Künstliche Inseln: Mythos, Moderne und Tourismus von Watteau bis Manrique 9783110597042, 9783110595758

Inseln sind Orte der Sehnsucht; sie entwickeln ihre Anziehungskraft durch ihre Abgeschiedenheit. Von bildenden Künstlern

228 105 8MB

German Pages 264 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise
Auf der Suche nach Ursprünglichkeit
Arnold Böcklins innere Inseln
Capri. Der mediterrane Mythos
Bali. Der westliche Tagtraum
Lanzarote. Zurück in die Zukunft
Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
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Künstliche Inseln: Mythos, Moderne und Tourismus von Watteau bis Manrique
 9783110597042, 9783110595758

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Künstliche Inseln

Dora Imhof

Künstliche Inseln Mythos, Moderne und Tourismus von Watteau bis Manrique

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung des Departements Architektur (D-ARCH), ETH Zürich und der Ernst Göhner Stiftung, Zug.

ISBN 978-3-11-059575-8 eISBN (PDF) 978-3-11-059704-2 eISBN (EPUB) 978-3-11-059321-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: SatzBild GbR, Sabine Taube, Kieve Lektorat: Dr. Ilka Backmeister-Collacott Coverabbildung: Esther Ernst, Anlandungen, Santorin, 2017, Buntstift, Tusche,   Acryl auf gefaltetem chinesischem Reispapier, 88 × 134 cm (Detail) Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Die Reisen eines Motivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Pariser Inseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Ein moderner Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Andere Ideale. Autonomie vs. Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Auf der Suche nach Ursprünglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Am Anfang der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Die weibliche Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Mythos Insel – Mythos Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Synthetischer Archaismus. Gauguin als Tourist . . . . . . . . . . . . . . . 72 Maison du Jouir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Arnold Böcklins innere Inseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Zwischen Norden und Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Von Kythera zu Kalypsos Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Versteinernde Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Böcklin und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 „Der Fluch allzu populärer Bilder“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Capri. Der mediterrane Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Die Insel wird Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Die Insel der Schönheit. Zwei Kongresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 „Sono anch’io proprietario a Capri“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Das kühnste Haus auf Capri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 „Casa come me“. Selbstinszenierung nach Odysseus . . . . . . . . . . 135 Zurück zu Homer. Malaparte und Godard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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Inhaltsverzeichnis

Bali. Der westliche Tagtraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Die ersten europäischen Künstler im letzten Paradies . . . . . . . . . . 149 Balis Busen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Walter Spies’ Weg nach Bali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Insel in ihm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Das lebendige Museum. Die „Balinisierung“ Balis . . . . . . . . . . . . . 172 „Traditional Balinese Culture“. Die Verbindung von Kunst, Film und Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Lanzarote. Zurück in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Vulkanismus und Tourismus. Die frühen Inselbilder . . . . . . . . . . . 191 César Manrique: „Vulkanischer Barock“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Architektur und Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Die Liebesinsel, revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . 217

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Einleitung

Die zwei Fotografien des deutschen Künstlers Andreas Gursky, Dubai World I und Dubai World II, zeigen die gleichnamige, der Küste des Golfstaats Dubai vorgelagerte Inselgruppe (Abb. 1). Die beiden Werke entstanden 2007, kurz nachdem mit dem Bau des rund 300 kleine Inseln umfassenden Archipels begonnen wurde, dessen Form den sieben Kontinenten der Erde nachgebildet ist. Die großformatigen Aufnahmen lassen uns von oben auf das tiefblaue Meer und die darin verstreuten Inselformationen blicken – eine Ansicht, die der Künstler häufig verwendet. Der Bildaufbau von Dubai World ist gleicher­ maßen einfach wie effektvoll: Die Inseln sind wie weiße Flecken gleich­mäßig über die Bildfläche verteilt, einzig nahe am oberen Bildrand ist ein freier blassblauer Steifen, in dem in einer verschwommenen Abstufung von Blau­ tönen Meer und Himmel ineinander überzugehen scheinen. Dies ist besonders bei Dubai World II der Fall, während in Dubai World I die Trennung von Himmel und Erde klarer und die Inselgruppe durch eine längliche horizontale Form begrenzt ist. Vielleicht handelt sich dabei um die Westküste Nordamerikas, doch das ist nicht genau auszumachen, denn anders als im ein Jahr später entstandenen Bild Dubai World III und in den in der Werbung für die Anlage verwendeten Abbildungen ist bei Gursky die Anordnung des Archipels als Kontinente nicht erkennbar. Überhaupt ist auf dem Bild vieles nur undeutlich auszumachen, insbesondere sind die kleinen, sandigen E ­ ilande selbst fast nicht definiert: Sie sind rund, amorph und amöbenförmig, um ihren Rand wird das Wasser jeweils hellblau, was geringe Tiefe anzeigt, dann folgt ein schmaler Streifen, vielleicht ein Strand. Die im Meer aufgebauten Landflecken selbst erscheinen als karge, trockene Erhebungen, und es ist kaum zu entscheiden, ob die im Bild sichtbaren Strukturen intendierte Landschaftsnachbildungen sind oder Zeugnisse des noch unfertigen Gestaltungsprozesses wie Spuren von Baumaschinen, Zufahrten, Schutt­haufen etc.

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Abb. 1  Andreas Gursky, Dubai World II, 2007, Fotografie, 307 × 223,3 cm

Gurskys Fotografien zeigen künstliche Inseln im Werden, auf denen (noch) alles möglich zu sein scheint. Inseln aus Beton, Sand und Dreck, Projektions- und Möglichkeitsräume, reine Potenzialitäten am Ort, wo eben nur Wasser war und dann Land und Wasser geschieden wurden, bevor Haus, Mensch, Pflanze und Tier dazukommen. Oder auch nicht. Denn kurze Zeit nachdem Gurskys Fotografien entstanden sind, brach die globale Finanzkrise aus und die Mehrzahl der rund 300 Inseln des Archipels blieb Brachland, das langsam ins Meer abzusinken drohte. Wenn auch die Zukunft des ambitionierten Großprojekts des Emirats Dubai und der Baufirma Nakheel trotz Investorensuche immer noch ungewiss ist, bleibt die Faszination von Inseln ungebrochen. Diese umfasst nicht nur die künstlichen Inseln in den Golfstaaten, von denen Dubai World nur ein Projekt ist. Das von Patri Friedman und Peter Thiel gegründete Sea­ steading Institute plant unter anderem den Bau einer Insel vor Tahiti, wofür im Januar 2017 mit der dortigen Regierung ein Memorandum of Understanding unterzeichnet wurde. Die Lage dieses utopischen – oder albtraumhaften? – Projekts ist signifikant. Es ist zu vermuten, dass die Nähe zur Südseeinsel Tahiti nicht nur dem angenehmen Klima geschuldet ist, sondern auch den Assoziationen, Träumen und Paradiesvorstellungen, die der Klang von Tahiti noch heute bei vielen weckt.

Einleitung

Gurskys Fotografien sind evokative Zeugnisse einer Inselfaszination, die sich nicht nur in solchen Großprojekten ausdrückt. Sie sind auch ein erster Hinweis, dass die bildende Kunst eng mit der Entstehung dieser Faszination verbunden ist und diese nicht nur illustriert, sondern wesentlich mitgestaltet hat. Sie verdeutlichen zudem, dass diese Inselsehnsüchte Konstruktionen sind, also künstliche Inseln, wenn auch nicht immer so offensichtlich wie hier. Inseln evozieren innere Bilder und Sehnsüchte. Schon der Klang von ­Namen wie Sansibar, Capri oder Bali weckt Träume und Fernweh. Es kann gut sein, dass sich die Bilder und Vorstellungen, die bei der Nennung dieser Inseln vor unserem inneren Auge aufscheinen, stark ähneln: Ein langer, ­weißer Strand, eine abgelegene Bucht, der Blick von einem Berg auf die endlose Weite des darunterliegenden Meeres oder eine weitere Insel am Horizont, der Geruch von salziger Meerluft oder dem schweren Öl einer Fähre, der erste Blick auf einen schmalen Küstenstreifen bei der Ankunft oder der letzte auf das verschwindende Land beim Abschied. Inseln sind mehr als nur geografisch lokalisierbare Orte irgendwo auf der Welt. Mit Inseln verbinden sich Vorstellungen von Abgeschiedenheit, Freiheit, ursprünglicher Schönheit, Exotik, Erotik, Erholung und Genuss. Inseln haben sogar eine eigene Zeitrechnung: Island Time. Mag sich die übrige Welt so schnell drehen wie immer, auf der Insel verlaufen die Tage gemächlicher. Die Entfernung vom Festland und das Meer scheinen die moderne Beschleunigung und Hektik abzuschirmen oder zumindest abzubremsen. Inseln sind zudem einzigartig: Zwar ist jede Insel ein Stück von Wasser umgebenem Land. Gleichwohl ist jedes Eiland anders, hat eine individuelle Form, ein ­eigenes Klima und wird häufig von Lebewesen besiedelt, die nur auf ihm zu finden sind. Und ebenso wichtig wie die Schönheiten der Natur oder die Abgelegenheit der Insel sind ihre Bewohner: die fremde Kultur der Insulaner, die eigene Gemeinschaften und Gebräuche haben, die so anders als die der Festlandbewohner sind. Die Anziehungskraft und Wirkung von Inseln begründet sich durch ihre Abgeschiedenheit, durch die Distanz zur restlichen Welt. Inseln zeigen das Andere: andere Landschaften, andere Sitten, andere Zeitlichkeiten. Überhaupt bieten sich Inseln für Gegensatzpaare und Polaritäten an: Land und Meer, Paradies und Gefängnis. Wobei gerade die instabilen Übergänge dazwischen besonders interessant sind: der Strand oder der Moment, wenn die Idylle zur Hölle wird. In jüngster Zeit ist ein neuer Aspekt hinzugekommen: Inseln sind gefährdet, sie verschwinden. Der Sand ­ihrer Strände wird von den Wellen ins Meer getragen und der steigende Meeresspiegel der Ozeane droht sie ganz zu überschwemmen. Die Mehrzahl dieser Vorstellungen von Inseln sind so wenig selbstverständlich und natürlich wie die Inseln vor Dubai. Sie sind historisch ge­

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wachsen und meist neueren Datums. Werke der bildenden Kunst hatten ­einen entscheidenden Anteil an der Entstehung dieser Vorstellungen. Das vorliegende Buch will die Entwicklung der künstlerischen Inseldarstellungen und Insel­faszination der letzten drei Jahrhunderte mit unterschiedlichen Schwerpunkten untersuchen. Ein Fokus liegt dabei auf der überraschend ­engen Verbindung von Kunst und Tourismus in der Schaffung von Inselvorstellungen oder, wie ich sie oft nennen werde, von Inselmythen. Es mag ­wenig er­staunen, dass Künstler Bilder und Mythen über Inseln schufen – wie aktiv Künstler in die gleichzeitig stattfindende touristische Eroberung von Inseln involviert waren, ist jedoch frappierend. Immer wieder sichtbar und faszinierend sind dabei die Konflikte und Widersprüche zwischen verschiedenen Vorstellungen und zwischen Fiktion und Realität. Inselreisende Künstler gibt es vermehrt seit dem 18. Jahrhundert. ­Dieses Jahrhundert war auch die Zeit der Grand Tour, auf der adlige Bildungsreisen­ den – die Vorläufer der Touristen – im 19. Jahrhundert durch Europa zu ziehen begannen. Das 18. und dann vor allem das 19. Jahrhundert war d ­ arüber hinaus die Zeit der beginnenden Industrialisierung. Tatsächlich können diese künstlerischen Inselreisen und -darstellungen auch als Reaktion auf die Industrialisierung und Modernisierung gesehen werden, als ein Produkt der Natur­ begeisterung und Zivilisationsmüdigkeit, ähnlich wie die Begeisterung für die Alpen zur gleichen Zeit. Die – nicht nur künstlerische – Insel­ faszination ist ein Phänomen der Moderne  – ein Phänomen, das sowohl Rückzüge in die Vergangenheit und (vermeintliche) Unberührtheit wie auch Utopien für die Zukunft befördert, wofür Inseln gleichermaßen prädestiniert ­ rchaik und scheinen. Es gibt auf ihnen eine eigenartige Verschränkung von A Innovation, die bereits der französische Historiker Fernand Braudel in ­seiner Studie über das Mittelmeer als charakteristisches Merkmal von ­Inseln beschrieb.1 Das trifft vielleicht allgemein im 19. und 20. Jahrhundert auf Reisen in ferne Länder zu: auch für einen anderen Brasilien-Reisenden der 1930erJahre, den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, der Braudels Kollege in São Paulo war, als dieser dort an seiner Mittelmeerstudie arbeitete, waren die Vergangenheit und ihr Verschwinden und Verlust zentral, die Ortsver­änderung wirkte als „zeitliche Regression“.2 Jedenfalls scheinen ferne Inseln  – ähnlich wie Urwälder oder Berge – als Orte für Rückzugsutopien besonders an­ ziehend zu sein, jedenfalls sind viele der in diesem Buch behandelte Künstler Vertreter einer konservativen, fortschrittskritischen Moderne. Natürlich haben Inseln die Menschen nicht erst seit dem 18. Jahrhundert fasziniert und beschäftigt. Von Homer zu William Shakespeare, von Thomas Morus zu Daniel Defoe, von Raoul Schrott zu Michel Houellebecq haben Dichter, Philosophen und Schriftsteller immer wieder Inseln zum Thema ge-

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Abb. 2  Jan Brueghel, Odysseus bei Kalypso, ca. 1620, Öl auf Kupfer, 34,6 × 49,5 cm

macht.3 In ihren Werken wird die vom Festland abgetrennte Welt zu Schauplatz und Bühne für Dramen und Idyllen, zum Ort der Begegnung mit dem Fremden oder der Erfahrung von vollkommener Einsamkeit. Anders als in der Literatur waren Inseln in der bildenden Kunst vor dem 18. Jahrhundert jedoch ein Randgebiet. Das ist auf den ersten Blick überraschend, scheint es doch seit jeher eine enge Verbindung zwischen Inseln und visuellen Darstellungen zu geben, worauf allein schon die inneren Bilder verweisen, die von den Inselnamen unwillkürlich evoziert werden. Der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset hat Kunstwerke sogar einmal mit Inseln verglichen, als gerahmte eigene Welt im Meer der Realität: „Das Kunstwerk ist eine imaginäre Insel, die rings von Wirklichkeit umbrandet ist.“4 Tatsächlich gab es in der bildenden Kunst vor dem 18. Jahrhundert vereinzelt Darstellungen von Inseln. Das war vor allem dann der Fall, wenn sich Künstler direkt auf eine literarische Vorlage bezogen, etwa in Gemälden, die

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Abb. 3  Jean Fouquet, ­Johannes auf Patmos, 1455, 12 × 16 cm, Musée Condé, ­Chantilly

auf Szenen aus der Odyssee basierten, ein eigentlicher früher Insel­roman. So ließ sich am Beginn des 17. Jahrhunderts Jan Brueghels Odysseus von ­Kalypso in einem überaus üppig-luxuriösen Paradiesgarten verführen (Abb. 2). Und ­bereits seit dem Mittelalter gab es zahlreiche Darstellungen des Apostels ­Johannes, der in der Abgeschiedenheit der griechischen Insel Patmos seine Offen­barung niederschrieb (Abb. 3). Schon bei Odysseus und Johannes werden wieder zwei gegensätzliche Aspekte der Inselaufenthalte deutlich: Rückzug, Einsamkeit und Erleuchtung auf der einen Seite, Exotik, Verführung und erotische Erfüllung auf der anderen. Diese Gemälde aus der älteren Kunstgeschichte basierten auf religiösen und literarischen bzw. mythologischen Erzählungen. Die Inseldarstellungen hatten wenig Spezifisches: Kalypsos Insel ist vor allem ein paradisischer Garten und Patmos ist in den frühen Bildern eine kleine, flache Scheibe, später ein Berg. Andere Darstellungen von idealen runden Inseln, etwa die Illustra­ tionen zu Thomas Morus’ Utopia, lehnten sich an die Beschreibungen von Atlantis in Platons Dialog Kritias an. In ihrer breiteren kulturellen und gesell-

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schaftlichen Wirkung waren die künstlerischen Inselbilder weit weniger einflussreich als literarische oder philosophische Inselerzählungen. Kurz: Die Darstellung realer Inseln war in der Kunst von geringem Interesse und Reisen auf wirkliche Inseln noch weniger. Auch die Illustrationen in den Isolarien, einem Genre von Inselbüchern, das seit der Früh­renaissance bis ins 17. Jahrhundert populär war, waren rudimentär und strebten keine geografische Genauigkeit an. Diese Zeichnungen waren schematisch, und die dazugehörigen Beschreibungen widmeten sich mit besonderer Vorliebe den aus der Mythologie bekannten Begebnissen, die sich auf den jeweiligen Lokalitäten abspielten und in geringerem Maße den geografischen Fakten. Inseln waren eindeutig Orte der Fiktionen und Mythen. Das sollten sie auch später bleiben. Doch ihre Bedeutung und ihre Wirkmacht intensivierten sich im 18. Jahrhundert. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts schuf der französische Maler Antoine Watteau in verschiedenen Versionen eines der einflussreichsten Inselbilder, Die Einschiffung nach Kythera. Kythera ist hier der Ort der Liebe, der Harmonie, des Glücks. Zwar gibt es eine griechische Insel namens Kythera, die in der antiken Mythologie als die Insel der Aphrodite galt, die verschiedenen Versionen des Gemäldes zeigen jedoch den modernisierten respektive aktua­ lisierten Mythos einer Liebesreise und zugleich ein gesellschaftliches Ideal, das den elegant-erotischen Traum einer Harmonie von Natur und ­Kultur, von gesellschaftlichen Schichten sowie von Frauen und Männern veranschaulichte. Mit wirklichen Inseln hatten Watteaus Bilder jedoch wenig zu tun. Watteaus Gemälde waren außerordentlich einflussreich. Nicht nur in der Rokokokultur versinnbildlichte die Liebesinsel einen Ort des Glücks, vielmehr reichte ihre Wirkung bis weit ins 19. Jahrhundert. Aber wahrscheinlich wären die Vorstellungen etwas weniger wirkungsreich gewesen, wäre nicht Ende des 18. Jahrhunderts ein neues, diesmal reales Kythera entdeckt worden. Es lag in der Südsee. Das 18. Jahrhundert war die Zeit der Inselentdeckungen. So schrieb Barbara Maria Stafford: „Unlike the sixteenth century, which was obsessed with the finding of new continents, the eighteenth century was fascinated by the apparition of islands.“5 Die Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville und James Cook sowie ihre Begleiter beschrieben erstmals Tahiti und die anderen Südseeinseln. Insbesondere das sagenhafte Tahiti löste ein Zeitalter wahrer Inselbegeisterung aus, das die naturwissenschaftliche Forschung, die Literatur, Philosophie und Kunst gleichermaßen beflügelte. Auf Cooks Reisen waren auch ­einige Künstler mit an Bord, die die Inseln bildlich festhielten. Doch nicht nur die reisenden Künstler, sondern auch Bougainville und Cook hatten die europäische Kulturgeschichte mit in ihrem geistigen Gepäck. So nannte Bougainville

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die neu entdeckte Insel nouvelle cythère, Neu-Kythera.6 Die Assoziation mit der mythologischen Liebesinsel war inspiriert von der Schönheit der sub­ tropischen Landschaft und ihrer Bewohner, die ein sorgloses, vor allem den körperlichen Freuden gewidmetes Leben zu führen schienen. Die Vorstellungen von einer paradiesischen Insel prägte die Wahrnehmung Tahitis von Anfang an wesentlich mit. Allerdings veränderte die Entdeckung Tahitis ihrerseits das Bild der Liebesinsel fundamental, und die Vorstellung der Insel als Ort der (libidinösen) Befreiung durch die Abstreifung des gesellschaftlichen Korsetts der westlichen Zivilisation war äußert wirkmächtig. Im 18. Jahrhundert bedeutete sie auch eine grundlegende philosophische und politische Kritik an der Zivilisation. Die abgeschiedene Insel war ein Ort der Freiheit, der ursprünglichen Unberührtheit, ein Gegenbild zur Moderne, Urbanität, zu gesellschaftlichen Hierarchien und Ökonomien. In gewisser Weise waren sie darin mit der „Entdeckung“ der Alpen verbunden, dieses anderen –nördlichen – ursprünglichen, naturnahen und freien Ortes. Die ideale Insel ist seit dem späten 18. Jahrhundert sehr oft eine südliche oder tropische Insel. Die tropische Insel ist damit eng mit dem Exotismus als Brennpunkt der Imagination verwandt.7 Insellandschaften und Inselmythen sind ebenfalls eng verbunden. Inseln sind nicht einfach nur geografisch lokalisierbare Landschaften, sondern zugleich Projektionen auf reale Orte  – Verbindungen von Vorstellungen und realen Gegebenheiten, materialisierte Fiktionen sozusagen, so wie es der britische Kunsthistoriker Simon Schama in Landscape and Memory für Landschaften beschrieben hat, in denen sich reale geografische Begebenheiten und Ideen oder Fiktionen durchdringen. Schama schrieb: „Landscapes are culture before they are nature, constructs of imagination projected onto wood and water and rock. […] But it should also be acknowledged that once a certain idea of landscape, a myth, a vision, establishes itself in an actual place, it has a peculiar way of muddling categories, of making metaphors more real than the referents; of becoming, in fact, part of the scenery.“8 Mehr noch als für andere Landschaften trifft dies insbesondere für Inseln zu, weil diese meist von der uns vertrauten Alltagswelt entfernt sind und sich deshalb für Projektionen in besonderem Maße anbieten. Der Soziologe Rob Shields hat für diese mit Orten verbundenen Vorstellungen und Klischees den Begriff „place-myths“ geprägt.9 Inseln sind dabei im mehrfachen Sinn eng mit Fiktionen und Mythen verbunden. Sie sind privilegierte Orte für antike Mythen und erscheinen als Orte des Ursprungs, des Anfangs des Lebens und manchmal seines Endes. Sie sind die abgeschiedenen Orte, wo die Götter und ersten Menschen geboren werden und wo Helden ewiges Leben finden.

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Mythen werden immer wieder neu erzählt und dargestellt. Sie wandern und wandeln sich, sie werden tradiert, überlagern und beeinflussen sich dabei in vielfältiger Weise, wie es sich in diesem Buch immer wieder zeigen wird. Der Philosoph Hans Blumenberg hat diese Langlebigkeit und Wandel­barkeit von Mythen beschrieben: Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel ‚Thema mit Variationen‘ in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist.10

Auch Inselvorstellungen sind hier nicht nur Orte der Mythen, sondern selbst ein solches Thema mit Variationen: Liebesinsel, einsame Insel, Gefängnisinsel, schwimmende Insel, Plastikinsel usw. Während Gilles Deleuze in seinem frühen, erst posthum veröffentlichten Text „Ursachen und Gründe der einsamen Inseln“ zwei Typen von Eilanden unterschied, zählten Anselm Franke, Eyal Weizman und Ines Geisler 2008 über zwanzig Arten von Inseln auf, darunter Öl- oder Geldinseln.11 Auch der britische Autor Nicholas Shaxson widmete sich dem Thema der Schatzinseln, auf denen heute Vermögen nicht mehr in Kisten im Boden, sondern in Finanzarrangements und Briefkastenfirmen deponiert werden, wobei es auch Überschneidungen mit extraterritorialen Wirtschaftszonen gibt.12 Damit klingt ein weiterer Aspekt an, durch den Insel und Mythen eng verbunden sind: Sie sind Mythen des Alltags geworden, wie sie Roland Barthes Mitte der 1950er-Jahre beschrieben hat, also naturalisierte und kommerzialisierte Konstruktionen und Fiktionen.13 Insbesondere die einsame Insel und die südlichen tropischen Inseln wurden Teil unserer kollektiven Vorstellungswelt und unseres Sprachgebrauchs. Mit ihnen verbindet man fast unwillkürlich Ferien, Auswandererträume und die Wunschdestinationen der (Lotto-)Millionäre und Verliebten. Zur gleichen Zeit, als Roland Barthes in Paris Mythen des Alltags verfasste, errichtete der von Gérard Blitz und weiteren Sport- und Naturbegeisterten gegründete Club Mediterranée auf Mallorca erste Strandhütten für All-inclusive-Ferien; die kleinen Hütten sollten die Atmosphäre einer exotischen tropischen Insel vermitteln.14 Das Meer, die Sonne und das Essen bildeten die drei Hauptelemente dieser Ferien. Der Club war in jeder Hinsicht ein Kind seiner Zeit: Die Strandhütten „im polynesischen Stil“ ersetzten die Armeezelte und -betten, die im Club Med zuerst als Unterkünfte gedient hatten, die Urlauber konnten zudem „tahitianische“ Sarongs kaufen, eine Idee, die auf Gérard Blitz’ Frau Claudine zurückging,

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die in den 1940er-Jahren auf Tahiti gelebt hatte.15 Die „Polynesierung“ wurde an verschiedenen Orten an der Côte d’Azur und anderen Mittelmeerstränden fortgesetzt.16 Auch zwei Filmbeispiele machen deutlich, wie diese Inselmythen weiterleben und adaptiert werden. So sieht der von Sean Connery gespielte James Bond am karibischen Strand die von der Schauspielerin Ursula Andress verkörperte Muschelsammlerin Honey Ryder der Venus gleich dem Meer entsteigen. Die Liebesinsel Kythera wurde in der ersten James-Bond-­Verfilmung Dr. No (1962) die fiktive Insel Crab Key. In Pedro Almodóvars Los abrazos rotos (2009) wird die Insel Lanzarote zum Zufluchtsort der Liebenden (siehe Kapitel VI). Der Film ist nicht nur voller Bezüge zu Homers Odyssee, sondern auch ein subtiles Remake von Godards Le Mépris (1963), der auf Capri spielt und seinerseits eine auf einer Touristeninsel angesiedelte Untersuchung über die Bedeutung antiker Mythen ist. Moderne Inselfaszination, antike Mythen und Tourismus sind eng verbunden. Die bunten Stoffbahnen der Sarongs des Club Med auf Mallorca wirken wie ein spätes Relikt der Entdeckungen des 18. Jahrhunderts. Denn das 18. Jahrhundert war das Zeitalter der Weltumsegelungen und der ersten intensiven künstlerischen Beschäftigung mit Inseln ebenso wie der Beginn des Tourismus, wobei insbesondere auch Reisen ans Meer, das vorher als bedrohlich und unwirtlich gegolten hatten, populär wurden.17 Parallel und eng miteinander verbunden entwickelten sich dabei zwei Formen des Reisens und der (europäischen) Erkundung und Besetzung von fernen Inseln. Einerseits folgten im 19. Jahrhundert weitere Reisen, die nicht nur der Erkundung und Eroberung neuer Gebiete und der Wissenschaft dienten, sondern der Konsolidierung der ökonomischen und politischen Expansionsbestrebungen durch die endgültige Etablierung der westlichen Präsenz im Kolonialismus. So wurde Tahiti 1842 französisches Protektorat und 1880 französische Kolonie. Den Holländern gelang die endgültige Besetzung Balis, nachdem sie zuvor schon die anderen indonesischen Inseln kolonisiert hatten. Die Engländer gründeten 1819 ihre Niederlassung in Singapur. Andererseits begann sich im 19. Jahrhundert das moderne Massenphänomen des privaten bürgerlichen Reisens zum Vergnügen und zur Erholung zu etablieren. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Reisen in fremde Länder nicht mehr länger nur Teil der Grand Tour sowie der Bildungs- und Entdeckungsreise einzelner Wohlhabender und Forscher. Sie entwickelten sich zu einem breiteren gesellschaftlichen Phänomen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich der Tourismus auf die nahe gelegenen Ziele des europäischen Festlandes oder die pittoresken Regionen Großbritanniens, die schon während der Grand Tour

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besucht worden waren. Inseln spielten dabei anfänglich kaum eine Rolle, doch schon bald kamen italienische Inseln wie Capri und insbesondere ­Ischia hinzu. Erst später folgten die Überseeinseln, denen lange eine Aura besonderer Exklusivität anhaftete. Inseln waren insofern ideale Urlaubsorte, als sie sich besonders stark vom urbanen Alltag auf dem Festland unterschieden.18 Ein Merkmal des Tourismus ist die ständige Erweiterung der Gebiete, die touristisch erschlossen werden und die umso attraktiver sind, je exklusiver und unzugänglicher sie sind und je weniger die Erschließung fortgeschritten ist. Zugleich ist der einzelne Tourist abhängig von der Infrastruktur und Teil dieser Expansion. So schrieb der Tourismusforscher Dean Mac­Cannell in seiner Studie The Tourist. A New Theory of the Leisure Class: „These idyllic places where, we are told, characters like Fletcher Christian, Paul Gauguin, Greek shipping magnates, ex-Nazi officials, anthropologists, and ‚beautiful people‘ hang out are physically removed from our humdrum, workaday world, even when they are linked to this world by teletype to the stock exchange and by airstrips for private jet aircraft […].“19

Für MacCannell sind Tourismus und Modernisierung eng miteinander verbunden: „The growth of tourism is the central index of modernization […].“20 Zu den Merkmalen der Modernisierung zählen insbesondere immer schnellere und effizientere Kommunikationstechnologien und Transport­ infra­ strukturen. Und hier zeigt sich auch der Widerspruch des Tourismus, der auch bei MacCannell anklingt: Man gelangt genau mit den Mitteln auf die entfernten Inseln, vor denen man eigentlich entfliehen will. In diesem Beziehungsgeflecht von Mythos, Moderne und Tourismus hat die Kunst eine ebenso zentrale wie ambivalente Stellung inne. Die sich herausbildende Reise- und Tourismusindustrie, die von einprägsamen Bildern lebt, bot für Künstler vielfältige neue Betätigungsfelder. Tourismus, was im Zeitalter der Smartphones nicht betont werden muss, ist in eminentem Maße eine visuelle Erfahrung, die von der Betrachtung von Landschaften, Sight­ seeing und Souveniers lebt, wie John Urry bereits 1990 in The Tourist Gaze herausgearbeitet hat.21 Im 19. Jahrhundert mehrten sich die Bilder aus der Ferne. Neben den früheren Inseldarstellungen im wissenschaftlichen Auftrag lieferten Künstler pittoreske Erinnerungen für die Touristen – und Sehnsuchtsbilder für die Daheimgebliebenen. Künstler bringen „paradiesisch konnotierte Topoi stets mit hervor, indem sie den Kreislauf von Vor- und Nach-Bildern durch Zitation und Wiederholung mit in Gang halten und neue Bilder in den Bildkreislauf einspeisen“.22 Künstler schufen Inselbilder, die unsere kollektive Vorstellung von Inseln prägten, wie es zuvor die Literatur getan hatte.

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Für die Kunst bedeuteten diese Entwicklungen zudem, dass Inseln im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht mehr nur im Atelier entstandene Ideale und Fiktionen waren. Antoine Watteau war, abgesehen von einem kurzen Besuch in England, nie auf einer Insel gewesen. Danach wurden Künstler vermehrt selbst zu Inselreisenden. Dabei handelte es sich nicht um die klassische Künstlerreise, die von der Peripherie ins Zentrum, also nach London, Paris oder Rom führte (und auch der griechische Insulaner El Greco reiste zunächst in die Lagunenstadt Venedig, dann erst nach Rom), sondern vom Zentrum an den Rand, ins Unbekannte. Zunächst reisten die Künstler als Forschende oder dokumentierende Begleiter bei wissenschaftlichen Entdeckungs- und Eroberungsreisen in fremdartige Weltgegenden mit. Sie waren also quasi Angestellte in größeren wissenschaftlichen und politischen Kontexten. Dann folgten individuelle Künstlerreisen. Die Flucht vor der Zivilisation, die Suche nach dem Unbekannten und Unberührten war eine wichtige Motivation für die ersten künstlerischen Inselreisen, etwa bei Paul Gauguin. Doch ist diese Zivilisationsflucht, wie MacCannell festgestellt hat, zugleich eminent abhängig von der Zivilisation. Auch Gauguin bedurfte der Zivilisation in Form einer kolonia­ len Infrastruktur sowie von Handels- und Transportrouten. Seiner Suche nach Freiheit und Ursprünglichkeit in der Südsee verdanken sich nicht nur berückende und vielschichtige Kunstwerke, die bis heute das Publikum in Scharen in die Museen locken. Seine Kunst macht die Widersprüchlichkeit von Inselfantasien und die daraus resultierenden Konflikte besonders deutlich. Immer wieder prallen in den künstlerischen Auseinandersetzungen mit Inseln und mit dem Inseltourismus verschiedene Intentionen aufeinander, was sie außerordentlich aufschlussreich macht. Zivilisationsflüchtige Künstler wie Gauguin auf Tahiti oder später Walter Spies auf Bali schufen nicht nur wirkmächtige Inselbilder und Inselmythen, sondern können selbst als „Pioniertouristen“ gelten, die einen Ort attraktiv gemacht und neue Künstler und später abenteuerliche oder wohlhabende Reisende nachgezogen haben.23 Die daraus resultierenden Veränderungen nahmen die Künstler meist missbilligend wahr. Walter Spies beklagte sich über die vielen europäischen Künstler auf Bali. Die indonesische Insel war in den 1920er- und 1930er-Jahren nicht zuletzt deshalb attraktiv geworden, weil Tahiti den Gauguin-Nachfolgern mittlerweile zu wenig ursprünglich schien. Und der deutsche Maler Max Pechstein, der wegen des Ausbruchs des ­Ersten Weltkriegs zuerst die Insel Palau in der Südsee und dann den Ort Nidden an der Ostsee verlassen musste, schrieb in seinen Erinnerungen: „[…] also musste ich mich trennen und mich erneut auf die Suche nach einem Fleck Erde begeben, der nicht von Malern, Touristen und Badegästen überlaufen

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war.“24 Die Aussage zeigt auch, dass bereits Pechstein ein frühes Opfer des touristischen double binds war: Touristen flohen vor denen, die sie selbst waren und die nicht dort sein sollten und wollten, wo sie waren.25 Nach der Diskussion von Watteaus Kythera-Bildern und dem realen ­Kythera Tahiti in den ersten zwei Kapiteln widmet sich dieses Buch Arnold Böcklins Inselbildern (Kapitel III). Der Maler lebte anders als Gauguin nie auf einer Insel, aber seine Werke waren zentral für Inselvorstellungen an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die drei folgenden Kapitel zu Curzio Malapartes Auseinandersetzung mit Capri (Kapitel IV), Walter Spies’ Aufenthalt auf Bali (Kapitel V) und im abschließenden Kapitel das vom spanischen Künstler César Manrique wesentlich geprägte Lanzarote (Kapitel VI) sollen die verschiedenen Formen der mitunter sehr konfliktreichen Verbindung von Künstler- und Inselmythos sowie Tourismus zeigen. César Manrique ist der Einzige unter den drei Genannten, der ausschließlich Künstler  – mit starker Verbindung zur Architektur – war. Walter Spies war Maler, Musiker und Ethnologe. Curzio Malaparte war Schriftsteller, er hatte aber enge Berührungspunkte mit der bildenden Kunst und in seinen Texten eine starke Affinität zu sehr bildhaften Schilderungen. In seinem Haus auf Capri manifestieren sich zahlreiche Inselvorstellungen und -mythen, und die Casa Malaparte inspirierte wiederum zahlreiche spätere Künstler und Architekten. Die sehr individuellen und unterschiedlichen künstlerischen Inseldarstellungen zwischen Mythos, Moderne und Tourismus weisen gleichwohl einige Verbindungen auf: Die Künstler sind dabei zugleich Schöpfer wie auch besonders sensible und empfängliche Rezipienten. Als „Sender“ und „Empfänger“26 schaffen sie Bilder, sind aber auch selbst beeinflusst von früheren Bildern und Vorstellungen. Insbesondere literarische Erzählungen und Vorbilder waren für die Inselsehnsüchte zahlreicher Künstler prägend. Damit verbunden ist die enge gegenseitige Beeinflussung von Motiven und Ideen aus verschiedenen Medien und Gattungen. Inselbilder können nicht auf rein motivischer Ebene betrachtet werden – als Darstellungen von Inseln – und ebenso wenig als ausschließlich kunsthistorisches Thema: Auch Literatur, Architektur und Film spielen eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt zeugen die Inselhäuser von Gauguin, Spies, Malaparte und Manrique vom Sesshaftwerden auf der Insel und sind zugleich programmatische Selbstinszenierungen. Augenfällig ist ferner die enge Verbindung zwischen Inselmythen und dem Künstlermythos des aus sich selbst heraus kreativen Genies, das – freiwillig oder unfreiwillig – in einer gewissen Distanz zur Gesellschaft schöpferisch tätig ist; ein Mythos, der für das 19. Jahrhundert prägend war und zum Teil bis heute wirksam ist.27 Die einsame Insel wird dann zum idealen Ort der Autonomie und des schöpferischen Rückzugs,

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zum privilegierten künstlerischen Identifikationsort. Die Suche nach Isolation, Autonomie und insulärer Ursprünglichkeit stehen jedoch, wie oben geschildert, zwangsläufig im Widerspruch zur touristischen Erschließung ­einer Insel, von der auch die Künstler abhängig sind. Der Rückzug auf eine ­Insel ist damit immer eine unmögliche künstlerische Utopie, und die Strategien der Künstler wechseln zwischen Kritik, Kollaboration und (Selbst-)­ Mythisierung. Viele dieser mit Inseln verbundenen Themen werden heute in verschiedenen Forschungsgebieten untersucht. In der kunsthistorischen Literatur gibt es kaum übergreifende Studien zum Thema der Inseln, dafür umso mehr zu einzelnen künstlerischen Positionen, wenn auch in wechselnden Kontexten und in unterschiedlicher Intensität. Walter Spies und César Manrique werden meist in der spezialisierten Literatur zu Bali und Lanzarote und weniger in der Kunstgeschichte diskutiert, auch fehlen sie in keinem Reiseführer zu den beiden Inseln. Antoine Watteau und Arnold Böcklin sind hingegen kanonisierte kunsthistorische Klassiker, zu deren Inseldarstellungen es bereits eine Fülle von Einzeluntersuchungen gibt. Der paradigmatische insel­ reisende Künstler ist natürlich Paul Gauguin. Seine Aufenthalte auf Tahiti und den Marquesas-Inseln waren Inspiration für spätere Künstler sowie für zahl­reiche Romane und Filme. Die Ausstellungen seiner dort entstandenen Werke zählen zu den publikumswirksamen Magneten mit einer Flut von begleitenden Katalogen und Studien, wozu in neuerer Zeit auch die postkoloniale und feministische Kritik gekommen ist. Diese sehr unterschied­lichen Positionen in einer vergleichenden Studie zu betrachten, eröffnet vielleicht neue Perspektiven auf die bekannten und unbekannteren Positionen. Nichtsdestotrotz schildert dieses Buch fast ausschließlich den eurozentrischen Blick auf Inseln, der bereits in der Formulierung „abgelegene oder ferne Inseln“ offensichtlich wird (abgelegen und fern wovon?), denn behandelt werden nicht die Kunstwerke der indigenen Bewohner, sondern die der europäischen Künstler, die von außen kommend ihre Vorstellungen auf die Inseln projizieren. Der einzige gebürtige Insulaner ist César Manrique, doch auch er ist Europäer. Die Untersuchung der Werke nicht-europäischer Künstler bzw. die vielfältigen Beziehungen zwischen Einheimischen und fremden Künstlern ist hier nur am Rande Thema – etwa auf Bali – und wäre Thema einer eigenen Untersuchung.28 Zudem ist die Inselfaszination – zumindest bis in die jüngste Zeit – ein geschlechtsspezifisches Phänomen: Inselfantasien waren vor allem Männerfantasien. Inselreisende Künstler waren Männer, und die Insel war oft eng mit weiblichen und erotischen (auch homoerotischen) Aspekten verbunden: ein zu eroberndes oder bedrohlich verführerisches Terrain.

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Abb. 4  Rodney Graham, Vexation Island, 1997, 35mm Film transferiert auf Laserdisk, Farbe, 9 Minuten, Filmstills

Weil die Insel ein gattungs-, medien- und disziplinenübergreifendes Thema ist, waren für mich neben der kunsthistorischen Literatur Unter­ suchungen aus vielen anderen Gebieten wichtig, besonders aus dem umfangreichen Feld der Island Studies, der Ethnologie, der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Geokritik, der Untersuchung geografischer Räume, der Tourismusforschung, der postkolonialen Kritik oder übergreifende Studien wie Giuliana Brunos Atlas of Emotion, aber ebenso Romane.29 In den letzten Jahren entstand auch in der zeitgenössischen Kunst, meinem primären Forschungsgebiet, ein großes Interesse am Thema Inseln. In vielen künstlerischen Arbeiten steht die Untersuchung und Dekonstruktion von Inselmythen und -projektionen im Vordergrund. In der 1997 für die Biennale in Venedig entstandenen aberwitzigen Videoinstallation ­Vexation Island griff Rodney Graham das Motiv der einsamen Insel und die Figur ­Robinson Crusoes auf (Abb. 4).30 Den (überlebens-)tüchtigen Schiffbrüchigen, der Gilles Deleuze so abgestoßen hatte, verwandelte er in einer Endlosschleife in einen passiv Liegenden, der nach dem Aufwachen immer von neuem von einer Kokosnuss k. o. geschlagen wird.31 Olaf Nicolai widmete sich in einer fotografischen Arbeit und einem Film Alexander Selkirk, dem Seemann, der ein Vorbild für Crusoe war, und dem griechischen Architek-

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Abb. 5  Andrea Zittel, Indy Island, 2009

ten ­Rodakis.32 Ausgehend von George Sands Aufenthalt auf Mallorca aktivierte und fiktionalisierte die amerikanische Künstlerin Renée Green in ­ihrer Videoinstallation Endless Dreams and Water Between (2009), die für das National Maritime Museum in Greenwich entstand, die Verbindung von Inselorten, Denken und Kommunikation in einer „archipelagischen Kommunikation“.33 Diese Denkweise von Inseln nicht als isolierten Orten, sondern als Archipele von verbundenen, sich gegenseitig beeinflussenden Einheiten erscheint heute besonders aktuell, etwa bei dem Theoretiker Édouard G ­ lissant. Die Vorstellung des Archipels betont nicht nur die Multitude und Verbindung von Inseln, sondern ebenso das Meer als grundlegenden Raum.34 Doch ist der Wunsch nach absoluter  – oder temporärer  – Autonomie nicht verschwunden: Die amerikanische Künstlerin Andrea Zittel entwarf 1997 für die Skulptur Projekte in Münster die A–Z Deserted Islands, die auf verschiedenen Seen gezeigt wurden, 2009 folgte die schwimmende Inselbehausung Indy Island und im darauffolgenden Jahr das bewohnbare Indiana­polis ­Island (Abb. 5). Ein weiteres zentrales Thema ist die Kartografie und Repräsentation. In einem Work in Progress beschäftigt sich die italienische Künstlerin Paola Pivi seit über einem Jahrzehnt mit der Liparischen Insel Alicudi (Abb. 6). Das

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Abb. 6  Paola Pivi, Alicudi, 2001, Foto auf Aluminium, 124 × 163 cm

Abb. 7  Paola Pivi, Alicudi project, 2001, Inkjet-Druck auf PVC, 4 Rollen zu je 5 × 50 Meter, Total 500 × 1818,75 Meter, Work in progress, Installationsansicht in der Ausstellung It just keeps getting better, Kunsthalle Basel, Basel 2007

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Abb. 8  Julian Charrière, Sycamore-First Light, 2016, Fotografie

­ licudi Project von 2001 (Abb. 7) besteht aus vier je 5 mal 50 Meter großen, A verpixelten, auf PVC-Rollen gedruckten Fotografien. Die Größe der Fotografie entspricht jeweils exakt der Größe der realen Landschaft. Die fertige Fotografie, die nur im Freien gezeigt werden kann, wird 500 mal 1818,75 Meter messen, also die Gesamtfläche der kleinsten der Liparischen Inseln abbilden. Der Fotograf Armin Linke und das Kollektiv DESERTMED unter­suchten in Arbeiten und Ausstellungen die unbewohnten Inseln des Mittel­meeres.35 Im Video Cloud Island (2010) zeigte die Künstlerin Fiona Tan den Alltag der meist betagten Bewohner der japanischen Insel Inujima. Ihre Tonarbeit Brendan’s Isle aus dem selben Jahr erzählte von dem sagenumwobenen irischen Mönch, der in einem Fischerboot zur Suche nach dem Paradies aufbrach. Der Schweizer Julian Charrière thematisierte in der Fotoserie First Light (2016) die über sechzig amerikanischen Atomtests, die zwischen 1946 und 1958 im Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean durchgeführt wurden (Abb. 8). Das sind nur einige aus einer Vielzahl von Beispielen, die auch eine Reaktion auf veränderte Realitäten darstellen. Zum einen sind Künstlerreisen in die entlegensten Weltgegenden heute selbstverständlich und das Zu-Hause-­ Bleiben im Zeitalter der Globalisierung vielleicht das eigentliche Ideal oder die exotischste Form der Isolierung und Verinselung.36 Neue Bedeutung und politische Brisanz erhalten Inseln nicht nur als besonders durch die Klimaerwärmung in ihrer Existenz bedrohte Orte, sondern auch weil Mittelmeerinseln wie Lampedusa, Lesbos oder Kos durch die dort ankommenden Flüchtlinge in den Fokus gerückt sind oder in Austra-

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Abb. 9  Tita Salina, 1001st Island – The Most Sustainable Island in the Archipelago, 2015, Video, 14 Minuten, 11 Sekunden, Videostill

lien vorgelagerte Inseln als Grenze oder extraterritoriale Lager genutzt werden.37 Diese Entwicklungen werden in der Kunst in vielfacher Weise reflektiert. Im Video Our Islands, 11°16’58.4“N 123°45’07.0“E (2016) filmte die Philippinin Martha Atienza eine Unterwasserprozession, die sich nicht nur auf ein a­ ltes religiöses Fest bezieht, sondern auch auf die drohende Über­ flutung ­ihrer Heimatinsel Bantayan. Die indonesische Künstlerin Tita Salina thematisierte 2015 im Video 1001st Island - The Most Sustainable Island in the Archipelago das Wachsen der Plastikinseln (Abb. 9). Am erstaunlichsten ist jedoch vielleicht, wie langlebig und vital die alten, romantischen Inselbilder bis heute auch in der zeitgenössischen Kunst sind. Böcklin und Gauguin sind alles andere als vergessen. In der Video­arbeit ­Island of the Dead (2014) nahm die englische Künstlerin Beth Collar Bezug auf die Toteninsel Böcklins. Aber vor allem Gauguins Aufenthalt auf ­Tahiti und den Marquesas-Inseln wirft lange Schatten. Er wird nicht nur vor Ort zu touristischen Marketingzwecken eingesetzt, sondern auch in postkolonial informierter Kunst hinterfragt. Debra Drexlers Multimediainstallation ­Gauguin’s Zombie, die 2002 erstmals im Honolulu Museum of Art gezeigt wurde, thematisierte ironisch unter anderem die Displays ethnologischer Museen, die Kommerzialisierung der Museen und Gauguins Verhältnis

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Abb. 10 Nashashibi/Skaer, Why Are You Angry?, 2017, 16mm Film transferiert auf HD, Schwarzweiss und Farbe, Ton, 18 Minuten, Filmstill

zu Frauen. Anlässlich der Documenta 14 in Athen und Kassel war 2017 der Film Why Are You Angry? von Nashashibi/Skaer zu sehen, der Motive aus ­Gauguins Bildern im heutigen Tahiti in zum Teil nachgestellten und sich zufällig ereignenden Szenen aufnahm (Abb. 10). Überraschender als die erwartbare Kritik am westlichen kolonialen Blick war dabei die Schönheit und leise Melancholie der Bilder. Die intensive Beschäftigung mit Inseln in der zeitgenössischen Kunst manifestierte sich in zahlreichen thematischen Überblicksausstellungen und damit verbundenen Publikationen. 1997 machte sich die Ausstellung Islas in Las Palmas, Teneriffa und in Sevilla auf die Suche nach einem spezifischen „­Island Feeling“, indem der Kurator Orlando Britto Jinorio 28 zeitgenössische Künstler, die auf Inseln geboren sind, einlud.38 Inseln – Archipele – Atolle. ­Figuren hieß eine Ausstellung, die 2008 parallel zu einer Tagung in Mannheim stattfand.39 Im gleichen Jahr fand auch die Schau ISLANDS + ­GHETTOS im Heidelberger Kunstverein statt. Sie widmete sich dem Inselthema vor allem unter dem Aspekt der Ghettoisierung, der sozialen „Verinselung“ und Zersplitterung durch Phänomene wie die gated communities oder die megaloma-

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nen Bauprojekten der Inseln vor der Küste Dubais, die auch Andreas Gursky inspirierten.40 Isole mai trovate / Islands Never Found lautete der Titel einer Wanderausstellung aus dem Jahr 2010.41 Being an Island (Inseldasein) versammelte 2013 in der daadgalerie in Berlin Werke von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Inseln befassten, unter anderem ­Allora & Calzadilla, Trisha Donnelly und Fiona Tan.42 Der Titel der Yokohama ­Triennale von 2017 zum Thema Verbundenheit (Konnektivität) und Isolation lautete Islands, Constellations & Galapagos. Die Mehrzahl dieser Ausstellungen hatte einen zeitgenössischen und keinen historischen Fokus. Gerade deshalb begann ich mich vermehrt dafür zu interessieren, woher die Inselfaszination kam, was auch einer der Hauptgründe ist, warum dieses Buch nicht auf die Gegenwart fokussiert, sondern weiter in die Geschichte zurückreicht. Der eigentliche Ursprung des Buches war aber bezeichnenderweise eine Ferienreise nach Lanzarote und La Gomera. Die einzigartige Vulkanlandschaft Lanzarotes und die Werke César Manriques, die diese so wirkungsvoll in Szene setzten, waren eine Entdeckung und beeindruckten mich nachhaltig. Ich begann darüber nachzudenken, warum mich nicht nur diese, sondern auch andere Inseln immer besonders angesprochen hatten. Dies ist der Begegnung mit manchen Kunstwerken vielleicht gar nicht unähnlich. Man wird berührt, ergriffen und setzt dann seine analytischen Fähigkeiten ein, um dem auf den Grund zu gehen, was diesen Reiz auslöst. Die Analyse zerstört dabei die Faszination nicht, sondern fügt ihr viele neue Dimensionen hinzu. Neben dieser Möglichkeit zu Kopfreisen machte etwas anderes das Thema besonders attraktiv. In vielen Gesprächen über meine Arbeit bemerkte ich immer wieder, dass die Insel ein ausgesprochen nichtinsuläres Thema ist. Es ist kein Forschungsgebiet, das nur einen eingeschränkten Kreis von Kunsthistorikern interessiert, vielmehr ist es überaus anschlussfähig für alle. Auch das war eine Motivation, trotz vieler Unterbrechungen und anderer Projekte an diesem Buch weiterzuarbeiten. Vielfältige Anregungen, Kommentare und Unterstützung verdanke ich insbesondere Christophe Girot, Katrin Grögel, Emily Eliza Scott und Philip Ursprung. Viele weitere KollegInnen und FreundInnen haben das langjährige Unterfangen mit ihren Fragen, Hinweisen und ihrer Motivation begleitet. Mein großer Dank gilt vor allem Karin Althaus und Mechtild Widrich, die das Manuskript gelesen und wertvolle Kritik beigetragen haben. Zudem danke ich Katja Richter und Anja Weisenseel vom Verlag De Gruyter für ihr Engagement und die ausgezeichnete Zusammenarbeit und Ilka Backmeister-Collacott für das sorgfältige Lektorat. Dem Departement Architektur (D-ARCH) der ETH Zürich und der Ernst Göhner Stiftung, Zug, danke ich sehr für ihren großzügigen Beitrag zu den Druckkosten.

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Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

Am Anfang stand – wie auch heute nicht selten – die Enttäuschung. Denn nicht immer entsprechen die ersten Eindrücke nach der Ankunft auf einer Insel den schönen Vorstellungen und Bildern, die man sich zu Hause von ihr ausgemalt hat. Nach seiner wochenlangen Überfahrt beschrieb Paul Gauguin in seinem Reisebericht Noa Noa den tahitianischen Hauptort Papeete als wenig vielversprechend. Ähnlich war es bereits zwei Jahrhunderte zuvor anderen französischen Reisenden ergangen. Ende des 17. Jahrhunderts schilderte Gabriel de Guilleragues (1628–1685), französischer Botschafter in Konstantinopel, der als Autor zudem den ersten Briefroman der französischen Literatur verfasst hatte, in einem Brief an den Dichter Racine Eindrücke seiner Griechenland-Reise. Insbesondere die griechischen Inseln hielten einige Enttäuschungen bereit. So beklagte er sich: „Kythera und Paphos sind schreck­ liche Orte […] [Kythera] ist eine kleine Insel, die unangehmste und unfruchtbarste der Welt.“1 Kurz, er sei angeekelt von dem Land, über das die Dichter und die Historiker der Antike solch schöne Dinge erzählt hatten. Einige Jahrzehnte später besuchte auch der berühmte Antiquar, Kunstkenner und Antikensammler Comte de Caylus (1692–1765), ein Freund und Förderer Antoine Watteaus, Kythera auf seiner Reise nach Konstantinopel und beschrieb sie als kleinen steinigen Flecken: Bei dieser Insel Cerigo, die wir erblickten, handelt es sich um das alte Kythera; trotz dem Glanz, den sie im Geist des würdigen Betrachters immer noch besitzt, bewundern wir bei ihrem Anblick die Wunder und Wirkung der Poesie, denn sie besteht nur aus blankem Fels und einem anderen, kleineren, den man Ouo nennt. Diese garstigen Gegenstände betrachtet man: die Phantasie bedeckt sie mit Blumen; wir sehen einen Felsen mit den Augen des Körpers; doch wenn wir an Liebe denken, sind wir froh, ihn zu sehen; mit einem Wort, man überlässt sich der Idee, die mit dem Wort Kythera/Cerigo verbunden ist.2

Worte und Vorstellungen verzaubern die Welt. Doch die Enttäuschungen angesichts einer sich gegenüber den hohen Erwartungen und blumigen Fantasien als steinig, staubig und wenig poetisch herausstellenden Realität sind eine Erfahrung, die sich durch die Reiseliteratur – und Inselschilderungen –

Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

zieht.3 Als letztes Beispiel in dieser Reihe der Ernüchterungen hielt der romantische Dichter Gérard de Nerval 1851 sein Missvergnügen bei seiner Ankunft auf einer Insel – wiederum Kythera – fest, das sich inzwischen unter englischer Kontrolle befand, wie Nerval traurig betonte. Er hatte, so schrieb er, auf der Insel Hirten und girlandengeschmückte Boote erwartet, wie sie der Maler Antoine Watteau gemalt hatte: Nicht ein einziger Baum an der Küste, die wir entlangfuhren, keine Rose, keine Muschel an diesem ganzen Uferstreifen, wo die Nereiden die Muschel der Kypris ausgewählt hatten. Ich suchte die Watteauschen Schäfer und Schäferinnen, ihre girlandengeschmückten, an blühenden Ufern anlegenden Schiffe; ich träumte von diesen närrischen Pilgern der Liebe in ihren schillernden Seidenmänteln […] aber ich habe lediglich einen Gentleman entdeckt, der nach Schnepfen und Tauben schoss, sowie blonde schottische Soldaten, die verträumt am Horizont Ausschau hielten, vielleicht nach den Nebeln ihrer Heimat.4

Nervals Träume und Vorstellungen von idyllischen Gefilden lösten sich beim Anblick der kargen Küstenhänge  – der schlichten Alterität und Fremdheit der Insel – in Abscheu und Missfallen auf. Im direkten Vergleich mit seinen durch die Literatur und Kunst geformten Vorstellungen vermochte das reale Griechenland wenig zu bieten. Stattdessen entstand eine überaus irritierende Kluft zwischen dem Ideal, das die Dichtung und die Malerei vermittelt hatten, und der zeitgenössischen Realität. Zeugnisse von Reisenden wie de Guilleragues, de Caylus und de Nerval belegen, wie stark Literatur und bildende Kunst, Ideen und Mythen Vorstellungen über Landschaften mitgestalten und mit der Wahrnehmung der Landschaft verschmelzen, diese steuern, überhöhen oder sogar mit ihr in Konflikt geraten.5 Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet immer wieder Kythera in den Zitaten im Zentrum steht. Die wunderbare Liebesinsel bildete eines der ältesten, zauberhaftesten und wirkmächtigsten Inselideale, das insbesondere in der bildenden Kunst wichtig wurde. Andere berühmte ideale bzw. utopische Inseln wie Platons Atlantis oder Thomas Morus’ Utopia mit ihren Gesellschaftsmodellen wurden in der Malerei selten rezipiert.6 In der französischen Kunst und Kultur des Rokoko begann sich jedoch zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert die Vorstellung einer wunderbaren Liebesinsel namens Kythera zu entwickeln, die ziemlich wenig mit der griechischen Insel Kythera oder den antiken Mythen zu tun hatte, aber sehr viel mit der zeitgenössischen französischen Gegenwart und Gesellschaft.

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Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

Die Reisen eines Motivs Kythira oder altgriechisch Kythera ist der Name einer kleinen Insel an der Südostspitze des Peloponnes. Seit der Antike wurde die ionische Insel mit der Liebesgöttin Aphrodite in Verbindung gebracht. Hier soll die aus dem Meeresschaum, den das Blut und der Samen des kastrierten Uranos gebildete hatten, geborene wunderschöne Göttin erstmals Land betreten haben, bevor sie nach Zypern – die andere Mittelmeerinsel, die mit ihr verbunden ist – weiterzog. So berichtet es unter anderem Hesiod in seiner Theogonie. Einer der vielen Beinamen Aphrodites lautete bei Hesiod eustephanos (gekrönte) ­Kythereia. Violetgekrönte Kythereia nannte sie auch Homer in seinem Hymnus an die Göttin (II, 5). Die Insel soll zudem der Zufluchtsort des Liebespaares Helena und Paris gewesen sein, als sie auf dem Weg nach Troja auf günstige Winde warteten. In anderen Überlieferungen war sie sogar der Ort, an dem sich die schöne Griechin und der trojanische Prinz in einem der Aphrodite geweihten Tempel erstmals erblickten.7 Ein solcher Tempel wird immer wieder erwähnt, doch über das nähere Aussehen der Insel verloren Hesiod, Homer und andere griechische Dichter kaum Worte. Viele Jahrhunderte später wurde die Insel selbst in den sog. Isolarien (Insel­büchern) beschrieben und abgebildet. Dieses eigenartige Genre von ausschließlich den Inseln des Mittelmeeres gewidmeten Enzyklopädien war in der Frührenaissance sehr populär und verband Seekarten mit Mythen und Beschreibungen von Inselbewohnern, Städten, antiken Stätten, Fauna und Flora, historischen Ereignissen und mit allerlei Kuriosa wie Rezepten, hierbei keine geografische Exaktheit anstrebend.8 Zu den einflussreichsten Isolarien zählte das Liber insularum Archipelagi (um 1420) des Florentiners Christoforo Buondelmonti, der darin 77 griechische Inseln und Konstantinopel beschrieb. Der italienische Mönch und Geograf hatte über mehrere Jahre den östlichen Mittelmeerraum bereist und interessierte sich fast ausschließlich für die schriftlichen und baulichen Zeugnisse der Antike. Ebenso waren die bedeutenden Städte, wie für die meisten Reisen­den der Renaissance, für ihn von größtem Interesse.9 Anders als die detaillierte Karte der byzantinischen Metropole waren seine Inseldarstellungen im Liber insularum rudimentär und schematisch. Die Umrisse Kytheras wurden lediglich durch ein paar Wellenlinien wiedergegeben (Abb. 11). Weit ausführlicher war seine Beschreibung im Text. Auch über die Geografie ­Kytheras – oder Cetri/Cituria, wie er die Insel nannte – fasste er sich kurz: Sie bestehe fast ganz aus Gebirge, ihr Umfang betrage sechzig Meilen, und sie sei nur von wenigen Menschen bewohnt. Auch diese modernen Insulaner interessierten ihn wenig. Sehr ausführlich widmete sich Buondelmonti jedoch

Die Reisen eines Motivs

Abb. 11  Cristoforo Buondelmonti, Grundriss der Insel Cetri/Kythera aus dem Liber ­insularum Archipelagi, 1420 (Transkription des Exemplars Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf Ms. G 13. Übersetzung und Kommentar von Karl Bayer, Wiesbaden 2007)

den Mythen, die mit der Insel in Verbindung standen, so jener der Aphrodite, von der er eine wundersame Statue beschrieb, die in der Antike auf der Insel zu sehen gewesen sei und „die ein wunderschönes Mädchen nackt und im Meer geboren darstellt. Sie hält eine Meermuschel in der Rechten, sie ist geschmückt mit Rosen und begleitet von Tauben, die sie umflattern […].“ In ­ihrer Gefolgschaft hätten sich zudem die drei Grazien befunden, und „an ihrer Seite stand ihr geflügelter blinder Sohn Eros/Cupido, der mit Pfeil und Bogen auf Apollon zu schießen versuchte. Da sich die Götter darüber empörten, flüchtete er zu dem Stern seiner Mutter. Dieser ist der Planet der weiblichen Umarmung und deshalb wie ein Mädchen warm und feucht.“10 Auf weitere Beschreibungen der Statuen und ihrer Entstehung und Bedeutung folgte eine Kurzfassung des Trojanischen Krieges, vor dem sich Paris und Helena zum ersten Mal auf Kythera erblickt hätten. Doch war die Gegenwart auch von sehr realen Kriegen und Händeln bestimmt: Als Christoforo Buondelmonti die griechische Insel besuchte und beschrieb, befand sie sich bereits unter venezianischer Herrschaft und wurde Cerigo genannt. Kythera/Cerigo besaß wie viele Mittelmeerinseln eine große strategische Bedeutung. Sie bildeten Stützpunkte für militärische Flotten und Handelsverbindungen und waren immer wieder Streitobjekte der verschie-

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Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

denen Seemächte. Entsprechend oft wechselten die Herrschaftsverhältnisse nach den für die Bevölkerung oft verheerenden Gefechten.11 Bevor Venedig im Mittelalter die Kontrolle über die Insel übernahm, war sie byzantinisch. Während die Venezianer die Insel regierten, wurde sie im 16. Jahrhundert für kurze Zeit von den Osmanen erobert. 1797 gelangte die Insel schließlich für einige Jahre unter französische und dann unter englische Kontrolle – was der Dichter Nerval in seinem Reisebericht als besonders schmerzlich beschrieb –, bevor sie dann 1864 zu Griechenland kam. Trotz dieser Erkundungen und Eroberungen des modernen Cerigo blieb der antike Mythos einer Aphrodite geweihten Liebesinsel in der Dichtung äußerst lebendig. Der Mythos wurde sogar noch weiterentwickelt und verschmolz mit anderen Erzählungen und Vorstellungen. In der Hochrenaissance, rund siebzig Jahre nach Buondelmonti, waren noch weitere Italiener von Kythera fasziniert, doch spielte die reale Gegenwart auch hier keine Rolle. Das Ganze ereignete sich stattdessen im wahrsten Sinne des Wortes in der Welt des Traums und der idealen Liebe. Die 1499 erschienene Hypneroto­ machia (dt.: Liebeskampftraum) wurde wahrscheinlich von F ­rancesco ­Colonna in einer Mischung aus Latein und modernem Italienisch verfasst und in Venedig bei dem Verleger Aldus Manutius erstmals gedruckt.12 Über den ­Autor selbst ist wenig bekannt, vermutlich war er ein dominikanischer Mönch und Pfarrer in Venedig, laut anderen Forschern handelte es sich um einen Adligen aus Palestrina bei Rom. Umso berühmter wurde sein komplexes, vom Neoplatonismus inspiriertes philosophisches Werk. Die Rahmenhandlung der Hypnerotomachia Poliphili erzählt vom schlafenden Poliphilo, der als Traum im Traum von einer Reise auf die Liebesinsel Kythera träumt, auf der er seine Geliebte Polia wiederfinden will, die ihr Leben der Göttin Diana gewidmet hat. Auf dem Weg zur Insel verirrt er sich in einem Wald, wo er einschläft und von einer wundersamen Reise durch geheimnisvolle Landschaften mit prächtigen antiken Bauten und Ruinen sowie Begegnungen mit Fabelwesen, Nymphen und Göttern träumt. Nach langen Irrungen findet er hinter der von einer Nymphe bewachten Pforte schließlich Polia und reist mit ihr auf einem Boot nach Kythera, wo er nach Prozessionen mit Polia durch eine Venus-Priesterin verheiratet wird. Anschließend berichten Poliphilo und Polia von ihrer Liebe und den Hindernissen, die sich ihnen in den Weg gestellt haben. Am Schluss des Romans erwacht Poliphilo in seinem Bett in Treviso. Berühmt wurden auch die 169 Holzschnitte eines unbekannten Künstlers, die in den Text eingefügt sind und die durch ihren kunstvollen linearen Stil und ihre von der antiken Kunst und Architektur inspirierten Motive zahlreiche Renaissancekünstler wie Albrecht Dürer beeinflussten.

Die Reisen eines Motivs

Kythera bildet in mehrfacher Hinsicht das Zentrum des Romans. Der Text beschreibt die Insel in großem Detailreichtum als flachen, vollkommen runden Garten „ohne Berge und Wüsten“, umgeben durch einen mit Statuen, Orangenbäumen und Zypressen gesäumten Kanal. Der Aufbau der Insel war hochsymbolisch. Sie war gleichmäßig in zwanzig Segmente aufgeteilt, deren Berechnungsmodus Poliphilo genau angab und die ihrerseits weitere liebliche Haine mit verschiedenen Bepflanzungen wie Lorbeerbäume, Eichen, Zypressen, Nuss-, Johannisbrot-, Oliven- und Kastanienbäume enthielten. Nach den Hainen folgte in Richtung des Zentrums der Insel ein weiterer, mit Säulen gesäumter wunderbarer Garten, in dessen Mitte in einem Theater ein der Venus gewidmeter Brunnen in einem Tempel stand. Die Größe der ­Insel und ihre einzelnen Teile sind detailreich beschrieben. Das kreisrunde ­Kythera verkörpert eine ideale Insel, die zugleich ein Weltmodell wie auch ein locus amoenus, ein überaus lieblicher Ort, ist.13 Wichtig ist auch die Symbolik der Zahlen, insbesondere die Drei und die Sieben, die auf die Verbindung von Mikro- und Makrokosmos verweisen, sowie die Kombination von Kreisen und Quadraten in der Beschreibung des Venus-Tempels, die auch mit der Architekturtheorie jener Zeit in Zusammenhang gebracht werden kann. Ein weiterer Hintergrund des philosophischen Romans ist der zeitgenössische Liebesdiskurs respektive die Liebessymbolik, in der allegorische Reisen und Gärten konstitutiv waren.14 Dabei stehen der hortus amoenus, der Minne- oder Liebesgarten, und der hortus conclusus, der Paradiesgarten, ­ihrerseits bereits in einer mittelalterlichen und christlichen Tradition, in die der Roman de la Rose (Rosenroman) von Guillaume de Lorris und andere Dichtungen gehörten. So überlagern sich in der Erzählung verschiedene literarische und philosophische Themen und Bedeutungsebenen. Mehrere Darstellungen im Buch sind der Insel gewidmet. Zwei von ­ihnen stellen den Brunnen mit der Venus-Statue in der Mitte Kytheras dar, um den in einer der Illustrationen auch die beiden Liebenden Polia und Poliphilo ­sitzen. Am außergewöhnlichsten ist jedoch ein Holzschnitt, der die ganze ­Insel zeigt (Abb. 12). Während zahlreiche Illustrationen sehr elaboriert sind, etwa die Darstellung eines Elefanten, der einen Obelisken trägt, handelt es sich bei dem Blatt zu Kythera um eine streng schematische Abstraktion, die ­einer Planzeichnung gleicht. Der in Segmente und Kreise gegliederte Aufbau der Insel ist von absoluter Perfektion und Harmonie und erinnert in nichts an die Umrisse und Landschaften einer realen Insel. Kythera ist hier eine rein geistige Idealinsel, die vollkommen von der realen, geografisch lokalisier­ baren Insel losgelöst ist. Der ebenso gelehrte wie rätselhafte Roman wurde ein Renaissancebestseller. Er war so erfolgreich, dass er zehn Mal neu aufgelegt werden musste.

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Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

Abb. 12  Grundriss der Insel Kythera aus: ­Francesco Colonna, ­Hypnerotomachia Poliphili, 1499, Tafel 124, Holzschnitt, 13,4 × 13,5  cm (Bild), Hamburger Kunsthalle Bibliothek

Auch eine französische Übersetzung, die erstmals 1546 erschien, war ein großer Erfolg und zog zahlreiche Neuauflagen nach sich. Überhaupt weitete sich die Faszination für Inseln und fantastische Inselreisen im 16. und 17. Jahrhundert von Italien auch nach Paris und Versailles aus. Sie rückten zudem von der Antike näher in die Gegenwart – in die höfische Welt des Sonnenkönigs ebenso wie in die Welt der gelehrten und gewagten Salongespräche.

Pariser Inseln In der französischen Salonkultur und am Hof des Sonnenkönigs Louis XIV waren Inseln, Reisen und Liebesdiskurse eng miteinander verbunden. Im 17. Jahrhundert setzte in Frankreich eine Mode rund um allegorische Inseln

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ein. Zu den Auslösern gehörte ein Roman mit einer Landkarte, die Carte de Tendre im Werk Clélie, histoire romaine (1654–1660) der Madeleine de ­Scudéry (1607–1701).15 Ausgangspunkt des Romans war die sagenhafte römische Frauenfigur Cloelia. Die Protagonisten verhielten sich jedoch so, als entstammten sie der französischen höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Sie wurden zu „französischen Römern“ (Jörn Steigerwald) und der Roman zu einer detaillierten Schilderung des Salonlebens der zeitgenössischen französischen Aristokratie. Im Zentrum standen insbesondere die Formen der kultivierten preziösen Liebe. Die Idee einer Carte de Tendre, einer Wegleitung durch ein Gebiet, das ein Mann zu durchqueren hatte, um in das Land namens Tendre zu gelangen, entstand ein Jahr vor dem Roman an einem der „Samedis“, der Samstagssalons Madeleine de Scudérys. Der Roman selbst war eine Art Zusammenfassung der vielfältigen Debatten über die Liebe, die in den Salons geführt wurden, insbesondere durch Madeleine de Scudéry (genannt Sapho) und ihren langjährigen Vertrauten Paul Pellisson (genannt Acante). De Scudéry fügte die vermutlich von dem Künstler François Chauveau gestochene Illustration einer Carte de Tendre als zentralen Teil in i­hren ­Roman ein, in dem die Protagonistin Clélie eine Landkarte entwirft, in deren Besitz alle Männer kommen wollen (Abb. 13). Diese Carte de Tendre ­visua­lisiert die Liebe und Freundschaft als imaginäre Landkarte, eine detaillierte Geografie der Gefühle. Die Liebe wird auch hier zu einer Reise, für die zudem eine Wegleitung – eine Art Reisefüher – notwenig ist. Durch die verräumlichte Visualisierung der Gefühle und insbesondere der Formen und Konventionen ihres Ausdrucks dient die Karte als Anleitung, um den richtigen Weg zum Ziel der eigentlichen Liebe (Tendre sur Inclination) zu finden. Die Expressionen der Liebe und die ihr verwandten Emotionen werden en détail aufgefächert und aufgezählt. Die Grundlage bildet die tendresse, die entweder zur Freundschaft oder zur Liebe führt. Das in der Karte dargestellte ­ eeren Land Tendre ist eine dicht besiedelte, zwischen zwei gefährlichen M (dem Mer ­d’­Inimieté und dem Mer Dangereuse) gelegene grüne Landschaft. In ihr liegen vier größere Städte, im Zentrum Tendre sur Inclination, weiter oben Tendre sur Reconnaissance, Tendre sur Estime, unten, beinahe am Rand der Karte, Nouvelle Amitié als Ausgangspunkt der Reise. Daneben existieren zahlreiche Weiler: Tendresse, Obeissance, Petit Soins, Billets doux. Doch kann der Liebhaber auch vieles falsch machen; dann landet er in der Irre bei Negligence, Indiscretion, Oubli oder zerschellt gar am Felsen Orgeuil. Ferner gibt es drei Flüsse, Reconaissance, Estime und Inclination, an denen die Städte liegen und die in das Mer Dangereuse – eine tiefe, unbekannte und potenziell bedrohliche Welt – münden. Das Land Tendre ist ein Küstengebiet, doch

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Abb. 13  Madeleine de Scudéry, Carte de Tendre aus dem Roman Clélie, 1654, Radierung

nicht unbedingt eine Insel, selbst wenn Wasser in der Form von Meeren, Seen und Flüssen eine große Rolle spielt. In der unteren rechten Ecke ist ein Maßstab für die Karte angegeben, der in Lieues d’amitié berechnet wurde. Neben dem Maßstab stehen auf ­einem Hügel, von dem sie gleichsam die Landschaft überblicken, vier Personen: zwei antikisch gekleidete Frauen und zwei Männer in Wanderkleidung. Die Carte de Tendre wurde als Anleitung für Männer entworfen, im Roman ebenso wie im Pariser Salon. Sie zeigt eine weibliche Perspektive auf ein zuvor anscheinend unerforschtes Gebiet, in dem es Orte gibt, die es anzustreben oder aber zu vermeiden gilt und die über richtige oder auch trügerische Wege führen. Die Karte der Zärtlichkeit an sich ist ein eigenartiger Hybrid, in dem sehr unterschiedliche Darstellungsmuster miteinander verbunden wurden. So gibt es formale Ähnlichkeiten mit Darstellungen der mensch­ lichen Anatomie, insbesondere mit zeitgenössischen Darstellungen der Leber (Leber­gang und Pfortader), aber auch mit der Karte Frankreichs.16 Auf de Scudérys Landkarte folgte eine Reihe von Weiterentwicklungen, Imitationen, aber auch Parodien mit geografisch-politischen Karten und Allego­rien. François Tristan l’Hermite zeichnete eine Carte du Royaume de l’Amour (1659), 1663 verfasste Abbé Paul Tallemant die Voyage de l’Isle de

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l’amour und 1665 entstand Louis Moreris Le Pays d’Amour.17 Es gab überdies das Royaume de Coquetterie von François Hédelin, Abbé d’Aubignac (1654), der für sich beanspruchte, noch vor Madeleine de Scudéry eine allegorische Karte erfunden zu haben. Der Einfluss der Landkarte de Scudérys auf die Kunst und Theorie reichte bis ins 20. und sogar bis ins beginnende 21. Jahrhundert – so war sie beispielsweise für die Surrealisten und Situationisten von Wichtigkeit.18 Eng mit der von de Scudéry beschriebenen preziösen Liebe verwandt war die Galanterie. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts strahlte sie von Frankreich nach ganz Europa aus –mit Nachwirkungen bis heute, wie die anlässlich der #MeToo-Debatte geführte Auseinandersetzung über die Verführung à la française zeigte.19 Galantes Verhalten, galante Romane, galante Musik drückten das Ideal französischer Lebenskunst und Kultiviertheit mit den Varianten von politesse, délicatesse und savoir vivre aus. Während das zeitgleiche Konzept der honnêteté ein umfassendes Persönlichkeitsideal war, bestimmte und regelte das Galante vor allem das Verhältnis zwischen den Geschlechtern; es kultivierte die Liebe und vor allem den Diskurs über sie. Das Verhaltens- und Kommunikationsideal der Galanterie vermittelte, so N ­ iklas Luhmann, dabei zwischen privater Empfindung, Intimität und öffent­licher Geselligkeit – es war auf beide Seiten hin anschlussfähig.20 In jenen Jahren entstand erstmals ein Liebesmodell, das auf einer modernen Vorstellung von gegenseitiger Liebe und Wertschätzung der Partner aufbaute. Der galant homme beherrschte sich und er beherrschte die Kunst der Komplimente und Schmeicheleien. Er war kein libertin des 18. Jahrhunderts, der – mitunter rücksichtslos  – die erotische Ausschweifung suchte. Die galante Frau verstand sich darauf, mit den Komplimenten umzugehen, abzuschätzen, ob das Kompliment absichtsvoll gemeint war oder einfach geistreiche, die Grenze zwischen Erlaubtem und Frivolem umspielende Konversation. Es kam jedoch auf die feinen Unterschiede an: „Un homme galant est tout autre chose qu’un galant homme“, meinte Voltaire im Dictionnaire philosophique von 1764.21 Beim ersteren dominierten Spiel und Schein, beim letzteren aufrichtige Gefühle. Auch eine femme galante unterschied sich von ­einer coquette: „Une femme galante veut qu’on l’aime; il suffit à une coquette d’être trouvée aimable […].“22 Wie das Preziösentum des 17. Jahrhunderts stand die Galanterie in Zusammenhang mit einer größeren öffentliche Bedeutung der Frauen und der Vorstellung einer Ebenbürtigkeit der Geschlechter, zu der auch die Propagierung der Liebesheirat und insbesondere die Salonkultur gehörten, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand und von Frauen geführt und bestimmt wurde. Die Salons entwickelten sich zu Orten der Verfeinerung und der

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Abb. 14  Israël Silvestre, Les plaisirs de l’île enchantée, Dritter Tag, Ballet im Schloss der Zauberin Alcina, 1664, Radierung

­ eschmacksbildung und bildeten zudem alternative Zentren der Macht und G des Wissens, eine Art von Gegenwelt zum Hof, an denen sich Adlige, aber auch Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler trafen. Doch auch in der Welt Louis’ XIV und ihrer barocken Festkultur waren imaginäre und reale Inseln von großer Bedeutung, sie bildeten zentrale Elemente der repräsentativen Unterhaltung am Hof von Versailles. Besondere Beliebtheit erlangten insbesondere die Festivitäten rund um die verzauberte Insel, die île enchantée, ein Motiv, das auf der jüngeren italienischen Literatur beruhte, Ariosts Epos Orlando Furioso (dt.: Der rasende Roland) mit der darin beschriebenen Insel der Zauberin Alcina. Ariosts Erzählung spielt in der Zeit Karls des Großen und beschreibt die Kämpfe der christ­ lichen Ritter gegen die Sarrazenen. Die Insel Alcinas ist ein ebenso verführerischer wie gefährlicher Ort, an den die schöne Zauberin ähnlich wie Circe in der ­Odyssee junge Männer anlockt, sie verführt und, wenn sie genug von ihnen hat, in Pflanzen oder Steine verwandelt (Abb. 14). Doch blieb das Motiv nicht zwischen Buchdeckeln, im 17. und 18. Jahrhundert wurde es ein Bühnenstoff, insbesondere für Opern. Bereits 1564 fand unter der in Florenz geborenen Katharina de’ Medici in Fontainebleau während der Karnevalszeit eine Inszenierung eines auf Ariost basierenden Stücks statt, bei der

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Mitglieder der Königsfamilie mitwirkten.23 Auch in Spanien hatte es unter ­Philipp IV. aufwendige Inszenierungen von Caldérons von der Begegnung von Odysseus und Kirke inspiriertem Drama El mayor encanto, amor (1635, dt.: Liebe, der größte Zauber) gegeben. Berühmtheit in ganz Europa erlangten dann jedoch die aufwendigen dreitägigen Festlichkeiten der île e­ nchantée, die unter Louis XIV in Versailles in einer Maiwoche des Jahres 1664 stattfanden. Die offiziell der Mutter und Frau des Sonnenkönigs und inoffiziell seiner ersten M ­ ätresse Louise de La Vallière gewidmeten Plaisirs de l’île enchantée umfassten weit mehr als nur die Aufführung von Ariosts Epos: Prozessio­nen, ­Ballett- und Musikdarbietungen, Reiterwettspiele, Pferdeballette und verschiedene Theater­stücke und Feuerwerke wechselten sich ab. Der Dichter Molière und der Komponist Lully verfassten gemeinsam eigens ein neues Werk dafür. Die Gäste waren auch Akteure, sodass der Garten von Versailles drei Tage lang von Musizierenden, verkleideten Schäfern und Faunen bevölkert war. Der König selbst nahm als Roland an den Aufführungen teil (der Kampf zwischen Roland und Alcina hatte auch christliche Implikationen, wobei der König letztlich auch Gott verkörperte). Leider existieren nur wenige Abbildungen von den Festspielen. Neben diesen allegorischen und verzauberten Inseln geriet das Motiv der Reise nach Kythera nicht in Vergessenheit, sondern wurde weiterentwickelt. Nicht immer war der Ton dabei so ernsthaft und philosophisch wie in Colonnas Renaissanceerzählung und bei de Scudéry. Der Dichter La ­Fontaine beschrieb in seiner modernen, gelehrten, aber auch sehr ironischen Adaption der Liebeswirren zwischen Amor und Psyche Les Amours de ­Psyché et de Cupidon (1669), wie die auf die Schönheit Psyches eifersüchtige Liebes­göttin selbst in einem von Delfinen gezogenen Muschelwagen von Neptuns Gefolge begleitet nach Kythera fuhr. Psyche ihrerseits musste sich nach ­einem Orakel auf die Reise zu einem Tempel ihrer Feindin Venus ­machen, wo die Überfahrt nach Kythera von reichen Pilgern nachgespielt werden konnte. Die Reise nach Kythera war nicht mehr ausschließlich auf die gelehrte, mythologische Welt beschränkt, sondern erreichte auch profanere und vertrautere Gegenden. Bereits bei La Fontaine bildete die Rahmenhandlung der Erzählung des Poliphile (inspiriert von Colonna) ein Spaziergang von vier Freunden durch die Gärten von Versailles. In seinen Beschreibungen verarbeitete er verschiedenste Quellen, nicht nur Colonna und antike Mythen, sondern auch Armidas Inselpalast in Torquato Tassos Gerusalemme liberata (1581). Er parodierte überdies de Scudéry und nahm Bezug auf die zeitgenössische höfische Welt.24

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Noch weiter in der Popularisierung des Themas ging das Theater: Die Komödie Les trois cousines (dt.: Die drei Muhmen) des Dramatikers und Schauspielers Dancourt (Florent Carton, 1661–1725) behandelt die Verheiratung einer schönen Müllerswitwe, ihrer Tochter und deren zwei Cousinen. Am Schluss der Komödie verkleidet sich die Dorfjugend als Pilger, um mit einem Boot auf die Insel Kythera zu fahren. Im abschließenden Intermezzo heißt es: „Es tritt die Wallfahrt jedermann / Zu Amors heilgen Tempel an / Der Hof und alle Bürger kommen, / Auch Bauern werden aufgenommen! / Doch, wer will willkommen sein, / Der stellt sich in der Jugend ein. […] Tretet nur die Wallfahrt an / Nach der Insel der Citheren / Keine wird zurücke kehren / Ohne Freier, oder Mann […].“25 Der Ton war bereits da fröhlich und leicht gestimmt. In einem anderen Stück aus dem Jahr 1713, das im Pariser Jahrmarktstheater aufgeführt wurde, wurde er noch etwas expliziter und frivoler: „[…] Je ne suis pas la première / Qui, s’embarquant pour Cythère / Sait jouer en même temps/ Un époux et deux galants.“26 Die Reise nach Kythera war im Theater und in der Oper ein äußerst beliebtes Thema. Allein zwischen 1713 und 1716 wird eine Kythera-Reise mindestens fünf Mal auf Pariser Bühnen gespielt oder erwähnt.27 Doch auch hier blieb das Motiv nicht auf die Literatur beschränkt. Beim Adel beliebt waren Ausflüge in den Park Saint-Cloud im Westen von Paris, die unter dem Motto der Kythera-Reise standen, sogenannte parties de Saint-Cloud mit Spaziergängen in Labyrinthen und zum Brunnen der Venus mit Muschel und Blumen.28 Bereits de Scudéry hatte in ihrem Roman Mathilde (1667) solche Feste beschrieben.29 Wohlhabende Schlossbesitzer wie der Duc von Orléans veranstalteten private Feste mit Bootsfahrten nicht nur in Saint-Cloud, sondern auch an anderen Seine-Schlössern in Meudon, Bougival oder Louveciennes. Man bestieg verkleidet Schiffe in Paris und segelte den Fluss hinunter. Bei den Festen konnte es auch feucht-fröhlich zugehen, wie Louis de Rouvroy, duc de Saint Simon (nicht zu verwechseln mit dem späteren Sozialisten Saint-­ Simon!) in seinen Memoiren über den Ausflug der festfreudigen ­Duchesse de Berry berichtet.30 Im Frankreich des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts bildete die Vorstellung der Inselreise und von Inseln als Orten der Liebe und Verführung ein Motiv in Erzählungen, Gedichten, Komödien und für festliche Ausflüge. Landschaft, Liebe und Erotik verbanden sich aufs Engste. Nah verwandt mit diesen Vorstellungen waren auch die bukolischen Landschaften mit Schäfern, wie sie in der Literatur durch Honoré d’Urfés Schäfer- und Liebesroman L’Astrée (1607–1627) in Mode kamen, und die malerischen Darstellungen von Liebesfesten in Gärten oder Waldlichtungen sowie eines Goldenen Zeitalters, die sich bereits seit der nordischen und italienischen Renaissancema-

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lerei äußerster Beliebtheit erfreuten, etwa Tizians Venusfest (1518/19) oder Cranachs Das Goldene Zeitalter (1530). Trotzdem: Die Insel respektive die Inselreise war kaum Thema in der Malerei. Ein Gemälde des holländischen Malers Maarten van Heemskercks aus den Jahren 1534/35 stellt zwar den Raub der Helena auf Kythera in der Form einer riesigen Weltlandschaft dar, in der alle Weltwunder abgebildet sind. Doch liegt der Fokus hier ganz auf der fantastischen Weltlandschaft und den architektonischen Wundern. Jan Brueghels Odysseus bei Kalypso (um 1610/1620) zeigt die Insel Ogygia als einen luxuriösen grottenartigen Garten. Erst mit Antoine Watteau rückte die Inselreise ins Zentrum, vielmehr: Er transponierte sie vom antiken Mythos näher in die Gegenwart. Watteaus drei Versionen der Einschiffung nach Kythera waren neuartig, aber zugleich tief verankert in der damaligen französischen Kultur. Die Gemälde wurden zu den einflussreichsten Behandlungen des Kythera-Motivs, vielleicht gerade weil sie paradoxerweise eigentlich keine Inselbilder sind. Nicht die Insel steht im Zentrum – sie ist in den Gemälden nur in der Ferne im Dunst angedeutet –, sondern die verschiedenen Paare am Ufer, die dorthin aufbrechen. Für Inselerfahrungen ist die Reise – Ankunft und Abschied – konstitutiv. Erwartung und Sehnsucht sind das zentrale Thema – und damit die Wirkmacht von Vorstellungen.

