruppe bilden Aussagen, die grundlegende Prinzipien des (menschlichen) Lebens zum Ausgangspunkt nehmen und in der Regel auf historische Einzelsprachen angewendet werden. Die Unterscheidung von lebenden und toten Sprachen („lenguas vivas" / „muertas"; Capmany 1786/1991: 75; Mayáns i Sisear 1737/1981: 8, 193; Jovellanos 1794/1979: 252f.) ist relativ geläufig'* und bereits traditionell; ebenso die Auffassung, dass eine Sprache ge-

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In Einzelfällen kann es sich allerdings als problematisch erweisen, eine Aussage eindeutig einem Teilkonzept zuzuordnen. Wobei das eine Konzept offenbar nicht unbedingt das andere impliziert; während sich etwa in Jovellanos und Mayáns i Sisear beide finden, spricht Capmany nur von lebenden Sprachen, z.B.: „Una lengua viva es un cuerpo inmortal que siempre crece sin tasa y sin medida siguiendo los progresos del entendimiento humano" (1786/1991: 75).

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boren wird („nace"; Capmany 1786/1991: 73; Luzán 1729/1991: 106; Mayáns i Sisear 1737/1981: 163). Damit einher gehen auch familiäre Beziehungen wie die Auffassung einer Mutter(sprache) und einer oder mehrerer Töchter / Tochtersprachen („madre" / „(lenguas) hijas"; Mayáns i Sisear 1727/1981: 199; Luzán 1729/1991: 105); bei Capmany (1786: 57, 109) ist die Rede von den „padres de la lengua". All diese Aussagen vermitteln den Gedanken einer strukturierten Abhängigkeit. Doch ist zu beachten, dass auch Projektionen, die auf einer Ebene zu liegen scheinen (z.B. madre /padre), durchaus unterschiedliche konzeptuelle Implikationen aufweisen können. So steht offensichtlich bei der Mutter-TochterBeziehung die temporale Dimension im Vordergrund. Hier ist ein gewisses historisches Bewusstsein erkennbar, wenn auch andererseits durch die Metapher die Kontinuität des Sprachwandels und der Sprachentwicklung ausgeblendet wird. Bei der Vorstellung von den padres de la lengua hingegen scheint m.E. die hierarchische Komponente bedeutender: Da im gegebenen Kontext die „gramáticos" bzw. die „buenos escritores" als solche bezeichnet werden, könnte man vermuten, dass hier in Analogie zum patriarchalischen Familienmodell - oder, was im katholisch geprägten Spanien auch naheliegen würde, in Analogie zu den Kirchenvätern" - die dominante Rolle der Musterautoren bei der Sprachentwicklung und -pflege unterstrichen werden soll. Zugleich vermittelt dieses Konzept menschliche Zugriffsmöglichkeit auf die Sprache; diese wird nicht als etwas unabhängig vom sprechenden Menschen Existierendes aufgefasst, sondern als etwas, das seiner (pflegenden, überwachenden etc.) Aktivität bedarf, die allerdings an einer fest vorgegebenen Norm orientiert ist (vgl. dagegen unten Beispiel (15)). Aussagen über das konkrete Erscheinungsbild einer bestimmten Einzelsprache beruhen häufig auf der Projektion menschlicher Eigenschaften. Der Charakter einer Sprache („índole" / „caracter", z.B. Capmany 1786/1991: 60, 65) kann demgemäß darin bestehen, dass sie arm oder reich an etwas ist („pobre", „miseria", „pobreza" / „riqueza"; Mayáns i Sisear 1737/1981: 171; Capmany 1786/1991: 57, 69), dass sie viel oder wenig Kraft besitzt („energia y fuerza"; ebd.: 57), dass ihr Anmut und Würde eignen („donayre"; „dignidad"; ebd.: 65) u.a.m. Andererseits kann sie aber beispielsweise auch furchtsam sein („timida"; ebd.). Es scheint, dass hier im Prinzip, je nach der angestrebten Wertung, nahezu alle menschlichen Eigenschaften auf die Sprache übertragen werden können. Der Effekt dieser Konzepte gleicht denen von Etiketten, die, einmal angebracht, mit einer gewissen Dauerhaftigkeit wirken. Innerhalb der Konzepte, die eine Aktivität vermitteln, ist zwischen solchen zu unterscheiden, die menschliche (auch handwerkliche) Tätigkeit in Bezug auf die Sprache ausdrücken, und solchen, die der Sprache selbst ein bestimmtes menschliches Handeln zuschreiben, sie also personifizieren. Die im Folgenden ausgewählten Textpassagen sind alle der erstgenannten Gruppe zuzuordnen. Hier sind zunächst die gängigen Pflege-, Beistands- oder Rettungsaktivitäten zu nennen, die bestimmte Personengruppen zugunsten des Spanischen auszuführen haben, z.B. (12)

[...] cultivarla, pulirla è ilustrarla y hacerla más conocida y general por medio de sus plumas [...] (Capmany 1786/1991: 67) (13) [...] librar nuestra lengua de la miserable servidumbre en que viles hombres la tenían [...] (ebd.: 69) (14) [...] por fortuna la salvaron de su ruina y abandono los autores que acabo de citar más arriba [...] (ebd.: 70)

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Besonders hervorzuheben ist daneben das handwerkliche Konzept von Mayáns i Sisear, das sich auf die interne Gliederung dieser Sprache bezieht: (15) Deven los Sonidos articulados unirse entre si [im Orig. kursiv]; porque los vocablos escritos en un Diccionario sin travazòn, ni correspondencia entre si, son como las piedras, i demás materiales, que separados unos de otros, no componen, ni forman edificio alguno. (Mayáns i Sisear 1737/1981: 7)

Hier zeichnet sich eine im Vergleich zu den übrigen Autoren geradezu moderne Auffassung ab, die den Sprecher - anhand der BAUWERK-Metapher als Handwerker konzipiert - als den eigentlich handelnden Akteur darstellt. Die Sprache bietet ihm mit ihren Einzelteilen wohl das Rohmaterial, doch errichten muss er sein Sprachgebäude selbst; ohne sein aktives und konstruktives Handeln bleiben die verschiedenen Elemente im Grunde wertlos. Bemerkenswert an dieser Auffassung ist auch, dass kein „Bauplan" o.ä. vorgegeben ist, nach dem vorzugehen ist. Hier scheint Mayáns in gewisser Weise die Saussure'sche Dichotomie von langue und parole zu antizipieren. Eine ähnliche Konzeption der Aktivität des Sprachbenutzers findet sich in dem klassischen Konzept16 des Sprechers als Maler. Sprechen wird hier als MALEN konzipiert, wobei die Wörter die Farben darstellen; vgl. z.B.: (16) Pues como el hablar sea explicar sus pensamientos o, por mejor decir, pintarlos con los colores de las palabras, el bien hablar será un pintarlos bien y representarlos al vivo". (Luzán 1729/1991:76) 17

Auch hier muss also der Sprecher als aktiv Handelnder mit den vorhandenen Materialien umgehen können; er muss gewissermaßen die Techniken beherrschen, z.B. wissen, „[...] cómo ha de llevar el pincel [...]" (Luzán ebd., wobei die Aktivität in Luzáns Konzeption allerdings auf das Abbilden der Objekte bzw. der Realität beschränkt ist). Die Analyse dieses Beispiels verdeutlicht, wie sich onomasiologische und semasiologische Perspektive verbinden lassen, um die textuelle Dimension metaphorischer Projektionen zu erhellen: Auf sprachlicher Ebene entsteht durch die verschiedenen tokens bereits eingeführter Bilder (types) ein 'phorisches Netz', das sowohl intra- als auch intertextuell wirken kann. Die konzeptuelle Grundlage dieser Metapher ist, obwohl das Ergebnis zweidimensional bleibt, also keine räumliche Ausdehnung besitzt, die GEFÄSS-Metapher, wobei erneut die Verbindung zur instrumentalen Auffassung deutlich wird, wie das folgende Beispiel zeigt: (17) El comunicar los pensamientos y hacer de ellos como una imagen con las palabras para exponerlos a la ajena vista, es el fin ordinario por el cual hablamos, [...]. (Luzán 1729/1991: 103)

Dasselbe gilt für die ebenfalls klassische KLEIDER-Metapher, der zufolge die Wörter den Gedanken Gestalt geben und sie kleiden. Betrachten wir erneut Beispiel (8):

16

17

Vgl. die Anmerkungen von Hurtado (1991: 76, 103, jew. FN a) und Lázaro Carreter (1985: 47, unter Berufung auf Aristoteles, Peri Hermeneias I, 2): „La posición aristotélica es tajante. Frente a la teoria confusa y poética de Platón, Aristóteles afirma la convención como motivo inicial del lenguaje. Las palabras son la imagen de las modificaciones del alma, y la escritura no es más que la imagen de las palabras." Vgl. auch Luzán 1729/1991: 89, so wie Luzán 1737, 1789/1974: 168: „[...] objetos vivamente pintados con las solas palabras [...]"; vgl. auch Quintana 1813/1979: 379.

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Al mismo tiempo que van saliendo a la luz los pensamientos, van tomando cuerpo y color y vestido por medio de las palabras [...]. (Luzán 1729/1991: 88)

so zeigt sich, dass auch hier eine Verräumlichung vorliegt; sprachliche Ausdrücke werden als Objekt konzipiert, als Behältnisse nicht-materieller Inhalte. Und auch hier stößt man auf der Textebene auf eine Art Ausdehnung der traditionellen Metapher, und zwar in Luzáns kritischer Haltung gegenüber Fremdwörtern, besonders denen gegenüber, die übernommen werden (18) [...] sin domesticarlos y vestirlos (por decirlo asi) a la moda. (1729/1991: 99) Wo der Mensch ist, ist schließlich offenbar der Krieg nicht weit: (19) [nach Ausführungen über die Vermeidung bestimmter sprachlicher Mittel in einer Unterhaltung] „Estas breves conclusiones son las armas ordinarias de una conversación". (Luzán 1729/1991:85) Die Vorstellung von Sprache als Kriegsinstrument und damit Sprechen als kriegerischem Vorgang geht besonders aus der folgenden Textpassage hervor: (20) Pues qué embarazo ai que nos impida adelantar el passo acia la verdadera EloqUencia? Ea procuremos lograrla, assi por la propia estimación, como por no passar por la ignorancia de ser inferiores en tan excelente calidad a las Naciones estrañas. Cierta es la competencia con las mas cultas de Europa. Superiores son nuestras armas; es decir, nuestra Lengua, si la manejamos tan bien, como nuestros Mayores la espada. No es mui incierta de conseguir la Vitoria [...]. (Mayáns i Sisear 1727/1981:216f.) Sprechen erscheint hier als die geschickte Beherrschung der Waffe 'Sprache'; Kommunikation wird damit zur kriegerischen Auseinandersetzung mit einem Gegner, bei der es gilt, den Sieg zu erringen. Die Parallelen zu der von Lakoff / Johnson (1998: 11-14, 93-102 u.a.) ausführlich diskutierten ARGUMENT-is-WAR-Metapher sind augenfällig.

3.3. Der Bildspendebereich NATUR Die verschiedenen weiteren Konzeptualisierungen, die sich in den untersuchten Texten nachweisen lassen, können hier nicht ausführlich erörtert werden. Im Folgenden sei exemplarisch das NATUR-Schema angeführt. Für Mayáns i Sisear gibt es zwei Arten des Ursprungs von Wörtern, die sich zueinander verhalten wie Quelle und Fluss; die ursprünglich eingesetzten („Impositicios") sind die „fuente", die abgeleiteten der „rio" (1737/1981: 115). Das Bild vom Fluss taucht auch in seiner bekannten Feststellung über den Charakter der Sprachentwicklung auf: (21) Son las Lenguas como los Rios, que porque conservan mui de antiguo sus nombres, se tienen por unos mismos; pero el agua que por sus cauces està ahora corriendo; no es la misma que passò [...]. (1737/1981: 5) Diese Konzeptualisierung lässt eine gewisse Ambiguität erkennen: Mayáns, der zwar einerseits im traditionell-biblischen Rahmen verharrt, besitzt andererseits offenbar bereits das Bewusstsein eines - modern formuliert - sprachlichen Kontinuums. Übertragungen aus dem Bereich Natur scheinen besonders geeignet, die grundsätzliche Wandelbarkeit und den Entwicklungsgedanken zu vermitteln, wobei im gegebenen Fall, anders als etwa im 16. Jahrhundert (vgl. Polzin 2000), die Eigendynamik der Sprache im Vordergrund steht, nicht

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die auf menschlicher Kultivierung beruhende Entwicklung. Hierzu passt z.B. auch die bereits bei lateinischen Autoren (s.u.) belegte - Vorstellung der „[...] Raices, de donde nacen los Vocablos [...]" (ebd.: 163) bzw. der „Letras Radicales" (ebd.: 122; vgl. auch Capmany 1786/1991: 78-82), das Konzept, das im 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt sprachwissenschaftlicher Forschung rücken sollte. Auch das NATUR-Konzept fokussiert also, wie diese wenigen Beispiele nur andeuten können, auf bestimmte Aspekte des Phänomens Sprache. Schließlich zeigt sich auch hier die Verbindung und gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Konzepte. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Sprache des vorangehenden Jahrhunderts etwa fragt Luzán angesichts des obskuren und undurchsichtigen Sprachgebrauchs Góngoras (22) [...], pero ¿quien podrá desemboscar de tan enmarañadas cláusulas alguna verdad o algún concepto que llene la curiosidad concebida? (1737, 1789/1974: 145; vgl. auch 142-144)

Einmal mehr stoßen wir hier auf die GEFÄSS-Konzeptualisierung.18

4. Ergebnisse und Perspektiven

In diesem Beitrag konnte lediglich ein Ausschnitt aus dem Spektrum der im 18. Jahrhundert vorhandenen Konzepte von Sprache diskutiert werden; die Ergebnisse sind daher als vorläufig zu betrachten. Aufschlussreiche Erkenntnisse verspricht darüber hinaus etwa die Einbeziehung (natur)wissenschaftlich-technischer Konzeptualisierungen (vgl. z.B. den rekurrenten Gebrauch des Adjektivs mecánico bei Capmany [1786/1991: 63, 65, 98] oder Jovellanos [1804/1979: 255]). Mit dem GEFÄSS-Konzept und der Anthropomorphisierung wurden zwei zentrale onomasiologische Prinzipien herausgearbeitet, die die Vorstellungen über Sprache und den metalinguistischen Diskurs des 18. Jahrhunderts entscheidend prägen. Insbesondere bei ersterem handelt es sich offensichtlich um ein vergleichsweise umfassendes und auf einer allgemeineren Ebene angesiedeltes Konzept. Die Verräumlichung und die damit einhergehenden Implikationen eröffnen Kontiguitäten; sie bilden die konzeptuelle Grundlage fllr zahlreiche weitere Projektionen. Anthropomorphisierende Konzepte dienen häufig der Charakterisierung einer Sprache; daneben wird auch der Aspekt der menschlichen Aktivität hervorgehoben. Im Übrigen schließen sich die verschiedenen Konzeptualisierungen durchaus nicht gegenseitig aus; selbst aus logischer Sicht eigentlich unvereinbare Aussagen werden kombiniert (z.B. BEHÄLTER-Schema und Wortschatzerweiterung durch Ableitung bei Capmany). Dies deutet daraufhin, dass der Umgang mit den Bildern nicht immer bewusst erfolgt, was umso eher der Fall sein dürfte, wenn es sich um fest verankerte Bilder handelt. Emeut wird hier auch die Partialität jeder Projektion bestätigt (vgl. oben, Kap. 2). Auffällig ist weiterhin, dass kein Konzept auf nur einen Text beschränkt ist; selbst in der Rhetorik und Poetik, von denen man annehmen könnte, dass hier die klassischen Modelle

" MMol, s.v. desemboscarse: „Salir de un bosque o espesura."

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fester implementiert sind, lassen sich mehrere Sichtweisen erkennen. Statische und dynamische Sprachauffassungen bestehen grundsätzlich nebeneinander. Hier bieten sicher auch die historischen Entstehungsbedingungen der Texte ein gewisses, noch näher zu bestimmendes Erklärungspotenzial. Die verschiedenen Konzepte können sich auf unterschiedliche Ebenen des Phänomens 'Sprache' beziehen. Einen häufigen Bezugspunkt bildet das Kastilische als historische Einzelsprache, wobei der lexikalische Aspekt eine zentrale Rolle spielt - dies allerdings in unterschiedlicher Hinsicht (Herkunft, Erweiterung, Fachvokabular, Synonymenproblematik u.a.). Hier lassen sich deutlich die bereits angesprochenen statischen und dynamischen Sichtweisen unterscheiden.19 Die Analyse des GEFÄSS-Konzepts hat daneben gezeigt, dass auch allgemeine Aspekte der Sprachentwicklung von den Autoren thematisiert werden. Aussagen über konkrete Sprach- bzw. Textproduktion schließlich treten ebenfalls auf, allerdings mit insgesamt niedrigerer Frequenz. Doch lässt sich, wie in den Beispielen deutlich wurde, in vielen Konzeptualisierungen implizit ein bestimmtes Verständnis von der Rolle der Sprecher und dem Stellenwert der Kommunikation erkennen. Insgesamt scheint damit der Gedanke von einer „Epochenmetaphorik" als eine „die Perspektiven ganzer Epochen und wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen" (Nieraad 1977: 101 f.) determinierenden Metaphorik sicher berechtigt, doch müssen die genauen Umstände erhellt werden, in denen sie entsteht und wirkt. Auch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer verschiedene Konzeptualisierungen parallel bestehen (z.B. die GEFÄSSund die NATUR- / PFLANZEN-Konzeption), die auf unterschiedliche Aspekte des Phänomens Sprache fokussieren, und - was noch wichtiger ist - , dass sich die verschiedenen Konzepte gegenseitig durchdringen und ineinander Ubergehen. Dieses Nebeneinander, ja die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Perspektiven scheint ein Wesensmerkmal des metalinguistischen Diskurses darzustellen. Die übergreifende Frage nach Wandel oder Kontinuität der Konzeptualisierungen wird man erst auf der Grundlage weiterer Textuntersuchungen beantworten können. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass es wohl keine eindeutige Antwort geben kann. Offensichtlich gibt es bei einigen Bildern bis in die Antike reichende Traditionsstränge. Radix und fans beispielsweise sind bereits bei Varrò belegt (Forcellini 4: 6b; TLL 6: 1025); auch die Mayáns'sche Unterscheidung von forts und rivus findet sich bei diesem Autor (vgl. Varrò ed. 1910, VIII, 5: „Duo igitur omnino verborum principia, impositio , alterimi ut fons, alteram ut rivus."), ebenso anthropomorphisierende Projektionen (z.B. cognatio; TLL 3: 1478, 1482 oder societas verborum; V, 13). Bei anderen Bildern ist dagegen eine solche Tradition zumindest derzeit nicht nachweisbar. Bekanntermaßen ist allerdings gerade der metaphorische Gebrauch von Lexemen nicht immer bzw. nicht immer vollständig lexikographisch erfasst, so dass eine konzeptuelle RelektUre der (mittel-)Iatei-nischen 19

Zwar lässt sich einerseits z.B. in Capmanys Ausführungen zur Vitalität der spanischen Wortbildung, besonders im Vergleich zur französischen (1786/1991: 59f., 98-109), durchaus ein gewisses Bewusstsein von Dynamik erkennen, doch verharrt er z.B. andererseits auf dem Standpunkt, dass ein „diccionario filosofico" notwendig sei, „[...] que fixe con todo el rigor metafisico el verdadero sentido de las palabras [...]" (ebd.: 107). Diese Auffassung, dass Erkenntnis und (Fach-)Kommunikation umso besser funktionieren, je differenzierter der Wortschatz ist, ist fest verankert. Dennoch sind auch einige Ansätze erkennbar, die über die Wortebene hinausgehen und die Verknüpfung der einzelnen Elemente zu größeren Einheiten betreffen (Capmany ebd.: 57, 65; Luzán 1729/1991: llOf.).

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Grammatikschriften hier noch manchen Beleg liefern könnte. Gleichzeitig bliebe genau zu prüfen, ob die spanischen Autoren nicht konzeptuell aus anderen Quellen geschöpft haben, z.B. Renaissanceautoren. Ebenfalls in Frage käme, besonders gegen Ende des Jahrhunderts, der Einfluss französischer Autoren. In jedem Fall scheint die These Kuhns (1967) von der Diskontinuität und dem revolutionären Charakter wissenschaftlicher Entwicklungen20 mit diesen Ergebnissen kaum vereinbar. Die Antwort auf die Frage nach Wandel oder Kontinuität hängt zudem davon ab, was man als Objekt des Wandels bzw. der Kontinuität annimmt. Zu beachten ist nämlich, dass ein Konzept durchaus in unterschiedlicher sprachlicher Form zu verschiedenen Zeiten auftauchen kann.21 Das Verhältnis von (klassischer) Tradition und Innovation bleibt schließlich immer mit Bezug auf die jeweiligen historischen Umstände zu bestimmen (vgl. auch Polzin, im Druck). Selbst wenn man vermutet, dass es eine gewisse Anzahl von tradierten Konzepten gibt, gilt es andererseits zu beachten, dass zu einer gegebenen Zeit stets nur bestimmte Traditionen rezipiert und aktiviert werden, die Wirkung von Traditionen also nicht immer gleich ist. Zudem dürfte auch die je aktuelle Wissenschaftsund Technikwelt eine Rolle spielen.22 Eine Analyse der Metasprache aus onomasiologischer Sicht kann, wie die diskutierten Ergebnisse zeigen, aufschlussreiche Einblicke in das Denken eines Autors geben. Die Extension der ermittelten sowie weitere verwendete Konzepte müssten nun auf einer breiteren Textbasis untersucht werden. Um die Entstehung und Wirkung metasprachlicher Traditionen bzw. Innovationen nachzuzeichnen, ist also noch viel Lektüre nötig, doch ist mit einer solchen konzeptuellen Analyse als Ergänzung zur Untersuchung inhaltsbezogener Aspekte sowohl für die historische Entwicklung der romanischen Einzelsprachen als auch ftlr die Geschichte unserer Disziplin eine weitere - metaphorisch gesprochen - wertvolle Erkenntnisquelle aufgetan.

20

21

22

Kuhn zufolge gibt es jeweils ein Paradigma, das absolut dominiert. Früher oder später tritt notwendigerweise eine Krise ein, die zu einem Paradigmenwechsel führt, in dessen Folge dann ein anderes Paradigma als allgemein anerkannter Bezugsrahmen fungiert (vgl. bes. Kuhn 1973: 28, 44-67, 11 Of., 151). In dieser Sicht könnte z.B. die so genannte com/uii-Metapher, die Reddy (1979) formuliert hat, als eine Ausprägung der GEFÄSS-Konzeptualisierung angesehen werden. Etwa insofern, als eine Konzeptualisierung durch eine zu einer gegebenen Zeit neu eingesetzte oder bevorzugte Technik favorisiert wird; vgl. z.B. die Ausführungen von Draaisma (1999: 33-40) zu der von Piaton und Aristoteles benutzten Wachstafelmetapher, um das menschliche Gedächtnis, das Festhalten von Wissen, Gedanken und Ideen zu beschreiben. Dagegen bildet gegenwärtig bekanntermaßen die Computertechnologie eine verbreitete Konzeptualisieningsgrundlage. Bezüglich der Konzeptualisierung von Kommunikation zeigt Handler (1998: 16-19) die Dominanz der „telematischen Kommunikationsvision" (1998: 16), die zahlreiche verbreitete Kommunikationsmodelle (u.a. Shannon / Weaver, Jakobson) entscheidend geprägt hat.

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Teil 3: Onomasiologische Modelle in Grammatik und Lexik

Rolf Kailuweit (Heidelberg) Linking in Role-and-Reference-Grammar - Zur einzelsprachlichen Realisierung universeller semantischer Rollen anhand französischer und italienischer Beispiele

0. Einleitung

Die Frage der Verbvalenz steht im Mittelpunkt der syntaktischen und semantischen Analyse des Satzes. Das Verb bildet den syntaktischen Nukleus, von dem die anderen Satzglieder abhängen. Die Eigenschaft des Verbs, Zahl und Art der zentralen Satzglieder zu selektieren (Valenz), 1 liegt in seiner Bedeutung begründet. Verbvalenz ist ein semantisches Phänomen, dessen „Auswirkungen" auf die syntaktische Struktur des Satzes als ein Derivationsverhältnis (die syntaktische Struktur leitet sich aus der semantischen ab) oder aber als systematische Korrespondenz (linking) zweier grundsätzlich unabhängiger Strukturen verstanden werden können. Valenz lässt sich semasiologisch oder onomasiologisch beschreiben. In der europäischen Romanistik sind dem semasiologischen Ansatz die Valenzwörterbücher von Busse / Dubost [1979] 1983 (BD), Lewicka / Bogacki 1983 (LB), Busse 1994 (B) und Blumenthal / Rovere 1998 (BR) verpflichtet, die die Verben der jeweils untersuchten Sprache alphabetisch mit ihren verschiedenen syntaktischen Aktantenkonstellationen auflisten. Eine semantische Analyse wird außer in LB nicht oder nicht systematisch geleistet. Punktuell geben BD, Β und BR Hinweise auf den semantisch-referenziellen Charakter der Aktanten, z.B. [+/- Hum]. Im übrigen bleibt die semantische Information implizit: Sie ist der Übersetzung und den Beispielen zu entnehmen. Eine semantische Beschreibung sei, so Kotschi (1981: 84-85), allerdings auch weitaus schwieriger zu leisten. Die syntaktische Valenzanalyse habe Priorität, da sie zu Klassen führe, denen die semantischen Klassen entsprächen. Die syntaktische Analyse sei auch die Grundlage für die Syntax einer zur semantischen Beschreibung dienenden Metasprache. Studien onomasiologisch definierter Bereiche haben in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Koch (1981), 2 Schwarze (Hg. 1985) und François (1989) vorgelegt. Diese Arbeiten beschränken sich allerdings in der Feinanalyse auf bestimmte Bezeichnungsfelder und stellen das Aufzeigen einer systematische Korrespondenz von semantischer und syntaktischer Struktur nicht in den Mittelpunkt.3 1

2 3

Der Begriff der Valenz ist unabhängig voneinander von Tesnière ( 1953, 1959) und Hockett ( 1958) entwickelt worden. Er wird in der Role-and-Reference-Grammar (RRG) explizit verwendet. In anderen US-amerikanischen Theorien bezeichnen Termini wie Subkategorisierung oder ArgumentStruktur dasselbe Phänomen. Koch geht allerdings innerhalb des Bereiches 'Verfügungsverben' semasiologisch vor. Schwarze (1985: 25) suggeriert, dass sich „semantische Repräsentationen [...] durch geeignete Regeln in Sätze einer natürlichen Sprache überführen lassen". Koch (1981: 365) sieht dagegen für das Feld der Verfügung „allenfalls Tendenzen in der syntaktischen Repräsentation der semantischen Rollen". Im allgemeinen herrscht Skepsis, was die Ausarbeitung einer linking-Theorie be-

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Die von Robert van Valin seit den 80er Jahren (Foley / van Valin 1984; van Valin 1993; van Valin / LaPolla 1997 [vVL]) entwickelte und in der europäischen Romanistik noch wenig rezipierte Role-and-Reference-Grammar,4 besitzt eine umfassende sowohl onomasiologische, als auch semasiologische /M/wg-Theorie. Dies ergibt sich aus dem Anspruch, eine vollständige, sowohl syntaktische als auch semantische und pragmatische Aspekte berücksichtigende Grammatiktheorie zu entwickeln. Im Folgenden soll in Abschnitt 1 das Grammatikmodell der RRG vorgestellt werden. Unter 1.1. wird es kurz gegenüber dem generativistischen Gouvernment and Binding / Principles & Parameters Modell (GB / P&P) abgegrenzt. Unter 1.2. wird dann die logischsemantische Repräsentation von Prädikaten und unter 1.3. die Zuweisung von ©-Rollen diskutiert. Abschnitt 2 erörtert die Zuweisung von Makrorollen, die für die Theorie der RRG zentral sind. Abschnitt 3.1. widmet sich den /M/ttg-Algorithmen. Abschnitt 3.2. illustriert eine mögliche Anwendung dieser Algorithmen auf das Französische und Italienische. Abschließend werden in Abschnitt 4 zwei Beispiele (Verben des Gefallens unter 4.1. und Verben des Erinnerns unter 4.2.) für eine kontrastive Beschreibung von linkingPhänomenen gegeben. Dabei ist die onomasiologische Perspektive übergeordnet. Prädikatklassen und Sinnbezirke werden als kognitive Universalien angesehen, deren einzelsprachliche Realisierung untersucht wird. Die semasiologische Perspektive dient jedoch als Korrektiv. Es fragt sich, inwieweit die onomasiologischen Regeln die Funktion der Ausdrucksmittel der Einzelsprache adäquat erfassen.

1. Das Grammatikmodell der Role-and-Reference-Grammar

1.1. Role-and-Reference-Grammar und generative Grammatik Das Grammatik-Modell der RRG ist in Abb. 1 anhand eines Beispielsatzes dargestellt. Es stellt einen Gegenentwurf zum generativistischen GB / P&P-Modell dar. Die Konstituentenprojektion entspricht grosso modo der Anordnung der lexikalischen Köpfe in einer Baumstruktur, die von der VP dominiert wird. Während im P&P-Modell Funktionen wie Tempus, Modus, Aspekt oder aber Negation funktionelle Köpfe darstellen, die im Bereich der funktionellen Köpfe der Flexion (früher IP) den Konstituentenbaum linear nach links oben fortsetzen, ist die sogenannte Operatoren-Projektion von der Konstituentenprojektion strukturell unabhängig, aber über das Prädikat mit dieser verknüpft. Ebenso ist die FocusStruktur-Projektion (Thema/Rhema-Struktur) strukturell unabhängig und nicht, wie im P&P-Modell, eine im CP-Bereich angesiedelte lineare Fortsetzung der Baumstruktur.