Ein moderner Mythos Antoine Watteau, der mit den etwas jüngeren Malern François Boucher und Jean-Honoré Fragonard für die Kunst des französischen Rokoko steht, erlangte Berühmtheit als der Erfinder der fêtes galantes. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte der Maler mit seinen Darstellungen von höfischen Festen in der Natur eine neue Bildgattung geschaffen. Die Gemälde von feiern­den Gesellschaften in Parklandschaften verbanden Eleganz, Heiterkeit und Erotik in einer zwischen Realität und Fantasie schwebenden Form – ein gesellschaft­ liches Ideal- und Wunschbild. Die Gemälde selbst wurden „Bilder zum ­Träumen“, wie es viel später Arnold Böcklin einer Auftraggeberin versprechen sollte. Sie stellten glückliche Zusammenkünfte in vollendeter Harmonie zwischen Mann und Frau, Natur und Kultur dar. Und sie taten dies in einer gleichermaßen raffinierten wie unbedrohlichen Form: Die gepflegten und dabei so natürlich erscheinenden Parklandschaften zeigten eine gezähmte Natur, die eleganten Männer und Frauen in ihren Roben gaben sich darin auf kultivierte und spielerische Weise ihren Leidenschaften und Vergnügungen hin. Mit diesen fêtes galantes waren die drei Gemälde, die W ­ atteau dem

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Thema der Insel der Aphrodite widmete, eng verwandt, sie stellten sogar ­ihren eigent­lichen Beginn dar. Antoine Watteau, der in der Pariser Gesellschaft mit seinen höfischen Szenen erfolgreiche Maler, war ein Provinzler. 1684 in Valenciennes geboren, das früher flämisch war und erst seit 1677 zu Frankreich gehörte, zog er nach Lehrjahren in seiner Heimat 1702 mit 18 Jahren nach Paris. Um die Jahrhundertwende kündigte sich dort eine Umbruchzeit an. Louis XIV regierte seit 1643 – und damit seit mehr als einem halben Jahrhundert. In seinen letzten Lebensjahren stand der Sonnenkönig stark unter dem Einfluss der sittenstrengen und religiösen Madame de Maintenon, die er 1683 heimlich geheiratet hatte. Die wirtschaftliche Lage seines Landes war desaströs. Die langen Kriege, insbesondere der Spanische Erbfolgekrieg, der im Jahr der Ankunft Watteaus in der französischen Hauptstadt begann, verschlangen riesige Mittel. Die Steuerbelastung infolge dieser Kriege war enorm, vor allem die Landbevölkerung und das Bürgertum litten darunter. Nach einem strengen Winter herrschte 1709, dem Jahr, in dem sich Watteau erfolglos für den Prix de Rome der Académie Royale bewarb  – er wurde nur Zweiter –, eine Hungersnot in Paris. Dennoch war und blieb Frankreich auch am Ende der Herrschaft des absoluten Monarchen mächtig und kulturell führend in Europa. Ludwigs Hegemoniestreben, Mäzenatentum und der enorme kulturelle Aufwand, der am Hof für die Repräsentation des Königs und der Adligen betrieben wurde, boten zudem für viele Künstler beste Bedingungen. Die Karriere des jungen Mannes aus der Provinz entwickelte sich in der Hauptstadt jedoch zunächst zäh. Nach Anfängen als Kopist populärer Bilder wurde er Schüler Claude Gillots (1673–1722), der als Maler für seine Bühnen­ kulissen und Theaterszenen bekannt war. 1708 verließ Watteau ­Gillot und begann beim gefragten Dekorationsmaler Claude Audran III. (1657–1734) zu arbeiten. Audran pflegte ein ganz anderes Genre als ­Gillot. Er war ein Meister der zarten, kalligrafischen Arabesken und Grotesken und führte auch die damals äußerst beliebten Chinoiserien in die Dekorationsmalerei ein. ­Watteau arbeitete an Audrans Palastdekorationen für das Jagd- und Sommer­ schloss von Louis XIV in Marly mit, wo er kleine Figuren für das Mittelfeld der Arabesken entwarf, und projektierte außerdem ­eigene Dekorationen für verschiedene andere Schlösser und Privathäuser. Audran war zudem Konservator des Palais de Luxemburg in Paris, wo Watteau den Medici-­Zyklus des auch von ihm hochgeschätzten Peter Paul Rubens studieren konnte. Noch war Watteau vor allem ein talentierter Auftrags- und Dekorationsmaler, seine Eigenständigkeit und das für ihn zentrale Kythera-Motiv deutete sich aber schon – ganz im Hintergrund – an, und zwar im Zusammenhang mit den Dekorationen, die der junge Maler während seiner Zeit bei Audran

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Abb. 15  Antoine Watteau, Einschiffung nach Kythera, ca. 1710, Öl auf Leinwand, 43,1 × 53,3 cm, Städel Museum, Frankfurt

anfertigte. Dazu gehörten kunstvolle Arabesken mit kleinen Gartendarstellungen mit mythologischen Themen im Zentrum, die Jardins de Bachus und Jardins de Cythère, sowie Pilgerszenen (La Pellerine alterée).31 Letztere nahmen das überaus beliebte Motiv von Pilgern und Schäfern als Standardpersonal in idyllischen, arkadischen Landschaften auf, beide durchaus auch mit erotischen Konnotationen.32 In diesen zarten, nur als Radierungen überlieferten Darstellungen  – das Schloss Marly wurde 1816 abgerissen  – lag das Hauptgewicht auf der Virtuosität und Eleganz der Szenen und ihrer harmonischen Verbindung mit den Rahmungen und dekorativen Formen der Girlanden, Rocaillen und Draperien. Das Motiv fügte sich in das Gesamtdekorationsprogramm ein. Kurze Zeit später machte Watteau die Insel jedoch zum Thema e­ines ­eigenständigen Gemäldes, das erste von insgesamt drei Fassungen. ­Antoine Watteaus um 1710 entstandene Version der Einschiffung nach Kythera war vom Format und Anspruch her noch bescheiden. Mit einer Größe von 43,1 × 53,3 cm ist das Gemälde, das sich heute im Frankfurter Städel Museum

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befindet, nur ein Drittel so groß wie die späteren Pariser und Berliner Bilder. Das Gemälde gibt aber Aufschlüsse über seine Inspiration (Abb. 15).33 Dargestellt ist eine Gesellschaft von Paaren, die auf einem Hügel am Meeresufer zur Überfahrt auf die mythische Liebesinsel ansetzen. Ein geschmücktes Schiff wartet bereits und aufgeregte Eroten umschwirren es, ungeduldig, die Passagiere zu begrüßen. Allerdings scheinen diese es nicht besonders e­ ilig zu haben. Zwar weist ein Mann mit ausgestrecktem Arm auf das Schiff, doch die restliche Gruppe steht herum und macht den Anschein, als würden sie noch auf eine weitere, eben ankommende Gruppe warten. Im Zentrum der Ansammlung steht eine Dreiergruppe von elegant, aber altertümlich – in der Mode der Jahre 1620 bis 1640 mit hochgerafften Oberröcken – gekleideten jungen Frauen. Neben den eleganten Menschen sieht man ganz hinten eine große Treppenanlage. Vielleicht handelt es sich um jene der Terrasse im Park von Saint-Cloud, jedenfalls gibt es Ähnlichkeiten, nur dass diese hier von weiteren sich tummelnden Eroten bevölkert wird. Watteaus Gemälde zeigt den Aufbruch zu einem Ausflug mit verschiedensten Nuancen von Aufforderung, Erwartung und vornehmer Zurückhaltung, die sich in Blicken und Gesten der Figuren ausdrücken. Im Vergleich mit den beiden späteren Versionen wirken die Figuren jedoch noch etwas steif und statisch. Die klare Staffelung in einen flachen Vordergrund und ­einen weit entfernten kulissenhaften Hintergrund sowie die in Gruppen aufgereihten Frauen und Männer verstärken zudem den Eindruck eines Bühnen­prospekts. Anders die späteren Versionen des Gemäldes, in denen alles dynamisch und leicht wirkt. Für die Einschiffung nach Kythera von 1717, die sich heute im Louvre befindet, sind die Umstände der Entstehung bekannt (Abb. 16). Das Gemälde war das Rezeptionsstück des Künstlers für die Académie ­Royale de Peinture et de Sculpture, in die er bereits 1712 aufgenommen wurde. Watteau konnte sein Sujet frei wählen, während üblicherweise das Bildthema vorgeschrieben war. Er ließ sich jedoch außerordentlich lange Zeit. 1714, 1715 und 1716 erhielt er schriftliche Mahnungen, endlich ein Werk abzuliefern. Doch erst am 28. August 1717 fand der Transport des 129 × 194 cm großen Bildes zur Académie statt. Im Protokoll der Einlieferung hieß das Werk noch Le ­pelerinage à l’isle de Cithère, ein Sekretär der Académie strich diese Bezeichnung jedoch durch und änderte sie in Une feste galante. Dies deutet darauf hin, dass Watteau ein neuartiges Bildthema gewählt hatte, das sich nicht in herkömmliche Gattungsordnungen einfügen ließ, was im Kontext der Académie auf künstlerisches Selbstbewusstsein verweist. Die Veränderungen gegenüber der früheren Fassung sind groß. Vor der Wasserfläche und der felsigen Landschaft hinten neigt sich vorne ein Hügel

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Abb. 16  Antoine Watteau, Einschiffung nach Kythera, 1717, Öl auf Leinwand, 129 × 194 cm, Louvre, Paris

in einem leichten Bogen von der Venusherme am Waldrand dem geschmückten Boot links zu. Auf der Anhöhe lagern und gehen Paare. Drei von i­hnen sind besonders hervorgehoben: Eines sitzt noch versunken und vertraut zusammen, beim anderen ist ein Mann einer sitzenden Frau beim Aufstehen behilflich, das dritte Paar ist schon im Aufbruch begriffen, nur die Frau wirft noch einen Blick zurück, als prüfe sie, ob die anderen Paare auch folgen. ­Variantenreich in ihren Gesten und Haltungen sind überdies die Paare, die bereits näher beim Schiff stehen. Auch ihre Kleidung variiert von kostbarer höfischer Eleganz zur einfachen ländlichen Kleidung mit braunem Rock und weißer Bluse, ein Hinweis darauf, dass hier im Reich der Liebe Platz für alle – la cour, la ville et le village – ist. Viele dieser Figuren tauchen in fast unveränderter Pose im Berliner Bild von 1719 wieder auf. Dieses erfährt eine Erweiterung durch neue Paare und einen Bogen von fliegenden Eroten beim Schiff, der die Biegung des Terrains aufnimmt und zu einer S-Form oder Arabeske perfektioniert. Die Statue einer nackten Aphrodite, die einem Cupido den Köcher wegnimmt, ersetzt zudem die Venus-Herme, während die Landschaft im Hindergrund fast vollkommen im gelblich-blauen Dunst verschwunden ist.

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Es ist alles andere als eindeutig, was das Gemälde mit seinem neuartigen Thema darstellt. Handelt es sich um ein galantes Fest oder aber um die Illustration einer Szene aus einem zeitgenössischen Theaterstück respektive einer Oper? Ein Kunsthistoriker brachte die nicht unwidersprochene These ins Spiel, dass sich die Gesellschaft gar nicht auf dem Weg auf die Liebesinsel befinde, sondern vielmehr auf der Rückreise von ihr sei.34 Über Watteaus konktete Einflüsse und Intentionen ist – wie über seine Person allgemein – wenig bekannt. Offensichtlich ist, dass die Gemälde keinen antiken Mythos illustrieren. Zwar erinnert die Venusherme bzw. Venusstatue rechts am Bildrand an Tizians Venusfest, wo eine Statue der Göttin am selben Ort steht, doch tragen die Personen hier zeitgenössische Kleidung. Watteaus Bildfindung für die Kythera-Reise war neu, das Thema hatte aber schon seinen festen Platz im zeitgenössischen gesellschaftlichen und höfischen Leben Frankreichs. Die Treppenanlagen des ersten Kythera-Bildes von Watteau sind denen des Parks in Saint-Cloud – das Ziel der realen Ausflüge – sehr ähnlich.35 Sehr wahrscheinlich bildete auch das Theater eine Inspirationsquelle, insbesondere Dancourts bereits erwähntes Stück Les trois cousines. Tatsächlich hatte Watteau zeitlebens eine sehr enge Beziehung zum Theater und besuchte 1709 eine Aufführung des Stücks.36 Wobei seine Versionen der Einschiffung nach Kythera keine bestimmte Theaterszene illustrieren; auch in keinem anderem anderen Stück lässt sich eine genaue Vorlage identifizieren, auf die Watteau zurückgegriffen hätte. Ähnlich liegt der Fall auch in der bildenden Kunst. Watteau war nicht der erste oder einzige französische Künstler seiner Zeit, der sich mit dem Thema beschäftigte. Von dem Kupferstecher Claude Duflos stammt eine Radierung mit dem Titel L’île de Cythère, auf der mehrere festlich gekleidete Liebespaare auf einer kleinen Insel sitzen (Abb. 17).37 Duflos’ Radierung steht deutlich in der Tradition des Liebesgartens, wie er bereits von Peter Paul Rubens gemalt worden war (Der Liebesgarten, 1632, Prado, Madrid). Sowohl in Rubens’ Gemälde als auch in der Radierung von Duflos ist im Hintergrund ein Tempel zu s­ ehen. Diese älte­ren Bildfindungen sind im Vergleich zu Watteaus Einschiffung jedoch statisch: Ein Garten ist vor allem ein Ort, an dem man sich aufhält, es geht nicht um die Reise dorthin. Durch das Hervorheben der Reise bzw. des Aufbruchs steigert Watteau das Thema des Unterwegsseins, der Erwartung und Vorfreude. Watteaus Gemälde amalgamierten Vorstellungen, die in der zeitgenössischen französischen Kultur und Gesellschaft bekannt waren. Während das ursprüngliche Thema der Antike entstammt, werden die Protagonisten ganz zeitgenössisch. In den beiden späteren Fassungen tragen sie die damals modische Kleidung, wenngleich sich um sie herum Heerscharen von verspiel-

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Abb. 17  Claude Duflos, L’île de Cythère, ca. 1708, Radierung, Bibliothèque nationale, Paris

ten, flatternden Eroten tummeln. In einer parkartigen Landschaft vermischen sich so Realismus und Fiktion, Theater und Mythos, und sogar die Statuen scheinen dabei so lebendig wie die Menschen. Die Gemälde zeigen eine moderne Mythologie  – eine subtile Überhöhung der Wirklichkeit durch klassische Referenzen –, die sich von den repräsentativen und erhabenen mythologischen Darstellungen der 17. Jahrhunderts wie Peter Paul Rubens’ Apotheose des Königs Henri IV und Krönung der Maria de’ Medici im Palais de Luxembourg unterscheidet. Watteau verband die verschiedenen Realitätsebenen und Zeiten auf raffinierte und spielerische Weise; so sieht man in der rechten Bildpartie des Berliner Gemäldes zu Füßen einer äußerst lebendig wirkenden Venus-Statue zwei Eroten, die sich nur in einem Aspekt unterscheinen: Während der eine aus Stein ist, besitzt der andere ein Inkarnat, das ihn als „lebendig“ kennzeichnet. Die Paare sind zum Teil elegant, zum Teil einfach gekleidet. Die Welt der antiken Götter trifft auf die Welt der Menschen verschiedenen Standes, wobei nicht zu unterscheiden ist, ob es sich bei ihnen um Schauspieler handelt oder um verkleidete Teilnehmer eines Festes. Vermittelt wird eine heitere Stimmung der Harmonie in freier Natur, ein träumerischer Schwebezustand, der sich nicht nur im Thema, sondern in der

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ganzen Form des Bildes ausdrückt, in der Zartheit und Sinnlichkeit der Farben, den sanften Wellenlinien und Arabesken der Landschaft. Der Maler der Bilder selbst war kein großer Reisender. Watteau war nie in Italien, geschweige denn in Griechenland. Der Besuch in London, den er ein Jahr vor seinem Tod im Herbst 1720 unternahm, blieb zeitlebens seine einzige Inselreise. Seine Einschiffung nach Kythera war wie seine galanten Feste eine malerisch-poetische Erfindung, welche die Realität sanft idealisierten. Sein Kythera ist keine Abstraktion wie die Illustration in Colonnas Buch, aber wie dort geht es in keiner Weise um die reale Insel Kythera. Im Zentrum steht zudem nicht die Darstellung einer Insel, sondern die Feier ­eines Fests der Liebe und der Paare. Watteaus Gemälde visualisieren – und idealisieren – zeitgenössischen Liebes- und Glücksvorstellungen. Wie in der Galanterie war Liebe dabei nicht ausschließlich eine innere, rein private, in Zweisamkeit gelebte Empfindung, sondern ein gesellschaft­ liches Ereignis, ein Fest, ein Picknick, eine temporäre, „gesellige“ Utopie, die mit alten Vorstellungen eines Goldenen Zeitalters und arkadischen Zuständen verwandt war. Es ging um „all diese Vorstellungen, die um die Utopie geglückter, konfliktfreier Beziehungen zwischen den Geschlechtern kreisen, eine Vergesellschaftung ohne Schmerzen und Zwänge, ohne Arbeit und Eigentum“, wie die Kunsthistorikerin Jutta Held ausführte.38 Watteaus Insel­ reise war nicht einsam. Ihr Ziel war nicht allzu weit vom Festland entfernt und der Weg dorthin schien mit keinen großen Gefahren oder Anstrengungen verbunden zu sein. Es ging den eleganten Reisenden auch nicht um die Suche nach einer von der Zivilisation gänzlich unberührten Natur. Die Landschaft ist zwar bedeutsam: Sie bietet den bezaubernden, einladenden Hinter­ grund für die Zusammenkünfte, in denen die gesellschaftlichen Regeln und Sitten keineswegs suspendiert waren, aber etwas freier und angenehmer gelebt werden konnten. Dies entsprach auch einer Entwicklung in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft, in der der Adel nach dem Tod Louis’ XIV das Landleben vermehrt wieder zu schätzen begann und sich auf seine Landgüter zurückzog.39 Die Insel war bei Watteau noch kein Ort des Rückzugs aus der Gesellschaft, wie ihn der Philosoph Jean-Jacques Rousseau und andere später suchten. Im Gegenteil: Die ganze Gesellschaft reiste auf die Insel. Wie die Pariser Ausflüge nach Saint-Cloud war die Inselreise ein kollektives soziales Ereignis. Wobei einschränkend zu sagen ist, dass nur ein kleiner Teil der Gesellschaft eine solche Vorstellung schon überhaupt nur träumen konnte, selbst wenn in der idealen Welt auf den Gemälden ein paar einfach gekleidete Menschen auftauchen, die sich nahtlos in das Geschehen einfügen.

Ein moderner Mythos

Abb. 18  Pascal Adolphe Jean Dagnan-Bouveret, Junge Kopistin im Louvre, 1891, Öl auf Leinwand, 35,5 × 30,5  cm, Hermitage Museum, St. Petersburg

Mit der Einschiffung nach Kythera und seinen fêtes galantes etablierte sich Watteau als Maler glücklicher Zustände und Beziehungen, die dem gesellschaftlichen Ideal der französischen Salonkultur entsprachen. Die Vorstellung des Galanten war zur Zeit Watteaus so selbstverständlich, dass der Sekretär der Académie das von Watteau als Rezeptionsstück eingereichte Bild von einer Pilgerreise nach Kythera in Une feste galante umbenennen konnte.40 Watteau schuf eine Visualisierung und Idealiserung des Galanten: Die Haltungen und Gesten der Paare zeigen verschiedene Stadien der Zuwendung. Die Paare in den Gemälden suchen nicht die Liebe, sondern feiern sie. Sie sind sich physisch nahe und scheinen sich bereits gefunden zu haben. Dies gilt insbesondere für das Berliner Bild, das um einige besonders innige Figurengruppen erweitert wurde. Dazu passt auch, dass die dargestellte Venus-­ Statue Cupido die Pfeile wegnimmt, denn diese haben ihr Ziel bereits erfolgreich getroffen. Es wurde deshalb vorgeschlagen, dass die letzte Version ein Hochzeitsbild für Jean de Jullienne (1686–1766), den Freund, Förderer, späteren Biografen und Herausgeber des Gesamtwerks von Watteau, war: Die Reise der Paare führt dann nach Kythera, wo die Liebe durch die Ehe be­

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siegelt wird.41 Auch wenn dem doch nicht so wäre: Die Liebesinsel ist auf jeden Fall ein zivilisierter Ort. Eine erotische Utopie, aber doch die einer kul­ upido tivierten, kontrollierten Sexualität. Während im Berliner Bild Venus C den Köcher vorenthält, sitzt im Pariser Bild ein bekleideter Eros auf seinem Köcher mit Pfeilen, ein anderer Köcher ist mit Schleifen an die Herme gebunden. Hier geht es nicht um libertine Verführung und Frivolität, die in späteren Jahrzehnten dominieren. Das Galante war gekennzeichnet von einer Sublimierung der Triebe, wobei erotische Ambivalenz und mehr oder weniger deutliche Anspielung durchaus auch Platz haben konnten. In bildlichen Darstellungen ist das Motiv der Jakobsmuschel sowohl das Zeichen der Pilger nach Santiago de Compostela als auch ein Symbol der Göttin Venus und für das weibliche Geschlecht. In einer älteren anonymen Radierung mit Kythera-Pilgern trägt nur die Frau eine Jakobsmuschel um den Hals und hält eine in der linken Hand, in die der Mann Wasser eingießt, ein Motiv, das auch Watteau in Radierungen aufnahm.42 Wie Colonnas Hypnerotomachia Poliphilo und die von Madeleine de ­Scudérys Carte de Tendre inspirierten allegorischen Inseln erzählt Watteaus Kythera-Gemälde von einer idealen, imaginären Inselreise – ein Traum, der bis weit ins 19. Jahrhundert populär war und vielfach rezipiert wurde. So zeigt ein Gemälde Pascal Adolphe Jean Dagnan-Bouverets aus dem Jahr 1891, das sich heute in der Ermitage in Sankt Petersburg befindet, eine junge Malerin, die im Louvre Watteau kopiert (Abb. 18). Ihre Versunkenheit vor dem Bild lässt sich dabei wohl als Vertiefung in ihre Arbeit deuten, doch auch als Abschweifen in eine träumerische Reise oder einen Liebestraum.

Andere Ideale. Autonomie vs. Gesellschaft In der Geschichte der künstlerischen und literarischen Beschäftigung mit Inseln waren die ersten zwei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts besonders bedeutsam. Zwischen 1710 und 1719 schuf nicht nur Antoine Watteau seine drei Versionen des Gemäldes Einschiffung nach Kythera. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals verfasste gleichzeitig Daniel Defoe den Roman Robinson Crusoe, der 1719 erschien. Wenig verbindet die beiden parallelen Unternehmungen. Im Gegenteil: Hier die drei Gemälde, die in einer parkähnlichen Landschaft versammelte elegante höfische Paare vor dem Aufbruch zu der mythischen Liebesinsel zeigen, ein Ziel das – irgendwo – in der Tiefe der gemalten Landschaft im Dunst liegt; dort die detailreiche literarische Schilderung des gestrandeten englischen Seemanns, der dank Fleiß, praktischer Vernunft und Gottvertrauen fast drei Jahrzehnte auf einer tropischen Insel vor

Andere Ideale. Autonomie vs. Gesellschaft

Südamerika auszuharren vermag. Der Liebesreise in vergnügter Gesellschaft stehen hier Schiffbruch, tödliche Gefahr, erzwungene Einsamkeit gegenüber; mühseliger Kampf um das Überleben und Arbeit statt Muße und Fest; bedrohliche, unbekannte Natur statt gepflegter Parklandschaft. Die Unterschiede liegen nicht nur in Medium, Thema und Ort des Geschehens. So innovativ Daniel Defoes Roman war – er war einer der ersten realistischen Romane überhaupt –, stand er doch in einer langen Tradition von literarischen Inselerzählungen. Der Schriftsteller Defoe griff nicht nur auf zeitgenössische Reiseberichte, insbesondere die Erlebnisse des Seemanns Alexander Selkirk, zurück, sondern auch auf Vorlagen, die bis in die arabische Literaturtradition reichten.43 Noch viel breiter war seine Wirkungsgeschichte, die sich nicht zuletzt in einer Flut von Adaptionen manifestierte. Dabei gibt es ganz verschiedene Arten der Lektüre und der Interpretation: So kann Robinson Crusoe als Abenteuerroman, moralische Erbauung, Erziehungshilfe oder Sinnbild des gesellschaftlichen Ideals der Produktivität gelesen werden. Auch in der Geschichte der Philosophie war Defoes Inselroman außerordentlich einflussreich. Peter Sloterdijk stellte ihn – etwas zu absolut – als zentral für die Entdeckung der Insel dar: „Seit dem Erscheinen von Daniel Defoes Roman […] haben die Europäer zugegeben, dass Menschen Wesen sind, die auf Inseln etwas zu suchen haben. Von diesem exemplarischen Schiffbruch an dient die Insel im fernen Ozean als Schauplatz für Revisionsprozesse gegen die Realitätsdefinitionen auf der terra firma“, schrieb er im dritten Band Schäume seiner Sphären-Trilogie.44 Doch schon vor Sloterdijk hat der Schiffbrüchige die Philosophen beschäftigt. In Jean-Jacques Rousseaus Emile oder über die Erziehung (1762) war Robinson Crusoe das einzige Buch, das der Knabe vor dem Alter von zwölf Jahren als erzieherisches Vorbild lesen durfte. Karl Marx beschrieb in Das Kapital im der Ware gewidmeten Kapitel Robinson als Mann, der notgedrungen verschiedene Arbeiten verrichten und Funktionen ausfüllen muss, seine Beziehung zu den Dingen dabei jedoch „einfach und durchsichtig“ ist; es gibt kein Abhängigkeitsverhältnis, keine vergesellschaftete Arbeit.45 In seinem kurzen Text über einsame Inseln konnte Gilles Deleuze dann aber lediglich noch konstatieren: „Ein langweiligerer Roman ist kaum vorstellbar; traurig mit anzusehen, dass Kinder ihn noch immer lesen. Robinsons Weltanschauung beruht ausschließlich auf dem Eigentum, noch nie hat man einen derart moralisierenden Eigentümer gesehen. An die Stelle der mythischen Neuerschaffung der Welt dank der einsamen Insel ist die Wiederherstellung des bürgerlichen Alltags auf der Basis eines Kapitals getreten.“46

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Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

In der Geschichte der Inseldarstellungen und -erzählungen bildet Daniel Defoes einsamer, autarker Schiffbrüchiger auf einer – fast – unbewohnten ­Insel in gewisser Hinsicht das Gegenbild zu Watteaus zeitgleicher Liebes­ insel. Waren Watteaus Männer und Frauen Müßiggänger, ist Defoes Held überaus aktiv. Crusoe ist Seemann, Händler und Plantagenbesitzer; auf der Insel vor Südamerika wird er Bauer und Jäger, er baut eine befestigte Behausung und führt Tagebuch. Defoes Roman ist dem Realismus verpflichtet und antimythologisch, doch auch die Vorstellung der insulären Autonomie entwickelte sich zu einem Ideal und ihrerseits zu einem äußerst einflussreichen modernen Mythos. Weder Defoe noch Watteau waren selbst Inselreisende. Lange Jahrhunderte reisten kaum Literaten und Künstler selbst auf Inseln. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann sich dies zu ändern. Inseln wurden nicht nur Destinationen für Händler, Seeleute, Soldaten und Entdecker, sondern auch für Künstler. Inselideale trafen nun auf Insel­realitäten.

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Watteaus mythologische Liebesinsel lag in der Ferne im Dunst. Der eigenartige Schwebezustand der Reise, der nie vollendete Aufbruch und das durch Wolken verunklärte Ziel waren sogar konstitutiv für den Zauber des Gemäldes.1 Die Einschiffung nach Kythera war zudem wie die Carte de Tendre der Mademoiselle de Scudéry eindeutig eine kunstvolle Fiktion, das Traum- und Wunschbild eines Liebesideals, auch wenn sich manche frühe Reisende davon täuschen ließen und dann wiederum angesichts der vorgefundenen Realität enttäuscht waren. Im Lauf des 18. Jahrhunderts konkretisierte sich das Wissen über Inseln jedoch. Insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte begann ein Zeitalter der großen Weltumsegelungen und der Entdeckung neuer realer Inseln. Für die Künstler des 18. Jahrhunderts kam die Aufgabe hinzu, die Entdeckungen visuell zu dokumentieren.2 Sie wurden selbst zu Inselreisenden. Am 15. Dezember 1766 war der französische Offizier und Seefahrer Louis Antoine de Bougainville mit seiner Fregatte La Boudeuse aufgebrochen, um im Auftrag Louis’ XV als erster Franzose die Welt zu umsegeln. Mit an Bord waren unter anderem der Botaniker Philibert Commerson, der Astronom Pierre-Antoine Véron und der deutsch-französische Marineoffizier und Libertin Prinz Karl Heinrich Nikolaus Otto von Nassau-Siegen. La Boudeuse (Die Schmollende) überquerte zunächst den Atlantik Richtung Süden, umrundete Südamerika und erreichte im darauffolgenden Frühjahr den Pazifik, in dessen weiten, bisher größtenteils noch unbekannten Gewässern Bougainville eine Reihe von Inseln ansteuerte. Vor einer ankerte das Schiff im April 1768 mehrere Tage und Bougainville nahm sie offiziell für den französischen König in Besitz. Bezaubert von der subtropischen Landschaft und ihren Bewohnern, die er mit griechischen Göttern verglich, nannte er sie „Île de la Nouvelle Cythère“, Neu-Kythera. Inspiriert wurde die Namensgebung nicht nur von der Schönheit des Eilandes mit gartengleichen Landschaften und lieblichen Bächen zwischen „romantisch geformten steilen Berggipfeln“,3 sondern auch von den ungewohnt freien und großzügi-

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gen ­Sitten der Inselbewohner. Diese begrüßten die Neuankömmlinge ohne Feindseligkeit und mit großer Neugier, und kaum bekleidete junge Frauen forderten die Schiffsbesatzung auf, sich mit ihnen zu vergnügen. Die Seemänner glaubten wahrlich, im Paradies angekommen zu sein, wie die zahlreichen Zeugnisse von Bougainville und anderer Teilnehmern der Reise be­ legen. Für den Kapitän war die Insel eine wahr gewordene Utopie. In sein erst 1977 veröffentlichtes Bordtagebuch, das sonst vor allem technische und nautische Beschreibungen enthält, schrieb er anlässlich seines Abschieds von der Insel am 15. April 1768: „Adieu peuple heureuse et sage, soyez toujours ce que vous êtes. Je ne me rappellerai jamais sans délices le peu d’instants que j’ai passés aux milieu de vous et, tant que je vivrai, je célèberai l’heureuse isle de ­Cythère. C’est la véritable Eutopie.“4 Von seiner Weltumsegelung brachte Bougainville nicht nur schwärmerische und wehmütige Notizen, sondern auch einen Einheimischen aus Neu-Kythera nach Paris mit: Ahutoru oder Aotourou war der erste Insulaner, der von den Entdeckungsreisen nach Europa „mitgebracht“ und in Paris und am Hof mit großer Neugier empfangen wurde. Während seines elfmonatigen Aufenthalts in Frankreich entwickelte er sich zu einem Liebling der Gesellschaft, auch wenn bereits es Kritiker gab, die es grausam fanden, dass ein „Naturkind“ aus seinem Paradies geraubt worden war.5 Im Jahr 1771 verfasste Bougainville einen ausführlichen Bericht, Voyage autour du monde par la frégate du Roi La Boudeuse et la flûte L’Étoile en 1766, 1767, 1768 et 1769.6 Auch sein Begleiter Philibert Commerson schrieb über die Reise.7 Er schilderte Tahiti noch schwärmerischer als Bougainville als Liebesinsel, in der das ganze paradiesische Eiland ein der Liebe gewidmeter Tempel sei. „Alle Frauen sind ihre Altäre und alle Männer ihre Oberpriester.“8 Er betonte zudem die Friedlichkeit und Gastfreundschaft der Insulaner sowie ihren Abscheu vor Blutvergießen.9 Die Franzosen waren freilich nicht die ersten Europäer, die Tahiti betreten hatten. Vor ihnen hatte Samuel Wallis, der als eigentlicher Entdecker der Insel gilt, die Insel bereits 1767 erreicht und sie zu Ehren des englischen Königs King George’s Island getauft. Seine Reisebeschreibungen erschienen jedoch später als diejenige Bougainvilles und ihre Wirkung war viel weniger breit. Nur kurze Zeit nach Bougainville erreichte der englische Kapitän James Cook auf seiner ersten Südseereise (1768–1771) Tahiti, wo er unter anderem den Auftrag hatte, den Venus-Transit – den Durchgang des Planeten Venus vor der Sonne – am 3. Juni 1769 zu beobachten.10 Der Deutsche Georg Forster, der James Cook auf seiner zweiten Südseereise (1772–1775) begleitet hatte, verfasste darüber A Voyage Round The World (Reise um die Welt), 1777 auf Englisch veröffentlicht.11 Auf Bougainvilles Schiffen waren Natur-

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wissenschaftler an Bord gewesen, aber keine Künstler. Anders bei Cook. ­Neben dem wissenschaftlichen Zeichner Sydney Parkinson begleitete der Landschaftsmaler Alexander Buchan Cook auf seiner ersten Reise von 1768 bis 1771 (er starb jedoch vier Tage nachdem das Schiff Tahiti erreicht hatte), und William Hodges (1744–1797), der später als erster europäischer Maler ­einige Jahre in Indien verbringen sollte, fuhr mit Cook auf dessen zweiter Südseereise von 1772 bis 1775 mit. Auf seiner dritten und letzten Südseereise (1776–1779/80) war schließlich der gebürtige Schweizer John Webber (1752– 1798) mit an Bord. Die reisenden Künstler waren angestellt, schrieb Cook, „for the express purpose of supplying the unavoidable imperfections of written ­accounts, by enabling us to preserve, and to bring home such drawings of the most memorable scenes of our trans-­actions, as could only be executed by a professed and skilfull artist“.12 Hodges und Webber malten und zeichneten Porträts von Insulanern, Flora und Fauna, Szenen des täg­lichen Lebens und religiöser Riten, sie dokumentierten Boote, Hütten, Waffen, Kleidung und Schmuck und hielten Häfen (von besonderem Interesse für die Admiralität) sowie Landschaften mit naturwissenschaftlicher Präzision fest, wobei sich Hodges besonders für meteorologische Phänomene interessierte. Webber tat sich besonders durch seine akribischen Landschaftsdarstellungen hervor, er zeichnete und malte jedoch auch Porträts der lokalen Bevölkerung. Sein einziges Historienbild, das berühmt wurde, weil es den Tod Cooks 1779 auf ­Hawaii zeigte, entstand allerdings erst einige Jahre nach dem Tahiti-­ Aufenthalt.13 Webbers Zeichnungen und Gemälde fanden später durch Radierungen große Verbreitung, denn der Künstler erhielt nach der Rückkehr den Auftrag, den großen offiziellen Reisebericht der Cook-Reise zu illustrie­ ren, dessen drei Bände 1784 erschienen und aufgrund ­ihres enormen Erfolgs sofort vergriffen waren (Abb. 19). Die Illustrationen des Berichts stammten von ­Webber oder entstanden durch andere Künstler unter seiner Aufsicht. Sie setzten ­einen neuen Maßstab für wissenschaftliche und ethnografische Illustra­tionen.14 Die Entdeckung der rund 1000 Quadratmeter großen Insel im Pazifik und die verschiedenen Reiseberichte und Illustrationen regte die Neugier, das Denken und die Fantasie von Forschern und Künstlern in ganz Europa an. Die einzigartige Fauna und Flora der pazifischen Inseln inspirierte die naturwissenschaftliche Forschung und die scheinbar so glücklichen, friedfertigen und von europäischen Moralvorstellungen sowie gesellschaftlichen Zwängen unbelasteten Bewohnern des Archipels lösten vielfache literarische und philosophische Debatten über das Verhältnis von Natur und Zivilisation aus.15 Für viele verkörperte Tahiti das Bild einer glücklichen Gesellschaft, die in einem ursprünglichen, quasi vorzivilisatorischen Naturzustand

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Abb. 19  John Webber, Toopapapoo (Begräbnisstätte) eines Häuptlings aus: Ansichten in der Südsee/Views in the South Seas, 1776–80, Yale Center of British Art, New Haven

in ­Harmonie mit der Natur lebte. Eine wahr gewordene Utopie, wie dies bereits ­Bougainville notiert hatte. Dieses neue Wissen über eine am anderen Ende der Welt tatsächlich existierende glückliche Gesellschaft löste verschiedene Reaktionen aus. Dazu gehörten Auswandererträume: Junge deutsche Dichter des Sturm und Drang wollten in den 1770er-Jahren dort eine Poeten­ kolonie gründen.16 Für manche ließ das neu entdeckte Tahiti Europa umso älter aussehen. Die Insel war zudem mehr als ein mit immer fantastischeren Worten ausgeschmückter Sehnsuchtsort. Die Entdeckung einer möglichen anderen Gesellschaft hatte die Kraft, die Errungenschaften der europäischen Zivilisation zu relativieren: „After a visit to Tahiti, Rome or such eighteenth-­ century imperial surrogates as Paris or London would never seem the same again […].“17 Sogar der bereits in die Jahre gekommene Goethe gestand im Gespräch mit Johann Peter Eckermann am 12. März 1828 Inselfantasien:

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Es geht uns alten Europäern übrigens mehr oder weniger allen herzlich schlecht, unsere Zustände sind viel zu künstlich und kompliziert, unsere Nahrung und Lebensweise ohne die rechte Natur und unser geselliger Verkehr ohne eigentliche Liebe und Wohl­wollen […]. Man sollte oft wünschen, auf einer der Südseeinseln als sogenannter Wilder geboren worden zu sein, um nur einmal das menschliche Dasein ohne falschen Beigeschmack durchaus rein zu genießen.18

Die Philosophen reagierten noch schneller. Bereits ein Jahr nach Bougainvilles Rechenschaftsbericht hatte Diderot 1772 seine Replik Supplément au voyage de Bougainville verfasst, die in den Jahren 1773 und 1774 in vier Teilen und posthum 1796 als Ganzes erschien.19 Die Schrift stieß einerseits wegen ihrer Offenheit bezüglich „gewissen physischen Handlungen“ auf große Empörung, ihr Einfluss war aber noch breiter als Bougainvilles Text, auch weil er die mehrheitlich nüchterne, faktische Beschreibung des Mathematikers und Marineoffiziers Bougainville auf eine philosophische Ebene hob. In einem fiktiven Monolog eines alten Tahitianers und zwei Gesprächen verglich ­Diderot Tahiti mit dem damaligen Europa – und dies nicht zum Vorteil des alten Kontinents. Durch die Worte des tahitianischen Greises stellte er bedauernd fest, dass die „Entdeckung“ der Insel für die Bewohner selbst ein Unglück darstellte. Bereits die ersten Besucher des Eilandes wie Bougainville und insbesondere Georg Forster waren sich zumindest teilweise der Konsequenzen ihrer Entdeckung für die Inselbewohner bewusst.20 Die Südseeinseln wurden und blieben für lange Zeit ein Ort der Fantasien und Träume, von Beginn an war dies aber mit der Vorstellung eines gefährdeten oder bereits verlorenen Paradieses verknüpft. Wie Diderots alter Tahitianer vorausgesehen hatte, veränderte sich das Leben auf der Insel in den Jahrzehnten nach den ersten europäischen Be­suchen mit großer Geschwindigkeit. Nach den Entdeckern folgten im 19.  Jahrhundert Administratoren. Händler und Plantagenbesitzer wurden ansässig und veränderten das wirtschaftliche und politische Gefüge. Europäische und amerikanische Produkte, Sitten und Krankheiten fanden den Weg nach ­Tahiti. Die christlichen Missionen, insbesondere die sehr einflussreiche protestantische London Missionary Society, die sich im frühen 19. Jahrhundert niederließ, bemühten sich nach Kräften, die alten religiösen Vorstellungen und freien Sitten der Insulaner zu bekämpfen. Dazu kam der verstärkte Wettstreit der europäischen Mächte in der Kolonialherrschaft, durch die Tahiti 1842 zuerst französisches Protektorat wurde und 1881 eine Kolonie Frankreichs.21 Und es erschienen detaillierte Reiseberichte wie die Voyages aux îles du Grand Océan des belgischen Diplomaten und amerikanischen Konsuls auf Tahiti, Jacques-Antoine Moerenhout. Trotzdem lebte im 19. Jahrhundert in populären Reiseberichten das anfängliche Bild eines Inselparadieses und

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mit ihm die Bezeichnung Neu-Kythera fort. Das Bild Tahitis als einer der Sinnlichkeit gewidmeten Liebesinsel blieb bestehen.

Am Anfang der Welt Trotz des Namens hatte das überseeische Neu-Kythera wenig mit den alten Vorstellungen der Liebesinsel gemein. Watteaus Kythera zeigte eine zivilisierte, höfische Welt, eine europäische bzw. sehr französische Insel. Tahiti war jedoch etwas vollkommen anderes: eine exotische und ursprüngliche Insel, bis dahin unberührt von der europäischen Zivilisation. In seiner Replik auf Bougainville verglich Denis Diderot Tahiti mit dem damaligen Europa: „Der Tahitianer steht dem Anfang der Welt, der Europäer dem Greisenalter so nahe!“22 Die Bewohner Tahitis schienen „jung“ aufgrund ihrer Nähe zur Natur und zu einem ursprünglichen, unverdorbenen menschlichen Naturzustand. Ein Zustand, der geprägt war von Freiheit, dem Verzicht auf persönliches Eigentum, Zufriedenheit und einer ohne Scham und Schuld gelebten Sexualität. Die frühen Inselbesucher wie Bougainville, Forster und Cook beschrieben Tahiti als einen üppigen Garten Eden, in dem die Menschen sorglos und friedlich in gleichförmiger Harmonie mit der Natur lebten und ihr Leben vor allem der Muße und Liebe widmeten. Vereinzelte Beobachtungen, die diesem Bild widersprachen, wurden in ihren Berichten eher am Rande erwähnt, etwa dass es auch auf Tahiti Standesunterschiede, Diebstahl oder kriegerische Auseinandersetzungen gab.23 Betont wurde immer wieder die Schönheit der Eingeborenen, die auch kaum von Alterserscheinungen betroffen schienen. Die Tahitianer wurden – anders als andere Indigene, wie die Bewohner Feuerlands (Tierra del Fuego), die die Seemänner trafen  – nicht als abstoßende oder bedrohliche Wilde wahrgenommen. Ihre Attraktivität konnte sich jedoch zur Bedrohung entwickeln, wenn der Naturzustand, die Freiheit und das Glück der Inselbewohner als positives Gegenbild zur europäischen Zivilisation wahrgenommen wurden. Die Faszination des Naturlebens konnte dann so stark sein, dass sie europäische Werte infrage zu stellen vermochte. Während Cooks Aufenthalt verlockte sie etwa zwei Matrosen zum Desertieren – die ersten einer langen Reihe von Zivilisationsflüchtlingen.24 Anders als die verfeinerte Zivilisation auf Kythera faszinierte im späten 18. Jahrhundert auf Neu-Kythera die unzivilisierte Natur. Die beiden eng verwandten Vorstellungen eines paradiesischen Ur- oder Naturzustands und eines natürlichen Menschen, der unzivilisiert, also „primitiv“ und „wild“, aber deswegen trotzdem gut ist, hatte Jean-Jacques Rousseau in der Mitte

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des 18. Jahrhunderts mit seiner Schrift Discours sur l’inégalité (1755) populär gemacht.25 Sie reichten jedoch weit in die europäische Geistesgeschichte zurück.26 Bereits antike Autoren wie Hesiod beschrieben ein glückliches Goldenes Zeitalter, nach dem Verfall und Dekadenz einsetzen. Und Michel de Montaigne stellte in seinen Essays den „humanen“ Kannibalen, der nur Tote isst, den grausamen konfessionellen Auseinandersetzungen im Frankreich des 16. Jahrhunderts gegenüber. Die Vorstellung des edlen Wilden verband sich auf Tahiti mit der des menschlichen Natur- oder Urzustands. So schrieb Diderot in seinem Supplément: „[…] das wildeste Volk der Erde, das tahitia­ nische, das sich genau an das Naturgesetz gehalten hat, komme einer guten Gesetzgebung näher als irgendein zivilisiertes Volk.“27 Diderot begründete die Grausamkeiten der „Wilden“ durch die Notwendigkeit der Abwehr wilder Tiere; ohne diese seien sie sanft und harmlos.28 Dank seines fruchtbaren subtropischen Klimas machte Tahiti zudem die Bestellung des Landes und die Sorge um das Überleben unnötig, wie bereits Bougainville festgestellt hatte. Edle Wilde waren natürlich auch auf dem Festland zu finden. Naturnähe und Ursprünglichkeit waren nicht ausschließlich Inselnbewohnern vorbehalten. Doch geografisch separierte Orte wie ­Tahiti schienen prädestiniert, ursprüngliche Naturnähe und Zivilisa­ tions­ferne länger zu bewahren. Die Vorstellung der abgeschiedenen Insel als ­Habitat ­einer wilden, aber wohlgestalten und -gesonnenen Bevölkerung war vor der Entdeckung Tahitis nicht vollkommen unbekannt gewesen. Der französische Missionar und Botaniker Jean-Baptiste Du Tertre hatte bereits in den 1650er-Jahren in seinen illustrierten Berichten „edle Wilde“ auf der Insel­gruppe der Antillen beschrieben, die viel von den späteren Beschreibungen der Tahitianer vorwegnehmen.29 Doch größere Verbreitung erlangte das Konzept in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Fahrt nach Tahiti erschien dabei nicht nur als eine Reise in einen anderen geografischen Raum und eine fremde Kultur, sondern auch in eine andere Zeit: als Reise in die Vergangenheit der Welt. Je abgelegener die Inseln, je später ihre Entdeckung, desto mehr schien ihnen eine besondere Archaik innezuwohnen. Sie wurden gleichsam als „am Anfang der Welt“ stehend wahrgenommen, nahe an der Schöpfung und der Entstehung des Lebens überhaupt. In seinem Supplément au voyage de Bougainville schilderte Diderot ein frühes, „ganz natürliches Urzeitalter der Menschenfresserei von insularem Ursprung“.30 Die Vorstellung von Inseln als Orten des Anfangs der Welt ist durch viele Schöpfungsmythen vertraut. Ägyptische, griechische, indische und arabische Texte schildern, wie der Anfang des Lebens auf Inseln begann. Volkmar Billig schrieb dazu in Inseln. Geschichte einer Faszination: „Inseln sind – lange

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bevor sie zum Zielpunkt von Schiffen, Seefahrern und Dichtern werden  – Schöpfungslandschaften: Keimzellen von Welten, in die Realität der Gegenwart ragende Monumente einer vorzeitlichen Idealität. Nicht umsonst heißt es von den meisten wichtigen antiken Gottheiten, sie seien auf Inseln ge­ boren.“31 Dieser mythische insuläre Ursprung konkretisierte sich in den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Forschungen auf überraschende Weise und wurde um neue Dimensionen erweitert. Der Fokus lag dabei nicht nur auf dem menschlichen Urzustand. Durch Reisen zu fernen Inseln schien man noch viel weiter in die Vorzeit zurückfahren zu können als nur zu den Anfängen der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Bougainville und die anderen Forscher hatten sich auch für die spezielle Flora, Fauna und Geografie der neu entdeckten Inseln interessiert. Diese breiter gefasste Ursprünglichkeit umfasste also die ganze Insel, was auch an ihrer geografischen Eigenheit lag. Die Formation der Insel als Land umgeben von Meer und Himmel macht die natürlichen Elemente besonders sichtbar und damit „den tiefen Gegensatz zwischen dem Ozean und der Erde“.32 Die geografischen Inselformationen erwecken den Eindruck des eben aus dem Meer aufgetauchten Landes  – insbesondere wenn man sie vom Schiff aus kommend wahrnimmt. Der vulkanische Ursprung der Inseln macht die bis heute andauernden geologischen Entstehungsprozesse sichtbar und bietet gleichsam einen Blick in die Materie des Erdinneren. Anhand des Studiums neu entstandener vulkanischer Inseln in Griechenland und im Golf von Neapel formulierte der Italiener Anton Lazzaro Moro in der Mitte des 18. Jahrhunderts, also kurz vor der Entdeckung der pazifischen Inseln, die Theorie des Plutonismus, die der schottische Geologe James Hutton in den 1780er-Jahren weiterentwickelte. Gemäß dem Plutonismus sind alle Gesteine aus vulkanischen Eruptionen entstanden, werden dann durch Erosion langsam abgetragen, bilden im Meer Sedimente, um dann wieder aus dem Ozean aufzusteigen. Tatsächlich ist die Mehrzahl der Hunderte von Südseeinseln, Atollen und Archipelen nach mächtigen Vulkanausbrüchen entstanden, und in ihren Formen zeigten sie Prozesse der langsamen Erosion, der Besiedlung und Evolution: So entwickeln sich in Lagunen, die durch Korallenriffe vom Meer abgeschirmt werden, binnen weniger Jahrzehnte Quallenarten mit spezifischen Eigenschaften. Auch die bildende Kunst reagierte auf das neue breite Interesse an der Natur und Geologie. Vulkane wurden im 18. Jahrhundert zu spektakulären Motiven der Landschaftsmalerei. Besonders beliebt war der Vesuv im Golf von Neapel mit seiner gesteigerten Aktivität seit dem 17. Jahrhundert und wiederholten Ausbrüchen in den folgenden zwei Jahrhunderten. Inspiriert

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von den Entdeckungsreisen Alexander von Humboldts, der Künstlern empfohlen hatte zu reisen, besuchte der amerikanische Landschaftsmaler ­Frederic Edwin Church 1855 und 1857 Südamerika, wo ihn die Vulkane im Osten Ecuadors faszinierten. Das Gemälde Rainy Season in the Tropics (1866) entstand während eines Aufenthalts auf Jamaika. Seine Werke basierten auf genauen meteorologischen Studien, die er dramatisch inszenierte, um den Eindruck einer überwältigenden Naturerfahrung zu vermitteln, um gleichsam den ersten Tag nach der Schöpfung zu evozieren. Church war nicht nur von Humboldt beeinflusst, sondern auch von Charles Darwin.33 Auch der britische Naturforscher hatte sich stark für die wandelbare Geologie der vulkanischen Inseln interessiert.34 Für seine Unter­ suchungen zur Entstehung und Entwicklung des Lebens waren die von äuße­ ren Einflüssen weitgehend abgeschirmten Inseln des Pazifiks zentral. Sein Aufenthalt auf dem Archipel der Galapagosinseln und die Beobachtung der dortigen Vögel im September 1835 gaben Darwin entscheidende Hinweise für seine Theorie der Evolution. „Islands give clarity to evolution“, schrieb David Quammen, und weiter: „Charles Darwin himself was an island geographer before he was a Darwinist“.35 Inseln fungierten als eine Art von Laboratorium für seine Ideen.36 Die Naturgeschichte der Galapagosinseln stellte „eine kleine Welt für sich“ dar, in der Arten zu finden waren, die nirgends sonst existierten, ebenso Tiere mit vorsintflutlichem Aussehen.37 In der zweiten Ausgabe der Voyage of the Beagle hielt Darwin 1845 fest: „Hence, both in space and time, we seem to be brought somewhat near to that great fact – that mystery of mysteries – the first appearance of new beings on earth.“38 Im ­Essay on Species (1844) beschrieb er beispielhaft anhand der Besiedlung einer neu entstandenen Insel den Prozess der natürlichen Selektion.39 Ähnliche Erkenntnisse verdankte der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace seinen Studien im malaiischen Archipel zwischen 1854 und 1862.40 1880 veröffentlichte er das Buch Island Life, dass die Pflanzen- und Tierarten auf Inseln untersuchte und dabei eine grundlegende Unterscheidung zwischen kontinentalen und ozeanischen Inseln traf. Kontinentalinseln waren einmal mit dem Festland verbunden gewesen, während Ozeaninseln (Hawaii) nie Teil eines Kontinents waren und mitten im Ozean entstanden sind. Später bezeichnete Gilles Deleuze die Letzteren als „ursprüngliche, wesent­liche“ Inseln.41 Mehr als auf den „zivilisierten“, dicht besiedelten und bebauten Kontinenten schienen längst vergangene Zeiten auf fernen Inseln präsent. Der geografischen Distanz entsprach historische und vor allem zeitliche Entfernung – und Verspätung: „Especially in Western discourses islands are often associated with features of isolation, seclusion and backwardness.“42 Mit der

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Archaik der Insel und ihrer menschlichen und tierischen Bewohner wurde eine andere, verlangsamte Erfahrung von Zeit verbunden. Zwar waren dort die Prozesse der Evolution durch die Separation und Konzentration verstärkt, aber im Alltag erschien die Zeit durch die Spärlichkeit neuer Eindrücke und die Ferne vom Festland langsamer und gleichförmiger abzulaufen, bestimmt durch Tageszeiten, das Wetter, die Präsenz der Natur, des Himmels und des Wassers. Eine Zeiterfahrung, die heute umgangssprachlich ihren Niederschlag im Begriff „Island Time“ gefunden hat.43

Die weibliche Insel Nicht nur die Literaten und Philosophen waren fasziniert von Tahiti, sondern auch die bildenden Künstler. Zu ihnen zählten sowohl diejenigen, die die ersten Erkundungsreisen in die Südsee begleitet hatten, als auch die zu Hause in Europa Verbliebenen, die nie nach Tahiti reisen sollten. Die Bilder der Ersteren waren zwangsläufig faktengesättigt und ethnografisch wie auch geologisch präziser. Dies galt insbesondere für die Zeichnungen, die schon während den Reisen angefertigt wurden. Bereits in den Gemälden, die unmittelbar nach der Rückkehr in Europa entstanden, lässt sich jedoch eine Tendenz zur Idealisierung des Gesehenen beobachten (ebenso in der Literatur, die nach den mehrheitlich nüchternen ersten Beobachtungen und Berichten immer idealisiertere und fantasiereichere Tahiti-Schilderungen hervorbrachte). John Webber malte um 1784 ein Porträt der 19-jährigen Poedua (Abb. 20). Sein Gemälde ist eines der ersten Bildnisse polynesischer Frauen überhaupt. Poedua (oder Poetua) war die Tochter des Oberhaupts von Raiatea (Ulietea), einer der Gesellschaftsinseln in der Nähe von Tahiti. Während des Aufenthalts vor der Insel war sie auf dem Schiff von Cook festgehalten worden, wo sie Webber in ihrer Kabine zeichnete. Webbers späteres Gemälde, das 1785 in der Royal Academy in London ausgestellt wurde, zeigt ein vollkommen anderes Bild. Die junge, schöne Frau steht im Freien vor einer tropischen Landschaft im Hintergrund und lächelt sanft. Sie ist in ein weißes Tuch gehüllt, das ihren Oberkörper unbedeckt lässt. Ihre langen, braunen Haare sind mit kleinen, weißen Jasminblüten geschmückt. In der rechten Hand hält sie ­einen ­Fächer respektive Fliegenfänger, ein Zeichen ihres aristokratischen Status, aber sonst verzichtet der Künstler auf für europäische Augen möglicherweise irritierenden exotischen Schmuck. Auch die Tätowierungen, die die Hände und Arme der Dargestellten schmücken, sind klein und unauffällig. Stattdessen erinnert ihr Lächeln an Leonardos Mona Lisa, und ihre Handhal-

Die weibliche Insel

Abb. 20  John Webber, Poedua, the ­Daugther of Orio, 1784, Öl auf Leinwand, 145,4 × 95,9 cm, National Maritime ­Museum, Greenwich, London

tung ist eine deutliche Anlehnung an ein klassisches Ideal, die antike Venus Pudica, die schamhafte Venus. Webbers Gemälde zeigt deutlich, wie sich bereits die ersten Tahiti-Bilder an europäische Konventionen der Figurendarstellung anlehnten. Das galt auch für Joshua Reynolds Bildnis Omais, das um 1775 entstanden war. Omai stammte von der gleichen Gesellschaftsinsel wie Poedua und war durch Cooks zweite Tahiti-Reise nach England gekommen, wo er ähnlich große Aufmerksamkeit erregte wie Aotourou in Frankreich wenige Jahre zuvor. Reynolds Portrait of Omai zeigt den jungen Mann in weiße Gewänder gehüllt in der Stellung der griechischen Statue des Apollo von Belvedere: ein schöner, edler Wilder, der ein Grieche sein könnte und so dem klassischen, höchsten Schönheitsideal der Zeit gehorchte. Ähnlich idealisiert sind die Landschaftsansichten von Tahiti, so die Gemälde von William Hodges, die ebenfalls während und nach der zweiten Tahiti-Reise entstanden.44 Bereits Georg Forster, der die tahitianischen Inseln als eine der schönsten und glücklichsten Gegenden bezeichnete, die er je gesehen habe, hatte Hodges’ Tendenz zur Idealisierung durch Gräzisierung kritisiert: „Herr Hodges ist jetzt in den nämlichen Fehler verfallen, den man Cipriani vorgeworfen. Er malt

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Abb. 21  William Hodges, Tahiti Revisited, 1776, Öl auf Leinwand, 98 × 138 cm, National Maritime Museum, Greenwich, London

nicht o-Taheitische, nicht Tonga-Tabbuische, sondern griechische Draperien, Figuren, Gesichter, alles.“45 William Hodges hatte auf der zweiten Reise viele Zeichnungen und Ölskizzen gefertigt, von denen manche die Vorlage für spätere Landschaftsgemälde bildeten, wobei er diese aber umgestalte und ethnologische ­Details zugunsten antikisierender Elemente verschwinden ließ. Auch sein Gemälde Tahiti Revisited (Originaltitel: A View taken in the bay of Oaite Peha [­Vaitepiha] Otaheite [Tahiti], 1776), von dem er verschiedene Versionen malte, basiert auf Skizzen, die auf der Reise entstanden waren (Abb. 21). Das Bild zeigt eine Bucht in einer tropischen Landschaft, im rechten Vordergrund badende nackte Frauen. Hinter ihnen stehen Palmen, eine ­flache Hütte, und ganz im Hintergrund ragen spitze, in goldenes Abendlicht getauchte Berge auf. Es ist eine idyllische Szene in einer fruchtbaren Landschaft, die von Euro­ päern noch gänzlich unberührt scheint. Auf den exotischen Ort verweist ein Tii, eine polynesische Ahnen- bzw. Götterfigur, die neben den Badenden zu sehen ist. Die nackten Frauen selbst sind ein Hinweis auf die erotischen Verlockungen Tahitis. Webbers Gemälde zeugt nicht nur von einer Idealisierung, sondern auch von einer „Feminisierung und Erotisierung“ (Anne Mariss).46

Die weibliche Insel

Diese Feminisierung und Erotisierung der Insel hatte eine lange Vorgeschichte im Mythos der Liebesinsel Kythera und ihrer späteren französischen Weiterentwicklungen wie auch in den thematisch verwandten Erzählungen der Insel der Alcina oder der Begegnung von Odysseus und Kalypso oder Kirke. Auch diese Gleichsetzung von Weiblichkeit und Natur sowie die Beschreibung und Allegorisierung neu entdeckter Gebiete als weiblicher Körper hatte eine lange Tradition in der Kunst- und Kulturgeschichte.47 Viel stärker als dort rückt nun der sexualisierte, weibliche Körper selbst in den Vordergrund. Es ist zudem nun der badende, exotische, braune Körper, wobei die Merkmale der Andersartigkeit noch abgeschwächt werden und die braune Haut gerne aufgehellt wird. Auffällig sind die Dominanz solcher Darstellungen aus Tahiti und ihre Kombination mit dem Meer. Bilder von mehr oder minder bekleideten Frauen im Wasser sind außerordentlich häufig. Das aquatische Element – auf offener See für die Seemänner oft bedrohlich oder eintönig – wird an der Küste auch ein erotisches. In der Reise um die Welt schildert Georg Forster beim Aufenthalt auf den Freundschaftsinseln (heute Tonga) solche Begegnungen: Unter den letzteren gab es sehr viel Frauenspersonen, die wie Amphibia im Wasser herumgaukelten und sich leicht bereden ließen an Bord zu kommen, nackt als die Natur sie geschaffen hatte. Um Keuschheit war es ihnen auch eben so wenig zu thun als den gemeinen Mädchen auf Tahiti und den Societäts-Inseln, und man kann wohl denken, dass unsere Seeleute sich den guten Willen dieser Schönen zu Nutzen machten. Sie ließen uns auch hier wieder Scenen sehen, welche der Tempel Cytherens werth gewesen wären.48

Georg Forster bezeichnete die freizügigen polynesischen Frauen als Nymphen, was im 18. Jahrhundert nicht nur eine klassische Referenz, sondern auch eine Bezeichnung für Prostituierte ist. Damit traf er eine Unterscheidung zwischen „gemeinen“, niedrig gestellten Frauen, also Nymphen oder Prostituierten, und höher gestellten, sittsamen Frauen. Die Möglichkeit erotischer Abenteuer war seit jeher eine der Verlockungen des Reisens.49 Die Reisenden der Grand Tour suchten im Süden Europas nicht immer ausschließlich ihre klassische Bildung zu vervollkommnen, sie interessierten sich auch für andere Genüsse, und die geringere soziale ­Kontrolle kam der Abenteuerlust entgegen. Das Andere, die exotische Differenz, weckte die Neugier, und der physische Kontakt war eine Form der Annäherung an eine fremde Welt. In Colonnas Hypnerotomachia Poliphili, bei de Scudéry und Watteau herrschte das Idealbild einer zivilisierten Erotik der Insel und der Reise vor. Den Frauen kam dabei eine wichtige und gleichberechtigte Rolle zu – und sie waren gebildet. Anders in den späteren Tahiti-Bildern, in der exotische, wasseraffine junge Frauen den vorzivilisatorischen Naturzustand verkörper-

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Abb. 22  Nicolas Chevalier, Sunny Clime, 1883, Sunderland Museum and Winter Gardens (oder: Maori Girl, Hinemoa, 1879)

ten und die auch kaum einen Hinweis auf die realen zeitgenössischen Geschlechterverhältnisse geben. Denn in der tahitianischen Gesellschaft gab es durchaus einflussreiche und hochgestellte Frauen, zudem war die Trennung zwischen den Geschlechtern gesellschaftlich nicht immer eindeutig festgelegt. Solche Differenzierungen spielten in den frühen Darstellungen keine Rolle, hier lag der Fokus auf unschuldigen, aber verführerischen Mädchen oder „Nymphen“.50 Die Schilderungen und die Bilder, die in den folgenden Jahrzehnten entstanden, bedienten – romantisiert oder explizit – die Vorstellung von freizügigen und freigebigen jungen Südseeinsulanerinnen. Dazu gehörte auch Édouard Delesserts illustrierter Reisebericht von 1848, Voyages dans les Deux Océans Atlantique et Pacifique, der Illustrationen von unbekleideten Tahitianerinnen enthielt.51 In den 1880er-Jahren zeigten die Gemälde des damals erfolgreichen Malers Nicholas Chevalier (1828–1902), der 1869 den Duke of Edinburgh auf einer Weltreise begleitet hatte, die Insel als süßes Arkadien (Sunny Clime, 1883, Abb. 22) mit träumerischen Bewohnerinnen (Maori Girl, Hinemoa, 1879). Zur selben Zeit verfasste der Schriftsteller und Marineoffizier Pierre Loti (Louis Marie Julien Viaud) Le Mariage de Loti (Rarahu).52 Der als Tagebuch konzipierte, schwärmerische und nostalgische Roman über die Liebes­

Die weibliche Insel

geschichte des englischen Marineoffiziers Harry Grant, genannt Loti, und der 14-jährigen Tahitianerin Rarahu war ein großer Erfolg. Viaud alias Loti selbst war 1872 als Seemann nach Tahiti gekommen, doch schon als Kind hatten ihn, wie er in seinem autobiografischen Roman eines Kindes (Le Roman d’un Enfant) schreibt, ein illustrierter Reisebericht, den er von seinem Bruder erhalten hatte, von Tahiti träumen lassen. Lotis Bericht ist äußerst aufschlussreich, weil er die Wirkung von Reiseberichten anschaulich widergibt: Dann schenkte er mir ein großes Buch mit Goldschnitt und zahlreichen Abbildungen, welches präzise von einer Reise nach Polynesien handelte; und es war in meiner frühen Kindheit das einzige Buch, das mir gefiel. Ich blätterte sofort mit hastiger Neugier darin. Das Titelbild war ein großer Stich, der eine braune, ziemlich hübsche Frau darstellte, welche mit Schilf bekränzt war und in lässiger Haltung unter einer Palme saß; darunter war zu lesen: ‚Porträt Ihrer Majestät Pomaré IV., Königin von Tahiti.‘ Weiter hinten waren zwei schöne Frauenzimmer an der Meeresküste zu sehen, die mit Blumen bekränzt und deren Brüste nackt waren; die Legende dazu lautete: ‚Junge Mädchen an einem Strand‘.53

Auch ein späterer Eintrag ist interessant: Im Lauf des Winters, der auf die Abreise meines Bruders folgte, verbrachte ich viele meiner Mußestunden in seinem Zimmer, wo ich im Buch ‚Reise nach Polynesien‘, das er mir geschenkt hatte, die Bilder ausmalte. Mit größter Sorgfalt kolorierte ich zuerst die Blütenzweige und die Vogelschwärme. Dann kamen die Leute an die Reihe. Die beiden tahitianischen Mädchen an der Meeresküste aber, bei denen der Zeichner von irgendwelchen Nymphen inspiriert worden war, malte ich weiß an, o ja, weiß und rosa wie die lieblichsten Puppen. Und so bemalt fand ich sie entzückend. Es blieb der Zukunft vorbehalten mir beizubringen, dass dies nicht ihre Hautfarbe war und dass ihr Reiz ganz woanders lag […].54

Der Chirurg Gustave Viaud hatte das Buch seinem 14 Jahre jüngeren Bruder kurz vor seinem Abschied zu einer ersten Reise nach Tahiti geschenkt. Viaud war auf der Insel nicht nur beruflich tätig. Er heiratete eine Einheimische und wurde zum ersten Fotografen Tahitis. Spätere Tahiti-Reisende wie der Arzt und Schriftsteller Victor Segalen schätzten Loti zwar gering, nahmen jedoch die Insel nicht so anders wahr, nämlich als Ort des Glücks und der Verführung. So schrieb Segalen 1911 in einem Brief: „Ich habe dir gesagt, dass ich in den Tropen glücklich war: Es ist überwältigend wahr. Während der zwei Jahre in Polynesien habe ich vor Glück schlecht geschlafen. Wenn der Tag anbrach, erwachte ich in Tränen, berauscht vor Freude … Die ganze Insel erschien mir wie eine Frau.“55 ­Segalen hatte kurz nach Gauguins Tod dessen Haus auf Hiva Oa besucht und eindrücklich beschrieben. Anders als Segalen war der Künstler, als er noch in Frankreich lebte, ein begeisterter Leser Lotis gewesen. In Gauguins späteren Aufenthalten auf Tahiti und den Marquesas-Inseln finden die verschiede­nen Aspekte

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auf anschauliche Weise zusammen: die Vorstellung von Inseln als einem ursprünglichen Ort und einem verlockenden exotisch-erotischen Paradies. Zudem wird die Insel erstmals zu einem Identifikationsort für ­einen Künstler selbst.

Mythos Insel – Mythos Künstler In einem Brief an seine dänische Frau Mette schrieb Paul Gauguin im Jahr 1890: Möge der Tag kommen (und vielleicht bald), an dem in den Wald auf einer Insel in Ozeanien fliehen werde, um dort von Ekstase, Ruhe und Kunst zu leben. Umgeben von einer neuen Familie, weit entfernt von diesem europäischen Kampf um das Geld. Dort, in ­Tahiti, werde ich in der Stille der wunderschönen tropischen Nächte die süße, murmelnde Musik der Bewegungen meines Herzens in Harmonie mit den geheimnisvollen Wesen um mich herum hören können. Frei endlich, ohne Sorge um Geld könnte ich lieben, singen und sterben.56

Auf die Insel zu fliehen, um in Freiheit zu lieben, zu singen und zu sterben; Kunst zu machen, ohne die ständige Sorge um Geld und Auskommen. In wenigen Sätzen fasste der Künstler die Sehnsucht zusammen, die ihn seit einigen Jahren beschäftigte: ein neues, glückliches Leben an einem Ort, der dafür geeigneter schien als die heimische Gesellschaft.57 Paul Gauguin wurde der bekannteste inselreisende Künstler. Nicht wenige folgten seinem Vorbild, um auf einer exotischen Insel ihr Glück, die Befreiung von der Zivilisation und ihre Inspiration zu suchen: Einige Jahrzehnte nach Gauguin reisten der deutsche Expressionist Max Pechstein und seine Frau Lotte 1914 nach Palau, eine Inselgruppe im Westen Mikronesiens, die seit 1899 als Teil von Deutsch-Neuguinea für kurze Zeit eine Kolonie des Deutschen Reichs war.58 Gauguins zwei Aufenthalte auf Tahiti und seine letzte Reise zu den Marquesas-Inseln sind bis heute faszinierend und heftig diskutiert. Paradigmatisch wurden sie nicht nur dadurch, dass er der erste westliche Künstler war, der für längere Zeit auf – einer aus europäischer Perspektive – abgelegenen, weit von allen traditionellen Kunstzentren entfernten Insel sesshaft wurde. Gauguins vor Ort entstandene Werke haben unsere Vorstellung von Tahiti und vom „Exotischen“ nachhaltig geprägt. Dazu gehören nicht nur seine Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen, sondern ebenso seine Schriften und das Haus, das er auf der Insel Hiva Oa für sich erbaute. Sie sind exemplarisch für Themen und Motive, die inselreisende Künstler seither beschäftigen: die (vergebliche) Suche nach insulärer Ursprünglichkeit und einer Einheit von Kunst und Leben, die Identifikation mit der Insel sowie ihren Bewoh-

Mythos Insel – Mythos Künstler

nern und insbesondere eine starke Selbstmythisierung. Sie zeigen zudem die enge Verflechtung mit der zeitgleichen kolonialen Expansion: Gauguins erste Tahiti-­Reise wurde von den französischen Behörden finanziell unterstützt, der Maler erhielt den Auftrag, die Bräuche und Landschaften Tahitis zu studieren und zu malen. Zugleich stand er dem Kolonialismus und seinen Auswirkungen kritisch gegenüber. In seinen Werken und insbesondere seinen Schriften zu Tahiti hat ­Gauguin einen eigenen, neuen Mythos geschaffen, indem er die Idee eines genialen, wilden, unzivilisierten Künstlers eng mit dem Mythos einer Insel verband. Die kunstkritische und populäre Rezeption Gauguins nach dessen Tod 1903 auf den Marquesas-Inseln fokussierte stark auf die Person des Künstlers, wobei die Zeit in der Südsee einen Schwerpunkt bildete.59. Die Vorstellung des Künstlers als eines genialen, an der Gesellschaft leidenden Außenseiters war auch für die Rezeption anderer Kunstschaffenden seiner Zeit prägend, etwa für seinen Malerkollegen Vincent van Gogh.60 Der Mythos des autonomen Außenseiter-Künstlers fand jedoch durch Gauguins Tahiti-Aufenthalt einen besonders fruchtbaren Nährboden.61 Lange wurden Gauguins Leben auf Tahiti und seine Auseinandersetzung mit der tahitianischen Kultur und Gesellschaft, auch seine Liaisons mit sehr jungen Tahitianerinnen (Gauguin hatte vier Kinder mit drei polynesischen Frauen) in der kunsthistorischen Literatur unkritisch und romantisch geschildert. Inzwischen herrscht eine differenziertere Beurteilung vor, auch wenn – etwa in Ausstellungen und Filmen wie Édouard Delucs Gauguin – Voyage de Tahiti (2017) – immer noch bevorzugt ein romantisierendes und wenig kontroverses Bild gezeichnet wird. Hier soll der Fokus stattdessen auf dem Konflikt von Inselmythen und Inselrealitäten sowie der engen Verflechtung mit dem Kolonialismus und Tourismus liegen. Ende der 1880er-Jahre fasste Paul Gauguin den Entschluss, auf eine ferne Insel auszuwandern. Dies war eine radikale Entscheidung, auf die vor ihm kein anderer bildender Künstler gekommen war. Zwar hatten unmittelbar nach der Entdeckung Tahitis einige deutsche Dichter von einer Auswanderung auf die Südseeinsel geträumt, und der Dichter Arthur Rimbaud verbrachte einige Monate auf Java, bevor er sich nach Afrika zurückzog. Auch waren Rückzüge aus Paris in die ländliche oder kleinstädtische Abgeschiedenheit keine Seltenheit, zum Beispiel Vincent van Goghs Aufenthalt in Arles und die Bildung von ländlichen Künstlerkolonien wie der Schule von Barbizon im 19. Jahrhundert. Ebenso hatten Künstlerreisen in den Orient oder Nordafrika wie Eugène Delacroix’ Reise nach Marokko in den 1830er-Jahren Tradition, aber das europäische, urban geprägte künstlerische Umfeld ganz hinter sich zu lassen, das war neu. Dass es von den zahlreichen in Paris

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t­ ätigen Avantgardekünstlern ausgerechnet Gauguin auf eine Insel im Pazifik zog, ist jedoch naheliegend. Bereits als Kind hatte der 1848 geborene Maler zweimal den Atlantik überquert. Kurz nach seiner Geburt reiste die Familie aus politischen Gründen nach Peru, das Heimatland seiner Mutter Aline Marie Chazal Tristán, wo sie bis 1854 blieben, bis er und die nunmehr verwitwete Mutter aufgrund des Bürgerkriegs in Peru nach Frankreich zurückkehren mussten. Zwischen 1865 und 1870 führte ihn seine Anstellung als Seemann nach Südamerika, den Nordpol, durch den Mittelmeerraum und das Schwarze Meer. Später, als er vom Börsenmakler zum Maler geworden war, folgten mehrere Aufenthalte in Pont-Aven in der Bretagne und im Sommer und Herbst 1888 bei Vincent van Gogh in Arles. Der weitgereiste Künstler hegte über lange Zeit Auswandererträume. In den drei Jahren vor seiner Abreise nach Tahiti hatte Gauguin verschiedene Orte für ein mögliches Exil genau studiert, zur Auswahl standen die Insel Martinique, die der Künstler im Sommer 1887 gemeinsam mit dem Maler Charles Laval auf seiner Mittelamerikareise besucht hatte, das nordvietnamesische Tonkin und vor allem Madagaskar im Indischen Ozean.62 Gauguin trug sich mit dem Gedanken, sich in Tonkin, das als Teil Indochinas französisches Protektorat geworden war, um eine Stelle in der Kolonialverwaltung zu bewerben. Dies sollte ihm nach seinen andauernden finanziellen Sorgen ein Auskommen bieten und dabei genug Zeit zum Malen lassen. Er lud Vincent van Gogh und Jacob Meyer de Haan ein, ihn zu begleiten, doch diese Reisepläne zerschlugen sich. Nicht nur Gauguins eigene Reisen regten seine Auswanderergedanken an. Von Tonkin, Madagaskar und weiteren Überseegebieten waren im den französischen Kolonien gewidmeten Teil der Pariser Exposition universelle von 1889 Exponate zu sehen. Gezeigt wurden Fotografien, Pläne, Kunstwerke und Artefakte, aber auch Häuser und Dörfer im lokalen Stil. Insbesondere das kampong javanais, das javanesische Dorf mit rund sechzig traditionell gekleideten Bewohnern, war ein großer Erfolg. Das lag vor allem an den Tänzen aus dem kaiserlichen Hof in Solo, Zentraljava, die dort aufgeführt wurden und die Gauguin wie viele andere Pariser Besucher beeindruckten. Ebenso imposant waren die Exponate im angrenzenden Bereich, die aus Kambodscha stammten, das seit 1863 französisches Protektorat war, insbesondere die Abgüsse der Tempelanlagen von Angkor Wat. Neben den Abteilungen, die den Neuerungen und dem Fortschritt gewidmet waren, sollte die Exposition universelle ein aufregendes, exotisches Bild vermitteln und zugleich die weitgehend unpopuläre Kolonialpolitik Frankreichs in ein ­gutes Licht rücken.63 Gauguin besuchte die Ausstellungen wiederholt und war fasziniert. Aus Tahiti waren zahlreiche Exponate zu sehen.64 Dazu hatten das

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Departément des colonies und andere Autoren Führer verfasst, die wie ein Echo der ersten Beschreibungen der Entdecker der Insel im 18. Jahrhundert wirken. Gauguin kopierte sie Ende 1890 in einem Brief: Unter einem Himmel ohne Winter, in einem wunderbar fruchtbaren Land, muss der ­Tahitianer nur seinen Arm heben, um sein Essen zu sammeln; er arbeitet auch nie. Während in Europa Männer und Frauen nur nach unermüdlichen Arbeit die Befriedigung ihrer Bedürfnisse erlangen, während sie den Krämpfen der Kälte und des Hungers ausgeliefert und im Griff des Elends sind, kennen die Tahitianer, glückliche Bewohner des unbekannten ozeanischen Paradieses, vom Leben nur die Süße. Für sie heißt Leben zu singen und zu lieben.65

Ziel des Führers war es, so lautet das Vorwort, eine getreue Darstellung der neuen Kolonien zu geben: „[…] das genaue Bild der Bewohner, die diese kleinen, über den Ozean verstreuten Frankreiche bevölkern, eine Art Inventar unseres kolonialen Reichtums.“66 Auch im oben zitierten Brief an seine Frau finden sich direkte Bezüge zum Führer zu den französisch gewordenen Überseegebieten. Gauguin suchte auf Tahiti nicht nur die paradiesische Idylle und das günstige Leben; die ferne Insel sollte einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung seiner Kunst bieten. In einem Brief an den Maler Odilon Redon, der ihn in seinen Reiseplänen beraten hatte, schrieb der Maler: „Madagaskar ist immer noch zu nah an der zivilisierten Welt; ich werde nach Tahiti gehen und hoffe, dort mein Leben zu beenden. Ich schätze, dass meine Kunst, die du liebst, nur ein Samen ist, und ich hoffe, dass ich ihn im primitiven und wilden Zustand für mich selbst kultiviere. Ich brauche Ruhe dafür. Was bedeutet schon Ruhm für andere? ­Gauguin ist hier fertig, wir werden nichts von ihm sehen.“67 Gauguin suchte ein Umfeld, in dem er seine Kunst, die bisher erst ein Samen war, weiterentwickeln konnte. Der dafür notwenige „primitive, wilde“ Zustand war zugleich ein äußerer und innerer. Er umfasste eine unzivilisierte, abgelegene, ruhige Umwelt, die ihm nicht nur die günstigen äußeren Rahmenbedingungen für seine Arbeit bot, sondern die seinem eigentlichen primitiven und ursprünglichen Wesen entsprechen sollte. Die Suche nach einem Ort fern von der Zivilisation rührte tief an sein künstlerisches Selbstverständnis. In seinen zahlreichen Selbstbildnissen und Schriften betonte Gauguin sein antibürgerliches Außenseitertum stets, es war geprägt von Auserwähltheit, Leiden und der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Mit dieser Sehnsucht nach dem Wilden und Primitiven stand Gauguin am Beginn der Auseinandersetzung europäischer Künstler mit nichteuropäischer Kunst, die man unter dem Begriff des Primitivismus subsumierte.68 Kirk Varnedoe nannte ihn im Katalog zur großen Primitivismus-Ausstellung, die 1984 im Museum of Modern Art in New York stattfand, den

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­eigentlichen Stammvater.69 Im Unterschied zu anderen Künstlern wie etwa Edgar Degas suchte Gauguin in fremden Kulturen aus Japan, Persien, Ägypten, Kambodscha und Java nicht nur künstlerische Inspiration und formale Anregungen, er identifizierte sich – bis zu einem gewissen Grad – mit den außereuropäischen „Wilden“. Dies begründete der Maler durch seine eigene Biografie, in der er seine peruanische, von den Inkas abstammende Herkunft mütterlicherseits betonte, wie er 1888 in einem Schreiben festhielt.70 Immer wieder nannte er sich einen „Wilden“, so wenn er wie in einem Brief über den Maler Puvis de Chavannes und sich schrieb: „Er ist Grieche, ich hingegen bin ein Wilder, ein Wolf im Dickicht ohne Halsband.“71 Bester Beweis waren seine Reisen. Seine Selbstidentifikation mit der ursprünglichen Wildheit wurde durch seine tatsächlichen Aufenthalte auf ­Tahiti bestätigt und für lange Zeit breit akzeptiert. Ein früher Biograf ­Gauguins, der Dichter Charles Morice, der auch seinen Reisebericht Noa Noa in der ­Revue blanche publizierte, schrieb im Vorwort des Katalogs zur ersten Ausstellung der auf Tahiti entstandenen Werke, die 1893 in der Pariser Galerie Durand-­Ruel stattfand: „[…]Er wurde zum Wilden, zum eingebürgerten Maori“, seine Gemälde zeigten „das Tahiti von früher, ein Tahiti vor unseren schrecklichen Matrosen und der parfümierten Marmelade von Herrn P ­ ierre 72 Loti […].“ Sowohl Gauguin als auch Pierre Loti waren auf Tahiti gewesen und durch den „Nachweis des Dortgewesenseins“ und ihre „Inszenierung von Authentizität“ glaubwürdige Berichterstatter.73 Die primitivistischen Werke des verwilderten Malers zeigten dabei, so Morice, ein noch ursprünglicheres, „authentischeres“ Tahiti als die von Loti in seinem Roman geschilderte „parfümierte“ Welt. Aus europäischer Sicht wurde der Künstler zum eigentlichen „artist-in-residence in a Tahitian Eden“.74 Sein Tod auf Hiva Oa 1903 war die finale Bestätigung der engen Verbindung. Und schon vorher hatte ihm der Künstler, Kunstsammler und erste Biograf Daniel de Monfreid geschrieben, er solle am besten auf den Marquesas bleiben, er sei bereits unsterblich.75

Synthetischer Archaismus. Gauguin als Tourist Gauguins Selbststilisierung als Künstler, der auf einer paradiesischen Insel fern der Zivilisation zu ursprünglicher Natur und Einfachheit zurückgefunden hatte, wurde von vielen bereitwillig aufgenommen, aber auch früh kritisiert. Nach dem schwedischen Anthropologen Bengt Danielsson, der 1947 auf der Kon-Tiki in die Südsee gereist war und unter anderem darauf hinwies,

Synthetischer Archaismus. Gauguin als Tourist

dass Gaugin die tahitianische Sprache nur rudimentär beherrschte, begann der amerikanische Kunsthistoriker Kirk Varnedoe, Gauguins Lebenslegende eines primitiven, wilden Künstlers zurechtzurücken und schrieb im Katalog zur Primitivismus-Ausstellung kurz und vernichtend: „Gemessen an wirk­ lichen Entdeckungen und echter Kulturflucht wirkt Gauguins Primitivismus wie eine Fassade von Halbwahrheiten.“76 Dabei ging es weniger darum, Gauguins künstlerische Leistungen zu schmälern, die unbestritten waren, sondern vielmehr gerade deren Komplexität zu würdigen. Man kann sie einerseits daraufhin wenden, die Unmöglichkeit „echter Kulturflucht“ aufzuzeigen, sodass sowohl Gauguin als auch nachfolgende Inselreisende auf ihrer Suche nach Ursprünglichkeit zwangsläufig scheitern mussten. Andererseits gab gerade dieses Scheitern Anlass zu vielschichtigen Schöpfungen. Dieses Paradox wird von Gauguin in vielfältiger Weise fruchtbar gemacht. Die Probleme begannen schon bei der Ankunft. Ein Topos der Inselund Reiseliteratur ist die Beschreibung der Landung auf einer Insel, die oft eine Ernüchterung mit sich bringt: „Der erste Anblick der kleinen Insel bietet nichts Zauberhaftes, nichts, was sich zum Beispiel mit der wundervollen Bucht von Rio de Janeiro messen könnte.“77 Bei Gauguin rührt die Enttäuschung nicht nur von der unspektakulären Landschaft, sondern vor allem von der europäischen Präsenz her: „Das Leben in Papeete wurde mir rasch zur Last. Das war ja Europa – jenes Europa, von dem ich loszukommen geglaubt hatte – dazu unter den erschwerdenden Aspekten des kolonialen Snobis­mus, einer kindlichen und bis zur Karikatur grotesken Nachahmung. Nicht um das anzutreffen, war ich weit gereist […].“78 Bereits zehn Jahre vor Gauguins Ankunft war Tahiti eine französische Kolonie geworden. Der Hauptort Papeete hatte sich zu einer kleinen Kolonial­ stadt mit Europäern verschiedener Nationen und Konfessionen sowie vielen Amerikanern und Chinesen entwickelt. Alle hatten sie eigene Quartiere. Das Leben in Papeete war wider Erwarten teuer und die protestan­tische und die katholische Kirche übten großen Einfluss aus.79 Doch trotz seiner Ablehnung der europäischen Präsenz war Gauguins Suche nach unberührter Wildnis eng verknüpft mit seiner Abhängigkeit von der Zivilisation, die er hatte verlassen wollen, wie auch überhaupt die meisten Inseln damals bereits eng mit dem Festland verbunden waren. Sich auf einer tropischen Insel zu befinden, bedeutete schon damals nicht mehr absolute Isolation und Unberührtheit. Ende des 19. Jahrhunderts war das Zeitalter der Entdeckung neuer Territorien weitgehend vorbei. Die letzten neuen Überseegebiete waren kolonialisiert, kartografiert und durch Schiffslinien erschlossen.

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Gauguins erster Aufenthalt auf Tahiti erfolgte zeitgleich mit den Anfängen des Südseetourismus, der von der französischen Regierung aktiv gefördert wurde. Kolonialismus und Tourismus waren wie an anderen Orten eng verbunden und der Tourismus bildete quasi das attraktivste Gesicht der kolonialen Eroberungen. Der erste touristische Führer für Tahiti erschien bereits 1889, zwei Jahre vor Gauguins Reise.80 Wie die anderen Touristen war Gauguin abhängig von der Infrastruktur. Allerdings gab es in Papeete noch keine Hotels und die Schiffverbindungen waren langsam.81 Die Reise des Künstlers im Frühjahr 1891 dauerte 69 Tage. Während der Zeit auf Tahiti und später auf Hiva Oa unterhielt Gauguin dann jedoch steten Kontakt mit seiner Familie, den Freunden und Kunsthändlern in Paris. Mit dem Postschiff kamen Briefe, Geld, Leinwände und Mal­utensilien aus der Heimat. Der Schiffsverkehr war damit gleichsam die Nabelschnur, die ihn mit Frankreich verband. Immer wieder beklagte sich Gauguin über die langsame Postverbindung. Während er die Elektrifizierung von Papeete bedauerte, begrüßte er die neue Dampferpostverbindung über San Francisco.82 Im Alltagsleben kaufte er Biskuits, teure Dosenlebensmittel, Wein, Bier und Zigaretten bei chinesischen, amerikanischen und deutschen Händlern, statt auf traditionelle Art mit Einheimischen zu fischen. Ein anderes Problem war die Stellung des Künstlers. Gauguin hat seine Außenseiterposition in seinen Schriften und Porträts immer wieder betont, doch als französischer Bürger war er weiterhin Teil der kolonialen Welt, wenn auch mit prekärem Status. Immer wieder geriet er in Streit mit der Kolonialverwaltung und den kirchlichen Autoritäten, doch suchte und pflegte er zugleich Kontakte und Verbindungen zur Regierung: 1892 bewarb er sich (vergeblich) um einen Posten als Friedensrichter. Im September 1895, unmittelbar nach seiner zweiten Ankunft in Papeete, nahm er an einer Expedition des Gouverneurs auf die gegen die französische Kolonialherrschaft rebellierenden Gesellschaftsinseln Bora Bora und Huahine teil und schilderte ein anschließendes offizielles Bankett mit enthusiastischen Worten.83 Gleichzeitig war er aber auch auf Tahiti ein Fremder. Insbesondere seine weiblich langen Haare erregten dort Aufmerksamkeit, er wurde MannFrau – tahitianisch taata vahine – genannt. In der einheimischen Männerwelt der Insel blieb Gauguin ein Außenseiter. Es waren stattdessen die jungen einheimischen Frauen, die seine wichtigsten Beziehungen bildeten, als Modelle, Geliebte oder Haushälterinnen. Er hatte jedoch einige zentrale Gemeinsamkeiten mit dieser neuen Klasse von Reisenden, den Touristen. Zwar blieb er etwas länger vor Ort als die meisten Touristen, aber man kann ihn trotzdem als einen sogenannten Pionier­touristen bezeichnen, der entlegenere Orte bereist, die dann später

Synthetischer Archaismus. Gauguin als Tourist

zu Destinationen für den breiten Tourismus werden.84 Die Kunsthistorikerin Griselda Pollock hat als eine der ersten Autorinnen auf Gauguins Verbindung zum frühen Tourismus hingewiesen: „Gauguin’s trips to Tahiti made him a particular kind of tourist, part of an advance guard, the eyewitness reporter.“85 ­Gauguin zählt also nicht nur als Künstler zur Avantgarde, sondern auch als Teil ­einer neuen Klasse von Reisenden. Pollock nahm in ihren Argumenten Bezug auf Dean MacCannells grundlegende Studie The ­Tourist. A New Theory of the Leisure Class. Darin beschrieb MacCannell den Touristen (wie auch den Ethnologen) als eine zentrale Erscheinung der Moderne. Der T ­ ourist ist auf der Suche nach Erfahrung, nach Authentizität, die in der Moderne anderswo liegt – in anderen Kulturen, im einfachen Leben oder in der Vergangenheit. Dabei ist er stark geprägt von Reiseführern und Bildern („Markern“). Der Tourismus begegnet den Veränderungen der Moderne durch die Fiktionalisierung des Alltags und der Tradition.86 Ebenso kennzeichnend für den Touristen ist die Möglichkeit der potenziellen Enttäuschung vor Ort, der doch weniger authentisch und unberührt ist als erträumt. Denn ein grundlegendes Problem des Touristen, aber auch des reisenden Künstlers, ist der Eindruck des Zuspätkommens, der Nachträglichkeit oder der Unmöglichkeit der authentischen Erfahrung: „[…] a sense of b ­ elatedness in a traveler, especially in a traveler who decides to give a w ­ ritten account of his travels. The vast majority of the places v­ isited […] were already familiar through a great many representations in various media.“87 Auch Gauguin sah nicht nur die Präsentation der französischen Kolonien an der Exposition universelle, er las, wie er in der auf den Marquesas-Insel entstandenen Autobiografie Avant et après (Vorher und nachher) erwähnt, auch das Journal des Voyages.88 Die touristische Suche nach Authentizität bzw. die Melancholie oder Nostalgie des Touristen angesichts früherer Zeiten, in denen authentische Erfahrung und die Begegnung mit Ursprünglichkeit noch möglich waren, setzte, so Porter, bereits im 19. Jahrhundert nach dem „golden age of travel“ ein.89 Der Eindruck des Zuspätkommens und des Verschwindens der von äußeren Einflüssen unberührten Tradition war auch eine grundlegende Erfahrung der Ethnologie, von der Claude Lévi-Strauss in Traurige Tropen eindrucksvoll berichtete. Die außereuropäische Tradition erschien immer schon im Verfall begriffen: „The non-Western world is always vanishing and modernizing. As in Walter Benjamin’s allegory of modernity, the tribal world is conceived as a ruin“, zitierte Abigail Solomon-Godeau den Historiker James Clifford.90 Bereits die ersten Besucher im 18. Jahrhundert erlebten, wie wir oben sahen, Tahiti als bedroht.

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Wie anderen Touristen waren Gauguin die Zeichen der Moderne zuwider, er suchte vielmehr Authentizität. Man könnte auch sagen, dass er am von Jean-Didier Urbain identifizierten Armstrong-Syndrom litt, dem Wunsch, der Erste zu sein, der ein neues Gebiet betrat.91 Der Künstler begegnete der Modernisierung und Entzauberung des tahitianischen Alltags mit verschiedenen Strategien. Er zog von Papeete in eine abgelegenere ländliche Gegend und am Schluss seines zweiten Aufenthalts auf die noch weiter entfernten Marquesas-Inseln. Er begann, die Vergangenheit Tahitis und seine alten Mythen zu studieren und interessierte sich für die Kunst und Archäologie der Insel, die Tempel und Skulpturen. Diese Beschäftigung mit der vom Verschwinden bedrohten Geschichte und Ursprünglichkeit ebenso wie der Versuch deren „Rettung“ ist  – wie bereits James Clifford und andere gezeigt ­haben  – auch paradigmatisch für Ethnologie (und Kunst) und wird in folgenden Kapiteln immer wieder auftauchen. Dabei diente Gauguin vor allem das Buch des belgischen Kaufmanns und amerikanischen Konsuls Jacques-­ Antoine Moerenhout, Voyages aux îles du Grand Océan aus dem Jahr 1837, als Grundlage. Seine jungen tahitianischen Gefährtinnen Titi und Tehamana hatten als Frauen keinen Zugang zum Wissen über Mythen und religiöse ­Riten, dienten jedoch als Quellen für das Leben und Denken der Inselbewohner.92 Und sie waren die wichtigsten Modelle für seine Gemälde, denn noch stärker als durch ihre Landschaften wurde die Insel durch ihre Bewohnerinnen repräsentiert. In seiner Kunst stellte er die tahitianische Welt auf verschiedene Weisen dar. 1892, dem Jahr nach seiner Ankunft, entstanden sowohl Te nave nave ­fenua (Herrliches Land) als auch Ta matete (Der Markt). Te nave nave ­fenua zeigt eine nackte, monumental wirkende Frau vor einer bunten paradiesischen Landschaft, die mit ihrer rechten Hand nach dem Kopf einer Blume greift (Abb. 23). Die „tahitianische Eva“, wie sie in Noa Noa bezeichnet wird, die Gauguin in verschiedenen Versionen immer wieder gemalt und gezeichnet hat, erscheint als eine Verkörperung des Wunsches nach Naturnähe und Ursprünglichkeit. Sie wurde sogar in Beziehung zu zeitgenössischen Theorien der Evolution und Fossilierung gebracht, die auch an der Pariser Exposition universelle von 1889 Thema waren.93 Sie ist das Idealbild ­einer „primitiven“ Frau, das sich von älteren Darstellungen wie John ­Webbers ­Poedua durch die nichtklassische Betonung der Körpermasse und Extremitäten unterscheidet. Die breiten Schultern, die massiven Füße und das sichtbare Schamhaar unterstreichen die Kraft und Wildheit der jungen Frau. Sie verleihen ihr zudem eine gewisse Androgynität, die Gauguin auch in Noa Noa als positives Merkmal der Tahitianer und Tahitianerinnen hervorhob. Vorbild für die Darstellung war eine Buddhafigur an der Fassade des

Synthetischer Archaismus. Gauguin als Tourist

Abb. 23  Paul Gauguin, ­Te nave nave fenua, 1892, Öl auf grobe Leinwand, 92 × 73,5 cm, Ohara Museum of Art, Kurashiki, Japan

Tempels Borobudur auf Java, von der Gauguin eine Fotografie besaß. Von europäischer Vergangenheit oder Gegenwart ist im Bild nichts sichtbar. Anders in Ta matete (Abb. 24). Das Gemälde zeigt einen Markt mit auf einer Bank sitzenden Frauen, hinter denen zwei Männern in pareus (­Lendentüchern) Fische vorbeitragen. Die jungen Frauen sind wohl keine Marktfrauen, sondern möglicherweise in die modernen hochgeschlossenen Missionskleider gewandete Prostituierte  – der Markt war bekannt dafür, dass sich dort Frauen anboten.94 Einige von ihnen rauchen, eine weitere junge Frau hält ein Stück Papier in der Hand. Die Schilderung des Alltags auf ­einem Marktplatz ist stark beeinflusst von Figurendarstellungen, die aus ­einer ägyptischen Grabmalerei der 18. Dynastie aus Theben stammen, von der Gauguin eine Reproduktion besaß. Der tahitianische Alltag am Ende des 19. Jahrhunderts ist zwar dargestellt, anders als in Te nave nave fenua, wird aber durch den von altägyptischen Motiven inspirierten Stil transformiert. Durch die parataktische Anordnung der Frauenfiguren und die Flä-

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Abb. 24  Paul Gauguin, Ta matete (Le marché), 1892, Öl auf Jute, 73,2 × 91,5 cm, ­Kunstmuseum Basel

chigkeit der Darstellung erhält die zeitgenössische Marktszene eine überzeitliche Qualität. Während auch Te nave nave fenua ein zeitloses, bruchloses Ideal zeigt, ist Ta matete aufgrund der Verbindung verschiedener Elemente und Bildtraditionen komplexer und hybrider. Wie die beginnende Tourismusindustrie fiktionalisierte Gauguin tahitianische Konventionen und Traditionen. Ähnlich wie Antoine Watteau in seiner Einschiffung nach Kythera schuf er einen modernen Mythos, der viel mit einer idealen und wenig mit einer realen Insel zu tun hatte. Auch wenn seine Werke Hinweise auf die moderne Welt enthalten (etwa die Missionskleider) zeigen sie doch ein zeitloses respektive überzeitliches Tahiti, dessen Darstellung sich aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen speist. Die Aneignung und Synthese lokaler Bilder mit ägyptischer oder in anderen Werken älterer christlicher Ikonografie oder hinduistischer Kunst – oft mittels Fotografien – war ein zentrales Verfahren in Gauguins Malerei. Die meist „primitiven“, vorklassischen Kunstformen setzte er dabei als gleichwertig ein. Sie erweiter-

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ten und befruchteten sein Repertoire an malerischen Möglichkeiten der Behandlung des Raums und der Figuren. Einem Zeitgenossen Gauguins, dem Maler Camille Pissarro, war Gauguins Strategie suspekt: Gauguin „est toujour à braconner sur les terrains d’autrui, aujourd’hui il pille des sauvages de l’Océanie!“95 Pissarro bezeichnete Gauguin als eine Art Freibeuter, der auf der Suche nach neuen Schätzen durch die Lande zog, von der Bretagne nach Martinique, von Martinique nach Tahiti und zuletzt auf die Marquesas-Inseln. Auch heute wird kulturelle Aneignung wieder sehr negativ gesehen und verurteilt, insbesondere wenn sie von dominanten Gruppen gegenüber weniger privilegierten ausgeübt wird, was im kolonialen Kontext zwangsläufig der Fall ist. Tatsächlich muss man zahlreiche Aspekte von Gauguins Tahiti-Aufenthalt kritisch beurteilen: die sexuellen Kontakte mit sehr jungen tahitianischen Frauen oder die Selbststilisierung als „wilder“ Künstler. Doch kann man in dem Verfahren der künstlerischen Aneignung bzw. der Amalgamierung von Quellen unter­ schiedlichster Herkunft auch positive Aspekte unterstreichen. Zum einen ist das Aufgreifen fremder Motive und Stile ein zentrales produktives, poten­ ziell auch kritisches Verfahren – nicht nur – der modernen Kunst: „All cultural practice appropriates alien or exotic, peripheral or obsolete of discourse into its changing idioms.“96 Zudem sind die Werke so gerade nicht „authentisch“. Es ging nicht nur um An­eignung, sondern vor allem um eine Synthese, die aus verschiedenen Quellen – europäischen, asiatischen, tahitianischen – etwas Neues schafft: eine hybride, künstlerische, neu erschaffene Welt. Auch wenn Gauguin seinen Wunsch und seine Suche nach ursprünglicher Wildheit nie ganz aufgab, war dieser synthetische Archaismus in gewisser Hinsicht eine konsequente und fruchtbare Antwort auf die Vorstellung einer „echten Kultur­flucht“, wie auch sein Haus auf den Marquesas-Inseln zeigt.

Maison du Jouir Gauguins letzte Reise führte noch weiter hinaus ins offene Meer. Am 16. September 1901 landete er in Atuona auf der Insel Hiva Oa, 1600 Kilometer nördlich von Tahiti gelegen. Hiva Oa ist Teil der Marquesas-Inseln, ein ­Archipel von 14 größeren Inseln und zahlreichen kleinen Eilanden in der Mitte des Pazifiks auf halber Strecke zwischen Australien und Südamerika. Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wurden die Inseln von spanischen Seefahrern entdeckt. Cook hatte sie 1774 auf seiner zweiten Südseereise besucht. Anders als auf Tahiti verliefen die ersten Kontakte zwischen Europäern und Insulanern weniger friedlich und wegen ihrer Abgelegenheit wur-

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den die Marquesas-Inseln erst spät kolonialisiert. Sie dienten vor allem als Zwischenstation von Walfangschiffen oder Fluchtpunkt von Abenteurern, die Waffen und Alkohol auf die Inseln brachten. Doch 1842 wurden auch die Marquesas französische Kolonie. Im selben Jahr hielt sich der amerikanische Schriftsteller Herman Melville dort auf. Seine von der Reise inspirierte Erzählung Typee: A Peep at Polynesian Life (1846), in der die Inseln Heimat von Kannibalen sind, prägte die Vorstellung wesentlich. Um 1860 verfasste der Bretone Max Radiguet, der als Sekretär eines Admirals in den 1840er-Jahren auf die sich neu unter französischer Herrschaft befindlichen Marquesas-Inseln gereist war, seinen illustrierten Reisebericht Les Derniers Sauvages: la vie et les mœurs aux îles Marquises (1842–1859).97 Die Wildheit der indigenen Bevölkerung, die sich in rituellem Kannibalismus, Menschenopfern, aber auch Tätowierungen am ganzen Körper ausdrückte, war ein wiederkehrendes Thema in den Reiseberichten. Tatsächlich waren das 17. und 18. Jahrhundert auf den Marquesas-Inseln eine Blütezeit der Kunst gewesen, die sich in großen Tempelanlagen, anthropomorphen Skulpturen aus Holz, Knochen und Stein sowie elaborierten Tattoos, die den ganzen Körper schmückten, manifestierte. Diese Zeit war jedoch auch von vielen kriegerischen Auseinandersetzungen und dem Widerstand gegen die europäische Kolonialherrschaft geprägt. Die Kontakte mit Europäern und Amerikanern hatten für die indigene Bevölkerung verheerende Folgen: Während die Zahl der Einwohner um 1800 noch 80.000 bis 90.000 betrug, war sie Ende des 19. Jahrhunderts auf 3500 Bewohner geschrumpft, was nicht Kriegen und Widerstand geschuldet war, sondern den neuen eingeschleppten Krankheiten wie Pocken, Tuberkulose und Syphilis. Für Gauguin waren die Marquesas von Anfang an attraktiv. Bereits ein halbes Jahr nach seiner ersten Ankunft auf Tahiti spielte er mit dem Gedanken, dorthin weiterzuziehen. Deshalb bewarb er sich im Februar 1892  – vergeblich  – für eine Stelle als Friedensrichter. Gauguin war fasziniert von der Wildheit und Ursprünglichkeit der abgelegenen Inseln und den Kunstwerken ihrer Bewohner, die auf Tahiti von einigen Privatleuten, aber auch von Museen wie dem Museum der katholischen Mission in Papeete gesammelt wurden. Sogar die Souvenierläden auf Tahiti begannen, Artefakte aus dem Archipel wie Statuetten, Schalen oder Keulen anzubieten. Gauguin bewunderte den Sinn für das Dekorative und interessierte sich für Fotografien von Ganzkörpertattoos. In seiner letzten Schrift Avant et après (Vorher und nachher) schrieb er: „Besonders der Marquesier hat einen außerordentlich kunstgewerblichen Sinn. Gebt ihm einen Gegenstand in irgendeiner geometrischen Form, selbst einen mit Ausbuchtungen, es wird ihm gelingen – und dies in seiner Ganzheit harmonisch – keine störende oder unzusammenhän-

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Abb. 25  Paul Gauguins Haus auf Atuona, Marquesas-Inseln nach einer Zeichnung von Timo Vahatetua, überliefert durch G. Le Bronnec

gende leere Stelle stehen zu lassen. Der menschliche Körper oder das Gesicht bilden die Grundlage.“98 Während seiner zweiten Südseereise blieb der Wunsch bestehen, auf die Marquesas-Insel auszuwandern. Seine Überlegungen hatten auch praktische und marktstrategische Gründe. Drei Monate vor seiner Abreise schrieb er im Juni 1901 an seinen Freund Daniel de Monfreid: Ich glaube, dass ich auf den Marquesas schöne Dinge machen werde: man kann mit Leichtigkeit Modelle haben, (was in Tahiti immer schwieriger wird). Offene Landschaften  – kurz ganz neue und wildere Elemente. Dort begann meine Gestaltungskraft zu erkalten, außerdem gewöhnt dich das Publikum zu sehr an Tahiti. Die Leute sind so dumm; wenn man ihnen Bilder mit neuen, fürchterlichen Elementen zeigt, wird Tahiti verständlich und entzückend werden. Meine Bilder aus der Bretagne sind wegen Tahiti Rosenwasser geworden; Tahiti wird angesichts der Marquesas Kölnisch Wasser werden.99

Kurze Zeit nach seiner Ankunft auf den Marquesas-Inseln konnte Gauguin mit dem Geld aus dem Verkauf seines Hauses in Puna’auia auf Tahiti von der katholischen Mission zwei Landstücke etwas außerhalb des Hauptortes Atuona erwerben. Dort baute er ein neues Haus, das sich im Vergleich mit

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den lokalen Verhältnissen auf den Marquesas recht groß und eindrucksvoll ausnahm. Es war aus Bambus und zweistöckig (Abb. 25). Der obere Stock, in dem sich das Atelier und das Schlafzimmer befanden, war von außen durch eine Treppe zugänglich. Unten befanden sich die Küche und ein offener Essraum. Die Form des Hauses nahm nicht Bezug auf die lokale Architektur, vielmehr war er von den Maori-Speicherhäusern (pataka) inspiriert, die ­Gauguin während seiner Reise 1895 im Museum in Auckland gesehen hatte. Von besonderer Bedeutung ist der Bauschmuck. Er zeigt, dass das Inselhaus nicht nur Schutz, einen Arbeits- und Wohnraum sowie einen Ort für Geselligkeit bieten sollte, sondern dass es wie viele Künstlerhäuser einen programmatischen Charakter hatte. Victor Segalen, der das Haus knapp drei Monate nach dem Tod des Künstlers besuchte, beschrieb den Ort in einem Artikel im Mercure de France im Juni 1904 eindrücklich (und reichlich eurozentrisch): Diese Umgebung war üppig und begräbnishaft, wie es zu einem solchen Sterben gehört; sie war glanzvoll und traurig zugleich, ein wenig widersprüchlich, und sie umgab diesen letzten Akt mit einer angemessenen Stimmung, weit entfernt von einem unsteten Leben, auf das nun dieser letzte Akt sein erhellendes Licht wirft. Umgekehrt beleuchtet auch die starke Persönlichkeit Gauguins den gewählten Rahmen, den zuletzt erwählten Ort, und füllt ihn, belebt ihn, überströmt ihn; so, dass sich in einem einzigen Bild zusammenfassen lässt: er in der Hauptrolle; die Eingeborenen als seine Komparsen; das dekorative Milieu.100

Dieses „dekorative Milieu“ war äußerst aufwendig. Für die große obere Eingangstür schuf Gauguin eine Türumrahmung aus fünf flachen Reliefs aus amerikanischem Rotholz, das er aus Tahiti mitgebracht hatte. Die seitlichen Reliefs zeigten zwei nackte Frauenfiguren, eine im Profil und eine in Frontal­ ansicht, sowie vegetabile Ornamente. Auf dem oberen Relief des Tür­sturzes stand zwischen zwei geschnitzten Köpfen in Profilansicht die Aufschrift „Maison du Jouir“. In den unteren Reliefs waren die Sätze „Soyez mysterieuses“ und „Soyez amoureuses et vous serez heureuses“ neben weiteren Darstellungen von Köpfen und Oberkörpern zu sehen. In den Gesichtern nahm Gauguin Motive auf, die ihn schon lange beschäftigt hatten. Im Relief „Soyez amoureuses“ erinnert eine Profilansicht an einen Holzschnitt aus dem Jahr 1898 und ein erhobenes Haupt an die Darstellung einer nackten Figur in einer Zeichnung der Rembrandt-Schule, die Gauguin immer wieder variierte, etwa in seinem monumentalen Werk Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? (1897/98). Für eine Figur in „Soyez mysterieuses“ transformierte er ein Motiv aus einer Kreuzigungsszene von Mantegna, das er einst im Louvre kopiert hatte. Vor allem aber wiesen die beiden Inschriften zurück auf zwei Reliefs aus Lindenholz, die er bereits 1889 und 1890 geschaffen hatte und die die gleichen Sätze trugen.

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Abb. 26  Louis Grélet, Paul Gauguins Modell Tohotaua wahrscheinlich in seinem Atelier auf Atuona, Marquesas-Inseln. Im Hintergrund Reproduktionen von ­Werken von Hans Holbein d. J., Puvis de Chavannes und einem Buddha, 1901

Der Name Maison du Jouir, also Haus der Freude oder der Wonne, hat eine eindeutige sexuelle Konnotation. Er war bereits auf einem ­Fenster in Gauguins Atelier in der Rue Vercingétorix in Paris zu lesen, in dem der Künstler in den Jahren 1894/95 arbeitete. Dort stand in einer Mischung aus Französisch und Tahitianisch „ici faruru“, hier macht man Liebe. Auf ­sexuelle Aktivitäten verwies auch die Platzierung von zwei Statuen im Eingangsbereich. Die männliche Figur Père Paillard (Vater Wüstling) war eine Anspielung auf den Bischof der Marquesas, Joseph Martin, den Gauguin als gehörnten Teufel darstellte. Das weibliche Pendant verwies auf Thérèse, die Haushälterin des Bischofs. Joseph Martin war ein Intimfeind von Gauguin, der immer wieder die katholische Kirche angriff, deren Moral und Scheinheiligkeit er verabscheute und deren Einfluss er für das Verschwinden der indigenen Kultur und Kunstfertigkeiten verantwortlich machte.101 Im Innenraum des Ateliers hingen zahlreiche Fotografien und Reproduktionen, wie zeitgenössische Fotografien belegen. Dazu gehörten Reproduktionen von Kunstwerken aus der Renaissance wie Hans Holbeins Porträt seiner Familie, aber auch pornografische Fotografien, die Gauguin in Ägyp-

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ten erworben hatte, wie er in Vorher und nachher berichtet, und von denen Segalen nichts schreibt (Abb. 26). Wie Gauguins Gemälde verband die Dekoration des Hauses der Freuden Motive aus verschiedenen Quellen. Der Eklektizismus ist noch deutlicher sichtbar, weil verschiedene Medien in einer Art programmatischem Gesamtkunstwerk verbunden wurden. Zentral war dabei das Thema der S­ exualität sowohl in der satirischen Kritik der falschen Moral und Scheinheiligkeit in den beiden Skulpturen des Bischofs und seiner Haushälterin als auch in der Feier der Liebe in den Reliefs und pornografischen Fotografien. Die Feier der Sexualität richtete sich gegen die Moralvorstellungen der kolonialen Gesellschaft. Sie kann so als eine Suche nach Ursprünglichkeit und Freiheit jenseits der Zivilisation gelesen werden, allerdings erscheint diese andere Welt des Maison du Jouir nicht als rein, unschuldig und vorzivilisatorisch. Es handelte sich um keine idyllische Traumwelt, wie sie Pierre Loti geschildert hatte, sondern um eine Welt, die Dekadenz, Verfall und Hybridität miteinschloss. In der Autobiografie schrieb Gauguin: „Wer weiß? Vielleicht sind Luetiker und Alkoholiker die Männer der Zukunft. Mir scheint, als wandelte sich die Moral gleich der Wissenschaft und allem übrigen in eine ganz neue Moral, die der heutigen gerade entgegengesetzt ist.“102 Gauguin, der den zerstörerischen Einfluss der Europäer stets beklagt hat  – es waren die Europäer ge­wesen, die Syphilis und Alkohol auf die Südseeinseln gebracht hatten –, blickte hier nicht mehr nur zurück in Richtung einer verlorenen Ursprünglichkeit, sondern kritisierte die Gegenwart und deutete eine mögliche Zukunft an. Der Begriff „Maison du Jouir“ ist somit durchaus programmatisch zu verstehen. Auch Hiva Oa war eine „Liebesinsel“, aber keine ideale ohne Konflikte. Gauguin wurde wiederholt mit einigem Recht vorgeworfen, seine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit auf eine Inselrealität projiziert und diese missverstanden zu haben. Der französische Dichter und Philosoph Édouard Glissant tat dies bereits in der Auseinandersetzung mit Gauguins Aufenthalt in Martinique, wo dieser der heterogenen lokalen kreolischen Welt mit Unverständnis begegnet sei.103 Auf den Marquesas-Inseln gewann das Verhältnis jedoch an Komplexität. Zwar blieb Gauguins Verhältnis zur lokalen Kultur und Bevölkerung in mancher Hinsicht fragwürdig, insbesondere die Selbstverständlichkeit, mit der er sich auch auf den Marquesas-Inseln junger Frauen als Modelle und Geliebte bediente. Doch hatte sich Gauguin nun in mancher Hinsicht von der vermuteten Ursprünglichkeit verabschiedet. Die hybride Gegenwart wurde nun ebenso sichtbar wie die Ambivalenz der Position Gauguins. Damit war Gauguin weiter als viele seiner späteren Epi­gonen und Interpreten.

Arnold Böcklins innere Inseln

Paul Gauguin war nicht der einzige Künstler, der sich in jenen Jahren mit dem Gedanken trug, der modernen Zivilisation den Rücken zu kehren. ­Arnold Böcklin, dessen spätere Toteninsel zu den bekanntesten Inseldarstellungen der Kunstgeschichte zählt, war als junger Künstler 1860 auf eine Professur an der neu gegründeten Kunstschule in Weimar berufen worden. Von dort schrieb er am 28. Juli 1861 an seinen Freund, den Basler Professor Jacob Burckhardt: „[…] dass ich Deutschland, deutsches Gemüth, deutsche Bildung, Kunst, Poesie etc. allmählig so kennen gelernt habe, dass ich gleich Morgen mit dem ersten Schnellzug nach dem uncivilisierten Süden fahren möchte. Weil’s aber nicht kann sein, bleib ich Professor.“ Und an anderer Stelle im selben Brief gestand er: „Ich warte nur auf die erste beste Gelegenheit, um aus dieser Enge wieder auf offene See zu kommen […] dann lebe wohl Großherzog und Professorentitel mit Gehalt, lebt wohl ihr Kartoffelnund Rübenfelder.“1 Es ist nicht überliefert, ob Böcklins Sehnsucht nach dem Süden je in exotischere Gefilde reichte als in die Mittelmeerregion. Die Motive seiner Gemälde jedenfalls verlassen nie den europäischen Raum. Viele von B ­ öcklins Themen entstammen der Welt der antiken griechischen und römischen ­Mythen. Auch seine zahlreichen Bilder von Inseln stehen in diesem Kontext. Inseln sind bei Böcklin mythische Orte par excellence. Die offensichtlichste Ebene ist motivisch: Oft greift er direkt auf klassische Mythen zurück, insbesondere durch die Figur eines antiken Helden, den Seefahrer und Insel­reisenden Odysseus. Doch ist Böcklins Umgang mit Mythen sehr eigenwillig und hat kaum etwas mit dem konventionellen überlieferten Bildungsgut zu tun. Anders als Odysseus und Gauguin war Böcklin also selbst kein Insel­reisender, selbst wenn er zeitlebens dies- und jenseits der Alpen unterwegs war. I­ nseln werden bei ihm zu inneren, geistigen Orten, Projektionsflächen für Gefühle und Vorstellungen. In ähnlicher Weise wie bei Gauguin bilden sie aber auch einen Identifikationsort für den Künstler. Selbst wenn ­Böcklin wenig mit der modernen Gegenwart zu tun haben wollte, wurden

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seine ­Gemälde, insbesondere die Toteninsel, vielleicht gerade deshalb zu idea­ len Projektionsflächen für seine Zeitgenossen.

Zwischen Norden und Süden Böcklins unmittelbare Gegenwart fand selten direkten Eingang in seine Malerei. Dies war mit ein Grund, warum der Kunsthistoriker Julius Meier-­ Graefe den Künstler als anachronistischen Kulissenmaler und seine Werke als „Theaterkunst“ bezeichnete.2 Meier-Graefes vernichtendes Urteil aus dem Jahr 1905 folgte unmittelbar auf eine Zeit großer Böcklin-Begeisterung. Gerade in den 1890er-Jahren strahlte sein Ruhm weithin aus, wozu auch die zahlreichen Reproduktionen seiner Gemälde beitrugen, die zum selbstverständlichen Bildprogramm bürgerlicher Wohnzimmer gehörten.3 Zu den beliebtesten und am meisten reproduzierten Gemälden des Künstlers zählten neben südlichen Landschaftsbildern wie Ruine am Meer insbesondere die Toteninsel, die der Künstler zwischen 1880 und 1886 in insgesamt fünf Versionen malte. Der französische Dichter Guillaume Apollinaire nahm das Gemälde – neben der Einschiffung nach Kythera – in den Olymp der bedeutendsten Bilder der Menschheitsgeschichte auf: „Der Apollo Belvedere, die Venus von Milo, die Mona Lisa, die Sixtinische Madonna, das Jüngste Gericht, die Einschiffung nach Cythera, das Angelus, die Toteninsel, das sind die Meisterwerke, welche von der Menschheit aus den künstlerischen Arbeiten aller Zeiten ausgewählt worden sind. Es sind die berühmtesten Kunstwerke der Welt.“4 Allerdings schränkte er sein Lob durch die nächsten zwei Sätze wieder ein. Der Status der jüngsten zwei genannten Werke sei zweifelhaft – was dem Argument traditionell gesinnter Kunsthistoriker Auftrieb gibt, dass die Beurteilung der Zeitgenossen immer besonders schwierig ist: „Das bedeutet aber nicht, nebenbei bemerkt, dass der Ruf von einigen dieser Meister­ werke nicht doch ihren künstlerischen Wert überstiege. Böcklins Toteninsel und das Angelus von Millet sind zweifellos höher bewertet worden, als sie es verdient hätten.“5 Böcklins Sehnsucht nach dem Süden traf den Nerv seiner Zeit. Besonders das klassische Italien – das Land, das voller Zeugnisse seiner antiken Vergangenheit ist – blieb für den Maler wie für viele vor und nach ihm das Sehnsuchtsland schlechthin.6 Im Vergleich mit der deutschen Professorenexistenz erschien ihm Italien als „uncivilisierter“ Ort der Freiheit. „Unzivilisiert“ ist dabei im Sinne von vorindustriell, traditionell oder „zurückgeblieben“ zu verstehen, nicht im Sinne von kulturfern. Auf die Suche nach diesem alten, vormodernen Italien begab sich Böcklin. Der Schriftsteller und Kunsthisto-

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riker Gustav Floerke, den Böcklin 1881 in Florenz kennenlernte, berichtete vom Zivilisationsüberdruss des Künstlers, der auch eine Schaffenskrise war: Woheraus soll man heutzutage zum künstlerischen Schaffen angeregt werden? Im Alter­ tum hat das Leben das übernommen; aber das Leben, wie es sich heutzutage abspielt, drängt eher alle Produktion zurück. Wir ‚leben‘ so wenig! Wie wohnen wir zum Beispiel? Kaum zur ‚Existenz‘ ausreichend. Zusammengepfercht, in fremdem Haus, mit verbauter Natur, ohne Licht und Luft. Wie kleiden uns unsere Vorurteile und Kunstfremdheit, unsere Prüderie! Auch da ist nichts für Auge und Sinn. Menschliche Formen, von Weibern gar, sehen wir höchstens mal bei Unglücksfällen. (Wenn sie selber auch bei dieser pflichtschuldigen Geheimniskrämerei trocken und sehnsüchtig verblühen.) Die Familie – haben wir nicht, sie hat uns. […]. Woheraus soll man nun künstlerisch schaffen? Wodurch einmal heller sehen, freudiger, leichter sich aussprechen?7

Böcklins Italien-Sehnsucht war keine realitätsferne Projektion auf ein ihm unbekanntes Land. Er war auch mehr als ein einfacher Tourist. Anders als Johann Wolfgang von Goethe, der erst spät und nur zweimal  – die dritte Reise reichte nur bis an die Grenze – in das Land reiste, wo die Zitronen blühen, verbrachte Arnold Böcklin fast dreißig Jahre seines Lebens südlich der Alpen. 1827 in Basel geboren, führte er später mit seiner Familie ein peripatetisches Leben mit vielen Umzügen zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien. Nach seiner Reise nach Paris 1848, wo der Maler Zeuge der Februarrevolution wurde und Thomas Coutures La Décadence des Romains (1847) bewunderte, folgte 1850 ein erster Aufenthalt in Italien, zu dem ihm sein Freund und Förderer, der Basler Professor Jacob Burckhardt, zu Studienzwecken geraten hatte. Burckhardt legte auch ein gutes Wort für Böcklin ein, als dieser in Rom die 17-jährige Angela Pascucci umwarb. 1853 war Burckhardt Trauzeuge und lieh dem Künstler zur Hochzeit ein Paar gute Hosen.8 Das Ehepaar Böcklin lebte zunächst in Rom, zog dann aber 1857 nach Basel, im folgenden Jahr nach Hannover und lebte anschließend, vor dem Ruf nach Weimar, zwischen 1858 und 1860 in der Kunststadt München. Nach 1862 zog es Böcklin wieder immer wieder für längere oder kürzere Zeit nach Italien. Die ständige Sehnsucht nach dem Süden war ein wiederkehrendes Motiv in den folgenden Jahrzehnten. Da Böcklin anders als Gauguin kein großer Brief- oder Tagebuchschreiber war, sind seine Reisen zumeist durch Zeugnisse anderer überliefert. So berichteten Ferdinand Runkel und Böcklins Sohn Carlo anekdotenreich von einer Reise nach Ischia, die Böcklin 1880 gemeinsam mit dem Maler Friedrich Albert Schmidt (1846–1916) unternahm.9 Nach einer Krisenzeit mit Schmerzen und einer „Nervendepression“ sollten ihm eine Luftveränderung und Mineralbäder Erholung bringen. Böcklin besuchte Cosima und Richard Wagner in Neapel und unternahm mit Schmidt, dem Meeresbiologen Anton

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Dohrn, der die Zoologische Station in Neapel gegründet hatte, und weiteren Gästen eine mehrtägige Reise mit dem Dampfer der Zoologischen Station nach Sperlonga und zu den Pontischen Inseln. Schon im Jahr zuvor war der Künstler nach Neapel gereist, wo er eine rheumatische Entzündung zu kurieren suchte. In der Stadt besichtigte er die Fresken von Hans von Marées in der Zoologischen Station und bestieg den Vesuv, wobei er sich erkältete und auf Anraten von Hans von Marées zur Kur nach Ischia ging.10 Im Sommer 1881 folgte ein Aufenthalt in Viareggio, von wo Angela Böcklin die Geschichte eines abenteuerlichen Ausflugs auf die ­Insel Gorgona berichtete, zu der sie ohne Proviant aufgebrochen waren und wo sie auf der kleinen Insel, auf der sich ansonsten nur eine Strafanstalt befand, mangels Alternative im Gefängnis übernachten mussten.11 Arnold Böcklin hat sich, wie ebenfalls seine Frau überlieferte, in den 1890er-Jahren mit dem Gedanken getragen, ein Haus am Meer zu bauen: „Bei dem Bau der Straße war dicht bei San Terenzo vor dem Hause Byrons zwischen der Küste und dem Meer eine kleine Felseninsel stehen geblieben, die meinem Gatten durch ihre Lage mächtig imponierte. Er hatte die Absicht, dieses kleine Fleckchen Erde zu kaufen und ein Haus darauf zu bauen, um, so lange er lebte, von San Terenzo nicht mehr wegzugehen.“12 Er beschäftigte sich intensiv mit dem Projekt, machte Skizzen für ein Haus, doch der Felsen stellte sich als zu klein heraus. Es ist naheliegend, Böcklins Darstellungen von Inseln im Kontext seiner Reisen und seiner Suche nach dem „Unzivilisierten“ zu deuten: als Ausdruck der Sehnsucht und einer Flucht aus der modernen Zivilisation in eine „natürlichere“, freiere Welt. Die Eilande waren ideale Rückzugsorte und Ruhe­ pole im industrialisierten, urbanisierten, kapitalistischen und zunehmend beschleunigten 19. Jahrhundert, in dem „alles Ständische und Stehende verdampft“ und das „alles Heilige entweiht“. Auch andere Zeitgenossen zog es in den Süden. Friedrich Nietzsche gab 1879 seine Basler Professur aus gesundheitlichen Gründen auf und lebte ebenfalls im Mittelmeerraum. Besonders nahe stand Böcklin jedoch der etwas ältere Jacob Burckhardt, der sich in ähnlicher Richtung wie der Künstler äußerte, vor allem in den späten 1840er-Jahren. Im Winter des Jahres 1846 schrieb Burckhardt an Hermann Schauenburg: „Ihr Wetterkerle wettet euch immer tiefer in diese heillose Zeit hinein – ich dagegen bin ganz im Stillen, aber komplett mit ihr überworfen und entweiche ihr deshalb in den schönen faulen Süden, der der Geschichte abgestorben ist und als stilles, wunderbares Grabmonument mich Modernitätsmüden mit seinem altertümlichen Schauer erfrischen soll.“13 Und in ­einem anderen Brief an Gottfried Kinkel: „Wissen Sie wohl, […] dass ich hauptsächlich deshalb mich nach Italien sehne, weil dort soviel Bettelei und

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so wenig Industrie ist? Dieses Räderschnurrende Elend macht mich mehr betrübt und confus als irgendein Anblick oder Geräusch auf dem Erdboden.“14 Wie später für manche Touristen übte die Rückständigkeit des mediterranen Südens im Vergleich zum industrialisierten, wohlhabenden Norden eine gewisse Attraktion aus. Der Süden wurde zum gegenmodernen Sehnsuchtsort.15 Die Betrachtung der Zeugnisse der vergangenen, nun quasi überzeit­ lichen Antike und der zeitgenössischen Armut, die hier – und aus der Warte des gut bezahlten patrizischen Professoren betrachtet –, pittorek wirkte, ­boten für Burckhardt einen willkommenen Kontrast zu den Umwälzungen und Beschleunigungen der modernen Zeit. Er war sich aber der Wider­sprüche zwischen der Italien-Sehnsucht der mitteleuropäischen Zivilisationsflüchtlinge bewusst, die wie Gauguin die Beschleunigungen des Transportwesens und ihre Einkünfte gerne nutzten, um dieser Moderne ­etwas schneller zu entkommen. So schrieb er 1870 an seinen Freund Friedrich von Preen – in ­einem anderen Zusammenhang – über „die heutigen Menschen“: „Sie o ­ pfern, wenn es sein muß, alle ihre speciellen Literaturen und Culturen gegen ‚durch­ gehende Nachtzüge‘ auf“.16 Neben geteilten Vorlieben und Abneigungen war das Verhältnis von Burckhardt und Böcklin auch von Differenzen geprägt. Der Basler Professor kritisierte wiederholt den eigenwilligen Umgang des Künstlers mit den antiken Mythen. Während seiner Basler Zeit hatte Böcklin 1868 für das Treppenhaus der damaligen Basler Kunstsammlung an der Augustinergasse eine von vier Tritonen getragene Venus als Magna mater gemalt. Zudem hatte er mit der Darstellung einer Venus Anadyomene begonnen, die aus dem Wasser aufsteigend über dem Meer zu schweben scheint. Burckhardt kritisierte die Unkonventionalität der Interpretation und konstatierte insbesondere, dass in der Darstellung der schaumgeborenen Aphrodite die zugehörigen Delfine und großen Wellen fehlten. Böcklin vollendete das Werk nicht, malte die Geburt der Venus jedoch mehrmals in verschiedenen Varianten.17 Solche Darstellungen zeigen exemplarisch Böcklins Umgang mit Mythen. Seine Venus Anadyomene aus dem Jahr 1872 erscheint als triumphierende Göttin der Schönheit, deren Schleier von einer Vielzahl von ­Eroten getragen wird, von denen der eine einen Kranz über ihr Haupt hält (Abb. 27). Auf  den ersten Blick erinnert Böcklins Venus mit ihrem Gefolge an die Venus-­Darstellungen in der Tradition Botticellis. Bei genauerer Untersuchung unterscheidet sie sich jedoch sowohl von traditionellen als auch von den zeitgenössischen Interpretationen. Im Vergleich mit vielen Darstellungen des 19. Jahrhunderts mangelt es der blassen, aufrecht stehenden Göttin an geschmeidiger Erotik, ja es ist ihr sogar eine gewisse Steifheit zu ­eigen. In der Salonmalerei hingegen wimmelte es von anmutigen M ­ eerfrauen:

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Abb. 27  Arnold Böcklin, Venus Anadyomene, 1872, 59,1 × 45,7 cm, Öl auf Leinwand, St. Louis Art Museum

­ rinnert sei etwa an Auguste Cabanels berühmte Version, in der sich die E blonden Haare der lasziven Schaumgeborenen mit den Wellen des Meeres verbinden.18 Die von Eroten bekränzte Venus Anadyomene wäre konven­ tio­nell, stünde sie auf einer Muschelschale wie Botticellis Venus. Sie befindet sich jedoch auf dem großen Kopf eines Fisches, vielleicht eines Wals, d ­ essen ­ irken große, aufgerissene Glubschaugen ihn eher wie eine Art Seemonster w lassen.19 Mit dem Delfin, den sich Burckhardt wünschte, besitzt er keine Verwandtschaft. Die Darstellungen der Venus Anadyomene sind nicht nur ein Zeugnis der Faszination des Künstlers für das Meer und seine realen und mythologischen Bewohner. Sie zeigen auch die unkonventionelle Art, in welcher er sich die klassischen Mythen anverwandelte. Die eigenartige Verbindung von Göttin und Seeungeheuer rückt nahe ans Absurde. Böcklin, das wurde wiederholt bemerkt, war nicht nur Künstler des Symbolismus, sondern auch ein Vor­ läufer des Surrealismus.20 In Böcklins Bildern wurden Mythen in einer Zeit lebendig, in der sie ihre Selbstverständlichkeit schon lange eingebüßt hatten und vielen modernen Künstlern als veraltet galten.21 Dies befreite jedoch wie niemals zuvor auch die alten, immer noch bestens bekannten Götter und Helden für Neu­ interpretationen. Insbesondere die symbolistischen Künstler wie ­Böcklin oder Gustave Moreau deuteten sie höchst eigenwillig. Böcklin gewann

Von Kythera zu Kalypsos Insel

i­hnen sehr unterschiedliche Aspekte ab: Oft betonte er den Vitalismus und die Kreatür­lichkeit der antiken Figuren, mitunter psychologisierte er sie. Erhaben­heit und Feierlichkeit stehen neben ekstatischer Ausgelassenheit, Verlebendigung trifft auf Versteinerung, Pathos auf Parodie. Auch Böcklins Inselbilder sind vieldeutig, und sie sind anders als Watteaus Einschiffung nach Kythera eindeutig nicht mehr nur Orte des Glücks. Zwar kamen Böcklins innere Inseln anders als Gauguins Inselträume nie in Konflikt mit realen Inselerfahrungen. Bei ihm sind gegensätzliche existen­ zielle Erfahrungen, Einsamkeit und Trauer konstituierend für die Inselvorstellungen.

Von Kythera zu Kalypsos Insel Antoine Watteaus Einschiffung nach Kythera zeigte die Utopie einer Insel der Liebe und Gemeinschaft. Getrenntheit, Einsamkeit und Tod hatten dort keinen Platz. Doch trauten viele Dichter seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Idylle nicht mehr. Zwar waren Watteaus Gemälde nach wie vor populär, sogar noch mehr als in den Jahrzehnten zuvor. Im 19. Jahrhundert hatte ein Rokokorevival nicht nur Frankreich erfasst, sondern auch Großbritannien und Deutschland: Watteaus Gemälde und der Insel Kythera als Sehnsuchtsort kamen dabei eine zentrale Rolle zu.22 Die Brüder Goncourt waren von Watteau fasziniert, ebenso Dichter des Ästhetizimus, und Künstler kopierten seine Gemälde. Doch war die Auseinandersetzung nun eine andere. Hatten frühere Reisende die Insel Kythera kritisiert, da sie nicht den literarischen und malerischen Vorstellungen entsprach, bemängelten einige nun die Gemälde Watteaus, weil sie nicht die Realität der Liebe zeigten. Andere suchten in ihnen verborgene melancholische Elemente. Die Dichter der Décadence, des Symbolismus und Ästhetizimus betonten in der Reise nach Kythera nun auch Traurigkeit, das Morbide und die Vergänglichkeit der Liebe – eine Interpretation, die für lange Zeit bestimmend bleiben sollte. Im Gedicht Die Reise nach Kythere schreibt Charles Baudelaire: „Wie heißt diese schwarze Insel dort: – Kythere. / Ruft man, der Dichter eisener Bestand / Und aller Hagestolze Wunderland. Schaut her! Recht ödes Land für soviel Ehre …“ Ein Galgen mit einem Gehenkten steht auf der Insel, auf der sich ferne Erinnerung, Abscheu und Selbstekel verbinden: „Auf deiner Insel, Venus, sah ich stehn / Nichts als den Galgen, der mein Bild getragen … / – Ach, Herr! Gib mir doch Kraft und Mut, zu wagen, / In Herz und Leib nichts Ekles zu sehn!“23 Der Dichter Paul Verlaine widmete 1869 einen ganzen Zyklus von Gedichten den Fêtes galantes.24 Die Themen und Stimmungen der Gedichte

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sind von Watteaus Gemälden inspiriert. Es finden sich Landschaftsbeschreibungen („L’allée“, „Dans la grotte“), Theaterreferenzen („Pantomine“, „­Colombine“, „Fantoches“), eines der Gedichte heißt „Cythère“, ein anderes „L’amour par terre“. Die Gedichte sind Stimmungsbilder, die zwischen Glück und Melancholie schwanken. In einem späteren Gedicht, „La dernière fête galante“ von 1884, lehnt Verlaine Watteaus Welt jedoch gerade deshalb ab, weil sie zu süß sei und dem Unglück der Liebe keine Rechnung trage. Das Thema der Trennung und Einsamkeit ist für ihn zentral, und es sei fürchterlich, mit Schafen verglichen zu werden: „Nul remords, nul regret vrai, nul ­désastre; C’est effrayant ce que nous nous sentons D’affinités avecque les moutons Enrubannés du pire poétastre.“25 Es gibt keine direkte Verbindung von diesen dichterischen Interpretationen zu Böcklins Inseldarstellungen. Sie entsprangen einem verwandten Zeitgeist, in dem der Fokus nicht auf der glücklichen Verbindung, sondern vielmehr auf der Trennung und dem Kampf der Geschlechter lag. Dieser Geschlechterkampf hatte inzwischen auch die Insel erreicht – wenn auch nicht Gauguins Inseln, wo die Vorherrschaft der (europäischen) Männer noch lange unangefochten war –, aber die näheren Gefilde. ­ dysseus Am eindeutigsten griff Böcklin das Thema in seinem Gemälde O und Kalypso (1882, Abb. 28) auf. Eine frühere Darstellung, Odysseus am Strande des Meeres (1869), entstand jedoch bereits etwa gleichzeitig mit der oben beschriebenen unvollendet gebliebenen Geburt der Venus.26 Der nackte Odysseus sitzt dort alleine auf einem Felsen am Strand, die Hände streckt er zum Meer hin aus und den Kopf wirft er in einer Geste der Verzweiflung zurück. Böcklin verbleibt in seinem ersten nach der Odyssee gemalten Bild eng an Homers Schilderung im fünften Gesang. Der Götterbote Hermes traf Odysseus nicht bei Kalypso. „Denn der saß wie sonst am Meeresufer und weinte, / Sich sein Herz zerquälend mit Tränen und Seufzern und Schmerzen. / Über das Meer, das wogende, blickte er, Tränen vergissend.“27 Die Nacktheit des Odysseus verstärkt den Ausdruck der Ausgesetztheit noch: dem Schicksal, den Intrigen der Götter und den feindlichen Elementen gegenüber. Von ihrem doppelten Beginn an, der Odysseus auf einer einsamen Insel in der Mitte des Meeres beschreibt und den Besuch Athenes bei ­seinem Sohn Telemachus auf seiner Heimatinsel, ist die Odyssee auch ein Insel­roman. Die verschiedenen Inseln und ihre merkwürdigen, bedroh­ lichen oder aber verführerischen Bewohner bilden die zahlreichen Stationen, ­welche die Heimkehr Odysseus’ hinauszögern und wodurch der epische Erzählfluss in Gang gehalten wird. Jede der von Homer geschilderten Inseln ist anders, fast alle sind voller Gefahren. Gefährlich sind sie jedoch nicht, weil sie einsam sind, sondern aufgrund ihrer Bewohner – und vor allem Bewohne-

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Abb. 28  Arnold Böcklin, Odysseus und Kalypso, 1882, Öl auf Mahagoni, 104 × 150 cm, Kunstmuseum Basel

rinnen –, mit denen sie auf das Engste verbunden sind. Inseln werden ­häufig als Orte der weiblichen Verführung geschildert. Besonders lange hält sich Odysseus bei der Nymphe Kalypso auf. Während seine Mitstreiter in Troja oder auf der Heimreise umgekommen respektive im Anschluss an eine lange Irrfahrt nach Hause zurückkehrt sind, ist Odysseus immer noch auf der Insel Ogygia, wo ihn Kalypso festhält. Nach sieben Jahren verlangt er, in seine Heimat Ithaka zurückkehren zu können, doch sie gibt ihn erst frei, nachdem die Götter sie durch den Götterboten Hermes ermahnt haben. 1882 griff Böcklin das Thema auf. Während 1869 der Fokus ganz auf Odysseus’ Einsamkeit und Verzweiflung gelegen hatte, zeigt das spätere Bild Odysseus und Kalypso. Auch hier ist die Insellandschaft karg, sie wird dominiert von brauen Felsen, die die Mitte des Bildes füllen und es in zwei Hälften trennen. Sie separieren auch die beiden Figuren in der Landschaft. In ein blaues Gewand gekleidet steht der griechische Held am Rand des Felsens. In sich versunken scheint er, als Rückenfigur dargestellt, in die Weite zu blicken, zum Horizont, an dem sich das Meer und der Himmel treffen. Rechts sitzt die Nymphe vor ihrer Höhle auf einem roten Tuch. In einen halb durchsich-

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tigen, um die Hüften geschwungenen Schleier gekleidet und in ihrer ­Linken die Lyra haltend, schaut sie mit einem melancholischen Blick ins Leere. Kontraste bestimmen das Bild: Frau und Mann, rot und blau, hell und dunkel, Nacktheit und Verhülltheit, Rückenfigur und Frontalansicht, Fels und Wasser, die nach vorne hin offene Höhle und der offene Horizont hinten am ­linken Bildrand. In dem Gemälde Odysseus und Kalypso weicht Böcklin deutlich von der Erzählung Homers ab. Die landschaftlichen Charakteristika der Inseln werden von Homer meist nur knapp beschrieben, doch schildert er die Grotte der Kalypso ausführlich als idyllischen Ort mit einem Feuer, darum ein Hain voller Erlen, Pappeln und Zypressen, Weinreben und Vögel. Die ganze I­ nsel ist dicht bewaldet. In Böcklins Bild erscheint sie als karger, öder Ort. Das Gemälde unterscheidet sich auch von älteren Behandlungen des Themas wie etwa Jan Brueghels Odysseus bei Kalypso, das zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstand (vgl. Abb. 2).28 Brueghels Gemälde zeigt die Grotte als paradiesischen Garten, voll mit jedem erdenklichen Luxus, mit Pflanzen, wertvollen Teppichen, Gold, Silber und Geschmeide, Meeresfrüchten und exotischen Tieren wie Papageien und kleinen Äffchen und geschäftigen Dienerinnen im Hinter­grund. Das Liebespaar im Zentrum ist eng umschlungen, doch das Gesicht der Nymphe zeigt schon einen Anflug von Trauer, der den baldigen Abschied ahnen lässt. Darstellungen des Geschlechterkampfs und der Frau als Femme fatale, als verführerisches, sexuell bedrohliches oder dämonisches Wesen waren im späten 19. Jahrhundert beliebt. Oft wurden dabei die antiken Mythen aufgegriffen und neu interpretiert.29 Franz von Stuck malte Circe oder auch die bi­ ustave blische Salome. Der Brite Edward Burne-Jones und der Franzose G Moreau widmeten sich wiederholt dem Odysseus-Thema, insbesondere dem Zusammentreffen des antiken Helden mit den Sirenen und ­ihren verführerischen Gesängen. In Moreaus Adaptionen erscheinen die Vogelfrauen als schöne junge Frauen, deren liegende Körper zwischen Meer und Felsen drapiert werden, verführerisch und als Meerwesen eins mit den Elementen. Böcklins Gemälde zeigt jedoch das Scheitern der Verführung. Die beiden ­Figuren sind getrennt und beide erscheinen gleichermaßen ausgesetzt auf der steinigen Insel, die ihnen gegenüber so kalt und abweisend ist, wie sie sich ­einander fremd geworden sind. Kalypso wirkt auf ihrer eigenen Insel ebenso fehl am Platz wie Odysseus – offenbar hat sie ihre verlorene Macht und Verführungskraft gleichsam ortlos gemacht. Böcklins karges Eiland ist ein unwirtlicher Ort, an dem keine Liebe wohnt. In seiner Betonung der Vereinzelung lässt sich Odysseus und Kalypso als eine Art Gegenbild zu Watteaus Einschiffung nach Kythera lesen. Dort er-

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schien die Landschaft gleichsam erotisiert, hier ist sie steril – wahrscheinlich ist es auch nicht abwegig, die dunkle Höhle als Geschlechtssymbol zu interpretieren. War Watteaus Bild eine positive Liebesutopie, ist hier das Paar in jeder Hinsicht getrennt. Das Gemälde erzählt nicht von der geteilten Sehnsucht nach der Liebesinsel, sondern von der Sehnsucht des Einen, von der Insel der Anderen wegzukommen. Sichtbar wird im Bild zudem die grundsätzliche Polarität der Inselvorstellungen, die sowohl erträumtes Paradies als auch Ort der Verbannung und Gefängnis sein können und sich manchmal vom einen zum anderen verwandeln. Im Vergleich mit den anderen Odysseus-Bildern Böcklins ist Odysseus und Kalypso in der Einfachheit und Klarheit des Aufbaus das eindringlichste und psychologisch aufgeladenste. Es scheint weniger eine Illustration eines alten, fernen Mythos denn ein modernes Drama. Zwar griff Böcklin im Gemälde auf Bildmotive aus der Tradition zurück. Die Haltung der Kalypso lehnt sich an ein Motiv einer Wandmalerei aus Pompeji an. Der Künstler hatte sich während seinen Italien-Aufenthalten in Neapel begeistert mit römischer Wandmalerei auseinandergesetzt.30 Doch verzichtete Böcklin hier auf Beigaben oder Ausschmückungen. Die Wirkung entsteht gerade dadurch, dass die Gestaltung reduziert, karg ist. Im Bildaufbau habe der Künstler, so bereits Heinrich Wölfflin, „ein Mindestmaß von Mitteln auf ein Höchstmaß von Wirkung gebracht“. Der Kunsthistoriker resümierte: „Das Bild hat klassischen Charakter.“31 Zugleich wirken das Bild und die ihm innewohnende Spannung der Figuren und die Distanz der Geschlechter sehr modern: „Solitär und solipsitisch beide, ein Nicht-Paar der Modern times“, befand die Schriftstellerin Ilma Rakusa.32 Es wurde deshalb wiederholt versucht, das Bild psychologisch und autobiografisch zu deuten, als Ausdruck der persönlichen Frustration und Verarbeitung der als einengend empfundenen Ehe des Künstlers mit seiner Frau Angela.33 Die These Hans A. Lüthys, der verkniffene Mund der Kalypso entspreche gar nicht der homerischen Erzählung, sondern erinnere vielmehr an die Gesichtszüge Angela Böcklins, muss wohl Spekulation oder Projektion bleiben. (Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich Odysseus zu seiner Ehefrau Penelope zurücksehnt.) Eindeutig ist auf jeden Fall, dass Böcklins Landschafts- und Meeresdarstellungen psychologisch aufgeladen sind. Sie werden zum Ausdruck von Gefühlen und zu Projek­tions­orten für Stimmungen. Dies gilt insbesondere auch für die Inselbilder. Obwohl Böcklin dank seiner Reisen genaue Kenntnisse italienischer Inseln besaß und diese in seine Darstellungen einflossen, zeigt er keine geografisch genau lokalisierbaren Orte, sondern innere Seelenregionen. Böcklins Insel- und Landschaftsbilder stehen damit in einer romanti-

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schen Tradition: Nicht zufällig erinnert die Rückenfigur des Odysseus an Caspar David Friedrichs Der Mönch am Meer (1808–1810). Auch zur zeitgenössischen französischen Dichtung, die die dunklen Seiten Kytheras betonte, gibt es eine große Nähe. Offen bleibt die Frage, wie sehr sich der reisende Künstler mit der Figur des Odysseus identifizierte. Gleichwohl wird die Identifikation mit respektive Projektion seiner Gefühlswelt auf die Insel in der Toteninsel sehr deutlich.