4

trifft. François / Broschart (1994: 40-41) stellen nach der Diskussion generativistischer und funktioneller Arbeiten, die sich dem Verhältnis von semantischer Aktantenstruktur und syntaktischen Funktionen (Subjekt, direktes Objekt) widmen, aus semasiologischer Perspektive fest: „Les moyens syntaxiques comme par ex. l'ordre des mots ou la valence syntaxique sont notamment très peu informatifs sur le rôle actantiel et n'assignent à un participant qu'un certain type de saillance sur la base de la position initiale ou d'un lien étroit avec le noyau de l'expression du procès." François / Borschart (1994: 17) erwähnen sie nur am Rande.

Linking in

Role-and-Reference-Grammar

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Linking in simple sentences

Operator projection

Constituent projection

SENTENCE IF

SENTENCE /

> CLAUSE \ TNS

\

> CLAUSE PrCS

\/

/ \ give / Dana

/ to Pat

/

. yesterday?

V/ Undergoer

SPEECH ACT

[do'(Dana A cv, 0)]CAUSE[BEC0ME have'(Pat A c S) what)]

Focus structure projection

Linking from semantics to clause structure

Abb. 1 : Das Grammatikmodell der RRG (vgl. Van Valin / Lapolla 1997: 430)

Im Bereich der semantischen Beschreibung geht die RRG weit über die generative Grammatik hinaus. Im P&P-Modell gehört zur lexikalischen Bedeutung von Verben ein Raster semantischer Rollen (Θ-Rollen), die zusammen mit idiosynkratischen Prinzipien der Komplementenselektion den Aufbau der syntaktischen Tiefenstruktur bestimmen (vgl. Chomsky / Lasnik 1993: 527-528). Es wird keine lexikalische Komponentenanalyse durch-geführt und kein standardisierter Formalismus verwendet. Θ-Rollen als Bestandteil der lexikalischen Repräsentation stellen keine geordnete Liste dar; es wird lediglich die Rolle des externen Arguments, das als Subjekt realisiert wird, markiert. Der Versuch, nach Burzios Generalisierung5 Verbklassen zu bilden, hat zwar zur Unterscheidung von transitiven und zweier Klassen von intransitiven Verben - intransitiver mit externem Argument und inakkusativer mit internem Argument, das als ein markiertes Subjekt realisiert wird - geführt (vgl. Belletti/ Rizzi 1988), ist aber nicht zu einer kohärenten Beschreibung der logischsemantischen Struktur aller Verben ausgearbeitet worden. Auf Grund der Annahme einer autonomen Syntax als zentralen Untersuchungsgegenstandes der Grammatik spielen semantische Untersuchungen in der generativen Grammatik eine geringere Rolle, so dass es nicht

5

Verben, die kein externes Argument besitzen, weisen keinen strukturellen Objektkasus zu (d.h. sie können kein direktes Objekt haben; vgl. Burzio 1986: 178).

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überrascht, dass Autoren wie Jackendoff (1983, 1990) oder Rauh (1988) ihre semantischen Arbeiten als zur generativen Grammatik komplementär begreifen, ohne sie in den aktuellen Stand der Theorie zu integrieren.6 Der Vorteil der RRG liegt somit darin, Syntax und Semantik als gleichrangige und im Bezug aufeinander ausgearbeitete Bereiche einer komplexen Grammatiktheorie zu begreifen. Es fragt sich allerdings, warum diese Bereiche nur verknüpft sind (vgl. vVL: 317-318) und nicht wie Tiefenstruktur, Oberflächenstruktur und Logische Form im GB / P&P-Modell in einem Derivationsverhältnis stehen. Die Antwort dürfte in der grundsätzlichen Konzeption der RRG als einer an Kognition und Kommunikation orientierten Grammatiktheorie liegen. Semantische Strukturen werden in Kommunikations- und Kognitionsprozessen erworben und sind grundsätzlich unabhängig von den zu erlernenden verschiedenen syntaktischen Möglichkeiten der Einzelsprachen. Dies ermöglicht Analogiebildungen: Markiertes linking kann zugunsten unmarkiertem aufgegeben werden.

1.2. Die logisch-semantische Repräsentation von Prädikaten Die logisch-semantische Struktur (LS) der RRG verbindet als Komponentenanalyse von Prädikaten den Formalismus der intensionalen Logik Dowtys (1979) mit einer an Gruber (1965) und Jackendoff (1972) orientierten Θ-Rollen-Theorie. Dowty hatte die Verbklassifizierung von Vendler (1967) zugrundegelegt und Verben nach den Kriterien statisch +/-, telisch +/- und punktuell +/- in Zustände (states +—), nicht-telische Vorgänge und Aktivitäten (activities ), telische Prozesse (accomplishments - + - ) und punktuelle Ereignisse (achievements -++) klassifiziert. A est en train de / d' •aimer * trouver une solution pleurer peindre un tableau

Oui

\

A *pleure / peint un tableu en une heure A met une heure à *pleurer / peindre un t a b l e a u / Oui

Nv

Accomplissement

y /

Non

Activité

Non

/ A a cessé de / d ' ^trouver une solution aimer

/ /

ν.

Oui

État

/

/ / /

Non

Achèvement

Abb. 2: Algorithmus zur Bildung von Vendler / Dowty-Klassen

6

Jackendoffs /«¿wig-Theorie orientiert sich nach eigener Aussage an einer „mid-1970s version of phrase structure", ohne „GB Theory subtleties as unaccusative movement, small clauses, abstract Case, and head-to-head-movement" zu berücksichtigen (1990: 284-285).

Linking in Role-and-Reference-Grammar

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Für die Zuordnung der Verben zu den vier Klassen sind von Vendler und Dowty eine Reihe von Tests vorgeschlagen worden, die für jede Einzelsprache auf ihre Wirksamkeit überprüft werden müssen und nicht für jedes Verb ein befriedigendes Ergebnis liefern (vVL: 96). François (1989: 218-219) hat die bei Vendler vorgeschlagenen Tests in einen Algorithmus überführt. Guenther et al. (1978) und Nef (1980, 1986: 66-68) haben zur Unterscheidung der vier Klassen im Französischen eigene Algorithmen entwickelt, die allerdings andere als die drei Merkmale statisch +/-, telisch + / - und punktuell + / - berücksichtigen. In Abb. 2 übertrage ich den Algorithmus François' auf das Französische. Im Formalismus der RRG kommen den vier Klassen folgende LS zu7:

static

telic

punctual

Logical structure (LS)

State

χ

-

-

predicate' (χ) or (χ,y)

Activity

-

-

-

do' (χ, [predicate' (χ) or (χ,y)])

Achievement



χ

χ

Accomplishment

χ

INGR predicate' (χ) or (χ,y) INGR do' (χ, [predicate' (χ) or (χ,y)] BECOME predicate' (χ) or (χ,y) BECOME do' (χ, [predicate' (χ) or (x,y)l) do' (x, [predicate' (x) or (x,y)] & BECOME predicate' (x) or (x,y)) (Active accomplisment) Causative: aCAUSEß, where α,β are LSs of any type

Abb. 3: Prädikatsklassen und korrespondierende LS in der RRG (nach vVL: 93, 109) Die vier Grundklassen sind, wie in Abb. 3 deutlich wird, zu erweitern. Erstens besteht bei jedem der vier Sachverhaltstypen die Möglichkeit, den Sachverhalt als verursacht darzustellen. Insbesondere bei accomplishment-^erben scheint dies ein häufiger Fall zu sein, der im Französischen regelmäßig unmarkiert (z.B. briser) gegenüber markiertem nicht kausativem accomplishment (se briser) ist. Bei unserem Beispiel aus Abb. 2 ergäbe sich: (1)

a. Antoine peint un tableau. b. [do' (x [couvrir(x, 0)-avec-de-la-peinture'])] CAUSE [BECOME exister' (y)]

Hier stellt sich die Kausativrelation als Kombination activity CAUSE accomplishment dar. Ein causitive accomplishment bleibt nichtsdestoweniger ein accomplishment nach Maßgabe des Algorithmus in Abb. 2.

7

Der Apostroph bei predicate' symbolisiert, dass es sich nicht um objektsprachliche, sondern um metasprachliche Ausdrücke handelt, die für verschieden Verben derselben oder verschiedener Einzelsprachen stehen könnten.

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Die zweite Erweiterung besteht in der Annahme einer Unterklasse active accomplishment. Diese Unterklasse wird von telischen Bewegungsverben gebildet. Verben, wie to run in (2a), entsprechen der LS in (2b). (2)

a. Carl ran to the store. b. do' (χ, [run' (χ)] & BECOME be-at' (y, χ)

Sie werden in vVL: 101 im Gegensatz zu früheren Analysen nicht mehr als kausativ angesehen, d.h. eine adäquate Paraphrase wäre 'Carl ran and arrived at the store' und nicht 'Carl's running caused him to arrive at the store'. Für die Richtigkeit dieser Korrektur spreche, dass in Sprachen, die Kausativität morphologisch kennzeichnen, Verben vom Typ to run to nicht kausativ markiert sind. Active-accomplishment-Verben wie z.B. to march können im Rahmen der einzelsprachlichen lexikalischen Möglichkeiten in kausative Konstruktionen eintreten: The sergeant marched the soldiers to the barracks (vgl. ibd.).8 Aus den vier Grundklassen Vendlers ergeben sich somit insgesamt zehn Klassen: states, activities, achievements, accomplishments, active accomplishments sowie jeweils eine kausative Variante dieser fünf Klassen. François (1989) hat nach ausgiebiger Kritik der Klassifizierung von Dowty und Vendler eine eigene erarbeitet, die auf sechs Kriterien beruht.9 Ein wesentlicher Unterschied zum Modell der RRG ist, dass François die Abgrenzung von achievements und accomplishments nach dem Kriterium punktuell +/- aufgibt.10 Ein detaillierter Vergleich der elf Klassen, zu denen François kommt, mit den zehn Klassen in vVL würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Wichtiger als die Unterschiede erscheinen die Gemeinsamkeiten. Diese bestehen außer in den Klassifikationskriterien vor allem darin, dass die durch dynamisch +/- abgegrenzten Prädikate der states und activities - états und événements bei François - fundamental erscheinen. In der RRG stellen sie den Endpunkt der Analyse dar. Als predicate' dargestellte Ausdrücke, werden nicht in weitere Komponenten zerlegt. Der Apostroph bei predicate' symbolisiert, dass es sich nicht um objektsprachliche, sondern um metasprachliche Ausdrücke handelt, die für verschiedene Verben derselben oder verschiedener Einzelsprachen stehen könnten. Die Wahl des metasprachlichen Prädikats sollte für die Sprecher der Objektsprache nachvollziehbar sein (van Valin / Wilkins 1993: 529). Bei der Reduzierung des metasprachlichen Vokabulars werden Hyponymierelationen ausgenutzt. So ist etwa to remember Hyponym von to think: (3)

8

9

10

remember

BECOME think-again'(x) about-something-be-in-mind-from-before'(y)

Um das Vorliegen des Merkmals Kausativität in Sprachen, die Kausativität nicht morphologisch markieren, nachzuweisen, wird als Test die Paraphrasierung mit to cause vorgeschlagen (vVL: 97). Eine weitere Analyse findet nicht statt. Nach Wierzbicka (1996: 70-71) ist der Ausdruck von Kausativität Bestandteil einer universellen elementaren Semantik, der jedoch einzelsprachlich eher durch eine Konjunktion oder ein Substantiv realisiert wird. François (1989: 232) schlägt zur Definition des Merkmals kausativ vor: „Le procès est conçu par le locuteur comme non-autonome, c'est-à-dire comme résultant d'un événement autonome ou d'une action." Außer statisch +/-, telisch +/-, punktuell + / - und kausativ +/-, berücksichtigt er noch transitionell + / - und agentiv +/-. Das Merkmal dient François zu der eher marginalen Unterteilung von processus (dynamisch +, agentiv - , punktuell +/-): Le rocher dévale la pente (punktuell - ) gegenüber Paul sursaute (punktuell +) (vgl. François 1989: 236-237).

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Die methodische Reflexion über das Zustandekommen der Metasprache ist für die angloamerikanische Sprachtheorie ungewöhnlich und erinnert an den Ansatz von Koch (1981), die Angemessenheit metasprachlicher Kategorien in Dialogzusammenhangen der Objektsprache zu überprüfen."

1.3. Θ-Rollenzuweisung In der RRG werden als eine zweite Dimension der semantischen Struktur dem einen oder den zwei Argumenten der Prädikate12 mehr oder weniger abstrakte Θ-Rollen zugeordnet. I Arg. of

DO AGENT

1 1 st arg. of do' (χ,...) EFFECTOR MOVER ST-MOVER L-EMTITOR S-EMITTOR PERFORMER CONSUMER CREATOR SPEAKER OBSERVER USER

1 1st arg. of p r e d ' (x,y) LOCATION PERCEIVER COGNIZER WANTER JUDGER POSSESSOR EXPERIENCER EMOTER ATTRIBUT ANT

1

1

2nd arg. of

Arg. of st

pred' (x,y)

pred'(x) PATIENT ENTITY

THEME STIMULUS CONTENT DESIRE JUDGEMENT POSSESSED SENSATION TARGET ATTRIBUTE PERFORMANCE CONSUMED CREATION LOCUS IMPLEMENT

Abb. 4: Thematische Relationen in Abhängigkeit von den LS-Argument-Positionen (vgl. vVL: 127)

Die (offene) Liste der 37 verschiedenen Θ-Rollen erscheint auf den ersten Blick willkürlich. Neben abstrakten Rollen, die aus anderen Theorien bekannt sind, wie AGENT, EFFECTOR, PATIENT, LOCATION, THEME, stehen konkrete wie WANTER, DESIRE, CONSUMER, CONSUMED,

deren Bedeutung intuitiv nachvollziehbar ist. Andere Rollen, wie LOCUS oder TARGET, sind ohne konkrete Beispiele nur schwer einzuordnen. So ist einer Liste verschiedener Bezeichnungsfelder (vVL: 125) zu entnehmen, dass ein Verb, das emotion bezeichnet, die Rollen EMOTER und TARGET (love'(x,y) X=EMOTER, y=TARGET), ein Verb, das repetitive action bezeichnet, die Rollen EFFECTOR und LOCUS ( d o ' ( x , [tap'(x,(y))]) X=EFFECTOR, y=LOCUS)

zuweist. Die Berechtigung solcher labels besteht laut von Valin / LaPolla darin, dass der Katalog von Bezeichnungsfeldern vorläufig ist. Eine kohärente geschlossenen Liste von Θ-Rollen könne nicht erstellt werden, „because there is yet no adequate decompositional representati11

12

Der Unterschied besteht allerdings darin, dass hier objektsprachliche Prädikate unmittelbar in metasprachliche überführt werden, während in Koch 1981 objektsprachliche Ausdrücke lediglich als Indikatoren metasprachlicher Kategorien dienen. Nullwertig Prädikate wie rain' vergeben keine Θ-Rollen.

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on for the primitive state and activity predicates" (vVL: 114).13 Auffällig ist, dass die für Rauh (1988) oder Jackendoff (1990) zentralen Rollen SOURCE und GOAL in der Liste fehlen. Der Grund liegt in der kompositioneilen Struktur der LS', in denen diese Rollen vorkommen. So ist die für englisch to put oder französisch mettre anzunehmende Relation GOAL als [BECOME be-LOC'(y,z)] innerhalb der LS [do'(x,0)]CAUSE[BECOME be-LOC'(y,z)] darzustellen. Eine unspezifische Handlung 0 von χ bewirkt, dass ζ sich am Ort χ befindet. Die Relation SOURCE ist entsprechend als [BECOME NOT be-LOC'(y,z)] darzustellen (vgl. vVL: 126-128). 14 (4)

GOAL s

[do'(x,0)]CAUSE [BECOME be-LOC'(y.z)] [do'(x,0)]CAUSE [BECOMENOT be-LOC'(y.z)]

SOURCES

Die Rollen PATIENT und ENTITY sind den einstelligen staie-Prädikaten der Bezeichnungsfelder state and condition

( b r o k e n ' ( x ) x=PATLENT) und existence

(exist'(x) x=ENTLTY) vorbe-

halten. Die Rolle AGENT wird dem x-Argument eines Prädikats, das ein intentionales Handeln beschreibt, zugewiesen. Zur lexikalischen Bedeutung von englisch to murder gehört z.B. intentionales Handeln, nicht jedoch zur lexikalischen Bedeutung von to kill. So ergibt sich der unter (5d) und (5e) dargestellte Kontrast der LS (vVL: 119): (5)

a. Malaria killed Fred. b. 'Malaria murdered Fred. c. John murdered Fred. d. kill [do' (χ, β)] CAUSE [BECOME dead' (y)] e. murder DO (x, [do' (x, 0) ]CAUSE [BECOME dead' (y)])

Die Rolle FORCE erscheint nicht. Sie ist ein Spezialfall von EFFECTOR. Ebenso kann die Rolle INSTRUMENT als Spezialfall von EFFECTOR dargestellt werden, mit der Besonderheit, dass der Gebrauch eines Werkzeuges in der LS als Kausalkette erscheint (vVL: 121): (6)

a. Tom is cutting the bread with a knife. b. [do' (Tom, [use' (Tom, knife)])] CAUSE [[do* (knife, [cut' (knife, bread)] CAUSE [BECOME cut' (bread)]]

EFFECTOR kann jedoch auch als Hyperonym für die anderen unter do'(x...) aufgeführten Rollen gelten und präsentiert somit formal diese Rolle (vVL: 118). Auch für die weiteren, in Abb. 4 an oberster Stelle genannten Rollen LOCATION, THEME und PATIENT gilt implizit,

dass sie eine bestimmte Prädikat-Argument-Konstellation abstrakt repräsentieren. So reduziert sich die ausufernde Vielfalt der Rollen einschließlich der Rolle AGENS auf fünf, die in einer Hierarchie zwischen einem aktiven und einem passiven Pol stehen.

13

14

Ein systematischer Katalog konkreter Θ-Rollen setzt die Analyse substantieller semantischer Merkmale (Rauh 1988: 324) voraus. Vgl. hierzu den Versuch von Koch (1981), so genannte konstitutive Sachverhaltsbedingungen für Verfügungsverben zu beschreiben. GOAL und SOURCE erscheinen niemals als Rollen der einfachen Zustands- und Aktivitätsprädikate, sondern ergeben sich nur in der Kombination von Aktivität und Zustand.

Linking in

Role-and-Reference-Grammar

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2. Makrorollen

Eine fìlr den //'«¿/'ng-Mechanismus zentrale Besonderheit der RRG besteht darin, dass den filnf abstrakten semantischen Rollen zwei Makrorollen actor (A) und undergoer (U) zugewiesen werden. Die Argumentation zum Nachweis der Makrorollen geht semasiologisch vor (vgl. vVL: 139-141): In Sprachen, die über ein Passiv verfügen, fällt auf, dass die Subjekte transitiver Verben in Aktiv-Konstruktionen Rollen von verschiedenem Aktivitätsgrad in der Hierarchie von Abb. 4 realisieren: (7)

a. Les terroristes ont assassiné le ministre. (DO (x, do'... b. Un arrêt net a brisé les rouages de ce mecanisme. ([do'(x,...)... c. Pierre a reçu une lettre de son frère. (BECOME avoir' (x,...))

Ebenso realisieren direkte Objekte verschiedene Aktivitätsgrade: (8)

a. Les terroristes ont assassiné le ministre. b. Pierre a reçu une lettre de son frère. c. Le paysan a chargé son chariot de foin.

(...[BECOME mort' (y)]) (...[BECOME avoir' (..., z)]) (...[BECOME être-PrepLoc'(y,...)])

Als Subjekt kommen die ersten drei Argumentpositionen der Hierarchie in Abb. 4 in Frage (Prototyp: AGENS), als direktes Objekt die letzten drei (Prototyp: PATIENS). Die mittlere Position - das erste Argument eines ¿tote-Prädikats - kann somit beide Funktionen haben. Bei den entsprechenden Passivkonstruktionen erscheinen die direkten Objekte als Subjekte, die Subjekte als fakultative periphere Präpositionalphrasen. Die syntaktische Funktion Subjekt korrespondiert in Aktivkonstruktionen mit der Makrorolle actor, in Passivkonstruktionen mit der Makrorolle undergoer. Makrorollen werden als direkte, niemals als oblique Kernargumente realisiert (vVL: 147). Beim Passiv erscheint der actor zwar als PP, nicht jedoch als Kernargument. Verben einer natürlichen Sprache haben eine oder zwei Makrorollen (Ausnahme: nullwertige vom Typ rain', die kein Argument und damit auch keine Makrorolle besitzen). Verben, die beide Makrorollen zuweisen, sind M-transitiv. Verben, die nur eine Makrorolle zuweisen, M-intransitiv. Das Grundprinzip der Makrorollenzuweisung ist das folgende: Default macrorole assignment principles

a. Number: the number of macroroles a verb takes is less than or equal to the number of argu-ments in its logical structure, 1 If a verb has two or more arguments in its LS, it will take two macroroles. 2 If a verb has one argument in its LS, it will take one macrorole. b. Nature: for verbs which take one macrorole, 1 If the verb has an activity predicate in its LS, the macrorole is actor. 2 If the verb has no activity predicate in its LS, the macrorole is undergoer. Abb. 5: Prinzipien der Makrorollenzuweisung (vgl. vVL: 152-153) Das Prinzip a. 1 hat systematische Ausnahmen:

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(α) Zweiwertige activity-W erben, außer denen, die zum Bezeichnungsfeld der gerichteten Wahrnehmung (Typ: regarder) und des Gebrauchens (Typ: utiliser) gehören, weisen nur die Makrorolle actor zu, auch wenn sie das zweite Argument direkt realisieren (vgl. vVL: 153). Der Grund dafür liegt in der Natur des zweiten Arguments von acttvity-Verben. Beim Vergleich von activity-W erben des Konsumierens oder des Hervorbringens mit den korrespondierenden accomplishment-Verben, fällt auf, dass bei den accomplishmentVerben das NP-Objekt aktualisiert ist, bei den actfv/fy-Verben jedoch nicht. Dies zeigt der für das Italienische adaptierte Test aus Abb. 2: (9)

a. Anna ha mangiato gli spaghetti in / *per cinque minuti. b. Anna ha mangiato spaghetti per / *in cinque minuti.

Während das accomplisment-Verb nun Passiv- und Partizipialkonstruktionen erlaubt, sind diese bei dem activity-Verb ungrammatisch: (10) a. Gli spaghetti sono stati mangiati da Anna in cinque minuti. b.'Spaghetti sono stati mangiati da Anna per cinque minuti. c.*Sono stati mangiati spaghetti da Anna per cinque minuti. d. Mangiati gli spaghetti, uscirono. e. *Mangiati spaghetti, uscirono. Die direkten Objekte der activity-Verben realisieren in der Regel inhärente Argumente, die eher die Handlung spezifizieren als auf einen Aktanten, der als undergoer als das primär affizierte Argument dargestellt werden könnte, zu referieren (vgl. vVL: 149). (ß) Verben des Ortswechsels sind laut vVL: 153 in romanischen Sprachen tendenziell transitiv und kodieren Weg oder Ziel als undergoer. Diese Behauptung scheint voreilig und wird weder durch die romanischen Entsprechungen des englischen Beispiels to enter the room, noch durch die spanischen Verben des Ortswechsels bei Talmy (1985), auf den sich die Autoren berufen, bestätigt. Die elementaren romanischen Verben des Ortswechsels scheinen vielmehr ZIEL oder WEG durch Präpositionalphrasen zu realisieren. Passer / passare erlauben ein Argument mit der Rolle WEG als direktes Objekt, ebenso monter / salire und descendre / scendere, nicht jedoch ein Argument mit der Rolle ZIEL. Es finden sich aber auch einige transitive Verben mit einem ZIEL-Argument: envahir / invadere, croiser / incrociare, pénétrer / penetrare haben eine transitive Variante. Die elementaren Verben des Ortswechsels, die eine active-accomplishment-LS do' (χ, [move' (χ)] & BECOME be-at' (y, χ)) und somit zwei Argumente haben, stellen auch in den romanischen Sprachen eine Ausnahmen vom Prinzip a. 1 in Abb. 5 dar. Entgegen vVL: 154 erscheint es mir sachgerechter, die romanische Verben des Ortswechsels als grundsätzlich M-intransitiv anzusehen und die wenigen M-transitiven Verben als Ausnahmen zu markieren. Hier liegt jedoch ein tieferes Problem der Makrorollen-Theorie. Van Valin / LaPolla diskutieren kurz anhand des Kontrastes to owe / to belong to das Phänomen zweiwertiger Verben, die offenbar M-intransitiv sind (vgl. vVL: 154-155). Da für to owe und to belong to dieselbe LS anzusetzen sei, muss die Tatsache, dass to belong to M-intransitiv ist, als lexikalische Ausnahme markiert werden. Eine semantische Erklärung der M-Transitivität wird nicht geleistet. Da zweiwertige M-intransitive Verben jedoch einen erheblichen Teil der Lexik der romanischen Sprachen ausmachen - Siller-Runggaldier (1996) zählt für das Italienische Uber 1100 - , ist eine semantische Präzisierung dieses Phänomens unbedingt erforderlich.

Linking in Role-and-Reference-Grammar

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(γ) Während in den Aktivkonstruktionen transitiv dreiwertiger Verben das Argument mit dem relativ höchsten Aktivitätsgrad notwendig als actor realisiert wird, besteht bei diesen Verben z.T. die Möglichkeit einer undergoer-Wahl entgegen der Hierarchie. In (8c) hat das präpositional realisierte Argument als zweites Argument des rfate-Prädikats den geringsten Aktivitätsgrad. (8c) erscheint somit gegenüber (11) Le paysan a chargé du foin sur son chariot.

markiert. Die undergoer-Alternanz ist allerdings innerhalb der LS auf die Argumentpositionen des zweiwertigen Jtote-Prädikats beschränkt (Prototypen: LOCATION und THEME). Der prototypische PATIENS wird immer als undergoer realisiert. Die Wahl des undergoer hat semantische Auswirkungen, die nicht auf der Ebene der LS selbst liegen. Bei einer ein zweiwertiges s/afe-Prädikat enthaltenen Prädikation hat der Sprecher im Rahmen der einzelsprachlichen Möglichkeiten die Wahl, welches Argument er als primär affiziert darstellen möchte. Er kann entweder auf alternative Konstruktionen eines einzelnen Verbs (charger) oder auf zwei weitgehend synonyme Verben, z.B. priver qqn de qqch gegenüber enlever qqch à qqn zurückgreifen. Festzuhalten bleibt, dass die Unterschiede zwischen der markierten und der unmarkierten Konstruktion nicht als rein pragmatisch, d.h. als unterschiedliche Fokalisierungen, sondern als semantisch, als Kodierung eines jeweils anderen Arguments als das primär affizierte, begriffen werden. Eine quantitative einzelsprachliche Untersuchung müsste überprüfen, inwieweit die Wahl des Arguments, das nicht den geringsten Aktivitätsgrad hat, als undergoer tatsächlich als markiert gelten kann und wie viele LS', die ein zweistelliges sta/e-Prädikat enthalten, eine solche Wahl ermöglichen. Ferner wäre die abstrakte semantische Kategorie des AffiziertSeins näher zu untersuchen. Eine Alternative zu der vorgeschlagenen Analyse bestünde darin, in den markierten Fällen eine abweichende LS anzunehmen, in der das Argument mit dem geringsten Aktivitätsgrad als undergoer erscheint. Mögliche LS' für (8c) und (11) wären (12a) bzw. (12b): (12) a. [do' (x=paysan, [do' (χ, 0 ) ] CAUSE [BECOME être-dans' (y=chariot, z=foin)]] CAUSE [BECOME être-plein-de-(z)' (y)] b. [do' (χ, 0 ] CAUSE [BECOME être-dans' (y, ζ)]

In (12a) ist y=chariot als PATIENS eines einstelligen s/a/e-Prädikats prototypischer undergoer. Die unspezifische Handlung, durch die χ die Ortsveränderung von ζ in y hinein bewirkt, erscheint eingebettet. Sie bewirkt als spezifische Handlung, dass y 'voll mit z' wird. Diese komplexe Analyse verdeutlicht auch den Bedeutungsunterschied zwischen den Konstruktionen, der darin besteht, dass in (8c) y zu einem relevanten Grad gefüllt wird, was bei (11) nicht der Fall ist. Der Nachteil einer solchen Argumentation ist natürlich, dass sie kasuistisch ist und zu einer komplizierteren LS führt.

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142 3. Linking

3.1. Der onomasiologische Linking-Algorithmus Im Folgenden soll der //«fa'ng-Algorithmus der RRG thematisiert werden. Die RRG unterscheidet einen onomasiologischen {Linking from semantics to syntax) von einem semasiologischen (Linking from syntax to semantics) Algorithmus. Der onomasiologische Algorithmus zeigt, wie eine gegebene semantische Repräsentation in eine einzelsprachliche syntaktische Struktur überführt werden kann. Er entspricht der Perspektive des Sprechers. Der semasiologische Algorithmus beschreibt, wie eine gegebene syntaktische Struktur semantisch interpretiert werden kann. Er entspricht der Perspektive des Hörers. Der onomasiologische Algorithmus (Abb. 6) (vVL: 427-428) bietet, was die einzelsprachliche Realisierung der semantischen Rollen betrifft, wenig Neues gegenüber den Prinzipien der Makrorollenzuweisung. Das privilegierte syntaktische Argument (PSA), auch syntaktischer Angelpunkt (pivot) genannt, tritt in der RRG an die Stelle der nicht als universell angesehenen Funktion Subjekt. In den Akkusativ-Sprachen, zu denen die indoeuropäischen gehören, realisieren intransitive Verben ihre Makrorolle (actor oder undergoer) als PSA, transitive Verben in der unmarkierten Aktivkonstruktion die Makrorolle actor, in der markierten Passivkonstruktion die Makrorolle undergoer (vgl. Abb. 6, 2a). Die übrigen Prinzipien für die syntaktische Realisierung semantischer Rollen fallen unter Regel 5 und bedürfen der einzelsprachlichen Konkretisierung. Die RRG kennt keine syntaktischen Funktionen wie direktes und indirektes Objekt. Die syntaktischen Eigenschaften des direkten Objekts, z.B. die Eigenschaft, in einer Passivkonstruktion als PSA zu erscheinen, sind semantische Eigenschaften des undergoer (vgl. vVL: 352-353). Linking algorithm: semantics to syntax 1. Determine the actor and undergoer assignments, following the Actor-Undergoer Hierarchy in figure 5 15 2. Assign specific morphosyntactic status to [-WH] arguments16 in logical structure (language-specific). a. Accusative privileged syntactic argument selection: default = Actor. b. Ergative privileged syntactic argument selection: default = Undergoer. 3. If there is a [+WH] XP, a. assign it to the normal position of a non-WH XP with the same function (language-specific), or b. assign it to the precore slot (language-specific), or c. assign it to a position within the potential focus domain of the clause (default = the unmarked focus position) (language-specific). 4. A non-WH XP may be assigned to the pre- or post-core slot,17 subject to focus structure restrictions (optional; language-specific). 5. Assign the core arguments the appropriate case markers / adpositions and assign the

ls

16 17

Figure S entspricht unserer Abb. 4. Das aktivste, d.h. am weitesten links stehende Argument ist potentieller actor, das passivste, d.h. am weitesten rechts stehende Argument undergoer. Fragewörter werden wie in der generativen Grammatik als [+WH] markiert. „Precore-" bzw. „post-core slot" bezeichnen das Vor- bzw. das Nachfeld des Satzes (vgl. Abb. 1).