Versteinernde Einsamkeit Als der Maler, Schriftsteller und Komponist Alberto Savinio Korfu besuchte, wurde ihm erklärt, die kleine Nebeninsel Pontikonisi habe den berühmten Maler Böcklin zu seiner Toteninsel inspiriert. Savinio schrieb dann aber 1942 in seinen Memoiren: „Später, auf meinen Wanderungen quer durch Europa, wuchs in mir die Gewissheit, dass es mindestens so viele Orte gibt, die Böcklin zu seiner Toteninsel inspiriert haben, wie Betten, in denen Napoleon geschlafen hat.“34 Alberto Savinio, der dem Surrealismus nahestand, war der Künstlername von Andrea de Chirico, Bruder des berühmteren Giorgio de Chirico.35 Beide Brüder verehrten Böcklin. Savinios Erinnerung zeigt nicht nur, dass Böcklins Toteninsel auch nach dem 19. Jahrhundert noch Bewunderer hatte, sondern ebenso, dass die Verbindung mit einer realen Insel ihre Bedeutung als Touristenattraktion nobilitieren konnte. Auch der Basler Kunsthistoriker Heinrich Alfred Schmid berichtete von Kellnern auf deutschen Dampfern, die ihren Gästen gegenüber die Insel Pontikonisi als Vorbild der Toteninsel deuteten.36 Verschiedenen Mittelmeerinseln wurde zugeschrieben, als Inspiration für Böcklin gedient zu haben. Neben Pontikonisi, wo Böcklin nie war, wurden allen voran Ischia und Ponza genannt, zwei Orte, an denen er sich tatsächlich aufgehalten hat. Ferdinand Runkel stellte in seinem Buch demonstrativ das „wahre“ (Ischia) und das „falsche“ Vorbild (Pontikonisi) einander gegenüber.37 Es ist jedoch kaum eindeutig bestimmbar, welche Insel die „wahre“ Böcklin-Insel ist. In unserem Kontext ist es vielmehr relevant, dass die Verbindung zwischen realer und gemalter Insel nicht nur bei Böcklin gerne als touristisches Marketinginstrument genutzt wird. Die Toteninsel gehörte zu den populärsten Bildfindungen des Künstlers, nicht nur in Deutschland und der Schweiz. Auch im Pariser Speisezimmer des französischen Staatsmanns Georges Clemenceau hing eine Reproduktion des Gemäldes.38 Giorgio de Chirico sah, wie er 1920 schrieb, als Kind in Griechenland Reproduktionen von Böcklins Gemälden, vermutlich in der Böcklin-Mappe, die der Münchner Kunstwart 1901 herausgegeben hatte.39

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Die melancholische, stille und dunkle Toteninsel war zu ­einem Identifikations-, Sehnsuchts- und Trostbild für das von Beschleunigungen ebenso wie von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen erschütterte Bürger­tum des 19. Jahrhunderts geworden. Der Konservator der Öffent­lichen Kunstsammlung Basel (heute Kunstmuseum) Schmid rechtfertigte 1920 den Ankauf des Originals, indem er das Gemälde gegen den Vorwurf der allzu großen Popularität – auch durch die schlechten Reproduk­tionen – und der zu großen Verständlichkeit und Eingängigkeit verteidigte.40 Böcklin malte verschiedene Fassungen der Toteninsel, insgesamt existierten fünf Variationen, die zum Teil auf Anregung von außen entstanden sind. Die späteren Versionen regte Böcklins Kunsthändler Fritz G ­ urlitt an, der 1880 einen Kunstsalon in Berlin eröffnet hatte und regelmäßig Werke des Künstlers erwarb, um sie in seiner Galerie auszustellen, unter anderem ­Odysseus und Kalypso und später die Toteninsel. Die Zusammen­arbeit mit Gurlitt verbesserte die finanzielle Lage Böcklins, die bis weit in die 1870erJahre zum Teil prekär gewesen war. 1883, nach dem Erfolg der beiden ­ersten Fassungen, die sich heute im Kunstmuseum Basel und im Metro­politan Museum in New York befinden (Abb. 29), bat der Kunsthändler den Künstler, eine weitere Variante zu malen. Die Verbreitung der großformatigen Reproduktion dieser dritten Version, von der Max Klinger 1890 eine Radierung fertigte, trug zur enormen Popularität des Motivs bei. Die dritte Fassung war zudem jene, die Adolf Hitler für die Kunstsammlung Linz erwarb und zuerst im Berghof auf dem Obersalzberg, dann in der Reichskanzlei aufhängte. Heute befindet sie sich in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Die vierte, im Zweiten Weltkrieg in Berlin zerstörte Fassung entstand 1884 für den Sammler Viktor Benary. Auch die fünfte und letzte Fassung war ein Auftragswerk: Sie entstand 1886 für das Museum der bildenden Künste Leipzig, wo sich das Gemälde auch heute noch befindet (Abb. 30). Böcklin agierte mit den verschiedenen Bildfassungen der Toteninsel in gewissem Sinne unternehmerisch und reagierte auf die öffent­liche und private Nachfrage, so wie das bei den meisten Künstlern damals üblich war – und heute wieder ist. Es wäre jedoch falsch, dies – wie das etwa Meier-Graefe tat – als reine Marktstrategie und Korrumpierung ­einer künstlerischen Vision und Autonomie zu betrachten, oder als etwas Außergewöhnliches. Auch in Gauguins auf Tahiti und den Marquesas-Inseln entstandenen Werken – und die Arbeiten anderer Avantgardekünstler – flossen Überlegungen über die Wirkung der Bilder auf das Pariser Publikum und Verkaufsmöglichkeiten ein. Wenn man die Toten­inselSerie genau betrachtet, ist zudem offensichtlich, dass die Gemälde auch für den Künstler nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine inhaltlich große Bedeutung hatten.

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Abb. 29  Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1880, Öl auf Holz, 111 × 155 cm, Kunstmuseum Basel

Abb. 30  Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1886, 80 × 150 cm, Museum der bildenden Künste, Leipzig

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Die frühesten zwei Fassungen der Toteninsel entstanden in Florenz zu Beginn der 1880er-Jahre. Im Frühling 1880 besuchte die Frankfurterin ­Marie Berna den Künstler in seinem Florentiner Atelier, um ein Bild in Auftrag zu geben. Böcklin schlug einen Frühlingsreigen mit tanzenden Kindern vor. Die junge Frau, die kurz zuvor Witwe geworden war, wünschte sich ein „ein Bild zum Träumen“, da sie besonders die Landschaften des Künstlers s­ chätzte.41 Bereits im Juni, also kurz vor seiner Abreise in den Süden, wohin er jedes Jahr reiste, übersandte Böcklin das Bild an die Auftraggeberin. Eine andere Fas­ arie sung der Toteninsel hatte Böcklin vermutlich bereits vor dem Besuch M Bernas für Alexander Günther, einen Mäzen, begonnen, stellte sie aber erst später fertig.42 Selbst wenn sich die fünf Fassungen der Toteninsel in ihrer Grundstruktur gleichen, unterscheiden sie sich doch in wesentlichen Details, auch die Größen variieren beträchtlich. Rechts und links des dunklen Zentrums der Insel ragen hellere, steile Felsen hoch, in welche Grabkammern gehauen sind. Die Insel ist klein, ihre Anlage symmetrisch. Die beiden ersten Versionen sind eng miteinander verwandt: In ihnen reichen die Zypressen in der dunklen Bildmitte über die seitlichen Gesteinsformationen hinaus. Das einfallende Licht wird in den hellen Felsen und dem Gemäuer reflektiert. Das Weiß der rechteckigen Flächen wird im Boot wieder aufgenommen, das sich der Insel durch das stille, fast wellenlose Wasser nähert. Auf dem Boot befinden sich ein sitzender Ruderer, eine stehende, mumienartige Figur – Schmid deutete sie als die junge Witwe – sowie ein mit einem weißen Tuch verhüllter Sarg. In den späteren drei Versionen werden die seitlichen Felsen der Insel schroffer und höher dargestellt. Der Zugang zur Insel ist zudem durch eine niedrige Mauer abgetrennt, deren Mitte offen ist. In der letzten Version – das Bild in Leipzig – wird der Eingang zudem von zwei steinernen Löwen flankiert. Die Komposition ist stärker in die Breite gedehnt. Böcklin variiert in allen fünf Versionen den Abstand von Boot und Insel. In der letzten Fassung scheint sich das Boot unmittelbar vor dem Tor zu befinden, in der dritten ist sie am weitesten nach links gerückt und entfernt. Die letzte Version unterscheidet sich von den anderen auch dadurch, dass der Ruderer ein schwarzer Mann mit nacktem Oberkörper ist. Der Grundton aller Bilder ist dunkel. Es ist noch nicht Nacht, doch die Szene ist in das letzte Licht eines warmen Abends in einem südlichen Land getaucht. Die Symmetrie des Bildes, die abendliche Dunkelheit mit den hellen Stellen strahlen Ruhe, Zeitlosigkeit, Wärme und Feierlichkeit aus. Die in den Fels gehauenen Grabhöhlen mit den massiven Türstürzen verleihen der Insel eine antikisierende, sakrale und erhabene Atmosphäre, der Ort ist einsam, jedoch nicht kulturlos.

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Die menschliche Figur auf dem Boot erscheint jeweils klein vor der dunklen Masse der Zypressen und helleren Felsen. Die Form der weiß gekleideten stehenden Rückenfigur und die der schlanken Zypressen entsprechen sich. Die Reise erscheint nicht als Fahrt ins Ungewisse, sondern in den sicheren, angestrebten Hafen einer letzten, endgültigen Ruhe und Aufgehobenheit. Ihr haftet nichts Gewaltsames oder Gefährdetes an, dem Tod nichts Schauriges. Der Name Toteninsel stammt von Böcklins Kunsthändler Fritz Gurlitt. Die Vorstellung der Insel als Ort der Toten war zu Böcklins Zeit seit Langem fest etabliert. Seit der Antike existierte die Vorstellung vom Elysion, der ­Insel der Seligen, auf der die unsterblichen Seelen der griechischen Heroen ewigen Frieden finden und wo ewiger Frühling herrscht. Die Zypressen und die in den Stein gehauenen Gräber der Toteninsel erinnern an pompejanische Sakrallandschaften wie auch an die antikisierenden Denk- und Grabmale der englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, die zum Beispiel in Stowe (1730) explizit Elysien als Bezug aufrufen. In der venezia­nischen Lagune gab es Friedhofsinseln und in der 1763–1776 durch René Louis de Girardin geschaffenen Parkanlage von Ermenonville bei Paris liegt die Pappel­insel (Île de peupliers), wo sich das Grabmal Rousseaus befand, der 1778 an diesem Ort gestorben war (Abb. 31).43 Der von Hubert Robert entworfene Sarkophag verblieb auf der Insel, während die Gebeine des Philosophen 1794 ins Pariser Panthéon transferiert wurden. Gegenüber der Insel lag das Grabmal für den Straßburger Maler Georg Friedrich Meyer (1733–1779). Auch zu Heinrich Heines Bimini, der Insel des Vergessens, im gleichnamigen Gedicht von 1853/54 gibt es Verbindungen. Die engste Verwandtschaft findet sich allerdings im Werk des Schriftstellers Jean Paul. Neben Wilhelm Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787), der ein heidnisches, hedonistisches Inselparadies beschreibt, prägten insbesondere Jean Pauls Romane die romantischen Inselvorstellungen in der deutschsprachigen Literatur.44 Auch Böcklin las Jean Pauls Werke wiederholt.45 Der Autor verfasste mit Die unsichtbare Loge (1793), Hesperus (1795) und T ­ itan (1800– 1803) drei Romane, in denen die Schilderungen von Inseln eine ­zentrale Stellung einnehmen. Jean Paul bezog sich dabei auf Inselmotive unterschiedlicher Herkunft, Rousseaus Petersinsel, Mittelmeerinseln mit antiken oder antikisierenden Bezügen ebenso wie die neu entdeckten Südseeinseln. In manchen Fällen sind Inseln in den Romanen Orte des Glücks. In Titan ist die frühlingshafte Isola Bella im Lago Maggiore der Bereich der Mutter, der ­Schwester und der glücklichen Kindheit des Protagonisten, des jungen spanischen Grafen ­Albano von Cesara, sie wird als „Eden-Eiland“, ein „schwimmendes ­Paradies“ geschildert.46 Die Insel Ischia ist ein „Arkadien des Meeres“, sie wird zur Liebesinsel, da Albano dort seine Geliebte Linda de Romeiro er-

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Abb. 31  Jean-Michel Moreau, Grab von Jean-Jacques Rosseau, Île de peupliers, ­Ermenonville, 1778, Radierung, Bibliothèque municipale de Lyon

blickt.47 Häufiger aber sind sie Orte des Todes: In Hesperus oder 45 Hundposttage, dessen geschwätziger Verfasser, der Berg-Hauptmann Jean Paul, wie er beschreibt, selbst auf einer Insel wohnt – St. Johannis im Indischen Ozean am Äquator –, steht auf der „seltsamen“, „magischen“ und „dunklen“ „Insel der Vereinigung“ das Grabmal Marys, der Frau des blinden englischen Lord Horion.48 Die Insel der Vereinigung, die man durch ein Tor betritt, wird als dicht mit Bäumen bewachsen geschildert. In diesem Hain befinden sich weiße Tempel, Ruinen, Sphinxen und Marmortorsi. Am Ende des Romans schaufelt sich der Lord, der sich nach dem Tod und der Insel sehnt, an der Seite der verstorbenen Gattin sein eigenes Grab und setzt seinem Leben ein Ende. Auch die Schlummerinsel des Prinzengartens in Titan ist ein Ort des Todes: des Selbstmords von Albanos Freund Roquairol auf offener Bühne.49 In der „Insel der Vereinigung“ und zahlreichen weiteren Inselschilderungen lassen sich Verbindungen zwischen Jean Paul und Böcklin ziehen. ­Zentral ist eine Böcklin verwandte Auffassung von Landschaft: Landschaftsbeschreibungen spiegeln bei Jean Paul die Innenwelt der Protagonisten. Die

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poetischen Inseln charakterisieren die Romanfiguren, sie werden zu Resonanzräumen für Gefühlswelten und sind somit nicht das Andere, Fremde, sondern das gespiegelte Eigene. Wie bei Böcklin gibt es bei Jean Paul eine enge Verbindung von Mensch und Natur – die Landschaften sind gleichsam Seelenlandschaften. Die Toteninsel in ihren verschiedenen Variationen ist ein zentrales Bild im Schaffen von Arnold Böcklin, in ihr verdichten sich Motive, die ihn sein ganzes künstlerisches Leben beschäftigten  – die Landschaft, das Meer, die dunkle, melancholische Seite des Südens. Die gleichermaßen eindrückliche wie eingängige Bildfindung stieß auf große Resonanz bei Auftraggebern wie auch Käufern und festigte seinen Ruhm. Immer wieder wurde die Insel auch mit dem privaten Leben des Künstlers in Verbindung gebracht. Der Künstler und Kunsthistoriker Stefan Banz interpretierte die Toteninsel im Kontext einer Lebenskrise Böcklins, in der die Schmerzen ihn nicht nur depressiv und melancholisch machten, sondern bis zu Selbstmordgedanken führten – davon berichteten Runkel und Böcklin selbst.50 Banz deutete das Bild allerdings als Zeugnis der überwundenen Krise, worauf die Figur des Rudernden verweise: Holt also die helle, vom Mond beschienene, verhüllte Gestalt – entgegen unserer Erwartungen – einen Leichnam aus dem Reich der Finsternis in die Welt der Lebenden zurück, um ihn von den Toten zu erwecken? Ist diese reine, gottähnliche Gestalt demnach gar nicht der Tod, sondern vielmehr das Leben? Ist sie Gott, der den Erlöser aus dem Jenseits rettet, genauso wie die Heilbäder auf Ischia Böcklin von den unerträglichen rheumatischen Schmerzen erlöst und ins Malen zurückgebracht haben? Die Frage ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Ambivalenz der Fahrtrichtung des Fährmanns aber macht diese erste Fassung der Toteninsel so herausfordernd und einzigartig.51

Es erscheint allerdings nur bedingt nachvollziehbar, dass hier ein Leichnam von der Insel der Toten wegtransportiert wird, um ihn wiederzubeleben, oder dass Böcklin sein Leiden derart überhöht in einem Bild umsetzte – ebenso wie das Argument, in Watteaus Einschiffung nach Kythera sei die Rückfahrt von der Insel dargestellt, wenig stichhaltig ist. Ein anderes – und eindeutigeres – Indiz für die persönliche Bedeutung des Gemäldes für Böcklin ist die Signatur, deren Form und Platzierung dem Künstler immer wichtig war.52 In den ersten beiden Bildfassungen sind die Initialen AB in der linken unteren Bildecke auf das Wasser gesetzt und nur schwer lesbar. In den nachfolgenden drei Fassungen erscheinen sie jedoch über dem Eingang einer Grabeshöhle an der verdunkelten horizontalen rechten Seite wie in den Stein gehauen und damit deutlich und prominent sichtbar. Sind die Monogramme in den frühen zwei Fassungen noch als reine Künstlersignatur lesbar, scheinen sie in den späteren Varianten der Toten­

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insel eine weiter gehende Signifikanz zu besitzen. Die Signatur wird Teil des Bildes, sie ist nicht nur Signatur des Künstlers, sondern markiert eine Grabstätte, die Toteninsel wird so zur fiktiven Grabstätte des Künstlers selbst.53 Das Grab Böcklins liegt an der dunkelsten und gleichzeitig exponiertesten Seite der Insel. Nur schwer scheint die seitliche Gruft überhaupt zugänglich zu sein. Einsamkeit, Stille und Abgelegenheit der Insel sind dort noch stärker betont. Auch diese Vorstellung ist bereits seit der Romantik bekannt; so stellte Caspar David Friedrich in einer heute verschollenen Zeichnung sein offenes Grab dar. Die Kunsthistorikerin Karin Gludovatz ging noch einen Schritt weiter und interpretierte das Bild nicht nur als fiktive Grabstätte. Die Seelenlandschaft bzw. allegorische Insellandschaft, die Böcklin malte, deutet sie als Selbstbildnis, als Kryptoporträt des Künstlers selbst.54 Zwischen der im Werk dargestellten Insel und dem Künstler werde eine „identifikatorische Beziehung“ hergestellt, die von Zivilisationsmüdigkeit, Melancholie, aber auch Selbstheroisierung geprägt sei.55 Dies erscheint tatsächlich überzeugend. Auch Gauguin identifizierte sich mit der Wildheit der Südseeinseln. Ein weiteres Vergleichsbeispiel einer Landschaft als Selbstporträt ist G ­ ustave ­Courbets Die Eiche von Flagey (Le chêne de Flagey, 1864): Hier verkörpert eine mächtige Eiche, deren Astwerk den Bildrahmen fast zu sprengen scheint, Bodenständigkeit, Naturnähe und Stärke  – Eigenschaften, die sich auch der Künstler zuschrieb.56 Plausibel ist die Selbstidentifikation als Insel auch, wenn man die konventionelleren Selbstporträts des Künstlers in Betracht zieht. Arnold Böcklin hat immer wieder Selbstbildnisse gemalt.57 Das früheste Selbstbildnis von 1861 (Kunstmuseum Basel) gibt den jungen Maler in seinem ersten Jahr als Professor an der Kunstschule in Weimar im Profil in romantischer, theatra­ lischer Pose, über seine rechte Schulter in die Ferne blickend, wieder. In ­einem Porträt, das zwanzig Jahre später entstand, hebt er – nunmehr durch größere Körper­fülle charakterisiert – lebensfroh ein Weinglas und stützt die Hand in die Taille (1885, Berlin, Alte Nationalgalerie). Ein im Auftrag der Basler Kunstkommission 1893 in San Terenzo gemaltes Bild zeigt ihn als stolzen, bürgerlichen, in den Sommerferien fast dandyhaft gekleideten Maler. Doch gibt das Profil eines alten Mannes auf der Leinwand, vor der er mit dem Pinsel in der Rechten steht, dem sommerlich-buntfarbigen Bild eine dunklere Note, das blasse Profil kann als Hinweis auf herannahendes Alter und Vergänglichkeit gelesen werden – Böcklin war zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes 66 Jahre alt. Ein explizites Vanitasbild hatte Böcklin 1872 im Selbstbildnis mit fiedelndem Tod geschaffen (Berlin, Alte Nationalgalerie; Abb. 32). Auch dort hält der damals 49-jährige Maler den Pinsel in der Rech-

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32  Arnold Böcklin, Selbstbildnis mit ­fiedelndem Tod, 1872, Öl auf Leinwand, 75 × 61 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin

ten, die Palette in der Linken und blickt fragend in die Ferne; oder lauscht er vielmehr? Denn hinter seiner linken Schulter befindet sich ein musizierendes Skelett, von dem vor allem der Schädel und die Hand mit dem Geigenbogen sichtbar sind, wobei sich die Knochenhand bedrohlich nahe bei der Schulter des Malers befindet. Das Bild des Künstlers mit dem Tod im Nacken hat zahlreiche Maler beeinflusst, so Hans Thoma oder Lovis Corinth. Es knüpft zudem an die ältere Bildtradition der Totentänze an, in der die personifizierte Pest Menschen aus allen Ständen holt, aber auch an Porträts, zum Beispiel von Hans Holbein. Außergewöhnlich ist jedoch die explizite Verbindung von Tod und Malakt: In der Verbindung von Künstler und Tod, Künstler und Melancholie stellt sich der traditionsbewusste Böcklin in eine lange Genealogie.58 Der Künstler schafft im Bewusstsein des Todes und ist dabei doppelt privilegiert: Seine künstlerischen Fähigkeiten erlauben es ihm nicht nur, den Tod in seinen Werken zu reflektieren, die geschaffenen Werke garantieren zudem dauerhaften Ruhm, über den Tod hinaus. Darauf verweist auch die Inschrift auf dem späteren realen Grabmal des Künstlers, das sein Sohn 1901 für ihn in Florenz entwarf: „non omnis moriar“ ist darauf zu lesen – nicht ganz werde ich sterben. Die Toteninsel zeigt demnach das selbst gewählte Elysium des Künstlers. Paul Gauguin suchte auf seiner Reise nach Tahiti wilde Ursprünglichkeit. Er sah sich als Abtrünnigen der bürgerlichen Gesellschaft; die Insel schien nicht nur ein Ort des freieren Lebens zu sein, sondern gar ein Identifika­

Versteinernde Einsamkeit

tionsort. Böcklin ging nicht so weit, seine insuläre Grabstätte blieb imaginär. Doch auch bei ihm wird das Außenseitertum eines melancholischen, visionären, genialischen und doch einsamen Künstlers in der bürgerlich-industriellen Gesellschaft betont. Vom Maler und seinen Zeitgenossen gibt es viele Äußerungen, die in diese Richtung weisen.59 Heinrich Wölfflin sah in dem Gemälde „versteinernde Einsamkeit“.60 Die zeitgenössische Kunstkritik erwähnte die Einsamkeit Böcklins immer wieder: So wurde er der „große Einsame“ und „Einsiedler von Florenz“ genannt, wobei dieser Einsamkeits­ topos – auch angesichts seiner verzweigten Familie wie auch der zahlreichen Künstlerfreundschaften, die er pflegte  – als Projektion oder Vereinfachung erscheint.61 Künstlerische, insuläre Einsamkeit wird zu einer Verdichtung der Vorstellungen vom künstlerischen Genie, das – wenn es wahrhaft groß sein will  – für sich allein arbeiten muss, stets dem Gefühl ausgeliefert, von der beschleunigten Moderne, vielleicht auch vom Kunstbetrieb mit den neuen Kunstrichtungen und dem Zwang zu verkaufen überrollt zu werden. Indem Böcklin sich mit der Toteninsel eine fiktive Grabstätte auf einer Insel imaginierte, setzte er sich ein dauerhaftes Denkmal in seiner Kunst. Dass der Ort des Grabes respektive Denkmals eine Insel ist, erscheint gleich doppelt sinnfällig: Die Einsamkeit der Insel entspricht der Einsamkeit des Künstlers. Das Grabmal auf dem abgeschiedenen Eiland bildet den elitären Kontrast zum anonymen, massenhaften Tod, dem „unpersönlichen, fabrik­ mäßigen und proletarischen Kollektivtod“ in den modernen Städten.62 Der Altphilologe und Nietzsche-Freund Erwin Rohde unterschied in seinem Buch Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (1894) das Elysium, das wenigen Privilegierten vorbehalten sei, vom Hades in der Unter­welt, der für die Mehrheit der Menschen bestimmt sei.63 Die Toteninsel und das Inselgrabmal bleiben eine Fiktion: Sie sind „ein Bild zum Träumen“. Böcklins italienische Reiseerfahrungen reflektieren sie nur mittelbar, vielfach transformiert und aufgeladen durch literarische und kulturhistorische Referenzen. An dieser Stelle drängt sich erneut ein Vergleich mit Gauguin auf. Böcklin und Gauguin sind beide symbolistische Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts. Verglichen mit Gauguin befindet sich Böcklin auf der sicheren Seite, da er weniger bestrebt ist, seine Kunst mit seinem Leben zu verbinden. Inselprojektion und -realität geraten nicht in Konflikt miteinander wie bei Gauguin. Böcklin bleibt in den Ateliers diesund jenseits der Alpen und ersinnt verschiedene Inselfiktionen als imaginäre Freiräume und Experimentierfelder. So entstand als eine Art Gegenbild zwei Jahre nach der letzen Version der Toteninsel die Lebensinsel. Das Bild nimmt offensichtlich Bezug auf die ältere Bildfindung: Es handelt sich ebenfalls um ein Querformat von an­nähernd

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Arnold Böcklins innere Inseln

Abb. 33  Arnold Böcklin, Die Lebensinsel, 1888, Öl auf Mahagoni, 94 × 140 cm, Kunst­ museum Basel

gleicher Größe (94 × 140 cm), in deren Zentrum eine Insel mit Baumgruppen steht (Abb. 33). Doch sind die Gestaltung der Insel und die Stimmung des jüngeren Bildes eine vollkommen andere. Ist die Toteninsel melancholisch und düster, dominieren hier helle Farben. Die Mitte der Insel ist von der Sonne beleuchtet, darüber liegt ein blauer Himmel mit weißen Wolken, an den Rändern gehen das Blau des Himmels und des Meeres vollkommen ineinander über. Die Spiegelungen der Insel und der Wolken im Wasser erzeugen eine flirrende Atmosphäre. Wasser, Luft und Erde scheinen eng verbunden, es herrscht ein Kreisen in den Formen auf der Insel und um sie herum. Die Lebensinsel ist zwar abgelegen, gleichwohl jedoch dicht bevölkert. Niemand dort ist einsam. Auf der Insel vollziehen antikisch gekleidete Personen ein festliches Ritual mit Tänzen, vor der Küste tummeln sich mythologische Figuren, neben Schwänen ein Triton, eine Nymphe und drei Nixen. Die Lebensinsel zeigt ein paradiesisches Eiland, eine Feier des Lebens. Nach dem Zustand der Versteinerung auf der Toteninsel wird hier die Lebendigkeit betont. Auch die Signatur des Künstlers erscheint belebt, sie ist gleichsam auf die bewegte Wasseroberfläche gelegt, als schwebe sie schwerelos oder schwimme auf den Wellen. Das Bild soll „in einer glücklichen L ­ ebens- und

Böcklin und Nietzsche

Schaffenszeit“ Böcklins im Jahr der Hochzeit seiner Tochter Angela ent­ standen sein.64 Während die Lebensinsel formal an die Toteninsel erinnert, gleicht die Stimmung des Bildes dem älteren Gemälde Gefilde der Seligen (1877, verschollen, Farbskizze in der Stiftung Oskar Reinhart in Winterthur). Dieselbe helle, leuchtende Palette weist das Bild Vita Somnium Breve auf, das im ­gleichen Jahr wie die Lebensinsel entstanden ist. Auch mythologische Meerwesen wie Najaden und Tritonen tauchen sehr häufig im Werk Arnold ­Böcklins auf. Doch im Vergleich mit dem Spiel der Najaden (1886, Kunstmuseum Basel), in dem die Nixen ausgelassen über Felsen und durch die Wellen toben, erscheint die Lebensinsel weniger vitalistisch und dynamisch, sondern zeigt eine beruhigte, feierliche Idylle des Meeres. Und auch wenn die Landschaft paradiesisch und frühlingshaft ist, hat sie doch wenig mit der klassischen Vorstellung der Insel der Seligen gemeinsam, dem Ort der unsterb­ lichen Helden. Es ist auch nicht klar, ob es sich bei der Insel um die Liebesinsel Kythera handelt. Vielmehr erscheint die Insel als ein nicht konkret verortetes und auch keiner bestimmten Zeit oder Erzählung zugeordnetes irdisches Paradies; sie ist darin eher der Wunschlandschaft Arkadien verwandt.65 Das Gemälde zeigt ein Inselidyll, bevölkert mit allerlei mythologischen Gestalten, die zwar bekannt waren, aber vor Böcklin in der bildenden Kunst noch nie so dargestellt worden waren. Es war stattdessen Friedrich Nietzsche, der 1884 eine verwandte Vorstellung beschrieben hatte. Der Philosoph fordert den „deutschen Orpheus“ auf, das „dumpfe, deutsche Tongedräng“ zu verlassen: „Oh zögere nicht nach südlichen Geländen, / Glücksel’gen Inseln, griechischem Nymphen-Spiel / Des Schiffs Begierde hinzuwenden / Kein Schiff fand je ein schöner Ziel.“66

Böcklin und Nietzsche In der geteilten Inselfaszination finden sich erstaunliche Berührungspunkte zwischen Arnold Böcklin und Friedrich Nietzsche. Claus Zittel wies auf eine Entsprechung zwischen dem Maler und dem Philosophen hin: „In ihrem kompromisslosen Einzelgängertum und radikalen Pessimismus, ihrer technischen Meisterschaft und der Farbbehandlung, dem je eigenwilligen allegorischen Umgang mit der Mythologie und dem Schwanken zwischen Pathos und Ironie sowie ihrem Bekenntnis zur Artifizialität der Kunst und ihrer bewussten Spätzeitlichkeit sind Böcklin und Nietzsche, der ‚Böcklin in Worten‘, nah verwandt.“67

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Arnold Böcklins innere Inseln

Wie Böcklin war Nietzsche ein Wanderer zwischen Deutschland, der Schweiz, Frankreich und Italien. Inseln spielten wie bei dem Maler in Nietzsches Leben und Werk eine wichtige und höchst ambivalente Rolle. Im Vergleich mit Böcklin erscheint Nietzsches Leben prekärer. Man könnte auch sagen, er hatte die Freiheit, nach der sich der vielfache Familienvater Böcklin – der sich als Weimarer Professor in den Süden träumte – sehnte. 1879 musste Nietzsche aufgrund seiner schwachen Gesundheit die Basler Professur jedoch tatsächlich aufgeben. Zudem war er staatenlos, da er bei der Übersiedlung nach Basel seine preußische Staatsbürgerschaft verloren hatte. Inseln waren für den Philologen und Philosophen Bilder der möglichen Freiheit und der Zuflucht, ein utopisches Ideal, dessen Gefährdung oder Unerreichbarkeit jedoch immer schon mitgedacht war. Auch Nietzsche träumte vom offenen Meer und von einem Haus auf einer (Halb-)Insel, nicht am Mittel­meer, sondern am Silsersee im Engadin, wie er in einem Brief vom Sommer 1883 bekannte.68 Wichtig war für ihn wie für Böcklin die italienische Insel I­ schia. Nietzsche hatte Ischia vermutlich während eines Aufenthalts bei Mawida von Meysenbug in Sorrent 1876/77 besucht. Er zeigte sich erschüttert über das schwere Erd­beben, das am 28. Juli 1883 mehrere Ortschaften auf der Insel zerstörte und über 2000 Tote forderte. Indirekt brachte er das Unglück auch mit seiner Dichtung in Verbindung: „Kaum bin ich mit meiner Dichtung fertig, bricht die Insel in sich zusammen.“69 In einem anderen Brief aus Sils Maria schrieb er, dass Ischia ihm als Vorbild für die „glückseligen Inseln“, die er in Also sprach Zarathustra beschrieben hat, gedient habe.70 Nietzsche hatte mit der Arbeit an dem dichterisch-philosophischen Werk 1882/83 nach einer Krise begonnen, die vermutlich durch Krankheitsschübe und die Isolation und Verzweiflung nach der Trennung von den Freunden Paul Rée und Lou Salomé ausgelöst worden war. Das poetische, ironische und stilistisch kaum einzuordnende Werk stieß selbst im engsten Freundeskreis auf Unverständnis. Kommerziell scheiterte es. Der letzte, vierte Teil erschien 1885 nur noch als Privatdruck in einer Auflage von vierzig Exemplaren, von denen Nietzsche sieben verschenkte. Nietzsche beschreibt in Also sprach Zarathustra Inseln zumeist als Orte des Glücks, doch ist ihre Bedeutung wie bei Böcklin vielschichtig. Die Insel ist ein glückseliger, aber auch ein trügerischer und utopischer Ort, der nicht zu erreichen oder – wenn man einmal dort ist – wieder zu verlassen ist. Ihr Untergang erweist sich als nötig. Die glückseligen Inseln, auf denen Zarathustra lebt, sind ein Ort der Fülle und der mühelosen Ernte: „Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süß; und indem sie fallen, reißt ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich reifen Feigen. Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr süßes Fleisch! Herbst ist es umher und reiner Himmel und Nachmittag.“71

Böcklin und Nietzsche

Doch ist dort „Herbst“ und „Nachmittag“: kein Aufbruch und Anfang also, sondern ablaufende Zeit, die in Richtung Winter und Nacht weist. Das Leben auf der Insel ist allzu glückselig und solipsistisch und muss deshalb aufgegeben werden. So heißt es in einer Notiz aus dem Nachlass: „Zarathustra 3 Anfang. Recapitulation. Du willst den Übermenschen lehren – aber du hast dich in deine Freunde und dich selbst verliebt und aus deinem Leben ein Labsal gemacht. Die glückseligen Inseln verweichlichen dich.“72 Hinzu kommt: Diese „glückseligen Inseln“ sind für Nietzsche bereits ein philosophischer Topos, ein Ort der Fiktionen. „Es gibt keine sichere Insel für den Verstand inmitten des trügerischen Meeres der Fiktionen.“73 Und dass es damit auch keine glückseligen Inseln geben kann, bestätigt der Wahrsager im Gespräch über Glück im Vierten Teil des Buches: „Glück – wie fände man wohl das Glück bei solchen Vergrabenen und Einsiedlern! Muss ich das letzte Glück noch auf glückseligen Inseln suchen und ferne zwischen vergessenen Meeren? Aber Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es hilft kein Suchen, es giebt auch keine glückseligen Inseln mehr!“74 Wobei fraglich ist, ob ausgerechnet einem Wahrsager getraut werden kann, und so beharrt Zarathustra auf seiner Vorstellung und meint: „Das weiß ich besser! Es giebt noch glückselige Inseln! Stille davon, du seufzender Trauersack!“75 Wenn die „glückseligen Inseln“ potenziell gefährlich sind, gibt es doch auch eindeutig positive Inselfiktionen bei Nietzsche. In der 1881 – also kurz vor Also sprach Zarathustra – erschienenen Aphorismensammlung Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile war die Insel noch ein utopischer Ort der Gemeinschaft und die Reise zu ihr ein Bild der geistigen Freiheit: Im Aphorismus 314 der Morgenröte schrieb Nietzsche über die „Gesellschaft der Denker“: Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht größer als ein Nachen ist, auf, wir Abenteurer und Wandervögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um: so eilig und neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen oder eine Welt über das Inselchen hinwegspülen, sodass Nichts mehr von uns da ist! Aber hier, auf diesem kleinen Raume, finden wir andere Wandervögel und hören von früheren, – und so erleben wir eine köstliche Minute der Erkenntnis und des Errathens, unter fröhlichem Flügelschlagen und Gezwitscher mit einander und abenteuern im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selber!76

Und am Ende der Schrift heißt es über „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes“: „[…] wohin wir strebten, wo alles noch Meer, Meer, Meer ist!“77 Und 1882 ruft er in Die fröhliche Wissenschaft: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“78 Es ist naheliegend und verführerisch, in diesen optimistischen, ja euphorischen Bildern des Aufbruchs auch eine Utopie für das mit Rée und von Salomé vorgestellte gemeinsame Leben zu sehen, das dann jedoch scheiterte, zu einer

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Lebenskrise führte und Nietzsches Gefühl der Isolation umso stärker werden ließ. Neben dem Bild  – oder Trugbild  – der glückseligen Inseln und insulä­ ren Philosophengemeinschaft gibt es in Also sprach Zarathustra ein weiteres Insel­bild, das mit Kindheit und Tod verbunden ist. So heißt es im „Grablied“: „Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort sind auch die Gräber meiner Jugend: dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“79 Diese Verbindung der Insel mit dem Tod ist bei Böcklin zentral. „Die Gräberinsel“ ist der ursprüngliche Name, den er der Toteninsel gewählt hatte.80 Bei Nietzsche ist die Insel ein entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegender, anzustrebender oder zu verlassener Ort, jedoch keine dauerhafte Aufenthaltsstätte – außer für die Toten. Bei ihm wie bei Böcklin ist sie dabei ein inneres (Denk-)Bild, das für Glück, Zuflucht, tröstliche Erinnerung, Isolation und Gefangenheit stehen kann. Dieser weltabgewandte, exklusive Ort für die wenigen auserwählten Dichter, Philosophen und Maler gewann im späten 19. Jahrhundert als ein vielseitig einsetzbares Denk- und Gegenbild zur Moderne enorme Popularität.

„Der Fluch allzu populärer Bilder“ Ende des 19. Jahrhunderts zählte Böcklin zu den bewundertsten und gefeiertsten Malern. Sein Ruhm zeigte sich nicht nur in den Besucherzahlen seiner Ausstellungen und Verkäufe, sondern auch darin, dass 1897 der siebzigste Geburtstag „unseres genialen Mitbürgers“ in Basel feierlich begangen ­wurde.81 Solche Popularität wurde Gauguin zu Lebzeiten nicht zuteil. Und in ­einem weiteren Punkt unterschied sich die Rezeption der beiden Künstler: Zwar blieb insbesondere Böcklins Toteninsel trotz der späteren heftigen Kritik, etwa von Meier-Graefe, populär. Doch die Person und das Leben des Künstlers spielten in der Rezeption eine eher marginale Rolle. Auch wenn Böcklin seine Initialen in die Felsen der Toteninsel setzte, wurde das Eiland weit weniger mit der Vita des Künstlers in Verbindung gebracht als Gauguins Tahiti-Bilder, die aufs Engste mit seinem Leben in der Südsee verbunden wurden. Diese Verknüpfung von Leben und Werk beförderte der Künstler selbst in seinen autobiografischen Schriften, insbesondere mit dem Tahiti-­Tagebuch Noa Noa, das in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erschien. Böcklins Leben hingegen blieb – trotz der zahlreichen Selbstbildnisse – im Hintergrund, zur Popularisierung seiner Werke trugen vor allem die Reproduktionen bei, allen voran die Böcklin-Mappe, die 1901 erschien und die,

„Der Fluch allzu populärer Bilder“

wie bereits erwähnt, auch Giorgio de Chirico und seinen Bruder Alberto ­Savinio inspirierte.82 De Chirico zählt zu den Künstlern, die sich am intensivsten mit Böcklin auseinandergesetzt haben. Insbesondere die für Böcklin zentrale Figur des Odysseus griff der Maler wieder auf. Die Rückenfigur aus Odysseus und Kalypso taucht in Das Rätsel des Orakels (1909) auf. In Anlehnung an Böcklins Odysseus am Strande des Meeres entstand 1922 das Selbstbildnis Odysseus, das den Künstler als sitzenden nackten Mann am Strand zeigt. De Chiricos Fokus galt jedoch der Toteninsel 83 – also einem der populärsten, meistzitierten und am leichtesten wiedererkennbaren Inselbildern überhaupt. Zu den bekannten Adaptionen zählen Salvador Dalís Das wahre Bild der Toteninsel Arnold Böcklins zur Stunde des Angelus und Max Ernsts Der große Wald (1927). Die unzähligen Zitate reichen bis in die Gegenwart und umfassen verschiedene Medien; so nahm auch die englische Künstlerin Beth Collar in ihrer 2015 entstandenen Videoinstallation Island of the Dead (Digital-Video, 28 Min.) Bezug auf Böcklins Gemälde. Neben der bildenden Kunst wird das Gemälde auch in der Literatur, in Comics, in der Oper und im Film zitiert. Der französische Maler Pascal Lecocq hat nicht nur selbst verschiedene Versionen gemalt, sondern auch eine Internetseite aufgebaut, die als „Wiki Toteninsel“ alles sammelt, was mit dem berühmten Werk zusammenhängt.84 Doch was macht die bis heute andauernde ungewöhnliche Attraktivität eines Gemäldes aus, das so tief im 19. Jahrhundert verwurzelt ist? Zum e­ inen liegt sie vermutlich in der visuellen Prägnanz und Einfachheit der Darstellung, die, wie dies bereits Heinrich Wölfflin beschrieben hat, ein Merkmal des „klassischen“ Böcklin ist. Dadurch wird die Wiedererkennbarkeit des Motivs in verschiedensten Kontexten verstärkt und die Möglichkeiten zur Adaption begünstigt. Nicht selten sind diese Adaptionen und „Hommagen“ nahe an der Grenze zum Kitsch oder überschreiten sie sogar deutlich. Der Katalog einer Ausstellung, in der verschiedene Toteninsel-Adaptionen versammelt waren, zeigt eine Fülle von bunten Fantasylandschaften, die wohl ohne die Nobilitierung des Böcklin-Bezugs schwer den Weg in eine Museumsausstellung gefunden hätten.85 Die Feierlichkeit und das Pathos der Darstellung machen das Gemälde auch anfällig für Parodien. Eine bekannte Zeichnung von Michael Sowa zeigt eine „sechste Version“ des Gemäldes, in der die Stille und Reglosigkeit aufgehoben sind, indem das Boot aus dem Gleichgewicht kippt und die weiße Figur ins Wasser fällt. Andrea Linnebach zitiert einen Comic, der 1986 in einer Tageszeitung erschienen ist: „… Mal sehn … unter den Bäumen machen wir Zen, links kommt die Sauna hin, diese komischen Löcher sind Spitze für Re-

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Arnold Böcklins innere Inseln

birthing und Wasser für die Psychotanks ist sowieso da … vielleicht noch ’ne Plattform für T’ai Chi einbauen … Was meinst Du? Kaufen wir die Insel?“86 Im Dialog von zwei finanzkräftigen Wellnessanhängern wird die Insel in die Sphäre des Tourismus und der Immobilienentwicklung gerückt. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass Böcklins Toteninsel-Variationen wie Watteaus Einschiffung nach Kythera kanonisierte Klassiker geworden sind, die in zahllosen Texten und Gemälden immer wieder aufgegriffen werden. Die Toteninsel ist dabei geradezu zu einem Klischee oder einer Chiffre geronnen. Diese Popularisierung betraf zudem um 1900 nicht nur die Inselbilder, sondern auch die Künstlerreisen zu Inseln – sowohl in der Praxis als in der Fiktion. Die insuläre Zivilisationsflucht wurde nach Gauguin Thema für zahlreiche Künstler und auch der Inseltourismus wuchs stetig weiter an.

Capri. Der mediterrane Mythos

Capri war lange Zeit die „Königin“ unter den populären Inseln. Das kleine Eiland im Golf von Neapel erlebte eine „sprunghafte Karriere“, wie der deutsche Kunsthistoriker Wilhelm Waetzold bereits 1927 konstatierte.1 Capri war zuerst als exklusives Domizil bekannt. Graf de Caylus, der Freund und Förderer Watteaus, der auf dem Weg nach Konstantinopel ­Kythera besucht hatte, stattete auf seiner Italien-Reise von 1714/15 auch Capri eine ­Visite ab, einer Insel, schrieb er in seinem Reisebericht Voyage d’Italie, „­fameuse par ses voluptés“.2 Der Antiquar und Sammler dachte bei diesen Worten wohl weniger an die Genüsse, die die mediterrane Landschaft der Insel und das Meer boten, als an das Leben der römischen Kaiser. Augustus hatte das karge, knapp zehn Quadrat­kilometer große Eiland  – Caprea, die Insel der Ziegen  – als persönlichen Besitz erworben und einige Gebäude dort errichten lassen. Berühmt – und berüchtigt – machte sie aber sein Nachfolger Tiberius, der sie ab 26 n. Chr. als Residenz wählte. Tiberius besaß, schreibt Sueton in seinen Kaiserbiografien, nicht weniger als zwölf Villen auf der Insel. In den letzten elf Jahren seiner Regierung verbrachte er in dort die meiste Zeit des Jahres.3 Sein bekanntestes Anwesen war die Villa Jovis, die Villa des Jupiter, die sich an der nordöstlichen Spitze direkt über der Steilküste auf der zweit­höchsten Erhebung der Insel befand. Noch heute geben die ausgegrabenen Mauern und Fundamente Aufschluss über die imposanten Dimensionen der Anlage. Eine einflussreiche, aber recht fantasievolle Rekonstruktion des deutschen Architekten Karl Weichardt aus dem Jahr 1900 betonte die exponierte Lage des burgartigen Bauwerks, das beinahe mit dem steil abfallenden Felsen verwachsen zu sein schien, der heute Monte Tiberio genannt wird (Abb. 34). Antike Autoren wie Cassius Dio, Sueton und Tacitus führen verschiedene Gründe an, die Capri zum Ort eines freiwilligen Exils für den K ­ aiser von der römischen Hauptstadt werden ließ. Vor allem scheint die Abge­legenheit und schwere Zugänglichkeit der Insel Tiberius angezogen zu ­haben.4 Sueton schreibt Tiberius auch Orgien mit Mädchen und Knaben zu, ­denen er sich

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Capri. Der mediterrane Mythos

Abb. 34  Karl Weichardt, Villa Jovis, 1900

dort ungestört hingeben konnte. Seine Villen auf Capri sollen laut ­Sueton mit aufreizenden Kunstwerken geschmückt gewesen sein. Eine Biblio­thek mit erotischer Literatur sollte die Teilnehmer inspirieren, falls es ihnen an ­eigener Fantasie mangelte. Das sind die voluptés, auf die Caylus in seiner Beschreibung anspielte. Der Franzose Caylus zählte zu den ersten Reisenden, die in der nachantiken Zeit die Insel besuchten. Nach dem Tod Tiberius’ wurde die Insel ein Ort der Verbannung und geriet weitgehend in Vergessenheit. Seit dem späten 17. und dann insbesondere im 18. Jahrhundert wurden die Bucht von Neapel und Inseln wie Capri und Ischia jedoch zu einer Destination für wagemutige englische Adlige und einzelne europäische Reisende vom Festland auf ihren Bildungsreisen, wobei die Überfahrt wegen der dort ihr Unwesen treibenden Banditen noch lange als gefährlich galt. Ein weiterer früher Reisender der Aufklärung, der Capri besuchte, war der englische Autor und Politiker Joseph Addison (1672–1719). Wie Graf de Caylus verfasste Addison einen Reisebericht – solche Reisezeugnisse waren äußerst beliebt – über seine Grand Tour, die Remarks on Several Parts of Italy, &c: in the years 1701, 1702, 1703. Als Grund seines Besuchs auf der „Isle of Caprea“ gab er an, dass sie Augustus und Tiberius als Rückzugsort

Die Insel wird Bild

gedient habe. Wie die meisten Reisenden vor und nach ihm führte er die antiken Autoren, insbesondere Horaz und Vergil, als Reisebegleiter – als Cicerones – mit in seinem Gepäck – ähnlich wie die mittelalterlichen Pilger, die auf der Reise ins Heilige Land die Bibel dabei hatten, oder der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der sich an den Brasilien-Beschreibungen Jean de Lérys aus dem 16. Jahrhundert orientierte.5 Addison verglich in seinem Reisebericht das, was er gelesen hatte, mit dem, was er nun mit eigenen Augen sah, suchte gezielt Stellen auf, die bereits die antiken ­Autoren beschrieben hatten. Zwei, drei spitze, wellenumspülte Felsen nahe einer Grotte fesselten seine Aufmerksamkeit, weil er sie als Sirenum Scopuli zu identifizieren meinte, die Felsen der Sirenen, die Vergil und Ovid erwähnt hatten.6 Anders als der französische Botschafter auf Kythera war Addison nicht enttäuscht vom realen Anblick der Insel. Im Gegenteil: Er zeigte sich bezaubert von den lieblichen Landschaften und Blicken auf die Bucht von Neapel, die Halbinsel von Sorrent und die Küstenorte. Das klingt bereits nach pittoresken Ansichten, doch die Reisebeschreibungen von Caylus und Addison evozierten die Landschaft Capris ausschließlich mit Worten und enthielten noch keine Illustrationen. Bald sollten Bilder jedoch zu einem essenziellen Teil der Berichte werden.

Die Insel wird Bild Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm die Zahl der Reisenden im Golf von Neapel stetig zu. Mit ihnen wuchs auch die Zahl der Schilderungen und bildlichen Darstellungen Capris. Reisende konnten Veduten der Insel mit nach Hause nehmen, und die im kühlen Norden Gebliebenen erhielten die Möglichkeit, in illustrierten Reiseberichten blätternd vom Süden zu träumen. Ein besonderer Fokus der Publikationen lag auf der malerischen Bucht von Neapel sowie dem Vesuv, der im 18. Jahrhundert gleich mehrmals ausbrach und dabei ein erhabenes Naturschauspiel bot, das zahlreiche Künstler festhielten.7 Um 1780 malten und zeichneten der Engländer John „Warwick“ Smith und der Deutsche Jacob Philipp Hackert die Landschaften und archäologische Stätten auf Capri. Hackert, geschätzt für seine topografisch genauen und stimmungsvollen Landschaftsdarstellungen, die auch Goethe beeindruckten, zeichnete mehrere Ansichten, die zu den ersten Darstellungen der ­Insel zählen (Abb. 35). Smith, auch „Italian Smith“ genannt, hatte sich auf Italien-­ Ansichten spezialisiert, bereiste aber auch Wales und den Lake District auf

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Capri. Der mediterrane Mythos

Abb. 35  Jacob Philipp Hackert, Ansicht von Capri mit Monte Solaro und Palazzo Inglese, 1792, Gouache auf Papier, 47 × 59 cm, Palazzo Reale, Caserta

der Suche nach pittoreken und sublimen Landschaften, die er in topo­grafisch genauen Aquarellstudien festhielt. Von Caprea malte er die Ruinen des Tiberius-­Palasts ebenso wie Landschaftsdarstellungen. Auch die aufwendig produzierte vierbändige Voyage pittoresque en Italie des Abbé de Saint-Non, die 1781–1786 in Paris erschien, enthielt Stiche der Insel.8 Ende des 18. Jahrhunderts begann der Österreicher Norbert Hadrawa mit Ausgrabungen der kaiserlichen Villen, die auch das Interesse der Reisenden an der Insel nochmals verstärkte. Auch der Architekt Friedrich Schinkel besuchte Capri 1804 und zeigte Interesse an der einfachen Architektur der lokalen Bauernhäuser.9 Gleichwohl war die Anziehungskraft Capris noch beschränkt. Als G ­ oethe ­ essina nach auf seiner italienischen Reise im Mai 1787 mit dem Schiff von M Neapel fuhr, ließ er die Insel im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Er erwähnte sie zwar und bewunderte das Meer und den Sonnenuntergang mit dem „glänzendsten Farbenschmuck“, die den „herrlichsten Anblick“ der ganzen Reise gewährten, als sie an der Insel vorbeisegelten. Laut Goethe bot

Die Insel wird Bild

die Küste vom Kap Minerva bis Sorrent die größte landschaftliche Schönheit, doch die Insel selbst erschien ihm „finster“, und dies umso mehr, als das Schiff aufgrund der starken Strömung beinahe an ihren Klippen zu zerschellen drohte.10 Es waren vor allem Archäologen, Liebhaber der Antike und einige Künstler, die es nach Capri zog. Den anderen Reisenden wurde die Insel noch in einem Reiseführer aus dem Jahr 1826 als „felsig, öde und unfruchtbar“ beschrieben.11 Eine eigentliche Lieblingsinsel der Reisenden wurde Capri erst ab den 1830er-Jahren.12 Dies hatte wenig mit den archäologischen Zeugnissen der Antike zu tun, sondern vor allem mit einem zauberhaften Naturschauspiel. Die natürliche Höhle im Felsen an der nordwestlichen Küste, in der das Wasser aufgrund der Lichtreflexion blau schimmert, war bereits in der Antike bekannt, was unter anderem durch den Fund antiker Statuen belegt ist. Ihre Wiederentdeckung schrieb sich der Maler, Dichter und Erfinder ­August Kopisch (1799–1853) aus Breslau zu. 1838 publizierte er einen Text über die Entdeckung der Grotte.13 Kopisch war ein künstlerisches und unternehmerisches Multitalent: So entwickelte er auch technische Erfindungen wie den tragbaren Reiseofen und das Pleorama, eine Spezialform des Panoramas. Noch intensiver als das Panorama versuchte das Pleorama durch den Einsatz von realen Objekten wie Booten und Spezialeffekten den Eindruck von Reisen an fremde Orte zu evozieren. Kopisch war 1824 nach Italien gereist, wo er für vier Jahre blieb und sich für längere Zeit am Golf von Neapel aufhielt. 1826 besuchte er C ­ apri. In seinen Erinnerungen an die Entdeckung der Grotte von 1838 hielt er fest, dass die „Teufelsgrotte“ unter den Einheimischen als Ort des Spuks verrufen war. Sein Zimmerwirt, ein Notar, der unbedingt in der Grotte schwimmen wollte, habe die Fremden gebeten, ihn dorthin zu führen, wo die zauberhafte Schönheit des Wassers und Lichts sie dann überwältigt habe. Die deutschen Künstler – Kopischs Begleiter war der Heidelberger Maler Ernst Fries – hätten sogleich begonnen, die Grotte zu zeichnen, um sie später zu malen, und sie hätten beschlossen, ihre Entdeckung Grotta Azzurra, Blaue Grotte, zu nennen (Abb. 36). Dies erwies sich als sehr gelungene Namensgebung. Die Farbe Blau als Farbe der Sehnsucht verwies zurück auf die Blaue Blume der Romantik, aber auch auf den strahlend blauen Himmel des Südens, den die Maler zu schätzen begannen. Kopisch hatte eine Vorliebe für intensive Farben mit großer Strahlkraft, um Landschaften und Naturschauspiele wiederzugeben. Auch für andere zeitgenössische Maler war der tiefe Süden eine Entdeckung der klaren, leuchtenden Farben, so beispielsweise für Carl von Blechen. Sein Gemälde Nachmittag auf Capri war jedoch aufgrund seiner als ungewohnt gleißend empfundenen Helligkeit umstritten.14 Blechen malte auch die Blaue Grotte

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Capri. Der mediterrane Mythos

Abb. 36  August Kopisch, Die Blaue Grotte auf Capri, um 1834, Öl auf Leinwand, 30 × 39 cm, Stiftung Preussische Schlösser und Gärten, Berlin-Brandenburg

und die spärlich bekleideten Fischer auf der Insel, die zwei der dominanten Motive – und Klischees – wurden. Doch es waren vor allem Kopischs Bilder und Beschreibungen der Blauen Grotte, die das Bild und die Anziehungskraft der Insel nachhaltig prägten, was auch an seinem Vermarktungstalent lag. Kopisch selbst baute Miniaturmodelle der Grotte aus Eisen und Gips. In den 1830er-Jahren kamen zudem kolorierte Stiche auf dem Markt. Es entstand eine Konkurrenzerzählung zu Kopisch, nach der die Grotte nicht von einem Fremden aus dem Norden, sondern von dem lokalen Fischer Angelo Ferraro entdeckt worden sei und in märchenhaften Worten als zauberhafter, poetischer und erotischer Ort geschildert wurde.15 Nach 1850 wuchs Capris Beliebtheit auch bei englischen Landschaftsmalern.16 So gingen auf Capri die künstlerische Auseinandersetzung mit der I­ nsel und ihre breitere touristische Vermarktung fast nahtlos und zeitgleich ineinan­ der über. Die ersten Künstler vor Ort fanden in den Reisenden die Abnehmer ihrer Bilder. Die Bildproduktion stieg ebenso an wie die Zahl der Ankömm-

Die Insel wird Bild

linge. Der Brite Thomas Cook hatte ab 1864 organisierte I­ talien-Reisen im Programm, die ab 1881 auch Capri und die Blaue Grotte miteinschlossen. Nach dem Zeitalter der adeligen Grand Tour war das Reisen zwar noch kein Massenphänomen, doch für ein wohlhabendes bürgerliches Publikum immerhin möglich.17 Zur gleichen Zeit wie Kopisch und in den darauffolgenden Jahrzehnten waren es jedoch vor allem Adelige, Gutsituierte, Dandys, Exzentriker, ­Hedonisten, Intellektuelle und Künstler wie Rainer Maria Rilke, Walter ­Benjamin, Maxim Gorki oder Aby Warburg, die nach Capri reisten. Insbesondere die Deutschen liebten die Insel so sehr, dass sich einige dauerhaft hier nieder­ließen und das Eiland in den folgenden Jahrzehnten als deutsche Kolonie oder „Klein-Deutschland“ bezeichnet wurde.18 Arnold Böcklin und Friedrich Nietzsche bevorzugten, wie oben beschrieben, die Nachbarinsel Ischia, die bereits im 18. Jahrhundert populär gewesen war, aber an Glanz und Anziehungskraft verlor, nachdem Capri en vogue wurde. In der Ausgabe der Zeitschrift Kunstwart, die unmittelbar nach seinem Tod Beiträge zur Bedeutung Böcklins versammelte, imaginierte der dänische Schriftsteller und Nobel­preisträger Karl Gjellerup sogar dessen Grab auf Capri: Ich wollte, ich wäre König von Italien – auf kurze Zeit. Und warum? An der Westküste Capris, zwischen dem Arco naturale der Faraglioni, liegt eine kleine Felseninsel; die ­Mauern steigen senkrecht aus der See empor, nur auf der einen Seite öffnet sie sich wie mit einem geräumigen Hof – als ob die eine Mauer eingestürzt wäre, nur wenige niedrige Bruchstücke zurücklassend. In diesen Hof sollten Zypressen gepflanzt werden, damit sie ihn einmal mit einem mystisch-tiefen Schatten füllen und ihre Trauerstandarten bis zum Rande der pylonartigen Mauern erheben könnten. Vorn müsste in der Mitte eine Treppe zum Wasser hinunterführen und zu beiden Seiten ein bronzener Löwe Wache halten; und die Insel sollte so werden, wie die Welt sie kennt, weil sein Seherblick sie so gesehen: die Toteninsel. Und sie sollte sein Mausoleum sein.19

Der Schriftsteller träumte davon, eine Insel nach Böcklins Gemälde umzuformen. Auf der Insel selbst gab es zur gleichen Zeit einen regelrechten Bauboom. Die Reisenden aus dem Norden, die sich länger oder dauerhaft auf Capri nieder­ließen, begannen das Bild der Insel nachhaltig durch ihre Bauten zu verändern. Der Industrielle Friedrich Alfred Krupp (1854–1902) verbrachte um die Jahrhundertwende die Wintermonate auf Capri, wo er Meeresforschung betrieb, eine steile Serpentinenstraße, die Via Krupp, bauen und an der Marina Piccola eine Höhle für Feste umgestalten ließ. Und nach einem Skandal in Paris, der zu einem Gerichtsprozess und der Verurteilung wegen ungebühr­ lichen Verhaltens gegenüber Minderjährigen führte, gab auch der französische Aristokrat und Dichter Baron Jacques d’Adelswärd-­Fersen 1905 bei ­Édouard

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Abb. 37  Blick auf die Terrasse und Eingangstreppe der Villa Lysis, Capri, ca. 1906

Chimot auf Capri eine Jugendstilvilla in Auftrag. Er nannte sie Villa Lysis, nach einem Dialog Platons über Freundschaft, und ließ die Inschrift „Amori et dolori sacrum“ über dem Eingang anbringen.20 Hier lebte er mit seinem italienischen Freund Nino Cesarini, dessen Statue im Garten zu sehen war und der für zahllose Fotografien und Gemälde ­Modell stand (Abb. 37). Ein anderer aristokratischer Schriftsteller, der wegen homosexueller Skandale ins Exil flüchtete, war der Schotte Norman ­Douglas. Er ließ sich 1904 auf ­Capri in der Villa Daphnis nieder. 1911 publizierte er Siren Land, einen Reisebericht über Süditalien.21 1917 folgte sein Roman South Wind, in dem Douglas Capri als fiktive Insel Nepenthe schildert und der ­wegen ­seines (homo)sexuellen Inhalts provozierte.22 Einige Jahre später baute der berühmte schwedische Arzt und Schriftsteller Axel Munthe (1857–1949) eine fantastische, mit Antiquitäten ausgestattete Villa im neoromanischen Stil in Anacapri. Sein autobiografisches Buch von San Michele erschien 1929 und war eines der meistverkauften Bücher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.23

Die Insel wird Bild

Für den Architekten Josef Hoffmann wären diese neuen Bauten wohl ein Gräuel gewesen. 1897 hatte der österreichische Architekt einen kurzen Text verfasst, in der er die Einfachheit und Ursprünglichkeit der lokalen Architektur auf Capri lobte, die auf „künstliche Überhäufung und schlechte Decoration“ verzichte und in Harmonie mit der Landschaft stehe.24 Neben der römischen Antike war gerade diese alltägliche, namenlose Architektur der Insel für zahlreiche Architekten interessant. In den 1920er-Jahren zog Capri eine Reihe von italienischen Architekten an, die sich wie bereits Schinkel und Hoffmann für die einfache, „autochtone“ lokale Architektur und die Verbindung von Architektur und Landschaft interessierten.25 Wie kaum ein anderes diente das Eiland im Golf von Neapel als Projek­ tionsort für unterschiedliche Sehnsüchte und Wünsche: die Freiheit von gesellschaftlichen Konventionen und Reglements – die Insel war eine Zuflucht für ob ihrer Homosexualität gesellschaftlich Geächtete –, die Nähe zur antiken mediterranen Vergangenheit, deren Präsenz sich in archäologischen Relikten und in der Landschaft selbst – dem Meer, den Felsen, dem Himmel – manifestierte, die Einheit von einfacher, ursprünglicher Architektur und Natur. Damit deuten sich bereits verschiedene Interessen und Auffassungen von Lebensstilen, Landschaft und Architektur und damit potenzielle Interessenskonflikte an. Auf der einen Seite fanden sich die Zivilisationsflüchtlinge, die ein möglichst abgelegenes, ursprüngliches Inselidyll suchten, die Bildungsbürger, die von den antiken Zeugnissen fasziniert waren oder sich ihr eigenes romantisches respektive dekadentes Paradies bauen wollten, auf der anderen Seite gab es die wirtschaftlichen Interessen der aufkommenden Tourismus­ industrie. Und nicht zuletzt zeigte sich der zentrale Unterschied zwischen Einheimischen und Besuchern, auch wenn die kulturellen Unterschiede nicht so groß waren wie auf Tahiti, wo die Ankunft der Europäer wenn nicht das Ende, so doch die radikale Transformation der indigenen Kultur bedeutete. Wie fast überall stellten die Fremden für die Inselbewohner die potenzielle Bedrohung ihrer traditionellen Lebensweise dar, bis hin zu deren Zerstörung. Auch Alberto Savinio beschrieb die „Zweiklassengesellschaft“ der Insulaner und den auf den Spuren von Odysseus nach Capri Reisenden: „Merkwürdig war auch der Dualismus, der das Leben auf Capri in zwei gut sichtbare Bereiche unterteilte: hier der stumme, primitive der Autochtonen, Eingeborenen oder Aborigines oder wie man sie nennen mag, dort der aggressive, leichtlebige und geschmäcklerische der Odysseus-Nachfolger, die angelockt vom nie verklingenden Ruf der Sirenen, aus allen Weltregionen dort zusammenkamen.“26 Die kleine Insel Capri wurde zum Ort der individuellen Fluchten, aber auch der Konflikte zwischen Einheimischen und Touristen oder zwischen

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verschiedenen konkurrierenden Utopien. Dies drückte sich besonders intensiv am Beginn des 20. Jahrhunderts aus, als immer mehr Reisende von der Insel angezogen wurden und sich dort niederließen.

Die Insel der Schönheit. Zwei Kongresse Eine zentrale und wegweisende Figur in den sich anbahnenden Konflikten und möglichen Lösungen war der Architekt, Ingenieur, Schiffbauer und ­Autor Edwin Cerio (1875–1860). Als Sohn einer Engländerin und eines italienischen Arztes auf Capri geboren, wurde der mehrsprachige Cerio Schiffsingenieur für die Krupp Germaniawerft in Kiel. Während des Ersten Weltkriegs kehrte er jedoch nach Capri zurück. Er arbeitete als Architekt und setzte sich für den Schutz der Landschaft und gegen die Zersiedelung und den Massentourismus ein, zwischen 1920 und 1923 amtete er als Bürgermeister Capris. In dieser Zeit organisierte er einen Kongress über Landschaft, der ein ästhetisches Konzept zur Insel entwickeln sollte.27 Zu den Teilnehmern des Kongresses, der im Juli 1922 im Hotel Quisisana stattfand, gehörten neben Politikern, Bürgermeistern und Offiziellen auch zahlreiche Schriftsteller und Künstler. Unter ihnen waren der schottische Schriftsteller Compton Mackenzie, der zwischen 1913 und 1920 in der von Edwin Cerio gebauten Villa Solitaria auf Capri lebte und mehrere Romane über die Insel verfasste, der Basler Gilbert Clavel, der dem Futurismus nahestand und ab 1910 einige Jahre auf der Insel verbrachte, wo er auch sein bekanntestes Werk Un istituto per suicidi (1918) verfasste, bevor er ab 1919 in Positano einen ehemaligen Wachturm zu einem Gesamtkunstwerk umzubauen begann, sowie der Futurist Filippo Tommaso Marinetti. Marinetti erklärte Capri zu einer futuristischen Insel („plasticamente futurista“). Er deklarierte die Insel an sich zu einem Kunstwerk: die steil aufragenden Faraglioni-Felsen vor der Südostspitze der Insel erschienen ihm wie von Michelangelo gehauen, als er davon träumte, einen Berg zu erschaffen.28 Entsprechend ihrem futuristischen Programm sahen Marinetti und seine Mitstreiter die steile, zerklüftete Insel und die Grotte nicht als Ort der klassischen Antike („Bisogna difendere Capri dal falso antico“29) und der Idylle, sondern als Ort der (vulkanischen) Gewalt und geologischen Dynamik: „[…] ich definiere sie als typisch italienische Felsen, rebellisch, tumultös, lyrisch, gewalttätig, kriegerisch, revolutionär so wie unsere Seele, unsere heutige Kunst, die vergangene, zukünftige und futuristische!“30 Der Organisator des Landschaftskongresses Edwin Cerio selbst hielt ein Referat über die rurale Architektur, in dem er die antike mythologische Ver-

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gangenheit der Insel der Sirenen hervorhob, aber ebenso ihre mediterrane Landschaft betonte, die sie mit dem Orient und Nordafrika verband, also mit dem ganzen Mittelmeerraum von den Pinien Aleppos bis zu den Dattelpalmen der Sarazenen. Cerio entwickelte die Vision der Aufforstung der ­Insel und einer Künstlerkolonie auf Capri, in der Künstler aller Nationen leben würden. Er verfasste zudem zahlreiche Erzählungen, die auf Capri spielten, am bekanntesten Aria di Capri (1927).31 Als Bürgermeister jedoch scheiterte er: Er wurde bereits nach drei Jahren abgewählt, und ein Hauptkritikpunkt war, dass er die Insel musealisieren wolle.32 Es ist frappierend, wie viele Inselerzählungen zu Beginn des 20. Jahrhundert entstanden; auf der Insel zu bauen oder sie zu beschreiben schienen gleichermaßen attraktive Optionen für die neu Zugezogenen (manchmal beides zugleich). Auch Marinetti hatte gemeinsam mit dem Futuristen Bruno Corra mit L’isola dei baci (1918) einen Roman über Capri verfasst.33 Der „erotisch-soziale“ Roman war bereits fünf Jahre vor Cerios Kongress über Landschaft entstanden, vermutlich war er auch ein Grund für die Einladung Marinettis an den Kongress. Der kurze Roman ist eine Satire, die jedoch detailliert die Stimmung auf der Insel beschreibt und das eigenartige Soziotop von Reisenden, das sich auf ihr versammelt hatte. Dadurch erinnert L’isola dei baci an Norman Douglas’ Roman South Wind, der zwei Jahre früher erschienen war. Während jedoch bei Douglas Homosexualität positiv dargestellt wird, ist L’isola dei baci vehement homophob. Die Geschichte beginnt in Neapel mit der Einschiffung von verschiedenen Reisenden. Zu den „turisti misteriosi“ zählen ein Graf Paul De Ritten und seine Frau, ein Graf Ricard, ein Bankier namens Jean Cohn, der Dichter Guido Pietrachiara und der russische Abgeordnete Markoff. Der Verfasser Marinetti ist als Beobachter dabei. Auf Capri treffen sie zudem den Baron Truffard, den polnischen Archäologen Stopwitz und den Schweizer Antiquar und Numismatiker Werkopfen und weitere Personen. Alle sind für einen Kongress angereist. Ziel dieses „rosa Kongresses“, der in der Blauen Grotte stattfindet, ist es, ­Capri zu einer Insel der homosexuellen Liebe zu machen. Die Kongressteilnehmer sprechen sich für Pazifismus und gegen den Fortschritt aus. Sie verdammen die Moderne und befürworten die Nostalgie, die Langsamkeit, die Zartheit und die Unentschlossenheit. Von Capri wollen sie die Mücken und die Frauen vertreiben. Ihr Programm umfasst unter anderem: „5) Von der Insel Capri, unserer Hauptstadt, sind alle Frauen zu verbannen, denn diese sind immer geschwätzig, unbändig, vulgär und übelriechend 6) Zum Tode zu verurteilen sind alle Progressiven, alle Revolutionäre und alle Futuristen der Welt.“34

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Sie wollen zudem Telegramme an verschiedene Freunde wie den pazifistischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Romain Rolland, den Philosophen Benedetto Croce, den Archäologen und Architekten Giacomo Boni und den Komponisten Arthur Toscanini schicken. Der Kongress eskaliert, als die Gräfin De Ritten in der Blauen Grotte ankommt und sich vor aller Augen tötet. Als sich die Versammlung nach ihrem Begräbnis auf der Piazza in Anacapri erneut trifft, wird sie von einer Gruppe neapolitanischer Frauen angegriffen. Marinetti selbst hat sie aus Neapel hergeholt, nun stürzen sich die vom capresischen Wein berauschten Neapolitanerinnen auf die wehrlosen Männer. Offensichtlich ist das Programm des „rosa Kongresses“ auf Capri ein Gegenprogramm zu Marinettis Futuristischem Manifest von 1909, das Fortschritt, Kampf und Krieg lobt und dessen Schluss lautet: „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den ‚Futurismus‘ gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.“35 Marinettis Manifest richtete sich gegen die Verklärung und Vermarktung der Vergangenheit durch die Gelehrten ebenso wie durch den Tourismus. Die von Marinetti beschriebenen Teilnehmer hatten offensichtliche Ähnlichkeiten mit einigen der neu zugezogenen Bewohner Capris. De Ritten erinnert an Jacques d’Adelswärd-Fersen und der Schweizer Antiquar Werkopfen an Gilbert Clavel. Wobei Clavel, der wie Marinetti am Kongress für Landschaft teilnahm, dem Futurismus durchaus nahestand. Jedenfalls wird deutlich, dass Marinetti versuchte, die Insel in seinem Roman und später am Kongress neu zu definieren, indem er die Homosexuellen und allzu femininen Ästheten der Lächerlichkeit preisgab. Die Insel Capri sollte gerade nicht der Ort der Antike, der Nostalgie, des Rückzugs und der Langsamkeit sein, sondern vielmehr ein dynamischer Ort des Fortschritts, der Moderne und des Aufruhrs. In den „typisch italienischen“ Felsen sah er ebenso wie in der Kunst einen Ausdruck der Revolte. Die verschiedenen Ansichten über das Verhältnis zwischen antiker Tradition und Moderne sowie die Verbindungen bzw. Konflikte zwischen den Geschlechtern beeinflussten auf Capri die Interpretation der Landschaft ebenso wie Architektur, Kunst, Literatur und sogar Politik. Capri wurde nicht nur eine Lieblingsinsel der Faschisten, sondern auch von Curzio Malaparte, der eines der berühmtesten Häuser der Insel baute.

„Sono anch’io proprietario a Capri“

„Sono anch’io proprietario a Capri“ Ebenso wie in den Erzählungen und Gemälden, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer zahlreicher wurden, manifestierten sich die Sehnsüchte und Projektionen in den neu gebauten Villen der Inselreisenden. Im Unterschied zu den Romanen und der bildenden Kunst wurden die Bauten Teil der Insel selbst. Die Bauherren und ihre Architekten formten die Landschaften und Orte nach ihren Ideen um. Zahlreiche Häuser auf Capri sind ­eigent­liche Gesamtkunstwerke, die ein ästhetisches, philosophisches Konzept und einen Lebensentwurf ihrer Besitzer (noch mehr als der Architekten) verkörperten. Dies trifft auf d’Adelswärd-Fersens, Douglas’ und ­Munthes ­Villen zu, auf die von Edwin Cerio gebaute Casa solitaria für Compton M ­ ackenzie, doch am stärksten wohl auf Malapartes Haus. In der Villa, die der italienische Schriftsteller Curzio Malaparte zwischen 1938 und 1941 baute, verdichten sich viele der Sehnsüchte und Ideen, die Reisende auf die Insel zogen. Wie auch Gauguins letztes Haus auf Hiva Oa hat Malapartes Haus programmatischen Charakter, der sich bereits in der Bezeichnung „casa come me“ ausdrückt. Es zeigt die Inbesitznahme der Insel, den Versuch der Anbindung an die lokale Tradition. Und mehr als Gauguins Hütte erhebt Malapartes Villa zudem Anspruch auf Dauer. Die Casa Malaparte gehört zu den letzten Villen von Künstlern und Exzentrikern, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf Capri entstanden, ist jedoch heute eine der berühmtesten. Auf jeden Fall ist sie der am intensivsten von Künstlern, Architekten und Filmemachern rezipierte Bau. Vom Regisseur Jean-Luc Godard über den Künstler Günther Förg und den Modeschöpfer Karl Lagerfeld bis hin zu unzähligen Architekten hat die Casa Malaparte immer wieder zu Interpretationen und eigenen Werken angeregt. Die Faszination rührte gleichermaßen vom eigenwilligen Bau mit seiner spektakulären Dachterrasse her als auch von seiner exponierten, malerischen Lage auf einem abgelegenen Felsvorsprung und der schillernden, ambivalenten Person des Besitzers und Bauherrn. Diese enge Verbindung von Bau und Bauherr geht auf Malaparte selbst zurück, der die Villa als unmittelbaren Ausdruck seiner Persönlichkeit deutete. Durch die Casa Malaparte formte er die Insel – zumindest einen Teil davon – nach seinem Bild. Curzio Malaparte stellt in diesem Buch eine Ausnahme dar, denn er war kein bildender Künstler, sondern ein Schriftsteller und Journalist, dessen Karriere eng mit den politischen Ereignissen seiner Zeit verbunden war, in denen er eine ambivalente Rolle spielte. Malaparte arbeitete vor allem mit Worten, hatte jedoch enge Verbindungen zur Kunst, war maßgeblich beteiligt an der Gestaltung seines Hauses, und bildhafte Schilderungen nahmen auch in sei-

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nen Büchern eine zentrale Rolle ein. In einer Ästhetik, die dem Expressionismus und Surrealismus nahe ist, gelangen ihm immer wieder Beschreibungen von unvergesslichen, zum Teil grotesken Szenen, die auf einen unmittelbaren visuellen Eindruck abzielten. In seiner Casa Malaparte verbanden sich Architektur, Literatur und Kunst. Malaparte kam 1898 im toskanischen Prato als Kurt Erich Suckert zur Welt. Sein Vater Erwin Alexander Suckert stammte aus Sachsen, die Mutter Eugenia Perelli, genannt Edda, aus Mailand. Zu den Hauptwerken Malapartes zählen die beiden in den 1940er-Jahren entstandenen Romane Kaputt (1944, dt. 1951) und La pelle (1949, dt. Die Haut, 1950). Kaputt beschreibt die Odyssee eines Ich-Erzählers, der auch den Namen Malaparte trägt, durch das vom Krieg überzogene Europa. Der Erzähler Malaparte tritt dabei in novellenhaften Episoden prominent in Erscheinung als unabhängige, furchtlose und überlegene Figur mit besten Verbindungen zu allen Seiten, auch zu den Deutschen, etwa zu Hans Frank, den Generalgouverneur im besetzten ­Polen. In der pikaresken Erzählung ist auch der Einfluss der neueren französischen Literatur von Huysmans und Céline bis zu den Surrealisten spürbar.36 La pelle beschreibt die Invasion der Amerikaner in Neapel 1943 sowie den Ausbruch des Vesuvs im darauffolgenden Jahr. Wie in Kaputt steht der Ich-Erzähler im Zentrum, während die beschriebenen Ereignisse zum Teil surreal und mit grellen Farben bildhaft einprägsam geschildert sind. In beiden Romanen werden historische Fakten und Fiktion vermischt, Malaparte fiktionalisiert dabei auch sein eigenes Leben. Beide Romane wurden von der Kritik immer wieder als effekt­hascherisch, egoman und amoralisch bezeichnet. Auch der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister kritisierte die „sarkastische Distanz“, Verantwortungslosigkeit und Indifferenz.37 Tatsächlich, so fasste der Literaturhistoriker Torsten Liesegang zusammen, „steigert der Autor die literarische Inszenierung seiner Person, die auch sein ganzes übriges Werk durchzieht. Der Ich-Erzähler tritt als ideeller Gesamtkommentator von Geschichte, Gegenwart und Zukunft auf, vertraut mit allen Ländern und ihren Völkern, Klassen und Milieus: ein fiktiver Ausnahmemensch, der als Kenner Europas I­ diome aller Schichten verwendet und sich in mehreren europäischen Sprachen bewegt.“38 Malapartes Protagonist steht so in der Tradition der heroischen Übermenschen, die bereits im Werk des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio auftauchen, der in vielem ein Vorbild zu sein schien. Die Erzählstimme in den Romanen ist jedoch ambivalent, Gefühle von Macht- und Machtlosigkeit, Ekel, Entfremdung und Mitleid wechseln einander immer wieder ab, zusätz­liche Komplexität ergibt sich durch die Engführung des vom Erzähler geschilderten ­Malaparte und

„Sono anch’io proprietario a Capri“

dem realen ­Leben des Autors wie auch der stetigen Vermischung von historischen Fakten, Fiktion und Selbststilisierung. Malapartes Haltung und Karriere waren gleichermaßen ambitioniert wie politisch und künstlerisch ambivalent (wie die einiger seiner italienischen Zeitgenossen). Bereits mit 15 Jahren publizierte Kurt Suckert Kurzgeschichten in einer Zeitung. Mit 16 schloss er sich als Freiwilliger zuerst den französischen und dann den italienischen alpinen Truppen an, um im oberitalienischen Gebirge gegen die Deutschen zu kämpfen, 1918 erlitt er durch einen Senfgasangriff einen Lungenschaden. Nach dem Krieg trat er in den diplomatischen Dienst ein und begann an der Botschaft in Warschau zu arbeiten, zudem war er als Journalist tätig, gründete die kurzlebige Zeitschrift Oceania und arbeitete an seinen ­ersten Buchpublikationen. 1921 trat Malaparte in die PNF (Partito Nazionale ­Fascista) ein. Er geriet aber wegen seiner Kritik wiederholt in Konflikt mit der Partei. 1925 änderte er seinen Namen in Malaparte, angelehnt an dem Familiennamen Napoleon Bonapartes. 1926 gründete er die modernistische Lite­raturzeitschrift 900 (Novecento), wandte sich wenig später jedoch der na­ tio­nalistischen volkstümlichen Strapaese-Bewegung zu. 1926/27 erschien der Fortsetzungsroman Don Camalèo, eine Fakten und Fiktion vermischende Satire auf Mussolini, der die Veröffentlichung verbot. 1928 bis 1931 war ­Malaparte Chefredakteur von La Stampa. Zu erneuten Problemen mit der Partei kam es wegen der Veröffentlichung von Technique du coup d’état, in dem ein Kapitel „Hitler: eine Frau“ heißt. 1931 wurde Malaparte zu Einzelhaft im römischen Gefängnis Regina Coeli verurteilt, dann 1933 wegen Beleidigung und übler Nachrede gegenüber einem Parteikollegen zu fünf Jahren Verbannung auf die Insel Lipari an der Nordküste ­Siziliens, die damals als Strafkolonie für politische Gefangene genutzt wurde. Auf Intervention von Galeazzo Ciano, dem Schwiegersohn ­Mussolinis, konnte Malaparte die Insel nach einem halben Jahr wieder verlassen, es folgte ein Aufenthalt auf Ischia und Hausarrest in Forte dei Marmi in der Toskana, wo er ein kleines Haus erwarb, das der deutsche Maler Adolf von Hildebrand für sich gebaut hatte.39 Trotz des Verbots sich öffentlich zu ­äußern, publizierte er die Kurzgeschichtenbände Fughe in prigione (Fluchten im Gefängnis, 1936), Sangue (Blut, 1937) und schrieb unter dem Pseudonym „Candido“ im Corriere della Sera. 1937 gründete er mit Unterstützung von Galeazzo Ciano die Literaturund Propagandazeitschrift Prospettive, die bis 1942 erschien. Als Korrespondent reiste er 1939 nach Äthiopien, dann als Kriegskorrespondent für den Corriere della Sera nach Nordafrika, Deutschland, Frankreich, den Balkan, Finnland und die Sowjetunion. Nach der Landung der

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Amerikaner in Unteritalien 1943 war er als Verbindungsoffizier für die Amerikaner tätig. Nach dem Krieg wurde Malaparte Kommunist, konvertierte aber 1957 auf dem Sterbebett zum Katholizismus. Nach der Verbannung und den journalistischen Reisen quer durch ­Europa wurde in den 1930er-Jahren der Wunsch, ein Haus im Golf von ­Neapel zu besitzen, für Malaparte zur „idea fissa“.40 Zunächst wollte er auf ­Ischia das Haus Acquario kaufen, das sich im Besitz von Rinaldo Dohrn befand, dem Sohn Anton Dohrns, des Meeresbiologen, der Böcklin auf seinen Ferien­ausflügen begleitet hatte. Der Kauf kam nicht zustande, auch weil ­Malaparte Forte dei Marmi nicht verlassen konnte. An Weihnachten 1937 reiste ­Malaparte jedoch nach Capri. Capri war in den 1930er-Jahren groß in Mode. Die Insel gelangte erneut in den Fokus der Archäologen – und der Faschisten. Wie in ganz Italien wurden auf Capri die archäologischen Ausgrabungen forciert. Als Insel des ­Augustus war sie zudem von besonderer Bedeutung für die Feierlichkeiten anlässlich des 2000-jährigen Gedenkjahrs des Kaisers. Fotografien von ­Capri waren an der Mostra Augustea della Romanità, die 1937/38 im Palazzo delle Esposizioni in Rom stattfand, zu sehen. Im Dezember des Jahres wurde auch die neue Mole auf der Insel eingeweiht. Die Ausgrabungen auf Capri von 1932 bis 1935 standen unter der Leitung des renommierten Archäologen Amedeo Maiuri, Direktor des Archäologischen Nationalmuseums in ­Neapel, ­ ompeji durchführte, der auch wichtige Ausgrabungen in Herkulaneum und P 41 wo er unter anderem die Villa dei Misteri freilegte. Maiuri war Capri zudem persönlich verbunden und besaß ein Haus auf der Insel.42 Auch mehrere Exponenten der Regierung erwarben Grundstücke auf Capri, unter ihnen Mussolinis Tochter Edda und ihr Mann Galeazzo Ciano sowie der Botschafter Guglielmo Rulli, ein Freund Malapartes. An ihn konnte Malaparte 1938 dann endlich schreiben: „Sono anch’io proprietario a Capri“ – „Auch ich bin Eigen­tümer auf Capri“.43

Das kühnste Haus auf Capri Im Januar und März 1938 hatte Malaparte zwei angrenzende, circa 1,5 Hektar große Grundstücke auf dem Capo Massullo erworben und noch im März ein vom italienischen Architekten Adalberto Libera unterschriebenes Baugesuch eingereicht sowie ein weiteres Gesuch für den Bau einer Straße und einer Zisterne. Libera war kein Unbekannter. Der norditalienische Architekt war damals erst 35, konnte jedoch bereits auf eine eindrückliche Bautätigkeit und sehr gute Beziehungen verweisen.44 Während des Studiums in Parma und

Das kühnste Haus auf Capri

Rom hatte er sich der Architektenvereinigung Gruppo 7 angeschlossen, aus der 1930 das Movimento Italiano di Architettura Razionale (MIAR) hervorging. Gruppo 7 setzte sich für eine rationale, moderne, nicht dekorative und nicht monumentale Architektur ein. 1927 konnte Libera an der von Ludwig Mies van der Rohe organisierten Werkbundausstellung in Stuttgart sein Projekt eines Hotels in den Bergen zeigen. In den 1930er-Jahren tat sich Libera insbesondere als Vermittler und Gestalter von Architekturausstellungen hervor. 1928 und 1931 kuratierte er in Rom zwei Ausstellungen zur architettura razionalista mit dem Ziel, diese als faschistische Staatsarchitektur zu etablieren. Dies gelang nicht, aber nichtsdestotrotz unterhielt Libera gute Kontakte zu den Faschisten und arbeitete ab 1932 als ihr künstlerischer Berater. Mit Mario De Renzi entwarf er den Palazzo delle Poste in Rom (1930), die italienischen Pavillons auf den Weltausstellungen in Chicago (1933) und Brüssel (1935) sowie den erst 1954 fertiggestellten Kongresspalast für die Weltausstellung E42 in Rom. Malaparte konnte nicht nur einen bekannten Architekten gewinnen, er hatte auch einen exklusiven Bauort gewählt. Das Grundstück auf dem abgelegenen Capo Massullo war kein Bauland, sondern befand sich mitten in der Natur und stand unter Landschaftsschutz. Ein Gutachten befand jedoch, der geplante Bau sei „nicht sichtbar“ von der Umgebung und insbesondere auch von den prominenten Aussichtspunkten der Insel. Der Minister della Pubblica Istruzione, Giuseppe Bottai, war zudem ein Freund Malapartes. Weil das Land kein Bauland war, konnte es Malaparte zu einem relativ günstigen Preis erwerben. Er erhielt eine Baubewilligung und begann im selben Jahr mit dem Bau des Hauses. Es war genau diese exponierte Lage, die Malaparte besonders anzog (Abb. 38). Durch sie setzte er sich von den übrigen Villenbesitzern und natürlich von den normalen Touristen ab. Die Lage war gleichermaßen exklusiv und expressiv: „Im wildesten Teil, dem einsamsten und dramatischsten […] wo sich die Natur mit unvergleichlicher und grausamer Kraft ausdrückt, ein durch außergewöhnlich klare Umrisse definiertes Kap, das mit felsiger Klaue auf das Meer hinausgreift. Kein Ort in Italien besitzt diese Breite des Horizontes, diese Tiefe des Gefühls.“ Und weiter: „Es ist ein Ort, gewiss nur für starke Männer, für freie Geister.“45 Zur Beschreibung des Terrains benutzte er ein sehr ähnliches Vokabular wie das, mit dem Marinetti 15 Jahre zuvor am Kongress für Landschaft die Insel beschrieben hatte: Die Lage wie die Insellandschaft waren dramatisch, wild, gewaltsam und Ausdruck einer ebensolchen Seele und Persönlichkeit. Während das Land rasch erworben werden konnte, verlief der Bau a­ lles andere als reibungslos und zog sich, auch aufgrund der abgelegenen Lage,

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Abb. 38 Casa Malaparte auf dem Capo Masullo, Capri, Fotografie

bis 1942 hin. Bald kam es zum Bruch zwischen dem Bauherrn und dem Architekten, wohl aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Charaktere. Von Adalberto Libera existiert ein Plan vom März 1938 mit einigen Skizzen für die Villa: Diese zeigen die Positionierung auf dem Capo Massullo und einen langen, rektangulären zweigeschossigen Baukörper, wobei das obere Geschoss nur die Hälfte der Grundrissfläche einnimmt und der Rest eine der Insel zugewandte Terrasse ist. Der Eingang liegt auf der Seite. Libera distanzierte sich später allerdings von dem Projekt.46 Malaparte präsentierte das Haus nun als sein alleiniges Werk, bei dem andere nur unterstützend und beratend mitgewirkt hatten, unter ihnen der lokale capresische Bauunternehmer Adolfo Amitrano und dessen Söhnen für den Bauprozess selbst und bei technischen und gestalterischen Details weitere Freunde und Bekannte wie die Künstler Orfeo Tamburi und Alberto Savinio sowie der Architekt Luigi Moretti.47 1938 schrieb Malaparte an Libera, dieser solle einen – nicht näher beschriebenen – Plan an Amitrano schicken.48

Das kühnste Haus auf Capri

Abb. 39  Casa Malaparte, Fotografie

In der Forschung wird die Frage, ob das entstandene Bauwerk die Schöpfung des Architekten oder des Bauherrn sei, bis heute diskutiert.49 Am ehesten muss man sie wohl als gemeinsames Werk deuten. Die gebaute Villa behielt wesentliche Elemente von Liberas Entwurf bei, insbesondere die geschlossene rektanguläre Form, sie wurde jedoch wesentlich größer. Zahl­reiche Teile wurden erst während der langen Bauzeit ausgearbeitet. Im Bauverlauf gestaltete Malaparte zusammen mit Amitrano zahlreiche Elemente und insbesondere auch die Innenräume, die im Plan Liberas erst skizzenhaft angelegt waren. Ziemlich sicher ist, dass die Idee der breiten geländerlosen Treppe, die auf das Flachdach führt, erst während des Baus entstand (Abb. 39). Die Skizze Liberas zeigt sie nicht. Die Architekturhistorikerin Marida Talamona, die für eine der ersten grundlegenden Publikationen über die Baugeschichte vielen Quellen auswertete, zitiert Ciro Amitrano, laut dem Malaparte betont habe, die Erinnerung an die Chiesa dell’Annunziata auf Lipari habe ihn zu der Treppe inspiriert.50 Eine Fotografie zeigt Malaparte während seines Exils

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Abb. 40  Curzio Malaparte vor der Treppe der Chiesa dell’Annunziata auf Lipari, 1934, Fotografie

neben der langen Treppe, die zur kleinen Kirche auf Lipari führt (Abb. 40). Sicher ist, dass die Unterschiede zwischen der Kirche und der Casa Malaparte groß und die konstruierte Treppenanlage kühn ist: Sie besitzt kein Geländer und führt nicht zum Portal einer Kirche, sondern auf eine freie Fläche, auf der sich nur das weiße Mauer-„Segel“ befindet, dahinter öffnen sich statt des Kirchenportals der Himmel und das Meer. Als Material bestimmte der Bauherr die traditionellen lokalen Materialien: „pietra, soltanto pietra“ – Stein, nur Stein.51 Während Libera in seinem Entwurf für die Fassade des Untergeschosses noch grobe Bossen vorgesehen hatte und für den ersten Stock glattes Mauerwerk, ist im realisierten Bau die Fassade einheitlich rot gestrichen (vorübergehend war sie weiß). In „Ritratto di pietra“ betonte Malaparte die Modernität des Hauses, das schnörkellos und keinem Stil verpflichtet sei und sich damit vom Eklektizismus der übrigen Villenarchitektur der Insel abhob: „[…] es entpuppte sich als das kühnste

Das kühnste Haus auf Capri

und intelligenteste moderne Haus auf Capri […] somit kein romanisches Säulchen, kein Bogen, kein Außentreppchen, kein Spitzbogenfenster, keine von diesen hybriden Verbindungen von maurischen, romanischen, gotischen und secessionistischen Stilen.“52 Auch hier gibt es wieder große Parallelen zu Marinettis Vorstellungen, der sich während des Landschaftskongresses für eine „praktische“ moderne Architektur aussprach: „Auf Capri einen Garten im Stil von Versailles anzulegen, ein ägyptisches Haus zu bauen oder einen griechischen Tempel, ist gleichermaßen blödsinnig. Das Klassische kann man nicht kopieren. Das Klassische ist das, was aus dem Gleichgewicht einer jeweiligen künstlerischen Epoche entsteht.“53 Große Auswirkung auf den Bau hatte auch das schwierige, unebene Terrain des Felsens, an das sich die Villa anpassen musste. Sie umfasst so drei Ebenen: Im Untergeschoss, das nur einen Drittel der Länge des Baus ausmacht – die Länge der Treppe –, lagen die Wirtschaftsräume (Heizung, Lager, Waschküche); im Erdgeschoss, zu dem auch der Haupteingang führt, befanden sich axialsymmetrisch angeordnet das Esszimmer, die Küche, vier Gästezimmer mit zwei Bädern; und im ersten Stock gab es ein großes Atrium mit vier großen Fenstern und Kamin, zwei Schlafräume mit Bädern und am Ende des Baus das Arbeitszimmer des Hausherrn. Lange waren aufgrund der eingeschränkten Zugänglichkeit der sich bis heute in Familienbesitz befindlichen Villa der Grundriss und insbesondere die Gestaltung der Innenräume nur ansatzweise durch wenige Fotografien und Beschreibungen bekannt. Und überhaupt ist die Casa Malaparte ein Beispiel dafür, wie moderne Architektur zu einem wesentlichen Teil durch Foto­ grafie und Massenmedien vermittelt wird.54 Die Untersuchung der fotografischen und massenmedialen Dokumentationen und ihre Verbreitung wären eine eigene Studie wert. Zwar ist die Villa für die Öffentlichkeit immer noch nur beschränkt zugänglich, der Bau konnte jedoch von der Università di ­Siracusa (Joel Bostick) untersucht werden und inzwischen sind auch Foto­ grafien der weniger gut bekannten Innenräume in zahlreichen Publikationen erschienen.55 Von außen wirkt die Villa wie ein trutziger Solitär mit kleinen Türen und mehrheitlich kleinen Fenstern, der kaum Rückschlüsse auf die Innengestaltung zulässt. Diese birgt denn auch einige Überraschungen: Die Räume sind sehr unterschiedlich und äußerst aufwendig gestaltet. Der große Salon im ­ersten Stock hat einen Boden aus unregelmäßig gehauenen grauen Steinplatten, einen Kamin mit einer Rückwand aus Jenaglas sowie Tische und Bänke mit Beinen aus dicken Säulenstümpfen. Bestimmend für die Wirkung des Raums sind die vier großen Fenster, die Blicke auf die umgebende spektakuläre Küstenlandschaft, die Monacone-, Faraglioni- und Matromania-Felsen

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und das Meer eröffnen. Zwischen zwei Fenstern und gegenüber dem Kamin befand sich das großformatige Holzrelief Danza (1933) von Pericle Fazzini. Die Gestaltung des Raums wirkt monumental, reduziert, kühl und antikisierend. Malaparte nannte es sein Atrium. Vollkommen anders ist dagegen das Esszimmer im Untergeschoss: Die Stanza di Cortina ist ein kleiner, holzge­ täfelter rustikaler Raum mit Kachelofen und erinnert an ein Chalet in den Bergen. Neben Fazzinis Danza gab es zahlreiche Kunstwerke zeitgenössischer Künstler im Haus. Im ersten Kapitel der erst nach seinem Tod erschienenen Essaysammlung Benedetti Italiani zählte Malaparte sie als stolzer Sammler auf: Ich öffne das Fenstern, und es ist Nacht auf Capri draußen auf dem Meer. Ich schließe das Fenster, und es ist Nacht auf Capri in meinem einsamen Haus auf dem Gipfel über dem Meer, die italienische Nacht über den Büchern und Bildern meiner Bibliothek: über dem Normanischen Strand von Dufy, über den drei Paysages parisiens von Delaunay, über der jungen Frau im Konzert von Kokoschka, über dem Déjeuner sur l’herbe von Pascin, über der Kreuzigung von Chagall; die griechische Nacht von Capri über dem Blumenstrauß von Giorgio Morandi, über dem Strand von Versiglia von De Pisis, über dem weißen Steingut-Fliesenboden mit dem Motiv der lorbeergeschmückten Lyra, das Goethe am Rand des Manuskripts der Reise nach Italien entworfen hat.56

Das erwähnte Goethe’sche Lyramotiv war ein Entwurf Alberto Savinios. Von Savinio soll es auch ein großes, heute nicht mehr indentifizierbares Bild in der Sammlung Malapartes gegeben haben.57 Der Architekt Gianni Pettena schreibt, allerdings ohne Quellenangabe, der Künstler habe Malaparte bei der Einrichtung des Hauses unterstützt.58 Sicher ist, dass Malaparte Savinio durch die Zusammenarbeit für die Zeitschrift Prospettive kannte. Malaparte und Savinio verband die literarische Tätigkeit und sie teilten auch die Liebe zur antiken Mythologie. 1925 verfasste Savinio das Stück Capitano Ulisse über die letzte Reise des Odysseus, den mythischen Helden, der auch für Malaparte zentral war.59 1926 schrieb Savinio zudem den bereits zitierten längeren Text über Capri, der erstmals in den 1930er-Jahren in Auszügen in der Florentiner Zeitung La Nazione publiziert wurde.60 An der Entstehung der Casa Malaparte waren viele Personen beteiligt und die verschiedenen Einflüsse sind spürbar. Doch hatten die Wahl des Ortes, die Form des Baus und die Inneneinrichtung in ihrer Summe vor allem die Aufgabe, ein Ausdruck der höchst individuellen – schillernden und eigenwilligen – Persönlichkeit von Curzio Malaparte zu sein.

„Casa come me“. Selbstinszenierung nach Odysseus

„Casa come me“. Selbstinszenierung nach Odysseus Die Villa und ihre exponierte Lage lösten zahlreiche Interpretationen und Assoziationen aus: Sie wurde mit einer ägyptischen Grabstätte verglichen oder mit einem primitiven Altar, einem pompejanischen Haus, einem Schiff mit der Dachterrasse als Sonnendeck, sie wurde ein Ort der Mysterien, der Riten und Rituale sowie ein surrealistisches Kunstwerk genannt. Vor allem aber wurde sie, wie schon ausgeführt, von Anfang an als Selbstporträt des Bauherrn interpretiert. Diese Deutung geht auf Malaparte selbst zurück, der die Villa „casa come me“ und „ritratto di pietra“ genannt hat. Er betonte, dass (sein) Schreiben per se autobiografisch sei.61 In den Beschreibungen schildere ein Autor jeweils auch sich selbst. Bereits die Titel der Essays und Erzählungen Malapartes unterstreichen seine stetigen Reflexionen des Selbst im Anderen bzw. die Projektion des Selbst auf das Beschriebene: „Città come me“, „Donna come me“, „Cane come me“. In der Erzählung „Città come me“ schilderte Malaparte eine Stadt, die er eigen­händig erschaffen werde. Beschreiben und Bauen gehen ineinander über und Malaparte übernahm alle Rollen: „Ich möchte sie mir ganz mit eigenen Händen erbauen, Stein um Stein, Block um Block, die Stadt meines Herzens. Ich würde Architekt werden, Mauer, Hilfsarbeiter, Zimmermann, Stukkateur, jeden Beruf würde ich ausüben, damit die Stadt ganz mein wäre, wirklich mein, von den Kellern zu den Dächern, mein, wie ich sie möchte.“62 Die beschriebene Stadt solle „[m]odern, doch mit einem bestimmten Ausdruck von Alter“ („Moderna, ma con un cert’aria antica“) aussehen.63 Ähnlich also wie die Casa Malaparte. Aufgrund zahlreicher Äußerungen zur Casa Malaparte in den Romanen und insbesondere in „Ritratto di pietra“ wird deutlich, was der Bau für den Bauherrn bedeutete, welche Assoziationen er in ihm weckte bzw. in seinen Besuchern, Betrachtern und Lesern hervorrufen sollte. Die Casa Malaparte steht für Einsamkeit, Freiheit, Stärke, Heimweh und Verwurzelung. Form und Lage des Baus erscheinen dabei aufs Engste verbunden und gleichermaßen bedeutungsvoll. Das Haus ist abgeschieden und gegenüber den Elementen exponiert. Durch seine lokalen Baumaterialien ist es zugleich auf der ­Insel verwurzelt. Die Villa ist an einer anderen Stelle nicht denkbar, sondern erscheint mit dem Ort und dem Baugrund verwachsen. Dies knüpft an die zeitgenössischen italienischen Architekten an, die sich für ursprüngliche gewachsene „primitive“ Architektur auf der Insel begeisterten.64 In übersteigerter Form schilderte Malaparte die Verbindung von Haus und Landschaft in Die Haut, als ihn angeblich Feldmarschall Rommel 1942 kurz vor der Schlacht in El Alamein auf Capri besuchte:

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[…] bevor er ging, fragte er mich, ob ich mein Haus schon so, wie es sei, gekauft hätte, oder ob ich es selbst entworfen und gebaut hätte. Ich erwiderte – was nicht der Wahrheit entsprach –, dass ich es schon so, wie es sei, gekauft hätte. Und in einer weiteren Arm­ bewegung zeigte ich auf die Steilwand der Matromania, auf die drei Riesenklippen der ­Faraglioni, auf die Sorrentiner Halbinsel, auf die Inseln der Sirenen, auf das verschwimmende Blau der Küste von Amalfi, auf den fernen Schimmer des Gestades von Paestum und sagte zu ihm: ‚Ich habe die Landschaft entworfen.‘65

Hier ist es also nicht die Natur, die den Bau prägt, sondern umgekehrt der Bau(herr) die Landschaft. Ein weiteres zentrales Thema, das im Zusammenhang mit seinem Haus immer wieder aufscheint, ist Heimweh bzw. die Suche nach einem Zufluchtsort. So schildert Malaparte in Kaputt, wie er 1943 vor dem Krieg nach Capri floh: „Ich musste nach Hause, musste nach Capri fahren, in mein einsames Haus auf der Felsnase im Meer.“66 Es war eine Heimkehr nach einer „jahrelangen quälenden Wanderung quer durch Europa, durch den Krieg, durch Blut, Hunger, brennende Dörfer und zerstörte Städte. Ich war müde, enttäuscht, niedergeschlagen. Gefängnis, Gefängnis, immer wieder Gefängnis in Italien.“67 Doch ist das Haus auf dem Felsvorsprung nicht nur Zuflucht, sondern selbst eine Art Gefängnis. Im Vorwort zur zweiten Ausgabe von Fughe in prigione (Fluchten im Gefängnis) schreibt Malaparte im selben Jahr: „Ich habe nichts zu ändern an diesen Worten, die ich in den ersten Tagen meiner Verbannung auf Lipari schrieb. Heute lebe ich auf einer Insel in einem traurigen, harten, strengen Haus, das ich mir selbst gebaut habe, einsam auf einer Klippe über dem Meer. Ein Haus, das ein Gespenst ist, das geheime Bild des Gefängnisses. Das Bild meiner Sehnsucht. Vielleicht habe ich, bis heute, nie wirklich gewünscht, aus dem Gefängnis zu entkommen.“68 Doch ist das Gefängnis auch mit dem Meer verbunden: Im Kerker starrt der Gefangene stundenlang, tagelang, monatelang, jahrelang auf die weißen Wände seiner Zelle, immer auf die weißen, glatten Wände: In diesen Wänden sieht er das Meer, doch er kann es sich nicht blau vorstellen, er kann es sich nur weiß, glatt, nackt vorstellen, ohne Wellen, ohne Stürme, ein ödes Meer, von dem fahlen Licht erhellt, das durch die Gitter der Fenster hereindringt. Und dies ist sein Meer, dies ist seine Freiheit: ein weißes, glattes, nacktes Meer, eine öde und kalte Freiheit.69

In den Erzählungen Malapartes erscheinen die Insel und Meer gleichermaßen ambivalent. Das Meer ist ein Bild der grenzenlosen Freiheit, aber auch der zu großen, endlosen Weite, des „Zuviel“ an Horizont. Das Haus auf der Insel ist Heimat, Ort der Freiheit und der Sehnsucht, doch ebenso Gefängnis. Aber Malaparte hatte die Freiheit, sein Gefängnis selbst zu bauen. Die Insel Capri erscheint dabei auch als Gegenbild, als Ruhepol zu den jahrelangen rastlosen Reisen durch das kriegsverwüstete Europa.

„Casa come me“. Selbstinszenierung nach Odysseus

Zentral sind für Malaparte zudem die antike Vergangenheit der Inseln Capri und Lipari sowie die antiken Mythen, die eng mit diesen Orten verbunden werden, insbesondere die Figur des Odysseus. Alberto Savinio verwies 1926 bei der Beschreibung seiner Ankunft auf Capri gleichermaßen auf Tiberius’ Anlagen auf der Insel, Pompeji und die Odyssee. Mit den Ausgrabungen, die in den 1930er-Jahren auf Capri begannen, und den gleichzeitigen römischen Ausstellungen zum Augustus-Jubiläum wurden die Rückbezüge auf die Geschichte des römischen Weltreichs und der „mito mediterraneo“ intensiv gepflegt.70 Für Malaparte hingegen war das Mittelmeer vor allem das griechische Meer Homers. Ein in der Yale Review erschienener Essay beschreibt seine Ankunft im Winter 1933 auf der Insel Lipari, auf die er verbannt wurde: Als der plötzliche Sturm, der mich schiffbrüchig in das römische Gefängnis von Regina Coeli geworfen hatte, mich schließlich auf der Insel Lipari an Land gespült hatte – dort, wo die Griechen das Königreich von Aeolus, Herrscher der Winde und Stürme situierten –, machte ich mich auf den Weg entlang der Via Garibaldi in Richtung der alten Burg. Ich war nicht in der gleichen Stimmung wie Odysseus, als er die gleiche Straße in Richtung des Palasts von König Aeolus hochging. Ich kam nach Lipari nicht wie Odysseus, um von Aeolus, ‚geliebt von den unsterblichen Göttern‘, günstige Winde zu verlangen, um mich nach Hause in die Arme von Penelope und Telemachus zu bringen. […] Ich stieg aus, wie der Held der Odyssee, an den dunklen Gestaden von Marina Corta, fast auf den Stufen der Kirche del Purgatorio, die auf einem Felsen am Ende des kleinen Stegs auf der steilen Klippe der äolischen Festung steht.71

Die konkreten politischen Hintergründe der Verbannung werden von Mala­ parte nicht genannt, sondern als Sturm und Schiffbruch beschrieben. Der Erzähler vergleicht sich explizit mit Odysseus, er betrachtet sich quasi von ­außen und wählt eine weite  – historische oder überzeitliche  – Perspektive, die während der ganzen Erzählung immer wieder aufscheint, wenn auf die O ­ dyssee und die antiken Mythen rekurriert wird und die Insel, ja der ganze Mittelmeerraum, zu einem immer noch von der Antike geprägten Schauplatz werden: „The wide expanse of sea over which my eyes wander is Ulysses’ sea.“ Und: „The chief chronicle of the Mediterranean is the Malaparte charakterisiert Odysseus als Geschichtenerzähler, Odyssey“.72 ­ der sich im Freundeskreis mit den Erzählungen von Heldentaten aus seinem Leben ­brüstete und sicherstellte, dass Wahrheit und Erfindung miteinander verschmolzen und un­unterscheidbar wurden. In seiner Beschreibung des home­rischen Helden ist die Selbstbeschreibung deutlich angelegt: Malapartes ­Reisen durch das kriegsverwüstete Europa der 1940er-Jahre erscheinen selbst eine Odyssee durch Länder und bizarre oder bedrohliche Situationen, immer wieder begegnen wir dem Erzähler bei Banketten, wo er die Gäste mit

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Abb. 41  Casa Malaparte, Arbeitszimmer

Geschichten unterhält, deren Wahrheitsgehalt oder Grad der Übertreibung schwer einzuschätzen ist. Wie Odysseus wirkt Malaparte in Kaputt und La pelle in allen Milieus und Situationen gewandt agierend und unbeschränkt wandlungs- wie auch anpassungsfähig.73 Er erscheint ohne festen Charakter und voller Ideen, einerseits machtlos den äußeren Umständen ausgeliefert, doch diese durch sein Geschick und seine Intelligenz immer wieder überwindend: Wie Odysseus wird und ist er „verschlagen“.74 Homers und Malapartes Erzählen spielt sich zwischen der insularen Heimat und den Reisen des Helden ab. Doch gibt es einen zentralen Unterschied zwischen Odysseus in Homers Erzählung und Malaparte: Odysseus erstrebt die Rückkehr zu Frau und Sohn auf Ithaka, während Malapartes Haus, wie er immer wieder betont, nur von ihm bewohnt wird. Malapartes „casa come me“ war eine „casa per me“: Die gewählte und geplante Einsamkeit macht der Grundriss des Hauptgeschosses deutlich. Neben dem großen Salon befinden sich zwar zwei parallel liegende Schlafzimmer; das östliche war das Schlafzimmer des Hausherrn, das durch eine Tür mit dem Arbeitszimmer verbunden ist. Das Arbeitszimmer umfasst die ganze Breite des Baus, und der Blick aus dem Fenster fällt gerade auf das weite Meer, weshalb der Schreibraum mit dem Steuerraum eines Schiffs verglichen wurde (Abb. 41). Das andere spiegel­bildlich angeordnete Schlafzimmer wurde die „stanza della favorita“ genannt. Dieser Raum ist das Zimmer einer Frau, die der Bezeichnung nach eine unter wechselnden Anderen sein kann. Dieses Zimmer hat keine Verbindung zu einem Arbeitszimmer.

Zurück zu Homer. Malaparte und Godard

Otto Karl Werckmeister hat auf die Verbindung von Biografie, Topografie und einsamer Kreativität in der Casa Malaparte hingewiesen. Er vergleicht Malapartes Haus mit André Bretons Pariser Wohnung und dem Haus aus Kristall in Bretons L’amour fou und spricht von „einer wechselseitigen Transparenz von Biographie und Topographie“.75 Statt Transparenz ­wären hier jedoch die Begriffe Inszenierung, Fiktionalisierung und Mythisierung ­ eben zutreffender. Die Casa Malaparte wird zudem zur Bühne für das L des Bauherrn, was auch verschiedene zeitgenössische Fotografien deutlich ­machen. So ließ sich Malaparte etwa als Radfahrer auf dem Dach seiner Villa foto­grafieren. Vor allem dieses flache Terrassendach und die hinauf­führende – äußerst fotogene  – „dramatische“ Treppenanlage haben Bühnencharakter.76 Die Dachterrasse ist der exponierteste und markanteste Teil der Villa, sie wurde auch ein zentraler Drehort für Jean-Luc Godards Film Le Mépris, der viele Themen, die Malaparte beschäftigt haben, aufgreift.

Zurück zu Homer. Malaparte und Godard Jean-Luc Godards Film Le Mepris (dt.: Die Verachtung) spielt im letzten Drittel fast vollständig in Curzio Malapartes Villa auf Capri. Der 1963 erschienene Film ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil er zeigt, wie das Haus in den 1960er-Jahren aussah und wie sich Menschen darin bewegten. So ist der große Salon im Obergeschoss zu sehen und mehrmals die Dachterrasse mit der Treppe und dem weißen Sonnensegel. Nur wenige Jahre nach dem Tod Malapartes haben Wasser, Wind und die salzige Luft dem Haus sichtlich zugesetzt, sodass die Farbe der rot gestrichenen Fassade und des weißen Sonnensegels auf dem Dach stark abgeblättert ist. Doch enthielt der Salon damals noch einen großen Teil seiner Originalmöblierung, etwa die Tische mit Säulenbeinen und das Relief La Danza, ebenso den großen Kamin, dessen gläserne Außenwand bewirkt, dass Feuer und Meer gleichzeitig sichtbar sind. Le Mépris zeigt auch die spektakuläre Ansicht auf die nahen Faraglioni-­ Felsen, die durch die großen Fenster zu sehen sind. In seinen sommerlichen, gleißend hellen Aufnahmen vermittelt der Film einen Eindruck des abgelegenen und exponierten Hauses auf dem Felsen sowie der Schönheit der es umgebenden Natur. Diese überwältigende Schönheit ist ein zentrales Thema des Films (Abb. 42); das andere ist das Drama der Menschen – der Paare sowie der Künstler und Regisseure. Verhandelt werden Konflikte zwischen Paaren, aber auch zwischen ökonomischen und künstlerischen Interessen im Kino. Le Mépris erzählt auf der einen Ebene die Geschichte der Trennung des Schriftstellers und Drehbuchautors Paul Javal, gespielt von Michel Piccoli in

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Abb. 42  Jean-Luc Godard, Le Mépris, 1963, Filmstills

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seiner ersten großen Rolle, und seiner Frau Camille, verkörpert von ­Brigitte Bardot, die am Ende bei einem Autounfall stirbt. Le Mépris ist zudem ein Film über das Filmemachen, denn ein Thema des Films ist eine moderne Verfilmung der Odyssee. Die ersten Szenen spielen in den Cinecittà-Studios bei Rom, in denen der Regisseur des Films Fritz Lang (verkörpert vom deutschen Regisseur Fritz Lang) dem amerikanischen Produzenten Jeremy Prokosch erste Szenen der internationalen Koproduktion vorführt. Der mit der Interpretation unzufriedene Prokosch stellt Schriftsteller Paul Javal an, damit er das Drehbuch umschreibt. Javal nimmt das Angebot an, weil er für sich und Camille eine Wohnung kaufen will. Der mittlere Teil des Films mit einem Streit des Paars spielt in dessen neuer Wohnung in einem römischen Vorort. Der folgende Drehort der Casa Malaparte wurde als temporärer Aufenthalts- und Drehort für Szenen aus der Odyssee angemietet. Le Mépris ist die Adaption der Adaption einer Adaption.77 Der Film basiert auf Alberto Moravias Roman Il disprezzo (1954, dt. Die Verachtung).78 Der italienische Autor erzählt in seinem Roman vom Scheitern der Ehe von Riccardo und Emilia Molteni und lässt den literarischen Ehrgeiz Moltenis in Konflikt mit dem Eheleben und dem kommerziellen Filmgeschäft geraten. Moravia hatte die Idee zu seinem Roman, als er die amerikanisch-italieni­ schen Filmproduktion Ulisse (1954, dt. Die Reisen des Odysseus, unter der Regie von Mario Camerini und mit Kirk Douglas, Silvana Mangano, ­Anthony Quinn in den Hauptrollen) verfolgen konnte. Ursprünglich war geplant gewesen, dass der bekannte deutsche Regisseur Georg  Wilhelm Pabst diesen Film hätte drehen sollen, der jedoch in letzter Minute absagte. Die Produktion von Mario Camerini wurde sehr erfolgreich und löste in den 1950er und 1960er-Jahren einen Boom von „Sandalenfilmen“ aus. Für Moravia bildete der Film den Hintergrund für die psychischen und ehelichen Konflikte der Hauptfigur Riccardo. Le Mépris wiederum ist eine sehr freie Interpretation von Moravias ­Roman, den der Regisseur einen „joli et vulgaire roman de gare“ nannte.79 Die erzählte Zeit ist viel kürzer, die Charaktere anders, und der eigentliche Filmdreh der Odyssee als Film-im-Film war noch nicht Teil des Romans, wenngleich die Diskussionen mit dem bei Moravia Rheingold genannten Regisseur zentral sind. Godard übernahm die Grundkonstellation der Figuren, das Geschehen in Le Mépris ist aber komplexer und die Frage der Interpretation ist ein zentrales Thema des Films. Interpretation als Übersetzung wird durch die neu geschaffene Figur der italienischen Assistentin Francesca ­Vanini (Georgia Moll) verkörpert, die zwischen dem amerikanischen Filmproduzenten, dem deutschen Filmregisseur und den französisch sprechenden Paul und Camille übersetzt und dabei oft sehr frei, das heißt, mitunter auch

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falsch, interpretiert. Interpretation ist auch ein Thema in Pauls insistierenden Fragen an Camille, warum sie ihn nicht mehr liebe. Und während des ganzen Films wird über die Interpretation der Odyssee gestritten. Der Produzent Prokosch will „mehr“, nicht nur „mehr Sex“, sondern „mehr, mehr“. Er will aber nicht nur eine hollywoodtaugliche Fassung des antiken Mythos, sondern auch historische Authentizität, und er betont, dass ein deutscher Regisseur die Odyssee zu verfilmen habe, weil schließlich ein Deutscher, Heinrich Schliemann, Troja entdeckt habe. Während des Films wird die Odyssee immer wieder anders gedeutet. Der Produzent Prokosch meint, Penelope sei ihrem Mann untreu geworden. Paul wiederum denkt, Odysseus habe die Rückkehr herausgezögert, weil er ­Penelope überdrüssig geworden war und nicht heimkehren wollte. Der Regisseur Fritz Lang argumentiert gegen Psychologie und betont die Einheit von antiker Welt und Natur. Bis zum Schluss wird über die verschiedenen Interpretationen des antiken Mythos gestritten. Während Paul und Fritz Lang zur Casa Malaparte zurückspazieren, betont Lang, dass es Unsinn sei, den einfachen und mutigen Odysseus als modernen Neurotiker zu zeigen, Paul hingegen meint, die Eheprobleme von Penelope und Odysseus hätten schon vor dem trojanischen Krieg begonnen, und dieser sei bloss ein Vorwand gewesen, aus Ithaka wegzukommen. Neben den Argumenten der Männer schlägt einzig Camille nie eine Interpretation vor, und als Prokosch sie nach ihrer Meinung fragt, entgegnet sie, sie schweige, weil sie nichts zu sagen habe. Nach dem Gespräch von Paul und Fritz Lang sieht man sie auf der Dachterrasse der Casa ­Malaparte. Paul steigt die Treppe zu ihr hinauf, verpasst sie aber, und es wird einmal mehr deutlich, dass das moderne Paar Paul und Camille mit den antiken Paar Odysseus und Penelope kontrastiert wird. Warum wählte Godard Capri und die Casa Malaparte als Drehorte? Einer­seits spielte bereits Moravias Erzählung auf Capri. Eine zentrale Szene des Romans, die nicht im Film vorkommt und in der die bereits verstorbene ­Emilia in einem Traum Riccardos zu ihm zurückkehrt, war in der Blauen Grotte angesiedelt. Zudem war Moravia mit Malaparte bekannt und auch in dessen Haus zu Gast gewesen. Das allein wären keine zwingenden Gründe für ­Godards Wahl des Drehorts, da der Regisseur allgemein sehr frei mit litera­rischen Vorlagen umging. Ein wichtiger Grund war wohl die Schönheit der Landschaft, die Godard so eindrücklich in Szene setzt. Der Produzent ­Prokosch sagt im Film – als ein direktes Zitat aus Moravias Roman: „In Capri, pictures are ready made, so to speak … All you have to do is to put yourself in front of the landscape and copy it …“80 Prokosch wird allerdings sowohl im Roman als auch im Film als grobschlächtiger, vor allem am kommerziellem Erfolg interessierter amerikanischer Produzent karikiert. Offen-

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sichtlich sind die Bilder und die Interpretationen für Godard doppelbödiger. ­ apri auch, weil es eine Insel war. So schreibt er im Szenario zum Er wählte C Film: Wenn ich es mir recht überlege, erscheint mir Le Mépris neben der psychologischen Geschichte einer Frau, die ihren Ehemann verachtet, wie die Geschichte von Schiffbrüchigen der westlichen Welt, Überlebenden des Untergangs der Moderne, die sich eines Tages den Helden von Verne und Stevenson auf einer abgelegenen und mysteriösen Insel annähern, deren Geheimnis einzig die Absenz eines Geheimnis ist, das heißt die Wahrheit.81

Das Zitat Godards ist wiederum widersprüchlich. Le Mépris ist gerade kein psychologisches Porträt einer Frau, die ihren Mann verachtet. Camille ist undurchschaubar, passiv und meistens ruhig wie ein „Meer aus Öl“.82 Die Charaktere erscheinen, schreibt Godard, als Schiffbrüchige der Moderne, die aus dem neuen Apartment im römischen Vorort auf die mysteriöse (oder mythische) Insel gespült worden sind, die jedoch eigentlich nicht mysteriös ist, sondern die Wahrheit enthüllt: für das Paar die Trennung, Tod, das Ende, für Paul Verlust, Einsamkeit, Trauer, aber – vielleicht – auch die Freiheit. Godard bringt Capri mit den Geschichten von einsamen Inseln voller Geheimnisse in Verbindung. Allerdings war Capri in den 1960er-Jahren kaum mehr eine einsame Insel, sondern ein bei Touristen beliebter Ort. Das wird im Film aller­ dings nicht sichtbar, der nur in der Casa Malaparte spielt, die von den Touristenzentren entfernt liegt. Der Film blendet die historische Realität, in der er spielt, weitgehend aus.83 Godard schreibt, dass er die Villa gerade wegen ihrer Abgelegenheit gewählt habe: Der zweite Teil des Films spielt auf Capri. Die einzige Ausstattung, die verwendet wird, ist die der Villa Malaparte und in ihrer Nachbarschaft die riesigen, grandiosen und wilden steilen Felsen, die direkt in das Reich Poseidons herabfallen, der, vergessen wir nicht, einer der wenigen Götter ist, die Odysseus nicht lieben und ihn nicht beschützen. Aus diesem Grund ist die geografische Lage der Villa wichtig. Einsam, mit Blick auf das Meer, wird sie die Idee einer odysseeischen Welt verstärken und ihr eine Realität und eine fast greifbare Präsenz verleihen. Der ganze zweite Teil wird von den Farben, dem tiefen Blau des Meeres, dem Rot der Villa und dem Gelb der Sonne beherrscht werden, man wird also eine gewisse Trichromie finden, die der der wirklichen antiken Statuen sehr nahe kommt. Während des gesamten Films solle das Dekor nur dazu dienen, die Gegenwart einer Welt jenseits der modernen Welt von Camille, Paul und Jérémie Prokosch zu vermitteln.84

Insbesondere der letzte Teil des Films wird von den Farben Blau, Gelb und Rot dominiert  – dem Blau des Meeres, dem Rot der Villa, dem Gelb der Sonne wie Godard anführt, aber auch dem „euphorischen Blau des mittäg­ lichen Himmels“, dem Gelb des Bademantels der Assistentin und Übersetze-

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rin Francesca sowie dem Rot des Alfa Romeo.85 Die Farben stehen einerseits für sich und bilden ihre eigene Ordnung.86 Sie sind jedoch auch stark mit der Landschaft und der Atmosphäre Capris verbunden. Für Godard wird – wie bereits für Malaparte – die Insel als Ort der antiken Mythen zentral. Die Vergangenheit ist in der Landschaft präsent oder ahnbar. Durch ihre Lage direkt am Meer und ihre rote Farbe erscheint Malapartes Villa ideal, um die auch physische, materielle Verbundenheit mit der antiken Welt zu verdeutlichen. Die Verbindung manifestiert sich in den blauen, roten und gelben Farben des Meeres, der Villa und des gleißenden Sonnenlichts, die, so Godard, den bemalten antiken Statuen gleichen. Mehr noch als die Innenräume ist deshalb die Dachterrasse von zentraler Bedeutung. Zahlreiche Szenen spielen unter freiem Himmel auf der Dachterrasse mit dem Blick auf das Meer. Sie ist der Ort, an dem Camille nackt sonnenbadet, an dem sich Paul und Camille streiten, an dem Paul Camille verpasst und von dem aus Paul sieht, wie Camille den Filmproduzenten küsst. Am Schluss des Films tritt Paul erneut auf die Terrasse, um sich vom Regisseur Fritz Lang zu verabschieden. Er tritt mitten in den Dreh einer Szene der Odyssee – es ist der Moment, in dem Odysseus das erste Mal seine Heimat Ithaka wiedersieht. So kommt es fast zu einer Begegnung zwischen Paul und „Odysseus“. Doch sie treffen sich nicht, denn das weiße Sonnensegel auf der Terrasse separiert den modernen Mann im grauen Anzug auf der einen vom halbnackten Odysseus mit dem erhobenen Schwert auf der anderen Seite. Und dann: das Meer. Fin. So wird im Film nicht nur die Präsenz der Antike (in der Landschaft) betont, sondern auch die Differenz (in den Handlungen der Menschen). In ­allen drei Szenen auf der Terrasse sind Nichtbegegnung und Differenz zentral. Zuerst treffen sich Paul und Camille nicht, dann wird die liegende weibliche Nacktheit dem voll bekleideten, stehenden Paul gegenübergestellt. Paul ist Schriftsteller, Camille nutzt ihr Buch nicht zum Lesen, sondern als Sonnenschutz für ihr Gesäß. Am augenfälligsten sind die Differenzen am Schluss: Paul auf der einen und Odysseus auf der anderen Seite, Abschied von ­Capri und Heimkehr nach Ithaka, Tod der Frau und Wiedersehen mit ihr, auch wenn die Wiedervereinigung nicht gezeigt wird, sondern die fast abstrakte Weite des Meeres und des Himmels. Der „endlos leere Horizont“ zeige, so Werckmeister, eine „Ambivalenz von Behausung und Ferne, die die Umkehr des homerischen Mythos meint“.87 Doch wichtig sind nicht nur Differenzen, sondern eben die Verbindungen zwischen Antike und Gegenwart, ein „komplexes Netz von Ähnlichkeiten“ wird etabliert.88 Regine Prange stellte zudem – überzeugend – eine Reihe von Analogien zwischen Godard selbst, Paul und Odysseus her,89 nicht aber

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zu Malaparte. Godard gibt in seinem Szenario nie preis, ob er die Geschichte der Casa Malaparte kannte und wusste, dass die Figur des Odysseus für ­ihren Besitzer wichtig war. Godard und Malaparte nehmen zudem in sehr unterschiedlicher Weise Bezug auf Odysseus. Für Malaparte war der Reisende wichtig, sein Odysseus ist ein Held ohne Frau. Anders der Protagonist in Godards Film, in dem das Thema der Liebe zentral ist. Die Insel ist hier aber nicht der Ort der Erfüllung, sondern ähnlich wie bei Böcklins Odysseus und Kalypso der Ort des Scheiterns und der Trennung: Capri ist nicht Ithaka – und auch nicht Kythera. Capri ist für Godard der Ort des Schiffbruchs im übertragenen Sinn. Auch in ihrem Scheitern ist Le Mépris ein Film über Liebe, Paare und Paarbeziehungen: „Godard redirects our attentions to the coupling itself – not to the coupling between Camille and Paul, or between Penelope and ­Odysseus, but the coupling between the two couples […] the relation between the modern and the ancient couple is but one of several alternative couplings in the film.“90 Zu diesen möglichen Paarungen gehören Camille und Prokosch, aber auch die Götterfiguren, die als bemalte Gipsstatuen immer wieder auftauchen: Minerva (Athena) und Neptun (Poseidon), den mytho­ logischen und modernen Figuren zugeordnet, verweisen sie wie das Haus auf die Präsenz ­einer antiken, mediterranen Welt. Nicht zuletzt erinnern sie wie zahlreiche Elemente an einen anderen Film: Eine zentrale Referenz von Le Mépris war Roberto Rossellinis V ­ iaggio in ­Italia (1954, dt. Liebe ist stärker). Viaggio in Italia erzählt von dem ­englischen Paar Alex und Katherine Joyce (George Sanders und Ingrid Bergman), das ein Haus am Golf von Neapel erbt. Die Ehe gerät jedoch in eine Krise: Bei Katherine tauchen Erinnerungen an eine frühere Liebe auf; zentral ist ihr Besuch des Archäologischen Nationalmuseums in Neapel mit seinen antiken Statuen und von Pompeji, wo in den Ausgrabungen ein sich umarmendes Paar freigelegt werden konnte, das vom Tod im Schlaf überrascht wurde. Le Mépris ist voller Beziehungen und Bezüge, die Formen der Tradierungen, Interpretation von Mythen, auch Inselmythen, werden thematisiert. Im Gespräch über Godard meinte der Filmemacher Harun Farocki: „Contempt seems to suggest that if texts determine us, we also work transformatively on them. As we have seen, Paul and Camille do not mereley reenact, but also rewrite the story of Odysseus and Penelope.“ Und Kaja Silverman antwortete: „Yes, Contempt makes clear that master texts only maintain their force by being constantly analogized.“91 Le Mépris zeigt die Macht der Texte, der Fiktionen und Mythen und wie diese konstant umgeschrieben, aber auch umgedeutet, missverstanden, eigen-

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willig interpretiert und dabei aktualisiert werden, so wie bereits Malaparte den Odysseus-Mythos für sich und auf sich umdeutete. Auch die vielen anderen Nachfolger des Odysseus und Tiberius auf Capri interpretierten und schufen den Mythos der Insel immer wieder neu. Deutlich ist zudem, wie wenig dabei die moderne, gesellschaftliche (insbesondere touristische) Gegenwart sowohl bei Malaparte, aber auch bei Godard eine Rolle spielte. Das Ideal war Abgeschiedenheit. Was Godards Film jedoch wie wenige andere Kunstwerke auch zeigt – durch sein gleißend helles Licht, seine Farben – ist die Schönheit dieser Insel. Die Präsenz von Himmel, Meer und Fels, die dabei – trotzdem – unhintergehbar ist.

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„The people of Bali, during the years that I was privileged to live among them, were at peace with the outer world, and prosperous. Knowing their land to be an island, they referred to all outlying lands which stretched beyond their horizons as Djawa, or Java. This attributed peripheral homeland of European and American visitors to the island was thought to lie around the island itself, which was the center of the known world.“1 Mit dieser Umkehr der Blickrichtung begann die amerikanische Ethnologin Jane Belo die Einleitung zu ihrem Buch Traditional Balinese Culture, das 1970, mehrere Jahrzehnte nach ihrem Aufenthalt auf Bali, erschien. Laut Belo bildete für die Bewohner Balis ihre Heimat das selbstverständ­ liche Zentrum der Welt. Das ist in mehrfachem Sinn die umgekehrte Perspektive zu den anderen Kapiteln dieser Untersuchung, in der es um die Wahrnehmungen und Wunschbilder der westlichen Reisenden vom Festland und nicht diejenigen der Inselbewohner geht. Auch in diesem Kapitel sind nicht die Vorstellungen, Selbstbeschreibungen und Kunstwerke der balinesischen Künstler das Thema; ebenso wenig die Art und Weise, wie sie die westlichen Reisenden darstellten, die in den 1930er-Jahren ihre Insel in immer größerer Zahl zu besuchen begannen. Dies wäre zugegebenermaßen eine äußerst interessante Studie: So schuf der balinesische Maler I Ketut Ngéndon anlässlich des Abschieds der Ethnologen Margaret Mead und Gregory Bateson, die zur gleichen Zeit wie Belo auf Bali geforscht hatten, ein Bild, das das Paar auf dem Boot zwischen zwei Inseln zeigte. Hinten am Strand sieht man die betrübt winkenden Balinesen, während vorne, in Richtung der Insel, auf die sie zusteuern, die Bewohner Neuguineas schon zur Begrüßung bereitstehen (aller­dings muss man erwähnen, dass die Szene als Abschiedsgeschenk der balinesischen Assistenten wohl selbst ein idealisiertes Bild zeigt). In diesem Kapitel geht es also erneut um die Bilder, die sich die Europäer und Amerikaner von Bali machten, um Idealisierungen, die bereits bei Jane Belo aufscheinen, wenn sie die Balinesen als „friedlich“ und „wohlhabend“ beschreibt. Die amerikanische Ethnologin und ihr damaliger Mann,

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der ­kanadische Komponist und Musikwissenschaftler Colin McPhee, kamen genau zu der Zeit nach Bali, als die Insel in der westlichen Wahrnehmung zum populären Sehnsuchtsort wurde. Sie wurde zur neuen Destination des westlichen Südseeinsel-Tagtraums, wie ihn Margaret Mead nennen sollte.2 Beinahe gleichzeitig wurde dieser Tagtraum ein Thema der Kunst ebenso wie des Films und der Literatur sowie der Ethnologie. Wie einige Jahrzehnte zuvor Tahiti galt Bali als friedliches, exotisch-erotisches Paradies, noch unberührter und ursprünglicher als die früher kolonisierte Insel, und war deshalb gerade für Künstler attraktiv. Gauguins Gemälde und die Erzählungen über sein Leben und Sterben auf Tahiti und den Marquesas-Inseln hatten viele Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts von fernen Südseeinseln träumen lassen. Einige von ­ihnen beließen es nicht bei imaginären Reisen, sondern machten sich ihrerseits auf den Weg, an entlegenen Orten die letzten Paradiese zu suchen. Die Zerstörungen und Desillusionierungen des Ersten Weltkriegs, das Scheitern der euro­päischen Kulturnationen im Kriegsmorast ließen die fernen Inselparadiese in den 1910er-, 1920er- und 1930er-Jahren umso verlockender leuchten. In den unterschiedlichen Reformbewegungen der Zeit, die beispielsweise auf dem Monte Verità im Tessin zusammenfanden, waren Zivilisationskritik und der Wunsch nach einer Rückkehr zur Natur und zu ursprünglicher Einfachheit der Lebensformen zentrale Elemente. Gauguin, Picasso und andere hatten das Interesse an außereuropäischer, „primitiver“ Kunst geweckt. Zu den deutschen inselreisenden Künstlern zählte der Expressionist Max Pechstein, der 1914 einige Zeit auf Palau verbrachte, das damals eine deutsche Kolonie war.3 Ein weiterer, weniger bekannter war Walter Spies, der 1923 nach Java und dann 1927 nach Bali reiste. Die Inselidyllen beider Künstler fanden durch den Einbruch der Politik ein abruptes Ende: Pechstein musste seinen Aufenthalt abbrechen, als die ­Japaner im Ersten Weltkrieg die Insel besetzten. Spies wurde nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1940 interniert und kam 1942 bei der Überfahrt auf das Festland bei einem japanischen Luftangriff ums Leben. Doch gibt es große Unterschiede zwischen Pechsteins und Spies’ Unternehmungen. Pechsteins Südseeabenteuer war eine Episode, er verbrachte nur wenige Monate auf Palau. Dabei erscheint er als eigentlicher Gauguin-Nachfolger, der in der Südsee Ursprünglichkeit, Einfachheit und Einsamkeit suchte und in seinen Werken exotische Motive mit Bast- und Palmenidyllen zeigte. Auch die Reise von Walter Spies war motiviert durch die Unzufriedenheit über das Leben in Europa, die Suche nach größerer Nähe zur Natur und einer anderen Form der Existenz. Auf Bali angekommen, wurde seine Auseinandersetzung mit der dortigen Kultur jedoch äußerst vielschichtig,

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und seine Bedeutung für Balis Kultur und touristische Entwicklung war beträchtlich. Spies gehörte zu den ersten europäischen Künstlern, die die Insel besuchten und auf ihr sesshaft wurden. Zwar waren bereits seit dem 19. Jahrhundert balinesische Kunstwerke, Artefakte und Batikstoffe in den europäischen ethno­logischen Museen und auf den Weltausstellungen zu sehen gewesen. Insbesondere die Batikstoffe hatten Ethnologen, Sammler und einige Künstler fasziniert, noch kamen aber nur wenige Europäer selbst auf die Insel. Der regelmäßige Dampfschiffverkehr zwischen Java und Bali setzte erst 1924 ein. Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Bali als wenig attraktive Reise­destination mit wilden, unberechenbaren Bewohnern beschrieben. Vor allem Holländer besuchten die Insel und bemühten sich lange vergeblich, die widerständigen Inseln Bali und Lombok vollständig zu beherrschen, so wie es ihnen beim größeren Java und den anderen ostindischen Inseln bereits gelungen war. Dass Bali bis heute mehr als alle anderen Inseln Indonesiens als Paradies der Götter und Tempel gilt, in dem sich die Schönheit der Landschaft, Architektur und Menschen auf besonders harmonische Weise verbinden, geht ­neben Spies auf den Holländer W. O. J. Nieuwenkamp und den deutschen Arzt und Fotografen Gregor Krause zurück. Sie prägten die westliche Wahrnehmung der Insel in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und gaben die Bilder und Stichworte vor, mit denen sie beschrieben wurde. Nicht zuletzt wurden viele diese frühen westlichen Beschreibungen und Zuschreibungen auch von Balinesen übernommen – bis heute.4 Bali erscheint somit nicht nur als die „ultimative“ Insel, als die sie oft beworben wird, sondern auch als ein Modellfall, da hier die – auch zeitlich – enge Verbindung von Eroberung, Kolonisierung, Tourismus, Ethnologie und Kunst besonders deutlich wird. Der Bali-Experte Adrian Vickers schrieb dazu kurz und prägnant: „The swift transition from war to tourism came via art.“5

Die ersten europäischen Künstler im letzten Paradies Der holländische Künstler, Autor und Ethnologe Wijnand Otto Jan (W. O. J.) Nieuwenkamp hatte bereits 1904 seine erste Reise nach Bali und auf die Nachbarinsel Lombok angetreten. Sein Aufenthalt auf Java hatte ihn zum Besuch der Nachbarinsel angeregt. Zudem unterstützte der holländische Indo­loge Gerret Pieter Rouffaer, der spätere Direktor des Bali Instituut, eines Teils des Kolonial Instituut, seine Reisepläne, da er selbst die Feld­forschung voran­ treiben wollte. Im Unterschied zur größeren Nachbarinsel Java, die schon

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länger wirtschaftlich erschlossen war und deren große Tempelanlagen wie Borobodur weithin bekannt waren  – Fotografien der Reliefs hatten unter anderem Paul Gauguin inspiriert  –, war Bali noch weitgehend unbekannt. Nieuwenkamp kam aber nicht unvorbereitet. In Holland hatte er die ethnologischen Sammlungen des Königlichen Ethnologischen Museums und der Universität in Leiden besucht und Kopien von balinesischen Kunstwerken angefertigt. Um seine Reise zu finanzieren, hatte er verschiedene holländische und deutsche Museen und Verlage kontaktiert, für die er balinesische Kunstwerke erwerben sowie Fotografien machen wollte, die immer noch rar waren. Im März 1904 kam er auf der Insel an, nur zehn Monate nachdem Gauguin auf Hiva Oa gestorben war. Nieuwenkamp war begeistert vom „kleinen Paradies“ Bali.6 Der Maler war besonders beeindruckt von der Architektur. Er besuchte die balinesische Künstler I Ketut Gede und I Wayan Daste, studierte ihre Arbeiten und gab neue Werke in Auftrag. Für seine Exkursionen über die Insel hatte er ein Fahrrad mitgebracht, das aber von eingeschränktem Nutzen war, da außerhalb der Städte keine Straßen existierten. Der exotische Fahrradfahrer muss jedoch einen nachhaltigen Eindruck auf die Balinesen gemacht haben, denn er wurde 1906 mit seinem Rad auf einem Steinrelief an einer Fassade des ­Meduwekarang-Tempels in Kubutambahan dargestellt. Nieuwenkamps balinesische Zeichnungen, Radierungen und Holzschnitte zeigten in einem von japanischen Holzschnitten und Art ­Nouveau beeinflussten Stil neben Naturdarstellungen – insbesondere Vulkane und terrassierte Reisfelder – auch Tempel und Alltagsszenen. Ein Fokus ­waren zudem die Muster der Batik- und Ikatstoffe sowie die reich verzierten Alltagsgegenstände und Möbel. Nieuwenkamps linearer und flächiger Art-Nouveau-­Stil erwies sich als besonders gut geeignet, die balinesischen Artefakte wiederzugeben. Auch die Darstellungen von Landschaften und Alltagsszenen wie eine Familie, die große Bananenblätter als Regenschirme verwendet, als sie auf den Reisfeldern von einem Regenguss überrascht wird, zeigen eine gelungene Synthese von asia­ti­schen und europäischen Stilen und verbinden Leichtigkeit, Natürlichkeit und Eleganz (Abb. 43). Frucht seines Aufenthalts waren zudem das dreiteilige, aufwendig gestaltete Buch Bali en Lombok sowie zahlreiche Artikel in ethnologischen und geografischen Zeitschriften.7 Nieuwenkamps Bücher enthielten neben Illustrationen des Künstlers auch Erzählungen seiner Erlebnisse, Beschreibungen der Geschichte und Regionen wie auch Reproduktionen balinesischer Kunst. Sein Bali en Lombok war die erste Publikation, die sich ausführlich der balinesischen Kunst widmete. Im Elsevier Verlag erschien zudem unter dem Titel Zwerftochten op Bali (Wanderungen durch Bali) eine gekürzte Version mit

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Abb. 43  W.O.J. Nieuwenkamp, „Een Regenbui (Ein Regenschauer)“, Illustration aus: ­Zweftochten op Bali, 1910

größerer Auflage, die sich an ein breiteres Publikum richtete. Nieuwenkamps Anliegen war es vor allem, der balinesischen Kunst die ihr gebührende Anerkennung und Bekanntheit zu verschaffen. Er hatte nie die Absicht, sich auf der Insel niederzulassen. In seinen Schriften und Gemälden widmete er sich einem idealen Bali und schuf in Europa Interieurs, die von Erinnerungen an Bali und seine Südostasien-Reisen inspiriert waren. 1925 entstanden für die neuen Büros der Handelsvereinigung HVA in Amsterdam große Ölgemälde. Die Villa Riposo dei Vescovi im toskanischen Fiesole, wohin Nieuwenkamp 1920 mit seiner Familie übergesiedelt war, wurde renoviert und mit balinesischen Möbeln, Artefakten und Kunstwerken seiner umfangreichen Sammlung ausgestattet. Nieuwenkamp machte noch einige weitere Asien-Reisen, unter anderem nach Timor und zu den Kleinen Sundainseln, und kehrte mehrmals nach Bali zurück, zuletzt 1937. Zu dieser Zeit war er nicht mehr der einzige europäische Künstler auf der Insel. Während die Nachbarinsel ­Lombok touristisch kaum eine Rolle spielte, war die Aufmerksamkeit für Bali beträchtlich gewachsen. In den 1930er-Jahren hatte sich dort eine eigentliche Künstler­kolonie

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g­ ebildet, wobei die Künstler an verschiedenen Orten wohnten und nicht immer viel miteinander zu tun haben wollten. Viele von ihnen sind heute kaum mehr bekannt.8 Kurz nach Spies kamen unter anderen die Holländer ­Rudolf Bonnet, Charles Eugene Henri Sayers, René Gockinga, ­Willem Pol und seine Frau Adine Mees, Auke Sonnega, Willem Gerard Hofker, Frida Holleman und Willem Dooijewaard nach Bali. Auch der Architekt und Maler Pieter Adriaan Jacobus „Piet“ Moojen aus Batavia (heute Jakarta) war bereits seit längerer Zeit öfters auf der Insel, wo er balinesische Architektur studiert und 1926 das Buch Kunst op Bali publiziert hatte. Zu den Holländern gesellten sich der Belgier Adrien-Jean Le Mayeur de Merprès, die Italiener Emilio Ambron und Romualdo Locatelli, der Russe Anatol Schister, der Tscheche Arthur Fleischmann, die Amerikaner Louise und Robert Koke (die in den 1930er-Jahren das Kuta Beach Hotel gründe­ oland Strasser und die Schweizer Maler Theo Meier, ten), der Österreicher R Willy Quidort und Ernst Albert Christen. Oft war Bali nicht ihre erste Station. Der Basler Theo Meier war 1932 auf den Spuren Gauguins zuerst nach Tahiti und auf die Marquesas-Inseln gereist – eine Reise, die von Bürgern seiner Heimatstadt finan­ziell unterstützt wurde –, war aber angesichts der in Realität nur wenig ursprünglichen Insel enttäuscht und ließ sich 1936 auf Bali nieder.9 Eine ähnliche Erfahrung hatte auch Le Mayeur gemacht, der seit 1933 auf Bali lebte und wie Meier eine Balinesin heiratete. Tatsächlich sind die Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen von Spies und den anderen südseereisenden Künstler auf Bali in vielem mit ­Gauguins Aufenthalt auf Tahiti vergleichbar, selbst wenn sie nicht die ­gleiche kunsthistorische Bedeutung und Wirkung erlangt haben. Wie Gauguin vierzig Jahre vorher auf Tahiti suchten sie auf Bali Freiheit von gesellschaft­ lichen Zwängen, Inspiration, Schönheit, Ursprünglichkeit und ein günstiges ­Leben. Auch sie hatten bereits zu Hause in Europa verlockende Bilder der Insel kennengelernt; und – wie Gauguin – lebten sie vor Ort nicht selten in ­einer prekären sozialen Stellung, mussten sich mit den lokalen kolonialen Verwaltungsbehörden und Politikern arrangieren, von deren Infrastruktur und Wohlwollen sie abhängig waren. In ihrer Sehnsucht nach Ursprünglichkeit waren sie die Nachzügler und dabei Teil eines immer größer werdenden Stroms von Künstlerreisenden, die auf der Suche nach dem letzten Paradies über den Globus zogen. Auch bei ihnen werden die Ambivalenzen der Zivilisationsflucht und der Involviertheit in den Kolonialismus und Tourismus sichtbar. Bei Spies sind sie sogar besonders evident. Das liegt einerseits daran, dass Spies zu einer Zeit nach Bali kam, die für die gesellschaftliche Entwicklung und den Tourismus entscheidend war. Im Vergleich mit Tahiti, wo sich die Kolonisierung und die

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touristische Entwicklung über mehrere Jahrzehnte hinzogen, verliefen diese Prozesse hier wie in einem Zeitraffer, innerhalb von nur zwanzig Jahren: Konsolidierung der Kolonie, Modernisierung, der – holländische – Versuch der Restauration alter Verhältnisse und der Aufbau einer touristischen Infrastruktur. Spies’ außergewöhnliche Rolle hing mit dem Zeitpunkt seiner Ankunft zusammmen, mit seiner Tätigkeit als Künstler, Musiker und Ethnologe, der auf vielen Feldern gleichermaßen talentiert und aktiv war, sowie mit seiner Persönlichkeit und seinem ausgeprägten Talent im Umgang mit Menschen. Anders als Gauguin mit seinem Außenseiterstatus auf Tahiti war Spies ein respektierter und einflussreicher Teil sowohl der kolonialen als auch der balinesischen Gesellschaft, selbst wenn sich Ende der 1930er-Jahre die Situation gravierend zu verändern begann. Der Vergleich der beiden „Trauminseln“ Bali und Tahiti wurde bereits Ende der 1930er-Jahre gezogen. So schrieb der Schweizer Fotograf ­Gotthard Schuh, der unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg Singapur, Java, Sumatra und Bali bereist hatte, in seinem erfolgreichen, in mehrere Sprachen übersetzten Bildband Inseln der Götter: „Seit Gauguin seine Tahiti-Bilder zum ersten Male in Paris zeigte, hat kein Kultureiland die Gemüter europa­müder Künstler und Intellektueller so sehr erregt wie das seit zwei Jahrzehnten durch verlockende Schilderungen bekannt gewordene ‚letzte Paradies auf Erden‘, die Insel Bali. Idealisten brachen hinter sich alles ab und flüchteten auf diese ‚Trauminsel‘.“10 Wie Tahiti zuvor galt Bali außerdem bald als gefährdetes Paradies. Die Zivilisationsflüchtlinge brachten auch die bekannten unliebsamen Mitbringsel des Tourismus auf die Insel und trübten das Bild der unberührten Ursprünglichkeit durch ihre wachsende Zahl. Bereits im Vorwort der zweiten Auflage seines Buches Zwerftochten op Bali schrieb Nieuwenkamp, dass Bali von neuen Bauten verschandelt sei; er befürchte, dass die balinesische Kunst verschwinde. Schuh fährt fort: „Bald aber trafen in Europa alarmierende Berichte über die Skrupellosigkeit der Touristen-Horden und den raschen Zerfall der balinesischen Unberührtheit ein […]. Fremden Einflüssen erliegen viele Kinder vor allem in der Schule. Sodann bringen die Touristen in die Harmonie einen Misston, und schließlich stören die in den Dörfern niedergelassenen europäischen Künstler das naive Gleichgewicht.“11 Der Topos der Gefährdung des Paradieses durch westliche Einflüsse bestimmte viele frühe Texte. André Roosevelt schrieb im Vorwort zu Hickman Powells 1930 erschienenem Bali-Buch The Last Paradise: „Nowhere in the world has the aborigine been able to resist the invasion of the West. The age of steel, as typified by this country, has crept into the lazy, happy, contented East, leaving behind a trail of unhappiness and sorrow“, und an ­späterer

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Stelle: „Having leisure my friend Spies and I started a scheme which would tend to slow down the invading forces from the West and keep the Balinese in their happy, contented ways for a few decades longer.“12 In den Gemälden, die in dieser Zeit entstanden – auch in denjenigen von Spies  – fand der beginnende westliche Einfluss aber keinen Niederschlag. Diese Kunstwerke pflegten das Bild der ursprünglichen Insel.

Balis Busen Künstler waren nicht die ersten Europäer auf Bali. Die Insel war ähnlich früh wie Tahiti „entdeckt“ worden.13 Wahrscheinlich hatte der portugiesische Seefahrer Magellan auf seiner Weltumsegelung das Eiland besucht. Später folgten die Engländer Francis Drake und Thomas Cavendish. Bereits 1597 beschrieb der Holländer Cornelis de Houtman Bali. Houtman hatte 1595 eine lange, beschwerliche und verlustreiche Ostasien-Reise angetreten, während derer er vor allem die Gewürzinseln erkunden und Handelsbeziehungen entwickeln sollte. Bali wird im Bericht positiv geschildert, vor allem im Kontrast zu den zahlreichen Schwierigkeiten, mit denen die Holländer an Bord und auf Madagaskar und Java zu kämpfen hatten, wo es immer wieder zu Gewalttätigkeiten gekommen war. Auf Bali konnte Houtman Pfeffer erwerben, was ihm auf Java nicht gelungen war. Sein Reisebericht wurde populär, insbesondere auch die Erzählung über Matrosen, die desertierten und nicht mehr auf ihre Schiffe zurück wollten (ähnliche Erzählungen über abtrünnige Seemänner, die der Faszination der Insel erlagen, waren von Tahiti verbreitet worden, wobei der Wahrheitsgehalt und die Gründe in beiden Fällen nicht bekannt sind14). Bereits im folgenden Jahr veröffentlichte Levinus Hulsius eine deutsche Übersetzung. Houtmans Bericht enthielt drei Illustrationen, die ein Jahr später in den Reisebericht von Hulsius übernommen wurden und die ersten Bilder Balis sind, die in den Westen kamen. In allen stehen die Bewohner der Insel und ihre eigentümlichen Gebräuche im Zentrum. Einer der Holzschnitte zeigt vier Sklaven, die einen Herrscher in einer Sänfte tragen, im Hintergrund sind Schiffe zu sehen. Ein zweiter stellt einen König auf einem von zwei Ochsen gezogenen Wagen dar. Beide Szenen werden von einem Gefolge von Kriegern mit Speeren flankiert. Am fremdartigsten ist aber die dritte Szene, die eine Witwenverbrennung zeigt. Eine jüngere Frau springt mit erhobenen Armen zu ihrem verstorbenen Gatten, der bereits in einer Grube im Feuer liegt. Links von ihr musizieren Menschen und rechts gießt eine Frau Öl ins Feuer.

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Allen drei Darstellungen liegen indische Vorbilder zugrunde. Nieuwenkamp nahm sie später in seine Bali-Bücher auf. Houtmans Reise war der Beginn des holländischen Gewürzhandels und der nachfolgenden Kolonisierung. Batavia (das heutige Jakarta) auf Java wurde bereits 1609 erobert, der Rest der Insel im Lauf des 17. Jahrhunderts. Bali gelang es noch weitere Zeit, eine Eroberung erfolgreich abzuwehren, auch weil die Insel nicht von herausragendem geostrategischem, wirtschaftlichem oder wissenschaftlichem Interesse war. Das begann sich jedoch im 19. Jahrhundert zu ändern, als sich die Rivalität Hollands mit anderen Kolonialmächten, insbesondere Großbritannien, aber auch Deutschland, zu intensivieren begann. Bis dahin war die Insel, die zu dieser Zeit aus neun König­reichen bestand, trotz Handelsbeziehungen (vor allem für Sklaven) eigenständig geblieben. Der Handel lag in den Händen der einflussreichen Niederländischen Ost­indien-­Kompanie (Vereenigde Oostindische Compa­ alinesen galten bei den Holländern als stolz, kriegerisch gnie, VOC). Die B und unberechenbar. Diesen Ruf verdankten sie den wiederholten Zusammenstößen, so 1664, als holländische Händler und Soldaten getötet wurden. Es gelang den Holländern auch nicht, den Handel gänzlich zu monopolisieren, und die unabhängigen Herrscher Balis betrieben mit verschiedenen Nationen Handel. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigten auch die Briten, die nach dem holländisch-britischen Krieg für kurze Zeit Java dominierten, verstärktes Interesse an der Insel. Der britische Forscher und Gründer Singapurs, Thomas Stamford Raffles, trieb die Studien Javas und der kleineren Inseln voran und publizierte 1817 seine zweibändige History of Java, die auch zahlreiche Illustrationen enthielt.15 Raffles hatte Bali 1815 besucht und war fasziniert von der von Europäern noch weitgehend unerkundeten Insel und ihren Bewohnern. Er schilderte die Balinesen als unabhängiger, männlicher und kühner als die „faulen“ und „teilnahmslosen“ Javaner.16 Er unterstrich zudem, dass Bali die hinduistischen Traditionen weit stärker als Java bewahrt habe, wo die muslimische Religion und Kultur sich mit den alten Bräuchen vermischt oder diese überlagert habe. Gerade deshalb sei Bali ursprünglicher und kulturell besonders bedeutend – eine Wahrnehmung, die im 19. Jahrhundert prägend wurde und bis heute nachwirkt.17 Auf Raffles folgten holländische Naturforscher, Sprachwissenschaftler und Ethnologen wie ­Wolter Robert Baron van Hoëvell (1812–1879), Herman Neubronner van der Tuuk (1824–1894) und Julius Jacobs (1842–1895). Auch van Hoëvell sah wie Raffles auf Bali die alte, vormuslimische hinduistisch-­ javanische Kultur bewahrt. Er war zudem ein Kritiker des holländischen ­Kolonialsystems und Vertreter eines aufgeklärten, „ethischen“ Kolonialis-

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mus, der sich für die B ­ ildung der lokalen B ­ evölkerung und die Verbesserung ­ ultatuli der Lebensbedingungen einsetzte und der auch den Schriftsteller M (Eduard Douwes Dekker), den Verfasser des Romans Max Havelaar (1860), inspirierte. Van der Tuuk, dessen Nähe zur lokalen Bevölkerung die anderen Holländer provozierte, begann zudem, balinesische Artefakte und Kunstwerke zu sammeln und in Auftrag zu geben, die Nieuwenkamp dann in Leiden kopieren sollte. Mit der Erfindung der Fotografie entstanden fotografische Aufnahmen, aller­dings in beschränktem Ausmaß.18 Noch blieben die neun Königtümer Balis unabhängig: In den Jahren 1846 bis 1848 hatten die Holländer Eroberungen versucht, die abgewehrt wurden. Erst 1849 gelang die endgültige Eroberung und Kontrolle der Königtümer im Norden Balis, die südlichen Reiche entzogen sich jedoch weiterhin der euro­ päischen Herrschaft. Entscheidend für die letzte Niederschlagung des balinesischen Widerstands waren erst die Jahre 1906 und 1908. Die Invasionen verliefen brutal und lösten in Holland und international Entrüstung aus. So zeigte eine zeitgenössische holländische Karikatur einen holländischen Soldaten, der sein Gewehr auf dem Rücken eines am Boden liegenden kleinen Kindes absetzt, das den Schriftzug Bali trägt. Der Maler W. O. J. Nieuwenkamp war vom Gouverneur-General J. B. van Heutzs, der auch eine Rebellion in Aceh niedergeschlagen hatte, auf seiner zweiten Bali-Reise eingeladen worden, die holländische Invasion zu begleiten. Er beschrieb sie in seinem Buch und eine Illustration zeigt die Ruinen des niedergebrannten Palasts von Denpasar. Er bedauerte vor allem die Zerstörung der Tempel und schilderte in einem Brief an seine Frau Anna die Invasion als widerwärtiges Massaker, um sich sodann zu fragen, ob er der offiziellen Propaganda in einem öffentlichen Brief widersprechen sollte (nach seiner Rückkehr schrieb er tatsächlich einen Artikel, der allerdings in der Zeitung Algemeen Dagblatt stark gekürzt erschien).19 Dass die Invasion zu einem Massaker wurde, lag am Ungleichgewicht der Kämpfenden und ihrer Waffen ebenso wie an der balinesischen Tradition des Puputan (Beenden, Vollendung): Darin gingen die Königsfamilien mit ihrem Hofstaat in einer ausweglosen Kriegslage widerstandslos in den Tod oder ­töteten sich selbst. Die Bedeutung des Puputan ist in ethnologischen Studien mehrfach untersucht worden, wobei auch angemerkt wurde, dass die Beschreibungen der Puputans zu Beginn des 20. Jahrhunderts meist von west­ lichen Beobachtern stammen, deren Wissen über seine Bedeutung für die ­Balinesen zwangsläufig eingeschränkt war; tatsächlich divergieren westliche Wahrnehmungen und balinesische Selbstwahrnehmung oft funda­mental.20 Der Puputan von Denpasar (respektive von Badung) vom 20. September 1906 forderte nach verschiedenen Angaben zwischen 400 und über 1000 Tote.