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predicate in the nucleus the appropriate agreement marking (language-specific). 6. For semantic arguments of logical structures other than that of the main verb, a. assign them to the periphery (default), or b. assign them to the precore slot or focus position (language-specific) if they are focal, or c. assign them to the leñ-detached position if they are highly topical. Abb. 6: Onomasiologischer /mto/ig-Algorithmus (vgl. vVL: 427-428)

Die anderen Prinzipien im Algorithmus in Abb. 6 betreffen die Realisierung von WHPhrasen (3), Effekte markierter Fokus-Topik-Struktur (4) und schließlich die Realisierung von nicht valenzgebundenen Konstituenten (6). Auf diese Fragen soll hier nicht näher eingegangen werden. Vielmehr soll, zumindest andeutungsweise, eine einzelsprachliche Ausformulierung der Prinzipien 2 und S ftlr das Französische und Italienische versucht werden. Dazu ist ein semasiologisches Vorgehen notwendig, d.h. die spezifischen morphosyntaktischen Eigenschaften der Einzelsprache müssen dahingehend interpretiert werden, inwieweit sie zur Identifikation von bestimmten Argumenten in der LS beitragen.

3.2. Anwendung des Algorithmus auf das Französische und Italienische Was Prinzip 2 betrifft, so gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem (Standard-)Französischen und dem Italienischen im Bezug auf pronominal realisierte Argumente, der in der generativen Grammatik als pro-drop-Parameter bekannt ist. Als generelles link/'/jg-Prinzip könnte dieser Unterschied wie folgt formuliert werden: (13) Wenn das PSA pronominal ist, realisiere es a. als gebundenes Suffix des konjungierten Verbs (Italienisch) oder b. als unbetontes nominativisches Personalpronomen (Französisch).

Was den Schritt 5 des Algorithmus angeht, so gilt es, für die romanischen Sprachen Französisch und Italienisch erstens Kasusregeln für die pronominale Realisierung der Argumente, zweitens Präpositionszuweisungsregeln und drittens Verbkonkordanzregeln auszuarbeiten. Unter (13) ist bereits eine Regel für die Kasuszuweisung an das PSA gegeben worden. Die zweite Kasusregel könnte wie folgt lauten: (14) Wenn der undergoer (U) pronominal ist und nicht als PSA erscheint, realisiere ihn als akkusativisches unbetontes Pronomen.

Schließlich ist eine Regel für die als Dativpronomen realisierten Argumente aufzustellen. Ein erster Versuch für die Verben der Verfügung und des Wissenstransfers sei folgender: ( 15) Realisiere das erste Argument einer LS [BECOME (NOT) avoir' (χ,y)] oder [BECOME savoir' (x,y)] (Prototyp: LOCATION), sofern es pronominal ist und nicht Makrorollenstatus hat, als Dativpronomen.

Folgende französischen Beispiele mögen diese Regel illustrieren: (16) a. Je [PSA] le [U] lui ai donné. b. Il [PSA] le [U] perd.

[faire' (lPSg, 0)] CAUSE [BECOME avoir' (3PSg, 3PSg)] [BECOME NOT avoir' (3PSg, 3PSg)]

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144 c. Je [PSA] le [U] lui ai enlevé.

[faire* (lPSg, 0)] CAUSE [BECOME NOT avoir' (3PSg, 3PSg)] d. Il [PSA] les [U] a privé de cela, [faire' (3PSg, 0)] CAUSE [BECOME NOT avoir' (3PP1, cela)] e. Je [PSA] le [U] lui ai dit. [faire' (lPSg, [parler' (lPSg)])] CAUSE [BECOME savoir' (3PSg, 3Psg)] f. Je [PSA] lui ai parlé de cela. [faire' (lPSg, [parler' (lPSg)])] CAUSE [BECOME savoir' (3PSg, cela)] g. Je [PSA] le [U] lui ai enseigné, [faire' (lPSg, 0)] CAUSE [BECOME savoir' (3PSg, 3PSg)]

Bei (16a, c, e, f und g) sind die Bedingungen der Regel (15) erfüllt. In (16b) hat das erste Argument von avoir' (χ,y) Makrorollen-Status (actor) nach den allgemeinen Zuweisungsregeln. Einen markierten Fall stellt (16d) dar. Bei priver müsste im Lexikoneintrag vermerkt werden, dass das Verb das erste Argument von avoir' (χ,y) als undergoer realisiert. Ebenso ist (16f) ein lexikalisch markierter Fall. Es müsste im Lexikon angegeben werden, dass parier M-intransitiv ist. Nichtsdestoweniger sind die Bedingungen der Regel (15) bei parier erfüllt. Was die nicht pronominal realisierten Argumente betrifft, so müssten für die Realisierung der Makrorollen Wortstellungsregeln angegeben werden. Eine Grundregel könnte etwa so lauten: (17) Makrorollen werden innerhalb des Kerns direkt realisiert. Hat ein Verb zwei Makrorollen, so steht der actor innerhalb des Kerns vor dem undergoer.

Was schließlich das linking von Argumenten ohne Makrorollenstatus angeht, so ist eine Vielzahl von Regeln erforderlich. Für activity- Verben gilt: (18) Ist in der LS [do' (χ, predicate' (x,y)] y ein inhärentes Argument, realisiere es direkt.

Ferner sind Präpositionszuweisungsregeln zu formulieren. In der RRG wird, wie in den meisten US-amerikanischen Grammatiktheorien, zwischen prädikativen und nichtprädikativen Präpositionen unterschieden (vVL: 52). Nicht-prädikativ sind Präpositionen, die Argumente des Verbs markieren. Prädikative Präpositionen leiten dagegen Präpositionalphrasen in Adjunktfunktion (Zirkumstanten) ein. Eine Zwischenstellung bilden prädikative Präpositionen, die mit dem Verb ein Argument teilen (vgl. vVL: 159). Den Unterschied zwischen den zwei Arten prädikativer Präpositionen verdeutlichen die LS' (19c, d) für (19a, b). In (19b/d) teilt die prädikative Präposition mit dem Verb ein Argument. (19) a. Cet enfant travaille bien à l'école. b. Cet enfant va à l'école. c. être-à' (école, [bien' [faire' (enfant, [travailler' (enfant)])]]) d. faire' (enfant, [aller' (enfant)] & BECOME être-à' (école, enfant))

Wenn Präpositionen Argumente des Verbs markieren, erscheinen sie oft semantisch leer. Viele Theorien gehen deshalb davon aus, dass die Kombinationen eines bestimmten Verbs mit einer bestimmten Präposition aus synchroner Sicht willkürlich ist und gesondert im Lexikon vermerkt werden muss. Diese unbefriedigende Behandlung der Argumente markierenden Präpositionen ist laut van Valin / LaPolla in vielen Fällen zu vermeiden, da die LS des Verbs selbst Aufschluss über die Wahl einer bestimmten Präposition gibt (vgl. vVL: 158). Die Zuweisungsregel für englisch to ist folgende (vgl. vVL: 377):

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(20) Assign to to the non-macrorole χ argument in the LS segment:... BECOME / INGR pred' (x.y). Diese Regel, die ausschließlich an 'dativischen' Beispielen {to give / show / teach ... something to somebody) illustriert wird, ist in ihrer Allgemeinheit nicht auf französisch à und italienisch a zu Ubertragen und wohl auch für das Englische zu weit. Ist das x-Argument in [BECOME / INGR p r e d ' (x,y)] keine Person, sondern ein (abstrakter) Bereich, konkurrieren mehrere lokale Präpositionen: (21) a. donner / enseigner / montrer qqch à qqn ...[BECOME avoir' / savoir' / voir' (qqn, qqch)] b. dare / insegnare / mostrare qlco a qlcu ...[BECOME avere' / sapere' / vedere' (qlcu, qlco)] c. mêler qqn à une sale affaire / impliquer qqn dans un scandale / induire qqn. en erreur ...[BECOME être-PrepLoc' (affaire / scandale / erreur, qqn)] d. immischiare qlcu in una losca faccenda / implicare qlcu in uno scandalo / indurre qlcu in errore ...[BECOME être-PrepLoc' (faccenda / scandalo / errore, qqn)] Eine restriktivere Regel, die erst einmal für Verben mit den LS' (21a, b) gilt, wäre: (22) Weise à / a dem χ Argument in der Struktur [BECOME pred' (x,y)] zu, wenn χ agensfähig' 8 ist und keinen Makrorollenstatus hat. Im Rahmen der RRG sind Regeln für die Zuweisung der englischen Präpositionen to, from, with und for erarbeitet worden (Jolly 1991, 1993; vVL: 376-384). Bei der Analyse von with erscheint es problematisch, diese Präposition als Argument markierend anzusehen (vgl. vVL: 377-382), da mit with eingeleitete Argumente in der Regel nicht im Valenzrahmen des Verbs vorgesehene Argumente sind 19 und sich syntaktisch wie Zirkumstanten verhalten. Es ist hier nicht möglich, das Problem der Präpositionszuweisung ausführlicher zu diskutieren. Das Ausarbeiten von Präpositionszuweisungsregeln erweist sich als eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Die Beschreibung der Funktionen von Präpositionen im Rahmen einer allgemeinen linking-Theorie erscheint jedoch vielversprechend, um die nach wie vor unbefriedigende Analyse des Zusammenwirkens von Verb und Präposition bei der Realisierung semantischer Rollen voranzubringen. Eine onomasiologisch orientierte Untersuchung könnte vielleicht zeigen, inwieweit nach der Art der Sachverhaltsdarstellung abgegrenzte Verbklassen in bestimmten durch konstitutive Sachverhaltsbedingungen beschreibbaren Bezeichnungsfeldern die Wahl bestimmter Präpositionen bedingen. 20

18

19

20

Zum Kriterium der Agensfähigkeit für 'dativische' Konstruktionen in den romanischen Sprachen vgl. Jacob 1991. Jolly (1991: 120-121) sieht dieses Problem, löst es aber nicht, wenn sie with bei (i) John looked at the moon with a telescope als eine prädikative Präposition, die ein Adjunkt einführt, ansieht, bei (ii) Greta fought the dragon with the sword aber als nicht-prädikativ. Nach welchen Kriterien to fight eine Argumentposition für eine Waffe, to look dagegen keine für eine Sehhilfe haben soll, bleibt unklar. Die Beschreibung der Präpositionalobjekte (Objektoide) im Italienischen, die Siller-Runggaldier (1996) vorgenommen hat, führt hier noch nicht sehr weit, da sie sich weitgehend auf die semasiologische Beschreibung der Präpositionen beschränkt. Alle Präpositionen scheinen mit allen Verbklassen - Siller-Runggaldier unterscheidet ergative, inhärent-reflexive, intransitive und transitive Verben - kombinierbar.

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4. Beispiele fur eine kontrastive Beschreibung des linking

Es fragt sich, ob eine kontrastive Untersuchung zweier so eng verwandter Sprachen wie des Französischen und des Italienischen zu interessanten Ergebnissen führt. M.E. könnte dies der Fall sein, und zwar nicht nur auf Grund der offensichtlichen Unterschiede zwischen den beiden Sprachen hinsichtlich der Notwendigkeit von Subjektpronomen oder der Hilfsverbselektion.21 Es zeigt sich nämlich, dass Französisch und Italienisch in bestimmten Bezeichnungsfeldern über lexikalische Mittel mit durchaus unterschiedlichen syntaktischen Möglichkeiten verfügen. Dafür sollen abschließend zwei Beispiele gegeben werden, bei denen auch einige grundlegende Probleme der Theorie der Makrorollenzuweisung aufgezeigt werden müssen.

4.1. Verben des Gefallens Van Valin / LaPolla führen als Beispiel für eine lexikalische Markierung von MIntransitivität spanisch gustar an, das wie portugiesisch gostar 'please' oder 'like' bedeute, aber im Gegensatz zum portugiesischen Verb M-intransitiv sei. Dies müsse als kontingente Ausnahme von den allgemeinen Makrorollenzuweisungsregeln im Lexikon markiert werden (vgl. vVL: 356). Nun ist weder gostar noch gustar in der Bedeutung 'mögen', 'gefallen' transitiv: (23) a. O Joäo só gosta de laranjas. b. A mí me gusta el Jazz. c. Ainda näo gostou essas delicias. d. Gusta de correr cada mañana.

Die Bedeutung 'gefallen' geben die Konstruktionen (23a, b) wieder. (23c, d) entsprechen der Bedeutung 'genießen'. 22 M-transitiv ist das lateinische Etymon gustare aliquis aliquid, das allerdings nicht 'gefallen', sondern 'kosten, schmecken, genießen' bedeutet. Eine Möglichkeit, 'gefallen' M-transitiv auszudrücken, kennt das Französische, das Italienische dagegen hat nur eine dem Speinischen analoge Konstruktion:23 (24) a. J'aime bien les tomates. b. Ce film a beaucoup plu à ma femme. c. Questo film è piaciuto molto a mia moglie.

Als mögliche LS-Repräsentation für die genannten romanischen Verben sowie englisch to like und to please und deutsch mögen und gefallen kommen, wie wir sehen werden, die LS' (25a, b und d) in Betracht.

21

22 23

Die Hilfsverbselektion im Italienischen ist im Rahmen der RRG ausführlich beschrieben worden (Centineo [1986] 1996; van Valin 1990). Eine kontrastive Beschreibung für das Französische ist aber noch zu leisten. Im Portugiesischen hat transitives gostar auch die Bedeutung 'kosten'. Die Verben goûter und gustare haben im Französischen und im Standarditalienischen nicht die Bedeutung 'gefallen'.

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(25) a. love' (x, y) b. feel' (χ, [be-good / nice / attractive' (y)]) c. [have' (Bill, gun)] CAUSE [feel' (Martha, [afraid'])] d. [be' (x, 0)] CAUSE [feel' (y, [attractive'])] 0 = unbestimmtes Attribut Van Valin / LaPolla geben keine LS* fìlr die in Frage stehenden Verben an. Gostar, to like, mögen und aimer bien könnten eine Struktur analog der für das emotion-Verb to love gegebenen (vgl. vVL: 115) haben ((25a)), bei der das x-Argument nach der Hierarchie in Abb. 4 als EMOTER (abstrakte Rolle: LOCATION) die Makrorolle actor erhält, das y-Argument als TARGET (abstrakte Rolle: THEME) die Makrorolle undergoer. Es wäre eventuell auch möglich, diese Verben dem Bezeichnungsfeld internal experience zuzuordnen und die LS (25b) 24 anzunehmen. Es fragt sich, ob auch gostar de und gustar de mit der LS (25a) beschrieben werden könnten, wobei die M-Intransitivität als lexikalische Besonderheit markiert wäre. Dies ist nicht möglich, da M-intransitive STA/E-Prädikate den undergoer, nämlich die Rolle THEME in der LS (25a) als PSA realisieren. Bei dem angeblichen Parallelbeispiel to owe / to belong to (have' (x,y) (vgl. vVL: 356) führt die Rollenhierarchie zum richtigen Ergebnis, die Rolle THEME erscheint bei belong to als PSA. Gefallen, gustar a, plaire und piacere könnten wie belong to als als M-intransitive Realisierungen der LS (25a) beschrieben werden. Bei to please kommt diese Lösung aber ebensowenig in Betracht wie bei gostar de und gustar de, wenn auch aus einem anderen Grund. Bei diesem M-transitivem Verb würde der undergoer, die Rolle TARGET, als PSA realisiert werden, was in der unmarkierten Konstruktion eines M-transitiven Verbs gegen die linking-Regeln verstößt. Somit kommt für to please nur eine LS wie diejenige in Frage, die van Valin / LaPolla für to frighten in Bill's owning a gun frightened Martha geben (vgl. (25c, d); dazu vVL: 107). Aber die LS' (25c, d) werfen weitere Probleme auf. Nach van Valin / LaPolla (vVL: 107) ist das erste Argument einer CAUSE-Konstruktion eine LS eines beliebigen Grundtyps, z.B., wie in (25c, d), ein jiaic-Prädikat. Es fragt sich allerdings, welche Makrorollenzuweisungsregeln in diesem Fall gelten. In CAUSE-Konstruktionen, die in ihrem ersten Argument ein acrtv/Yy-Prädikat enthalten, wird das erste Argument von do' (χ, pred') nach der Hierarchie in Abb. 4 als actor identifiziert. Für (25c, d) müsste dagegen stipuliert werden, dass das erste Argument von CAUSE grundsätzlich ein EFFECTOR und damit ein potenzieller actor ist. Die Lösung für to please könnte ebenso für die semantisch leicht abweichenden französisch attirer und italienisch attirare / attrarre gelten: (27) a. Ce projet l'attire davantage. b. L'idea del campeggio non l'attira troppo. c. La politica non attrae i cittadini. Das Postulat, dass das erste Argument von CAUSE ein potenzieller actor ist, erscheint semantisch angemessen. Es ermöglicht auch, eine adäquate Lösung für gostar de und gustar de zu finden. Wir können für diese Verben die LS (25d) annehmen und sie als M-intransitiv markieren. Als sfafe-Prädikate haben sie die Makrorolle undergoer. Als undergoer kommt

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Dies entspricht einer der Interpretationen, die Lewicka / Bogacki für plaire geben: χ EPROUVER R; R = y ETRE Qual; Qual = bon, joli (1983: s.v.).

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das erste Argument von CAUSE, der EFFECTOR, nicht in Betracht. Der EXPERIENCER von feel' (χ, pred') erhält die Makrorolle und wird als PSA realisiert. Wir sehen, dass die Regeln der Makrorollenzuweisung allerdings nur anwendbar sind, wenn wir M-transitive Jia/e-Prädikate annehmen. Dies erscheint aber grundsätzlich nicht sehr befriedigend, wenn man an die äußerst fragliche Passivierbarkeit dieser Konstruktionen denkt. Der Formalismus der RRG scheint hier funktionell auch nicht mehr motiviert als z.B. die Annahme von Belletti / Rizzi (1988) im Rahmen der P&P-Theorie, dass Verben vom Typ attrare ihrem EXPERIENCER den Akkusativ zuweisen, während Verben vom Typ piacere inakkusativisch sind und ihrem EXPERIENCER den Dativ zuweisen, so dass bei beiden Klassen dann das THEMA, der prototypische Akkusativ, als Subjekt realisiert werden muss.

4.2. Verben des Erinnerns Als zweites Beispiel sollen einige Verben des Erinnerns diskutiert werden. Das Französische zeigt auch hier eine größere lexikalische Komplexität: (28) a. Je lui ai rappelé sa promesse. b. Je me le rappelle très bien. c. (fam.) Je me rappelle très bien de lui. d. Il ne se souvient pas de vous. e. Gli ho ricordato la sua promessa. f. Me lo ricordo benissimo. g. Mi ricordo confusamente dei vostri amici.

(28a und e) ließen sich in Anlehnung an die von van Valin / Wilkins (1993: 528) gegebenen LS' entweder als (29a) - das Ergebnis ist ein aktives 'Wieder-bedenken' - oder als (29b) das Ergebnis ist ein passives 'Wieder-gegenwärtig-haben' - beschreiben. Ich passe die LS' dem Formalismus in vVL an: (29) a. [do'(x, 0 ) ] CAUSE [BECOME (do* (y, [think-again-about' (y, [be-in-mind-before'

(ζ)])])] b. [do'(x, 0 ) ] CAUSE [BECOME (have-in-mind-again' (y, [be-in-mind-before' (z)])]

Die Makrorollenzuweisung und das linking sind für beide LS' unproblematisch. Es fragt sich, welche LS' für die reflexiven Konstruktionen anzunehmen sind. Die RRG geht davon aus, dass klitische Reflexiva wie italienische si grundsätzlich eine Argumentreduzierung anzeigen (vVL: 407-417). In (30b) ist es semantisch naheliegend, finestra nicht als actor, sondern als undergoer wie in (30a) anzusehen. Der AGENS wird nicht genannt oder genauer: es ist nicht einmal gesagt, dass überhaupt ein AGENS involviert ist. In (30d) ist Maria notwendig actor, da als AGENS markiert, in (30c) dagegen undergoer, da Maria in dieser Konstruktion bezüglich der Agentivität unmarkiert ist. (30) a. Maria [A] ha aperto la finestra [U]. b. La finestra [U] si è aperta. c. Maria [U] si è tagliata per sbaglio / di proposito, [do' ( 0 , 0 ) ] CAUSE [BECOME tagliato' (Maria)] d. Maria [A] ha tagliato sé stessa [U] *per sbaglio / di proposito.

Das klitische Reflexivum se im Französischen ist ebenso zu interpretieren.

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Für die Makrorollenzuweisungstheorie bereiten (28c, d und g) keine großen Probleme, wenn wir LS (29b) mit einem analog (30c) nicht realisierten x-Argument ansetzen. Das erste Argument des eingebetteten s/afe-Prädikats (das y-Argument) ist ein potenzieller undergoer, der hier markiert entgegen der Hierarchie wie bei priver qqn de qqch in (16d) statt des zweiten Arguments als undergoer gewählt und auf Grund der M-Intransitivität der Konstruktion als PSA realisiert wird. In (28b und f) liegt dagegen offenbar M-Transitivität vor. Das Argument ζ ist als undergoer nicht jedoch als PSA realisiert. Somit muss das Argument y die Makrorolle actor haben. Grundsätzlich wäre auch die Makrorollenzuweisung mit der LS (29b) vereinbar. Es wäre sogar die unmarkierte Realisierung der Argumente eines zweistelligen s/ate-Prädikats. Die Makrorollenzuweisung in (28b und f) lässt sich aber ebenso begründen, wenn wir die LS (29a) annehmen. Wählen wir (29b), so liegt der Unterschied zwischen den transitiven und den intransitiven Konstruktionen allein auf der Ebene der Makrorollen. Bei den transitiven Konstruktionen erscheint das z-Argument affiziert, bei den intransitiven das yArgument. Wählen wir (29a), liegt der Unterschied dagegen auf der Ebene der Θ-Rollen. Das y-Argument hat einen aktiveren Status und erscheint als ein prototypischerer actor. Vielleicht beschreibt die zweite Lösung den semantischen Unterschied von französisch se rappeler qqch und se souvenir de qqch angemessener. Dies müsste jedoch durch die Untersuchung eines größeren Korpus bestätigt werden.

5. Konklusion

Die RRG ist aufgrund der ausgewogenen Gewichtung von semantischer und syntaktischer Komponente für didaktische und computerlinguistische Anwendungen von Interesse. Eine Implementierung dieses Ansatzes, etwa zum Zwecke maschineller Übersetzung, erscheint vielversprechend, da der onomasiologische //«¿/«g-A Igorithmus trotz der angesprochenen Probleme grundsätzlich einzelsprachlich ausformulierbar ist. Die logisch-semantischen Repräsentationen (LS') stellen eine übereinzelsprachliche „Interlingua" dar, die regelgeleitet in eine Zielsprache überführt werden kann. Allerdings entstehen diese Repräsentationen, sollen sie korrektes linking erlauben, nicht primär durch eine Analyse der außersprachlichen Sachverhalte, sondern durch eine vergleichende Analyse von Prädikaten der Einzelsprachen. Somit geht semasiologische Analyse stets onomasiologischem linking voraus.

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Role-and-Reference-Grammar

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Kerstin Stori (Berlin)

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik - mit Beispielen aus dem Spanischen und Französischen

1. Das Projekt einer onomasiologischen Grammatik

Jeder, der eine romanische Sprache erlernen möchte, schlägt in der Regel irgendwann einmal in einer semasiologischen Grammatik nach. Die Grammatikographie der Romania blickt auf eine Jahrhunderte währende semasiologische Tradition zurück. Fast alle Grammatiken sind semasiologisch aufgebaut. Sie sind sehr leistungsfähig bei der Erklärung der Funktionen bestimmter Formen. Was geschieht aber, wenn der Lernende überhaupt nicht weiß, welche Form er nachschlagen soll? Er ist ja der Sprache noch nicht mächtig. Meist greift er zu einer Notlösung und sucht sich die Sprachmittel heraus, die auch in seiner Muttersprache für die fraglichen Funktionen verwendet werden. Nicht selten kommt es dabei zur interlingualen Interferenz und er kann sich nicht adäquat in der Fremdsprache ausdrücken. Helfen würde ihm eine Grammatik, die nach Konzepten, nach begrifflichen Kategorien geordnet ist und die dazugehörigen Formen angibt - eine onomasiologische Grammatik. Während in der Lexikologie und Lexikographie die onomasiologische Methode schon sehr verbreitet ist - es gibt bereits zahlreiche onomasiologische Wörterbücher1 - ist in der Grammatikschreibung ein Defizit an vollständigen und konsequent durchgeführten kognitivonomasiologischen Grammatiken zu verzeichnen. Onomasiologische Ansätze in der Grammatik beschränken sich meist auf theoretische Abhandlungen wie Heger (1963) und onomasiologische Ansätze und Versuche in der Grammatikographie. Brunot hatte bereits 1922 in La pensée et la langue ein onomasiologisches Konzept vorgelegt, das heute noch nicht an Aktualität verloren hat (Brunot 1922). Eine ähnliche Richtung schlägt der russische Linguist Bondarko mit seiner funktional-semantischen Grammatik ein (Bondarko 1984, 1987, 1990, 1992).2 Auch die Grammatik der italienischen Sprache von Schwarze (1995) enthält onomasiologische Bezüge. Wie der begriffliche Ausgangspunkt als tertium comparationis in einer praktischen Grammatik angewandt werden kann, zeigen zum Beispiel Cartagena / Gauger (1989), Zemb (1978-1984) und Blumenthal (1987). Die hier erwähnten Ansätze markieren den Anfang einer neuen Betrachtungsweise in der Grammatikographie, umfassen aber meist nur ausgewählte begriffliche Kategorien. Lücken-

1

2

Casares 1942, Maquet 1974, Hallig / Wartburg 1963; siehe auch Haensch / Wolf / Ettinger / Werner 1982: 164-172, 343-347; Baldinger 1960, 1964, 1980. Weitergeführt wurde die funktional-semantische Grammatik teilweise in der „Potsdamer Richtung" der funktionalen Sprachbeschreibung (vgl. Siehr / Erhard / Berner 1997) sowie in der Halleschen „Kommunikativ-fíinktionalen Sprachbetrachtung". Letztere wird unter anderem durch die Reihe „Hallesche Sprach- und Textforschung" beim Peter Lang Verlag (Frankfurt/M. usw.) repräsentiert, die von Gertrud Bense und Annette Schiller herausgegeben wird (vgl. Bense 1996; Schiller 1992).

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Kerstin Stori

lose und leicht zugängliche onomasiologische Grammatiken, die nach Begriffen, nach Denkinhalten geordnet sind, wären zweifellos ein praktisches Hilfsmittel für jeden Lernenden. Um zu wissen, wie ein bestimmter Begriff sprachlich ausgedrückt wird, muss der Benutzer einer Grammatik unter eben diesem nachschlagen können. Der erste Schritt in Richtung einer solchen Grammatik besteht im Auffinden der Begriffe sowie der Darstellung ihrer Beziehungen untereinander. Zweitens müssten möglichst alle sprachlichen Mittel einbezogen werden, die diese Begriffe versprachlichen, von phonetischen und morphologischen Uber lexikalische und syntaktische bis hin zu den kommunikativ-pragmatischen und non-verbalen. Das ist keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass in einer praktikablen Grammatik möglichst Übersichtlichkeit, Anschaulichkeit und Kürze gewünscht werden. Das Ziel dieses Beitrages ist es, die Diskussion darüber anzuregen, ob ein solches Projekt durchführbar ist und Möglichkeiten zu zeigen, nach denen eine onomasiologische Grammatik aufgebaut werden kann. Dabei sollen ausgewählte begriffliche Kategorien hinsichtlich ihrer gedanklichen Konstruktion, ihrer sprachlichen Ausprägung im Spanischen und Französischen sowie ihrer Beziehungen zu anderen Feldern untersucht werden. Aus der Berücksichtigung einer Vielzahl sprachlicher Mittel, die die entsprechenden Begriffe zum Ausdruck bringen, ergibt sich zwangsläufig, dass eine kognitiv-onomasiologische Grammatik die Grenzen des heutigen, eng gefassten Sinns der Grammatik Uberschreitet und in Bereiche der Lexikologie, Phonetik, Pragmatik und Körpersprache hineinragt.