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Nieuwenkamp nannte 1800 Opfer, denen vier aufseiten der Holländer gegenüberstanden. Der zweite große und endgültige Puputan er­eignete sich am 18. April 1908 in Klungkung, als Dewa Agung Jambe, der dortige Raja (Herrscher), seine sechs Frauen und das Gefolge von 200 Höflingen weiß gekleidet in einer Prozession aus dem Palast kamen und sich widerstandslos von den holländischen Truppen niederschießen ließen. Auf diese traumatischen Ereignisse, die den gewalttätigen Abschluss der Eroberung der Insel bildeten und bis heute für die Erinnerungskultur bedeutsam sind, folgten auf holländischer Seite beinahe nahtlos weitere Bemühungen zur Erforschung der alten balinesischen Kultur und die Entwicklung des Tourismus.21 Beides kann auch als Imagekampagne gesehen werden, die dazu beitragen sollte, das Bild der Holländer als rücksichtslose Unter­drücker zu korrigieren. Die Erforschung und Pflege der balinesischen Tradition und der Ausbau der touristischen Infrastruktur gingen dabei Hand in Hand. Dazu trug bei, dass gerade das hinduistische Bali als besonders authen­tisch und kulturell hochstehend wahrgenommen wurde. 1908, im Jahr der Niederschlagung des letzten Widerstands auf Bali, wurde in Batavia (Jakarta) das erste offizielle Tourismusbüro gegründet. 1914 zogen die holländischen Besatzungstruppen auf Bali ab. Im selben Jahr wurden die ersten Prospekte für Touristen gedruckt. Damals waren die Verbindungen noch selten, und es gab keine Hotels, nur einfache, staatlich geführte Gästehäuser. 1924 führte die staatliche holländische Reederei Koninklijke ­Paketvaart Maatschappij (KPM), die seit dem späten 19. Jahrhundert Nordbali auf ihrer Route hatte, regelmäßige wöchentliche Verbindungen nach Bali ein, vor allem für den Transport von Nahrungsmitteln, insbesondere von Schweinen nach Singapur, weshalb sie auch „Babi-Express“ (Schweine-­ Express) genannt wurde. Diese starteten von Surabaya auf Java oder von ­Celebes (heute Sulawesi). Die Touristen landeten im Norden der Insel und fuhren dann mit Autos in den Süden, wo die KPM in Denpasar seit 1928 das Bali Hotel betrieb. Wurden 1924 noch 213 Besucher gezählt, waren es 1929 bereits 1428 Reisende. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre traf auch Bali hart. Einige Jahre kamen weniger Touristen nach Bali, aber bald boten nach den Holländern weitere Reiseunternehmen wie Thomas Cook und American Express Übernachtungs- und Transportmöglichkeiten an. 1936 eröffnete das privat betriebene Kuta Beach Hotel und schon 1938 wurde der Flughafen bei ­Denpasar dreimal wöchentlich angeflogen. Neben der Infrastruktur war Information ein zentrales Element des Tourismus. Die ersten touristischen Broschüren der KPM der 1910er-Jahre waren knapp und sachlich und enthielten kaum historische und kulturelle

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I­ nformationen.22 Allerdings bemühten sich auch die frühen Publikationen, den holländischen Einfluss positiv darzustellen. So betont der vom offiziellen Tourismusbüro 1924 herausgegebene fünfzigseitige, bebildete Short Guide to Bali, dass die Holländer das Kastensystem abgeschafft hätten, mit dem die tyrannischen Herrscher früher das Volk mit eiserner Faust unterdrückt ­hätten.23 Die Balinesen wurden weiterhin als stolzes und kriegerisches Volk geschildert. Das Bild der Insel als paradiesischer Ort, an dem sich Natur und Kultur harmonisch verbinden, bildete sich erst in den folgenden zwei Jahrzehnten heraus. Dabei waren Künstler und Schriftsteller essenziell, denn sie fungierten als die zentralen Vermittler der balinesischen Kultur. Die frühen Reisenden auf Bali interessierten sich zwar auch für die archäo­logischen Stätten und Tempel der Insel, aber vor allem Schönheit und Ursprünglichkeit der Landschaft und ihrer Bewohner bildeten den zentralen Anziehungspunkt. War auf Capri die Blaue Grotte der Inbegriff und das Ideal­bild für den Zauber der Insel geworden, wurde dies auf Bali der nackte Busen der Inselbewohnerinnen. Das Bild der ursprünglichen, quasi überzeitlichen gesellschaftlichen und kosmischen Harmonie der „weiblichen“ Insel24 begann das Bild der gefährlichen, kriegerischen Insel zu überlagern. Die jüngere Geschichte oder die politischen Verhältnisse spielten so gut wie keine Rolle für die westliche Wahrnehmung. Adrian Vickers nannte den Arzt Julius Jacobs, der 1881 auf die Insel kam, den „Entdecker des balinesischen Busens“. Tatsächlich war Jacobs einer der ersten Fotografen auf Bali. Seine Fotos und Schriften über die Insel hatten jedoch einen wissenschaftlichen Fokus und richteten sich nicht an ein breites Publikum. Zur eigentlichen Popularisierung des balinesischen Körpers trug vor allem der Deutsche Gregor Krause bei, dessen zehn Jahre nach ­Nieuwenkamps erschienenes Buch eine wesentlich größere Wirkung entfaltete, wozu nicht nur der Fokus auf die Menschen, sondern vermutlich auch die visuelle Evidenz der Fotografie in Vergleich zu den Illustrationen des Holländers beitrugen. Gregor Krause arbeitete als Arzt im Dienst der holländischen Ostindischen Armee und war zwischen 1912 und 1914 in Bangli auf Bali stationiert. Dort machte er mit seiner 35-mm-Kamera von Leica über 4000 Foto­grafien, die die Insel erstmals umfangreich dokumentierten. Krauses Aufnahmen waren die Hauptattraktion der ersten Ausstellung balinesischer Kunst, die 1917 in der Amsterdamer Kunstgesellschaft Arti et Amicitiae stattfand und an der auch Nieuwenkamps Zeichnungen und Radierungen zu sehen waren. Sie wurde ein großer Erfolg. 1919 folgte ein kurzer Aufsatz in einer holländischen Zeitschrift.25 Noch weiter reichte wie Wirkung des zweibändigen Buches Bali: Volk, Land, Tänze, Feste, Tempel, in dem 400 der auf Bali

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Abb. 44  Gregor Krause, „Ältere Frau beim Baden“, Fotografie aus Bali: Volk, Land, Tänze, Feste, Tempel, 1920, entstanden zw. 1912–14

entstandenen Fotografien publiziert wurden.26 Aufgrund des Erfolgs dieser Publikation entstand wenig später eine einbändige Neuauflage, die eine kleinere Auswahl von Fotos enthielt und auch ins Französische und Englische übersetzt wurde. Krauses Bali-Buch enthielt Fotos von Landschaften, Tempeln, Kunstwerken, Alltagsszenen und erläuternde Texte. Ein Schwerpunkt, insbesondere in der zweiten, gekürzten Ausgabe, in der Fotos, „die nur von reinem Sachinteresse waren, weggefallen sind“ (so der Herausgeber Karl With), waren die Fotos von Balinesen und Balinesinnen. Die jungen Frauen, Männer und Kinder wurden meist beim Bad in einer Quelle oder einem Bach gezeigt. Ihre Posen erinnern an die Malerei des 19. Jahrhunderts, etwa von Jean-­ Auguste-Dominique Ingres. Betont werden die Natürlichkeit und Schönheit der Körper (Abb. 44). In einem einführenden Text ging der Herausgeber, der Museumsdirektor, Professor und Experte für ostasiatische Kunst Karl With, nicht auf die politischen Verhältnisse auf Bali ein, stellte die Insel jedoch explizit dem kriegsverwüsteten, traumatisierten, mechanisierten Europa gegenüber, in dem die überlebenden Soldaten zu Hause eine abgestorbene, kalte und sinnentleerte Welt vorgefunden hätten. Auf Bali hingegen lebten die Menschen noch in Einheit mit dem Kosmos, und diese Einheit und Harmonie fand in der Schönheit der balinesischen Körper ihren besten Ausdruck:

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Das Schönste was sein eigen ist, ist er selbst. Ist sein Leib. Das ist seine Hütte, in der er lebt unter Sonne und Schatten; seine schimmernde Haut ist seine blendend herrliche Kleidung, die nur ein buntes Muster, eine bunte Blume zu erhöhen mag. Der Leib ist sein Ich, sein Eigentum. Ist die größte Schönheit auf dieser Insel. Sein Leib ist Träger seiner Welt, ist seine Sprache. Alles, was die Welt ihm zuträgt, was ihn trifft, ihn bewegt und erfüllt, erlebt er mit seinem ganzen Leibe, enthüllt er unmittelbar mit der physischen Expression seiner Glieder. Diese Leiber haben eine unglaubliche Phantasie des Ausdrucks; voll pflanzlicher Anmut, tierhafter Bewegtheit und erotischer Gespanntheit.

Doch With deutete am Ende seines Texts einen kommenden Wandel an: „Vielleicht lässt sich morgen schon nicht mehr von der glückhaften Insel Bali sprechen, sondern noch in Erinnerung von ihr träumen.“27 Krauses eigene Berichte im Buch waren sachlicher, aber immer noch beseelt von den vor Ort gewonnenen Eindrücken. Er beschrieb Dorfgemeinschaften, Reisbau, Religion und Herrschaftsstruktur, Tänze, Leichenverbrennungen und betonte die große Schönheit der Menschen: „Die balinesischen Frauen sind schön, so schön wie eine Frau nur gedacht werden kann, eine physiologisch einfache, würdige Schönheit voll östlichen Adels und natürlicher Keuschheit. Das Tragen jedweder Last auf dem Kopfe mit hochgestreckten Armen entwickelt den Schultergürtel und dessen Muskulatur, von der der stets kräftige große Brustmuskel sich als die günstigste Unterlage für die formvollendeten Brüste darbietet.“28 In seinem Text über die Kunst auf Bali hob With zudem hervor, dass es auf der Insel keinen Begriff für Kunst oder Künstler und keine Museen gebe, sondern Kunst ein Teil des täglichen Lebens aller sei und die Künstler keine gesellschaftlichen Außenseiter: Und die glückhaften und namenlosen Künstler auf Bali! Wo der Bauer seinen Feierabend in eine Figur hineinschnitzt, Kinder bunte Ornamente auf Palmblätter malen […. ] wo der Bauer auf dem Felde, wenn ein Gott über ihn kommt und ihn begeistert, hingeht und am Tempel sein Gottbild oder seine Dämonenmaske meisselt […]. Wo aus dem Nichts eines festlichen Anlasses eine trunkene Gemeinschaft erwächst im Fest, zum Tanz, zur Prozession, zum Tempelbau.29

In Bali schien so die utopische Vorstellung einer Einheit von Kunst und Leben, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts viele europäische avantgardistische Künstler  – vom Bauhaus bis zum Konstruktivismus  – umtrieb, bereits realisiert. Auf dieser Südseeinsel war jeder Mensch ein Künstler und Kunst eine selbstverständliche gesellschaftliche Notwendigkeit.30 Ähnlich wie Lotis Tahiti-­Buch Gauguin beeindruckte, hatte auch Krauses und Withs schwärmerische Bali-Schilderungen große Wirkung auf einige Künstler, zu denen auch Walter Spies gehörte.

Walter Spies’ Weg nach Bali

Walter Spies’ Weg nach Bali Als Walter Spies am 26. August 1923 im Alter von 28 Jahren an Bord der S.S. Hamburg seine Reise nach Batavia auf Java antrat, konnte er bereits auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken. Die Konstanten dabei waren eine große intellektuelle, emotionale und künstlerische Mobilität, Offenheit und Rast­losigkeit, die ihn zwischen den Künsten, vor allem der Musik und der bildenden Kunst, aber ebenso zwischen verschiedenen Orten, Menschen und ­ auguin Sprachen wechseln ließ. In der Kunstgeschichte ist Spies – anders als G und die Mehrzahl der Protagonisten in diesem Buch – eine Randfigur. Zeugnisse über sein Leben, Schaffen und seine Persönlichkeit geben insbesondere Briefe und die zahlreichen Aussagen von Freunden und Weggefährten, die Hans Rhodius 1964 in seinem opulenten Buch Walter Spies. Schönheit und Reichtum des Lebens zusammengestellt hat.31 In jüngster Zeit ist das wissenschaftliche Interesse an Spies ein wenig angewachsen und sein Leben von ­Nigel Barley in einem Roman fiktionalisiert worden, 2018 hat ­Michael Schindhelm eine Biografie verfasst.32 Vor allem aber findet der Künstler in jedem Bali-Führer Erwähnung. Spies wurde als Sohn deutscher Eltern in Moskau geboren, wo die Familie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lebte und große Handelsfirmen für Textilien und Zucker unterhielt. Dazu kamen Baufirmen, Banken und Firmen für Tabak und Blechwaren. Die Familie unterhielt breite Handelskontakte und verschiedene nationale und internationale Niederlassungen, Walter Spies’ Vater Leon war zudem ehrenamtlicher deutscher Vizekonsul. Obwohl die Familie das russische Bürgerrecht besaß, waren sie als Deutsche in der russischen Gesellschaft nicht vollkommen assimiliert. Neben ­einem großen Haus in der Archipowa-­Straße in Moskau und ­einer Datscha in ­Nekljudowo bei Moskau besaßen sie zudem ein Haus und eine Villa in Dresden. Im Dresdner Stadtteil Wachwitz absolvierte Walter Spies auch ab 1910 das Vitzthum-Gymnasium und kehrte nur noch für die Ferien nach Russland zurück. Fast alle der fünf Kinder von Leon Spies und seiner Frau Martha, geborene von Mohl, waren künstlerisch begabt, insbesondere im Bereich der Musik. Bruno (1888–1965) studierte Ingenieurswissenschaften und wurde Geschäftsmann, Irene/Ira (1889–1981) spielte Klavier und sang, Leo/Ljowa (1899–1965) wurde ein bekannter Komponist und Dirigent, ­Margarete/Daisy (1905–2000) eine renommierte Tänzerin und Choreografin. Walter spielte Klavier und zeichnete. Neben frühen Naturstudien und Porträts zeigen seine Skizzenbücher auch Auseinandersetzungen mit dem Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus.

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Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution hatten dramatische Konsequenzen für die Familie. Spies’ Vater wurde interniert und nach der ­Revolution der Besitz der Familie beschlagnahmt. Während seine Mutter, Leo und Daisy nach Dresden ausreisen konnten, wurde auch Walter Spies kurz nach seinem 20. Geburtstag in der 1200 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Stadt Sterlitamak im Ural interniert (ab 1919 Teil der Sowjetrepublik Baschkirien, heute autonome Republik Baschkortostan). Während der drei Jahre seiner Internierung konnte sich Spies jedoch relativ frei bewegen. Er traf ebenfalls internierte Bekannte, erhielt Geldsendungen von der Familie und besaß ein Klavier, mit dem er Unterricht geben konnte. Zeitweise lebte er bei einer Tatarenfamilie und begann Tatarisch, Kirgisisch, Türkisch, Arabisch und Persisch zu lernen und zahlreiche Wanderungen und Exkursionen in die Berge zu unternehmen. Er interessierte sich für die Musik der Baschkiren und Tataren und gab selbst Konzerte. Die Malerei bildete eher ein Neben­ gleis, wobei die Erinnerung an das einfache, naturnahe Leben bei den Tataren für Spies prägend bleiben sollte und als Motive in seinen Gemälden aufgenommen wurden, so etwa in Baschkrischer Hirte (1923). 1919 gelangte Walter Spies auf einigen Umwegen nach Berlin und Dresden, wo bereits seine Familie lebte. In Dresden kam er in Kontakt mit Künstlern und Künstlerinnen wie Oskar Kokoschka, Otto Dix und Gela Forster (später Archipenko). Am meisten bewunderte er zu jener Zeit jedoch Marc Chagall und insbesondere Paul Klee (in Moskau hatte er zudem bereits die Werke Henri Rousseaus in der Sammlung Schtschukin lieben gelernt). Seine eigenen Werke aus der Zeit zeigen eine detailreiche, leicht surreale, farbintensive magische Traumwelt voller Landschaften, Menschen und Tiere. Der Einfluss Chagalls ist in den schwebenden Gestalten der Gemälde unverkennbar, ebenso derjenige der Volkskunst, wobei ein unheimlicher und manchmal aggressiver Eindruck dazukommt. Spies begann in den Kunstszenen von Dresden und Berlin Fuß zu fassen. Er verfolgte zudem das Klavierspiel weiter und pflegte Kontakte zu Musikern wie Edouard Erdmann und dessen Frau Irene sowie zu dem Komponisten und Schriftsteller Jürgen von der Wense, mit dem ihn eine Liebes­beziehung verband. Er verbrachte auch einige Monate in Hellerau, wo er die Räume der Künstlerin Hedwig Jaenichen-Woermann mietete. Anfang 1920 konnte er das Bühnenbild für Knut Hamsuns Spiel des Lebens am Schauspielhaus Dresden gestalten. In Berlin machte er zahlreiche weitere Bekanntschaften, etwa mit der Kinderbuchautorin Bertel Kleyer und ihrem Mann, dem Unternehmer ­Edwin Kleyer, sowie mit dem renommierten Kunstkritiker Franz Roh, der 1925 sein Buch Nach-Expressionismus – Magischer Realismus: Probleme der

Walter Spies’ Weg nach Bali

Abb. 45  Walter Spies, Schlittschuhläufer, 1922, Öl auf Leinwand, 82 × 70 cm, Privatsammlung

neuesten europäischen Malerei verfassen sollte, in dem Spies eine prominente Erwähnung fand.33 Zu den wichtigsten Freundschaften zählte diejenige mit dem ­Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau, in dessen Villa im Grunewald er bald zog und für die er auch ein Wandgemälde im Stil von persischen Miniaturen schuf, zur gleichen Zeit entstand auch das Gemälde Schlittschuh­ läufer (1922, Abb. 45). Er begleitete Murnau auf Reisen und zu Filmdreh­ arbeiten und entwarf Skizzen für die Ausstattung von dessen Film Der Gang in die Nacht (1921); auch bei Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens (1922) wirkte er als künstlerischer Berater mit. Daneben nahm er 1922 an der Ausstellung der Novembergruppe in der jährlichen Großen Berliner Kunstausstellung teil. Die letztlich folgenreichste Begegnung war aber diejenige mit dem holländischen Musiker und Dirigenten Johan Schoonderbeek und seiner Frau Georgette. Spies lernte sie in einem Sanatorium kennen, in dem sich Murnau nach einer Operation erholte. Durch die Vermittlung von Georgette Schoonderbeek konnte er 1923 an der Jahresausstellung der holländischen Künstlervereinigung im Stedeljik Museum in Amsterdam teilnehmen, im selben Jahr folgte eine Ausstellung in der Galerie Kleijkamp in Den Haag. Nach der An-

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kunft in Holland war Spies auf dem besten Weg, sich auch dort als Künstler zu etablieren, doch vermitteln die Briefe den Eindruck, dass er sich intensiv mit dem Gedanken beschäftigte, Europa zu verlassen. Trotz des beginnenden Erfolgs und der vielen Bekanntschaften schien Spies nach der anfänglichen Begeisterung unglücklich zu sein. So schrieb er 1923 nach der Rückkehr von einer Dalmatien-Reise, auf die er Murnau für die Dreharbeiten des Films Die Finanzen des Großherzogs (1924) begleitet hatte: […] wenn man so heraus ist aus Deutschland, dann merkt man erst, wie furchtbar es ist, in Deutschland zu leben, was das für ein furchtbares Land ist, und was für entsetzliche Menschen es da gibt, wie trocken und gefühllos sie sind, und wie man unter ihnen selbst so wird. Ich kann das nicht mehr länger aushalten! Für mich, der ich die drei Jahre der Internierung bei den Baschkiren das wirkliche Leben gesehen, gelernt und gefühlt habe, wird es nie mehr möglich sein, mich hier in Europa wohlzufühlen.34

Mit seiner Sehnsucht nach dem „wirklichen Leben“ und dem Unbehagen an der europäischen Kultur und Zivilisation war Spies damals nicht allein in Berlin. Max Pechstein und seine Frau Lotte waren bereits 1914 in die Südsee aufgebrochen. Spies selbst dachte nicht nur zurück an seine Zeit bei den Tataren im Ural, sondern auch bereits an Südostasien. Insbesondere Bali hatte ihn durch die Publikation von Gregor Krause, die er 1921 in Berlin entdeckt hatte, fasziniert. Während seines Aufenthalts in Amsterdam hatte er wiederholt das Königliche Tropeninstitut (heute Tropenmuseum) besucht. Neben Publikationen waren die Völkerkundemuseen wichtige Informa­tionsquellen für viele Künstler. Auch Pechstein war in Dresden vom Völkerkunde­museum beeindruckt gewesen, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden war, und schrieb: „Es berauschte mich […] wie mich im Museum für Völker­kunde Schnitzereien an Dachbalken und Querbalken von den Palau-­ Inseln im Stillen Ozean mit Sehnen erfüllt hatten, als ahnte ich schon diese ferne tropische Welt.“35 Allerdings waren solche Reisen ein aufwendiges und kostspieliges Unterfangen und für eine beginnende künstlerische Etablierung potenziell ver­ heerend. Doch setzte Spies seine Träume erstaunlich schnell und konsequent in die Tat um. Er begann, die Möglichkeiten einer Schiffsreise zu prüfen. Eine konkrete Gelegenheit ergab sich durch einen Weltenbummler namens ­Heinrich Hauser, dem es bereits im August 1923 gelang, für sich und Spies eine Überfahrt an Bord der S.S. Hamburg, die in Java Kohle laden sollte, zu organisieren. Die Reise war abenteuerlich, denn sie waren nicht als Passagiere unterwegs, sondern als normale Matrosen (was nach kurzer Zeit aufflog, auch weil Spies nicht an körperliche Arbeit gewöhnt war). In Tanjung Priok, dem Hafen von Batavia, gelang es Spies, im Oktober zu desertieren.

Walter Spies’ Weg nach Bali

Von dort ging die Reise nach Bandung, wo Verwandte seiner holländischen Freunde lebten, und von dort aus weiter nach Yogyakarta. Auf Java scheint Spies schnell Fuß gefasst zu haben. Das lag vor allem an seinem Talent als Pianist, das ihm viele Möglichkeiten in der örtlichen holländischen Gesellschaft eröffnete. Spies selbst war vor allem begeistert von den Javanern. Das dortige Leben erinnere ihn an seine Heimat, schrieb er im November 1923 an seine Mutter: „Es ist hier wie in Moskau. Diener, Köchinnen sind zwanzig Jahre, dreißig Jahre im Hause und erleben Kinder und Kindeskinder. Ach, überhaupt erinnert hier vieles an Russland, irgendeine fabelhafte Großzügigkeit und Freiheit und Gastfreundlichkeit. Und man lebt immer wie ‚Na datsche‘ [auf dem Lande], auch in der Stadt.“ Hier waren noch die vormodernen, aristokratischen Strukturen der Großhaushalte vorhanden, die in Deutschland nicht mehr zu finden waren. Und weiter im selben Brief: „Alle Kunst in Europa ist so ein Dreck und Mist dagegen, dass man sich schämen müsste […] Jetzt, wo ich in Fühlung komme mit den Javanern und mit ihrer unerhört hohen und fabelhaften Kultur, bin ich wie wahnsinnig! Man kann sich das kaum vorstellen, dass es so etwas Schönes gibt! Oh, ich bete sie an, wie noch nie etwas in meinem Leben!“36 Spies empfand stärkere Affinitäten zu den Einheimischen als zu den holländischen Beamten. Die Wertschätzung war gegenseitig: 1924 wurde er Leiter des europäischen Orchesters des Sultans Hamengkubuwono VIII. und zog – als einziger Europäer – in den Kraton (Palast) in Yogyakarta. Er begann sich für die traditionelle Gamelanmusik zu interessieren, was ihn in Kontakt mit dem Musikethnologen Jaap Kunst brachte, der Feldforschung betrieb und im gleichen Jahr mit seiner Frau Kathy ein Buch über die Musik auf Bali publizierte.37 Bereits im April 1925 reiste Spies erstmals nach Bali, wo er einen Monat lang die Insel zu Fuß erkundete. Sie beeindruckte ihn tief; so schrieb er an Jaap Kunst: „Hier bin ich! OhGott, ohGott, ohGott, war das herrlich!“38 Doch beschäftigte ihn nicht nur die Musik. Im Mai 1925 nahm Spies an der Eröffnungsausstellung des neuen Gebäudes des Kunstkrings, des lokalen Kunstvereins, in Batavia teil. Seine Werke wurden in der lokalen Presse positiv besprochen. Trotzdem malte er in den folgenden zwei Jahren wenig. Die frühen auf Java entstandenen Gemälde zeigen vor allem Landschaften mit den typischen terrassierten Feldern und Vulkanen sowie lokale Szenen von arbeiteten Menschen. Nach dem magischen Realismus der frühen Bilder waren die Werke näher am Realismus, auch wenn die leuchtenden, irisierenden Farben ihnen ein irreales Moment verleihen. Bald tauchten Gedanken auf, sich länger auf Bali niederzulassen. Im Dezember 1926 schrieb Spies an seine holländische Freundin Georgette Schoon-

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derbeek: „Ich gehe vorläufig für ein Jahr nach Bali, baue mir ein Häuschen im Walde, dort werde ich endlich Ruhe finden. Und endlich anfangen zu malen!“39 Bereits zwei Monate zuvor hatte er sich gegenüber Franz Roh über seine Unproduktivität und Unzufriedenheit in Java geäußert: „Es scheint mir aber, dass nicht Java als Land oder die Javaner Schuld tragen an meiner ‚Lähmung‘. Es ist nichts anderes gewesen als das unbewusste und doch so lähmende Sichducken vor dem schlappen, flachen, unkultivierten Europäer hier. Es ist ja ein Morast an Menschen, trostlos, unentrinnbar! Die stärksten, ­besten Einfälle werden hier mitleidlos unter groben, ungehobelten Snob­ füßen zerstampft!“40 Spies war ähnlich desillusioniert durch die koloniale Gesellschaft, wie Gauguin es auf Tahiti gewesen war, und zog dieselben Konsequenzen: die Flucht in noch unberührtere Gebiete. Ende 1927 war es so weit. Spies konnte sich auf Einladung von Cokorda Gde Raka Sukawati, dem Punggawa (lokaler Fürst und Vertreter im holländischen Volksrat) von Ubud, den er auf früheren Reisen kennengelernt hatte, im kleinen, aber kulturell bedeutenden Ort im Süden der Insel ansiedeln.41 Gegenüber seinem Wohnsitz nahe des Palasts lebte der renommierte balinesische Bildhauer, Maler und Architekt I Gusti Nyoman Lempad, mit dem sich Spies anfreundete. Er begann zudem, die Insel zu Fuß zu erkunden, zunächst oft mit dem lokalen öster­reichischen Arzt Bargehr, der über Lepra forschte, und dann mit dem holländischen Maler Charles Sayers. Wieder knüpfte er viele Kontakte, sowohl zu einheimischen Künstlern wie Lempad oder zu dem Bildhauer Ida Bagus ­Ngurah und seinen Söhnen, die er auch zeichnete, als auch zu Ausländern wie dem holländischen Archäologen W. F. Stutterheim, den er bereits in Java kennengelernt hatte, und dem holländischen Sprachforscher Reloef ­Goris. Dazu k ­ amen viele Besucher. Zu den ersten gehörten G ­ regor Krause, der deutsche Forscher, Ornithologe und Filmemacher ­Victor von Plessen und der amerikanische Abenteurer und Filmemacher André Roosevelt. Nachdem sein ­erstes, rudimentäres Haus nach rund einem Jahr zusammenbrach, ließ Spies ein neues im Westen Ubuds errichten. Das malerisch am Zusammenfluss zweier Flüsse gelegene, offene und durch Neben­bauten langsam wachsende Haus in Campuhan war Ausdruck des endgültigen Sesshaftwerdens auf der Insel. 1932 wurden Spies und sein Haus in der Zeitschrift Die Dame mit einem Text von Franz Blei und Fotografien von Victor von Plessen porträtiert (Abb. 46). Der Artikel enthielt auch drei Gemälde von Spies.42 Etwas später erschien in der gleichen Zeitschrift eine weitere „Homestory“ von ­Julia Mentz, die Spies auch auf Bali besucht hatte. Alles deutet darauf hin, dass Spies auf Bali geblieben wäre, hätten sich die politischen Umstände nicht radikal geändert. Nach dem Ausbruch des

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Abb. 46  Victor von ­Plessen, Haus von Walter Spies, Die Dame, Heft 3, 1932, S. 7

Zweiten Weltkriegs wurden alle männlichen deutschen Staatsangehörigen zunächst auf Java und dann auf Sumatra von der holländischen Kolonial­ regierung interniert. Spies kam auf dem Transfer zum Festland auf der Van Imhoff um, als das Schiff am 19. Januar 1942 von japanischen Flugzeugen bombardiert wurde. Das Ende der balinesischen Idylle hatte sich allerdings schon vor Kriegsausbruch angekündigt. 1938 war Spies von den holländischen Behörden wegen Homosexualität und Unzucht mit Minderjährigen angeklagt worden. In Denpasar im Süden der Insel saß er in Untersuchungshaft und wurde trotz vieler Interventionen vonseiten seiner Freunde verurteilt. Homosexuelle Aktivitäten der Balinesen oder zwischen Reisenden und Balinesen waren vorher von den Holländern toleriert worden. In den späten 1930er-Jahren hatte sich das politische Klima jedoch zu ändern begonnen, und die Verhaftung und Verurteilung von Spies war einer von vielen solchen Vorfällen. In den e­ twas mehr als zehn Jahren zuvor, von der Mitte der 1920er-Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten

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Weltkriegs, wurde die Insel jedoch der Sehnsuchtsort par excellence und Spies nach Gregor Krause einer der wichtigsten Akteure ­ihrer Popularisierung.

Die Insel in ihm Warum nahm Spies eine so zentrale Stellung für die Vorstellung von Bali als Inselparadies ein? Es lag nicht an seiner Kunst. Im Vergleich zu W. O. J. Nieuwenkamps Hunderten von Zeichnungen, Radierungen und Holzschnitten, die schon zwanzig Jahre zuvor auf Bali entstanden waren und die ersten umfangreichen künstlerischen Darstellungen der Insel sind, ist Walter Spies malerisches Œuvre klein. Die Werke befanden sich größtenteils in Privatbesitz und waren – abgesehen von den wenigen Ausstellungen, an denen er teilnahm – öffentlich kaum zu sehen. Die künstlerische Qualität der Werke ist zudem diskutierbar. Anders als Gauguin war Spies kein Innovator. Zwar hatte Franz Roh ihm vielversprechendes Talent attestiert; in seiner Publikation über die neue Kunstrichtung des magischen Realismus schrieb er: Vor allem aber ist hier des jungen Walter Spies zu gedenken, der, ein Deutscher aus Russland kommend, unter geringen Einschlägen von Chagall (vgl. Russisches Volksfest) die Linie Rousseaus fortsetzt, sie in neue Bahnen führend, der Unendlichkeit des Kleinen, der Winzigkeit unserer gesamten Existenz neuen Wert und Ausdruck verleihend. Wir glauben, dass gerade dieser mikrokosmische Typus des Nachexpressionismus mit seinem Blick fürs Unterlebensgroße, wozu ihm, vom kosmisch-astronomischen Standpunkte aus, alles Erleben zusammenschrumpft, wirkliche Originalität in sich birgt, da gerade diese Anschauung völlig fehlte innerhalb der Kunstgeschichte der letzten Generationen.43

Roh hatte auch drei von Spies’ Werken in seiner Publikation abgedruckt, darunter Baschkirischer Hirte. Spies Bali-Bilder setzen jedoch im Wesentlichen das dort entwickelte Thema und Kompositionsprinzip fort. Statt Nadelbäumen sind nun Palmen zu sehen und statt des Flöte spielenden Hirten Reisbauern. Meist zeigen sie idyllische, in magisches Licht getauchte Landschaften mit Reisfeldern, Vulkanen, Tieren und arbeitenden Bauern (Abb. 47). In den folgenden Jahren gab es wenig Entwicklung. Eine komplexere, abgründige und surrealistische Welt deutet sich in Scherzo für Blechinstrumente 1939 an (heute zerstört), das Spies als Neuanfang bezeichnete. Spies’ Bilder zeigen stets eine ursprüngliche, unberührte Welt. Die Ankunft der Holländer und mit ihnen der Moderne ist in den Gemälden in ­keiner Weise fassbar: keine Stadt, kein Auto, keine Kamera. Spies’ Entwicklung als Maler – genauer: ihr weitgehendes Fehlen – ist wohl auch Ausdruck seines künstlerischen Selbstverständnisses. Malerei war für ihn nur eines von vielen Betätigungsfeldern, daneben spielte die Musik immer eine zentrale Be-

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Abb. 47  Walter Spies, Blick von der Höhe, 1934, Öl auf Leinwand, 102 × 83 cm, Privatsammlung

deutung. Dazu kamen Hunderte von Fotografien, die Spies in den Jahren auf Bali machte und die von künstlerischer wie auch von dokumentarischer Bedeutung sind. In allen seinen Aktivitäten behielt Spies jedoch bis zu einem gewissen Maß die Haltung eines aristokratischen Amateurs, der sich nach dem Lustprinzip ­seinen verschiedenen Leidenschaften hingibt, ohne dabei Professionalität anzustreben. Oft schrieb er in leicht ironischem Ton über seine Kunst. Er nahm zwar in Europa und in Südostasien an Ausstellungen teil, war aber nicht besonders aktiv bei der Suche nach Ausstellungsmöglichkeiten. Als ihn Franz Roh 1923 zur Teilnahme an einer Gruppenausstellung in München mit Otto Dix und George Grosz einlud, schreckte ihn dieser prominente Kontext für seine „Stümperei“ eher ab.44 1926 schrieb er nach ­einer Ausstellung an Roh: Merkwürdigerweise geht’s mir hier genau wie auch in Europa, dass ich die Bilder spielend loswerde. Ich finde es besonders günstig, denn ich hasse es, wenn Sachen von mir herumhängen und die Atmosphäre verpesten. Ich male immer nur, wenn ich etwas überwunden habe, um es von mir wegzuschmeissen, damit nichts in mir bleibt, was stören und aufhalten könnte, und deshalb kann ich nicht leiden, all diese Auswürfe immer unter der Nase zu haben.45

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Er malte mit großen Unterbrechungen. Oft fertigte er Gemälde aus finanziellen Gründen an, um ein Haus bauen und später erweitern oder ein Auto erwerben zu können. Spies’ sprunghafter Wechsel der Betätigungsfelder blieb seinen Besuchern nicht verborgen. Der englische Autor, Schauspieler und Sänger Noël Coward schrieb 1935 ein humorvolles Gedicht „To ­Walter Spies“ in das Gästebuch: Oh Walter dear, Oh Walter dear / Please don’t neglect your painting. / Neglect dear Walter if you must, / Your pleasure in the native’s trust / Negect, if need be, Social Grace / And Charity and Pride of Race. / Crush down dear Walter if you can / Your passion for the Gamelan / Neglect your love of birds and beasts, / Go to far fewer Temple Feasts / Neglect your overwhelming wish / To gaze for hours at coloured fish. / You may delight in flowers and trees / And talking to the Balinese / But they, alas, tho’ gay and sweet / Are, notwithstanding, most effete / And not conducive to the state / You need, in order to create. / So Walter dear neglect to drink, / neglect to eat or wash or think / Of opportunities to shirk / The stern necessity to work / And when, at last, you madly rush / To squeeze your paint and grab your brush / do not neglect in memory / to give a kindly thought to me!46

Spies’ Bedeutung und sein außergewöhnliches Talent lagen in seiner Offenheit, seinem Enthusiasmus als Erforscher, Förderer und zum Teil vehementer Propagandist der balinesischen Geschichte und Kunst. Er war ein perfekter Gastgeber sowie Tür- und Augenöffner für Touristen und Neuankömmlinge. Dass sein Ruf als Bali-Kenner denjenigen von Nieuwenkamp weit überflügelte, lag nicht nur daran, dass er zum richtigen Zeitpunkt auf der Insel ankam und dort viele illustre Gäste empfing und über die Insel führte, sondern auch an seiner einnehmenden Persönlichkeit. Bruce Carpenter, der die einzige Biografie Nieuwenkamps verfasste, bemerkte zudem – wohl nicht ganz zu Unrecht –, dass die holländischen Künstler als Teil des kolonialen Systems suspekter waren als der Deutsche Spies.47 Neben dieser sozialen Begabung und den vielfältigen Aktivitäten, also der Außenwirkung, die noch Thema sein wird, identifizierte sich Spies zudem stark mit Bali. Dafür sind seine Briefe aufschlussreich. Während der mehrmonatigen Untersuchungshaft 1939 schrieb er an seinen jüngeren Bruder Ljowa und legte in dem Schreiben ausführlich seine Verbundenheit mit Bali und die Gründe seiner Faszination dar. Er stellte ein eigentliches künstlerisches und lebensphilosophisches Credo dar: Das ganze Leben ist mir ein andauernder Geburtstag! Dies ist zweideutig! Erstens fühl ich mich jeden Tag immer wieder neu geboren, und zweitens ist mein Lebenstisch überladen von sich immer auswechselnden Geschenken, von denen die meisten ich mir selber gewünscht oder sogar selber geschenkt habe. Und es sind so viele der Herrlichkeiten, dass ich kaum Zeit finde, sie anzusehen oder damit zu spielen. […] Was kann ich dafür, dass mich der Ernst des Lebens nicht gern hat!? […] Und ich bejammere Menschen, die das Leben nicht leben, das Leben nicht spielen! Wie selten ist jemand zufrieden mit seinem

Die Insel in ihm

Leben, wirklich zufrieden und tut nicht nur so! Die meisten arbeiten nicht aus Lebenslust, sondern aus Lebensnot; man rackert sich ab, die Zeit verfliegt, ein Tag, viele Tage, eine ­Woche; man ist müde und hat keine Kraft mehr, das zu tun, wozu man Lust hätte, und dann kommt das ‚Wochenend‘: man geht ins Kino, in die Bierstube oder irgendwo weit weg, um das ‚Leben zu vergessen‘, um sich auszuruhen vom ‚Leben‘. Und so ists bei uns geworden, dass Theater, Concerte, Musea, Kunst überhaupt und die liebe Natur nur eine Belohnung sind für das mühselige Leben! Etwas außerhalb des Lebens Stehendes.

Und weiter: […] für einen Balinesen, und dies durch seine Primitivität, Unverdorbenheit und Naturnähe, ist das Leben die herrliche, heilige Tatsache; die Religion ist lebendig und ist da, um das Leben zu lieben und leben zu lehren, und die Kunst ist lebendig und ist da, um die Heilig­keit des Lebens zu preisen. Kunst ist hier nicht außerhalb des Lebens und des ­Glaubens! Es gibt nicht Kunst als Kunst, als Nachspeise und Lutschbonbon, das man schnell in den Mund stopft als Abwechslung und Erleichterung, um das sonst so ungenießbare Leben zu vergessen! […] Darum kann beinah jeder Balinese malen, beinah jeder ­tanzen oder im Gamelan spielen, ebenso wie er im Reisfeld arbeitet oder die Schweine füttert. Und eine Frau macht mit derselben Selbstverständlichkeit die phantastischen Kunstwerke an Opfern für den Tempel oder webt die herrlichsten Goldbrokate, wie sie Kinder gebärt, kocht oder mit der Nachbarin zankt. Alles ist eins, und es ist Leben, und es ist heilig!48

Spies’ Beschreibung der balinesischen Einheit von Kunst und Leben erinnert stark an die Schilderungen in Gregor Krauses Bali-Buch. Die Betonung der Untrennbarkeit der Lebensbereiche erscheint zugleich vormodern, utopisch und antikapitalistisch. Sie befand sich, wie bereits erwähnt, im Einklang mit vielen zeitgenössischen Bewegungen. Die Suche nach einer Verbindung von Kunst und Leben war ein zentrales Moment verschiedener Avantgarde­ bewegungen, nicht nur in der Kunst. So fanden sich auf dem Monte Verità bei Ascona Künstler, Dichter, Tänzer, Anarchisten und Exzentriker ein, um mit neuen Formen des Lebens, der Kunst und der Gemeinschaft zu experimentieren. Während die neue Form der Gemeinschaft dort von Künstlern erst geschaffen werden musste, sahen Krause und Spies diese auf Bali bereits realisiert. Spies’ Suche war jedoch höchst individuell, sie war kein Programm respektive keine Bewegung, sondern ein privates Unternehmen. Walter Spies empfand sich dabei als Teil Balis, wie er immer wieder ­äußerte. In ähnlicher Weise beschrieb die Journalistin und Tanzkritikerin Claire Holt in ihren Erinnerungen die Affinität zwischen dem Künstler und der balinesischen Kultur: „Did Spies bring to the island within him that sense of just being and not of either becoming or achieving, which are the mainsprings of Western man?“49 Spies kam nach Bali, um sich dort selbst zu finden, und nicht zuletzt die Umgebung, die ihm entsprach. Er identifizierte sich mit ihr ähnlich stark, wie dies Gauguin mit Tahiti getan hatte. Er hatte

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wie dieser einen Sonderstatus und nahm eine privilegierte, aber auch prekäre Position ein. Durch seine künstlerischen Interessen und seine Affinität zur balinesischen Kultur unterschied er sich von den meisten holländischen Händlern und Kolonialbeamten. Er suchte die Nähe zur javanischen und balinesischen Kultur und hatte sich bereits auf Java von einheimischen Herrschern anstellen lassen, was außergewöhnlich war. Durch seine engen Beziehungen zu Einheimischen war er bereits vor seiner Verhaftung angreifbar für die Kolonialbehörden. Von Vorteil – bei der einheimischen und kolonialen Gesellschaft  – war jedoch seine russische, großbürgerliche Herkunft, etwa die Erfahrung der Gemeinschaft eines Großhaushalts, die Spies aus Russland kannte. Durch seine Flexibilität und Empathie gelang es ihm, eine tiefere Beziehung zur balinesischen Gesellschaft aufzubauen, als dies Gauguin auf ­Tahiti gelungen war, doch war auch dieses Verhältnis nicht ohne Widersprüche.

Das lebendige Museum. Die „Balinisierung“ Balis Als Europäer blieb Spies trotz seiner Nähe zur balinesischen Kultur ein Fremder auf der Insel, der sich zwischen den verschiedenen Welten bewegte. Wie andere, ähnlich gesinnte Forscher war er Teil eines „aufgeklärten“ und „ethischen“ Kolonialismus, der sich für die Bewahrung und Weiter­entwicklung der balinesischen Kultur einsetzte. Von vielen holländischen Kolonialbeamten wurde er mit Argwohn betrachtet, denn er kritisierte die holländischen Behörden, wenn auch weniger vehement als Gauguin, der die französische Kolonialverwaltung auf Tahiti und den Marquesas-Inseln immer wieder ­attackiert hatte (die christliche Mission – oft ein Ziel von Gauguins Angriffen  – spielte auf Bali eine untergeordnete Rolle, sie wurde von den meisten Holländern sogar abgelehnt). Wiederholt arbeitete Spies jedoch auch mit holländischen Beamten und Forschern zusammen. Die Kollaborationen hatten mal ideelle, mal finanzielle Gründe. Die Projekte waren mehrheitlich offizielle, staatlich geförderte Aufträge. Spies agierte dabei nicht primär als Künstler, sondern als Experte, Forscher und Vermittler, und sein primäres Ziel war es, das Wissen über die balinesische Kultur und die Bewahrung deren Authentizität zu fördern. Im Zentrum der ersten dieser Projekte stand die Vermittlung des Reichtums der balinesischen Kultur und Geschichte. Dazu zählte zunächst die Erstellung eines Reiseführers. Im Vergleich mit den früheren Publikationen der KPM und des Tourismusbüros richtete das 1928 auf Holländisch und auf Englisch unter dem Titel The Island of Bali. Its Religion and ­Ceremonies erschien,

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einen vertiefteren Blick auf Balis Kultur.50 Der Text stammte von dem holländischen Philologen Roelof Goris, der 1926 kurz nach seinem Doktor­examen nach Batavia gereist war, wo er im Auftrag des Archäologischen Dienstes für ­ oris nach Bali die altjavanesischen Inschriften zuständig war. 1928 wurde G versetzt, wo er bis 1939 blieb und über die balinesische Kultur forschte und publizierte.51 Die sechzig Fotografien im Buch stammen allesamt von Walter Spies. Anders als bei Krause lag der Fokus ganz auf der balinesischen Hochkultur: Die Aufnahmen zeigen opulente Zeremonien, Kleider und Tempel. Bali erscheint als eine reich geschmückte Welt voller Ornamente und Riten, Fotos von nackten Badenden, die in Krauses ­Publikation so dominant waren, fehlen gänzlich. Ursprünglichkeit wird nicht durch Nacktheit und Naturnähe der Menschen gezeigt, sondern in der Unverfälschtheit ihrer alten Kultur. In ihrem Stil war die Publikation informativ und wissenschaftlich und dabei weniger schwärmerisch als der Bestseller Island of Bali des mexikanischen Künstlers Miguel Covarrubias, der 1937 erschien.52 Die balinesische Religion und Hochkultur waren auch das Thema von Schulpostern, die Spies entwarf. Die Idee der Poster stammte von dem holländischen Archäologen W. F. Stutterheim, der einen Survey der balinesischen archäologischen Zeugnisse erarbeitete, und die Bilder entstanden in enger Zusammenarbeit mit ihm. Um die Monumente und Quellen zu studieren, unternahmen Spies und Stutterheim eine gemeinsame Forschungsreise nach Ostund Zentraljava. Spies fertigte zahlreiche Skizzen und Vorzeichnungen für die aufwendigen Szenen an. Doch die Entstehung der Poster verlief langsam und stockend, immer wieder gab es Unterbrechungen oder Rückschläge, etwa als Spies’ Affen – er hatte eine ganze Menagerie im Haus – ein fast fertiggestelltes Poster zerrissen. 1932 gab Spies das Projekt auf, weil er, wie er in einem Brief an Stutterheim schrieb, mit den Reproduktionen unzufrieden war, aber vermutlich spielte auch eine Rolle, dass das Projekt zu zeitaufwendig war.53 Von den geplanten zwölf Historiendarstellungen sind nur drei entstanden: Hofleven op Java vóór duizend jaar (Hofleben in Java vor tausend Jahren), Desaleven vóór duizend jaar, ten tijde van Baraboedoer (Dorfleben vor tausend Jahren, zur Zeit Borobodurs) und Een kluizenarij uit de elfde eeuw (Eine Einsiedelei aus dem elften Jahrhundert, Abb. 48), alle aus dem Jahr 1930.54 Zwar sind die detailreichen Szenen naturalistischer, sie weisen jedoch einige Verwandtschaft mit Spies’ Gemälden auf, insbesondere die Darstellung des Einsiedlers im Dschungel, den die umgebende üppige Natur zu dominieren scheint. In den anderen zwei Gemälden stehen die Tätig­keiten der Menschen im Zentrum. Besondere Lebendigkeit erhalten die historischen Szenen – wie oft in Spies’ Gemälden und Fotografien – durch die dramatische Gestaltung der Licht- und Schatteneffekte, die den Werken ­einen

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Abb. 48  Walter Spies, Einsiedler des 11. Jahrhunderts in einem Felsentjandi, Entwurf für ein Schulplakat (Ausschnitt), 1930, Öl auf Leinwand, 65 × 82 cm, Collection of the Presidential Palace of the Republic of Indonesia

plastischen, fast filmischen Charakter verleihen. Die Arbeit an den Postern und die Zusammenarbeit mit Stutterheim beförderten Spies’ Interesse an der Archäologie und Geschichte Balis. In der Folgezeit nahm er an weiteren ­archäologischen Expeditionen teil, unter anderen 1931 mit K. C. Crucq während der Drehpausen des Films Insel der Dämonen. Obwohl das Schulposterprojekt scheiterte, hielten die Kontakte mit den holländischen Behörden an und Spies war weiteren Aufträgen nicht abgeneigt. So hoffte er, zusammen mit balinesischen Tänzern und Musikern an der Exposition coloniale internationale teilnehmen zu können, die 1931 in ­Paris stattfand. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise konnte oder wollte die holländische Regierung seine Reise jedoch nicht finanzieren. Auch ein weiterer Auftrag der KPM verlief im Sand. Die Gesellschaft hatte vor, sich von Spies am malerischen Bratan-See eine Hotelanlage im balinesischen Stil bauen zu lassen. Spies fertigte einige Skizzen an, doch das Projekt zerschlug sich

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Abb. 49  Walter Spies, Das Bali-Museum in Denpasar, um 1937

ebenso wie der Auftrag, vier Schulen auf Bali zu entwerfen. Stattdessen konkretisierten sich 1931 die lang gehegten Pläne für ein Museum in Denpasar im Süden Balis. Bereits 1910 hatte W. F. J. Kroon, der Kontrolleur Südbalis, mit dem Architekten und deutschen Entdecker Curt Gründler ein ethnologisches Museum in der Form eines Tempels geplant. Das 1925 errichtete Gebäude besaß den Charakter eines Open-Air-Museums mit temporären Ausstellungen. Eine permanentere Form und finanzielle Unterstützung erhielt das Bali-Museum erst 1932, auch weil klar geworden war, dass durch den Tourismus immer mehr Kunstwerke außer Landes gelangten. Spies wurde als Konservator berufen und stiftete für das Museum, das beschränkte finanzielle Mittel hatte, seine private Sammlung und setzte sich für andere Schenkungen ein. Zudem suchte er auf Reisen durch Bali nach weiteren Kunstwerken und Alltagsgegenständen. 1937 umfasste die Sammlung bereits 2000 Objekte. Im Oktober 1937 war Spies – nach einigem Zögern – auch in den Kongress involviert, den das holländische Java Institut Bali widmete und der auf der Insel stattfand. Er koordinierte die Tänze und Musikdarbietungen, trat in einem Gamelankonzert auf und führte die Kongressteilnehmer durch das Museum. In den Kongressakten erschien ein Bericht über die Entstehung des Bali-Museums mit seinen Fotos (Abb. 49).55

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Spies hegte ferner Pläne für ein Naturhistorisches Museum auf der I­ nsel und sah den Weg dorthin über ein Aquarium. Die Idee dazu entstand in der Folge eines Treffens mit den deutschen Brüdern Hans und Rolf Neuhaus, die bemalte Gipsmodelle von Fischen und anderen Meerwesen herstellten und verkauften. Zusammen gründeten sie ein Aquarium in Sanur, in der Nähe von Denpasar. Für die australische Forscherin Joyce Allan suchte Spies in den Korallenriffen nach Mollusken, Würmern, Stachelhäutern und Schwämmen und entdeckte dabei neue Arten. Bevor die Tiere nach Australien geschickt wurden, fertigte Spies wissenschaftliche Aquarelle an, die an den Wänden des Aquariums hingen. Diese naturkundlichen Studien waren aber nur ein Neben­strang der vielen Unternehmungen von Spies. Weit intensiver und folgenreicher waren seine Bemühungen im Bereich der balinesischen Kunst, für das Bali-Museum und die Zusammenarbeit mit dem Maler Rudolf Bonnet. Bonnet war auf Anregung von W.  O.  J. Nieuwenkamp, den er in Italien kennengelernt hatte, 1929 nach Bali gekommen.56 Er lebte in Ubud, wo er sich intensiv für die lokalen Künstler einsetzte, deren Werke er sammelte, aber auch für Bildung und Gesundheit. Wie Spies war Bonnet involviert in die Gründung der Künstlervereinigung Pita Maha (dt.: Großer Geist) im Jahr 1936, die bis 1942 existierte. Ein zentrales Ziel von Pita Maha war die Quali­ tätskontrolle für die wachsende Zahl der von balinesischen Künstlern geschaffenen Werke, die die Touristen als Souvenirs kauften. Durch die Zertifizierung des Verbands konnten die Künstler bessere Preise verlangen. Der Verband, insbesondere Bonnet, organisierte zudem Ausstellungen auf Bali, Java und im Ausland, um ihre Werke bekannter zu machen. Im Bali-Museum führte Rudolf Bonnet von 1933 bis 1937 zudem einen Ausstellungs- und Verkaufsraum für balinesische Kunst. Die Vereinigung umfasste rund 130 Mitglieder, im Vorstand, der auch die Aufnahme von Mitgliedern bestimmte und Werke begutachtete, waren zwei Balinesen, der Punggawa Cokorda Gde Raka Sukawati (der aber meist durch seinen Bruder Cokorda Gde Agung Sukawati vertreten wurde) und der Künstler I Gusti Nyoman Lempad. Zum Vorstand gehörten zudem Rudolf Bonnet und Walter Spies (bis 1938), die somit nicht nur die Vermittlung und Erforschung der balinesischen künstlerischen Vergangenheit förderten, sondern auch die lebenden, aktiven Künstler. Diese Förderung wurde später als Paternalismus oder „Touristenkunst“ skeptisch beurteilt. Die Ethnologin Hildred Geertz, die mit ihrem Mann ­Clifford Geertz in den 1950er-Jahren Forschungen auf Bali durchführte, schilderte sie als einseitige Beeinflussung: „These two modern Gauguins found Bali a delightful paradise, marveling at the ‚artistic genious‘ of the culture and reveling in its sensuousness and grace. They persuaded their Balinese acquaintances that they, too, could make paintings; provided the young peas-

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ants with paper, pen, and brushes; and later marketed their pictures to Western travelers to Bali. By the time Mead and Bateson arrived, this tourist art was well underway.“57 Zwar führte Spies Stowell zufolge Papier und Bleistift ein, was die Balinesen vorher nicht benutzt hatten. Es fällt jedoch schwer anzunehmen, dass die Beeinflussung wirklich so einseitig verlief und die Balinesen mit ihrer reichen künstlerischen Tradition derart passive Schüler waren. Zudem waren viele Künstler in Ubud keine einfachen Bauern, sondern stammten aus gebildeten Kasten. Ihre Väter waren für den Hof tätig gewesen, dessen Nachfolger als Käufer oder Auftraggeber nun europäische und amerikanische Reisende waren. Die These, dass Spies und Bonnet als reine Ausbeuter im Touristengeschäft fungierten, greift wohl zu kurz. Ihr genuines Ziel war nicht eigennützige Bereicherung, sondern die Förderung der balinesischen Kunst, wobei natürlich bei aller Wertschätzung und Einfühlung in die balinesische Kunst trotzdem europäische Wertvorstellungen mitwirkten; dazu gehört beispielsweise die Vorstellung von künstlerischer Individualität und Originalität, weshalb sie handschriftliche Signaturen der Werke verlangten.58 Sicher ist auch, dass ihre Ideen und Urteile großes Gewicht hatten. Spies und Bonnet unterstützten die balinesische Kunst, die sie als qualitätvoll erachteten. Die Preise ihrer eigenen Arbeiten übertrafen diejenigen der balinesischen Kunst jedoch. In seinem Kunstschaffen und in seiner Interpretation der balinesischen Werke war Bonnet noch traditioneller als Spies. Die Werke der Renaissance stellten für ihn die höchste Form der Kunst dar. Zugleich legte er Wert darauf, dass die balinesischen Künstler ihre Eigenständigkeit bewahrten und sich nicht an modernen westlichen Tendenzen orientierten. So sammelte er vor ­allem Werke, die dörfliche und religiöse Szenen ohne zeitgenössische Einflüsse zeigten und betonte den essenziell dekorativen (ornamentalen) Aspekt der balinesischen Kunst. Durch seinen täglichen Kontakt mit den Künstlern von Ubud und seinen Unterricht nahm er großen Einfluss auf ihre Kunst, etwa indem er die Wichtigkeit der Anatomie betonte. Spies hingegen war in seiner eigenen Kunst weniger traditionell, aber die Bewahrung von Balis Authentizität war ebenfalls sein Anliegen. Die Holländer betrachteten die Pita Maha mit Skepsis, doch letztlich operierte auch diese Vereinigung im Sinne der Holländer, indem sie das Bild der Insel als Ort der ursprünglichen Kultur, als lebendiges Museum beförderte. Die Zeit, in der Spies auf Bali lebte, fiel zusammen mit einer Phase der Retraditionalisierung der balinesischen Kultur und Gesellschaft, die von den holländischen Kolonialbehörden befördert wurde, auch aus Angst vor einem erstarkenden Nationalismus der Balinesen und kommunistischen Einflüssen. Die alten Königtümer und Dorfstrukturen wurden wieder eingesetzt – un-

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ter Kontrolle der Holländer.59 Als schädlich für die Balinesen abgelehnt wurden neben moderner Bildung und Sitten zudem fremde Religionen wie der Islam und, so meinten einige, auch das Christentum. Für diese Retraditionalisierung der Gesellschaft wurde der Begriff „Balinisierung“ („balinization“) geprägt, den der einheimische Historiker Ide Gde Ing. Bagus wie folgt definierte: „Balinization is this: the Dutch wanted us to be a living museum.“60 Auch Spies sah die höchste Aufgabe darin, die balinesischen Traditionen zu bewahren und zu befördern. Er war dabei kein Freund der Hybridisierung und der Vermischung von Kulturen. Den Einfluss der modernen, westlichen Zivilisation beschrieb er als Bedrohung, Verunreinigung und Degradierung. So hielt er 1936 in einem kurzen Aufsatz über die Musik auf Bali fest: Andererseits ist der unerfreuliche Einfluss der modernen Zeit mit ihrer lächerlich minderwertigen Importware an der Kleidung der Ausführenden zu beobachten. Schmutzige, stinkende Hemden, die nie gewaschen werden und so besonders unhygienisch sind, geschmacklose Sapoets in der Form van [sic] Handtüchern oder japanischem bedrucktem Kattun, und womöglich Tropenhelme oder sonstige unpassende europäische Kopfbe­ deckungen bilden neuerdings das Tanzkostüm einiger, während des Galoenganfestes von Dorf zu Dorf ziehender Tanztruppen.61

Das Paradies lag in der Vergangenheit und seine vermeintliche Rettung in der Autonomie bzw. Abschottung. Damit war er auf einer Linie mit den Holländern. So schrieb der holländische Resident H. T. Damsté 1924 – den Indologen Rouffaer zitierend, der Nieuwenkamp bei seiner ersten Bali-Reise unterstützt hatte: Let the Balinese live their own beautiful native life as undisturbed as possible! Their agriculture, their village life, their own forms of worship, their religious art, their own literature – all bear witness to an autonomous civilization of rare versatility and richness. No railroads on Bali; no Western coffee plantations; and especially no sugar factories! […] treat the island of Bali as a rare jewel that we must protect and whose virginity must remain intact.62

Spies’ Rolle als Bewahrer, Erforscher, Förderer und Vermarkter war damit inhärent ambivalent, was sich auch in seinen anderen Projekten zeigt, die nichts mit den holländischen Kolonialbehörden zu tun hatten.

„Traditional Balinese Culture“. Die Verbindung von Kunst, Film und Ethnologie

„Traditional Balinese Culture“. Die Verbindung von Kunst, Film und Ethnologie Walter Spies’ Haus wurde zum Treffpunkt auf Bali, und der Hausherr war nicht nur Gastgeber, sondern auch Ratgeber und Kollaborateur im Hinblick auf viele künstlerische und literarische Projekte über die Insel. In den 1930er-Jahren expandierte der „Bali-Circle“: Spies beherbergte wohlhabende und berühmte Reisende wie die Schauspieler Charlie Chaplin und Ruth Draper, den bereits erwähnten Autor und Schauspieler Noël Coward, den Komponisten und Liedtexter Cole Porter und die reichen Erbinnen ­Barbara Hutton und Laura Corrigan. Dazu kamen eine Vielzahl von Künstlern, Musikern, Filmemachern, Fotografen, Ethnologen und Schriftstellern, die durch Bali zogen oder sich dort fest niederließen. Für sie fungierte Spies als erste Adresse, um eine Einführung in die balinesische Kultur zu erhalten. Oft verbanden den Gastgeber und die Besucher gemeinsame Interessen in der Malerei, Musik, Fotografie, Film und Ethnologie, die rasch in formelle oder informelle Kollaborationen mündeten. Mit der Unterstützung von Spies respektive in Zusammenarbeit mit ihm entstand eine Flut an Bildern und Erzählungen über Bali. Mit seinem Talent für prägnante Formulierungen schrieb Adrian Vickers: „In his fifteen years contact with Bali he was a primary catalyst in the image making process.“63 Spies wollte die Kultur Balis bewahren, doch er machte die Insel in den 1930er-Jahren auf eine kultivierte Art chic und „sexy“: Bali erschien als exotischer, kulturell einzigartiger und zugleich glamouröser Ort. Spies opened Balinese studies beyond the narrower spectrum of official Dutch ethnography (interesting enough in its own right) devoted to encyclopedic documentation of temple types, customary law, land rights, and ‚archeologizable‘ art. Spies helped direct an entire generation, some of it ‚lost,‘ to issues of performance and the interrelation of the arts. He never challenged Dutch ethnographic and administrative authority; rather he provided a richly peripheral alternative vantage point.64

Spies’ Fokus richtete sich auf das ganze Spektrum der Künste in Bali. Als ­Maler arbeitete er alleine, während bei seinen Kollaborationen insbesondere der Tanz eine zentrale Rolle einnahm. Die elaborierten balinesischen Tänze, Dramen und Festivals – der Kampf zwischen Rangda und Barong, der dämonischen Hexe und dem löwenartigen Drachen, Legong, der Tanz der jungen Mädchen, und Kecak, der „Affentanz“ – basierten auf traditionellen mythologischen Erzählungen. Sie wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Teil modernisiert und übten auf Forscher und Touristen gleichermaßen eine große Faszination aus. In der Erforschung und Dokumentation der Tänze arbeitete Spies in den 1930er-Jahren mit der englischen Tänzerin, Tanzforscherin und

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Abb. 50  Walter Spies, Rangdas aus einem Barong, Pagoetan, Bali, 1937, Fotografie

Abb. 51  Walter Spies, Balinesische Tänzerinnen während des Rejangtanzes, Tenganan, Bali, 1936, Fotografie

„Traditional Balinese Culture“. Die Verbindung von Kunst, Film und Ethnologie

Übersetzerin Beryl de Zoete zusammen, die Anfang 1936 nach Bali kam und 15 Monate auf der Insel verbrachte. Dort lebte sie im Gästehaus, das Spies für den zweiten Besuch von Barbara Hutton errichtet hatte. Für das gemeinsame Buch Dance and Drama in Bali entstanden viele fotografische Aufnahmen von Tänzen und dramatischen Aufführungen (Abb. 50, 51).65 Gemeinsam unternahmen sie Reisen auf der Insel, um Tanzdarbietungen und feierliche Zeremonien zu besuchen. Das 1938 erschienene Buch enthält Fotografien von beiden. Auch andere Forscher widmeten sich dem balinesischen Tanz, so die eingangs zitierte Ethnologin Jane Belo und die Journalistin und Tanzkritikerin Claire Holt, die 1930 gemeinsam mit Gela Archipenko, die Spies aus der Dresdner Zeit kannte, nach Bali gekommen. Sie lebten in Spies’ Haus, unternahmen gemeinsame Reisen, und Holt begann, die balinesischen Tänze zu erforschen.66 Tanz ist auch zentral in Vicki Baums Roman Liebe und Tod auf Bali, der zudem eine ausführliche Schilderung des Puputan von Badung enthält.67 Die erfolgreiche Schriftstellerin war 1935 nach Bali gekommen und verbrachte eine Woche bei Spies. Im folgenden Jahr kam sie zurück, begleitet von dem Tänzer und Fotografen Fritz Lindner sowie dem Maler und Journalisten Walter Dreesen, um die Arbeit an ihrem Buch zu beginnen, das 1937 auf Deutsch und Englisch erscheinen sollte. Walter Dreesen seinerseits hielt seine Erlebnisse und Beobachtungen im Reisebuch Hundert Tage auf Bali fest, Lindner steuerte die Fotografien bei.68 Baum schrieb die Rohfassung ihres Romans in den vier Monaten, in denen sie bei Spies wohnte. Für ihr Buch recherchierte Spies über die holländische Eroberung und den Puputan von Badung des Jahres 1906 und nahm Korrekturen am Manuskript vor. Baum plante überdies, einen Roman über Spies zu schreiben, den sie aber nicht beendete. Ende der 1920er-Jahre wurde Bali auch zum Thema und Drehort von mehreren Spielfilmen. Die Bali-Filme waren Teil des sich herausbildenden Genres der Inselfilme, die Exotik, Abenteuer, Romantik und Erotik miteinan­der verbanden. Sehr häufig spielten sie auf Tahiti oder Bali. Manche der Filme fokussierten auf die Erlebnisse von westlichen Abenteurern, andere mehr auf das (Liebes-)Leben der „primitiven“ Gesellschaften („romantic primitivism“).69 Als eine der frühesten Produktionen entstand 1928 W. S. Van Dykes Film White Shadows in the South Seas (dt.: Weiße Schatten), der auf den Marquesas-Inseln spielte und auf Tahiti gedreht wurde. Ursprünglich war auch Robert O. Flaherty, der erfolgreiche Regisseur der Dokumentarfilme Nanook of the North (1922) und des auf Samoa gedrehten Spielfilms Moana. A Romance of the Golden Age (1926), in die MGM-­ Produktion involviert, verließ sie aber vor der Fertigstellung. O’Flaherty arbeitete ebenfalls an Friedrich Wilhelm Murnaus letztem, auf Bora Bora und Tahiti entstandenem Film Tabu (1931) mit.

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Den ersten ethnologischen Dokumentarfilm über Bali, Leichenverbrennung und Einäscherung einer Fürstenwitwe (1926), drehte der Holländer W. Mulles. Im Jahr darauf folgte der Spielfilm Calon Arang, in dem neben einer Liebesgeschichte auch die mythische dämonische Hexe Rangda und Tänze mit dem Kris, dem traditionellen gekrümmten Dolch, vorkamen, die beide den exotischen und bedrohlichen Aspekt der Insel unterstrichen. In die folgenden Filme über die Insel war Walter Spies, der durch seine Beziehung zu Murnau Erfahrungen in der Filmwelt gesammelt hatte, direkt involviert. Was diese Bali-Filme von anderen Filmen unterscheidet, die mehrheitlich auf oberflächliche, exotisch-erotische Spektakel setzten, war die intensive Zusammenarbeit mit balinesischen Tänzern und anderen Mitwirkenden sowie die Qualität der Tanzszenen. 1928 begannen der Amerikaner André Roosevelt und der Belgier Armand Denis mit den Dreharbeiten zu Goona Goona (auch The Kris genannt). Roosevelt war in den 1920er-Jahren als Agent für Thomas Cook und American Express tätig gewesen, als diese auf Bali ­Büros etablieren wollten. Sein Film Goona Goona erzählte die Geschichte eines Prinzen und eines Arbeiters, die beide die gleiche Frau lieben, die Dienerin Dasnee. Weil das ursprüngliche Filmmaterial im Labor in Surabaya zerstört worden war, konnte der Film erst 1932 erscheinen. Diese zweite Version trug nun den Titel Goona Goona: An Authentic Melodram of the Isle of Bali und Spies war nicht mehr direkt beteiligt. Nach seinen Angaben stammten jedoch die Idee und das Drehbuch von ihm und er hatte auch die Schauspieler ausgewählt. Stärker involviert war Spies in Victor von Plessens und Friedrich Dahlheims Film Insel der Dämonen, der 1931 gedreht und 1933 uraufgeführt ­wurde.70 Der Film war eine Gemeinschaftsarbeit von Spies, von Plessen, Dahlheim, dem Kameramann Hans Scheib, und auch Spies’ ­Cousin Conrad war beteiligt. Spies stellte sein Haus während der Dreharbeiten zur Verfügung, wählte die Drehorte, baute den Kontakt zu den Balinesen auf und war verantwortlich für die Auswahl der Tänze und ihre Choreo­grafie. ­Insel der Dämonen verband dokumentarische Aufnahmen von Tänzen, so dem Barong-­ Tanz, dem dramatischen Kecak-Tanz oder Hahnenkämpfen, mit ­einer Liebesgeschichte zwischen I Wajan, dem Sohn der Dorfhexe, und der Kaufmannstochter Sari. In einem Brief an seine Mutter betonte Spies den unheimlichen Aspekt des Films, der Schwarze Magie, Trance, Träume, Exorzismus und Besessenheit zeige und in seinem magischen Realismus an russische Filme jener Zeit erinnere.71 Der Film enthielt spektakuläre Aufnahmen von Tänzen, die in der Nacht gedreht wurden. Besonders dramatisch war der Kecak-­Tanz, den 50 bis 100 Männer tanzen und der bis heute zu den Touristenattraktionen Balis

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zählt. Er basiert auf dem alten Trancetanz s­anghyang und entstand erst um die 1930er-Jahre in der neuen Form, an der Tänzer I Wayan Limbak, Spies und die Tänzer aus dem Dorf Bedulu beteiligt ­waren.72 Das Genre der exotisch-erotischen Inselfilme erwies sich als äußerst publikumswirksam. So entstanden 1932 Isle of Paradise von Charles T. Trego und 1935 Legong: Dance of the Virgins unter der Regie von Henri de la Falaise und Gaston Glass, der in Zweifarben-Technicolor gedreht wurde, Tanz­szenen enthielt und einer der letzten in Hollywood produzierten Stummfilme war. Auch hier vermittelte Spies Kontakte zu einheimischen Mitwirkenden. Aber ebenso unterstrich der Film die Verbindung von Bali und gewagter Nacktheit, die die folgenden Hollywoodfilme kennzeichneten und die dazu führten, dass goona goona in den USA ein Slangausdruck für Sexappeal wurde. So unterschiedlich – inhaltlich und qualitativ – diese Filme sind, sie romantisieren oder „mythologisieren“ die Südseeinseln alle. So schrieb bereits der französische Filmkritiker und -theoretiker André Bazin: „Von Moana (Moana, Sohn der Südsee), einer fast noch rein ethnografischen Reportage, über White Shadows in the South Seas (Weiße Schatten) bis Tabu ist deutlich zu verfolgen, wie der abendländische Geist eine Zivilisation ausstattet und interpretiert und sich eine Mythologie herausbildet.“73 Die Filme waren eine Form der Popularisierung, die letztlich wenig mit Spies’ sonstigen Intentionen und Interessen zu tun hatte. Nach ihnen war Spies in keine weiteren Filmproduktionen mehr involviert, sein Interesse an balinesischen Tänzen und Musik verfolgte er stattdessen in ethnologischen Studien. Vor Romantisierung und Projektionen war auch die Ethnologie nicht ganz gefeit. Bereits die Holländer hatten neben linguistischen und archäologischen Forschungen auch ethnologische Studien auf Bali betrieben. In den 1930er-Jahren weckte die Insel zudem das Interesse von amerikanischen und englischen Ethnologen. Im März 1936 kamen Margaret Mead und Gregory Bateson, die sich während ihrer Forschungen auf Neuguinea kennengelernt hatten, auf Anregung von Jane Belo auf die Insel und sollten dort fast drei Jahre verbringen.74 Teilweise finanziert von dem amerikanischen Committee on Dementia Praecox, war ein Ziel des Aufenthalts, den Umgang mit Schizophrenie und anderen psychischen Erkrankungen zu erforschen. Spies half Mead und Bateson am Anfang auf Bali Fuß zu fassen, und gemeinsam besuchten sie viele Tänze, Kremationen und andere Zeremonien.75 Neben ihren Forschungen sammelten Mead und Bateson auch Kunstwerke und Artefakte, die sie beschrifteten und kommentierten. Dazu kamen über tausend Gemälde, vor allem aus Batuan, wo sie zeitweise lebten.76 Doch wie für Spies waren insbesondere Fotografie und Film für die Ethnologen als Forschungsgrundlage zentral. Dabei spielte – anders als bei Spies – auch die

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Abb. 52  Gregory Bateson/Margaret Mead, Plate 57 „Trance: Attack on the Self“ aus: Balinese Character. A Photographic Analysis, 1942

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Quantität eine Rolle. Bateson und Mead fertigten eine große Zahl von Fotos und zudem Filmaufnahmen an. Meist war Bateson für die Foto- und Filmaufnahmen verantwortlich, während Mead Notizen machte. So entstanden rund 25 000 dokumentarische Fotografien, die die Grundlage ihrer Publikationen Balinese Character. A Photographic Analysis und Growth and Culture: A Photographic Study of Balinese Childhood bildeten (Abb. 52).77 Dazu kamen Rollen mit über zwölf Stunden 16-mm-Filmmaterial. Zwei Tanzaufführungen daraus, die Bateson und Mead 1937 und 1939 in Auftrag gegeben hatten, bildeten später die Basis des Films Trance and Dance in Bali (1952), der 1953 durch den amerikanischen Fernsehsender CBS ausgestrahlt wurde. Mit den auf Bali entstandenen Filmen und Fotos wurden Mead und Bateson zu Pionieren der Verwendung von (Film-)Bildern in der ethnologischen Forschung.78 Die formalen und inhaltlichen Unterschiede zu Spies’ Fotografien sind deutlich. Spies fokussierte auf Kunst sowie Tanz und unterstrich die poetische und dramatische Wirkung seiner Fotografien durch den Einsatz von Lichtund Schatteneffekten. Auch bei Bateson und Mead waren Tanz und ­Ritual wichtig, ebenso jedoch der dörfliche und familiäre Alltag und insbesondere Kinder. Bateson hatte einen dokumentarischen, keinen künstlerischen Anspruch. In seinen den Filmaufnahmen spielten zudem Unvorhersehbarkeit, Zufall und Nichtintentionalität eine große Rolle.79 In den nachfolgenden Publi­kationen strukturierten Bateson und Mead die Fotos nach taxonomischen Kriterien, die Vergleiche und ihre Interpretationen be­legen und verdeutlichen sollten, insbesondere in der 1942 erschienenen Publikation ­Balinese Character, wo etwa die Interaktionen zwischen Müttern und Kinder anhand der Fotografien interpretiert wurden.80 Die Texte beschrieben die fotografischen Versuchsanordnungen mit Angaben über Kamera und Fotomaterial sehr detailliert. Die Bilder sollten die innere Verwandtschaften ganz unterschiedlicher Ereignisse veranschaulichen: In this monograph we are attempting a new method of stating the intangible relationships among different types of culturally standardized behaviour by placing side by side mutually relevant photographs. Pieces of behavior, spacially and contextually separated – a trance dancer being carried by a procession, a man looking up at an airplane, a servant greeting his master at a play, the painting of a dream – may all be relevant to a single discussion; the same emotional thread may run through them.81

Manche Illustrationen, die „Pathosformeln“ in Fotografien und Kunstwerken verglichen, erinnern an Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas. Mead und Bateson betonten in ihren Forschungen die von ihnen wahrgenommene geringe emotionale Reaktionsfähigkeit der Balinesen und das anscheinende Fehlen von starken gefühlsmäßigen Bindungen. Sie beschrieben zudem ihr statisches

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Zeitempfinden, was die Stabilität der balinesischen Gesellschaft fördere.82 Die Tänze und insbesondere Trancezustände interpretierten sie als eine Art Ventil für unterdrückte Aggressionen und Frustrationen. Aufgrund ihrer Forschungsmethoden und ihrer apolitischen Einschätzungen der balinesischen Gesellschaft wurden Bateson und Mead später von anderen Ethnologen kritisiert.83 Doch das ist hier zweitrangig. Interessant ist die große damalige, auch öffentliche Wirkung, und dass das Verhältnis der beiden Ethnologen zu Bali zwiespältig war. Bateson schrieb 1938 in einem Brief: „The Bali show was a great success – as far as anthropology is concerned, but they left us and we left them without either side very much attached. It’s like trying to make friends with beautiful gazelles. They are beautiful and move beautifully. And they are gay in a light gentle way. I think it is physically the most lovely place I have been in – but somehow, what of it?“84 Meads Einschätzung der balinesischen Psychologie floss auch in die Verteidigungsrede ein, die 1939 zu Spies’ Gerichtsverhandlung vorgelesen wurde, der im Jahr zuvor wegen Homosexualität und Unzucht mit Minderjährigen angeklagt worden war. In ihrem „Background Statement on Homosexuality“ versuchte sie nicht, Spies’ Homosexualität und seine Kontakte zu negieren, sondern sie in der lokalen Kultur zu verankern. Es gebe einen „rare special artist type to which Walter Spies belongs by birth, and to which most Balinese belong by social training and many by birth.“ Sie unterstrich die tiefe Affinität zwischen ihm und Balis Bewohnern, die auf offenen, warmherzigen, aber unverbindlichen Beziehungen und wenig Aggressivität und Besitzdenken basierten: „He came to Bali and found a people whose personality type was like his own, who would accept him easily and casually, give him affection without demands, leave him free to do his work.“85 Meads Interpretation war das Verteidigungsstatement für einen Angeklagten, mit dem sie freundschaftlich verbunden war. In ihren oben zitierten wissenschaftlichen Publikationen hatte sie nüchternere Worte für die emotionale Indifferenz der Balinesen gefunden. In den populäreren Veröffentlichungen stimmte sie jedoch in den Chor von schwärmerischen Beschreibungen der Insel mit ein, so auch im Rückblick in Belos Buch Traditional Balinese Culture. 1942, im Jahr, in dem ihr Buch Balinese Character erschien, wies sie Balis Gesellschaft sogar Modellcharakter zu. So schrieb sie in einem Zeitungsartikel: „The people in Bali are wonderfully balanced. If the plan of society were as well founded everywhere as it is in Bali, this would be a far better world.“86 Binnen weniger Jahrzehnte hatte sich das Bild der Insel vollkommen gewandelt: Die unbezwingbarsten, kriegerischsten Bewohner der Region waren zu den friedliebendsten geworden, und Bali war die bezaubernde, ursprüng­ liche, quasi zeitlose oder überzeitliche Insel, die so bleiben sollte, wie sie nie war.