2. Begriffliche Felder

Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Abfassung einer onomasiologischen Grammatik ist die Gliederung der außersprachlichen Realität in begriffliche Kategorien. Die uns umgebende Wirklichkeit ist so komplex, dass es nicht nur eine einzige Möglichkeit gibt, sie zu strukturieren. Zur Gliederung der Wirklichkeit zum Zwecke des Aufbaus einer onomasiologischen Grammatik eignet sich der Begriff des Feldes. Die Vorstellung der Fläche dient dabei als veranschaulichende Hilfe. Von Ipsen, der den Begriff des Feldes 1924 im Sinne einer Zusammenordnung von Wörtern mit verknüpften gegenständlichen Sinngehalten eingeführt hatte, über Trier (1931), Weisgerber (1927), Coseriu (1970, 1978a, 1978b), Baldinger (1970, 1978), Heger (1964) bis hin zu Geckeier (1971a, 1971b, 1973, 1978, 1982) gibt es eine lange Diskussion über die Theorie der Felder, insbesondere der Wortfelder. Onomasiologie und Feldmethode scheinen unvereinbar zu sein, wenn das Feld im Sinne Triers betrachtet wird, denn er sieht die Begriffe nicht als Widerspiegelung von Erscheinungen des objektiven Seins, sondern als Ergebnis der Relation von Wörtern (Ricken 1961: 194). Die Trier'sehe Feldtheorie erfuhr viel Kritik und war Anregung für von ihr abweichende Feldtheorien, die die Unvereinbarkeit der beiden Ansätze - Feldtheorie und Onomasiologie - relativierten.3 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die Begriffe als gedankliche Fassung realer Tatbestände auffassen, wobei der Kontext sowie historische und sachkundliche Quellen Auskunft über diese Tatbestände geben.

3

Fierz 1943; Schöneweiss 1955; Oksaar 1958; Maier 1955; Wyler 1944.

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik

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Für Baldinger und Heger liegt der Bezeichnung Wortfeld der von der Einzelsprache unabhängige Begriff des Konzepts zugrunde. Das onomasiologische Wortfeld gründet sich auf die Einheit eines Konzepts und strukturiert eine Gesamtheit von Bezeichnungen, von sog. Synonymen, die ihrerseits wieder durch Seme abgegrenzt werden können. (Baldinger, Diskussionsbeitrag in: Coseriu 1973, 39)

Eine brauchbare Methode, zu einem Begriffsfeld zu kommen, ist die an Bondarko angelehnte Methode, zuerst auf semasiologischem Weg festzustellen, welche Bedeutungen durch die vorhandenen sprachlichen Mittel zum Ausdruck gebracht werden. Aus diesen Bedeutungen können die relevanten Begriffe abgeleitet werden. Baldinger teilt diese Ansicht, wenn er sagt, dass die „semasiologische Determination die Bedingung der onomasiologischen Determination" sei (Baldinger 1978: 388). Die bisher erwähnten Theorien beziehen sich vorwiegend auf die Lexikologie und wurden hauptsächlich zum Zweck der Herstellung onomasiologischer Wörterbücher aufgestellt. Nur selten wurde die Grammatik einer Sprache behandelt. Stärker zum Tragen kommt die Grammatik im Begriff der Kategorie. Eine Kategorie ist bekanntlich ein grundlegender Begriff jeder Wissenschaft und so auch ein Analyse-, Einteilungs- und Zuordnungsbegriff zur Sprachbeschreibung. Aristoteles' Auffassung der Kategorien als oberste Aussagearten mit sprachanalytischer und sprachkritischer Funktion übten auf die abendländische Grammatik nachweisbaren Einfluss aus (Lewandowski 1994, Bd. 2: 526). Kategorien sind Klassen austauschbarer Ausdrücke und können zum Beispiel Paradigmen sein (Hjelmslev 1968), d.h. Klassen von Elementen, die man an ein und denselben Platz in einer Kette einsetzen kann, oder syntaktische Kategorien, d.h. Klassen von Ausdrücken, die in Sätzen gegeneinander austauschbar sind, ebenso wie semantische Kategorien, d.h. Klassen in bestimmten Kontexten substituierbarer Ausdrücke, die die Bedeutung des Satzes nicht verändern (Lewandowski 1994, Bd. 2: 526). Der Begriff der Kategorie ist für die onomasiologische Grammatik von Nutzen, denn in ihr werden ebenfalls Kategorien aufgestellt, und zwar begriffliche, denen verschiedene Sprachmittel zugeordnet werden können. Diese sind im Sinne einer Kategorie austauschbar. Im Laufe der Sprachentwicklung werden ständig Formen durch andere ausgetauscht, sei es durch geringfügige Veränderung, sei es durch radikalen Ersatz. Was bleibt, ist der Inhalt. Auch können die gleichen begrifflichen Kategorien von Sprache zu Sprache unterschiedlich formal ausgeprägt sein. Der Begriff der Kategorie und der des Feldes sind eng miteinander verwandt. In der funktional-kommunikativen Sprachbetrachtung wurde zum Beispiel von „fiinktional-semantischen Kategorien", aber auch von „funktional-semantischen Feldern" gesprochen. Beide Bezeichnungen sind - je nach dem zu thematisierenden Sachverhalt angemessen. Die Nähe zeigt sich nicht zuletzt darin, dass grammatische Kategorien eine Feldstruktur haben. Diese Struktur ist in der unterschiedlichen Wertigkeit der zur Kategorie oder zum Feld gehörenden Sprachmittel sichtbar. Sie werden oft „zentral" und „peripher" genannt, zum Beispiel bereits in der Prager Schule. Die jeder grammatischen Kategorie eigenen Merkmale sind in einigen Fällen vollständig, in anderen nur unvollständig vorhanden; danach sind sie als zentral oder peripher zu betrachten. (Lewandowski 1994: 302-303)

Bondarko (1987, 1990, 1992) spricht vom „Zentrum" und von der „Peripherie" fiinktionalsemantischer Kategorien. Coseriu (1978b: 260-268) erwähnt „primäre" und „sekundäre"

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Kerstin Stori

Strukturen und Ricken (1961: 202) eine „primäre Kerngruppe" sowie „sekundäre Ausdrücke". Geckeier (1971) führt bei seiner Analyse des Wortfeldes der Altersadjektive „zentrale Lexeme" und „periphere Lexeme" an. Es scheint aber nicht nur Kategorien bzw. Felder mit einem Zentrum zu geben. Baldinger stellt bei seiner Analyse des Wortfeldes travailler fest, dass es im Altprovenzalischen gleichzeitig zwei Verben im Zentrum gibt: obrar und laborar (Baldinger 1978: 390). Aus Gladrows Zusammenfassung von Bondarkos Feldbegriff werden die verschiedenen strukturellen Möglichkeiten sichtbar: Unter den Strukturtypen .ftinktional-semantischer Felder' versteht Verf. die Einteilung in monozentristische (stark zentrierte) und polyzentristische (schwach zentrierte) Felder. Zum ersten Typ gehören jene Felder, die in ihrem Zentrum eine morphologische Kategorie aufweisen, also beispielsweise die Aspektualität mit der Kategorie des Aspekts, die Temporalität mit dem Tempus, die Generität mit dem morphologisch ausgedrückten Genus verbi. Der zweite Strukturtyp, die polyzentristischen Felder, basieren auf verschiedenen sprachlichen Mitteln. Verf. zählt hierzu beispielsweise das Feld der Lokativität, das sich u.a. auf präpositionalen Konstruktionen, entsprechenden Satzgefügen und bestimmten Wortbildungsmustern aufbaut, oder das Feld der Quantität, das über die Kategorie des Numerus und die Wortart der Numeralia als Zentren verfügt. (Gladrow 1987: 302-303) Die vorhandene Literatur bezieht sich - wie erwähnt - hauptsächlich auf die Lexikologie. Für die Onomasiologie macht es wenig Sinn, lexikalische und grammatische Felder zu trennen. 4 Es soll das gesamte Spektrum untersucht werden, die verschiedenartigsten Sprachmittel zum Ausdruck eines bestimmten Inhaltes: Phoneme, Morpheme, Wörter, Wortgruppen, Sätze und Texte. Auch prosodische und körpersprachliche Mittel sind im Prinzip nicht ausgeschlossen. Unter der Voraussetzung des semasiologischen Weges zur Gewinnung der begrifflichen Kategorien ergeben sich Felder wie TEMPORALITÄT, MODALITÄT, KAUSALITÄT, QUANTITATIVITÄT, PERSONALITÄT und viele andere. Das sind Kategorien, die aus der Inhaltsseite der verschiedensten Sprachmittel gewonnen wurden. Wie die Literatur zeigt, sind Gliederungsversuche schon vielfach unternommen worden, auf deren Darstellung ich verzichten möchte. 5 Was mir wichtig ist, ist die Untersuchung der verschiedenen Arten von Feldern, die auf eine onomasiologische Grammatik angewandt werden können. Dabei gehe ich von folgenden Kriterien aus: 1. Das Feld wird durch eine semantische Invariante gebildet, die allen Sprachmitteln, die es konstituieren, gemeinsam ist.6 Das Feld hat eine Inhaltsseite und eine Formseite. 2. Inhaltlich ist das Feld strukturiert in verschiedene Mikrofelder, die Teilbereiche der semantischen Invariante abdecken. Felder und Mikrofelder können sich partiell überschneiden. Die einzelnen Feldglieder innerhalb des Feldes sind voneinander abgegrenzt (Binnengrenzen), ebenso wie Felder gegenüber anderen Feldern abgegrenzt sind (Außengrenzen). Nicht immer gibt es klare Feldgrenzen, sondern in manchen Fällen auch fließende Übergänge.

Mikrofelder

Abb. 1 : Die semantische Struktur onomasiologischer Felder 4 6

Vgl. Mattusch 1984: 14. Einige davon sind in Störl-Stroyny 1995 angeführt. Vgl. Mattusch 1984: 19.

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3. Formal ist das Feld strukturiert in zentrale Mittel, die den Kern (das Zentrum) bilden, und periphere Mittel.

Peripherie

Abb. 2: Die formale Struktur onomasiologischer Felder Zentrale Mittel verkörpern einen kommunikativ bedeutsamen Inhalt. Sie treten häufiger als die peripheren Mittel auf, sind auf die entsprechende Funktion spezialisiert und werden mit einem hohen Grad an Regularität gebraucht.7 Sie sind maximal funktional belastet, an einer maximalen Zahl von Oppositionen beteiligt und weisen den höchsten Grad der Gebräuchlichkeit des Vorkommens auf.8 Den Feldkern umlagern periphere Elemente, die mit den Kernmitteln in Wechselwirkung stehen können. Sie drücken zusätzliche semantische Schattierungen aus und werden weniger häufig gebraucht.9 Sie erscheinen relativ isoliert, sind funktional gering belastet und spielen bei der Realisierung der semantischen Invariante eine Nebenrolle.10 4. Es werden Mittel aus allen sprachlichen Ebenen in das Feld aufgenommen, die die entsprechende Inhaltsseite versprachlichen, und in ihrem Zusammenwirken erfasst. Die Gesamtheit aller Sprachmittel, die zum Ausdruck einer Bedeutungskategörie dient, wird als Sprachmittelkomplex bezeichnet. 5. Bei der Darstellung und Untersuchung des Feldes steht der Produktionsaspekt im Vordergrund, also die Sicht des Sprechers beziehungsweise des Schreibers." Um zu einer Feldtypologie zu gelangen, können die Felder zunächst in monozentristische, solche mit einem Kern, und polyzentristische, solche, die aus zwei oder mehreren Kernen bestehen, eingeteilt werden. Zu den monozentristischen Feldern gehören zum Beispiel die TEMPORALITÄT und die MODALITÄT. Sie haben beide morphologische Mittel im Kern, die der Tempora und der Modi, die jeweils einen kommunikativ bedeutsamen Inhalt verkörpern, sehr häufig auftreten - sogar obligatorisch in jedem vollständigen Satz - , mit einem hohen Grad an Regularität gebraucht werden und auf die entsprechende Funktion spezialisiert sind, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, in denen z.B. Tempus nicht Zeit ausdrückt. Tempora und Modi weisen eine hohe Zahl an Oppositionen auf, denken wir nur an die Konjugationsschemata. Periphere Elemente stehen mit den morphologischen Kemmitteln in Wechselwirkung, ζ. B. Temporaladverbien oder Modalwörter. Sie ergänzen - nur

7

' 9 10 11

Zur formalen Strukturierung der Felder vgl. Mattusch 1984:19-20. Vgl. Sommerfeld / Starke 1984:23. Vgl. Mattusch 1984: 19-20. Vgl. Sommerfeld / Starke 1984:23. Vgl. Baldinger: „Die Onomasiologie geht die Probleme unter dem Gesichtspunkt des Sprechers an, der unter verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten wählen muss." (Baldinger 1978:398)

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gelegentlich eingesetzt und relativ isoliert - den Inhalt der Tempora und Modi wie zum Beispiel: Jean est venu hier. Juan vino ayer. Das Tempus allein weist nur in die Vergangenheit. Das Temporaladverb gestern ergänzt die Aussage.

3. Monozentristische Felder

3.1. Monozentristische Felder mit morphologischem Kern Als Beispiel möchte ich das morphologisch ausgeprägte Feld der MODALITÄT zeigen, dessen Inhaltsstrukturen auf der folgenden Grafik zu sehen sind:

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik

Wirkung

Kausalität

Schlussfolgerung

Subjektive Modalität

[Realität

Objektive Modalitat

Möglichkeit Realisierbarkeit

/AVihncheM lichkeit

'realisirr-N nicht bar ^realisierbar J

Temporalità

Zukünftigkeit

Abb. 3: Die semantische Struktur des onomasiologischen Feldes der Modalität

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Kerstin Stori

Eine solche Darstellung kann benutzt werden, um das BegrifFsfeld als Grundlage für den entsprechenden Abschnitt der onomasiologischen Grammatik zu veranschaulichen. Darauf sind die im Feld enthaltenen Mikrofelder sowie die Überschneidungen mit anderen Feldern zu erkennen. Wie die einzelnen Felder und Mikrofelder benannt werden und wie sie untergliedert werden, muss im Verlauf der Erarbeitung einer onomasiologischen Grammatik noch diskutiert werden. Prinzipiell sind stets mehrere Möglichkeiten gegeben und je nach den potentiellen Benutzern dieser Grammatik können die Felder unterschiedlich aufgebaut werden, von hochgradig differenziert bis stark vereinfachend. Zu diesem begrifflichen Feld gehört der Komplex der Sprachmittel, den ich hier in Tabellenform zeige. Bei der MODALITÄT ist ein besonders breites Spektrum an Formen vorhanden.

Morphologische Mittel (Modi) Morphologische Mittel (Tempora)

Lexikalische Mittel

Syntaktische Mittel (Satzintention)

Spanisch Modos: Indicativo Subjuntivo Imperativo Condicional Futuro: Serán las dos. Imperfecto: Si hacía buen tiempo, íbamos a la playa. Si hacía buen tiempo, habríamos ido a la playa. Pluscuamperfecto: Si había hecho buen tiempo, habríamos ido a la playa. Verben: deber, poder, querer, saber, necesitar, hacer, gustar, preferir Adverbien: quizás, ojalá, bien, mal, apenas, aun, tal, así Substantive: probabilidad, realidad, irrealidad, deber, favor Adjektive: probable, desagradable, real, irreal, imposible Aussagesätze: Vienes. Fragesätze: ¿ Vienes? Aufforderungssätze: !Ven!

Französisch Modes personnels: Indicatif Subjonctif Impératif Conditionnel Futur: Il aura manqué son train. Imparfait: Si j'étais rois ... Plus-que-parfait: Si j'étais resté en France, je η 'aurais pas eu toutes ces difficultés.

Verben: vouloir, devoir, pouvoir, aimer, désirer, entendre Adverbien: peut-être, malheureusement, à peine, ne... guère Substantive: probabilité, réalité, irréalité Adjektive: probable, impossible

Aussagesätze: Tu viens. Fragesätze: Tu viens? Aufforderungssätze: Viens!

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Syntaktische Mittel (HS-NS)

Syntaktische Mittel (Periphrasen) Phonetische Mittel

Körpersprachliche Mittel

Spanisch Hauptsätze: Ojalá fuera aquí. Ojalá venga mañana. Qué se divierten bien. Nebensätze: Siento que hayáis llegado tarde. Espero que venga. Creo que viene / venga. Es el mejor libro que ha / haya escrito.

tener que + infinitivo haber de + infinitivo deber + infinitivo es necesario que Intonation: Ha venido tu padre. / (Aussage) Ha venido tu padre? ^ (absolute Frage) (relative Frage) / Sprechtempo Lautstärke Pausen Mimik, Gestik

^

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Französisch Hauptsätze: Que le diable l'emporte. Vive le roi. Qu 'il entre. Qu 'il vienne. Nebensätze: Je veux que tu le fasses. Ecrivez de (telle) manière qu 'on puisse le lire. Je cherche quelqu 'un qui sache le français. Je ne crois pas qu 'il soit venu. il faut que il importe que il convient que il suffit que il est souhaitable que Intonation; z.B. Intonationsfrage: Tu ne le croyais pas^ (Aussage) Tu ne le croyais pas? ι (Frage) Sprechtempo Lautstärke Pausen Mimik, Gestik

Die zentralen Mittel zum Ausdruck der MODALITÄT sind die Modi. Weitere, periphere Mittel sind Tempora, lexikalische Mittel, aber auch syntaktische, die eng mit den Modi zusammenwirken, phonetische und nicht zuletzt körpersprachliche Mittel. Oft kann man an der Mimik einer Person erkennen, in welcher Weise sie die Aussage einschätzt und ob sie unsicher oder glaubwürdig ist. Aus der Aufstellung ist zu erkennen, dass wiederum nicht alle Mittel ftlr alle Bedeutungen stehen, sondern dass sie auf bestimmte Inhalte spezialisiert sind. Dabei ist zu beachten, dass die Sprachmittel im Text zusammenwirken, sich gegenseitig beeinflussen, Inhalte variieren und sich ergänzen.

3.2. Monozentristische Felder mit syntaktischem Kern Neben den „klassischen" funktional-semantischen Feldern mit einer morphologischen Kategorie im Kern, gibt es auch syntaktisch-zentrierte Felder, die monozentristisch sind, zum Beispiel das Feld der KAUSALITÄT. Da die KAUSALITÄT ein Relationsbegriff ist, macht sie erst Sinn, wenn mindestens zwei Glieder vorhanden sind, zum Beispiel Ursache und Wir-

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kung. Innerhalb des Feldes der KAUSALITÄT ist damit eine Ursachen- und eine Wirkungsseite anzunehmen, die graphisch etwa durch zwei Hälften eines Kreises dargestellt werden kann. Um eine Kausalbeziehung aufzubauen, muss von jeder Seite mindestens ein Element versprachlicht werden. Es können natürlich mehr als zwei solcher Kausalglieder vorhanden sein, z.B. mehrere Ursachen, die eine Wirkung hervorbringen, oder mehrere Wirkungen einer Ursache. In der Realität sind kausale Beziehungen meist sehr komplex vernetzt. Solche Komplexität kann auch in der Sprache ausgedrückt werden.12 Auf Grund der Zweigliedrigkeit der Kausalbeziehung ist auch auf der Seite der Sprachmittel Zwei- oder Mehrgliedrigkeit vorhanden. KAUSALITÄT wird deshalb vorwiegend durch Satzkonstruktionen versprachlicht, die aus mindestens zwei Kausalgliedern bestehen. Häufig ist eines davon durch einen Junktor, meist eine Konjunktion, markiert, um das genaue Verhältnis auszudrücken, zum Beispiel No salgo porque llueve / Je ne me promène pas, parce qu 'il pleut. Manche Satzkonstruktionen sind im Laufe der Sprachentwicklung zu lexikalischen Elementen komprimiert worden wie etwa No salgo por la lluvia / Je ne me promène pas à cause de la pluie. KAUSALITÄT ist dann im einfachen Satz durch Präpositionen oder Präpositionalgruppen angezeigt, wobei sich Zwei- oder Mehrgliedrigkeit auf einer anderen Ebene realisiert. Die Ausdrucksmittel für KAUSALITÄT sind vorwiegend syntaktischer Natur. Deshalb kann das funktional-semantische Feld der KAUSALITÄT als syntaxzentriertes Feld bezeichnet werden.

3.3. Monozentristische Wortfelder In den bisher erwähnten Sprachmittelkomplexen waren, neben grammatischen Erscheinungen im Zentrum, in der Peripherie auch Wörter vorhanden. Obwohl Wortfelder in der Literatur meist separat von grammatischen Feldern behandelt wurden, können Wörter nicht losgelöst von grammatischen Formen betrachtet werden. Sie wirken in den funktional-semantischen Kategorien mit diesen zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Es gibt allerdings Felder, deren begriffliche Kategorien hauptsächlich lexikalisch ausgeprägt sind wie etwa Farben, Pferde, technische Geräte und vieles andere. Meist handelt es sich dabei um sehr konkrete Begriffe. Ob solche Wortfelder in einer onomasiologischen Grammatik behandelt werden sollten, muss noch diskutiert werden. Felder mit grammatischen Ausdrucksformen unterscheiden sich von ihnen durch eine abstraktere semantische Invariante. Zweifellos gibt es auch bei den Wortfeldern monozentristische und polyzentristische. Ich möchte ein Wortfeld zeigen, das in die Kategorie monozentristischer Felder gehört, da sich die Wörter, die es konstituieren, auf die eigene Person beziehen und sich die Peripherie in unterschiedlichen Graden davon entfernt. Es ist das Wortfeld der Verwandtschaftsbezeichnungen. Die Darstellung ist Geckeier 1973: 45-46 entnommen:

12

Zur Kausalität vgl. Störl-Stroyny 1997.

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik GCMXttiOMIlabfolea

Brklftrung der AbkOraungant B30 • Btsugipanai ν - Vater, H - »Mtter, s - Sohn, τ - Tochter, SV - Sohn dea Vetera, TW - Tochter daa Vetera

Abb. 4a: Die semantiche Struktur des Wortfeldes der Verwandtschaftsbeziehungen (stark vereinfacht) Generationenabfolg·

+2

grandpire

grandmire

patitili·

patitafilia

-1

2

patitili·

Erklärung:

patitafili·

- netürlich-genealoglsche Beziehungen ' · deslgnative Beziehungen (all· sind begründet in der orlgo dee Syatens, la B00)

Abb. 4b: Die sprachliche Ausprägung des Wortfeldes der Verwandtschaitsbeziehungen im Fran-zösischen Eine ähnliche Struktur kann auch für das Spanische angenommen werden.

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Kerstin

Stori

4. Polyzentristische Felder

Neben den stark zentrierten monozentristischen Feldern gibt es polyzentristische Felder, die schwach zentriert sind, denn sie besitzen nicht ein spezialisiertes, typisches Mittel filr einen Inhalt, sondern mehrere, die in ähnlichem Maße zum Ausdruck des entsprechenden Inhaltes b e i t r a g e n . D a z u g e h ö r e n d i e QUANTITATIVITÄT u n d d i e PERSONALITÄT.

4.1. Quantitativität Die semantische Invariante der QUANTITATIVITÄT ist die Bestimmung einer Menge oder Größe. Dazu gehört die Zahl beziehungsweise das Zählen sowie der Grad und die Dimension. Die dazugehörigen Mikrofelder sind in Abb. 5 dargestellt. Dass das Feld der QUANTITATIVITÄT polyzentristisch ist, ist erst aus seinem Sprachmittelkomplex zu erkennen. Die beiden Kerne werden zum einen durch den morphologischen Ausdruck des Numerus konstituiert, sowohl beim Substantiv als auch beim Verb, und zum anderen durch die Numeralia. Beide verkörpern den kommunikativ bedeutsamen Inhalt der Zahl und sind auf eben diese Funktion der Zahl spezialisiert. Sie treten häufig und mit hoher Anzahl von Oppositionen auf, sind gebräuchlich bezüglich ihres Vorkommens. Diese beiden Kerne sind umlagert von peripheren Elementen, die mit ihnen in Wechselwirkung stehen und zusätzliche Schattierungen ausdrücken, relativ isoliert sind und weniger häufig auftreten. Sie spielen bei der Realisierung der semantischen Invariante eine Nebenrolle. Das sind zum Beispiel Präfixe wie spanisch mono-, bi-, tri-, micro-, macro-, sub-, super- und französisch demi-, super, sur-, hyper-, Verben wie spanisch doblar, multiplicar und reducir und französisch doubler, multiplier und réduire sowie Indefinitausdrücke wie spanisch mucho, poco, todo und französisch on, tout, plusieurs.

4.2. Personalität Die semantische Invariante des Feldes der PERSONALITÄT ist die Person. Inhaltlich habe ich für das Feld drei verschiedene Mikrofelder, die sich weiter untergliedern, herausgefunden. Die gesamte Struktur ist in Abb. 6 dargestellt.

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik

Quantitativität

Unbestimmte, globale jQuantitStsangabe

Schfitzen Einschätzen J

Dimension

Lokativität

Prozente ) Relatives Maß (Vielfache ^ (Verhältnis)

Abb. 5: Die semantische Struktur des onomasiologischen Feldes der Quantitativität

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Abb. 6: Die semantiche Struktur des onomasiologischen Feldes der Personalität

Das Feld der PERSONALITÄT ist ebenso wie das der QUANTITATIVITÄT polyzentristisch. Offensichtlich ist es sogar noch schwächer zentriert, denn man kann für das Spanische wie für das Französische drei Zentren annehmen: die morphologisch ausgedrückte Person des Verbs, die Subjektpronomina und schließlich die Namen. Die Personen des Verbs sind obligatorisch mit dem konjugierten Verb in jedem Satz vorhanden, werden also regelmäßig

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik

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benutzt. Die Subjektpronomina haben einen engen Zusammenhang mit den Personen des Verbs. Sie weisen ebenso viele Oppositionen auf. Im Spanischen wird den morphologischen Flexionsendungen der Vorrang gegeben, die die Personen des Verbs deutlich unterscheiden. Die Subjektpronomina werden meist weggelassen und haben vorwiegend die Funktion der Verdeutlichung und der Textkonstitution. Im Französischen hingegen besitzen die unbetonten Subjektpronomina durch die Reduzierung der Flexionsmorpheme eine große Bedeutung zur Bezeichnung der Person des Verbs. Aber auch diese unbetonten Subjektpronomina dienen der Herstellung von Bezügen im Text, was ebenso die Funktion der selbstständig gebrauchten betonten Subjektpronomina ist. Das dritte Zentrum der PERSONALITÄT sind die Namen, ein konkretes Sprachmittel zur Verdeutlichung der an der Handlung oder am Sprechakt beteiligten oder betroffenen Personen. Periphere Mittel dieses Feldes sind etwa Possessivpronomen wie mío oder le mien, Interrogativpronomen wie ¿Quién? oder Qui? oder Indefinitpronomen wie alguien beziehungsweise quelqu 'un.

4.3. Polyzentristische Wortfelder Neben den polyzentristischen Feldern, die sowohl lexikalische als auch grammatische Zentren haben, gibt es rein polyzentristische Wortfelder, die zwei oder mehrere verschiedene Wörter als Zentren besitzen. Ein solches ist zum Beispiel das von Baldinger untersuchte Feld von altprovenzalisch trebalh, das er unter semasiologischer und onomasiologischer Perspektive betrachtet (Baldinger 1978: 376-393). Die semasiologische Struktur von trebalh zeigt sich in seinem Bedeutungsfeld:

Lärm Gesang (der Vögel)

Abb. 7: Semasiologisches Feld von „trebalh" im Altprovenzalischen (nach Baldinger 1978: 382)

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Während es nach Baldinger einfach ist, das semasiologische Feld von altprovenzalisch trebalh, trebalhar zu erkennen, hält er es für sehr schwierig, ein klares Bild von der onomasiologischen Struktur zu bekommen, da es an onomasiologischen Wörterbüchern fehle (Baldinger 1978: 386-387). Eine Analyse des semantischen Feldes der sieben Bezeichnungen für den Begriff travailler erlaubte ihm, eine solche onomasiologische Struktur zu erkennen, die der semasiologischen Struktur sehr ähnlich ist und die aus einem Zentrum und darum gelagerten Elementen besteht (Baldinger 1978: 389), wie es in Abb. 8 zu sehen ist. Baldinger nennt ein Zentrum. In der Tat besteht dieses Zentrum aus zwei zentralen Punkten, nämlich den Lexemen obrar und laborar sowie ihren Varianten. Nach der hier angewandten Terminologie wären das zwei Zentren. Es handelt sich also um ein polyzentristisches Wortfeld.

Abb. 8: Onomasiologische Struktur - Bezeichnungen für den Begriff TRAVAILLER (nach Baldinger 1978: 389)

Perspektiven einer onomasiologisch orientierten Grammatik

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5. Die onomasiologische Sprachlehre - ein Beitrag zur Überwindung der Trennung von Lexikon und Grammatik

Mit den vorangehenden Darstellungen wollte ich zeigen, wie fìinktional-semantische Felder, die der Erstellung einer onomasiologischen Grammatik dienen, aufgebaut werden können, welche Arten von Feldern es gibt und wie das Verhältnis der semantischen Felder zu den Sprachmittelkomplexen ist. Diskutiert werden muss noch Uber die einzelnen Inhalte der begrifflichen Kategorien und deren Strukturierung. Das kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschehen, und es gibt dabei nicht nur eine Lösung. Letztendlich hängt ihr Aufbau vom konkreten Bedürfiiis ab, das mit der onomasiologischen Grammatik befriedigt werden soll. Wie schon erwähnt, kann dabei sehr detailliert vorgegangen werden - für die hier angeführten Kategorien sind zum Beispiel viele weitere Mikrofelder denkbar - oder stärker vereinfachend, je nach Leserkreis. Ein Problem ist die Abgrenzung der begrifflichen Felder voneinander, denn viele Uberschneiden sich. Eine weitere Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen Bedeutungsfeldern und Bezeichnungsfeldern. Dieses ist außerordentlich komplex und hält auf verschiedenen Ebenen von Feldern und Mikrofeldern unterschiedliche Antworten bereit. In den oben angeführten Beispielen war zu erkennen, dass manche Mikrofelder bestimmte Sprachmittel bevorzugen, derer sich andere Mikrofelder des gleichen Feldes nicht bedienen. Eine Schwierigkeit bereitet vor allem die entsprechende Auswahl der in der onomasiologischen Grammatik darzustellenden Beziehungen, denn so komplex sie auch sein mögen - dem Leser sollen sie verständlich sein. Eine der wichtigsten Tatsachen ist die, dass durch die onomasiologische Herangehensweise die Trennung von Grammatik und Lexikon Uberwunden wird, ebenso wie sie die Tür öffnet zu anderen Ausdrucksebenen wie der phonetischen, periphrastischen oder körpersprachlichen Ebene. Auch Cartagena / Gauger sprechen von der „Durchbrechung der Trennung von Lexikon und Grammatik" (Cartagena / Gauger 1989: 405). Durch die Onomasiologie ist sichtbar, dass im Text zahlreiche Sprachmittel zusammenwirken. Diese sollten deshalb in ihrer Gesamtheit und nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Temporaladverbien konkretisieren den Inhalt von Tempusmorphemen, Eigennamen verdeutlichen die handelnde Person, die schon durch die Personalform des Verbs angezeigt ist. Periphrasen nehmen den Platz von Wörtern ein, wenn der entsprechende Inhalt noch nicht mit einem eigenen Wort belegt ist. Vor uns liegt eine sprachliche Vielfalt, die zu beherrschen dem Lernenden mit einer onomasiologischen Grammatik gezeigt werden kann. Mit einer konsequent durchgeführten onomasiologischen Grammatik, oder vielleicht besser Sprachlehre, würde die Überwindung der Trennung zwischen den verschiedenen sprachlichen Ebenen nicht nur theoretisch, sondern auch institutionell, also durch ein Werk, fixiert werden. Ob ein solches Werk, das offensichtlich sehr wünschenswert ist, auch durchführbar ist, ob die riesige Vielfalt der Sprachmittel, die Komplexität der Beziehungen zwischen Begriffen und Ausdrucksweisen auch verständlich und kompakt darstellbar ist und auf welche Weise das möglich sein wird, muss noch weiter diskutiert werden. Meiner Meinung nach ist es möglich, und einige Ansätze dazu habe ich versucht zu zeigen.

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Kerstin Stori

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Achim Stein (Stuttgart) Repräsentation von Selektionsrestriktionen aus onomasiologischer und semasiologischer Perspektive

1. Einleitung

Strukturierte Systeme von Konzepten sind in der Linguistik vielfach entworfen und in konkrete lexikalische Beschreibungen umgesetzt worden, z.B. in die linguistischen Ontotogien WordNet (1998) und Mikrokosmos (1997). Eine der an solche Arbeiten gestellten Erwartungen ist, an die Struktur der Beschreibung möglichst viele Generalisieningen binden zu können und so Synergieeifekte bei der lexikalischen Beschreibung selbst und in auf ihr aufbauenden linguistischen Anwendungen zu erzielen. Hier geht es darum, an einer konzeptuellen Beschreibung des italienischen Verbwortschatzes zu untersuchen, inwieweit solche Generalisierungen filr Selektionsrestriktionen möglich und sinnvoll sind. Die diesem Beitrag zugrundeliegenden Vorarbeiten sind in Stein (1999a) und Stein (1999b) theoretisch dargelegt und wurden in einem Disambiguierungssystem umgesetzt (Stein 1999c). Abschnitt 2 stellt die Problematik der Selektionsrestriktionen dar, Abschnitt 3 den theoretischen Hintergrund der hier vorgeschlagenen Lösung, und Abschnitt 4 beleuchtet das Problem vor dem Hintergrund der Beschreibung italienischer Verben aus onomasiologischer Perspektive, ausgehend von ausgewählten Konzepten und konzeptuellen Domänen, sowie aus semasiologischer Perspektive, ausgehend vom Verb toccare.

2. Selektionsrestriktionen: Problematik

Die Zusammenhänge zwischen semantischen Verbklassen und syntaktischen und semantischen Selektionsrestriktionen werden in den meisten Arbeiten unterschiedlich beurteilt. Die vorherrschende Meinung ist, dass semantisch definierte lexikalische Klassen nur selten syntaktisch homogen sind; die syntaktische Umgebung scheint eher an die Form als an ihre Bedeutung gebunden zu sein. So werden bei De Vogtlé / Paillard (1997) die unterschiedlichen syntaktischen Realisierungsmöglichkeiten („variation syntaxique", im Gegensatz zu der auf allgemeine Prinzipien zurUckfllhrbaren kontextunabhängigen Bedeutungsveränderung: „variation interne") als idiosynkratische Eigenschaften von Verben angesehen, die keiner Regelmäßigkeit unterliegen und daher für jede Form separat zu behandeln sind: „la variation syntaxique doit être explicable à partir des propriétés intrinsèques du verbe considéré" (De Vogtlé & Paillard 1997: 48). Größer angelegte empirische Untersuchungen neigen zur Idealisierung, weil sie meist nur eine oder mehrere Grundbedeutungen betrachten. Dies gilt etwa ftlr die umfangreiche Untersuchung englischer Verben von Levin (1993) und die daran angelehnten Arbeiten von Saint-Dizier (1999b) für das Französische. Semantisch feiner differenzierende Arbeiten vernachlässigen dagegen häufig syntaktische Aspekte. Dies

Achim Stein

174

gilt z.B. für das italienische EuroWordNet, in dem, wie die folgende Tabelle zeigt, Verben weniger fein analysiert sind als in unserer Prozesshierarchie (vgl. Artale u.a. 1997; Alongé 1998; Vossen 1998).' Anzahl der Bedeutungen abbandonare abbassare battere lanciare lasciare

Prozesshierarchie

italienisches EuroWordNet

17 10 30 18 32

4 4 12 3 9

Auf der anderen Seite findet sich in Arbeiten, die sich mit der Semantik der Argumente beschäftigen, eine gewisse Skepsis gegenüber hierarchischen Beschreibungsansätzen. Gross (1994) meint in seinem für die Zuordnung von Substantiven zu Objektklassen wegweisenden Aufsatz: Ces réflexions [zu semantischen Hierarchien im MÜ-System Systran, A.S.] nous amènent à constater ce que les arbres sémantiques ont d'abstrait, d'artificiel et d'inutile c'est-à-dire de redondant quand il s'agit d'obtenir une traduction adéquate pour un domaine d'arguments particulier d'un opérateur. (Gross 1994: 19) Diese Einschätzung wird in den der Theorie von Gross folgenden Arbeiten geteilt: Les classes d'objets, considérés en tant que classes d'arguments, se définissent par relation avec les prédicats qui leur sont spécifiques. (LePesant / Mathieu-Colas 1998: 12) Les arbres sémantiques [...] prennent comme point de départ un système logique conçu a priori ou une classification «naturelle» du monde, ils n'ont pas de préoccupation grammaticale. (LePesant / Mathieu-Colas 1998: 15) Die Verfasser lehnen eine schematische (Baum-)Darstellung ab, die sich nur auf intrinsische Merkmale oder die Extension gründet und multiple Vererbung ausschließt. Stattdessen befürworten sie eine kontextbezogene Klassifizierung der Klassen Uber syntaktischsemantische Ähnlichkeiten zwischen Lexemen. Als Beispiel nennen sie die Klasse der Getränke, die neben den für Nahrungsmittel typischen Prädikaten {boire, siroter) auch mit den Prädikaten kompatibel sind, die Flüssigkeiten subkategorisieren (couler, renverser). Neben den erwähnten traditionellen Motiven begründen die Autoren ihre Ablehnung hierarchisierender Methoden weiterhin damit, dass adäquate linguistische Beschreibung nur in Systemen mit multipler Vererbung möglich sei (ebd. 16), die schwer handhabbar seien. Mit dieser Position unterschätzen sie die informationstechnischen Möglichkeiten und ignorieren wichtige Ansätze der Linguistik und der aktuellen Ontologieforschung (vgl. z.B. die Beiträge in Guarino 1998b). Dieser pauschalisierenden Kritik steht unsere Annahme entgegen, dass hierarchische Strukturen, sofern sie nach geeigneten Prinzipien aufgebaut werden, effiziente Repräsentationen linguistischen und besonders semantischen Wissens sein können. Durch den Verzicht auf formale Systematisierungen (die nicht unbedingt die Form von Hierarchien haben müssen) werden entscheidende Möglichkeiten zur Generalisierung nicht genutzt.

1

Die Zahlen basieren auf Auskünften von A. Alongé, da EuroWordNet bei der Erstellung dieses Beitrags noch nicht zugänglich war. Inzwischen kann es über die European Language Resources Association bezogen werden.

Repräsentation von Selektionsrestriktionen

175

Das hier benutzte Modell der lexikalischen Beschreibung greift die traditionellen Konzepte von Valenz und Objektklassen auf und verknüpft sie mit den in Stein (1999b) näher ausgeführten Prinzipien hierarchischer semantischer Repräsentation. Es lässt sich schematisch wie folgt darstellen:

(Prozesse)

semantische ' ··-... Restriktionen

( Objekte)

Kompatibilität -

8

\

syntaktische , Restriktionen

£ω

I α o

Verblexikon

Substantivlexikon

2

•Ss

Η

Chiara ita tagliato un metro di questa seta celeste

Abb. 1 : Repräsentation von Selektionsrestriktionen

Abb. 1 verdeutlicht die wichtigsten Prinzipien der Beschreibung: Zunächst wird die lexikalische von der konzeptuellen Ebene unterschieden. Auf der konzeptuellen Ebene werden Wortbedeutungen als Konzepte in hierarchischen Strukturen dargestellt: Verbbedeutungen in einer Prozesshierarchie, Substantivbedeutungen in einer Objekthierarchie. Die syntaktischen Restriktionen stehen im Lexikon. Die semantischen Restriktionen sind Assoziationen zwischen Konzepten der Hierarchien: Argumentpositionen sind bei Prozessen definiert und mit Referenzen auf Objekte gefüllt. Im Beispielsatz ist tagliare in der Prozesshierarchie dem Konzept ABTRENNEN zugeordnet, dessen Argumenteigenschaften mit den Objektklassen von Chiara und metro kompatibel sind. Dies ist bei anderen Konzepten, denen tagliare zugeordnet ist, nicht der Fall, vgl. die Sätze in (1): (1)

a. Chiara ha tagliato un metro di questa seta celeste (ABTRENNEN) b. Chiara ha tagliato la siepe del giardino (ZUSCHNEIDEN) c. Chiara ha tagliato la droga (VERSCHNEIDEN)

Für die semantische Analyse, also die Unterscheidung der Lesarten eines Verbs, genügen die in (1) verdeutlichten Oppositionen zwischen Objektklassen wie PFLANZE für das Kon-

176

Achim Stein

zept ZUSCHNEIDEN oder SUBSTANZ für das Konzept VERSCHNEIDEN. Für die Generierung

akzeptabler Sätze wären dagegen präzisere Restriktionen nötig, um beispielsweise tagliare lo zucchero auszuschließen. Die Fragen, denen im folgenden nachgegangen wird, sind: Wie sprachunabhängig sind solche semantischen Restriktionen, und wie generalisierbar sind sie in einer Prozesshierarchie? Dafür ist zu untersuchen, inwieweit Verben die Selektionsrestriktionen des Konzepts und Konzepte wiederum die Selektionsrestriktionen der ihnen Ubergeordneten Konzepte teilen. Die ideale, aber unrealistische Antwort wäre, dass Objektklassen beim Prozess eingetragen sind und sich an untergeordnete Prozesse vererben. Nach einer grundsätzlichen Darstellung der semantischen Beschreibungsmethode (Abschnitt 3) soll dieses Problem aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: erstens ausgehend von einer Teildomäne der Prozesshierarchie (Abschnitt 4.1), zweitens ausgehend von den Lexikalisierungen an ausgewählten Konzepten (Abschnitt 4.2) und drittens ausgehend von einem ausgewählten Verb und den seinen Lesarten zugeordneten Konzepten (Abschnitt 4.3).

3. M e t h o d e

3.1. Prinzipien konzeptueller Hierarchien Zur Terminologie: Im Zusammenhang mit der semantischen Klassifizierung werden die Begriffe 'Knoten', 'Prozess', 'Konzept' und 'Lesart' gebraucht, die zum Teil Gleiches aus verschiedenem Blickwinkel bezeichnen. 'Knoten' bezieht sich auf die semantische Repräsentation und bezeichnet die Knoten der Hierarchie. Namen von Knoten der Hierarchien werden typographisch grundsätzlich in Kapitälchen gesetzt; Objektknoten werden kleingeschrieben (z.B. MENSCH), Prozessknoten mit großem Anfangsbuchstaben (z.B. SCHLAFEN). 'Prozess' wird als Überbegriff für alle Konzepte der Prozesshierarchie gebraucht und nicht, wie in einigen anderen Arbeiten, als Gegenbegriff zu Zuständen oder, noch enger gefasst, zu Aktionen. Konzepte sind die an den Knoten repräsentierten Bedeutungen, aus lexikalischer Sicht also die Lesarten der Verben. Mit 'Domäne' und 'Teildomäne' werden Teilbäume der Hierarchie bezeichnet, d.h. ein Knoten und alle von ihm subsumierten Knoten. In den Abbildungen sind terminale Knoten durch ein Textseitensymbol gekennzeichnet, nicht aufgefaltete Teildomänen durch ein geschlossenes Ordnersymbol. Die Prozesshierarchie wurde durch semantische Analyse der 1.000 häufigsten italienischen Verben (nach der IBM-Frequenzliste VELI 1989) sowie 38 weiterer Verben aufgebaut. Bei der Analyse wurde jeder syntaktischen Konstruktion eines Verbs (d.h. jedem Valenzeintrag aus dem Wörterbuch von Blumenthal & Rovere 1998) mindestens eine, gegebenenfalls weitere semantische Lesarten zugeordnet (durchschnittlich 8,9 Lesarten pro Verb, 1,3 Lesarten pro Konstruktion). Jede Lesart wurde als Konzept in der Prozesshierarchie definiert. Auf diese Weise wurden zwischen Verben und Konzepten 12.457 syntaktischsemantische Verbindungen hergestellt. Die Prozesshierarchie wuchs dabei auf 3.507 Konzeptknoten, von denen 2.770 terminal sind. Diese Hierarchie ist detailliert in Stein (1999b) beschrieben, hier werden nur die für das Thema wichtigen Eigenschaften kurz resümiert.

Repräsentation von Selektionsrestriktionen

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Im Unterschied zu der in den Vorarbeiten (Stein 1999a) vorgenommenen Grobklassifizierung wurde von Anfang an das Ziel einer feinen semantischen Differenzierung verfolgt, um möglichst viele Daten für die Untersuchung des Polysemieverhaltens der ausgewählten Verben zu gewinnen. Für die Klassifizierung auf den oberen Ebenen der Prozesshierarchie wurden Typen ausgewählt, die sich an den Prozessklassen der systemisch-funktionalen Grammatik orientieren (Halliday 1985; Matthiessen 1992; Bateman et al. 1994). Die obersten Ebenen der Prozesshierarchie gliedern sich wie folgt: -

-

RELATIONAL ist die Domäne der statischen Prozesse. VERBAL ist die Domäne der Sprechakte. MATERIELL ist die Domäne der dynamischen Prozesse. Sie ist weiter untergliedert in • PASSIEREN (Prozesse ohne externen Verursacher) und • HANDELN (Prozesse mit externem Verursacher). MENTAL ist die Domäne der mentalen Prozesse.

Die erste Gliederungsebene ist also nicht homogen, sondern besteht aus aspektuell und inhaltlich motivierten Klassen. Damit steht sie stellvertretend für die generelle Problematik auf allen folgenden Ebenen: Die möglichen Parameter der Prozessstrukturierung (Denotation, Aspekt, quantitative Valenz, Argumenteigenschaften) ergeben eine Kreuzklassifikation. In noch stärkerem Maße als bei einer Hierarchie von Objekten, in der die Ist-Ein-Kanten durch Identitätskriterien Uberprüfbar sind (vgl. z.B. Guarino 1998a), muss bei Prozessen eine Entscheidung Uber die Prominenz ihrer Merkmale getroffen werden. Die Einordnung in die Hierarchie richtet sich nach dem prominentesten Merkmal. Diese Merkmale sind nicht unbedingt die Aktionsarten definierenden Merkmale. So sind beispielsweise alle verbalen Prozesse unter dem Knoten VERBAL eingeordnet, obwohl es auch in dieser Domäne aspektuelle Oppositionen gibt (vgl. z.B. REZITIEREN und AUSRUFEN). Die Reihenfolge der Anwendung der Merkmale ist also arbiträr. Das prominenteste Merkmal (hier statisch - dynamisch) tritt als differenzierendes Kriterium am seltensten auf (nur auf den obersten Ebenen), die weniger prominenten Merkmale müssen unter Umständen mehrmals in verschiedenen Teilbäumen eingesetzt werden. Diese Arbitrarität der Strukturierung ist, zumindest in anwendungsorientierten Ansätzen, kein negatives Merkmal hierarchischer Repräsentation, denn sie erlaubt, die Repräsentation den linguistischen Erfordernissen anzupassen (den Zielen von Analysen und den Aufgaben linguistischer Prozeduren). Gegenüber einer unstrukturierten Menge von Prozessen, die sich nur durch Opposition einzelner Merkmale unterscheiden, bietet sie den entscheidenden Vorteil, dass sie die Implementierung von Generalisierungs- und Vererbungsmechanismen zulässt und bei Bedarf durch Verschiebungen von Teilbäumen verhältnismäßig einfach umstrukturiert werden kann. Die Frage der Prominenz klassenbildender Merkmale kann also nur vorläufig und nur im Hinblick auf die Funktion der Hierarchie beantwortet werden. Welche Form der Hierarchie für Generalisierungen und Regelbildungen am geeignetsten ist, kann sich nur empirisch erweisen. Arbiträre oder intuitive Entscheidungen sind daher beim Aufbau der Hierarchie unter der Bedingung vertretbar, dass die Zuweisung linguistischer Daten an Konzepte der Hierarchie in konsistenter Weise erfolgt und somit spätere Umstrukturierungen der Hierarchie möglich sind. So hatte die Prozesshierarchie beispielsweise in der Anfangsphase der Analysen eine fünfte Hauptdomäne ftlr soziale Prozesse, die konsistent in drei aspektuelle Teildomänen unterschieden war. Später wurde die Prominenz des Merkmals „sozial" niedriger als die des Aspekts eingestuft, aber die sozialen Teildomänen konnten dennoch problemlos in die übrigen Hauptdomänen umgruppiert werden. Im Unter-

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schied zur Prozesstypologie von François (vgl. François 1989; François 1990; Gosselin & François 1991) ist das Merkmal „dynamisch" primär strukturbildend für die Prozesshierarchie. Das Merkmal „agentiv" ist von sekundärer Bedeutung, weil es nicht prozessimmanent ist, sondern von semantischen Merkmalen der Argumente des Prozesses abhängt und Prozesse nur mittelbar klassifiziert. Die weitere Verfeinerung der Prozesshierarchie ist zum einen durch das eher arbiträrintuitive Kriterium der Merkmalprominenz geprägt, zum anderen durch das Bemühen, die Struktur trotz des Problems, für Verbbedeutungen eine konsistente, der Ist-Ein-Relation vergleichbare Basisrelation zu finden (vgl. inakzeptables Non è un frutto, ma una mela gegenüber akzeptablem Non cammina, ma zoppica). Die Lösung besteht darin, zwischen den oberen, grob strukturierenden und den unteren, lexikalisch besetzten Ebenen im Unterschied zu EuroWordNet leere, also lexikalisch nicht besetzte Kategorien zur Bündelung von Konzepten zu definieren. Mit diesen leeren Kategorien wird vermieden, dass sich in der Hierarchie zentrale, prototyp-ähnliche Konzepte als Träger unsauber definierter „Ist-Ein"Relationen ergeben. Anstatt z. B. Konzepte wie HUMPELN unter GEHEN einzuordnen und damit problematische Inferenzen zu postulieren, werden beide Konzepte gleichberechtigt unter der leeren Kategorie FORTBEWEGUNGSART subsumiert. Leere Kategorien sind außerdem von Vorteil bei der praktischen Durchführung der semantischen Analyse: Mit ihnen konnte von Anfang an ein zumindest vorläufiges Gerüst geschaffen werden, das nach und nach gefüllt wird. Da es aus Zeitgründen ausgeschlossen war, jede Lesartzuordnung an eine Testreihe zu binden, musste jede Ebene der Hierarchie so gestaltet sein, dass Übersichtlichkeit und semantische Differenzierung sich die Waage hielten. Oppositionen wie ABSTRAKTE EIGENSCHAFT und KONKRETE EIGENSCHAFT in der relationalen Domäne sind daher nicht als kontradiktorisch zu verstehen, sondern lediglich als grobe Strukturierung einer Skala von Zuständen zwischen einem konkreten und einem abstrakten Pol, auf der z.B. die sensorischen Zustände eine mittlere Position einnehmen, obwohl sie letztlich den konkreten Eigenschaften zugeordnet wurden. Ein weiterer Grund für die Definition leerer Kategorien war, dass sie von Anfang an die Übersichtlichkeit der Hierarchie und vor allem die semantische Parallelität zwischen den aktionsartgeprägten Domänen der Zustände (RELATIONAL), Vorgänge (PASSIEREN) und Handlungen (HANDELN) gewährleisteten. Bei der semantischen Analyse wurde jede Konstruktion eines Verbs mit mindestens einem Konzept der Hierarchie assoziiert. 'Konstruktionen' sind die in Blumenthal & Rovere (1998) unterschiedenen Sublemmata. Da jede Konstruktion ausführlich mit Beispielen aus Textkorpora und Wörterbüchern belegt ist, waren diese Belege das Kriterium für die Zuweisung der Konzepte. Die auf diese Weise hergestellten syntaktisch-semantischen Relationen wurden als Zeiger in einer Datenbank abgelegt, die die Wörterbuchdaten mit der semantischen Repräsentation (der Prozesshierarchie) assoziieren. Für jedes Verb ergibt sich also eine hierarchische Repräsentation seiner Lesarten über die Konzepte der Prozesshierarchie wie sie weiter unten in Abb. 4 zu toccare dargestellt ist. Insgesamt ergibt sich aus diesen Prinzipien mit zehn Ebenen eine deutlich tiefere Hierarchie als in der verbalen Typologie von WordNet (zu Verben in WordNet vgl. Fellbaum 1990). Im Gegensatz zu anderen ontologischen Ansätzen hat die hier durchgeführte Verbanalyse den Vorteil, dass nicht „freischwebende" semantische Konstrukte kategorisiert wurden, sondern Konzepte, die in der strukturellen Beschreibung des Wörterbuchs der italienischen Verben verankert sind. Die semantischen Informationen über die Argumente der Verben sind in der Objekthierarchie abgelegt. Im Gegensatz zu Verben sind italienische Substantive allerdings nicht sys-

Repräsentation von Selektionsrestriktionen

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tematisch beschrieben worden: Es wurde weder ein Inventar von Substantiven definiert, noch wurden alle ihre Lesarten berücksichtigt, sondern die Auswahl erfolgte in Abhängigkeit von der Verbbeschreibung. Jede Verblesart ist einem Prozess (Konzept der Prozesshierarchie) zugeordnet, und die Argumente jedes Prozesses sind, wie in Abb. 1 skizziert, durch Konzepte der Objekthierarchie spezifiziert. Das Grundgerüst der Objekthierarchie bilden Ist-Ein-Kanten. Insgesamt enthält sie 1153 Konzepte. Das Problem der Sortenbildung durch Merkmalprominenz tritt natürlich auch in der Objekthierarchie auf, z.B. kann ein Konzept wie MÖBEL, je nachdem, ob Material oder Funktion höher bewertet werden, als SUBSTANZOBJEKT oder FUNKTIONSARTEFAKT kategorisiert werden. Dieses in Stein (1999c) im Zusammenhang mit dem Disambiguierungssystem SIC ausführlicher behandelte Problem wird durch weitere, quer durch die Hierarchie verlaufende Relationstypen gelöst, z.B. durch Rollenbeziehungen, die ebenso wie Objektklassen in Selektionsrestriktionen eingehen können.

3.2. Vererbung von Selektionsrestriktionen Am Beispiel ETWAS EINSCHLAGEN wird nun gezeigt, wie die mit den Prozessen assoziierte Information auf dem Weg von generischen zu spezifischen Konzepten allmählich zunimmt. Abb. 2 nennt an jedem Knoten der Hierarchie neben der Zahl der Knoten, der Verben und der Konstruktionen der entsprechenden Subdomäne auch die am Knoten spezifizierten semantischen Restriktionen (UP bedeutet, dass an dieser Argumentposition die Objektklasse von einem übergeordneten Knoten geerbt wird). Der oberste Knoten PROZESS weist keine Restriktionen auf, und der Knoten MATERIELL nur das aspektuelle Merkmal [+dynamisch]. Die materielle Domäne gliedert sich weiter in Prozesse mit (HANDELN) und ohne externen Verursacher (PASSIEREN). Das prominenteste Merkmal für diese Differenzierung ist gemäß dem oben Gesagten nicht Agentivität, sondern Kausativität, d.h. unter HANDELN fallen Prozesse, bei denen ein Argument eine Kausalinstanz ist und diese die Veränderung mindestens eines weiteren Arguments bewirkt. Aber erst auf der folgenden Ebene, AFFIZIEREN, sind erstmals argumentbezogene Merkmale definiert (arg 1 =MENSCH). Die Entscheidung, welche Substantive im Kontext mit derartigen Restriktionen vereinbar sind, wird in einem separaten Kompatibilitätsmodul gefällt, das z.B. die oben erwähnten Rollenbeziehungen oder reguläre Polysemie im Objektbereich berücksichtigt (vgl. Stein 1999c). Das zweite Argument wird bei ORT ÄNDERN als KONKRETUM spezifiziert. Entsprechend der primär semantischen Klassifizierung der Verblesarten sind die folgenden Ebenen im Vergleich zu den darüber liegenden verhältnismäßig breit gestreut und nicht notwendigerweise durch Oppositionen im Argumentbereich gekennzeichnet. Das bei BEWEGEN IN angegebene dritte Argument ist ein Defaultwert, der wie alle anderen Selektionsrestriktionen von spezifischeren Konzepten überschrieben werden kann. So haben die meisten der Konstruktionen unter HINEINSTECKEN zwar eine Präpositionalergänzung mit in (cacciare, calare, inserire, introdurre), diese kann aber ohne weiteres fakultativ sein. Das terminale Konzept ETWAS EINSCHLAGEN ist schließlich durch fünf unterschiedlich geläufige Konstruktionen belegt:

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180 (2)

a. battere un chiodo col martello b. cacciare un chiodo c. ribadire un chiodo d. ribattere un chiodo e. spingere un chiodo nella parete Prozess [3507-9277-12461] Relational [522-1461-1931] Verbal [296-881-1415] {argl-mensch] Mental [530-1490-2193] {argl -lebewesen) Materiell [2158-5447-6922] Passleren [481-1293-1533] {arg1-ob|ekfl Handeln [1676-4178-5389] W l SIchBewegen [279-627-817] {argl-lebewesen) I Aspektuell [44-165-225] ι Effilieren [154-444-545] {argl-mensch] ι Afflzleren [1010-2516-3203] (argl -mensch] ι HandelnAnPerson [313-732-947] {arg2-mensch, arg1-UP] < KonkretÄndern [455-1056-1333] LokalÄndem [313-784-993] {arg1-UP} OrtAndem [121 -351-445) (arg2-konkretum, arg1-UP} Verlegen [1-5-5] ZlelgerichtetBewegen [119-351 -438] ι f Q . Zurückbringen [2-8-8] Überspringen [1-2-2] < Übertragen [2-8-9] ι^ Geben [17-55-62] (•Q, Entfernen [23-83-101] ι Nehmen [9-26-32] {arg1-UP} ι InKonflguratlonBewegen [14-33-37] ι Herbringen [3-7-10] ι^ NachObenBewegen [4-11-11] ι Bewegenln [19-52-57] {arg3-behälter, arg2-UP, arg1-UP; i^Cj. Datenspeichern [2-8-9] - B Einpacken [1-2-2] Hereinholen [1-2-2] Hineinstecken [7-16-17] ι HlnelnstoSen [2-4-4] - a EtwasElnschlagen [1-5-5] {arg2-nagel, arg1-UP] - S Stopfen [1-1-1] • O . Zwängen [2-3-3]

Abb. 2: Vererbung in der Prozesshierarchie Die mit zunehmender Spezifizierung des Konzepts immer engere Prozessgebundenheit des Arguments ist hier offensichtlich: Der Prozess lässt als zweites Argument nur eine eng definierte Klasse von Objekten zu (sozusagen eine Art „Einschlag-Objekt"), durch die sich diese Lesart ζ. B. vom benachbarten Konzept STOPFEN abgrenzt, das teilweise durch dieselben Verben lexikalisierbar ist (z.B. Cacciò i vestiti in una sacca e partì). Das Beispiel ETWAS EINSCHLAGEN hat auch gezeigt, dass die semantische Information über die Argumente der Prozesse allein auf den Klassen der Objekthierarchie basiert. Explizite semantische Rollen (oder Kasusrollen) gibt es nicht, weil sie in diesem Modell der semantischen Beschreibung redundant wären. Auf der mittleren Ebene der Prozesshierarchie hätte z.B. das erste Argument von MENTAL PASSIEREN als Experiencer, das zweite Argument von MONODIREKTIONAL VERBAL als Adressat oder das zweite Argument von

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KONKRET ÄNDERN als Patiens spezifiziert werden können. Historisch u n d faktisch sind Kasusrollen ein Werkzeug, u m rein strukturelle Beschreibungen mit semantischer Information anzureichern. Je spezifischer die Kasusrollen sind, u m s o m e h r sagt die Argumentstruktur Uber ihr Prädikat aus. Wie nützlich Kasusrollen in einer primär syntaktisch ausgerichteten Verbbeschreibung sein können, wird ζ. B. in Blumenthal (1998) ausgeführt. U m zu semantischen Problemstellungen w i e der Disambiguierung von V e r b e n beizutragen, müssten sie dagegen so spezifisch sein, dass es m e h r Sinn macht, das V e r b selbst zu beschreiben. Die Umsetzung des Modells in ein Disambiguierungssystem hat gezeigt, dass außer Prozessund Objektklassen tatsächlich keine weiteren Informationen f ü r die automatische Disambiguierung von Verblesarten nötig sind (Stein 1999c).

4. U n t e r s u c h u n g e n

4.1. Die T e i l d o m ä n e H A N D E L N A N P E R S O N In A b b . 3 ist an j e d e m Knoten f ü r j e d e s spezifizierte Argument die S u m m e seiner Okkurrenzen in der gesamten Teildomäne unter diesem Knoten ausgegeben, und zwar relativ zur Gesamtzahl der dieser Teildomäne zugeordneten Konstruktionen. S o ergibt sich f ü r j e d e T e i l d o m ä n e eine Art typische Valenzstruktur, die auf den prozentualen Anteilen der einzelnen ausgewerteten Argumente beruht. ¿Ç] Malerlall {S-1V Tmp-2X, MX. Mod-15*. Ger-1*. Prid-4%, N3-40*. N2-16V N1-60*. ti-21*. LOC-20X, MÌS-4X) fo Pusieran (S-1X, Tmp-SX, 1-2%, Mod-UX, Ger-1*, Pr4d-5X, N3-41X, N2-15X, N1-1SX, »1-40*, Loc-19%, Mls-βΧ) ¿ Q Handeln (S-1X, Tmp-1%, l-SX, Mod-15*. Ger-1%, Pt*d-3X, N3-33*. N2.16X, N1-73X. $1-16«, LOC-20X. MIS-3X) ι -Cl SIchBewegen (S-OX, Tmp-1 X, MX, Mod-13X. Ger-OX, Präd-OX, N3-30X, N2-14X, N1-35X, SÍ-38X, L0C-48X, Mls-3*} ι ^Aspetti·»{Tmp-7*. I-20X. Mod-12X. GeMX, Präd-OX, N3-29X. N2-6X, N1-56X, SI-12X. L0C-4X. MIS-2X) I >C\ Edtleren (S-2X. Tmp-OX, 1-3*. Mod-17X, Ger-1 X, Pr«d-lX, N3-31X, N2-18X, N1-85X. sl-7%, LOC-12X. MIS-2X) ι >Q Adineren (S.1X. Tmp-1 Χ, I-3X, M0d-16X, Ger-1X, Präd-3%, N3-42X, N2-18X, ΝΙ-ββΧ, SI-9X, L0C-19X, MIS-3X) 1 '"td HandetnAnPerson (S-1X, Tmp-OX. I-7X. Mod-17X, Ger-2X. Prad-7%. N3-48X, N2-14X, N1-83X, «I-12X, L0C-8X, Mls-1 X) -B Hlnzuilthen{N3-100X.N1-100X} -g| JemandAMialtsnVon (N3-100X. N2-33X, N1-IOOX) HD JamandBehandeln (Mod-7SX, Pr4d-25X, N2-25X, N1-100X} ι Ό. JemandEtwasZukommanlassen (Mod-IBX. N3-81X, N2-37X, N1-93X, SI-12X, Loc-βΧ) JamandlnZustandBrlngen (Mod-100%, N3-100X, N1-100X) -Q J«mandZuEtw»»Machen (Pr4d-100*. N2-50X, N1-50X, sl-SOX) ι MentalBeelnflussen {S-3X, Tmp-OX, 1-12X. Mod-17X. Prid-OX. N3-44X, N2-16X, N1 -88X. sl-SX. LOC-5X, Mls-1 X} ι Ό. NegativHandelnAnPerson (S-OX, Tmp-1 X. 1-10X. Mod-7X, Ger-2X, Prâd-2*. N3-52X, N2-19X, N1 -81X, SI-14X. Loc-3X, Mls-1 ' < - d PhyiitchBeeirTflutten(l-l%. Mod-21X. Ger-7X, Prtd-7X, N3-22X. N2-21X. N1-70X. «1-34*. Loc-7*. Mls-1 X} I PosNvHandelnAnParson (1-1*. Mod-26*. Ger-4%, Prid-4X, N3-66X, N2-7X, N1-78X, jl-21*, Loc-SX. MIs-IX} < >Q, SozIalADIzleren (S-OX, Tmp-1X, I-2X, Mod-15*, Ger-IX, Pr4d-22*. N3-S1X. N2-10X, N1-MX, 11.10*. Loc-1«X. Mts-OX) Lg) AulDlaProbeStallen (Prid-1 β*. N3-100X. N1-50X. sl-SOX) Abb. 3: Teildomäne HANDELN AN PERSON mit syntaktischer Information (N1 : direktes Objekt, N3: Präpositionalobjekt, si: Reflexivpronomen, N2: Dativ-Objekt, Loc: Lokaladverbial, Mod: Modaladverbial, I: Infinitivergänzung, S: Satz, Präd: Prädikativ, Mis: Maßadverbial, Tmp: Temporaladverbial, Ger: Gerund) Den Konzepten der T e i l d o m ä n e HANDELN AN PERSON sind 9 4 7 Konstruktionen von 732 Verben zugeordnet. Sie zeichnet sich definitionsgemäß durch besonders h o m o g e n e semantische Selektionsrestriktionen aus. Es besteht eine starke Präferenz f ü r ein zweites, durch die Objektklasse MENSCH spezifiziertes Argument. Syntaktisch ist dieses zweite Argument we-

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182

niger einheitlich realisiert: In Uber 17% der Konstruktionen ist es nicht direktes Objekt, sondern eine Dativ- oder Präpositionalergänzung, die bei manchen Verben die einzig mögliche syntaktische Form ist (3), in anderen die seltenere, stilistisch markierte Alternative zum Akkusativ (4), (5). (3)

Mi brucia molto il suo rifiuto, ('stören, unangenehm sein')

(4)

a. Il film interessava solo una piccola parte degli spettatori. b. All'acquirente interessa tutto lo stabile e non i piani superiori.

(5)

a. Libero dalle etichette diplomatiche che lo hanno frenato a Parigi, George Bush ... b. Montedison frena su Enimont nell'attesa di una mediazione.

Daneben kommt die (nicht domänentypische) Kombination personaler Dativ mit Körperteil (6)a oder Körperteil bzw. Gefühl mit zugeordneter personaler Präpositionalphrase (6)b vor: (6)

a. Il successo gli ha montato la testa. b. ispirare nei giovani l'amore per lo studio

Die zweithäufigste Form der Realisierung des von der Handlung Betroffenen ist aber das Reflexivpronomen: Entsprechend der primär semantischen Kategorisierung wurden „echt reflexive" (vgl. Melis 1991, Oesterreicher 1992) Konstruktionen wie die ihnen entsprechenden transitiven Konstruktionen kategorisiert. Unter das gleiche Konzept (VERKAUFEN) fallen also (7)b und (7)c, nicht aber (7)a: (7)

a. È un libro che si vende bene. b. È uno che sa vendersi (bene). c. Adesso ho deciso di vendere l'appartamento.

Die Diskrepanz zwischen relativer semantischer Homogenität bezüglich der Argumentsemantik der Teildomäne und dem eher unausgeglichenen Bild bei den syntaktischen Realisierungen stützt die in Abschnitt 2 zitierte Auffassung, dass die syntaktische Umgebung von Verben auf idiosynkratischen Eigenschaften beruht und von der Verbsemantik weitgehend unabhängig ist.

4.2. Lexikalisierungen von Konzepten In onomasiologischer Perspektive wird nun kurz das aus der mentalen Teildomäne stammende Konzept SICH VORSTELLEN diskutiert, um zu zeigen, dass die in Abschnitt 3.2. dargestellte Vererbung semantischer Selektionsrestriktionen allein nicht ausreicht, um die Lexikalisierungsphänomene an einzelnen spezifischen Knoten zu erklären. SICH VORSTELLEN ist ein mit über zwanzig Konstruktionen reich lexikalisiertes Konzept, dessen typischste Verben wohl immaginare, figurare und dipingere sind: (8)

a. Immaginatevi una Milano di quattro secoli fa. b. [...] il giovane paesaggista si figurò un progetto adatto alle dimensioni della casetta. c. Si dipingeva l'avvenire di sciagure e delusioni.

Der Gebrauch anderer Verben in dieser Lesart lässt sich nicht immer ohne weiteres an Objektklassen festmachen. Pensare und credere kommen beispielsweise fast nur in direkter Rede vor (9), und concepire steht bevorzugt in negativen Kontexten wie nach non riesco oder incapace in (10).

Repräsentation von Selektionsrestriktionen (9)

183

a. Vi lascio pensare la mia paura. b. Non puoi credere quanto mi dispiaccia.

(10) a. Non riesco a concepire un comportamento simile! b. [...] una somma di individui incapaci di concepire altro dal proprio immediato interesse.

Dagegen bestehen bei rappresentare und sognare eindeutige Affinitäten zwischen Verbund Argumentsemantik. Während das erste Verb klar zu Konkreta tendiert (11), bevorzugt das zweite vage, positiv konnotierte Objekte (12): (11) a. Non riesco a rappresentarmelo. b. Si rappresenta nella fantasia tutti i particolari della scena. (12) a. Fortunatamente a Parigi nessuno s'è sognato una cosa del genere, b. Non mi sono mai sognato fama e successo.

Das semantisch eher einfach aufgebaute System aus Prozess- und Objektklassen ist hier für die Selektion der richtigen Lesart im Kontext ausreichend; für die Generierung, also die Selektion des richtigen Verbs für das Konzept, müssten, wie in (9) und (10) angedeutet, eine Reihe weitergehender Kontextinformationen kodiert werden.

4.3. Das Verb toccare in der Prozesshierarchie Zur Erläuterung des Zusammenhangs zwischen Objekteigenschaften und Prozesskategorisierung zeigt Abb. 4 nur die Lesarten von toccare in der Prozesshierarchie mit jeweils einem Beispielsatz. In der materiellen Domäne steuert die Einwirkung auf das zweite Argument die Verteilung auf die Teilbereiche des Handelns. Die Prozesse der Körperbewegung drücken keine Einwirkung auf das Objekt aus (toccare i capelli), oder das Objekt ist nur implizit (BODEN BERÜHREN, BALL SCHIESSEN). Auf der anderen Seite stehen in der Teildomäne AFFIZIEREN die Prozesse, bei denen das Objekt tatsächlich betroffen ist. Der Grad der Einwirkung ist dabei je nach Spezifizität des Konzepts unterschiedlich ausgeprägt, z.B. im Bereich der mentalen Beeinflussung eher gering bei MENTAL BESCHÄFTIGEN (13)a, stärker bei PSYCHISCH VERLETZEN (13)b. Der Prozess NEGATIV HANDELN A N PERSON (13)c ist personenbezogen, aber nicht ausschließlich mental interpretierbar und nimmt hinsichtlich des Grades der Einwirkung eine Mittelstellung ein (die offensichtlichen Probleme dieser recht feinen Aufgliederung der semantischen Teilbereiche werden unten noch einmal aufgegriffen werden). (13) a. La questione mi tocca da vicino. b. Il tuo gesto l'ha toccato intimamente. c. Non bisogna toccarlo nei suoi interessi.

Die Teildomäne ORT ÄNDERN als Fortsetzung der Körperbewegung mit Konsequenzen für das Objekt (Objektbewegung: Toccò l'uscio col piede per accertarsi se cedeva) bedarf keiner näheren Erläuterung. Von dieser „einfachen" Bewegung werden allerdings zwei Bereiche unterschieden: BEWEGUNGSRESULTAT subsumiert 57 Prozesse, bei denen das primär affizierte Objekt nicht mit dem bewegten Objekt identisch ist oder das Objekt keine Orts-

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184 Q SIC: Prozess-Tellbaum: toccare < < 3 Materiell Handeln SIchBewegen Körperbewegung Körperteilbewegung EtwasBerühren: "Le toccò delicatamente I capelli" BodenBeruhren: "Qui non si tocca più" —(S) BallSchieBen: "Gianlnl tocca per Hassler" 1 K 3 Afflzleren « • Q HandelnAnPerson MentaiBeeintlussen i | MentalBeschäfligen: "La questione mi tocca da vicino" NegativMentaJBeelnflussen i | Psychischverletzen: "Il tuo gesto l'ha toccalo intimamente" - S NegatlvHandelnAnPerson: "Non bisogna toccarlo nei suoi interessi!" KonkretÄndern: "Il commissario raccomandò che nessuno toccasse nulla" LokalAndern OrtÄndem Zielgerichtete ewegen EtwasVorwärtsbewegen EtwasDriicken: "Toccò l'uscio col piede per accertarsi se cedeva" ( • Q Bewegungsresultat l—(S) SaiteAnschlagen: "toccare le corde di uno strumento" » Q KontlguratlonÄndern i f ] Zusammenbewegen 1—fS] GläserAnstoBen: "toccare I bicchieri" Passleren Abstrakterwechsel ( • Ώ Intensitätswechsel ' — W e i t B e k o m m e n : "La produzione ha toccato gli 1,54 milioni di unità" ι » Q Exlstenzwechsel L{S) PersonBetroffenWerden: "Ml à toccata una disgrazia" KonkreterWechsel LokalerWechsel Ortswechsel GerichteteBewegung OrtErreichen: "la regata che, partendo da Genova, toccherà Lisbona, Cadice i l AufGrundLaufen: "La barca tocca" lelatlonal AbstrakteElgenschaA Exlstenzelgenschait SachverhaltBestehen JemandemObllegen: 'Tocca al genitori provvedere all'educazione dei Agli." 13 JemandemZustehen: "Mi tocca un quinto dell'eredità" « • Ώ LogischeEigenschaft Í Q Ordnungseigenschaft L - g | AnDerRelheSein: "Tocca a lui' (WTJ Inhaltseigenschaft L ® Betreffen: 'Il tema delle lingue tocca particolarmente malia KonkreteElgenschalt LokaleElgenschafl Grenzeigenschatt EndenAn i | RelchenBIs: 'Con la testa tocca addirittura II lampadario" Verbal Inhaltsbezogen SprechenVon ThemaAnsprechen: "Nel suo discorso ha toccato varie questioni importanti'

Abb. 4: Lesarten von toccare in der Prozesshierarchie

Repräsentation

von

Selektionsrestriktionen

185

Veränderung im engeren Sinne mitmacht (toccare le corde di uno strumento). Typische Konzepte sind hier BELADEN, BESTREUEN, ABDICHTEN USW., deren Lexikalisierungen schon Brunot als „verbes instrumentaux" einen besonderen Status zugesprochen hat (Brunot 1922: 216ff). Bei den Prozessen unter KONFIGURATION ÄNDERN verändert sich durch die Handlung die Konfiguration des Objekts relativ zu einem oder mehreren anderen Objekten

(toccare i bicchieri). In der Domäne PASSIEREN finden sich die dynamischen Prozesse ohne externe Kausalinstanz. Formal unterscheiden sich die Konzeptnamen hier durch „-WECHSEL" im Gegensatz zu „-ÄNDERN*' im affizierenden Bereich, die zugeordneten Konstruktionen haben aber nicht notwendigerweise eine kausative Entsprechung. Für die Opposition dynamisch - statisch gibt es kein Kriterium, das ähnlich problemlos wäre wie das Vorhandensein einer Kausalinstanz. Die gängigen Tests liefern für verschiedene Sprachen verschiedene Ergebnisse (engl. the sun is shining gegenüber franz. ?/e soleil est en train de briller, vgl. Comrie 1976: 35ff und Lyons 1983: 313ff). Die Annahme einer graduellen Opposition wäre überzogen, aber sicherlich besteht zwischen statischen und dynamischen Prozessen eine Grauzone, in der objektive Kriterien (wie der Einsatz von Energie, vgl. Comrie 1976, Kap. 2.3) nicht definierbar sind. Auch formale Kriterien wie die Zahl der Argumente sind ungeeignet, weil sie erstens nur tendenzielle Aussagen zulassen (vgl. Lehmann 1991: 98: „multi-participant situations tend to be dynamic") und zweitens das primär semantische Prinzip der Zuordnung durchbrechen würden. Die großen semantisch definierten Domänen MENTAL und VERBAL sind bei toccare nur durch eine Sprechakt-Lesart vertreten (THEMA ANSPRECHEN: Nel suo

discorso ha toccato varie questioni importanti). Der kurze Überblick über den Fächer, den die Lesarten von toccare in der Prozesshierarchie bilden, sollte neben den allgemeinen Problemen der groben Kategoriebildung vor allem das Problem des Grades der Spezifizierung von Konzepten veranschaulichen. Die verschiedenen lexikalischen Theorien nehmen hierzu unterschiedliche Positionen ein. Eine besteht darin, nur bis zu einer gewissen Grenze zu spezifizieren und die Repräsentation durch kombinatorische Regeta zu ergänzen. So wird beispielsweise im Generativen Lexikon (Pustejovsky 1995) Ambiguität mit unterspezifizierten semantischen Repräsentationen dargestellt, wobei diese Unterspezifizierung bei Verben die Prozessstruktur und die Rolleneinträge der Qualiastruktur betreffen kann. Hier wurde die Alternative zu diesem Ansatz verfolgt: Sie besteht in einer möglichst weitgehenden Spezifizierung, die unter Umständen bis in die Ebene der Idiomatik reicht. Dabei entstehen zwar Kategorien, die in ihrer Spezifizität kritikabel und lexikalisch nur schwach besetzt sind, aber ein Vorteil solch präziser Konzepte ist, dass sie zur Herstellung nützlicher, Uber die IstEin Beziehung hinausgehender Relationen herangezogen werden können, z.B. für eine Implikationsbeziehung zwischen GLÄSER ANSTOSSEN (toccare i bicchieri) und Konzepten des sozialen Kontakts. Außerdem ist semantische Spezifizität an sich kein Nachteil, so lange sie bei Bedarf durch Methoden kompensiert werden kann, die Uber solch spezifische Kategorien abstrahieren. Ein Beispiel für die Verwendung solcher Methoden ist die Nutzung der Hierarchie für die Berechnung von Synonymie. Die hierarchische Struktur bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Grade von Bedeutungsnähe zu implementieren, indem die Entfernung zweier Konzepte zueinander oder zu ihrem gemeinsamen Mutterknoten zu Grunde gelegt wird. Sie hilft, das von Victorri & Fuchs (1996: 106) diskutierte Problem zu umgehen, dass semantische Nähe quantitativ und auf der Basis intuitiver Jugements de proximité" beurteilt wird. Die Suche nach Kookkurrenzen an Konzepten ergibt besonders bei sehr polysemen Verben

Achim Stein

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häufig „Synonyme", bei denen die Ähnlichkeit nur auf einer solch spezifischen Verwendung eines der Verben beruht, z.B. toccare, legare, impegnare für MENTAL BESCHÄFTIGEN. Für jede Kombination der 1.038 Verben wurde untersucht, inwieweit die Lesarten der beiden Verben übereinstimmen. Diese Übereinstimmung wurde in einem Wert S ausgedruckt, der folgendermaßen berechnet wurde: Das weniger polyseme Verb jedes Paars ist der Ausgangspunkt der Analyse. Die Menge seiner Lesarten LI wird mit der Menge der Lesarten des stärker polysemen Verbs L2 verglichen. Hierbei wird nicht nur die Gleichheit, sondern auch die Nähe bzw. die konfígurationale Relation der am dichtesten benachbarten Lesartpaare beider Verben berücksichtigt. Der Quotient aus der Schnittmenge dieses Vergleichs (LS) und LI ist der „positive" Synonymieindikator. Dieser Wert hätte für sich allein den unerwünschten Effekt, dass stark unterschiedlich polyseme Verben einen hohen Synonymwert erhalten, wenn die meisten Lesarten in LI auch in L2 enthalten wären. Ein extremes Beispiel: abolire mit nur einer Lesart (ABSCHAFFEN) würde als „perfektes" Synonym von eliminare gewertet, das neben ABSCHAFFEN noch zehn weitere Lesarten hat: (14)

a. abolire: ABSCHAFFEN b. eliminare: BESEITIGEN, ABSCHAFFEN, ENTFERNEN, MATHEMATISCH KÜRZEN, UMBRINGEN, JEMAND ENTLASSEN, ENTSORGEN, JEMAND AUSSCHALTEN, VERBANNEN, AUSSCHEIDEN, JEMANDEM ETWAS ERSPAREN

Als „negativer" Synonymieindikator wurde daher der Quotient aus Schnittmenge LS und L2 mit dem positiven Indikator multipliziert: Mit jeder zusätzlichen Lesart in L2, die kein Pendant in LI hat, verringert sich also der Wert S (bei maximaler Synonymie wäre S=l). Diese Art der Berechnung führt letztlich zu einer Loslösung von den allzu spezifischen Konzepten der Prozesshierarchie durch die Implementierung von Unschärferelationen und die Ergänzung der onomasiologischen (Welches Verb kann noch für dieses Konzept stehen?) durch eine semasiologische Perspektive (Ist das Verb auch unter Berücksichtigung seines gesamten Polysemiepotentials ein adäquates Synonym?). Angesichts des großen Bedeutungsspektrums verwundert es nicht, dass toccare mit keinem anderen Verb einen besonders hohen Synonymiewert erzielt. Eine nach S geordnete Liste der am stärksten synonymen Verbpaare weist bei Rang 500 einen Wert von S=0,1 auf; das zu toccare "synonymste" Verb spettare deckt nur einen Ausschnitt des relationalen Bedeutungsspektrums ab; entsprechend niedrig ist mit S=0,087 der Synonymiewert für dieses Verbpaar.

5. Ausblick

Auch wenn im anglophonen Sprachraum der Begriff ontology für linguistische Hierarchien üblich ist, wäre es verfehlt, die Kategorien eines auf konkreter lexikalischer Analyse basierenden Systems mit Kategorien der Welt (oder unseres Wissens von ihr) gleichzusetzen. Ebenso problematisch ist es, ihnen einen kognitiven Status zuzusprechen, auch wenn einige der Großprojekte (z. B. WordNet) ursprünglich sprachpsychologisch motiviert waren. Das hier vorgestellte System ist ein Ergebnis empirischer Analyse, dessen Struktur durch seine Zielsetzung (Disambiguierung) bestimmt wurde. Dennoch bietet es Möglichkeiten zur Integration von syntagmatischen Informationen. Aus onomasiologischer und semasiologischer

Repräsentation von Selektionsrestriktionen

187

Sicht wurde am Bereich der Selektionsrestriktionen gezeigt, dass zwar nicht die einzelsprachlichen syntaktischen, wohl aber die übereinzelsprachlichen semantischen Merkmale von Argumenten einer Hierarchie von Prozessen zugeordnet werden können, und zwar so, dass selbst in einer primär auf prozessimmanenten Merkmalen aufgebauten Typologie Synergieeffekte bei der Beschreibung der semantischen Verbumgebung erzielt werden können. Allerdings haben die Beispiele auch gezeigt, dass einige terminale Konzepte so partikulär werden, dass die Zuordnung von Objektklassen die Grenzen der Zirkularität überschreitet. Die Frage, inwieweit die Definition eines Prozesses die Semantik seiner Argumente zu berücksichtigen hat, wurde hier klar zu Gunsten einer möglichst großen Autonomie der Verbsemantik beantwortet.

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Paul Gévaudan

(Tubingen)

Lexikalische Filiation. Eine diachronische Synthese aus Onomasiologie und Semasiologie

Entwicklungen im Wortschatz werden bisher in verschiedenen Forschungsparadigmen behandelt, die wenig Bezug zueinander haben. Die Beschreibungen des Bedeutungswandels in der historischen Semantik stehen kaum in Zusammenhang mit den Forschungsansätzen im Bereich der Wortbildung und der lexikalischen Entlehnung.1 Dabei sind Bedeutungswandel (kat. bue 'Bauch' -> 'Schiff), Wortbildung (sp. barca 'Boot' sp. embarcación 'Schiff) und Entlehnung (kat. bue 'Schiff —> sp. buque 'Schiff) die wichtigsten Triebkräfte lexikalischer Entwicklungen, sodass ein Interesse besteht, derartige Phänomene einheitlich zu beschreiben. Die Unvereinbarkeit bisheriger Untersuchungen ist darauf zurückzuführen, dass diese jeweils bestimmte semiotische Perspektiven bevorzugen, während sie andere ausblenden. Besonders ausgeprägt sind semasiologisch-semantische (Bedeutungswandel), aber auch onomasiologisch-morphologische Untersuchungen (Wortbildung). In diesem Beitrag möchte ich mit der Filiation ein diachronisches semiotisches Modell vorstellen, das verschiedene Perspektiven auf das lexikalische Zeichen vereinigt und mit dem sich die Herkunft von Lexien, die aus Bedeutungswandel, Wortbildung oder Entlehnung hervorgegangen sind, einheitlich beschreiben und klassifizieren lässt. Filiation ist die Beziehung zwischen einer lexikalischen Einheit und ihrem diachronischen Vorgänger. Dieses Verhältnis kann semantisch, morphologisch und stratisch analysiert und anschließend in einem dreidimensionalen Raster klassifiziert werden. Um das Modell semiotisch und linguistisch zu fundieren, möchte ich in Abschnitt 1. zeigen, welche lexikalischen Entwicklungen sich aus semasiologischer und / oder onomasiologischer Perspektive darstellen lassen und welche sich diesen Darstellungsmethoden entziehen; in Abschnitt 2. geht es um den Nachweis, dass jede Art von lexikalischer Innovation mit der Entstehung einer lexikalischen Einheit verbunden ist und dass semasiologisch und onomasiologisch, aber auch rein semantisch und rein morphologisch beobachtbare Innovationen lediglich Aspekte der Entstehung solcher lexikalischen Einheiten sind; in Abschnitt 3. erläutere ich, wie das Filiationsverhältnis zwischen einer lexikalischen Einheit und ihrem diachronischen Vorgänger auf Innovation oder Fortführung in der Rede zurückzuführen ist - wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen der semantischen und morphologischen, und schließlich der stratischen Ebene der Filiation; die Kreuzklassifikation dieser drei Filiationsebenen erlaubt eine einheitliche Analyse lexikalischer Entwicklungen.

1

Ich danke Ulrich Detges, Richard Waltereit, Andreas Blank, Peter Koch und Antonia Neu filr die kritische Begutachtung meines Manuskripts. Zur historischen Semantik vgl. u.a. Ullmann 1957; Koch 1995; Blank 1997; Geeraerts 1997; Fritz 1998; zur eher lexikalisch orientierten Wortbildungslehre Marchand 1969; Gauger 1971; Coseriu 1977; Laca 1985; Lipka 1992; Fleischer / Barz 1992; zur Entlehnung Haugen 1950, Kiesler 1993.

Paul Gévaudan

190 1. Semasiologische und onomasiologische Darstellung lexikalischer Entwicklungen

Die diachronische Untersuchung des Wortschatzes einer beliebigen Sprache führt zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass ein Teil davon sich in einem bestimmten Zeitraum nicht verändert hat, also das Resultat von lexikalischer Kontinuität ist, ein anderer hingegen das Ergebnis von lexikalischem Wandel ist, der in diesem Zeitraum stattgefunden hat. In diesem Abschnitt möchte ich lexikalische Kontinuität (1.1.) und lexikalischen Wandel (1.2.-1.4.) aus semasiologischer und onomasiologischer Perspektive diskutieren. Dabei wird sich zeigen, dass diese semiotischen Perspektiven für sich genommen nicht alle Fälle von lexikalischem Wandel erfassen können. Beginnen möchte ich mit den Definitionen für Semasiologie (I) und Onomasiologie (II): (I) Semasiologie: Beobachtung der Inhaltsebene ausgehend von einem Ausdruck (II) Onomasiologie: Beobachtung der Ausdrucksebene ausgehend von einem Inhalt2 Man kann sagen, dass Semasiologie und Onomasiologie semiotische Perspektiven sind, d.h. bestimmte Blickwinkel auf sprachliche Zeichen. Zugleich sind sie auch linguistische Untersuchungsmethoden. In der synchronischen Lexikologie ist die Feststellung, dass dem französischen Ausdruck médecine die Inhalte 'Heilmittel' und 'Heilkunde' gegenüberstehen, ein semasiologischer Befund. Umgekehrt entspricht es einer onomasiologischen Perspektive nachzuvollziehen, dass der Inhalt 'Heilmittel' durch die Ausdrücke médecine und médicament bezeichnet werden kann: fr. médecine

'Heilkunde'

fr. médicament

'Heilmittel'

Abb. 1 : Semasiologie und Onomasiologie

Soweit sind Onomasiologie und Semasiologie als methodische Begriffe klar und eindeutig. In einer diachronischen Perspektive jedoch erweisen sie sich, wie ich in 1.4. zeigen werde, als durchaus problematisch. Zunächst stellt sich die Frage, welche Typen von lexikalischer Entwicklung semasiologisch und welche onomasiologisch beschrieben werden können.

2

Ich wähle hier das Wort Inhalt bewusst, da in .diesem Beitrag Fragen der Semantiktheorie möglichst ausgeklammert bleiben sollen (vgl. jedoch 3.2.). Verschiedene linguistische und semiotische Konzeptionen des lexikalischen Inhalts, mit denen Termini wie Signifikat, Semem, Designat oder Konzept zusammenhängen, werden hier weder unterstützt noch verworfen. Damit soll nicht die Notwendigkeit solcher Theorien in Abrede gestellt, sondern lediglich eine Begrenzung des Beitrags erreicht werden (Konzept wird im Folgenden höchstens im Sinne von Begriff, d.h. fr. concept, verwendet).

Lexikalische Filiation

191

1.1. Lexikalische Kontinuität Betrachtet man Entwicklungen des Wortschatzes vom Lateinischen bis zu den romanischen Sprachen, so stellt man fest, dass lexikalische Kontinuität einen beachtlichen Raum einnimmt. Zahlreiche Formen werden in Verbindung mit einem bestimmten Inhalt seit über zwei Jahrtausenden im Wesentlichen mit derselben Bedeutung verwendet. Dies ist auch der Fall bei kat. cap ' K o p f , das in dieser Lesart eine kontinuierliche Weiterverwendung von lt. caput 'Kopf darstellt: (1)

lt. caput 'Kopf -> kat. cap 'Kopf

Der lautliche Unterschied zwischen lt. caput und kat. cap ist auf den regelmäßigen Lautwandel zwischen Latein und Katalanisch zurückzuführen. Wenn man den Lautwandel „herausrechnet", wird deutlich, dass zwischen diesen beiden lexikalischen Ausdrücken zwar keine lautliche, wohl aber morphologische Identität besteht. Da beide Wörter zugleich sementiseli identisch sind, ist die lexikalische Kontinuität in (1) sowohl ein semasiologischer als auch ein onomasiologischer Befund. Untersucht man semasiologisch, wie sich die mit dem Morphem caput > cap verbundenen Inhalte entwickelt haben, stellt man bezüglich des Inhalts ,Kopf semantische Kontinuität fest. Fragt man umgekehrt aus onomasiologischer Perspektive nach der Versprachlichung des Inhalts 'Kopf damals und heute, stellt man die Kontinuität seiner Bezeichnung fest. Dem entspricht im Rahmen einer synchronischen Untersuchung die Feststellung, dass semasiologisch gesehen kat. cap für 'Kopf steht und dass onomasiologisch gesehen im Katalanischen der lexikalische Inhalt 'Kopf mit dem Ausdruck cap bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu gehen bei lexikalischem Wandel die semasiologischen (1.2.) und onomasiologischen (1.3.) Befunde jedoch auseinander - sie scheinen auf den ersten Blick sogar unvereinbar.

1.2. Lexikalischer Wandel aus semasiologischer Sicht Entsprechend der Definition (I) kann lexikalischer Wandel aus semasiologischer Perspektive nur auf der Grundlage eines Morphems beschrieben werden, für das im entsprechenden Zeitraum Kontinuität vorliegt. Im Spanischen ergibt die morphologisch unveränderte Weiterführung von lt. caput die Form sp. cabo, die sich jedoch semantisch von ihrem Etymon unterscheidet (2). Dieses Morphem steht heute (u.a.) für den Inhalt 'Ende'. (2)

lt. caput 'Kopf -> sp. cabo 'Ende'

Wie es zu dieser Entwicklung kam, soll uns zunächst nicht interessieren. Tatsache ist, dass das Morphem caput / cabo im Lateinischen, d.h. zu einem bestimmten Zeitpunkt (ti), die Bedeutung 'Kopf hat, im Spanischen jedoch, d.h. zu einem späteren Zeitpunkt (t2), für den Inhalt 'Ende' steht. Graphisch lässt sich dies folgendermaßen darstellen:

192

Paul

Gévaudan

caput / cabo

Abb. 2: Lexikalischer Wandel aus semasiologischer Sicht

Dieser Typus von lexikalischem Wandel ist in der Regel gemeint, wenn von Bedeutungswandel (vgl. u.a. Blank 1997) die Rede ist. Die semantische Veränderung in Bezug auf das Morphem caput / cabo lässt sich aus einer onomásiologischen Perspektive heraus nicht erkennen, da diese diachronisch nur auf der Grundlage eines und desselben lexikalischen Inhalts operieren kann.

1.3. Lexikalischer Wandel aus onomasiologischer Sicht Genauso wenig wie man lexikalischen Wandel des Typs (2) onomasiologisch erfassen kann, lassen sich Entwicklungen, wie die in Beispiel (3) semasiologisch beschreiben. Hier zeigt sich aus onomasiologischer Perspektive, dass die lateinische Bezeichnung für 'Kopf, caput, im Französischen durch tête ersetzt worden ist. (3)

KOPF: lt. caput - » fr. tête

In spiegelverkehrter Weise zur semasiologischen Darstellung in Abb. 2 lässt sich zeigen, wie ein und derselbe lexikalische Inhalt - entsprechend der Definition (II) - zum Zeitpunkt ti (Lateinisch) von einem anderen lexikalischen Morphem bezeichnet wird als zum Zeitpunkt t2 (Französisch): 'Kopf

Abb. 3: Lexikalischer Wandel aus onomasiologischer Sicht

Ebenso wie sich semasiologisch beobachteter lexikalischer Wandel als Bedeutungswandel bezeichnen lässt, kann man onomasiologisch beobachteten lexikalischen Wandel Bezeichnungswandel nennen. 1.4. Die Grenzen von Onomasiologie oder Semasiologie in der Diachronie Bis hierher erwies sich der Unterschied zwischen diachronischer Onomasiologie und diachronischer Semasiologie als unproblematisch - er entspricht grundsätzlich dem Unterschied zwischen Semasiologie und Onomasiologie in der Synchronie. Es gibt bei der Unter-

Lexikalische Filiation

193

suchung lexikalischer Entwicklungen jedoch zahlreiche Fälle, in denen beide methodischen Ansätze offenbar zu kurz greifen. Einen dieser Fälle zeigt das folgende Beispiel: (4)

sp. cabo 'Ende' -> sp. acabar 'beenden'

Etymologisch gesehen ist sp. acabar 'beenden' auf sp. cabo 'Ende' zurückzuführen. Nun besteht zwischen den Morphemen des Vorgängers (cabo) und des Nachfolgers (acabar) keine Kontinuität, denn selbst unter Berücksichtigung der einschlägigen Lautwandelsgesetze (vgl. 1.1.) lässt sich keine morphologische Identität zwischen ihnen feststellen. Es ist vielmehr so, dass auf der Grundlage des Morphems cabo durch Präfigierung und Wortartwechsel das neue Morphem acabar entstanden ist.3 Daher kann man diese Entwicklung nicht semasiologisch beschreiben, ohne gegen die Definition (I) zu verstoßen. Da diese die semasiologische Methode als die „Beobachtung der Inhaltsebene ausgehend von einem Ausdruck" definiert, kann sie nicht angewendet werden, da es sich bei cabo und acabar nicht um denselben Ausdruck handelt. Umgekehrt besteht auch keine Identität und damit keine Kontinuität zwischen den Inhalten des Vorgängers ('Ende') und dem des Nachfolgers ('beenden'), sodass eine onomasiologische Beschreibung dieser Entwicklung wiederum nicht möglich ist, ohne gegen Definition (II) zu verstoßen. Diese besagt ja, dass Onomasiologie die „Beobachtung der Ausdrucksebene ausgehend von einem Inhalt" ist, wodurch eine onomasiologische Herangehensweise unwirksam ist, da 'Ende' und 'beenden' nicht ein Inhalt sind. Das Problem dabei ist nicht die Herkunft von sp. acabar 'beenden' aus sp. cabo 'Ende', denn diese ist unbestritten. Dass es einen Zusammenhang zwischen den lexikalischen Ausdrücken cabo und acabar und ebenso zwischen den lexikalischen Inhalten 'Ende' und 'beenden' gibt, ist überdeutlich. Sowohl das Wortbildungsmuster, das von cabo zu acabar führt, als auch der damit einhergehende semantische Übergang von 'Ende' zu 'beenden' findet sich im Lexikon vieler Sprachen. Man denke nur an die Entstehung von dt. beenden aus dt. Ende. Das Problem besteht darin, dass semasiologische und onomasiologische Untersuchungen entsprechend den Definitionen (I) und (II) ein solches diachronisches Phänomen nicht erfassen können. Warum das so ist und wie sich alle vier hier vorgestellten Typen des lexikalischen Wandels (Beispiele (I)-(4)) einheitlich beschreiben lassen, möchte ich im folgenden Abschnitt 2 erläutern, in dem es um die semiotischen Grundlagen des Filiationsmodells geht.

2. Lexikalische Filiation: eine Synthese diachronischer semiotischer Perspektiven

Ein Zeichenmodell, mit dem alle Typen von lexikalischem Wandel in gleicher Weise dargestellt werden können, muss die Frage beantworten, aus welchen semiotischen Perspektiven heraus lexikalische Entwicklungen des Typs sp. cabo ,Ende' —> sp. acabar 'beenden' beschrieben werden können und wie diese Perspektiven miteinander zusammenhängen. Um 3

Dass der Stamm von cabo (cab-) als Teil des Stamms von acabar (acab-) erhalten bleibt, zeigt, dass acabar aus cabo hervorgegangen ist, ist jedoch kein Zeichen von lexikalischer Kontinuität, wie sie in 1.1. definiert wurde.

Paul Gévaudan

194

diese Frage zu beantworten, möchte ich in diesem Abschnitt zunächst das Prinzip von Innovation und Schwund beim lexikalischen Wandel (2.1.)> dann ein semiotisch neutrales Zeichen- und Lexikonmodell (2.2.) vorstellen. Davon ausgehend lässt sich zeigen, dass sich alle im vorigen Abschnitt besprochenen Beispiele (l)-(4) nach einem einheitlichen Muster darstellen lassen (2.3.). Diese Art der Darstellung verdeutlicht nicht nur mögliche Zusammenhänge zwischen Bedeutungs- und Bezeichnungswandel (2.4.), sondern auch, dass es sich dabei um bestimmte Aspekte derselben lexikalischen Entwicklungen handelt. Weitere Aspekte können auch die Entstehung neuer Formen oder neuer Inhalte sein, die theoretisch nur aus rein morphologischer bzw. rein semantischer Perspektive beschreibbar sind (2.5.).

2.1. Lexikalische Innovation und lexikalischer Schwund Im Verständnis der modernen historischen Linguistik ist lexikalischer Wandel nicht eine kontinuierliche Veränderung von lexikalischen Ausdrücken und / oder Inhalten, sondern eine Abfolge von Entstehung und Schwund sprachlicher Elemente. Blank z.B. unterscheidet zwischen innovativen und reduktiven Bedeutungswandel·. Innovativer Bedeutungswandel [...] ist die Entstehung einer neuen Bedeutung [...] bei einem Wort neben der alten. [...] Die Polysemie der beiden Bedeutungen ist Ergebnis oder „Folge" des Bedeutungswandels [...]. Reduktiver Bedeutungswandel [...] ist der Wegfall einer [...] Bedeutung. (Blank 1997:113)

Wilkins (1996: 269) skizziert die Abläufe des semasiologisch zu beobachtenden lexikalischen Wandels folgendermaßen: Time (T)

TI

Form (F) Meaning (M) :

Fl Ml

T2 -»

F2 Μ1&Μ2

Τ3 ->

F3 Μ2

Abb. 4: Darstellung des semasiologischen Wandels nach Wilkins

Man könnte hier von Fluktuation sprechen, bei der sich Sprachwandel als Entstehung (Innovation) und Schwund (Reduktion) von sprachlichen Elementen manifestiert.4 Der im Zitat und in Abb. 4 eingenommenen semasiologischen Perspektive entspricht Beispiel (2'): (2')

Lexikalische Innovation / lexikalischer Schwund: semasiologische Perspektive lt. caput 'Kopf -> asp. cabo 'Kopf / 'Ende' -> sp. cabo 'Ende'

Im Lateinischen bedeutete caput noch 'Kopf - in Folge metaphorischen Gebrauchs kam im Altspanischen die Bedeutung 'Ende' hinzu (2'). Nach einer zeitweiligen Koexistenz der neuen mit der alten Bedeutung, ging diese allmählich verloren, sodass cabo heutzutage nicht mehr 'Kopf bedeutet (dass dieser lexikalische Ausdruck im Spanischen noch einige andere Bedeutungen angenommen hat, ist hier nicht von Interesse). (2') ist ein Beispiel für Bedeutungsinnovation gefolgt von Bedeutungsschwund, d.h., aus metasprachlicher Perspek-

4

Dies liegt in der Natur der Sache, wenn man das Lexikon als Bestandteil der langue im Sinne Saussures (1916: 23-29, 36-39) auffasst. Demnach erfasst eine diachronische Beschreibung lediglich aufeinander folgende Synchronien (Zeitpunkte) und keine stetigen Zeiträume.

Lexikalische

Filiation

195

tive, ein Beispiel für eine setnasiologisch beobachtbare Folge von lexikalischer Innovation und lexikalischem Schwund. Auch Inhalte werden häufig mit neuen Formen bezeichnet, die neben den alten zunächst koexistieren und diese sodann auch oft - aber nicht immer - ablösen. Anhand von Beispiel (3') lässt sich dieser onomasiologische Mechanismus erläutern. (3')

Lexikalische Innovation / lexikalischer Schwund: onomasiologische Perspektive KOPF: lt. caput - » afr. chef / teste fr. tête

In einer onomasiologischen Perspektive ändert sich die Bezeichnung für den KOPF in der Entwicklung vom Lateinischen zum heutigen Französischen dahingehend, dass sich neben dem ursprünglichen Ausdruck caput, später chef, die Bezeichnung mit afr. teste (< lt. testa) eingebürgert hat (vgl. (3')) - einem Wort, das ursprünglich 'Scherbe' und 'Tongefäß' bedeutete, aber bereits im Vulgärlateinischen den Inhalt 'Schädel' angenommen hatte. Eine Zeit lang konnten beide Ausdrücke chef und teste (später tête) für die Bezeichnung des KOPFes verwendet werden, im heutigen Französischen jedoch bezeichnet man diesen Inhalt nicht mehr mit chef, sondern nur noch mit dem lexikalischen Ausdruck tête. (3') ist daher ein Beispiel von Bezeichnungsinnovation gefolgt von Bezeichnungsschwund, d.h. - metasprachlich - für eine onomasiologisch beobachtbare Folge von lexikalischer Innovation und lexikalischem Schwund. Analog zu Blanks und Wilkins' Darstellung des Ablaufs des semasiologischen Wandels lässt sich also annehmen, dass lexikalischer Wandel entweder lexikalische Innovation oder lexikalischer Schwund ist.5 Im Folgenden geht es neben der lexikalischen Kontinuität nur um lexikalische Innovation.

2.2. Lexikalische Einheiten und lexikalische Elemente: ein Zeichenmodell Ein Modell, das lexikalische Entwicklungen sowohl aus semasiologischer als auch aus onomasiologischer Perspektive erfassen kann, setzt voraus, das lexikalische Zeichen nicht als Lexem, sondern als lexikalische Einheit zu definieren (vgl. Cruse 1986: 76; Lipka 1992: 130-132). Unter einem Lexem versteht man in der Regel eine lexikalische Form mitsamt ihrer kompletten Inhaltsseite, d.h. einschließlich einer oder mehrerer Bedeutungen (z.B. sp. éxito 'Ausgang einer Angelegenheit' / 'Erfolg'). Damit wird klar, dass das Lexem ein semasiologisch konzipiertes lexikalisches Zeichen ist, für dessen Definition das Kriterium der lexikalischen Form entscheidend ist. Abb. 5 ist eine vereinfachte Darstellung (nur zwei Bedeutungen) des Lexems sp. éxito 'Ausgang von x' / 'Erfolg':

5

Lexikalische Innovation kann man diachronisch aus einer retrospektiven Sichtweise - von einer relativen Zukunft in eine relative Vergangenheit - feststellen, lexikalischen Schwund hingegen aus einer prospektiven - von einer relativen Vergangenheit in eine relative Zukunft (vgl. Saussure 1916: 128). Logischerweise liegt ja der Entstehungszeitpunkt einer Lexie am Beginn ihrer Existenz, ihr Schwundzeitpunkt dagegen an deren Ende. Also wird ein Zeitpunkt, in dem die entsprechende Lexie existiert, entweder mit einem Zeitpunkt verglichen, an dem sie noch nicht existiert (relative Vergangenheit - Innovation) oder mit einem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr existiert (relative Zukunft - Schwund).

Paul Gévaudan

196 sp. éxito

Abb. 5: Das Lexem sp. éxito

Die lexikalische Einheit dagegen ist, Cruse (1986: 76) zufolge, „the union of a lexical form and a single sense", d.h. die Verbindung zwischen genau einem Ausdruck und genau einem Inhalt. Dieser Definition entspricht die folgende graphische Darstellung: lexikalischer Inhalt

lexikalische Einheit

lexikalischer Ausdruck

Abb. 6: Die lexikalische Einheit und ihre Bestandteile

Die lexikalische Einheit definiert sich als eine Ausdrucks-/Inhalts-Beziehung. Diese l:l-Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt neutralisiert den Antagonismus zwischen Semasiologie und Onomasiologie. Demnach handelt es sich bei sp. éxito 'Ausgang einer Angelegenheit' um eine lexikalische Einheit, bei sp. éxito 'Erfolg' um eine andere lexikalische Einheit und bei sp. suceso 'Erfolg' um eine dritte lexikalische Einheit. Dass sowohl beide lexikalische Einheiten mit der Form éxito als auch beide lexikalischen Einheiten mit dem Inhalt 'Erfolg' in besonderer Weise zusammenhängen, bleibt davon unberührt, ist jedoch von einer jeweils semasiologischen bzw. onomasiologischen Sichtweise abhängig. Auf der Grundlage des Modells der lexikalischen Einheit können Phänomene wie Polysemie und Synonymie zwar problemlos dargestellt werden; es handelt sich dann aber um sekundäre Rekonstruktionen lexikalischer Strukturen. So definiert Cruse (1986: 76) polyseme Lexeme als „a family of lexical units". Das Gleiche gilt auch in Bezug auf Synonymgruppen. Im Gegensatz zu den polysemen Lexemen, die eine semasiologische Regruppierung von lexikalischen Einheiten darstellen, sind diese onomasiologisch gebündelt. Solche „Querverbindungen" zwischen lexikalischen Einheiten stellt Abb. 7 dar: sp. éxito

'Ausgang v. x'

sp. suceso

'Erfolg'

Abb. 7: Querverbindungen zwischen lexikalischen Einheiten

Angesichts solcher Zusammenhänge müssen lexikalische Inhalte und lexikalische Ausdrücke bereits für sich genommen lexikalischen Status haben, da sie im Prinzip in verschiedenen lexikalischen Einheiten eingebunden sein können 6 - dies bedeutet, dass die Entstehung oder der Schwund einer lexikalischen Einheit nicht notwendigerweise zur Entstehung oder

6

Natürlich muss ein lexikalischer Ausdruck mindestens ein lexikalisches Inhaltskorrelat haben und umgekehrt.

Lexikalische Filiation

197

zum Schwund der damit verbundenen Inhalte oder Ausdrücke führt. Tatsächlich gab es im Altspanischen noch keine lexikalische" Beziehung zwischen éxito und 'Erfolg', obwohl sowohl der Ausdruck als auch der Inhalt bereits früher existierten. Man kann lexikalisierte Inhalte und Ausdrücke daher als lexikalische Elemente bezeichnen. Dies impliziert, dass ein lexikalisches Element in mindestens eine lexikalische Einheit eingebunden ist. In diesem Sinne ist der gesamte Wortschatz ein Inventar von lexikalischen Einheiten, aus dem sich jeweils ein Inventar von lexikalischen Inhalten und ein Inventar von lexikalischen Ausdrücken ableiten lässt.

2.3. Einheitliche Darstellung von lexikalischer Innovation und lexikalischer Kontinuität Auf der Grundlage der semiotischen Überlegungen des vorhergehenden Unterabschnitts 2.2. ergibt sich ein Ansatz, um die Probleme zu lösen, die in Abschnitt 1 ersichtlich wurden. Als grundlegendes lexikalisches Zeichenmodell erlaubt es die lexikalische Einheit, verschiedene Typen lexikalischer Entwicklungen nach einem einheitlichen, neutralen Schema zu beschreiben, nämlich als Entstehung einer lexikalischen Einheit. Sowohl Beispiel (2) lt. caput 'Kopf -> sp. cabo 'Ende' (Abb. 8, linke Seite) als auch Beispiel (3) KOPF: lt. caput -> fr. tête (Abb. 8, rechte Seite) können auf diese Weise dargestellt werden. lt. caput

sp. cabo

'Kopf 1ι

'Ende' ι1

t.

tj

t *

.'Kopf

'Kopf

lt. caput 11

fr. tête 11

t,

t2

k*

Abb. 8: Bedeutungs- und Bezeichungsinnovation als Entstehung einer lexikalischen Einheit

In beiden Fällen sieht man, dass zum Zeitpunkt t2 eine lexikalische Einheit vorhanden ist, die es zum Zeitpunkt t, nicht gab, im einen Fall ist es sp. cabo 'Ende', im anderen fr. tête 'Kopf. Abb. 8 macht deutlich, dass Bezeichnungswandel und Bedeutungswandel mit dem semiotischen Modell der lexikalischen Einheit nach dem gleichen Muster beschrieben werden können. Auch Fälle des Typs (1) lt. caput 'Kopf -» kat. cap 'Kopf und (4) sp. cabo 'Ende' -» sp. acabar 'beenden' lassen sich auf diese Weise darstellen: lt. caput

cat. cap

'Kopf 11

'Kopf 11

ti

t2

t

*

lt. caput

sp. acabar

'Kopf

'beenden'

11

11

t.

t2

k*

Abb. 9: Lexikalische Kontinuität und lexikalische Innovation des Typs (4)

Paul Gévaudan

198

Anders als bei den Beispielen (2) und (3) in Abb. 8 liegt bei Beispiel (1) keine Innovation, sondern Kontinuität vor (Abb. 9, linke Seite). Dies bedeutet, dass die lexikalische Einheit, die sich zum Zeitpunkt t2 als kat. cap 'Kopf manifestiert, zum Zeitpunkt ti bereits als lt. caput 'Kopf existiert. Bemerkenswert ist die Beschreibung von Beispiel (4), das semasiologischen und onomasiologischen Beschreibungen trotzt.7 Hier (Abb. 9, rechte Seite) lässt sich dieses Beispiel, genauso wie die Beispiele (2) und (3), einfach als Entstehung einer neuen lexikalischen Einheit zu einem Zeitpunkt t 2 darstellen. Zum ersten Mal haben wir hier also eine semiotisch einheitliche Darstellung der Beispiele (1) bis (4) aus Abschnitt 1. Im Folgenden will ich zeigen, dass Semasiologie und Onomasiologie damit nicht „Uberwunden", sondern durch ihre Synthese im Filiationsmodell integriert werden.

2.4. Onomasiologische und semasiologische Innovation: zwei Aspekte der Entstehung lexikalischer Einheiten In letzter Konsequenz führt diese Beschreibung des Bedeutungs- und Bezeichnungswandels zu der Erkenntnis, dass es sich dabei jeweils um Aspekte der Entstehung (oder des Schwundes) einer lexikalischen Einheit handelt. Diesen Zusammenhang machen die Beispiele (3") noch deutlicher. (3") a. KÖPF: lt. caput -> fr. tête b. vit. testa 'Schädel' -> fr. tête 'Kopf

Aus onomasiologischer Perspektive hat sich für das Konzept KOPF, das zunächst mit dem lateinischen Ausdruck caput bezeichnet wurde, im Französischen der Ausdruck tête eingebürgert (3a"). Semasiologisch gesehen ist die lexikalische Einheit fr. tête 'Kopf hingegen eine lexikalische Innovation auf der Grundlage von vit. testa 'Schädel' (3b"). Den Zusammenhang von Bedeutungs- und Bezeichnungsinnovation kann man mit Hilfe des Scherenmodells von Koch (vgl. Koch 1999b: Fig. 1 und Einleitung zu diesem Band) wie in Abb. 10 darstellen: ca—'

SCHÄDEL

Abb. 10: Onomasiologische und semasiologische Innovation im Scherenmodell

7

Eine onomasiologische Darstellung der Entstehung von sp. acabar 'beenden' ist zwar möglich lt. finire -> sp. acabar, wobei sp. finir (< Μ. finire) und auch sp. terminar ( fr. voleur

b. fr. voler 'stehlen' —> fr. voleur 'Dieb'

Im Altfranzösischen wurde Ierre als Bezeichnung für 'Dieb' allmählich vom Ausdruck voleur verdrängt (5a), der durch Wortbildung aus dem Verb voler 'stehlen' entstanden war (5b). Koch (1999b: Fig. 2) stellt diesen Zusammenhang in etwa wie in der folgenden Abb. 11 dar: afr. Ierre ^ onomas. I n n o v / ^ -

DIEB

fr. voleur Wort bildung

STEHLEN

fr. voler Abb. 11 : Onomasiologischer Wandel und Wortbildung

Unbestreitbar liegt hier eine Bezeichnungsinnovation vor (5a). Von Bedeutungswandel zu sprechen wäre jedoch nicht richtig, denn dem Ausdruck voler wird kein neuer Inhalt zuge8

Wenn beide Elemente der lexikalischen Einheit bereits existieren, ist demzufolge sowohl eine onomasiologische als auch eine semasiologische Darstellung ihrer Entstehung möglich.

Paul Gévaudan

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ordnet - er ist lediglich der Ausgangspunkt für die Bildung einer neuen Form (5b). Die Implikation besteht hier also nicht zwischen Bezeichnungs- und Bedeutungsinnovation, sondern zwischen Bezeichnungsinnovation und morphologischer Innovation. Als morphologische Innovation muss man (im Sinne von 2.1.) das Hinzukommen eines Elements zum Inventar der lexikalischen Ausdrücke auffassen. Beispiel (5b) kann als Beleg dafür aufgefasst werden, dass dem Inventar der lexikalischen Ausdrücke im Französischen eine neue Form (voleur) hinzugefügt wurde. Gemeinsam ist den in Abb. 10 und Abb. 11 dargestellten Prozessen natürlich Folgendes: Jeder dieser Prozesse, ob Bedeutungs- (Abb. 10), Bezeichnungs(Abb. 10 und 11) oder morphologische Innovation (Abb. 11), impliziert die Entstehung einer neuen lexikalischen Einheit. Ein weiterer Fall von lexikalischer Innovation ist mit dem Hinzukommen einer Bedeutung zum Inventar der lexikalischen Inhalte verbunden·. Der Einzug des Inhalts 'Computermaus' in das Französische, der Ende der 1980er Jahre mit der Entstehung der lexikalischen Einheit souris 'Computermaus' einherging (6), führte zu einer Erweiterung des Inventars der lexikalischen Inhalte. Man kann hier nicht von onomasiologischer Innovation sprechen, da der Inhalt zuvor gar nicht existierte, wohl aber von einer semantischen Innovation. Während man also bei Fällen des Typs (5) von morphologischer und Bezeichnungsinnovation, nicht jedoch von Bedeutungsinnovation sprechen kann, liegt umgekehrt in Fällen des Typs (6) keine Bezeichnungsinnovation, wohl aber Bedeutungs- und semantische Innovation vor. (6)

fr. souris 'Maus' -> fr. souris 'Computermaus'

Zur Komplettierung aller möglichen Fälle sollte noch die Entstehung einer lexikalischen Einheit gezeigt werden, die mit der Entstehung eines neuen Ausdrucks und eines neuen Inhalts verbunden ist. Ein Beispiel hierfür ist die Entstehung der lexikalischen Einheit fr. logiciel 'Software': (7)

fr. logique 'logisch' -> fr. logiciel 'Software'

Sowohl die Form logiciel als auch der Inhalt 'Software' gehen mit der Bildung dieser lexikalischen Einheit neu in die entsprechenden Inventare lexikalischer Formen und lexikalischer Inhalte ein. Hier impliziert die Entstehung einer lexikalischen Einheit weder Bedeutungs- noch Bezeichnungs-, wohl aber morphologische und semantische Innovation. In Abschnitt 3.2. wird noch zu sehen sein, dass der rein morphologischen und der rein semantischen Perspektive auf lexikalische Zeichen im Rahmen des Filiationsmodells eine besondere Rolle zukommt. Zusammen mit der semasiologischen und der onomasiologischen bilden die semantische und die morphologische Perspektive die vier Grundbetrachtungsweisen auf sprachliche Zeichen (vgl. Coseriu 1964: 161-164; Schifko 1975: 30-32).9 Die Diskussion der Beispiele (3a"), (3b"), (5b), (6) und (7) hat uns die Hypothese nahegelegt, dass alle vier Grundperspektiven auf das lexikalische Zeichen im Zusammenhang mit Innovationen lediglich Aspekte der Entstehung neuer lexikalischer Einheiten darstellen. Betrachtet man diese Beispiele also unter der Maßgabe der Kriterien der Entstehung einer neuen Inhalts- / Ausdrucksbeziehung (d.h. einer neuen lexikalischen Einheit), eines neuen Ausdrucks oder eines neuen Inhalts (also der Erweiterung eines lexikalischen Inventars im

9

Man kann dies auch folgendermaßen skizzieren: Semasiologie = A(usdruck) —» I(nhalt), Onomasiologie = I -> A, morphologische Perspektive = A -> A, semantische Perspektive I —> I.

Lexikalische Filiation

201

Sinne von 2.2.), müsste sich zeigen, dass alle semiotischen Perspektiven der lexikalischen Innovation sich an der Entstehung einer neuen lexikalischen Einheit festmachen lassen: Beispiel

I - A neu

A neu

I neu

(3a") KOPF: lt. caput -> it. testa

+

-

-

(3b") vit. testa 'Schädel' -> fr. tête 'Kopf

+

-

-

(5b) fr. voler 'stehlen'

+

+

-

(6) fr. souris 'Maus' -> fr. souris 'Computermaus'

+

-

+

(7) fr. logique 'logisch' —>'fr. logiciel 'Software'

+

+

+

fr. voleur 'Dieb'

Abb. 12: Vier Typen lexikalischer Innovation als Entstehung einer lexikalischen Einheit

Tatsächlich zeigt Abb. 12, dass jeder Typ der lexikalischen Innovation, der aus einer der vier möglichen Perspektiven auf den lexikalischen Wandel feststellbar ist, die Entstehung einer Inhalts- / Ausdrucksbeziehung (I-A) impliziert. Anders gesagt: jede Erweiterung eines lexikalischen Inventars durch ein neues lexikalisches Element geht mit der Entstehung einer neuen lexikalischen Einheit einher. Mit dieser Feststellung ist eine wichtige Grundlage für den Begriff der lexikalischen Filiation gelegt. Filiation beschreibt nämlich die Entstehung oder die Weiterverwendung von lexikalischen Einheiten, ohne dabei den Blickwinkel auf eine bestimmte semiotische Perspektive zu verengen. Im folgenden Abschnitt 3 möchte ich zeigen, dass die Weiterführung und die Entstehung lexikalischer Einheiten auf der Grundlage bereits existierender lexikalischer Einheiten in d e r R e d e stattfindet und wie man auf dem Filiationsbegriff aufbauend ein alle Facetten der lexikalischen Entwicklung einbeziehendes Klassifikationssystem erstellen kann.

3. Ebenen der Filiation und Klassifikation lexikalischer Entwicklungen

Im ersten Abschnitt haben wir gesehen, dass die traditionellen semasiologischen und onomasiologischen Methoden bei der Beschreibung des lexikalischen Wandels versagen, weil sie Fälle des Typs (4) sp. cabo 'Ende' —> sp. acabar 'beenden' nicht beschreiben können. Im zweiten Abschnitt wurden die Ursachen dafür erläutert, wobei die zentrale Erkenntnis darin bestand, dass lexikalischer Wandel keine allmähliche Veränderung von Lexien, sondern Innovation und Schwund, d.h. Entstehen und Vergehen von lexikalischen Einheiten ist. Dies impliziert Veränderungen, die in bestimmten semiotischen Einzelperspektiven ersichtlich werden. Weiterhin wurde geklärt, dass das Modell der Filiation nur lexikalische Kontinuität und lexikalische Innovation, nicht aber lexikalischen Schwund beschreibt. Dies hängt damit zusammen, dass die Filiation die Herkunft einer lexikalischen Einheit auf der Grundlage einer anderen lexikalischen Einheit darstellt. Bei Schwund ist zwar ein Ausgangspunkt vorhanden, aber kein Endpunkt (vgl. afr. moult 'viel' —> 0 ) . Bei lexikalischer Kontinuität

Paul Gévaudan

202

und lexikalischer Innovation kann man hingegen einen Ausgangs- und einen Endpunkt miteinander verbinden. Der Ursprung einer lexikalischen Einheit ist ihre Entstehung in der Rede auf der Grundlage einer anderen lexikalischen Einheit, die als ihr diachronischer Vorgänger angesehen werden muss (3.1.)· Die Beziehungen zwischen einer lexikalischen Einheit und ihrem Vorgänger lassen sich sodann semantisch und morphologisch analysieren (3.2.) und kreuzklassifikatorisch zusammenfassen (3.3.). In einer dritten Dimension lässt sich erfassen, ob Entlehnung oder innersprachliche Entwicklung vorliegt (3.4.).

3.1. Vorgänger und Nachfolger: Entstehung und Fortführung lexikalischer Einheiten in der Rede Der Ursprung aller lexikalischen Entwicklungen liegt zweifellos im Sprachgebrauch, d.h auf der Ebene der parole}0 Lexikalische Innovation und lexikalischer Schwund können auf den zunehmenden bzw. abnehmenden, lexikalische Kontinuität auf den regelmäßigen Gebrauch von Inhalts- / Ausdrucksbeziehungen in der Rede zurückgeführt werden. Für lexikalische Innovationen gilt außerdem, dass v o r ihrer Lexikalisierung zunächst einmal ihre Entstehung liegt. In den Worten von Koch / Oesterreicher (1996: 75): Entscheidend ist aber, daß wir es [...] mit zwei aufeinanderfolgenden, deutlich verschiedenen Prozessen zu tun haben: 1. pragmatisch-situativ verankerte ad-hoc-Bildung [...]; 2. Lexikalisierung oder Grammatikalisierung dieser Bildung, die damit als Innovation in die Einzelsprache Eingang gefunden hat.

Die ad-hoc-Bildung ist die Grundlage, auf der bereits die Philologen und Sprachforscher des neunzehnten Jahrhunderts ihre Klassifikationen des Bedeutungswandels vorgenommen haben." Sie hatten erkannt, dass Innovationen im Lexikon auf Innovationen in der Rede zurückzuführen sind und klassifizierten Bedeutungswandel daher auf der Grundlage von Redetechniken, vornehmlich rhetorischen Tropen.12 Auch in der neueren historischen Lexikologie geht es hauptsächlich um die Klassifizierung von Innovationen auf der Grundlage ihrer Entstehung in der Rede (vgl. Blank 1997; Geeraerts 1997; Fritz 1998). Für das Modell der Filiation ist das Geschehen auf der Ebene der parole maßgebend, weil sich hier die Verbindung zwischen zwei lexikalischen Einheiten ergibt, die als Vorgänger und Nachfolger im Rahmen einer Filiationsbeziehung fungieren. Vergegenwärtigen wir uns zur Erläuterung dieses Sachverhalts noch einmal die Beispiele (1) und (4). (1) (4)

10

11

12

lt. caput 'Kopf -> kat. cap 'Kopf sp. cabo 'Ende' —> sp. acabar 'beenden'

Zwar lässt sich ohne den langue-Begriff keine Lexikologie machen, ohne reale Kommunikation (parole) lässt sich jedoch keine langue abstrahieren (vgl. Saussure 1916: 27-39, Coseriu 1952). Vgl. u.a. Darmesteter 1923; Bréal 1899; Ullmann 1957. Für einen Überblick über die Geschichte der historischen Semantik vgl. Kronasser 1952; Neriich 1992; Blank 1997: Kapitel I. Genau genommen kann man diese Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Begriff der Katachrese (Versprachlichung eines Konzepts, das bisher nicht lexikalisch ausgedrückt werden konnte) bereits bei den antiken Rhetorikern Cicero und Quintilian, sowie bei Dumarsais herauslesen (vgl. dazu Blank 1997: 9f.).

Lexikalische Filiation

203

Die semantisch und morphologisch unveränderte Fortführung von lt. caput 'Kopf zu kat. cap 'Kopf (1) geht darauf zurück, dass in der Rede immer wieder die ursprüngliche Bedeutung 'Kopf mit dem ursprünglichen Morphem caput / cap versprachlicht wurde. Die Kontinuität dieser lexikalischen Einheit ist also das Ergebnis ihres fortgesetzten normgerechten Gebrauchs. Die lexikalische Einheit sp. acabar 'beenden' (2) dagegen ist zunächst in Folge eines normabweichenden Sprechakts entstanden und wurde anschließend durch zunehmenden Gebrauch in der Rede lexikalisiert.13 Betrachten wir nun diesen ersten nonnabweichenden und damit schöpferischen Sprechakt: Der Sprecher möchte den Inhalt 'beenden' neu bezeichnen,14 sucht eine semantisch assoziierbare lexikalische Einheit - also eine lexikalische Einheit, deren Inhalt mit dem Konzept BEENDEN in Verbindung gebracht werden kann - und stößt auf sp. cabo 'Ende'. Dessen Ausdrucksseite verändert er morphologisch dahingehend, dass der Hörer verstehen kann, was er meint. In dem er den Wortstamm cab- präfigiert und als Verb verwendet, wird filr diesen ersichtlich, dass er nicht 'Ende', sondern 'beenden' sagen will. Da acabar 'beenden' im Spanischen lexikalisiert ist, kann man im Nachhinein feststellen, dass sp. cabo 'Ende' der Vorgänger dieser lexikalischen Einheit ist. Der Vorgänger im Filiations-Modell ist eine lexikalische Einheit und unterscheidet sich damit vom klassischen Etymon, bei dem es sich um einen lexikalischen Ausdruck handelt. Nach etymologischen Gesichtspunkten kann lt. caput als Etymon von sp. acabar gelten, weil die semantische Dimension in der Etymologie eine untergeordnete Rolle spielt und cabo mit caput gleichgesetzt wird. Im Filiationsmodell ist diese Gleichsetzung nicht möglich, da sp. cabo 'Ende' bereits eine lexikalische Innovation darstellt und somit zwei FiliationsscAr/'rte vorliegen: lt. caput 'Kopf —> sp. cabo 'Ende' —• sp. acabar 'beenden'. Das Szenario der normabweichenden Rede verdeutlicht, dass Onomasiologie und Semasiologie auf der Ebene der parole einen ganz anderen Stellenwert bekommen als auf der Ebene der langue. Der Sprecher handelt in einer der onomasiologischen Sichtweise entsprechenden enkodierenden, der Hörer in einer der semasiologischen Sichtweise entsprechenden dekodierenden Perspektive. Da lexikalische Innovationen überwiegend sprecherinduziert sind, hat die Onomasiologie auf der Ebene der parole eine hervorragende Bedeutung (vgl. Detges / Waltereit; Koch im Druck, 19f.; Geeraerts 1997: 102ff.).15 Wir stellen also folgendes fest: (a) Lexikalische Kontinuität ist auf normgerechte, lexikalische Innovation auf normabweichende Rede zurückzuführen. (b) Onomasiologie und Semasiologie bekommen auf der Ebene der parole einen anderen Stellenwert als auf der Ebene der langue.

13

14

15

Norm kann hier im Sinne von Coseriu 1952 (norma) verstanden werden, d.h. als Teilmenge derjenigen Gesetzmäßigkeiten, die den Saussureschen langue-Begriff ausmachen. Warum er das tun will, obwohl es im Altspanischen auch die Bezeichnungen finir und terminar gibt, gehört hier nicht zur Fragestellung (vgl. hierzu Detges / Waltereit). Bei normgerechter Rede (Resultat: lexikalische Kontinuität) stellen die onomasiologische Analyse des Sprechens und die semasiologische Analyse des Hörens jeweils Übereinstimmung mit der Norm fest ('Kopf - » cap; cap —> 'Kopf).

204

Paul Gévaudan

(c) Sowohl normabweichende als auch normgerechte Kommunikation stützen sich auf vorhandene lexikalische Einheiten.16 Extrapoliert man die Festellung (c), die für die Ebene der parole gilt und damit synchronisch ist, auf die diachronische Ebene der langue, gelangt man zu dem Schluss, dass jede lexikalische Einheit der diachronische Nachfolger eines bestimmten Vorgängers ist. Mit anderen Worten: jede lexikalische Einheit besitzt einen Vorgänger - dieser kann mit ihr identisch sein (lexikalische Kontinuität) oder nicht (lexikalische Innovation).

3.2. Morphologische und semantische Ebene der Filiation Das Filiationsverhältnis einer lexikalischen Einheit zu ihrem diachronischen Vorgänger kann morphologisch, semantisch und, wie ich in Abschnitt 3.4. noch zeigen möchte, in Bezug auf die Herkunft des Vorgängers analysiert werden. In diesem Abschnitt geht es um semantische und morphologische Filiation. Tatsächlich lassen sich im Beziehungsgeflecht eines Filiationsschritts zwischen Vorgänger und Nachfolger jeweils eine inhalts- und eine ausdrucksseitige Relation isolieren. Man erinnere sich an das Szenario der Entstehung von sp. acabar 'beenden' in der Rede: Sowohl zwischen cabo und acabar als auch zwischen 'Ende' und 'beenden' gibt es eine bestimmte Beziehung - genau dadurch wird ja dem Hörer das Verstehen normabweichender Äußerungen des Sprechers überhaupt erst ermöglicht. Abb. 13 zeigt die semantischen und die morphologischen Beziehungen zwischen Vorgänger und Nachfolger für die Beispiele (1) lt. caput 'Kopf - » kat. cap 'Kopf und (4) sp. cabo 'Ende' -> sp. acabar 'beenden':

Abb. 13: morphologische und semantische Filiation

Vergleicht man jeweils Ausdruck und Inhalt des Vorgängers und Nachfolgers in Beispiel (1) ergibt sich, dass die semantische und die morphologische Filiationsbeziehung zwischen Vorgänger und Nachfolger jeweils Identität ist. Wenn nicht auf beiden Ebenen Identität vorliegt, handelt es sich um lexikalische Innovation. In Beispiel (4) ist sowohl semantisch als auch morphologisch eine Abweichung zwischen Vorgänger und Nachfolger zu vermelden - die semantische Filiationsbeziehung ist eine auf Kontiguitätsassoziationen beruhende semantische Übertragung, 17 die morphologische Filiationsbeziehung eine Affigierung.

16 17

Ausnahme bei der normabweichenden Rede: Onomatopoetika und ähnliche Urschöpfungen. Kontiguität (lt. contiguus 'benachbart'), das Assoziationsverhältnis zwischen Konzepten, die innerhalb eines Frames zueinander in Beziehung stehen (vgl. Waltereit 1998: 16-19; Koch 1999a),

Lexikalische Filiation

205

Lexikalische Innovation bedingt jedoch lediglich, dass auf einer der beiden Ebenen Ungleichheit vorliegt. Dies gilt etwa für Beispiel (3) lt. caput 'Kopf -> sp. cabo 'Ende', wo zwar morphologische, aber keine semantische Identität zwischen Vorgänger und Nachfolger festzustellen ist - der Nachfolger ist hier vom Vorgänger aufgrund einer Similaritätsbeziehung abgeleitet.18 Den umgekehrten Fall, in dem semantische, jedoch keine morphologische Übereinstimmung zwischen Vorgänger und Nachfolger besteht, dokumentiert Beispiel (8): (8) afr. vis 'Gesicht'

fr.

visage 'Gesicht'

Hier sind Vorgänger und Nachfolger semantisch identisch ('Gesicht'), der Nachfolger ist jedoch morphologisch aus einer Suffigierung des Vorgängers hervorgegangen. In diesem (relativ seltenen) Fall wird eine neue Bezeichnung auf der Grundlage des verbum proprium (d.h. der bisher „eigentlichen" Bezeichnung) gebildet. Die gesonderte Betrachtung der semantischen und der morphologischen Ebene der Filiation ist, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen möchte, die Voraussetzung für ein umfassendes Klassifikationssystem des lexikalischen Wandels.

3.3. Morpho-semantische Rasterklassifikation Das Prinzip der Rasterklassifikation sieht vor, dass die Ebenen der Filiation zunächst separat untersucht werden, um dann kreuzklassifikatorisch in einen kombinierten Befund überführt zu werden. Voraussetzung dafür ist, dass für die semantische und die morphologische Filiation jeweils mögliche Relationen typisiert sind. Die Diskussion dieser umfassenden Typisierungen semantischer und morphologischer Relationen würde hier zu weit führen." Ich möchte das Verfahren der morpho-semantischen Kreuzklassifikation stattdessen beispielhaft anhand von drei semantischen (neben der Identität die bekannten Relationen Kontiguität und Similarität, vgl. dazu Ullmann 1957; Koch 1994, 1996; 1999a, 2000; Blank 1997; Geeraerts 1997) und zwei morphologischen Relationen (Identitäts- und Affigierungsbeziehungen) erläutern. Eine Analyse der Fälle (1), (2), (3b"), (4), (8) und (9) führt in diesem Sinne zu der in Abb. 14 dargestellten Rasterklassifikation. Die Spalten der Tabelle repräsentieren semantische Relationen, während die Zeilen morphologische Beziehungen darstellen. Anders gesagt: Die Spalten stehen für semantische, die Zeilen für morphologische Filiation. Das obere linke Feld, in dem sich semantische und morphologische Identität kreuzen, zeigt die Kategorie der lexikalischen Kontinuität, während alle anderen Felder verschiedene Typen von lexikalischer Innovation darstellen.

18

19

ist die kognitive Grundlage der Metonymie, die in der Regel als rhetorische Übertragung eines neuen Inhalts für einen gegebenen Ausdruck verstanden wird. Similaritätsassoziationen entstehen aufgrund von Ähnlichkeit (lt. similis 'ähnlich') oder Analogie. Sie bilden die kognitive Grundlage von Metaphern (vgl. auch Anm. 15). Vgl. hierzu Gévaudan (in Vorbereitung: Kap. 3-5).

206

Paul Gévaudan

Identität

Affigierung



Identität

Kontiguität

Similari tät

. ..

(1) lt. caput 'Kopf

(3b") vit. testa 'Schädel'

(2) lt. caput 'Kopf

. ..

- » kat. cap 'Kopf

-> fr. tête 'Kopf

-> sp. cabo 'Ende'

(8) afr. vis 'Gesicht'

(4) sp. cabo 'Ende' - »

(9) sp. nabo 'Steckrübe'

-> fr. visage 'Gesicht'

sp. acabar 'beenden'

—» sp. nabato 'Rückgrat'

;

;

. ..



Abb. 14: Kreuzklassifikatorische Analyse der Beispiele (1), (2), (3b"), (4), (8) und (9)

Beispiel (1) (erste Zeile, erste Spalte) ist ein Fall von lexikalischer Kontinuität, weil kat. cap 'Kopf sowohl in semantischer als auch in morphologischer Hinsicht mit seinem Vorgänger lt. caput 'Kopf identisch ist. Die beiden anderen Fälle der ersten Zeile, die mit morphologischer Identität verbunden sind (3b" und 2), entsprechen dem traditionellen Bedeutungswandel, wo der Ausdruck des Nachfolgers mit dem seines Vorgängers gleichgesetzt werden kann, die Inhalte von Vorgänger und Nachfolger jedoch voneinander abweichen. In der traditionellen Terminologie (vgl. u.a. Ullmann 1957) ist (3b") (erste Zeile, zweite Spalte) ein Fall von Metonymie (kontiguitätsbasierter Bedeutungswandel, vgl. Blank 1997: 235238) und (2) (erste Zeile, dritte Spalte) ein Fall von Metapher (similaritätsbasierter Bedeutungswandel, vgl. Blank 1997: 160-163). Dass semantische Identität nicht mit morphologischer Identität verbunden sein muss, zeigt Beispiel (8) (zweite Zeile, erste Spalte), wo das Morphem des Vorgängers, vis, durch Suffigierung erweitert wurde, ohne dass es zu semantischen Veränderungen kam. Veränderungen auf der semantischen und morphologischen Ebene liegen in Spalte zwei und drei der zweiten Zeile vor. In Beispiel (8) (zweite Zeile, erste Spalte) ist die Affigierung mit einer kontiguitätsbasierten semantischen Übertragung verbunden. Der bisher noch nicht eigens diskutierte Fall (9) sp. nabato 'Rückgrat' ist eine in der Gegend von Granada belegte lexikalischen Einheit, die auf sp. nabo 'Steckrübe' zurückzuführen ist. Hier haben die Sprecher in scherzhafter Absicht eine Metapher kreiert, die auf morphologischer Ebene mit einer Suffigierung kombiniert ist. (9)

sp. nabo 'Steckrübe' —> sp. nabato 'Rückgrat'

Das Analyseraster in Abb. 14 ist exemplarisch und insofern unvollständig als nicht alle Typen von semantischer und morphologischer Filiation dargestellt sind (dies wird durch die Punkte in der fünften Spalte und in der vierten Zeile von Abb. 14 angedeutet). Dennoch sollte erkennbar werden, dass das Prinzip der Kreuzklassifizierung, gepaart mit typisierten Relationen auf den jeweiligen Ebenen der Filiation, ein heuristisches Raster bildet, das Kategorien für alle denkbaren Fälle von lexikalischer Filiation bereit stellt. Ob für alle diese Kategorien auch Fälle existieren, können nur empirische Studien klären, die über das hier gebotene Maß an quantitativer Erhebung hinausgehen.20 Auch Aussagen über quantitative

20

In gewisser Weise lässt sich dies rtiit dem Periodensystem der Elemente in der Chemie vergleichen, wo nicht alle existierenden bzw. nachgewiesenen, sondern alle denkbaren Elemente eingeordnet werden können.

Lexikalische Filiation

207

Unterschiede im Vorkommen bestimmter Filiationen, d.h. bestimmter Kombinationen zwischen semantischer und morphologischer Filiation, kann das Klassifikationsraster nicht machen. Die in Beispiel (9) auftretende Kombination von Suffigierung und metaphorischer Similarität etwa ist im Vergleich zur Kombination zwischen Suffigierung und anderen semantischen Relationen sehr selten. Die Felder des Klassifikationsrasters lassen sich gemäß der Formel (10) in einer linearen Notation darstellen: (10) [Vorgänger] >[semantische Filiation],[morphologische Filiation]> [Nachfolger] Die eckigen Klammern stehen nur in der abstrakten Formel und bedeuten, dass an den betreffenden Stellen variable Werte einzufügen sind. Innerhalb des Analyseblocks (>...>) werden die Ebenen der Filiation durch einen Punkt getrennt, wobei sie sich dadurch erkennen lassen, dass die Angabe zur semantischen Filiation immer an erster Stelle und die Angabe zur morphologischen Filiation immer an zweiter Stelle steht: (9')

sp. nabo 'Steckrübe' >Similarität.Affigierung> sp. nabato 'Rückgrat'

Mit der Rasteranalyse der semantischen und morphologischen Filiation lassen sich Fälle von lexikalischer Kontinuität (vgl. Abb. 13, erste Zeile, erste Spalte), Bedeutungswandel (erste Zeile, zweite und dritte Spalte) und Wortbildung (zweite Zeile) einheitlich klassifizieren - also können diese Phänomene in Zukunft auf der Grundlage einer Methode untersucht werden. Um Phänomene wie Entlehnungen zu erfassen, muss jedoch eine weitere Ebene der Filiation berücksichtigt werden, um die es im folgenden Abschnitt geht.

3.4. Stratifikation: die dritte Dimension der Filiation Als letzten Aspekt der Filiation möchte ich nun die Stratifikation vorstellen. Wichtig ist die stratische Ebene für die Erfassung von Entlehnungen. Lexikalische Einheiten werden in der Regel mitsamt ihrer Sprache notiert, z.B. „kat. cap ' K o p f " und nicht einfach „cap ' K o p f " . Dementsprechend spielt sich Filiation, wie in Abb. 15 dargestellt, auf drei Ebenen ab: lt.

kat.

caput

Cap

'Kopf

'Kopf

Abb. 15: Drei Ebenen der Filiation In diesem Fall liegt eine erbwörtliche stratische Filiation vor, da das Katalanische genetisch in der Kontinuität des Lateins steht und die lexikalische Einheit vom Lateinischen zum Katalanischen ohne Unterbrechung immer weiter verwendet worden ist. Neben der erbwörtlichen Filiation möchte ich hier exemplarisch den Entlehnungstyp Lehnwort und seine Analyse auf der Grundlage des Filiationsmodells anhand der Beispiele (11), (12) und (13) besprechen (für andere Typen vgl. Haugen 1950; Kiesler 1993). (11) it. capra 'Ziege' -> it. capretta 'Geißiiiß (Instrument zur Holzgravur)' (12) fränk. * werra 'Wirren' -* sp .guerra 'Krieg' (13) ndl. wimbel 'Bohrer' -> afr. guimbelet 'Bohrer'

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Die Filiation von it. capretta 'Geißfuß (Instrument zur Holzgravur)' aus it. capra 'Ziege' (11) ist erbwörtlich, da sie innerhalb eines und desselben Stratums stattgefunden hat. Die Zugehörigkeit zum Stratum lässt sich als Mitgliedschaft zum betreffenden lexikalischen Inventar beschreiben - wobei auch hier der Zeitpunkt der Entstehung in der Rede entscheidend ist. Sp. guerra 'Krieg', dessen Vorgänger fränk. *werra 'Wirren' nicht zum lexikalischen Inventar des vulgärlateinisch-spanischen Stratum gehört, muss als Lehnwort angesehen werden (12). Ebenso ist afr. guimbelet 'Bohrer' ein Lehnwort, da sein Vorgänger ndl. wimbel 'Bohrer' nicht zum vulgärlateinisch-altfranzösischen Stratum gehört (13). Um Entlehnungen auf der Grundlage des Filiationsmodells zu erfassen liegt es nahe, das zweidimensionale Klassifikationsraster (Abb. 14) um die Dimension der Stratifikation zu erweitern. Dies ist in Abb. 16 angedeutet: Identität

Kontiguität

Similarity

Abb. 16: Teil des dreidimensionales Klassifikationsrasters der lexikalischen Filiation Entsprechend der Verkürzung in Abb. 15 sind auch hier nicht alle Kategorien der dritten Dimension des Modells dargestellt, sondern exemplarisch nur Stratum (Erbwort) und Entlehnung. Die lineare Notation der dreidimensionale Analyse zeigt Formel (14): (14) [Vorgänger] >[semantische Filiation],[morphologische Filiation].[stratische Filiation]> [Nachfolger] Analysiert man die Beispiele (11), (12) und (13) auf allen drei Ebenen und notiert sie auf der Basis von Formel (14) ergibt sich folgendes Bild (11'—13*). (11') it. capra 'Ziege' >Similarität.Affigierung.Erbwort> it. capretta 'Geißfuß (Holzgravur)' (12') fränk. *werra 'Wirren' >Kontiguität.Identität.Lehnwort> sp. guerra 'Krieg' (13') ndl. wimbel 'Bohrer' >Identität.Suffigierung.Lehnwort> afr. guimbelet 'Bohrer' Die dreidimensionale Klassifizierung der Entstehung der lexikalischen Einheit it. capretta 'Geißfuß (Instrument zur Holzgravur)' aus it. capra 'Ziege' führt zum Befund, dass diese Filiation auf der semantischen Ebene auf Similarität beruht (Duden, s.v. Geißfuß: „nach der Ähnlichkeit mit einem (gespaltenen) Ziegenhuf'), auf der morphologischen Ebene auf Suffigierung und auf der stratischen Ebene ein Erbwort ist (11'). Die Filiation von sp. guerra 'Krieg' aus fränk. *werra 'Wirren' beruht auf der semantischen Ebene auf Kontiguität (KRIEG hängt mit gesellschaftlichen WIRREN zusammen), auf der morphologischen Ebene liegt Identität vor (12'), auf der stratischen Ebene handelt es sich um ein Lehnwort. Anders ist die Lage bei der Filiation von afr. guimbelet 'Bohrer' aus ndl. -wimbel 'Bohrer'. Einer-

Lexikalische Filiation

209

seits ist das Wort entlehnt, zusätzlich aber suffigiert - semantisch ändert sich jedoch nichts (13·)·

4. Konklusion: Filiation, Onomasiologie und Semasiologie

Ich habe in diesem Aufsatz das diachronische Modell der Filiation erläutert und gezeigt, wie darin alle semiotischen Einzelperspektiven auf lexikalische Entwicklungen als Aspekte der Entstehung neuer bzw. der Fortführung bestehender lexikalischer Einheiten zusammengeführt werden. Auf der Grundlage dieses Modells wird es möglich, alle Arten von lexikalischem Wandel durch die Rasteranalyse der semantischen, morphologischen und stratischen Filiation einheitlich zu klassifizieren. Die Bedeutung der onomasiologischen und der semasiologischen Vorgehensweisen erscheint dabei in einem ganz neuen Licht. Auf der Ebene der langue sind die betreffenden Perspektiven vor allem interessant, um lexikalische Einheiten innerhalb von semantischen bzw. morphologischen Feldern synchronisch zu erfassen. Sie können auch als Einstiegsperspektiven von Nutzen sein, von denen aus diachronische Studien auf der Grundlage des Filiationsmodells durchgeführt werden. Erst auf der Ebene der parole wird insbesondere die Onomasiologie eigentlich interessant für diachronische Untersuchungen, da viele rhetorische Innovationen aus dieser Perspektive heraus erfolgen und damit auch zu erklären sind.

Literatur

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Lexikalische Filiation

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Ulrich Detges

(Tübingen)

La grammaticalisation des constructions de négation dans une perspective onomasiologique, ou: la déconstruction d'une illusion d'optique1

Dans son acception la plus stricte, le terme de grammaticalisation se réfère aux changements linguistiques au cours desquels un élément lexical autonome se transforme en élément grammatical. Cette définition qui remonte à Meillet (1948 [1912]: 131) a été modifiée par Lehmann (1995: 9) qui propose d'appeler grammaticalisation chaque processus au cours duquel un élément donné, qu'il soit d'ordre lexical ou grammatical, acquiert un statut plus grammatical. La grammaticalisation est un type de processus graduel et unidirectionnel qui affecte des signes linguistiques individuels ainsi que des constructions entières, et dont la progression peut se mesurer à l'aide de paramètres structuraux (Lehmann 1995: 122-171, 1985: 305-310). Cette approche, centrée sur l'évolution structurale des constructions grammaticales, est de nature essentiellement sémasiologique. Le présent travail se propose d'adopter un point de vue strictement onomasiologique et d'analyser un cas concret de grammaticalisation, à savoir celui des constructions de négation du français. Nous verrons que ce changement de perspective non seulement met en évidence des incohérences considérables du modèle de Lehmann, mais permet de mieux comprendre comment et pourquoi les processus de grammaticalistion se produisent.

1. L'évolution du négateur pas dans une perspective sémasiologique: un cas de grammaticalisation peu problématique

L'évolution de pas, particule de négation en français moderne, est l'exemple par excellence d'un processus de grammaticalisation: tout comme son homonyme nominal pas, il remonte au lexème passus qui, en latin vulgaire, était utilisé pour renforcer le négateur normal non.2 Au début de ce processus, passum n'apparaît que dans des contextes du type non passum discedere ,3 avec un statut d'élément nominal libre, remplissant la fonction syntaxique d'objet interne. Par contre, le rôle de pas 1

2

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Je tiens à remercier Marie-Rose Schoppmann et Dominique Schütze d'avoir vérifié la version française du présent article. Celui-ci était lui-même issu d'une construction de renforcement grammaticalisée, à savoir ne oinum . Quoique cet emploi de passum ne soit pas directement attesté dans les textes latins, il est néanmoins très probable, étant donnée l'existence d'exemples attestés comme non licet transversum digitum discedere 7

Normalement, oncques portait sur le passé, tandis que ne ja se référait aux faits présents et futurs.

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(20)

Ulrich

Detges

Français parlé Alors, qu'il dit comme ça Gabriel, alors comme ça vous êtes flic? - Jamais de la vie, s'écria l'autre d'un ton cordial, je ne suis qu'un pauvre marchand forain. (Queneau, Zazie dans le métro) Latin Numquam hercle hodie exorabis. (Plaute, As. 707) damais, par Hercule, tu ne vas [m'] attendrir.) Ancien français Sin ai un filz,ja plus bels rien estoet. (ChRol. 313)

A première vue, ce changement semble présenter certaines ressemblances avec celui de PAS UNE MIETTE vers PAS LA MOINDRE QUANTITÉ. A la différence de ce dernier cependant, le changement du nom ein Bisschen . (26) Nul point a vos ne m'en acort (Humbaut 1188, cit. Tobler-Lommatzsch, s.v. point)