Lanzarote. Zurück in die Zukunft

Wohl auf keiner Insel kommen sich Kunst und Tourismus so nahe wie auf Lanzarote. Ein großer Teil der Insel bildet eine gleichermaßen touristische wie künstlerische, poetisierte Landschaft. Das Beispiel der Kanarischen I­ nsel demonstriert den beträchtlichen Einfluss, den eine individuelle künstlerische Initiative nehmen kann, wenn die Rahmenbedingungen günstig sind; sie zeigt aber auch die Grenzen, an die sie selbst dann stößt. Lanzarote erscheint zunächst als ein unwahrscheinlicher Ort für Inselsehnsüchte. Die karge, trockene Landschaft hat nichts mit einer Idylle und mit konven­ tionellen Vorstellungen eines insularen Paradieses gemein. Aus dem ­Fenster eines anfliegenden Flugzeugs betrachtet, gleicht Lanzarote eher e­ iner Mondlandschaft, besteht die Insel doch in weiten Teilen aus flachen oder bizarr geformten dunklen, manchmal fast schwarzen Lavafeldern und ­Vulkanen. Als ich 2008 einen Urlaub auf Lanzarote verbrachte, war ich sehr beeindruckt von dieser einzigartigen und oft menschenleeren dunklen Landschaft. Eine weitere Entdeckung jener Reise waren die Orte, die der auf Lanzarote geborene Künstler César Manrique an verschiedenen Stellen auf der Insel gestaltet hatte. Zwischen 1968 und 1990 entstand an der Steilküste im Norden der Insel der Aussichtspunkt Mirador del Río, der einen atemberaubenden Blick auf die Meerenge und die Nachbarinseln bietet; außerdem die begeh­ baren Räume im von Lava gebildeten Höhlensystem Jameos del Agua, die ­einem Gesamtkunstwerk aus Natur, Architektur, Design und Kunst ­gleichen, sowie weitere, von Manrique in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Architekten gestaltete Orte (Abb. 53, 54). César ­Manrique entwarf insgesamt acht große Anlagen auf der Insel, die sich alle mehr oder weniger explizit an Touristen richten. Dazu kommt das Wohnhaus des Künstlers in ­einem Lava­ anrique feld im Zentrum der Insel, das heute der Sitz der Fundación César M ist. Der letzte von Manrique gestaltete Ort ist der Jardín de Cactus, ein Kakteengarten in Guatiza, der 1990 entstand. Daneben gibt es Skulpturen im öffent­lichen Raum auf Lanzarote sowie als Spätwerke Bauten auf anderen Inseln wie zwei Miradores (Aussichtspunkte) auf den Kanarischen Inseln

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Abb. 53  César Manrique, Mirador del Río, 1973, Lanzarote, Aussicht aus dem Restaurant

Abb. 54  César Manrique, Mirador del Río, 1973, Lanzarote, oberste Aussichtsplattform

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El Hierro und La Gomera, die 1989 bzw. 1990 gebaut wurden (der Mirador del Río auf Lanzarote entstand bereits 1973). Manriques Werke umfassen Aussichtspunkte, Restaurants, Wohnhäuser, begehbare Höhlensysteme sowie Gärten, die sich in die Landschaft und ihre von Vulkanen gebildeten Naturformen einfügten und diese zugleich inszenieren. Die Bauten wurden direkt in die Lavahöhlen und -felder sowie Felsformationen der Umgebung an- und eingepasst, sodass die architektonischen und skulpturalen Formen mit der Landschaft zu verschmelzen scheinen. Außen wie innen wirken sie fast wie Erweiterungen, Eingrabungen oder Ausstülpungen der natürlichen Umgebung. Diese enge Verbindung von Architektur und Landschaft manifestiert sich auch im Material: Die Wände bestehen oft aus Vulkangestein, das sowohl im Außen- wie auch im Innenraum sichtbar ist. Die Bauten besitzen dabei eine eigene Ästhetik, die an die Futurismus und Archaismus verbindenden organischen Formen erinnert, die in den 1960er-Jahren in Architektur und Film gleichermaßen populär waren. So lassen einige von ihnen an Ken Adams spektakuläres Filmset für den JamesBond-Film You Only Live Twice (1967) denken, in dem die Residenz des Bösewichts Blofeld in einen japanischen Vulkan eingebaut war. Die Suche nach Informationen über den Künstler und seine Werke, das allgemeine Nachdenken über Inseln in der Kunst sowie das Interesse, den Gründen meiner eigenen Inselfaszination nachzugehen, bildeten den Anfang dieses Buches. Warum meine Freunde und ich Lanzarote als Urlaubsort gewählt hatten, ist dabei am einfachsten zu begründen. Zwar ist die Insel heute ein beliebtes Reiseziel, aber die viertgrößte der Kanarischen Inseln ist immer noch weniger bekannt und weniger stark von der touristischen Infrastruktur geprägt als Teneriffa oder Gran Canaria, wo die touristische Entwicklung bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat.1 Für Touristen, die Natur, Schönheit – und Ursprünglichkeit! – suchen und um große Ferienresorts lieber einen Bogen machen, ist die Insel deshalb heute attraktiver. Auf Lanzarote kam der Tourismus erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Die touristische „Verspätung“ rührt von der abgelegenen Lage und den unwirtlichen Bedingungen der Insel her. Ihre Beliebtheit als Reiseziel verdankt sie wesentlich der Kontrolle des Tourismus und dem Umgang mit der einmaligen Vulkanlandschaft, die beide zu einem wesentlichen Teil auf César Manrique zurückgehen. Der Künstler ist in mehrfacher Weise eine Ausnahme im Kontext dieses Buches. Zum einen wurde er auf Lanzarote geboren, ist also ein Insulaner und kein von außen, vom Festland Kommender. Dadurch dass Manrique kein Fremder war, konnte er auf ein etabliertes Beziehungsnetz zurückgreifen, was viele seiner Projekte überhaupt erst möglich machte. Doch wie viele

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Inselbewohner führten ihn seine Ausbildung und Arbeit zunächst von der Insel weg. Er wanderte auf die größere Nachbarinsel aus und von dort nach Madrid und New York, wo er sich erfolgreich als internationaler Künstler mit einer Galerievertretung etablieren konnte. 1966 kehrte Manrique nach Lanzarote zurück. Seine Rückkehr kann als Rückzug aus dem aufgeheizten zeitgenössischen Kunstbetrieb interpretiert werden. Sie belegt auch eine enge Verbindung mit der Insel, die auch auf dem Festland und in den USA nie ganz abgebrochen war. Und sie besitzt, wie noch zu zeigen sein wird, sowohl Aspekte einer romantischen Selbststilisierung als auch der Vermarktung und des gesellschaftlichen und politischen Engagements. In Manriques Auseinandersetzung mit der Insel sollten sich Kunst, praktische Intervention und Politik verbinden. Es gibt zudem verschiedene Verbindungen zu anderen Künstlern in diesem Buch: Wie Spies ist er eher eine Randfigur der Kunstgeschichte, wie Gauguin identifizierte er sich mit der Insel, und er war ein begnadeter Selbstdarsteller wie Curzio Malaparte. Seine enge Verbindung zu Lanzarote findet sich durchgehend, sowohl in seiner Kunst als auch in seiner Person, in eigenen Zeugnissen und bei anderen ­Autoren. Die Betonung der außerordentlich engen Beziehung zu seiner insulären Herkunft geht bis in die Anfänge der Rezeption seiner Kunst zurück, in der er noch abstrakte Bilder malte. So schrieb der amerikanische Kritiker John Bernard Myers in 1966 in der Zeitschrift Art International: In the case of Manrique we have to do with an artist who would not let go his own nostalgia, the dark, black ineffably beautiful landscape of his birthplace in the Canary Islands, Lanzarote. With him the color black and other deep shades have solely the justification of memory, the madeleine dipped in tea, the Proustian excitement of the Past, a specific place remembered; Manrique availed himself of a memory of the black lava, the frightening, dry desiccated lunar landscape of his childhood.2

Bis heute kommt – ähnlich wie bei Spies und Bali – kein Reiseführer über Lanzarote ohne einen ausführlichen Eintrag über Manrique aus. Er selbst war es, der das Bild des freien, den gesellschaftlichen Zwängen wenig verpflichteten Künstlers pflegte. Er arbeitete an einem Künstlermythos der ursprünglichen Naturnähe, die sich am besten auf Lanzarote entfalten konnte. Immer wieder betonte er die Wirkung der Insel auf seine Kunst und seine tiefe Verbundenheit mit der Landschaft, bis hin zu Fotografien, die ihn nackt über Lavafelder gehend oder vor schroffen Felsen posierend zeigen: Aufnahmen, die gleichermaßen für Naturnähe und Ursprünglichkeit stehen sollten wie für die Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen (die in jener Zeit in Spanien rigide waren, insbesondere auf den Kanarischen Inseln). Doch besitzt Manriques Rückzug auf die Insel auch eine andere Komponente. Er bot die Möglichkeit der gesellschaftlichen Einmischung, die über

Vulkanismus und Tourismus. Die frühen Inselbilder

den verhältnismäßig engen Kreis der Kunstwelt hinausreichte. Anders als Gauguin auf Tahiti oder das zeitlich nähere Beispiel von Walter Spies auf Bali war Manrique kein gesellschaftlicher Außenseiter und Zivilisationsflüchtling, der sich aus der modernen Welt zurückziehen wollte und sich nolens volens mit den Verhältnissen und Veränderungen vor Ort arrangierte. Auch wenn Manrique sich auf die Tradition und die Natur bezog, tat er dies sehr bewusst im Hinblick auf die touristische Entwicklung seiner Heimat. Er versuchte politischen Einfluss zu nehmen und den Ausbau mitzugestalten. Der Künstler hatte dabei keine Berührungsängste mit Initiativen und Inszenierungen, die explizit im Dienst des Tourismus standen und den Rahmen, den die Kunstwelt bot, in verschiedene Bereiche erweiterte. Er betätigte sich als Lobbyist und arbeitete eng mit der Politik und multinationalen Großkonzernen zusammen. Neben seinen Bauten verfasste Manrique zudem Manifeste für den Erhalt der Insel und entwarf das Logo für Lanzarote, die als einzige ganze Insel 1993 zum UNESCO-Biosphärenreservat erklärt wurde. Er wandelte sich vom reinen Maler zum Architekten, Designer und Lobbyisten wurde dabei ein „man of the world“, wie es Allan Kaprow 1964 in einem Text in der Zeitschrift Art News gefordert hatte.3 Durch diese Kollaborationen wurde Lanzarote zu einer Insel, der es weitgehend gelang, ihre Landschaft als touristische Attraktion zu positionieren, ohne diese zu zerstören. Sie tat dies, indem sie in einer wirkungsvollen Verbindung von Kunst und Politik ihre Schwäche – nämlich die verzögerte touristische Entwicklung – zu ihrer Stärke umdeutete. Allerdings war ­Manrique in diesem Bestreben nicht alleine, es gab für diese Verbindung von Schutz und Ästhetisierung der Natur, insbesondere der Vulkanlandschaft, sowie der Bewahrung der lokalen Traditionen in Kombination mit künstlerischen Innovationen auch Vorläufer.

Vulkanismus und Tourismus. Die frühen Inselbilder Für die Festlandeuropäer war Lanzarote zunächst als strategischer und als Handelsstützpunkt von Bedeutung, erst viel später folgte das Interesse an der Landschaft. Es waren dabei nicht die Künstler, sondern die Naturforscher, die mehrere Jahrhunderte lang das Bild der Insel geprägt oder die Insel überhaupt erst näher beschrieben haben. Anders als die großen Mittelmeerinseln lagen die Kanarischen Inseln bis in die Mitte des 19. Jahrhundert abseits der Touristenströme. Zwar waren sie in der Kunst nicht unbekannt und wurden in der Literatur erwähnt, es zirkulierten jedoch nur wenige Bilder der Inseln, die bei den antiken Autoren den westlichen Rand der bekannten Welt bilde-

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ten. Die Griechen und Römer vermuteten auf einer der Inseln die Gärten der Hesperiden oder das Elysion, die Insel der Seligen. Auch insulae fortunatae (glückselige Inseln) genannt, galten sie als wunderbare, paradiesische Orte, wenngleich ihr genaues Aussehen und ihre Lokalisierung sehr verschwommen am Horizont lagen. Noch Plinius der Ältere, der die Kanarischen Inseln im sechsten Buch seiner Naturkunde (Naturalis Historiae) beschrieb und ihre Entdeckung dem mauretanischen Herrscher Juba II. zuschrieb, bekannte, dass Nachrichten aus dieser Weltgegend höchst unsicher seien. In der Neuzeit erreichte der Genuese Lancelotto Malocello am Beginn des 14. Jahrhunderts Lanzarote, das nach ihm benannt wurde. Erstmals dargestellt wurde die Insel 1339 im Portolan des Mallorquiners Angelino ­Dulcert.4 Lanzarote war auch die Kanarische Insel, die einige Jahrzehnte später als Erste von den Spaniern erobert wurde, die die Ureinwohner, die ­Guanchen oder Majos, umbrachten bzw. versklavten. Als westlichste und nördlichste der größeren Kanarischen Inseln bildete sie in der Folge einen Handelsstützpunkt und Ausgangspunkt für die Erschließung Afrikas. Sie blieb aller­dings ein exponierter und gefährdeter Ort, sei es wegen der regel­mäßigen Piratenüberfälle, vor denen die Inselbewohner in den weitverzweigten vulkanischen Höhlensystemen Schutz suchten, oder wegen der Naturge­walten selbst. Lanzarote ist diejenige der sieben großen Kanarischen Inseln, auf der der vulkanische Ursprung am deutlichsten zu Tage tritt. Das liegt auch daran, dass die jüngsten Vulkanausbrüche, die das Aussehen weiter Teile der Insel geprägt haben, nur wenige Jahrhunderte zurückliegen. Zwischen 1730 und 1736 fand eine Reihe starker Eruptionen statt. Während weniger Jahre entstanden so 32 neue Vulkane, die Montañas del Fuego (Feuerberge), und der Lavastrom bedeckte ein Viertel der Gesamtfläche, dort wo sich heute der ­Timanfaya-Nationalpark befindet. Die Vulkanausbrüche des 18. Jahrhunderts und ein weiterer Ausbruch 1824 waren die vorläufig letzten Phasen der sich über einen Zeitraum von 15 Millionen Jahre erstreckenden vulkanischen Aktivitäten auf Lanzarote, durch welche die verschiedenen Teile der Insel geformt wurden. Sie bildeten neben den Vulkanausbrüchen auf Island die größten der jüngeren Zeit. So rückte die Insel in den Fokus der Geologen und Vulkanologen, die sich über die Theorien der Entstehung der Vulkane und Gesteine stritten.5 Nachdem sich die Reisepläne mit dem Tahiti-Heimkehrer Louis ­Antoine de Bougainville und anderen zerschlagen hatten, machten auch der Natur­ forscher Alexander von Humboldt und sein französischer Begleiter Aimé Bonpland zu Beginn ihrer großen Südamerika-Reise auf den Kanari­ schen Inseln Station. Im Juni 1799 hielten sie sich für sechs Tage dort auf, und ­Humboldt beschrieb ausführlich in seinen verschiedenen, in mehreren

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S­ prachen erschienenen Reiseberichten die Geschichte, das Klima, die Landschaften, Städte, Fauna und Flora der Inseln, insbesondere Teneriffas, und stellte Spekulationen über ihre Entstehung an.6 Humboldts Interesse galt nicht ausschließlich der Naturforschung, er hatte auch den Auftrag zu überprüfen, ob die Engländer weiterhin die Reede von Santa Cruz auf Teneriffa blockiert hielten. Zudem waren die Inseln die traditionelle Anlegestation für Reisen nach Übersee, eine oft beschriebene „große Karawanserei auf dem Weg nach Amerika und Indien“.7 Lanzarote selbst betrat Humboldt nicht. Vom Schiff aus konstatierte er jedoch die markanten Spuren der damals siebzig Jahre zurückliegenden Vulkanausbrüche: „Alles ist schwarz, dürr, von Dammerde entblösst.“8 Bei der Betrachtung des Archipels fühlte er sich an die Urzeit erinnert: „Gleich den Trümmern eines gewaltigen Gebäudes stiegen Basaltfelsen aus dem Wasser empor. Ihr Daseyn mahnte uns an die weit entlegene Zeit, wo unterseeische Vulkane neue Inseln emporhoben oder die Festländer zertrümmerten.“9 Auf der Nachbarinsel Graciosa gelandet, schrieb er: „Ganz unbeschreiblich das Gefühl des Naturforschers, der zum erstenmal einen außereuropäischen Boden betritt.“10 Für Humboldt waren die Kanarischen Inseln ein Vorbote respektive der Beginn der neuen Welt: Teneriffa, gleichsam an der Pforte der Tropen und doch nur wenige Tagesreisen von ­Spanien, hat schon ein gut Teil der Herrlichkeiten aufzuweisen, mit der die Natur die Länder zwischen den Wendekreisen ausgestattet. Im Pflanzenreich treten bereits mehrere der schönsten und großartigsten Gestalten auf, die Bananen und Palmen. Wer Sinn für Naturschönheiten hat, findet auf dieser köstlichen Insel noch kräftigere Heilmittel als das Klima. Kein Ort der Welt scheint mir geeigneter, die Schwermut zu bannen und einem schmerzlich ergriffenen Gemüte den Frieden wiederzugeben, als Teneriffa und Madeira.11

Der Forscher verglich die Insellandschaft mit einem harmonisch aufgebauten Gemälde.12 Besonders interessierte sich Humboldt auch für den Vulkanismus. Er bestieg und untersuchte den Teide, auch Pic genannt, den höchsten Berg der Inseln, dessen markante Form vor ihm schon andere Forscher fasziniert hatte, und gelangte bis zum Boden des Kraters.13 Radierungen im 1810 erschienenen Atlas pittoresque und im Atlas géographique et physique du nouveau continent von 1814 zeigen den Vulkan, die Pflanzen, die auf ihm wachsen, und den Krater.14 Humboldt stellte zudem fest, dass Teneriffa in Reiseberichten bereits ausführlich beschrieben worden war, die übrigen Inseln jedoch für die Natur­ geschichte ein ungeheures brachliegendes Feld darstellten. Im 19. Jahrhundert häuften sich dann die Berichte und geologischen Analysen und – zum Teil sehr kontroverse – Hypothesen über ihre Entstehung. Der Fokus lag dabei meist auf den Kanarischen Inseln als Ganzes und weniger auf einer indi-

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viduellen Insel. So verfasste der Humboldt-Schüler Leopold von Buch zahlreiche Publikationen über die Inseln, unter anderem 1825 die Physikalische Beschreibung der Canarischen Inseln mit Augenzeugenberichten der Vulkanausbrüche des vorausgehenden Jahrhunderts.15 Von Buch hatte sich von der Theorie des Neptunismus ab- und dem Plutonismus zugewandt, wobei die Inseln Kronzeugen seiner These der „Erhebungskrater“ wurden, nach der alle Vulkane durch unterirdischen Druck des Magmas entstanden waren, was zu Aufwölbungen führte oder zur Bildung von Caldera (Einsturzkrater), ein Begriff, den er prägte (wie später auch den Begriff Leitfossilien). Wenig später publizierten der englische Botaniker Philip Barker Webb und der französische Naturforscher und Ethnologe Sabin Berthelot die neunbändige Histoire Naturelle des Iles Canaries, die zwischen 1835 und 1845 erschien. Webb prägte den Begriff Makaronesien (Insel der Glückseligen) für die vulkanischen Inseln des Atlantiks, zu denen er auch die Azoren, Madeira und die Kapverdischen Inseln zählte. Auch der britische Geologe, Freund und Förderer Darwins und Verfasser der einflussreichen Principles of Geology (1830) Charles Lyell reiste 1853/54 nach Madeira und auf die Kanarischen Inseln, wo ihn nicht nur die Geologie, sondern wie Darwin und Wallace die Eigentümlichkeit der dort vorgefundenen Fauna faszinierte.16 Bei der Reise begleitete ihn der Deutsche Geologe Georg Hartung, der noch 1854 die Publikation Die geologischen Verhältnisse auf den Inseln Lanzarote und Fuerteventura verfasste (Abb. 55). Vom Geologen Karl von Fritsch stammen schließlich die Reisebilder von den Canarischen Inseln (1867), und zwischen 1888 und 1890 bereiste der österreichische Mathematiker und Physiker Oskar Simony die Inseln und machte zahlreiche fotografische Aufnahmen. Doch wurde davon nur die Liste in den Annalen des K. K. Naturhistorischen Hofmuseums publiziert.17 Die wissenschaftlichen Zeichnungen, Radierungen und geologischen Karten in den früheren Publikationen richteten sich vor allem an ein Fachpublikum, denn für die Entwicklung der modernen Geologie waren die Inseln annähernd so bedeutsam wie der Vesuv in der Nähe von Neapel. Als mit Erzählungen, Bildern und Träumen gesättigter Sehnsuchtsort oder als attraktive Reisedestination waren die Kanarischen ­Inseln jedoch in keiner Weise mit Tahiti oder dem Golf von Neapel vergleichbar. Lanzarote war dabei von besonders geringem Interesse, wenn, dann richtete sich der Fokus auf Teneriffa oder Gran Canaria. Zu den Künstlern, für die die Kanarischen Inseln zumindest eine kurze Wegstation waren, zählt der deutsche Landschafts­maler ­Eduard Hildebrandt. Dank der Unterstützung von Humboldt, mit dem er freundschaftlich verbunden war, und des preußischen K ­ önigs ­Friedrich ­Wilhelm IV. konnte der Maler 1844 nach Süd- und Nordamerika reisen. Auf der Fahrt dorthin zeich-

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Abb. 55  „La Cueva de los Verdes“, aus: Georg Hartung, Die geologischen Verhältnisse auf den Inseln Lanzarote und Fuerteventura, 1854, Radierung

nete er vom vorbei­segelnden Schiff aus Madeira und Teneriffa.18 Nachdem er Hofmaler des ­Königs geworden war, besuchte er 1848/49 Madeira und die Kanarischen Inseln. Dabei entstanden 200 Aquarelle, die mehrheitlich in den Besitz des preußischen Königshauses kamen. Der 1817 in Danzig geborene Maler war äußerst reise­freudig: Es folgten weitere Fahrten in den fernen ­Osten bis nach Singapur, China und Japan.19 ­ Hildebrandt hielt sich 19 Tage auf den Kanarischen Inseln auf und besuchte Gran Canaria und Teneriffa, wo er vom ­Orotava-Tal aus den Pic zeichnete. Besonders angetan hatte es ihm aber Madeira, das er als den „angenehmsten Aufenthaltsort“ der Welt bezeichnete, an dem er würde leben wollen, „aber mit meinen Berliner Freunden“.20 Nicht nur das Klima und die

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Schönheit der Landschaft behagten ihm: „Ich bin ganz glücklich wirklich ein Land (eine Insel) gefunden zu haben, die meinem Wunsch und Geschmack in Hinsicht des Malerischen entspricht und was mir sehr lieb ist, noch gar nicht ausgebeutet von Künstlern.“21 Als seine von der Reise inspirierten Werke im Frühjahr 1850 in Berlin erstmals ausgestellt wurden, fanden seine intensiv leuchtenden „Madeirabilder“ oder „Sonnenbilder“, wie sie auch genannt wurden, nicht nur Anklang beim König, sondern auch beim Publikum, selbst wenn einige Traditionalisten, den „derben, körperlichen, compacten Farbauftrag“ kritisierten.22 Es ist zu vermuten, dass noch weniger Künstler die Kanarischen Inseln als Madeira „ausbeuteten“. Noch immer wurden die Inseln vor allem von Handelsreisenden oder Wissenschaftlern besucht. Angezogen wurden die übrigen Reisenden, die wie Hildebrand den Weg auf die Inseln fanden, von der landschaftlichen Schönheit des Orotava-Tals und des Teide auf ­Teneriffa, aber auch vom ganzjährig milden Klima, in dem sich Kranke erholen konnten.23 Die Gesamtzahl der Besucher blieb aber bis in die 1930er-Jahre überschaubar (sie lag bei rund 7000–8000 pro Jahr).24 Die 1920er- und 1930erJahre waren jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Einerseits florierte die lokale Kunstszene, insbesondere auf Teneriffa um den 1925 gegründeten Circulo de Bellas Artes de Tenerife und die Zeitschrift Gaceta de Arte. Zudem begannen sich einflussreiche Avantgardekünstler mit den Inseln auseinanderzusetzen. Einheimische Künstler kehrten aus dem Ausland zurück, der Tourismus nahm zu, wenngleich in den 1930er-Jahren aufgrund der Weltwirtschaftskrise auch hier die Zahlen vorübergehend einbrachen. Die Beziehungen und Initiativen waren vielfältig: Um den Tourismus zu fördern, verfasste der deutsche Honorarkonsul Jacob Ahlers, Eigen­tümer ­einer Privatbank, 1925 einen Reiseführer. 1931 finanzierte er zudem einem seiner Angestellten eine dreimonatige Reise nach Europa. Eduardo Westerdahl war nicht nur Kassierer in Ahlers’ Bank, sondern auch Kunstkritiker und Kurator. 1925 hatte er den Circulo de Bellas Artes de Tenerife mitbegründet und wirkte in den 1920er-Jahren als Chefredakteur der Wochen­zeitung ­Hespérides. In Europa knüpfte Westerdahl Kontakt zu vielen Künstlern, unter anderem am Bauhaus in Dessau, und besuchte Theateraufführungen. Nach seiner Rückkehr gründete er mit Freunden die Gaceta de Arte und organisierte Ausstellungen. Dazu gehörte insbesondere 1935 eine große Ausstellung surrealistischer Kunst in Santa Cruz de Tenerife. An dieser nahm nicht nur der 1906 auf Teneriffa geborene und in Paris lebende surrealistische Maler Óscar Domínguez Palazón teil, sondern auch André Breton. Im Mai 1935 war Breton mit Jacqueline Lamba und Benjamin Péret nach ­Teneriffa gereist, wo sie gemeinsam den Teide bestiegen. Die litera-

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rische Frucht der Expedition publizierte Breton im Juni 1936 in der Zeitschrift Minotaure mit Zeichnungen von Max Ernst unter dem Titel „Le ­château étoile“.25 1937 nahm er den Text in den Roman L’amour fou auf. In ­Bretons schwindelerregender bildhafter Schilderung des Aufstiegs verbindet sich die Beschreibung der Landschaft mit einem ekstatisch-erotischen Diskurs, in dem es um Lust und Gewalt, die Zukunft der Liebe ebenso wie um ein vergangenes, aber in der Natur immer noch präsentes Goldenes Zeitalter geht. Die Landschaft am Vulkan selbst erscheint als erotisch aufgeladen und gleicher­maßen bedrohlich wie verführerisch. Durch die Surrealistenausstellung und die Rezeption Bretons fand die Insel Eingang in die Wahrnehmung der internationalen künstlerischen Avantgarde. Jedoch hatte sich einige Jahre zuvor bereits ein anderer Schriftsteller, der dem Surrealismus nahestand, auf die Suche nach einer poetischen Deutung der Nachbarinsel Lanzarote gemacht. 1929 verfasste Agustín Espinosa die Erzählung Lancelot–Lanzarote 28° 7°. Der auf Teneriffa geborene Schriftsteller und Dichter war 1928/29 als Professor für spanische Literatur und Sprache an eine höhere Schule in Arrecife, der Hauptstadt der Insel, be­ adrid rufen worden. Er hatte bereits eine Beziehung zu Lanzarote, denn in M hatte er eine Doktorarbeit über einen der berühmtesten Gelehrten der I­ nsel verfasst: José Clavijo y Fajardo, der bereits Goethe zu seinem Trauer­spiel ­Clavigo (1774) inspiriert hatte. Entgegen seinem Titel war Lancelot–­Lanzarote 28° 7° mehr als ein Reise­ führer zur Insel. Wie Homer Griechenland oder Vergil Rom wolle er Lanzarote nicht nur beschreiben, sondern neu erschaffen, schrieb Espinosa: „Mi intento es el de crear un Lanzarote nuevo. Un Lanzarote inventato por mi.“26 Er unternahm eine eigentliche Poetik der Insel, die er mit einem Seepferdchen verglich, das seinen Kopf nach Afrika richtete. Sein Held war nicht wie bei Homer und Vergil Odysseus oder ­Aeneas, sondern – aufgrund der Namensverwandtschaft – der mittel­alter­liche Held Lancelot. Seine Beschreibung der Insel sollte einer poetischen Landkarte gleichen, die durch die Verbindung mit klassischen Inselmythen das Eiland „homerisierte“ und „mediterraneisierte“.27 Dabei imaginierte Espinosa auch eine touristische Zukunft für die Insel, in der die Gesellschaft Pro Turismo die Grabstätte ­Lancelots pflegen und ihm ein Museum widmen würde. Als Erzählung ist Lancelot–­Lanzarote 28° 7° schwer einzuordnen; da sie auch nie in andere Sprachen übersetzt wurde, blieb die Ausstrahlung des Texts eingeschränkt. Einen erheblichen Einfluss auf die breitere Wahrnehmung der Kanarischen Inseln hatte jedoch ein anderer Künstler: der 1887 auf Gran Canaria geborene Néstor Martín-Fernández de la Torre, kurz Néstor. Nach Aufenthalten in verschiedenen europäischen Städten hatte er wie der Surrealist

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Óscar Domínguez Palazón seinen Hauptwohnsitz in Paris, wo er einen von Füssli und Böcklin beeinflussten, etwas schwülstigen symbolistischen Malstil pflegte. Zu Beginn der 1930er-Jahre kehrte er in seine Heimat Gran Canaria zurück und entwickelte vielfältige Initiativen zur Förderung des Tourismus durch die Betonung, Neubelebung bzw. Neukonstruktion der kanarischen Kultur. Diese umfassten architektonische Entwürfe ebenso wie folkloristische Darbietungen und den Verkauf von lokalen Produkten. Néstor erwarb eine Kirche, die ein permanentes Museum für seine Werke werden sollte, und entwarf mit seinem Bruder, dem Architekten Miguel Martín-Fernández de la Torre, ein „authentisches“ kanarisches Dorf in Las Palmas (heute befindet sich dort das 1956 eröffnete Museo Néstor). Er schuf darüber ­hinaus eine kanarische Einheitstracht und wollte, dass die Touristen mit lokalen ­Bräuchen unterhalten und bei ihrer Ankunft in typischer Tracht und mit Früchten sowie Blumen begrüßt würden.28 Für seine Visionen prägte er die Begriffe ­tipismo (Typismus) und regionalismo (Regionalismus). Néstor strebte die Schaffung einer insularen Identität an, die ihre Eigenständigkeit betonen und dabei den Tourismus fördern sollte. Der Künstler starb bereits 1938, doch sein Dorf und seine Initiativen, die sich auf lokale Traditionen bezogen und diese für die Reisenden umformten, wurden Teil der touristischen Folklore und haben bis heute Bestand. Gleichwohl war die Pflege bzw. Umformung lokaler Folklore nur ein Aspekt der touristischen Entwicklung. In den folgenden Jahrzehnten wurde Teneriffa insbesondere im südlichen Teil selbst umgeformt, als nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Zeichen der besseren Verkehrsverbindungen und des Massentourismus immer mehr Besucher kamen. Dies geschah nicht nur durch den Bau von großen Hotel- und Apartmentanlagen während ­eines Baubooms um 1970, sondern auch durch Interventionen in die Landschaft selbst, bei denen nicht nur Agrarland überbaut, sondern in Küstennähe ­Felsen weggesprengt und der Strand statt mit lokalem schwarzen mit weißem Sand aus der Sahara aufgeschüttet wurden. Zusätzlich grub man Becken ins Meer, um das gefahrlose Baden zu ermöglichen, oder pflanzte Palmen in Strandnähe. Diese Veränderungen bestimmen trotz der zum Teil folgenden Gegenmaßnahmen das Bild des südlichen Teneriffas bis heute. Anders liegt der Fall auf Lanzarote, wo der Tourismus später ankam.

César Manrique: „Vulkanischer Barock“

César Manrique: „Vulkanischer Barock“29 Aufgrund der relativen Abgelegenheit ohne Flughafenanschluss, der fehlenden Infrastruktur und dem herrschenden Wassermangel war Lanzarote bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts keine Touristendestination. Die Erschließung der Insel begann erst in den 1950er-Jahren, als ein staatliches Touristenhotel (Parador de Turismo) in der Hauptstadt Arrecife und nahe davon, in ­Guacimeta, ein kleiner Flughafen gebaut wurden.30 Dass die touristische Entwicklung auf Lanzarote einen anderen Weg nahm als auf den anderen Kanarischen Inseln, lag nicht nur an dem Künstler César Manrique. Eine andere wichtige Figur war der lokale Politiker José (Pepín) Ramírez Cerdá. Der Rechtsanwalt war Bürgermeister von Arrecife und wurde 1960 Präsident des Cabildo Insular (Inselrates), der höchsten Verwaltungsstelle der ­Insel. ­Ramírez war ein Jugendfreund Manriques – und beide waren 1919 in ­Arrecife geboren worden. Zusammen leisteten sie Militärdienst und nahmen aufseiten der Nationalisten am Spanischen Bürgerkrieg teil. Manrique wurde allerdings später zum Antimilitaristen und sprach über seine Kriegserlebnisse nicht. Die Politik der Zeit ist hier nur am Rande Thema, doch es scheint, dass die Inseln mehrheitlich konservativ waren, aber während der Diktatur auch gewisse Freiheiten hatten. Beeinflusst vom spanischen Bildhauer Pancho Lasso interessierte sich Manrique bereits früh für moderne abstrakte Kunst und wollte selbst Künstler werden. Auf Wunsch seines Vaters begann er 1939 ein Architektur­ studium an der Universität La Laguna auf Teneriffa, das er nach einem Jahr abbrach, um sich ausschließlich der Malerei zu widmen. 1942 hatte er eine erste kleine Ausstellung in Arrecife. Mithilfe eines Stipendiums zog er 1945 nach ­Madrid und begann ein Studium an der Real Academia de Bellas Artes de San ­Fernando, das er 1950 abschloss. Seine Vorbilder waren Pablo Picasso, Henri Matisse und Georges Braque, wobei er selbst in seinen frühen Werken einen realistischen akademischen Stil pflegte. Er kam früh zu öffentlichen Aufträgen auf seiner Heimatinsel. 1950 schuf er Wandgemälde für das neue Touristenhotel Parador de Turismo in Arrecife, welche die Landschaften Lanzarotes und traditionelle Szenen des Insellebens wie Weinlese und Fischfang zeigen. Die Menschen sind darauf in traditioneller Kleidung oder antikisierender Nacktheit gezeigt, wobei die voluminösen Beine und Füße ihre Verwurzelung im heimischen Boden zu symbolisieren scheinen. 1953 entstanden weitere Landschaften und Szenen Lanzarotes mit Kamelen, Vulkanen und Palmen für den neu eröffneten Flughafen. Im selben Jahr entdeckte Manrique die abstrakte Malerei für sich, die in jenen Jahren in der traditionellen spanischen Kunstwelt noch wenig ver-

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Abb. 56  César Manrique in seiner Ausstellung in der Galerie Catherine Viviano, New York, 1966, Fotograf unbekannt

breitet war. Er begann mit Farben – insbesondere Rot und Ocker –, Zeichen, Linienmustern und Materialien zu experimentieren und zeigte 1954 erstmals abstrakte Bilder in der Madrider Galerie Clan. Zudem betonte er die Oberflächenstrukturen der Bilder und raute sie auf, indem er Marmorstaub in die Acrylfarben mischte. Diese Farbtöne ebenso wie die aufgerauten plastischen Oberflächenstrukturen wurden in der Kritik schnell mit den geologischen Schichten der Lava-Landschaften Lanzarotes in Verbindung gebracht. Manrique selbst betonte die Verbundenheit mit der heimatlichen Landschaft, aber auch die nichtillustrative Eigenständigkeit der Auseinandersetzungen: „Trotz meiner Begeisterung für die Natur kann mir nicht daran gelegen sein, sie nachzuahmen. Ich fühle mich ihr verbunden und habe dabei den Wunsch, meine Empfindungen mit ­eigenen Vorstellungen auszudrücken, genauso, wie Kline seine Relation zur Stadtlandschaft dargestellt hat.“31 Und 1955 schrieb er: „die erde kann eine gute sentimentale Stütze bieten, aber die Kunst reicht heute über solche naiven Naturreferenzen weit hinaus. Was mich betrifft, entnehme ich der Landschaft meiner Heimat nicht die Architektur, sondern ihren dramatischen Ausdruck, ihre Essenz; das ist es, was wirklich wichtig ist.“32 Manrique zeigte nach dem Abschluss seines Studiums zunächst kein Interesse, dauerhaft auf seine Heimatinsel zurückzukehren, die seinen künstle-

César Manrique: „Vulkanischer Barock“

Abb. 57  César Manrique, Tobas (­Tuffsteine), 1966, 150 × 133 cm

rischen Ambitionen wohl nicht genug Raum bot. Als Maler konnte er rasch internationale Erfolge vorweisen. Fünf Jahre nach Abschluss seines S­ tudiums nahm er 1955 sowohl an der 28. Biennale von Venedig als auch an der 3. ­Bienal Hispanoamericana de Arte auf Kuba teil. 1959 folgte die Teilnahme an der Gruppenausstellung La jeune peinture espagnole, die nach einer ersten Präsentation im Musée d’art et d’histoire in Fribourg durch weitere Stationen in Europa tourte und deren Ausstellungsplakat ein Werk Manriques zeigte.33 Während die meisten der ausgestellten Künstler aus Barcelona und Madrid stammten, war er neben Manolo Millares, der in Las Palmas geboren wurde und zeitweise auf Lanzarote lebte, der Einzige von den Inseln. Manriques Werke gelangten auch in internationale Sammlungen, und ein amerikanischer Sammler seiner Werke, Nelson Rockefeller, lud Manrique zu einem Aufenthalt in New York ein. Ein weiterer entscheidender Grund für die Reise über den Atlantik war neben dem wachsenden internationalen Erfolg der Tod seiner langjährigen Partnerin Pepi Gómez. Jedenfalls verließ Manrique Madrid und siedelte 1964 nach New York über, wo er in der angesehenen Catherine Viviano Gallery in der 57. Straße ausstellen konnte (Abb. 56). Er begann mit dem neuen Medium der Collage zu experimentieren und, nachdem er vorher seinen Werken keine Titel gegeben hatte, diese mit typischen Begriffen seiner Insel wie „Jameo“ (altes Wort für Höhle) oder „Geria“ (ein Gebiet auf Lanzarote) oder „Golfo“ zu bezeichnen (Abb. 57).

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Es scheint, dass der Aufenthalt in New York für Manrique ambivalent war: Einerseits begeisterten ihn die Freiheit und Dynamik der Stadt, die seit einigen Jahren das Zentrum der Kunstwelt war. Manrique setzte sich auch mit den neuen Kunstrichtungen wie der Pop-Art auseinander. Zugleich sehnte er sich nach seiner Heimat zurück. Santana zitiert einen Tagebucheintrag aus jenen Jahren: „Ich habe keine andere Landschaft kennengelernt, die von den Möglichkeiten her mit Lanzarote vergleichbar wäre. Ihr Licht und ihre Farbe haben eine unerklärliche Anziehungskraft, die vielleicht mit ihrer nackten Reinheit zu tun hat. Meine Gedanken kreisen stärker denn je um die Insel. Ich glaube, dass dort meine wahrheit ist.“34 1968 kehrte Manrique endgültig nach Lanzarote zurück, wo er bereits seit 1966 wieder mehrheitlich gelebt hatte. Diese Entscheidung hatte auch Einfluss auf seine internationale Karriere, denn seine Galeristin Catherine Viviano bestand aus Verkaufsgründen auf seine regelmäßige Präsenz in New York, bis die Zusammenarbeit 1969 endete. Manrique beabsichtigte damals, in Tahiche mit den befreundeten Künstlern Pepe Dámaso, Alberto Greco und Manolo Millares eine Künstlerkolonie aufzubauen. Das Vorhaben ließ sich letztlich nicht realisieren, vor allem aufgrund von Uneinigkeiten der Künstler. Erfolgreicher waren jedoch die anderen Unternehmungen Manriques auf Lanzarote. Nach seiner Rückkehr begann er sich stark mit der Landschaft und den offensichtlichen Veränderungen durch die touristische Entwicklung der Insel auseinanderzusetzen, wozu sein eigenes Interesse an der Landschaft wohl ebenso beitrug wie die offensichtlichen Transformationen, die der Touris­mus in jenen Jahren auslöste. Viele dieser Neuerungen waren von den politischen Entscheidungsträgern auf Lanzarote gewünscht und gefördert. Als Präsident des Inselrats begann sich Manriques Kindheitsfreund José Ramírez Cerdá stark für die touristische Entwicklung einzusetzen, für die nach einem Besuch des spanischen Fremdenverkehrsministers Manuel Fraga ­Iribarne mehr Geld als vorher zur Verfügung gestellt wurde. Vor allem die 1960er-Jahre waren entscheidend für die touristische Entwicklung der Insel. 1965 entstanden eine Meerwasseraufbereitungsanlage in Arrecife und eine Erweiterung des Flughafens. Im Fischerdorf Playa Blanca südlich von Arrecife wurden erste Hotelanlagen hochgezogen, die man ähnlich schon von anderen Kanarischen Inseln her kannte. Jedoch blieben sie die Ausnahme. Ähnlich wie der Bürgermeister Edwin Cerio in den 1920er-Jahren einen künstlerischen Kongress zur Bewahrung der landschaftlichen Schönheit Capris organisiert hatte,35 suchten die Tourismusverantwortlichen unter José Ramírez Cerdá das Bewusstsein für die Schönheit der Landschaft zu wecken und es für den Tourismus zu nutzen. Dafür beauftragten sie ein-

César Manrique: „Vulkanischer Barock“

zelne Künstler, Ideen und Projekte zu entwickeln. Anders als auf Capri blieben diese nicht nur auf dem Papier, sondern wurden in der Landschaft selbst umgesetzt. So hatte der Inselrat 1963 mit der Reinigung und Instandsetzung des spektakulären, aber seinerzeit vernachlässigten Cueva de los Verdes an der Ostküste der Insel begonnen. Die Cueva de los Verdes sind Teil des weitverzweigten Höhlensystems, das sich nach dem Ausbruch des Vulkans Monte Corona vor ungefähr 4000 Jahren im Norden der Insel gebildet hatte. Die Höhlen entstanden, weil sich im zum Meer hin fließenden Lavastrom Gasblasen bildeten, die platzten und zu Ketten von eigenartig geformten Hohlräumen wurden. Diese Hohlräume stellen die längste Vulkanblasenkette der Welt dar. 1964 beauftragte der Inselrat dann den Künstler Jesús Soto Morales mit der Beleuchtung und besseren Erschließung der Cueva des los Verdes. Soto Morales legte einen Rundgang an, der die natürliche Struktur möglichst wenig verändern sollte. Manrique war sehr beeindruckt von dessen Umgang mit der Höhle. In den Jameos del Agua kam er selbst zum Zug; deren Gestaltung entstand in enger Zusammenarbeit mit anderen, unter anderem mit dem Architekten Eduardo Cáceres, dem Bauleiter des Cabildo Luis Morales sowie Jésus Soto Morales. Manrique war jedoch bei diesem wie den folgenden Projekten wohl die bestimmende Figur, auf jeden Fall war er nach außen am sichtbarsten. Ziel des Unternehmens war auch hier die Betonung der natürlichen Schönheit der Höhlen. Der Gang in die Unterwelt der Vulkanblasen wurde als Eintritt in eine zauberhafte unterirdische Naturwelt inszeniert, der nichts Klaustrophobisches oder Bedrohliches anhaftet. Nach dem Abstieg betritt man zuerst ein Restaurant mit einer Bar und dunklem Holzboden als Tanzfläche. Von dort gelangt man in einen großen Saal mit einer Lagune, in den durch eine Öffnung – Jameos bezeichnet die geplatzte Öffnung einer Vulkan­ blase – in der Decke Licht dringt, das vom Wasser und von den Wänden reflektiert wird (Abb. 58). Im türkisfarbenen Wasser der Lagune leben blinde weiße Krebse, die nur in dieser Höhle vorkommen. Geschwungene Treppen führen dann in einen gleißend hellen, weißen Außenbereich, in dem ein nierenförmiger Pool blau leuchtet. In einer weiteren, durch eine Glastür zugänglichen Lavahöhle befinden sich das erst 1987 eröffnete große Auditorium und ein weiterer Raum. Die Verbindung der von Lava geformten natürlichen Hohlräume mit Architektur, Möbel- und Innendesign sowie der Vegetation der Jameos del Agua bildeten die Grundlage für Manriques nachfolgende Projekte auf ­Lanzarote. Kennzeichnend ist die Vorliebe für spektakuläre malerische Ansichten und Durchblicke, der bewusst inszenierte Kontrast zwischen architektonischen

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Abb. 58  César Manrique, Jameos del Agua, Lanzarote

Einbauten (die meist in weiß gehaltenen Wände) und den bizarren natür­ lichen Formen des Lavagesteins, die runden, geschwungenen Formen und die Aufmerksamkeit für Möblierung und alle Details, die ebenso durchgestaltet waren wie die Nebenräume und Toiletten. Die Jameos del Agua bilden eine touristische Erlebniswelt, die auf der Verbindung von Kunst, ­Design, Architektur und Natur basiert. In späteren Projekten wie dem Mirador del Río und dem Restaurant El Diablo im Nationalpark Timanfaya sind die Elemente im Wesentlichen dieselben. Die Inszenierung ist aber reduzierter und zurückhaltender. Statt der verspielten Fülle ist die Wirkung hier archai­scher und futuristischer, was durch die ins raue Vulkangestein eingelassenen Glasfronten besonders betont wird. Nach dem gleichen Prinzip gestaltete M ­ anrique nicht nur die öffentlichen Bauten, sondern auch sein eigenes Haus in den Höhlen eines Lavafelds bei Tahiche; dort ist in einem Raum das F ­ enster so platziert, dass ein Lavastrom direkt in das Zimmer reicht. In jenen Jahren malte Manrique kaum, sondern konzentrierte sich auf das In-Szene-Setzen der Landschaft und Geologie der Insel. Die so entstandene touristische Erlebnisarchitektur lag im Trend der Zeit. Der französische Architekt Jacques Couëlle baute Villen oder Hotelanlagen wie das Hotel Cala di Volpe auf Sardinien, der Italiener Dante Bini entwarf dort Kuppel­häuser.

Architektur und Aktivismus

Die nahe Verwandtschaft dieser organischen modernen Architektur, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und insbesondere in den 1960er-Jahren zu verbreiten begann, ist offensichtlich. Die gerundeten weißen Formen referieren zudem auf die Architektur der Moderne des Jahrhundertbeginns und lassen sich mit den Architekturskulpturen Antoni Gaudís in Verbindung bringen. Im Vergleich zu den Betonbauten Couëlles oder Binis und den frei stehenden Bauten Gaudís sind Manriques Werke jedoch in größerem Maße ortsspezifisch, insbesondere durch die konsequente Verwendung und Betonung des Lavagesteins und der von Lava gebildeten Formen. Für Manrique war dieser „Geruch“ des Ortes zentral.36 Aufgrund dieser Ortsspezifik wurden Manriques Werke mitunter mit der gleichzeitig entwickelten Land Art in Verbindung gebracht, wenngleich die Unterschiede augenfällig sind: Zwar arbeitete auch Manrique ortsbezogen mit natürlichen Materialien der Landschaft – Lanzarotes Landschaften sind ebenso wüstenartig wie die amerikanischen Landschaften Utahs oder Nevadas und die Bauten liegen meist abgelegen und außerhalb von größeren Siedlungen. Doch sind Manriques Werke explizit für den Tourismus entstanden und mit entsprechender Infrastruktur ausgestattet. Manrique arbeitete zudem meist mit Auftraggebern zusammen. Allenfalls Robert Smithsons Projekt für den Dallas Fort Worth Regional Airport ist entfernt verwandt, wenngleich die Formen und Intentionen der Auseinandersetzung mit dem Ort kaum vergleichbar sind. Während Smithson nicht nur die Wüste, sondern auch industriell und wirtschaftlich genutzte Orte suchte und thematisierte, war bei Manrique das überragende Thema die unberührte Natur, die geologische Vergangenheit der Insel, die sich in den Lavamassen so überwältigend manifestiert.

Architektur und Aktivismus Manrique war Künstler und kein ausgebildeter Architekt. Seine Bauten sind offenkundig ohne ausgefeilte Pläne entstanden. Sie wurden in der direkten Auseinandersetzung vor Ort und in Diskussionen und Kollaborationen mit den Mitarbeitern wie dem Architekten Eduardo Cáceres entwickelt. Für Manrique nahm die Architektur eine zentrale ästhetische, gesellschaftliche und vor allem auch identitätsstiftende Rolle ein. Er war ein vehementer Kritiker der Entwicklung der neueren Architektur auf der Insel: „Ich glaube, ein Hauptproblem unserer Inseln ist die Architektur […] Es ist traurig und nieder­schmetternd, auf die Kanarischen Inseln zu kommen und dort eine

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Architektur vorzufinden, die absolut nicht den klimatischen Gegebenheiten und der Schönheit ihrer natürlichen Erhebungen entspricht.“37 Zu diesen Negativbeispielen zählte er nicht nur die neuen gesichts­losen Hotels. Er lehnte auch den historisierenden, neokanarischen Stil ab, den ­Néstor und sein Bruder mit dem kanarischen Dorf in Las Palmas sowie der einflussreiche Architekt José Enrique Marrero Regalado geprägt hatten. Der 1897 auf Teneriffa geborene Marrero Regalado, ein Bewunderer der architektonischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, schuf vom Rationalismus und vom Bauhaus inspirierte Bauten wie den Wohnkomplex des E ­ dificio ­Siboney in Santander oder sein eigenes Wohn- und Bürohaus in Santa Cruz auf Teneriffa. Einflussreicher war jedoch seine neokanarische, regionalisti­ sche Architektur, die sich auf einen generischen, historisierenden Lokalstil stützte. Diese entwickelte Marrero Regalado, als er 1938 Delegierter für Wohnungsbau auf Provinzebene wurde. Dabei schuf er Richtlinien für den Wohnungsbau, die auch Vorschriften für Fenster, Türen, Fenster­gitter, Balkone sowie für ganze Häuserfassaden enthielten und sich auf allen Inseln durchsetzten. Manrique sah nicht nur die Negativbeispiele, er konnte auch positive Vorbilder benennen. Entgegen den Bauten, die oberflächlich mit historischen Zitaten operierten, war Manriques architektonisches Interesse dem kritischen Regionalismus verwandt.38 Ähnlich wie Dimitris und Suzana Antonakakis und ihr Büro Atelier 66 in Griechenland interessierte ihn die einfache, kleinteilige lokale Bauweise. Gemeinsam mit dem Architekten Luis Ibañez erkundete Manrique seine Insel und begann die schlichten alten Bauten zu dokumentieren. Daraus entstand 1974 das Buch Lanzarote, ­arquitectura inédita mit Fotografien der traditionellen Architektur Lanzarotes. Es ist nicht belegt, ob dabei Bernard Rudofskys 1964 erschienenes Buch und die gleich­namige Ausstellung Architecture without Architects im Museum of Modern Art in New York eine Inspiration war, wie auch allgemein wenig über die intellektuellen Einflüsse Manriques bekannt ist. Rudofskys Ausstellung umfasste Bauwerke, die nicht einzelnen Architekten zugeordnet werden können, sondern auf überlieferten lokalen und gemeinschaftlich geteilten Bauweisen basieren. Manrique war 1964 in New York gewesen, und offensichtlich teilte er die Bewunderung für traditionelle, lokal verankerte, „autochtone“ Architektur, die viele Jahrzehnte zuvor auch schon Adolf Loos auf Capri aufge­ fallen war. Diese einfachen, in der traditionellen Bauweise erstellten kubischen ­weißen Häuser sollten auch das Vorbild für die neuen Bauten auf L ­ anzarote bilden. Manrique setzte sich zudem für den Erhalt und die Restaurierung zahlreicher alter, vom Verfall bedrohter Gebäude ein und betrieb während

Architektur und Aktivismus

Abb. 59  César Manrique bei der Verteidigung eines Strandes, Lanzarote, 1988, Fotograf unbekannt

vieler Jahre Aufklärungs- und Lobbyarbeit (Abb. 59). Dabei sprach er mit ­lokalen Bauherren und Hauseigentümern, um sie von den Vorzügen der traditionellen Bauten zu überzeugen. Manrique kannte kaum Berührungsängste: In der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten für die Restaurierung alter Bauten arbeitete er mit der großen multinationalen Bergbaugesellschaft Rio Tinto zusammen, die unter anderem den Erwerb und Umbau des ­Palasts Casa Spínola in Teguise unterstützte. Er wurde als künstlerischer Berater für die touristischen Entwicklungsprojekte des Konzerns engagiert und ent­wickelte zusammen mit den Architekten Fernando Higueras das Konzept für die Ferienwohnanlage Costa Teguise bei Arrecife. Nachdem sich der Konzern nicht an Absprachen hielt und trotzdem weiter mit dem Namen des Künstlers warb, zog sich Manrique unter öffentlichem Protest zurück.39 Manrique fokussierte sich auch nicht ausschließlich auf die Architektur, sondern beschäftigte sich mit der ganzen Umgebung sowie der Gestaltung und Bewahrung der Landschaft. So setzte er sich gegen die großen Werbetafeln ein, die die S­ traßen Lanzarotes zu säumen begannen, und betrieb die Errichtung des Nationalparks Timanfaya. In seinen eigenen Bauten verband sich das Interesse an Tradition und Bewahrung mit spielerischer Experimentierlust, die sich nicht auf kubische, weiße Schlichtheit beschränkte, sondern die Räume und Landschaften an herausragenden Orten durch überraschende und sehr effektvolle Mittel in Szene setzte. Die verschiedenen Bestrebungen verband der Wunsch, das Gesicht und die Individualität der Insel zu bewahren und die Wahrnehmung ihrer Land-

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schaft zu fördern. Manriques Projekt war einerseits sehr individuell und von seiner künstlerischen Vision – und Selbstdarstellung – geprägt, aber zugleich viel mehr als die anderen Beispiele in diesem Buch gesellschaftlich einge­ bettet, engagiert und wirksam. Dabei war der Tourismus positiv, zumindest wenn er nicht überhandnahm, denn er brachte die nötigen Einnahmen. Nicht alle Projekte ­Manriques waren erfolgreich, so kann die Zusammenarbeit mit Rio Tinto nur als teilweise fruchtbar bezeichnet werden. Auch die Auszeichnung als Biosphären­ reservat und Manriques Vorstellungen der Insel als Ort des nachhaltigen Tourismus sind seit den letzten Jahren durch den illegalen Bau von mehreren großen Hotels an beliebten Stränden wie der Playa Blanca gefährdet. Bisher ist es jedoch gelungen, die Insel trotz der über zwei Millionen Touristen, die sie jährlich besuchen, weitgehend intakt zu halten.40 Wie viele Inseln zieht Lanzarote auch weiterhin Künstler an. Stand bei Manrique die Vulkanlandschaft im Fokus, ist es im 2016 eröffneten Museo Atlántico des Künstlers Jason deCaires Taylor die Unterwasserwelt. Die auf dem Meeresgrund platzierten Skulpturengruppen sollen dabei nicht nur auf die Schönheit und Gefährdung der Ozeane aufmerksam machen, sondern auch auf Themen wie Migration und Flucht der Menschen aus A ­ frika. So zeigt die Figurengruppe Balsa de Lampedusa/The Raft of Lampedusa ein ­ ericaults Schlauchboot mit Flüchtlingen, das mit den Schiffbrüchigen in G Gemälde Das Floß der Medusa in Beziehung gesetzt wird. ­Neben den sehr konkreten, das Gesicht der Insel verändernden Auseinandersetzungen mit ­ anrique bestimmende den gesellschaftlichen Entwicklungen ist die für M Vulkan­landschaft Lanzarotes zudem Schauplatz von gesellschaftlichen und individuellen Utopien und Dystopien geworden. Hier tauchen nochmals die Inselideale und Vorstellungen auf, deren Themen an den Anfang dieses ­Buches zurückführen und die die Wirksamkeit und Langlebigkeit von Inselmythen belegen. Die Insel erscheint in ihnen als zugleich archaischer wie futuristisch-utopischer Ort, als Projektionsfläche und doch als ein von vielen historischen und geografischen Schichtungen geprägter Ort.

Die Liebesinsel, revisited Michel Houellebecqs Erzählung Lanzarote aus dem Jahr 2000 und Pedro Almodóvars 2009 entstandener Spielfilm Los abrazos rotos (dt.: Zerrissene Umarmungen) spielen ganz oder teilweise auf Lanzarote. Der Autor und der Regisseur kommen dabei auf Themen, die in den früheren Kapiteln diskutiert wurden: die Insel als Sehnsuchtsort und Ideal, als Gegenwelt zu den Zwän-

Die Liebesinsel, revisited

Abb. 60  Michel Houellebecq, Fotografie aus Lanzarote, 2000

gen der Zivilisation oder der Stadt, als Ort der Liebe oder der (erotischen) Befreiung. Während Lanzarote bei Almodóvar Schauplatz des individuellen Glücks mit vielen Rückbezügen auf die filmische und literarische Tradition ist, wird steller sie bei Houellebecq ein dystopischer Ort. Der französische Schrift­ ­Michel Houellebecq hat sich wiederholt mit dem Tourismus, insbesondere auch dem Sextourismus, beschäftigt.41 In den (unerfüllten) touristischen Glücksversprechungen und -erwartungen, im Zusammenprallen von Konsumenten/Reisenden und lokalen touristischen Dienstleistern kristallisieren sich seine Gegenwarts- und Gesellschaftsdiagnosen, insbesondere das Verhältnis von ökonomischen Fakten und Interessen zu romantischen Sehnsüchten. Lanzarote bildet dabei einen besonderen Schwerpunkt. Einerseits durch die gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 2000, die ergänzt wird durch einen

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zweiten Band mit Houellebecqs Fotografien der Insel (Abb. 60) sowie einen Anhang, der einen Bericht der Vulkanausbrüche des 18. Jahrhunderts beinhaltet.42 Während Menschen, ihre Einsamkeit und ihre vergeblichen und frustrierenden Interaktionen im Zentrum der Romane Houellebecqs stehen, ist in seinen Fotografien die Natur die Protagonistin. Die Farbfotografien sind bis auf drei Ausnahmen – auf einer ist lediglich der Schatten eines Menschen zu sehen – vollkommen menschenleer. Sie zeigen in Nahaufnahmen die Gesteinsformationen der Insel und einige Male Kakteen – die Vulkanlandschaft Lanzarotes scheint auch auf den Schriftsteller einen nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben. In seiner Erzählung wird jedoch ausgerechnet die Insel, die César Manrique vor den Extremen des Massentourismus bewahren wollte, ein Ort, an dem Tristesse, Langeweile und Enttäuschungen des Massentourismus am ausführlichsten geschildert werden. Die Erzählung beginnt damit, dass dem Protagonisten Michel in einem Pariser Reisebüro die Insel aufgrund des ganzjährig angenehmen Wetters als Ort für einen Winterurlaub empfohlen wird. Im Januar des Jahres 2000 verbringt Michel seine Ferien auf Lanzarote. Zuerst ist er irritiert, dass eine Insel mit so wenigen landschaftlichen und kulturellen Attraktionen überhaupt ein Ort für den Tourismus werden konnte. Anlässlich eines Ausflugs in den Nationalpark Timanfaya bemerkt er: „Ungefähr ­einen Kilometer weit voraus erstreckte sich eine Ebene aus schwarzen, scharfkantigen Felsen; nicht ein Gewächs, nicht einmal ein Insekt. Gleich dahinter begrenzten Vulkane mit ihren roten, mancherorts fast violetten ­Hängen die Sicht. Diese Landschaft war von der Erosion nicht gemildert, geformt worden; sie war von allumfassender Gewalt.“43 Die Landschaft erscheint archaisch-urtümlich und apokalyptisch zugleich: „Wir befanden uns hoch oben über einer völligen Steinwüste. Vor uns klaffte ein mächtiger Riss, mehrere Dutzend Meter breit, der sich im Zickzack über die Erdkruste schlängelte, soweit das Auge reichte. Absolute Stille. So, dachte ich, muss es nach dem Weltuntergang aussehen.“44 Doch richtet sich der Blick Houellebecqs auch auf die Gegenwart, die Gesellschaft und vor allem die anderen Reisenden: Er lässt seinen Protagonisten über die touristische Infrastruktur  – leere Restaurants, banales Kunsthandwerk –, aber vor allem über die anderen Touristen (eingeteilt nach National­charakteren) schimpfen. Geht es um Frauen, wird vor allem ihre sexuelle ­Attraktivität beurteilt. Doch begnügt sich der meist passive Michel nicht mit der Beobachtung und dem Entspannen am Hotelpool. Er unternimmt – vermutlich auch aus Langeweile  – einige Exkursionen. Houellebecq zeigt dabei detaillierte Kenntnisse der Geografie und Geschichte der Insel, „die im äußersten Süden

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ihrer [gemeint sind die norwegischen Touristen, die die Insel früh entdeckten] Sehnsüchte liegt, wie André Breton es an einem seiner guten Tage ausgedrückt hätte.“45 Dies ist ein Hinweis auf den bildungsbürger­lichen Hintergrund Michels und vielleicht auch auf die auf Teneriffa ent­wickelten surrealen, ­ ouellebecq nicht erotischen und kosmischen Inselfantasien, obwohl er von H weiter ausgeführt wird. In der Erzählung schildert Houellebecq verschiedene Orte, unter ihnen den von Manrique geschaffenen Kakteengarten bei Guatiza, der unter grotesken und sexuellen Aspekten betrachtet wird: „Fett und stachelig, versinnbildlichen die Kakteen das Obszöne der Pflanzenwelt in Vollendung – milde gesagt […]. Vor allem die Nachbildung männlicher Geschlechtsteile hat unfehlbar eine gewisse Wirkung auf italienische Touristinnen […].“46 Eine ­sexuelle Begegnung mit zwei lesbischen deutschen Touristinnen an einem einsamen Strand erscheint als Parodie der Vorstellung der Liebesinsel und der Insel als Ort der sexuellen Befreiung. Michel trifft zudem einen belgischen Touristen, den von seiner Familie verlassenen Polizisten Rudi, dessen Leben noch trostloser erscheint als dasjenige Michels. Beide sind sie frustrierte Gestrandete oder planlos Suchende. Doch während Michel auf der Insel vor allem sexuelle Abenteuer verfolgt, sehnt sich Rudi nach einem neuen Leben und einer neuen Gemeinschaft. In einem Brief an Michel schreibt er, dass er sich der Sekte der Azraëlisten angeschlossen habe, die ihren Mitgliedern dank eines speziellen biotechnologischen Klonverfahrens Unsterblichkeit verspreche. Houellebecqs Erzählung scheint zunächst versöhnlich zu enden. Michel zeigt Verständnis für Rudis Verhalten: „Wir lebten in einer Zeit, in der jeder Messias, jede Apokalypse möglich waren.“47 Bei seiner Abreise von Lanzarote erscheint die Landschaft zugleich fremd, rätselhaft und tröstlich: „Beim Start warf ich einen letzten Blick auf die Vulkanlandschaft, die dunkelrot im anbrechenden Tag unter mir lag. Wirkten die Vulkane beruhigend oder ­waren sie im Gegenteil eine Bedrohung? Ich hätte es nicht zu sagen vermocht; aber egal wie, sie bedeuteten die Möglichkeit einer Wiedergeburt, eines Neuanfangs.“48 Doch knapp ein Jahr nach der Reise bricht ein Skandal aus, in dem es um pädophile Praktiken in der Sekte der Azraëlisten geht. Auch Rudi wird angeklagt. Michel verfolgt den Prozess, wartet dessen Ende aber nicht ab. Er hat bereits eine neue Reise nach Bali gebucht: „Am 27. Januar flog ich von ­Paris nach Denpasar. Am Tag des Urteilsspruchs war ich nicht da.“49 So erscheint Lanzarote in Houellebecqs Roman sehr spezifisch durch die Schilderung der landschaftlichen Eigenheiten, wird jedoch am Ende wieder vollkommen austauschbar als ein Ort, um dem Alltag und der Kälte von Paris zu entkommen. Als Schauplatz der Entspannung und Zerstreuung in Form

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von landschaftlichen, kulturellen und insbesondere sexuellen Erfahrungen wird Lanzarote von Bali abgelöst. In den beiden Protagonisten ­Michel und Rudi schildert Houellebecq zwei unterschiedliche Strategien des Ausbruchs aus dem eigenen Leben und Alltag sowie der Suche nach realer Erfahrung. Michel handelt pragmatisch, situativ – und bis zu einem gewissen Grad erfolgreich: Er verbringt auf Lanzarote einen interessanten Urlaub mit Freiheiten und neuen Freundschaften, um dann wieder in seinen Alltag zurückzukehren. Rudi hingegen sucht ein neues (und ewiges!) Leben, eine Utopie, und scheitert dabei. Unklar ist, wie stark sich Houellebecq bei der Beschreibung der Figur Rudis und der Azraëlisten von den zahlreichen Sekten und Gemeinschaften inspirieren ließ, die sich auf den Kanarischen Inseln niederließen, etwa David Brandt Berts Children of God, die 1974 auf Teneriffa aktiv wurden, oder die Kommune des österreichischen Künstlers Otto Mühl auf La Gomera.50 Die individuelle Sehnsucht nach einem erfüllten Leben und nach Liebe wie auch die von Sekten entwickelten Technoutopien sind auch Thema von Houellebecqs 2005 erschienenem Science-Fiction-Roman La possibilité d’une île (dt.: Die Möglichkeit einer Insel). Lanzarote ist dort der Ort, an dem die Sekte der Elohmiten ein Zentrum zur künstlichen Reproduktion von Menschen unterhält, dem auch der Protagonist Daniel1 beitritt. Die Klonversuche erweisen sich als erfolgreich und es entstehen Generationen von Neomenschen. Für die verschiedenen späteren Klone Daniels steht die Suche nach Lanzarote metaphorisch für die Suche nach Liebe und einem erfüllten ­Leben. Die Insel ist der unerreichbare Sehnsuchtsort, von dem nicht sicher ist, ob er wirklich noch existiert. Allerdings würde es wohl zu kurz greifen, den insulären Diskurs in ­Houellebecqs Werk ausschließlich auf die reale Insel Lanzarote zu fokussieren. Zum einen sind Einsamkeit und Isolation in der kapitalistischen Gesellschaft sowie der Versuch des Ausbruchs durch Sex oder Liebe die zentralen Themen des Autors. Zum anderen befinden sich die Touristen bei ­Houellebecq eigentlich in Inseln auf Inseln. Sie verbringen die meiste Zeit in Resorts und in der Gemeinschaft mit anderen Touristen und sind damit vom Alltagsleben der Inselbewohner abgetrennt. Auch die Sektengemeinschaften sind gegen außen mehr oder weniger abgeschlossene Inseln inmitten der übrigen Gesellschaft. Die geklonten Neomenschen in La possibilité d’une île sind getrennt von den „Wilden“, zu denen die letzten überlebenden, nicht geklonten Menschen geworden sind. Die reale, gleichermaßen archaisch, futuristisch, apokalyptisch und außerirdisch wirkende Insel Lanzarote bietet dabei die ideale, quasi „posthumane“ Projektionsfläche für die verschiedenen

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Aspekte der Isolation, die bei Houellebecq die Gegenwart und die Zukunft der menschlichen Gesellschaft ausmachen.51 Im Unterschied zu Houellebecq blickt der spanische Regisseur Pedro ­Almodóvar nicht in die Zukunft, sondern vor allem in die Vergangenheit. In Almodóvars Spielfilm Los abrazos rotos (dt.: Zerrissene Umarmungen) ist Lanzarote der Ort des größten Glücks und zugleich des größten Unglücks. In langen Rückblenden erzählt der Film die Geschichte des blinden Drehbuchautors Harry Caine (Lluís Homar). Früher war Caine, der eigentlich Mateo Blanco heißt, Regisseur. Während der Dreharbeiten seines Films ­Chicas y maletas (dt. Mädchen und Koffer) verliebt er sich in die Schauspielerin Lena, gespielt von Penélope Cruz, die die Geliebte des reichen Produzenten Ernesto Martel ist. Das Liebespaar flüchtet nach Lanzarote, wo es einige Wochen des Glücks verbringt. Lena will Martel verlassen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen, doch bei einem nächtlichen Autounfall auf Lanzarote stirbt Lena und Mateo/Harry erblindet. Als teure Produktion, die sich an ein internationales Publikum richtete, bezieht sich der Film weniger stark auf den spezifisch spanischen Kontext als andere Produktionen Almodóvars.52 Trotzdem sind Landschaft und Geschichte Lanzarotes ebenso wie die Werke Manriques im Film zentral. Bereits die erste auf der Insel gedrehte Szene ist signifikant: Nachdem Mateo und Lena ein Paar geworden sind, bittet die von dem gewalttätigen ­Martel misshandelte Lena Mateo, sie so weit wie möglich wegzubringen. Nach e­ inem abrupten Schnitt sieht man dann als Erstes von oben ein rotes Auto, das durch die leere, flache Landschaft Lanzarotes fährt. Die Straße ist gesäumt von den typischen Mulden in den Lavafeldern, in denen Weinreben kultiviert werden. Der Wagen passiert einen Kreisel in Tahiche unweit der Fundación ­César Manrique; dort hält Mateo kurz an, um in Touristen­manier das dort aufgestellte große Windspiel Manriques zu fotografieren. An der gleichen Stelle wird sich später auch der tödliche Unfall Lenas ereignen. Als nächstes sieht man das Paar an einer Klippe an der Küste stehen. Es blickt ­hinunter auf den dunklen Strand von El Golfo, den Mateo wieder fotografiert, während ihn Lena von hinten umarmt (Abb. 61). Die Fotografie des Strandes ist in der folgenden Einstellung zu sehen, wo auch ein einsames Paar sichtbar ist, das in der vorherigen Einstellung nicht zu sehen gewesen war. Auf Lanzarote wirken Lena und Mateo glücklich und befreit. Die Insel bietet Zuflucht vor den Verfolgungen des eifersüchtigen Martel. Sie fassen den Entschluss, länger zu bleiben, und Lena bewirbt sich als Rezeptionistin in einem von Norwegern (die auch bei Houellebeqc erwähnt werden) geführten Hotel. Lanzarote wird mit viel Lokalkolorit in Szene gesetzt. Das Paar unternimmt typische touristische Aktivitäten wie Fotografieren, Sightseeing und

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Abb. 61  Pedro Almodóvar, Los abrazos rotos, 2009, Filmstill

Sonnenbaden und in der Feriensiedlung der Englisch sprechenden Norweger nehmen Touristen Surfunterricht am Strand. Die einzigartige Landschaft Lanzarotes mit den dunklen Stränden und Lavafeldern wird mehrmals in Szene gesetzt und bildet – mit romantischer Musik untermalt – den größtmöglichen Kontrast zur hektischen Stadt und Filmwelt. Doch warum wählte der spanische Regisseur ausgerechnet Lanzarote und nicht eine andere der zahlreichen spanischen Inseln? Es scheint, als habe die dunkle Vulkanlandschaft der Insel einen zentralen Einfluss auf die Wahl des Drehortes gehabt. So meinte Almodóvar: „On my first visit to the island my identification with the color black was a novelty for me. Black had never formed part of my palette of colors. I even thought of the easiest of parallels, my recent fondness for black was due to my personal mourning for the death of my mother. The fact that I had been recently orphaned found its reflection in the island’s darkness.“53 Wie für Godards Wahl von Capri waren bei Almodóvar Farben, die bei ihm immer eine wichtige Rolle spielen, auch hier zentral. Ausschnitte aus Chicas y maletas, die im Film immer wieder zu sehen sind, weisen auf die satten, grellen Farben der frühen Werke wie auch auf den ersten großen Erfolg Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs (1988). Im Gegensatz dazu steht die Dunkelheit Lanzarotes. Der Film hat dabei zahlreiche autobiografische Elemente, durch seinen Beruf ist der Regisseur Mateo in vielem ein Alter

Die Liebesinsel, revisited

Ego Almodóvars.54 So berichtete Almodóvar einmal von einer Lichtempfindlichkeit, die ihn zu dieser Zeit stark belastet habe und die als Motiv in Form der Blindheit im Film aufgenommen wird. Der Film besitzt zudem mehrere filmhistorische Subtexte. Einmal zitiert Mateo den Regisseur Fritz Lang. Die Fotografie des Strandes verweist auf Michelangelo Antonionis Film Blow up (1966). Vor allem aber ist Los ­abrazos rotos eine Hommage an Godards Le Mépris. Ähnlich wie Le ­Mépris einen Sonderstatus in Godards Œuvre einnimmt, ist auch Los abrazos r­otos eine Ausnahme im Werk Almodóvars. Beide hatten ein hohes Budget und einen berühmten weiblichen Star. Anders als die übrigen Filme A ­ lmodóvars wurde er zudem vom amerikanischen Universal-Studio mitfinanziert und richtete sich mit einem romantischen heterosexuellen Liebespaar und fast ohne transsexuelle und homosexuelle Charaktere an ein internationales Mainstream­ publikum. Die Geschichte über Liebe, Trennung und Tod, die in Le Mépris auf Capri spielt, wird von Almodóvar nach Lanzarote transponiert. Wie in ­ ­einem Traum oder einer Komödie werden in Los abrazos rotos die Rollen und Motive vertauscht. Während für Godard auf Capri die Farben Gelb, Rot und Blau zentral sind, sind es auf Lanzarote Schwarz und Rot. Die Bezüge zu Le Mépris werden jedoch schon vorher angedeutet, etwa als die braun­ haarige Lena eine blonde Perücke aufsetzt und damit die Haarfarbe wechselt wie ­Camille in Le Mépris, wo Camille während des Streits in der römischen Wohnung eine braune Perücke trägt. Eine weitere zentrale Verbindung ist das Drehen und Visionieren des Films-im-Film und die zahlreichen Bezüge auf die Filmwelt, die Geschichte des Kinos oder das rote Auto des tödlichen Unfalls auf Capri/Lanzarote. Gegenüber Le Mépris sind jedoch die meisten Rollen und Motive transformiert: Während des Filmdrehs trennt sich das Paar nicht, sondern findet erst zusammen. Der Regisseur ist der Liebende, der erst nach dem Film und Tod der Geliebten zum Drehbuchautor wird. Lena ist anders als Camille nicht die Frau des Drehbuchautors, sondern die Schauspielerin im Film. Bei dem Autounfall stirbt nur Lena und nicht der Fahrer. Godards Odyssee-Thema ist fast nicht vorhanden, allenfalls kann der blinde Drehbuchautor eine indirekte Referenz an Homer sein. Das Vater-Sohn-Thema der Odyssee tritt allerdings dadurch in Erscheinung, dass ­Judit, die Assistentin Harrys, ihm zum Schluss enthüllt, dass er der Vater ihres Sohns Diego sei, womit sie sich wiederfinden. (Und Penélope ist der Name der ­realen Schauspielerin.) Während Capri in Le Mépris der Drehort des Films ist, ist Lanzarote der Zufluchtsort und zugleich der Ort des realen Lebens, an dem Mateo und Lena ein Paar sein können und nicht vorgeben müssen, nur Regisseur und

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Lanzarote. Zurück in die Zukunft

Schauspielerin zu sein. Lanzarotes touristische Gegenwart ist dabei im Film immer wieder sichtbar und wird – anders als bei Godard auf Capri – nicht ausgeblendet. Und während Houellebecq auf die negativen Aspekte des Tourismus fokussiert und die verschiedenen Nationen klassifiziert und karikiert, werden die norwegischen Gäste neutral dargestellt. Trotz der touristischen Infrastruktur und der Eigenheiten der anderen Reisenden bleibt Lanzarote positiv besetzt als Ort der Zuflucht, der Liebe und des Glücks. Doch enden die Verbindungen hier noch nicht. Los abrazos rotos erscheint als Hommage an Godard  – wie Godards Film eine Hommage an ­Roberto Rossellinis Film Viaggio in Italia (1954) ist. In ihrer Ferienwohnung auf Lanzarote sehen sich Mateo und Lena gemeinsam am Fernsehen den Film Viaggio in Italia an. In dem kurzen Ausschnitt erscheint die Szene, in welcher in Viaggo d’Italia das sich entfremdete englische Paar die Ausgrabungen in Pompeji besucht, wo die Archäologen gerade dabei sind, die Überreste ­eines sich umarmenden Paars auszugraben, das von der Lavaschicht begraben wurde. Wie die Frau in Rossellinis Film rührt das Auffinden des noch im Tod vereinten Paars auch Lena zu Tränen. Mateo springt vom Sofa auf, rennt zu seiner Kamera und macht mit dem Selbstauslöser ein Foto von sich und Lena auf dem Sofa, das zum letzten Bild ihrer Beziehung wird. Godards Le Mépris ist ein Film über die Liebe, das Kino sowie die Wirkmacht und Interpretation der antiken Mythen. Auch in Los abrazos rotos sind die Liebe und das Kino zentral. Indem er Capri durch Lanzarote ersetzt, hat Almodóvar den mediterranen Raum zwar verlassen, das Motiv der Insel aber beibehalten. Die Landschaft erscheint dabei nicht nur als Ort, an dem die mythische Vergangenheit präsent ist, sondern ebenso als Resonanzraum der Gefühle. Am deutlichsten ist dies in Los abrazos rotos in der Szene, in der eine Rückenansicht des Paars, das auf den dunklen Strand herunterblickt, zu sehen ist. Das andere Paar dort, von dem Lena sagen wird, es seien sie selbst, ist erst auf der Fotografie Mateos zu sehen, als zukünftiges Dokument und Souvenir, in dem das glückliche Paar in der Erinnerung Mateos mit der Insel verbunden sein wird. Deutlich ist dies auch am Schluss von Le ­Mépris – ein Blick auf das Meer, und ein Bild, das gleichermaßen tieftraurig wie hoffnungsvoll ist. Während Michel Houellebecqs Protagonisten die Zuflucht auf die Liebes­insel in La possibilité d’une île verwehrt bleibt und in Lanzarote grotesk scheitert, ist sie in Pedro Almodóvars Melodram zumindest für eine kurze Zeit möglich, um sodann zu einem Bild zu werden.

Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik

Für den Protagonisten in Pedro Almodóvars Film Los abrazos rotos wurde die Insel zur Erinnerung und zum Bild. Heute stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch reale und wirklich abgelegene Inseln gibt. Sind diese nicht vollkommen mit Bildern, Projektionen und Klischees überlagert? Und ­machen Internet und bequeme Erreichbarkeit durch Flugverbindungen Abgelegenheit und Isolation zur – durchaus erwünschten – Illusion? Sind nicht alle Inseln durch den steigenden Meeresspiegel gleichermaßen bedroht? Und sind utopische Projekte, die Unabhängigkeit von staatlicher und steuerlicher Kontrolle suchen, wie etwa das in der Einleitung erwähnte Seasteading-Projekt vor Tahiti, von vornherein zum Scheitern verurteilt, während sich nur die Plastikinseln erfolgreich vermehren? Dagegen lässt sich einwenden, dass Projektionen, Wunschbilder wie die Erreichbarkeit seit Beginn mit dem Reisen verbunden, ja seine Bedingung sind. Als Louis Antoine de Bougainville Tahiti erkundete, dachte er an ­Antoine Watteaus Gemälde der Liebesinsel, und als er sie verließ, bedauerte er den dauerhaften Verlust des unberührten Paradieses, den seine Ankunft eingeleitet hatte – ein Topos, der sich durch die nächsten Jahrhunderte ziehen wird. Und sind nicht alle Inseln, wie Dean MacCannell in The Tourist beobachtet, nicht nur durch Infrastruktur und Verkehrsrouten eng mit dem Festland verbunden, sondern die Inselsehnsucht ein Produkt der Moderne, die diese Verbindungen erst ermöglicht hat? Isolation und Unberührtheit sind seit Langem eine Fiktion. Touristen und Künstler – wir alle – kommen immer schon zu spät. Bildern und Projektionen kann man nicht entkommen. Trotzdem oder vielleicht deswegen bleiben Inseln faszinierend, nicht nur für Touristen, sondern auch für Künstlerinnen und Künstler. Immer noch sind sie ein utopischer Raum, ein Ort, der in seinem Potenzial zur Fiktion gerade für die Kunst besonders geeignet erscheint. Abschließend möchte ich deswegen zwei weitere Kunstprojekte diskutieren, die zahlreiche der Themen aufnehmen, die in den sechs Kapiteln dieses Buches angesprochen wurden: die Insel als utopischer Ort des Rück-

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Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik

zugs vor gesellschaftlichen Zwängen und einer anderen Form des Lebens, die Beziehung von Kunst und Tourismus, Exotismus und seine Kritik. 1999 fand die 6. Caribbean Biennial auf St. Kitts statt. Zu den Teilnehmern zählten einige der bekanntesten Künstlerinnen und Künstler der 1990erJahre, unter ihnen Ólafur Elíasson, Mariko Mori, Pipilotti Rist und Rirkrit Tiravanija. Ihr Aufenthalt auf der Karibikinsel war real, die Biennale nicht. Das Biennaleprojekt hatte der italienische Künstler Maurizio C ­ attelan ins Leben gerufen und gemeinsam mit dem Kurator Jens Hoffmann organisiert. Das Kunstprojekt einer fiktiven Biennale am Karibikstrand war eine Kritik an der globalen Vervielfältigung von Biennalen, der Versuch der Schaffung ­einer Gemeinschaft und eine Flucht vor der aufgeheizten Kunstwelt. St. Kitts war hierbei mit Absicht gewählt: „We wanted to find the biggest stereotype of an exotic holiday place.“1 Mit der Wahl des Ortes und der Einladung von bekannten Künstlerinnen und Künstlern war das Projekt ein bewusster Flirt mit Klischees. Das Projekt, dessen Ambivalenz die Organisatoren betonten, bewegte sich zwischen Kritik, Utopie, Zynismus und ­Hedonismus. Trotz ­eines kritischen Impetus verließ die sechste Karibik-­Biennale durch die Exklusivität der Teilnahme – es wurden auch einige Kritiker eingeladen – und die oberflächliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen des realen Ortes und seiner Bevölkerung nicht die Komfortzone und insuläre Blase des Ferienhotels sowie der Kunstwelt. Kunstwerke entstanden fast keine. Auch der Katalog zeigt nur wenige Werke, sondern vor allem Fotos vom Meer, von Palmen sowie von den Künstlerinnen und Künstlern beim entspannten ­Feiern. In einer Interpretation der relational aesthetics der 1990er-Jahre ging es um soziale Interaktionen innerhalb der Gruppe der Reisen­den, die mit dem Status des Touristen keine Probleme zu haben schienen. Auf einer anderen Karibikinsel, auf Haiti, entstand 2015 während der 4. Ghetto Biennale in Port-au-Prince das Kunstprojekt Museum of Trance. Haiti war 2010 von einem verheerenden Erdbeben getroffen worden, welches das schon zuvor arme Land ökonomisch zurückwarf, gesellschaft­liche Probleme verschärfte und das weitgehende Scheitern von internationaler Hilfe deutlich machte. Die Ghetto Biennale war ein Jahr vor dem Erdbeben durch das haitianische Künstlerkollektiv Atis Rezistans initiiert worden. Seine Gründung entsprang  – laut der Website der Biennale– dem Hunger nach neuen Ideen, Einflüssen, Medien und Ästhetiken, die Jugendliche und Künstler angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten einer Kunstausbildung auf der Insel verspürten.2 Eine Verminderung der Isolation sowie Inspiration von außen waren also – wie auf vielen Inseln – gewünscht, trotzdem stellte sich bei einer Veranstaltung mit dem Namen Ghetto Biennale die Frage, welche Art von Kunst an einem solchen Ort sinnvoll war und wie die

Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik

lokale Bevölkerung jenseits von Romantisierung, gut gemeinter Hilfe, Paternalismus und Neokolonialismus einbezogen werden konnte. Die deutsche Künstlerin Henrike Naumann entwickelte mit dem Musiker ­Bastian Hagedorn ein Museum of Trance. Das  – fiktive  – Museum war inspiriert von einer Ausstellung über Voodoo, die 2010 im Ethnologischen ­Museum in Berlin-Dahlem stattgefunden hatte. Im Haus eines Voodoo-Priesters in Port-au-Prince wurden nun Objekte wie Turnschuhe oder Stroboskope gezeigt, die die Technoszene geprägt hatten, die in Haiti – und ohne den sozialen und vor allem musikalischen Hintergrund – zunächst ähnlich fremd und kontextlos wirkten wie die Voodoo-Objekte in Berlin. In einer Selbstexotisierung und -musea­lisierung ging es um andere Bewusstseins- und Körpererfahrungen, um mögliche Nähe, Fremdheit und Spiegelungen. Der Bezug auf Voodoo als synkretistische Religion, die von der Erfahrung der Sklaverei geprägt ist, verlieh dem Projekt eine weitere Dimension. Das ­Museum of Trance war „unfertig“, sodass die Objekte von der lokalen Bevölkerung angeeignet werden konnten. Musik und Tanz schuften eine weitere Gemeinschaftserfahrung. Auf der Grand Rue in Port-auPrince fand an einem Abend ein großer Trance-­Rave mit einem riesigen Soundsystem statt, an dem die anfänglich skeptischen Nachbarn partizipierten. Bastian Hagedorn beschrieb die Erfahrung in einem Interview: „Unsere Vodou-Drumming Session war zwar nicht vergleichbar mit den Trommel­ ritualen, die nötig sind um die Loa anzurufen, aber es zeigte sich, dass sowohl die Drummer an der Batterie als auch ich an der Groovebox in der Lage waren den Sound und die Rhythmik der S­ equenzer und Synthesizer mit den Trommelpraktiken der Haitianer in Einklang zu bringen.“3 Inwieweit die Trancekulturen vergleichbar sind und wie die individuellen Erfahrungen der Teilnehmer sich glichen oder unterschieden, war – auch aufgrund von Sprachbarrieren – schwer zu beurteilen. Jedenfalls war es der Versuch einer Annäherung zwischen Kulturen, zwischen Haiti und der vor­ maligen „Insel“ Berlin im Bewusstsein der unterschiedlichen Voraussetzungen sowie einer Auseinandersetzung mit Exotismus und einer Begrüßung von Hybridisierung und möglichen Missverständnissen.

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Anmerkungen

Einleitung  1 1  2 2  3 3  4 4  5 5  6 6

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Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II, Frankfurt am Main 1998, S. 216. Emmanuelle Loyer, Lévi-Strauss. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2017, S. 174. Eines der anregendsten Bücher zu Inseln in Literatur und Philosophie (mit einigen Exkursen zur Kunst) ist: Volkmar Billig, Inseln. Die Geschichte einer Faszination, Berlin 2010. José Ortega y Gasset, „Meditation über den Rahmen“, in: ders, Über die Liebe. Medita­ tionen, Stuttgart 1984, S. 67–80, hier S. 68. Stafford 1984, S. 129. Auch die Hawaiianer sahen in Cook die reale Verkörperung eines Mythos, wie Marshall Sahlins (1985, S. 148) darlegte: „[…] the empirical realities in all their particularities can ­never live up to the myth, any more than Cook as a man could live up to the exaltes status the Hawaiians intended him.“ Bitterli 1987. Siehe auch Segalen 1983, S. 31. Schama 1995, S. 61. Shields 1991. Blumenberg 2006, S. 40. Deleuze 2003; Anselm Franke/Eyal Weizman/Ines Geisler, „Islands. The Geography of Extraterritoriality“, in: Archis 2003, 6; dt. in: ISLANDS + GHETTOS, Ausst.-Kat. Heidel­berger Kunstverein, Heidelberg 2008, S. 14–19. Shaxson 2011 (das Cover der deutschsprachigen, ebenfalls 2011 erschienenen Ausgabe zeigt anders als das der englischen nicht eine tropische Insel, sondern die Traminsel des Parade­platzes in Zürich). Zu extraterritorialen Wirtschaftszonen siehe auch: Keller Easterling, Extra­statecraft. The Power of Infractructural Space, London/New York 2014. Barthes 2010. David Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, London 2011, S. 633; Alain Ehrenberg, „Le Club Méditerranée 1935–1960“, in: Les vacances. Un rêve, un produit, un miroir, Hg. Brigitte Ouvry-Vial/René Louis/Jean-Bernard Pouy, Paris 1990, S. 117–129; Littlewood 2001, S. 208–210; Urbain 1996, S. 146–149. Ehrenberg 1990, S. 126. Siehe auch: Ellen Furlough, „Club Méditerranée, 1950–2002“, in: Europe at the Seaside. The Economic History of Mass Tourism in the Mediterranean, Hg. Luciano Segreto/Charles Manera/Manfred Pohl, New York/Oxford 2009, S. 174–195. Urbain 1996, S. 149–156. Vgl. Corbin 1990.

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Anmerkungen

18 „Die eigene Welt des Badeurlaubs, die klar abgegrenzt ist vom Alltagsleben, findet ihren deutlichsten Ausdruck auf den Inseln. Nicht umsonst zählen zu den großen, gleichsam mythischen Zielen des modernen Tourismus besonders viele Inseln: Bali und Hawaii, ­Capri und Kreta, Mallorca und Ibiza – um nur wenige zu nennen. Die Insel bringt den Charakter des Strandlebens als einer besonderen Erlebnissphäre zur höchsten Steigerung. Sie ist eine Welt für sich schon durch die geographische Konfiguration: Das Wasser isoliert sie vom festen Land; es trennt den Reisenden physisch und symbolisch von seinem Ursprungsort.“ Hennig 1997, S. 29 (Hervorhebungen im Original). 19 MacCannell 1999, S. 184. 20 MacCannell 1999, S. 183. 21 Urry 1990; Urry, 1992. Vgl. auch Alexandra Karentzos/Alma-Elisa Kittner, „Einführung: Holiday in Art –Kunst und Tourismus“, in: Karentzos/Kittner/Reuter 2010, S. 55–59, hier S. 56. 22 Kittner 2010, S. 193. 23 Sogenannte Pioniertouristen begannen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ferne Inseln zu entdecken. Uwe Schubert, Inseltourismus-Tourismusinseln für immer? Fallstudien Mauritius und Malta, Köln 2010, S. 23. 24 Max Pechstein, Erinnerungen, Hg. Leopold Reidemeister, Wiesbaden 1960, S. 107. 25 Urbain 1993, S. 213–215. 26 Kaja Silverman, „The Author as Receiver“, in: October, 96, Frühjahr 2001, S. 17–34. 27 Magdalena Nieslony, „Das Porträt der Künstlerin als Insel“, in: Texte zur Kunst, 102, Juni 2016, S. 175–177. 28 Siehe etwa: Léopold Lambert, „Archipelagos and Indigenous Imaginaries“, in: The Funambulist 2017, S. 12–13. 29 Bruno 2002. 30 Island Thought. An Archipelagic Journal Published at Irregular Intervals, Bd. 1, Nr. 1, Sommer, 1997. 31 Deleuze 2003, S. 14. 32 Olaf Nicolai  – Mirador. Rodakis Selkirk Samani, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen, Nürnberg 2010; und Publikation Rodakis, Leipzig 2008. 33 Renée Green. Endless Dreams and Time-based Streams, Hg. Yerba Buena Center for the Arts, San Francisco 2011. 34 Lambert 2017. 35 Le isole deserte del Mediterraneo / Deserted Islands of the Mediterranean, Villa Romana Rom, Mailand 2009; DESERTMED. Ein Projekt über unbewohnte Inseln im Mittelmeer, Hg. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2012. 36 Zum zeitgenössischen reisenden Künstler (und Akademiker): Miwon Kwon, „The Wrong Place“, in: Contemporary Art. From Studio to Situation, Hg. Claire Doherty, London 2004, S. 30–41; Peter J. Schneemann, „,Miles and More‘. Welterfahrung und Weltentwurf des reisenden Künstlers der Gegenwart“, in: Karentzos/Kittner/Reuter 2010, S. 80–89. 37 Alison Mountz, „Australia’s Enforcement Archipelago. Islands as Border Walls“, in: The Funambulist 2017, S. 46–49. 38 Islas/Islands, Ausst.-Kat. Centro Atlántico de Arte Moderno (CAAM), Las Palmas; Centro de Arte „La Granja“, Santa Cruz de Tenerife; Centro Andaluz de Arte Contemporáneo (CAAC), Sevilla, 1997. 39 Anne E. Wilkens, „Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung“, in: Wilkens/Ramponi/Wendt 2011, S. 57–98.

Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

40 ISLANDS+GHETTOS, Ausst.-Kat. Heidelberger Kunstverein, Heidelberg 2008. 41 Isole Mai Trovate / Islands Never Found, Ausst.-Kat. Palazzo Ducale, Genua; State ­Museum of Contemporary Art, Thessaloniki; Musée d’Art Moderne de Saint-Étienne ­Métropole, Saint-Étienne, Mailand 2010. 42 Being an Island (Inseldasein), Ausst.-Kat. daadgalerie, Berlin 2013.

Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise 1 2

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„Cythère et Paphos sont des lieux affreux […] [Cythère] est une petite île, la plus désagréable et la plus infertile qui soit au monde.“ Zit. nach Pilon 1921, S. 84. Übersetzung der Autorin. Im Original: „Cette île de Cérigo que nous vinmes reconnaître est l’ancienne Cythère; malgré l’éclat où elle est dans la bonne foi de celui où elle a toujours éte, on admire en la voyant les miracles de la poésie et les effets de la prévention, car elle ne consiste qu’en rocher pelé et un autre plus petit qu’on appelle l’Ouo. Ces objets vilains en eux-mêmes sont regardés: l’imagination les couvre de fleurs; on voit un rocher des yeux du corps; et comme on pense à l’amour, on et bien aise de le voir; en un mot, on s’abandonne à l’idée attachée au mot de Cythère la Cérigo.“ Moureau 2005, S. 400. Zur Reiseliteratur und dem Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit: Porter 1991; Dreckige Laken. Die Kehrseite der ‚Grand Tour‘, Hg. Joseph Imorde/Erik Wegerhoff, Berlin 2012; Geoff Dyer in einem scharfsinnigen Text über eine Reise auf den Spuren ­Gauguins; Dyer 2017. Gérard de Nerval, Reise in den Orient, München 1986 (= Werke, 1), S. 78. Im Original: „Pas un arbre sur la côte que nous avons suivie, pas une rose, hélas! pas un coquillage le long de ce bord où les Néréides avaient choisi la conque de Cypris. Je cherchais les bergers et les bergères de Watteau, leurs navires ornés de guirlandes abordant des rives fleuries; je ­rêvais ces folles bandes de pèlerins d’amour aux manteaux de satin changeant…“ Gérard de Nerval, „Voyage en Orient“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. II, Paris 1984, S. 234. In seiner Einführung beschreibt er zuerst sein Entzücken in ekstatischen Worten, als sich sein Schiff früh am Morgen der Insel nähert: „Mein Tag begann wie ein homerischer Gesang! Es war wahrhaftig Aurora mit ihren Rosenfingern, die mir die Pforten des Orients öffnete! Und sprechen wir nicht mehr von den Morgenröten unserer Länder, so weit kommt die Göttin nicht […] Seht nur, wie von dieser feurigen Linie, die sich auf dem Kreis des Wassers ausbreitet, bündelförmig auseinanderfallend die rosigen Strahlen aufsteigen und den Azur des weiter oben noch dunklen Himmels beleben. Ist man nicht verleitet zu sagen, die Stirn ­einer Göttin und ihre ausgebreiteten Arme lüfteten nach und nach den mit funkelnden Sternen bedeckten Schleier der Nacht? Sie kommt, naht heran, gleitet verliebt über die göttlichen Fluten, die Kytheira geboren haben […] Doch was sage ich? Vor uns, dort hinten am Horizont, die karminrote Küste, diese in Purpur getauchten H ­ ügel, Wolken gleich, das ist die Insel der Venus, ist das alte Kythera mit seinen Porphyrfelsen […].“ Dann der erste Bruch: „Heute heißt die Insel Cerigo und gehört den Engländern.“ Und die Enttäuschung: „Das war mein Traum … und hier mein Erwachen! […] ­Kythera hat, man muss es leider gestehen, von all seinen Schönheiten nur die Porphyr­felsen bewahrt, die ebenso traurig anzu­sehen sind wie gewöhnliche Sandsteinfelsen.“ Im Original: „Voyez déjà de cette ligne ardente qui s’élargit sur le cercle des eaux, partir des ­rayons ­roses ­épanouis en gerbe, et ravivant l’azur de l’air qui plus haute reste sombre ­encore. Ne

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Anmerkungen

dirait-on pas que le front d’une déesse et ses bras étendus soulèvent peu à peu le voile des nuits ­étincelant d’étoiles? Elle vient, elle approche, elle glisse amoureusement sur les flots divins qui ont donné le jour à Cythérée […] Mais que dis-je? Devant nous, là-bas, à ­l’horizon, cette côte vermeille, ces collines empourprées, qui semblent des nuages, c’est l’île même de ­Vénus, c’est l’antique Cythère aux rochers de porphyre […] Aujourd’hui cette île s’appelle ­Cérigo, et appartient aux Anglais […] Voilà mon rêve… et voici mon réveil! […] il faut avouer que Cythère n’a conservé, de toutes ses beautés, que ses rocs de porphyre, aussi tristes à voir que des simples rochers de grès.“ S. 234.  5 Simon Schama, Landscape and Memory, New York 1995, S.  61. In seiner Analyse über 5 ­Inseln in der Literaturgeschichte beschrieb Horst Brunner (1967, S. 7) das Verhältnis zwischen realer Insel und poetischer Fiktion: „Was unterscheidet eine Insel in der Realität von einer Insel, die Schauplatz in einem Werk der schönen Literatur ist? Für den Kartographen ist eine Insel nicht mehr als ein größeres oder kleineres Stück Land, völlig umgeben vom Wasser des Meeres, eines Sees oder eines Flusses. Dies nimmt er als eine ‚wirkliche‘ Insel auf. Allerdings: die ‚wirkliche‘ Insel beginnt sich geheimnisvoll zu verwandeln. Sobald ein phantasierendes, träumendes Bewusstsein sich ihrer ‚dichtend‘ bemächtigt. Assoziationen treten herein und heben blanke Realität auf die höhere Ebene des Spiels.“  6 Obwohl bereits die erste Publikation von Thomas Morus’ Utopia (1516) einen Holzschnitt 6 mit einer Darstellung der Insel enthielt und spätere Auflagen des Buches oft auch Illustrationen umfassten, etwa die Basler Ausgabe von Johann Froben aus dem Jahr 1518, die von Ambrosius Holbein, dem Bruder von Hans Holbein, illustriert war. Die Änderungen, die Holbein gegenüber der früheren Abbildung vornahm, betonen zudem, dass Utopia keine reale Insel ist, sondern eine durch Worte geschaffene Fiktion. Vgl. Marin 1993, S. 417–420.  7 Victor I. Stoichita, „Helena von Troia und ihre Doppelgängerin“, in: Benvenuto Cellini. 7 Kunst und Kunstheorie im 16. Jahrhundert, Hg. Alessandro Nova/Anna Schreurs, Köln u. a. 2003, S. 349–375.  8 Frühere Isolarien beschrieben die Inseln des Mittelmeeres. Spätere Inselbücher wie 8 ­Henricus Martellus’ Insularium illustratum (um 1490) umfassten Inseln auf der ganzen Welt, wobei im Zuge der neuen Entdeckungen stetig weitere Inseln dazukamen. Der französische Forscher und Schriftsteller André Thevet (1502–1590) veröffentlichte eine Universelle Kosmographie. Fragment geblieben ist jedoch sein Insularium Grande Insulaire et Pilotage (Großes Insularium und Buch für Piloten, 1586/87), das den Anspruch hatte, alle bekannten Inseln der Welt abzubilden und 300 Inselkarten umfasste. Nach dem 17. Jahrhundert verschwand das eigentümliche Genre. Siehe auch: Tom Conely, The Self-Made Map: Cartographic Writing in Early Modern France, Minneapolis 2010; George Tolias, „The Politics of the Isolario. Maritime Cosmography and Overseas Expansion during the Renaissance“, in: The Historical Review, 9, 2012, S. 27–52; Angus Cameron, „Isolarii: Insel­welten“, in: Being an Island / Inseldasein, Hg. daadgalerie, Berlin, Berlin 2013, S. 16– 21; Frank Lestringant, Le livre des îles. Atlas et récits insulaires de la Genèse à Jules Verne, Genf 2002; ders. „Les îles creuses del’archipel (L’Insulaire d’André Thevet)“, in: Moureau 1989, S. 19–26.  9 Zur zentralen Bedeutung der Städte für Renaissancereisende siehe: Urbain 1993, S. 137– 9 140. 10 Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum Archipelagi. Transkription des Exemplars Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf Ms. G 13, Übers. und Kommentar Karl Bayer, Wiesbaden 2007, S. 14. Siehe auch: Cristoforo Buondelmonti, Liber insularum ­Archipelagi, Hg. Irmgard Siebert u. a., Wiesbaden 2005.

Der Kythera-Code. Die Liebe als Reise

11 Siehe Braudel 1998. 12 Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Hg. Thomas Reiser, Wunsiedel 2014; Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Hg. Marco Ariani u. a., 2 Bde., Mailand 1998; Francesco Colonna, Hypnerotomachia Poliphili. The Strife of Love in a Dream, Hg. Joscelyn Goodwin, London 1999, siehe auch Encyclopedia of Italian Literary Studies 1: A–J. Index, Hg. Gaetana Marrone, New York/London 2007. 13 Gerhard Goebel, Poeta faber. Erdichtete Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der Renaissance und des Barock, Heidelberg 1971, S. 38–68; Gerd Blum, Fenestra Prospectiva. Architektonisch inszenierte Ausblicke: Alberti, Palladio, ­Agucchi, Berlin/Boston 2015, S. 83–84. 14 Siehe Kirsten Dickhaut, „Kytherische Liebe, Liebe auf Kythera“, in: Dickhaut 2014, S. 263–327. 15 Aronson 1986; Ellen Brinks, „Meeting Over the Map: Madeleine de Scudery’s Carte du Pays de Tendre and Aphra Behn’s Voyage to the Isle of Love”, in: Restoration: Studies in English Literary Culture, 1660–1700, Bd. 17, Nr. 1 (Frühjahr 1993), S. 39–52; Claude ­Filteau, „Le Pays de Tendre: L’enjeu d’une carte“, in: Littérature, 36, 1979, S.  37–60; ­Kolesch 2003; Daniel Maher, „Du pays de Tendre au Royaume de Coquetterie Utopie, ­dystopie et géographie sentimentale au XVIIe siècle“; https://slllc.ucalgary.ca/Maher/557/ CartedeTendreRdC.html (Abruf 18.4.2018); Anne-Elisabeth Spica, Savoir peindre en littérature. La description dans le roman au XVIIe siècle: Georges et Madeleine de Scudéry, Paris 2002; Paul Zumthor, „La Carte de Tendre et les précieux“, in: Trivium, 6, 1948, S. 263– 273. 16 Giuliana Bruno fühlte sich zudem an den weiblichen Unterleib erinnert, vgl. Bruno 2002. 17 Zu den verschiedenen Weitererzählungen siehe Drouin 2013, wo auch der Text von Tallemant abgedruckt ist. 18 Abdruck in Internationale situationniste, 3, Dezember 1959, S. 238. Für Giuliana Bruno wird sie zum Leitbild einer Erkundung zu Film und Architektur; Bruno 2002, S.  2–11. Auch die Kulturhistorikerin Rebecca Solnit bezieht sich indirekt auf sie, wenn die das Land der Gefühle als weibliches Territorium bezeichnet, für das viele Männer nicht einmal ein Touristenvisum haben: „‚In Amerika geht es brutal zu‘. Rebecca Solnit im Gespräch mit Elisabeth Raether“, in: ZEITmagazin, Nr. 32, 2015, 24.8.2015, S. 19. 19 Charlotte Belaich, „La ‚séduction à la française‘ est-elle en danger?“, in: Libération, 11.1.2018. 20 Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt am Main 1994, S. 97. 21 Zit. nach Eisenstadt 1930, S. 5. 22 Antoine Furtière, Dictionnaire universel contenant généralement tous mots françois. Zit. nach Steigerwald 2001, S. 285. 23 André Bourde, „L’île dans l’opéra baroque“, in: Moureau 1989, S. 27–45; Kirsten Dickhaut, „Festspiele als höfische Gefüge. Versailles, Les Plaisirs de l’île enchantee, Paris und ­Molières Tartuffe ou l’Imposteur“, in: Dickhaut/Steigerwald/Wagner 2009, S.  185– 214; Virgina Scott, „Ariosto’s Orlando Furioso: Performance at the Valois and Bourbon Courts“, in: The Court Historian, 8, 2003, S. 177–187. 24 Goebel 1971, S. 202–207. 25 Des Herrn Dancourt sämmtliche Lustspiele, Breslau/Leipzig 1762, o. S.; im Original: „Au Temple du fils de Vénus / Chacun fait son Pèlerinage / La Cour, la Ville, et le Village / Y son également reçus / Ceux qui viennet dans le belâge / Y sont toujours les mieux venus

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Anmerkungen

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[…] Venez dans l’ile de Cythère / En Pèlerinage avec nous / Jeune fille n’en revient guère / Ou sans amant, ou sans époux […].“ Zit. nach Eisenstadt 1930, S. 143. Louis Fuzelier, Les Pèlerins de Cythère, 1713; zit. nach Tomlinson 1981, S. 124. Posner 1984, S. 187. Moureau 2005, S. 393–418; Tomlinson 1981, S. 116–117. Jörn Steigerwald, „Madeleine de Scudérys dialogische Inszenierung von Festbeschreibungen oder: Möglichkeiten sozialer Praxis im Theaterstaat von Louis XIV“, in: Dickhaut/ Steigerwald/Wagner 2009, S. 215–234, hier S. 229. „Je passerai légèrement ici sur une aventure qui, entrée sur quelques autres, fit du bruit quelque soin qu’on prît à étoufer. Mme la Duchesse de Bourgogne fit un souper à SaintCloud avec Mme la Duchesse de Berry, dont Mme de Saint-Simon se despensa, Mme la ­Duchesse de Berry et M. le Duc d’Orléans, mais elle bien plus que lui, s’y enivrèrent, au point que Mme la Duchesse de Bourgogne, Mme la Duchesse d’Orléans et tout ce qui étaint là ne surent que devenit; M. le Duc de Berry y était, à qui on di ce qu’on put, et à la ­nombreuse compagnie, que la Grand-duchesse amusa ailleurs du mieux qu’elle put. ­L’effet du vin, haut et bas, fut tel qu’on fut en peine, et ne la désenivra point: tellement qu’il la ­fallut ramener en cet état à Versailles. Tous les gens des équipages le virent, et ne s’ent turent pas […]“; zit. nach François Raviez, „Les vices du coeur, de l’esprit et de l’âme“. La Duchesse de Berry ou le scandal du corps dans les Mémoirs de Saint-Simon“, in: Richardot 2003, S. 28–29. Abbildungen in Watteau 1982, S. 76–77. Annette Dorgerloh, „Arkadien als Alternative. Schäfer und Liebespilger in der Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Fach – Translat – Kultur. Interdisziplinäre Aspekte der vernetzten Vielfalt, Hg. Klaus-Dieter Baumann, Berlin 2012, S. 1106–1160. Die Literatur zu den drei Versionen und zu Watteau ist umfangreich: Adhémar 1947; Bauer 1966; Börsch-Supan 1983; Börsch-Supan 2000; Cohen 1994; Dacier 1937, S. 247– 250; Drouin 2013; Eisenstadt 1930; Elias 2000; Held 1985; Levey 1961; Moureau/Grasselli 1987; Pilon 1921; Posner 1984; Sheriff 2006; Tolnay 1955; Tomlinson 1981; ­Watteau 1982. Levey 1961. Watteau 1982, S. 75. Yvonne Boerlin-Brodbeck, Antoine Watteau und das Theater, Basel 1973; Crow 1985; ­Giovanni Macchia, „Le mythe théâtral de Watteau“, in: Moureau/Grasselli 1987, S. 187– 196; André Blanc, „Watteau et le théâtre français“, in: Moureau/Grasselli 1987, S. 197–202; Robert Tomlinson, „Fête galante et/ou foraine? Watteau et le théâtre“, in: Moureau/Grasselli 1987, S. 203–211. Posner datiert den Stich auf ungefähr 1708 oder etwas früher, also wenig vor Watteaus Einschiffung; Posner 1984, S. 187. Held 1985, S. 30. Maraike Bückling, „Höfisches Arkadien und die Liebe der Empfindsamkeit“, in: Gefährliche Liebschaften. Die Kunst des französischen Rokoko, Ausst.-Kat. Liebighaus, Frankfurt am Main, München 2015, S. 12–35, hier S. 13. Viala 2008; Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Hg. ­Thomas Borgstedt/Andreas Solbach, Dresden 2001, darin insb. Jörn Steigerwald, „Um 1700. Galanterie als Konfiguration von Préciosité, Libertinage und Pornographie. Am Beispiel der ­Lettres portugaises“, S. 275–304; ders., „Galante Liebe“, in: Dickhaut 2014, S. 693–757.

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41 Held 1985, S. 59; Börsch-Supan 2000, S. 75; Jean de Jullienne, Collector & Connoisseur, Hg. Christoph Martin Vogtherr/Jennifer Tonkovich, Ausst.-Kat. Wallace Collection, London, London 2011. 42 Tomlinson 1981, S. 121. 43 Ibn Tufail, Hayy Ibn Yaqdhan: ein muslimischer Inselroman, Wien 2007. 44 Sloterdijk 2004, S. 309. 45 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Hg. Internationale Marx-Engels-Stiftung, Berlin 1991, S. 75ff. (= Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe, 10). 46 Deleuze 2003, S. 14.

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Vgl. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1959, S. 934. Smith 1985. Nach der Entdeckung des amerikanischen Kontinents entstanden bereits erste ethnologische Illustrationen. John White (ca. 1540–1590) dokumentierte die Indianer Nordamerikas. Albert Eckhout (1610–1666) die Bewohner Brasiliens. Forster 1983, S. 253. Taillemite 1977, S. 328. Bitterli 1991, S. 186. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde, Hg. Michel Bideaux/Sonia ­Faessel, Paris 2001. Dabei kam es auch zu einem Skandal, als herauskam, dass der Diener, der ihn begleitete, in Wahrheit eine als Mann verkleidete Frau war. Dies wurde erst auf Tahiti entdeckt. Zentralen Anteil daran hatten die Tahitianer, die einfach nicht glauben konnten, dass die Franzosen keine Frauen auf ihren Schiffen hatten. „Journal de Commerson et Duclos-Guyot et leurs annotations“, in: Taillemite 1977, Bd. 2, S. 421–522. Siehe auch Bitterli 1991, S. 388–389. Salmond 2009, S. 116–118. The Journals of Captain James Cook, Bd. 1: The Voyage of the Endeavour 1768–1771, Hg. J. C. Beaglehole, Cambridge 1955. Forster 1983. James Cook, The Voyages of Captain James Cook. Illustrated with Maps and Numerous Engravings on Wood. With an Appendix, Given an Account of the present Condition of the South Sea Islands etc., Bd. 1, London 1842, S. 4. Als Überblick der Bildproduktion auf Cooks Reisen siehe: Joppien/Smith 1985–1988. Zum Tod Cooks siehe Sahlins 1985. Hauptman 1996, S. 48. Meißner 2006; Salmond 2009; Smith 1985; Stafford 1984. Zur Wirkung insbesondere in der Literaturgeschichte: Brunner 1967; Winfried Volk, Die Entdeckung Tahitis und das Wunschbild der seligen Inseln in der deutschen Literatur, Heidelberg 1934; Wuthenow 1980 (insb. Kap. IV: „Tahiti: Die Entdeckung der exotischen Idylle“, S. 207–267); Porter 1991 (insb. Kap. 3 „Circumnavigation: Bougainville and Cook“, S. 86–122). Porter 1991, S. 119.

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Anmerkungen

18 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Hg. Fritz Bergemann, Frankfurt am Main 1963, S. 12, März 1828. 19 Diderot 1965. 20 Bougainville stellte bereits fest, dass es Geschlechtskrankheiten gab, und verdächtigte die englischen Seeleute. Porter 1991, S. 100. 21 Colin Newbury, Tahiti Nui: Change and Survival in French Polynesia 1767–1945, Honolulu 1980. 22 Diderot 1965, S. 15. 23 Bitterli 1991, S. 384–386. 24 Siehe: Bitterli 1991, S. 86–87. 25 Bitterli 1991, S. 375–388. 26 Bitterli 1991, S. 377–392. 27 Diderot 1965, S. 57. 28 Diderot 1965, S. 13. 29 Bitterli 1991, S. 380–381. 30 Diderot 1965, S. 11. 31 Billig 2010, S. 27. 32 Deleuze 2003, S. 10. 33 Pamela Kort, „Zwei Maler in Südamerika: Frederic Edwin Church und Martin Johnson Heade“, in: Darwin. Kunst und die Suche nach den Ursprüngen, Hg. Pamela Kort/Max Hollein, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Köln 2009, S. 12–23. 34 Charles Darwin, Geological Observations on the Volcanic Islands, London 1844. 35 Quammen 1996, S. 19, 18. 36 Siehe auch Johannes Riquet, „Islands as Shifting Territories: Evolution and Geology in the Island Poetics of Darwin, Wallace, Wells and Ghosh“, in: Dautel/Schödel 2016, S. 223–236. 37 Charles Darwin, Voyage of the Beagle, London 1989 (zuerst 1839), S. 269–271. 38 Charles Darwin zit. nach: Landsdown 2006, S. 172. 39 Teilabdruck in Landsdown 2006, S. 181–186. 40 Er fand die nach ihm benannte biogeografische Grenze, die die Fauna von Bali und Lombok unterscheidet. Zur Bedeutung von Wallace siehe Quammen 1996, S.  15–114, Kap. „The Man Who Knew Islands“. 41 Deleuze 2003, S. 10. 42 Kathrin Dautel/Kathrin Schödel, „Introduction –Insularity, Islands and Insular Spaces“, in: Dautel/Schödel 2016, S. 11–30, hier S. 11. 43 http://www.urbandictionary.com/define.php?term=island+time (Abruf 18.4.2018). 44 William Hodges 1744–1797. The Art of Exploration, Hg. Geoff Quilley/John Bonehill, ­ ariss, Ausst.-Kat. National Maritime Museum, Greenwich, New Haven u. a. 2004; Anne M „Natur und Geschlecht in Text und Bild bei Georg Forster und William Hodges auf der zweiten Cook-Expedition 1772–1775. Beitrag zum Themenschwerpunkt ‚Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte‘“, in: Themenportal Europäische Geschichte (2011); http://www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3602?title=natur-und-geschlecht-­intext-und-bild-bei-georg-forster-und-william-hodges-auf-der-zweiten-cook-expedition1772-1775-beitrag-zum-themenschwerpunkt-europaeische-geschichte-geschlechtergeschichte (Abruf 18.4.2018). 45 Georg Forsters Werke: sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 13, Hg. Siegfried Scheibe, Berlin 1978, S. 76.

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46 Salmond 2009 und Serge Tcherkézoff, Tahiti 1768: jeunes filles en pleurs. La face cachée des premiers contacts et la naissance du mythe occidental, Papeete 2004. 47 Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990. 48 Forster 1983. 49 Littlewood 2001. 50 Zu Gender und Sexualität auf Tahiti siehe Eisenman 1997. 51 Édouard Delessert, Voyages dans les Deux Océans Atlantique et Pacifique, Paris 1848. 52 Loti 1994 (die französische Ausgabe erschien 1890). 53 Loti 1994, S. 102–103. Im Original (Loti 1890, S. 96): „Puis il me fit cadeau d’un grand livre doré, qui était précisément un Voyage en Polynésie, à nombreuses images, et c’est le seul livre que j’aie aimé dans ma première enfance. Je le feuilletai tout de suite avec une curiosité empressée. En tête, une grande gravure représentait une femme brune, assez jolie, couronnée deroseaux et nonchalamment assise sous un palmier; on lisait au-dessous ‚Portrait de S.M. Pomaré IV, reine de Tahiti.‘ Plus loin, c’étaient deux belles créatures au bord de la mer, couronnées de fleurs et la poitrine nue, avec cette légende: ‚Jeunes filles tahitiennes sur la plage‘.“ 54 Loti 1994, S. 117. Im Original (Loti 1890, S. 110): „Après de départ de mon frère, pendant le hiver qui suivi, je passai beaucoup de mes heures de récréation dans sa chambre, à peindre des images du Voyage en Polynésie au’il m’avait donné. Avec uns soin extrème, je colorai d’abord les branches de fleurs, les groupes d’oiseaux. Le tour des bons-hommes vint ensuite. Quant à ces deux jeunes filles tahitiennes au bord du mer, pour lesquelles le dessinateur s’était inspiré des nymphes quelconques, je les fis blanches, oh! blanches et roses, commes les plus suaves poupées. Et je les trouvait ravissantes, ainsi. L’avenir se réservait de m’apprendre que leur teint est different et leur charme toute autre […].“ 55 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Je t’ai dit avoir été heureux sous les tropiques: c’est violemment vrai. Pendant deux ans en Polynésie, j’ai mal dormi de joie. J’ai eu des réveils à pleurer d’ivresse du jour qui montait … Toute l’île venait à moi comme une femme“, Segalen zit. nach Henry Bouillier, „Introduction“, in: Segalen 1995, S. 104; Laurence Chacot, La femme et son image dans l’œuvre de Victor Segalen, Paris 1999, S. 41. Siehe auch James 2016. 56 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Puisse venir le jour (et peut-être bientôt) ou j’irai m’enfuir dans les bois sur une île de l’Océanie, vivre là d’extase, de calme et d’art. Entouré d’une nouvelle famille, loin de cette lutte européenne après l’argent. Là à Tahiti je pourrai, au silence des belles nuits tropicales, écouter la douce musique murmurante des mouvements de mon cœur en harmonie amoureuse aves les êtres mystérieux de mon entourage. Libre enfin, sans souci d’argent et pourrait aimer, chanter et mourir“, Brief vermutlich von Juni/Juli 1890, zit. nach Gauguin 2003, S. 63. 57 Porter 1991, S. 28. 58 Zu Pechsteins Reisen und Aufenthalt auf Palau: Pechstein 1995; Pechstein 2012; Pechstein 2016. 59 Bismarck 2010, S. 27–42. 60 Nathalie Heinich, The Glory of van Gogh. An Anthropolgy of Admiration, Princeton 1996. 61 Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main New York 1986, Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler, Köln 2007.

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Anmerkungen

62 Die Literatur und die Zahl der Ausstellungen zu Gauguins Aufenthalten im Pazifik sind immens; besonders informativ mit weiterführender Literatur: Gauguin 2003; Gauguin 2010; Gauguin 2011. 63 Wyss 2010. 64 Douglas Druick/Peter Zegers, „Gauguin and the Paris World Fair: Imagining the ‚Studio of the Tropics‘“, in: Gauguin 2011, S. 60–77; Mu-Liepmann 2011. 65 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Sous un ciel sans hiver, sur une terre d’une fécondité merveilleuse, le Tahitien n’a qu’à lever le bras pour cueillir sa nourriture; aussi de travaille-t-il jamais. Pendant qu’en Europe les hommes et les femmes n’obtiennent qu’après un labeur sans répit la satisfaction de leurs besoins, pendant qu’ils se débattent dans les convulsion du froid et de la faim, en proie à la misère, les Tahitiens au contraire, heureux habitants des paradis ignorés de l’Océanie, ne connaissent de la vie que les douceurs. Pour eux vivre, c’est chanter et aimer“, zit. nach Gauguin 2003, S. 65. 66 Übersetzung der Autorin. Im Original: „[…] la peinture exacte des habitants qui peuplent ces petites Frances disséminées à travers les Océans, une sorte d’inventaire de notre ­richesse coloniale“, zit. nach Gauguin 2003, FN 24, S. 101. 67 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Madagascar est encore trop près du monde civilisé; je vais aller à Tahiti et j’espère y finir mon existence. Je juge que mon art que vous aimez n’est qu’un germe et j’espère là-bas le cultiver pour moi-même à l’état primitif et sauvage. Il me faut pour cela le calme. Qu’importe la gloire pour les autres! Gauguin est fini pour ici, on ne verra plus rien de lui“, Brief vom September 1890, zit. nach Gauguin 2003, S. 64. 68 Zum Primitivismus: Gone Primitive: Savage Intellects, Modern Lives, Hg. Marianne ­Torgovnick, Chicago 1990; Hiller 1991; Jessup 2001; Weiss 2007; Tony C. Brown, The ­Primitive, the Aesthetic, and the Savage. An Enlightenment Problematic, Minneapolis/ London 2012. 69 Varnedoe 1984, S. 187. 70 Malinque 1946, lettre LXXXVIII (Dezember 1888). 71 Malinque 1946, S. 319. ­ aorie“, 72 Übersetzung der Autorin. Im Original: „[…] il s’est fait sauvage, il s’est naturalisé M „le Tahiti d’autrefois, le Tahiti d’avant nos terribles marins et la confiture parfumée de M. Pierre Loti […]“, zit. nach Gauguin 2003, S. 126–127. 73 Weiss 2007, S. 19. 74 Elizabeth C. Childs, „The Colonial Lens: Gauguin, Primitivism, and Photography in the Fin de siècle“, in: Jessup 2001, S. 59. 75 Vincent Gille, „The Last Orientalist: Portrait of the Artist as Mohican“, in: Gauguin 2010, S. 55. 76 Varnedoe 1984, S. 187; Danielsson 1966. 77 Gauguin 1940, S. 7–8. 78 Gauguin 1940, S.  9 (im französischen Original: „La vie a Papeete me devint bien vite à charge. C’était l’Europe …“, in: Paul Gauguin, Noa Noa, Ed. définitive, Paris 1924, S. 31). 79 Siehe Gauguin 2003. 80 Colin Newbury, Tahiti Nui: Change and Survival in French Polynesia 1767–1945, Honolulu 1980, S. 203; Pierre-Yves Toullelan, Tahiti colonial (1860–1914), Paris 1984. Zu Kolo­ nialismus und Tourismus siehe auch Urbain 1993, S. 10–12.

Auf der Suche nach Ursprünglichkeit

81 Die Schiffsreisen waren langsam im Vergleich zu heute, verglichen mit dem 18. Jahrhundert hatten sie sich durch die Dampfschifffahrt und die Kipper, schmale Segelschiffe mit hohen Masten, jedoch beschleunigt, genau genommen zeitlich halbiert. Siehe Reinhart ­Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 158f. und allgemein zur Beschleunigung in der Moderne: Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt am Main 2005.  82 Brief vom November 1900 an Daniel de Monfreid, in: Gauguin 1974, S. 132. 82  83 83 Mu-Liepmann 2011, S. 81.  84 84 MacCannell 1999, S. 171.  85 85 Pollock 1993, S. 67. Zu Gauguin und später Matisse als Touristen siehe auch: John Klein, „Matisse after Tahiti: The Domestication of Exotic Memory“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 60, 1997, S. 44–89; Kittner 2010, S. 191–216; Staszak 2013.  86 86 MacCannell 1999, S. 178.  87 87 Porter 1991, S. 12.  88 88 Gauguin 1998a, S. 82. Gemeint ist vermutlich die 1860 gegründete Zeitschrift Le Tour du Monde. Nouveau Journal des voyages, nach 1895 Journal des voyages at voyageurs. Siehe Druick/Zegers 2011, S. 61.  89 Porter 1991, S. 182–183. 89  90 90 Solomon-Godeau 1989, S. 125. Vgl. auch James Clifford, „Of Other Peoples: Beyond the ‚Salvage Paradigm‘“, in: Discussions in Contemporary Culture, Hg. Hal Foster, Seattle 1987, S. 121–130.  91 Urbain 1993, S. 56–57. Zur Ablehnung der Modernintät und der Suche nach Authentizät 91 siehe auch Hennig 1997, S. 40, 169 und passim.  92 92 „La déculturation de Gauguin, son appropriation progressive de la mentalité primitive passent par la femme indigene.“ Gauguin 2003, S. 75.  93 93 Martha Lucy, „Evolution and Desire in Gauguin’s Tahitian Eve“, in: Broude 2018, S. 157– 178.  94 94 Nina Zimmer, „Paul Gauguin“, in: Kunstmuseum Basel. Die Meisterwerke, Hg. Bernhard Mendes Bürgi/Nina Zimmer, Ostfildern 2011, S. 126, 360.  95 95 Correspondance de Camille Pissarro, Hg. Janine Bailly-Herzberg, Bd. 3, Paris 1988, S. 400.  96 96 Benjamin H. D. Buchloh, „Parody and Appropriation in Francis Picabia, Pop and Sigmar Polke“, in: ders., Neo-Avantgarde and Culture Industry. Essays on European and American Art from 1955 to 1975, Cambridge, MA/London 2003, S. 343–364, hier S. 343.  97 97 Max Radiguet, Les Derniers Sauvages: la vie et les mœurs aux îles Marquises (1842–1859), Paris 1929; Marie-Agnès Sourieau, „Max Radiguet et les ‚derniers sauvages‘ et la dégradation de l’exotisme“, in: The French Review, Bd. 74, Nr. 4, März 2001, S. 673–684.  98 Gauguin 1998a, S. 82. 98  99 99 Brief LXXIII, Juni 1901, in Gauguin 1974, S. 141. 100 Segalen 2001, S. 37. 101 „Diese Kunst ist dank den Missionaren verschwunden. Die Missionare haben gefunden, dass Schnitzereien und Schmücken Fetischismus wäre und den christlichen Glauben beleidigen hieße.“ Gauguin 1998a, S. 85–86. 102 Gauguin 1998a, S. 13. 103 Édouard Glissant, Faulkner, Mississippi, Paris 1996. Siehe auch: Tamar Garb, „Gauguin and the Opacity of the Other: The Case of Martinique“, in: Gauguin 2010, S. 24–31.

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Anmerkungen

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R. Oeri-Sarasin, „Beiträge zum Verhältnis zwischen Jacob Burckhardt und Arnold Böcklin“, in: Basler Jahrbuch 1917, S. 267, 269, Brief vom 28.7.1861. Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905. Geelhaar 1990, S. 7–15; Schmid 1920, S. 23. Guillaume Apollinaire, „Und die Wächter, die die Tore des Louvre bewachten…  – Der Raub der Mona Lisa“, in: Hajo Düchting, Apollinaire zur Kunst, Köln 1989, S. 125. Ebd. Richter 2009; Waetzoldt 1927. Gustav Floerke, Zehn Jahre mit Böcklin, Aufzeichnungen und Entwürfe, München 1901, S. 14. Kaegi 1947–1982, Bd. 3, 1956, S. 453–454. Runkel/Böcklin 1909, S. 43–77. Böcklin 1910, S. 244. Böcklin 1910, S. 245–248. Böcklin 1910, S. 314. Burckhardt 1949–1994, Bd. 2, 1952, Nr. 174, S. 208. Jacob Burckhardt, zit. nach Kaegi 1947–1982, Bd. 2, 1950, S. 584. Siehe dazu auch Regina Römhild, „Topografien des Glücks. An den Kreuzungen von Migration und Tourismus“, in: Benthien/Gerlof, Köln 2010, S. 217–230. Burckhardt 1949–1994, Bd. 5, 1963, Nr. 550, S. 105. Andree 1977, Kat. 227, 279, 280, S. 327, 368–369; Kort 2009. Siehe auch Nina Auerbach, Woman and the Demon. The Life of a Victorian Myth, Cambridge, MA 1982; Bram Dijkstra, Idols of Perversity. Fantasies of Feminine Evil in Fin-deSiècle Culture, New York/Oxford 1986. Zu Böcklins Meerwesen siehe auch: Kerstin Borchardt, Böcklins Bestiarium. Mischwesen der modernen Malerei, Berlin 2017, S. 47–56. Magnaguagno/Steiner 1997. Boehm 2004; Linnebach 1997. Ken Ireland, Cythera Regained? The Rococo Revival in European Literature and the Arts, 1830–1910, Cranbury, NJ 2006. Siehe auch: Posner 1984, S. 182–184. Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, Frankfurt am Main 1976, S. 179–181. Französisch: „Quelle est cette île triste et noire? – C’est Cythère, / Nous dit-on, un pays fameux dans les chansons, / Eldorado banal de tous les vieux garçons. / Regardez, après tout, c’est une pauvre terre. […] Dans ton île, ô Vénus! je n’ai trouvé debout / Qu’un gibet symbolique oû pendait mon image… / – Ah! Seigneur! donnez-moi la force et la courage /De contempler mon cœur et mon corps sans dégout!“, in: Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, Hg. Édouard Maynail, Paris 1929, S. 203–205. Paul Verlaine, Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1919, S. 81–115. Paul Verlaine, „La dernière fête galante“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris 1919, S. 168. Siehe auch: Ireland 2006, S. 75–81. Siehe: Andree 1977, Kat. Nr. 231, S. 331. Homer, Odyssee, Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart 2009, S. 78. Jan Breughel der Ältere. Die Gemälde, Hg. Klaus Ertz/Christa Nitze-Ertz, Lingen 2008– 2010, Bd. II, S. 761–762.

Arnold Böcklins innere Inseln

29 Auerbach 1982; Dijkstra 1986; Joseph A. Kestner, Mythology and Misogyny. The Social Discourse of Nineteenth Century British Classical Subject Painting, Madison, WI 1989; Geschlechterkampf. Franz von Stuck bis Frida Kahlo, Ausst.-Kat. Städel Museum Frankfurt, Hg. Felix Krämer, Frankfurt u. a. 2016. 30 M. L., „Arnold Böcklin: Odysseus und Kalypso“, in: Canto d’Amore. Klassizistische Moderne in Musik und bildender Kunst 1914–1935, Bern 1996, S. 97. 31 Heinrich Wölfflin, „Der ‚klassische‘ Böcklin (Odysseus und Kalypso)“, in ders., Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1947, S. 57–62, hier S. 57. 32 Ilma Rakusa, „Die Einsamkeit der Statue“, in: Magnaguagno/Steiner 1997, S. 96–101, hier S. 99. 33 Insb. Hohl 1977; Lüthy 2001. 34 Zit. nach Gerd Roos, „Giorgio de Chirico und der lange Schatten von Arnold Böcklin“, in: Magnaguagno/Steiner 1997, S. 204–247, hier S. 208. 35 Silke Buchmann, Der Universalkünstler Alberto Savinio. Eine Analyse zu Kunsttheorie, Literatur und Bildmotivik, Marburg 2004. 36 Schmid 1920, S. 29. 37 Runkel/Böcklin 1909, S. 57–59. 38 Geelhaar 1990, S. 7. 39 Roos 1997, S. 206. 40 Schmid 1920. 41 Andree 1977, S. 418. Siehe auch Schmid 1920, S. 26. 42 Dorothee Gerkens, „Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1980“, in: Kunstmuseum Basel. Die Meisterwerke, Hg. Bernhard Mendes Bürgi/Nina Zimmer, Ostfildern 2011, S. 108, 354. 43 Die Gärten von Ermenonville, Hg. Michael Niedermeyer, Berlin 2007 (= Mitteilungen der Pückler Gesellschaft, Neue Folge, 22). 44 Brunner 1967, S. 153–193. 45 Günther Kleineberg, Die Entwicklung der Naturpersonizifierung im Werk Arnold Böcklins, Göttingen 1971, S. 179; Zelger 1991, S. 14. 46 Jean Paul 1980, S. 23–24. 47 Jean Paul 1980, S. 612. 48 Jean Paul 1965, insb. S. 652–659, 1234–1236. 49 Jean Paul1980, S. 745–756. 50 Neben meiner Kunst. Flugstudien, Briefe und Persönliches von und über Arnold Böcklin, Hg. Ferdinand Runkel, Carlo Böcklin, Berlin 1909, S. 43. 51 Stefan Banz, „Arnold Böcklin: Die Toteninsel“, http://www.banz.tv/uploads/1410784701_ Stefan_Banz_Boecklin_Die_Toteninsel_03_03_14.pdf (Abruf 18.4.2018). Englische Fassung: Besides, it’s always the others who die, Hg. Emilio Fantin u. a., Nürnberg 2014, S. 59–77. 52 Schick 1901, S. 22. 53 Darauf hat bereits Andrea Linnebach in ihrer Dissertation hingewiesen, vgl. Linnebach 1991, dort insb. S. 127–129. 54 Gludovatz 2010. Zum Kryptoporträt: Edith Futscher, Diesseits der Fassade. Kryptoportraits der Moderne zwischen Bildnis und Stilleben, Klagenfurt 2001. 55 Gludovatz 2010, S. 126. 56 Futscher 2001, S. 37–40. Der Legende nach wurde Courbet auf der Hochebene von ­Flagey unter einer Eiche geboren (S.  38). Dort auch zur Forelle als Selbstbildnis (Die Forelle, 1873).

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Anmerkungen

57 Roland Kanz, „Böcklins Selbstbildnisse“, in: Le Meraviglie dell’Arte. Kunsthistorische Miszellen für Anne Liese Gielen-Leyendecker zum 90. Geburtstag, Hg. Anne-Marie ­Bonnet u. a., Köln u. a. 2004, S. 93–107. 58 Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler, Frankfurt am Main 1994; Erwin ­Panofsky/Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1994. 59 Siegfried Gohr, Der Kult des Künstlers und der Kunst im 19. Jahrhundert, Köln/Wien 1975; Unsterblich! Der Kult des Künstlers, Hg. Jörg Völlnagel, München 2008; Im Tempel der Kunst. Die Künstlermythen der Deutschen, Hg. Bernhard Maaz, Berlin 2008. 60 Heinrich Wölfflin, „Arthur Böcklin,“ in: ders., Kleine Schriften, Basel 1946, S. 116. 61 Zum Einsamkeitstopos: Linnebach 1991, S. 128. 62 Walter Rehm, Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei ­Novalis – Hölderlin –Rilke, Düsseldorf 1950, S. 587; zit. nach Linnebach 1991, S. 130. Vgl. allgemein die Ausführungen ebd., S. 115–132. 63 Rohde 1898. 64 Böcklin 1990, S. 134. 65 Bloch 1976, S. 1–7; Maisak 2009. 66 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885 (= KSA 11), Hg. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, München 1988, S. 303. 67 Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, Würzburg 2000, S. 13. 68 Nietzsche 1881. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 429. 71 Nietzsche 1999, S. 109. 72 Zit. nach Zittel 2000, S. 47. 73 Ebd., S. 48. 74 Nietzsche 1999, S. 302. 75 Nietzsche 1999, S. 303. 76 Nietzsche 2008, S. 227. 77 Ebd., S. 331. 78 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (= KSA 3), Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 2008, S. 530. Zu Schifffahrt und Schiffbruch siehe auch: Blumenberg 1979; Wolf 2013. 79 Nietzsche 1999, S. 142. 80 So schrieb er am 29. Juni 1880 an Maria Berna: „Am letzten Mittwoch, den 23., ist das Bild, Die Gräberinsel […] an Sie abgegangen. Sie werden sich hineinträumen können in die dunkle Welt der Schatten, bis Sie den leisen lauen Hauch zu fühlen glauben, den das Meer kräuselt, bis Sie Scheu haben, die feierliche Stille durch ein lautes Wort zu stören.“ Zit. nach Holenweg 2001, S. 237–238. 81 Die Feiern zum Böcklin-Jubiläum waren dann auch im darauffolgenden Jahr das Sujet für drei Fasnachtscliquen. Christian Geelhaar, „Unser genialer Mitbürger“, in: Böcklin 1999, S. 31. 82 Siehe Fußnote 39. 83 Hommage 2001. 84 http://www.toteninsel.net/home.php (Abruf 7.4.2018).

Capri. Der mediterrane Mythos

85 Hommage 2001. 86 Linnebach 1991, S. 178.

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Waetzoldt 1927, S. 40. Compte de Caylus, Voyage d’Italie, Paris 1914, S. 247. Siehe auch Georges Festa, „Capri au siècle des Lumières: aspect du mythe de Tibère dans la conscience des voyageurs“, in: Moureau 1989, S. 67–77, hier S. 71. Gaius Suetonius Tranquillus, Die Kaiserviten / De vita Caesarum, Hg. Hans Martinet, Düsseldorf 2006. Clemens Krause, Villa Jovis. Die Residenz des Tiberius auf Capri, Mainz 2003; Robin ­Seager, Tiberius, Oxford 2005. Loyer 2017. Joseph Addison, Remarks on Several Parts of Italy, &c. in the years 1701, 1702, 1703, London 1718, S. 200–201, vgl. auch Corbin 1990, S. 72. Siehe „Am Anfang der Welt“, Kapitel 2. Petra Lamers, Die Voyage pittoresque des Abbé de Saint-Non und ihre Illustrationen, Mainz 1991. Benedetto Gravagnuolo, „From Schinkel to Le Corbusier. The Myth of the Mediterranean in Modern Architecture“, in: Lejeune/Sabatino 2000, S. 14–39. Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise, Hamburger Ausgabe, hg. und komm. von Herbert von Einem, München 1981, S. 316–317. Johann Daniel Ferdinand Neigebaur, Handbuch für Reisende in Italien, Leipzig 1826, S. 266. Richter 2009, insb. S. 166–170; Waetzoldt 1927. Kopisch 1997; August Kopisch – Maler, Dichter, Entdecker, Erfinder, Ausst.-Kat. Alte Nationalgalerie, Berlin, Hg. Udo Kittelmann/Birgit Verwiebe, Berlin/­Dresden 2016. Waetzold 1927, S. 258–262. Waetzold (ebd., S. 258–259) schreibt: „Wer einmal die kunstund kulturgeschichtlich lehrreiche Geschichte des Blau schreiben wird […] wird im Rahmen des 19. Jahrhunderts haltmachen bei der Rolle, die das Blau ungefähr von 1830 bis 1840 gespielt hat.“ Dieter Richter, „Das blaue Feuer der Romanik. Geschichte und Mythos der Blauen Grotte“, in: Kopisch 1997, S. 60–107. Peter Howard, „Artists as Drivers of the Tour Bus: Landscape Painting as a Spur to Tourism“, in: Crouch/Lübbren 2003, S. 114. Barbara Dawes/Costanze d’Elia, „Towards a History of Tourism“, in: Tjidschrift voor economische en sociale georafie / Journal of Economics and Social Geography, Bd. 86, 1, Februar 1995, S. 13–20; Jörn W. Mundt, Thomas Cook. Pionier des Tourismus, München 2014. Il convegno del paesaggio, Hg. Giuseppe Galasso/Alberto G. White/Valeria Mazzarelli, Capri/Neapel 1993, S. 5. Karl Gjellerup, „Seine Toteninsel“, in: Der Kunstwart, 14, 1. Februarheft, 1901, S. 420– 422; hier S. 420–421. À la jeunesse d’amour: Villa Lysis à Capri, 1905–2005, Hg. Gaetana Cantone u. a., Capri 2005.

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Anmerkungen

21 Norman Douglas, Siren Land: A Celebration of Life in Southern Italy, London 2010 (zuerst 1911). 22 Norman Douglas, South Wind, London 1917. 23 Axel Munthe, Das Buch von San Michele, Berlin 2009 (zuerst engl. 1929); Thomas Steinfels, Der Arzt von San Michele: Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben, München 2007. 24 Josef Hoffmann, „Architektonisches von der Insel Capri“, in: Der Architekt, 3, 1897, S. 13. 25 Fabio Mangone, Capri e gli architetti, Neapel 2004; Capri 1905–1940, Hg. Lea Vergine, Mailand 2003. 26 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Notabile il dualismo che divide la vita ­caprese in due parti ben distinte: quella silenziosa ed elementare degli autoctoni o indigeni o ­aborigeni che dir si volgia, e quella truculenta, tra frivola e estetizzante, di tutti gli ulissidi che, attrati dal non mai spento canto delle Sirene, convengono qui dai punti piu rimoti del globo.“ ­Savinio 1988, S. 18–19. 27 Cerio 1923 (1993); Capri Futurista, Hg. Ugo Piscopo, Neapel 2001. 28 Cerio 1923 (1993), S. 38. 29 Cerio 1923 (1993), S. 37. 30 Übersetzung der Autorin. Im Original: „[…] io le definisco come tipiche rocce italiane, ­ribelli, tumultose, liriche, violente, guerresche, rivoluzionarie, come la nostra anima, come la nostra arte presente, passata, futura e futurista!“, Cerio 1923 (1993), S. 38. 31 Edwin Cerio, Aria di Capri, Neapel 1927. 32 Bruno Fiorentino, „Dal Paesaggio del Mito al Mito del Paesaggio“, in: Gaetana Cantone/ Bruno Fiorentino/Giovanna Sarnella, Capri. La città e la terra, Neapel 1982, S. 319–341.  33 Marinetti/Corra 2003. 34 Übersetzung der Autorin. Im Original: „5) Di espellere dall’Isola di Capri, nostra capitale, tutte le donne, sempre loquaci, turbolente, volgari e piene di brutti odori / 6) Di condannare a morte tutti i progressisti, tutti i rivoluzionari e tutti i futuristi del mondo.“ Marinetti/Corra 2003, S. 93. 35 Filippo Tommaso Marinetti, „Manifest des Futurismus“, in: Manifeste und Prokamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Hg. Wolfgang Asholt/Walter Fähnders, Stuttgart/Weimar 1995, S. 4–7, hier S. 5. 36 Siehe auch Peter-André Alt, Ästhetik des Bösen, München 2010, S. 455–480. 37 Werckmeister 1999, S. 38–39. 38 Torsten Liesegang, „Zwischen Sinnsuche und Dekadenz – Malapartes Romane über den Zweiten Weltkrieg“, in: Liesegang 2011, S. 105–150, hier S. 141. 39 Zu seinem Aufenthalt auf Lipari am ausführlichsten La Greca 2012. 40 Talamona 1990, S. 13. 41 Kurze Beschreibung Maiuris im Reiseführer, den er 1955 über Capri schrieb: Amedeo Maiuri, Capri. Storia e monumenti, Rom 1955, S. 30–57. 42 Pier Giovanni Guzzo, „Maiuri, Amedeo“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 67, 2006; http://www.treccani.it/enciclopedia/amedeo-maiuri_%28Dizionario-Biografico%29/# (Abruf 19.4.2018). 43 Zit. nach Talamona 1990, S. 18. 44 Libera 1989. 45 Übersetzung der Autorin. Im Original: „Nella parte più selvaggia, più solitaria, più drammatica […], dove la natura si esprime con una forza incomparabile, e crudele, un promontorio di straordinaria purezza di linee, avventato in mare con l’artiglio di roccia.

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Nessun luogo, in Italia, ha tale ampieza di orizzonte, tale profondità di sentimento.“ „E un luogo, certo, solo adatto per uomini forti, per liberi spiriti.“ In: Curzio Malaparte, „Ritratto di pietra“, um 1940; zit. nach ­Talamona 1990, S. 81. Dieser Text wurde an verschiedenen Stellen publiziert, auch unter dem Titel „Una casa tra greca e scirocco“ (http://ronchi. isti.cnr.it/malaparte_it.html) auf der Website der Giorgio Ronchi Foundation. Allerdings gibt es keine textkritische Ausgabe – ebenso wenig wie für das Gesamtwerk Malapartes. Sowohl die Originaltexte als auch die Villa selbst sind nur in sehr eingeschränktem Umfang zugänglich. Libera verglich später in einem anderen Zusammenhang Malapartes Kunstverständnis mit Gabriele D’Annunzios als dekadent und allzu romantisch: Adalberto Libera, „La mia esperienza di architetto“, in: La Casa. Quaderni di architettura e di critica, Nr. 6, 1960, S. 171–175. Talamona 1990. Ein weiterer Architekt, Uberto Benetti, fertigte gemäß einer Rechnung von 1939 Zeichnungen nach Anweisungen Malapartes an; Pettena 1999, S. 78. Talamona 1990, S. 30. Gianni Pettena gibt einen guten Überblick über die einzelnen „Fraktionen“; Pettena 1999, S. 26–58. Talamona 1990, S. 34. Talamona 1990, S. 81. Übersetzung der Autorin. Im Original: „[…] si rivelò per la più ardita e intelligente e moderna casa di Capri […] Nessuna colonnina romanica, perciò, nessun arco, nessuna scaletta esterna, nessuna finestra ogivale, nessuna di quegli ibridi connubi, tra stile moresco, romanico, gotico e secessionista.“ Talamona 1990, S. 82. Im Original: „Tentare a Capri un giardino sul tipo de giardini di Versailles, costruirvi una casa egizia o un tempio greco sono cose ugualmente cretine. Non si copia il classico. Si chiama classico l’equilibro raggiunto di una data epoca artistica.“ F. T. Marinetti, „Lo stile pratico“, in: Cerio 1923 (1993), S. 67. Beatriz Colomina, Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambrigde, MA 1996. Attanasio 1990. Übersetzung der Autorin. Im Original: „Apro la finestra, ed è la notte di Capri sul mare, chiudo la finestra, ed è la notte di Capri nella mia casa solitaria a picco sul mare, la notte italiana sui libri e quadri della mia biblioteca: sulla Spiaggia normanna di Dufy, sui tre Paysages parisiens di Delaunay, sulla giovane donna del Concerto di Kokoschka, sul Déjeuner sur l’herbe di Pascin, sulla Crocifissione di Chagall; la notte greca di Capri sul mazzo di fiori di Giorgio Morandi, sulla Spiagga della Versiglia di De Pisis, sul pavimento di mattonelle di maiolica bianca con la lira incoronata di alloro, disegnata da Goethe in margine al manoscritto del Viaggo in Italia.“ In: Curzio Malaparte, Benedetti Italiani, Florenz 1986, S. 5. Talamona 1990, S. 63. Pettena 1999, S. 16. Alberto Savinio, Capitano Ulisse, Hg. Alessandro Tineri, Mailand 1989. Savinio 1988. Talamona 1990, S. 82. Malaparte 1963b, S. 63. Im Original: „Vorrei costruirmela con le mie mani, pietra su pietra, mattone su mattone, la città del mio cuore. Mi farei architetto, muratore, manovale, falgename, stuccatore, tutti i mestieri farei, perché la città fosse mia, proprio mia, dalle cantine

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Anmerkungen

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ai tetti, mia comme la vorrei.“ (Curzio Malaparte, „Città come me“, in: Sangue, Mailand 2003, S. 75.) Malaparte 1963b, S. 66–67, (Città come me, S. 78.) Michelangelo Sabatino, „The Politics of Mediterraneità in Italian Modernist Architecture“, in: Lejeune/Sabatino 2000, S. 56–57. Malaparte 2008, S. 252–253. „Volevo andare a casa, volevo andare a Capri, nella mia casa solitaria a picco sul mare.“ In: Malaparte 2007, S. 521. Malaparte 2007, S. 521. Übersetzung der Autorin. Im Original: „Non ho nulla da mutare a queste parole, che scrivevo nei primi giorni del mio confino, a Lipari. Oggi vivo in un’isola, in una casa triste, dura, severa che mi son costruita da me, solitaria sopra uno scoglio a picco sul mare: una casa che è lo spettro, l’immagine segreta, della prigione. L’immagine della mia nostalgia. Forse no ho mai veramente desiderato, neppure allora, di fuggire dal carcere.“ In: Malaparte 2004, S. 15–16. Malaparte 2007, S. 525. Gabardella 1989, S. 107–119. Übersetzung der Autorin. Im Original: „When the sudden storm which had cast me, shipwrecked, into the Roman prison of Regina Coeli, eventually washed me ashore on the island of Lipari-where the Greeks placed the kingdom of Aeolus, ruler of the winds and storms- and I made my way along the Via Garibaldi towards the ancient castle, I was not, I admit, in the same mood as was Ulysses when he climbed that same road towards the mansion of King Aeolos, ‚beloved of the immortal gods,’ the favor of a good breeze to bear me back home to the arms of Penelope and Telemachus. […] I disembarked, as did the hero of the Odyssee, on the dark shores of Marina Corta, almost on the very steps of the Church of Purgatory, which is built on a rock at the end of the little jetty at the high perpendicular cliff of the Aeolian fortress.“ Malaparte 1935, S. 724. Malaparte 1935, S. 730–731. W. B. Stanford, The Ulysses Theme. A Study in the Adaptibility of a Traditional Hero, Oxford 2004; Wolf 2013, S. 44. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 53, 71. Werckmeister 1999, S. 36. Bersani/Dutoit 2003. MacCabe/Mulvey 2012, S. 4. Moravia 2007. Jean-Luc Godard, „Le Mépris“, in: Bergala 1985, S. 248. Dort sagt Battista: „Capri liefert, sozusagen, die Bilder bereits fix und fertig; es genügt, sich einfach vor diese Landschaft hinzustellen und sie zu kopieren.“ Moravia 2007, S. 75. Übersetzung der Autorin. Im Original: „Quand j’y réflechis bien, outre l’histoire psychologique d’une femme qui méprise son mari, Le Mépris m’apparaît comme l’histoire de naufragés du monde occidental, des réscapés du naufrage de la modernité, qui abordent un jour, à l’image des héros de Verne et de Stevenson, sur une île déserte et mystérieuse, dont le mystère est inexorablement l’absence de mystère, c’est-à-dire la vérité“, Jean-Luc ­Godard, „Le Mépris“, in: Bergala 1985, S. 248–249, hier S. 249. Jean-Luc Godard, „Scénario du Mépris“, in: Bergala 1985, S. 244–248, hier S. 242. Kilb 1990, S. 186. Er schreibt sogar „systematisch“.

Bali. Der westliche Tagtraum

84 Übersetzung der Autorin. Im Original: „La deuxième partie du film se passe à Capri. Le seul décor utilisé là est celui de la villa de Malaparte avec, aux alentours, les énormes et grandioses blocs de rocher sauvages plongeant directment dans le royaume de Poséidon, lequel ne l’oublions pas, est l’un des seuls dieux à ne pas aimer Ulysse et à ne pas le protéger. C’est pour cette raison que la situation géographique de la ville est importante. Seule, face à la mer, elle renforcera l’idée d’un monde odysséen, en lui donnant une réalité et une présence quasi palpable. Toute la deuxième partie sera dominée du point de vue couleurs par le bleu profond des mers, le rouge de la villa, et le jaune du soleil, on retrouvera ainsi une certaine trichromie assez proche de celle de la statuaire antique véritable. Dans tout le film, le décor ne doit être utilisé que pour faire sentir la présence d’un autre monde que le monde moderne de Camille, Paul et Jérémie Prokosch.“ Bergala 1985, S. 246. 85 Prange 2010, S.  56. Die Farben werden auch den Protagonisten zugeordnet, siehe Kilb 1990, S. 189–190. 86 Vogl 1996. 87 Werckmeister 1999, S. 36. 88 Kilb 1990, S. 188. 89 Prange 2010, S. 52–58. 90 Bersani/Dutoit 2003, S. 19. 91 Silverman/Farocki 1998, S. 53.

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Belo 1970. Margaret Mead, „The Arts in Bali“, in: Belo 1970, S. 331–340. Zu Pechsteins Reisen und Aufenthalt auf Palau: Max Pechstein 1995; Max Pechstein 2012. Schulte Nordholt 1999, S. 242. Vickers 2012, S.  136. Zur Paradiesvorstellung siehe auch: Yamashita 2003, insb. Kap. 3: „The Creation of ‚Paradise‘ under the Dutch Colonial System“. Carpenter 1997, S. 45. Bali en Lombok wurde 1906, 1909 und 1910 publiziert. W. O. J. Nieuwenkamp, Bali en Lombok, Edam 1906–1910; ders., Zwerftochten op Bali, Amsterdam 1910. Die Privatmuseen von Suteja Neka und Agung Rai trugen zur größeren Bekanntschaft bei. Auch das Interesse von Sammlern aus Jakarta trug dazu bei, dass Bekanntschaft und Preise stiegen. Klaus Wenk, Theo Meier. Bilder aus den Tropen, Dietikon/Zürich 1980; Didier Hamel, Theo Meier. A Swiss Artist unter the Tropics, Jakarta 2007. Schuh 1941. Siehe auch Ramseyer 2006. Schuh 1941. André Roosevelt, „Introduction“, in: Powell 1930, S. xii–xiv. Picard 1992; Vickers 2012. Vgl. Kap. 2, „Am Anfang der Welt“. Raffles 1988 (1817). Raffles 1988 (1817), Bd. 2, Appendix K. Schulte Nordholt 2007, S. 387–416. Toekang potret 1988.

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Anmerkungen

19 Die Karikatur und Beschreibung siehe Moog 2015, S. 313–318. Zu Nieuwenkamps Begleitung der Invasion siehe Carpenter 1997, S. 54–61. 20 So schreibt Ramseyer 2006, S. 135: „From an ethnological standpoint, it is surprising to note how little the perception of the Westerners in Bali in the Thirties had in ­common with the understanding that the Balinese had of themselves.“ Das trifft nicht nur auf die 1930erJahre zu. Zum Puputan siehe u. a.: Dragojlovic 2016; Thomas Moog, Bali. 1000  Jahre ­Geschichte, Bergheim 2015; Jhr. H. M. Van Weelde, „The Balinese Puputan“, in: The ­Indonesia Reader. History, Culture, Politics, Hg. Tineke Hellwig/Eric Tagliacozzo, Durham 2009, S. 262–264; Schulte Nordholt 1999; Wiener 1995; Wiener 2009, S. 51–89. 21 Zur Erinnerungskultur siehe insb. Dragojlovic 2016; Wiener 2009. 22 Picard 1992, S. 27–29. 23 Short Guide to Bali, Hg. Official Tourist Bureau, Weltevreden 1924. 24 Vgl. Kap. 2, „Die weibliche Insel“. 25 Krause 1919. 26 Krause 1920. 27 Karl With, „Bali und wir“, in: Krause 1920, S. 9–16, hier S. 16. 28 Krause 1920, S. 32. 29 Krause 1920, S. 41. 30 Zu den sehr komplexen sozialen Strukturen, Konzeptionen von Zeit und Subjektivität sowie der Bedeutung von Ritualen auf Bali siehe u. a. Geertz 1983. 31 Rhodius 1964. Allerdings hat Rhodius die Briefe gekürzt, ohne dies kenntlich zu machen. Auch wurden heikle Briefe auf Wunsch von dessen Familie nicht aufgenommen und wahrscheinlich nach Rhodius’ Tod vernichtet. 32 Barley 2009 (dt.: Das letzte Paradies, 2015). Siehe auch: Michael Schindhelm, Walter Spies: Ein exotisches Leben, München 2018; James 2016, S. 105–182; Stowell 2011; Pistor 2015; Schleiermacher 2010. 33 Franz Roh, Nach-Expressionismus-Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925. 34 Briefentwurf an Frau Jaenischen-Woermann vom Juli 1923; Rhodius 1964, S. 128. 35 Pechstein 1960, S. 22. 36 Rhodius 1964, S. 150–151. 37 Jaap Kunst/C. J. A. Kunst-Van Wely, De Toonkunst van Bali, Weltevreden 1924 (= Studiën over Javaanscheen en andere indonesische Muziek). 38 Rhodius 1964, S. 208. 39 Rhodius 1964, S. 226. 40 Rhodius 1964, S. 222. 41 Zu Cokorda Gde Raka Sukawati und Ubud siehe: Graeme MacRae, „Acting Global, ­Thinking Local in a Balinese Tourist Town“, in: Rubinstein/Connor 2009, S. 123–154 42 Franz Blei, „Erfüllte Sehnsucht. Der deutsche Maler Walter Spiess [sic] und sein Haus auf der Insel Bali“, in: Die Dame, 1932, H. 3, S. 5–8. 43 Roh 1925, S. 81–82. 44 Brief an Franz Roh, 11.7.1923; Rhodius 1964, S. 110. 45 Brief an Franz Roh, 1.6.1926; Rhodius 1964, S. 219. 46 Zit. in Stowell 2011, S. 197. 47 Rhodius 1964, S. 132. 48 Rhodius 1964, S. 392–397. 49 Rhodius 1964, S. 312–313.

Bali. Der westliche Tagtraum

50 Roelof Goris, The Island of Bali. Its Religion and Ceremonies, Batavia 1931. 51 J. Swellengrebel, „In memoriam Dr. Roelof Goris (with a bibliography by R. S. Karni)“, in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde, 122, 1966, Nr. 2, S. 205–228. 52 Covarrubias 1937. 53 Stowell 2011, S. 148. 54 1932 wurden die drei Poster im Schulverlag J. B. Wolters publiziert. 55 „Zadertag 23 October 1937“, in: Djawa, XVIII, 1938, S. 70–81, Short Guide too [sic] the Museum, Hg. Society „Bali Museum“, Depansar 1959. 56 Der Ethnologe Nigel Barley erzählt in Isle of Demons die Biografie Spies aus der Sicht von Rudolf Bonnet. Siehe auch Helena Spanjaard, Pioneers of Balinese Painting. The Rudolf Bonnet Collection, Amsterdam 2007. 57 Geertz 1994, S. 5; Geertz1975. Zur Ankunft auf Bali siehe auch: Clifford Geertz, „‚Deep Play‘: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“, in: Geertz 1983a, S. 202–260. 58 Vgl auch Pistor 2015, S. 162–171 (Kap. „Das Janusgesicht der ‚Pita Maha‘“); Geertz 1983. 59 Robinson 1995; Schulte Nordholt 1999; Schulte Nordholt 2000. 60 Tessel Pollmann, „Margaret Mead’s Balinese: The Fitting Symbols of the American Dream“, in: Indonesia, 49, 1990, S. 15. Siehe auch: Tobing Rony 1996, ,S. 146. 61 Walter Spies, „Bericht über den Zustand von Tanz und Musik in der Negara Gianjar“, in: Djawa, XVI, 1926, S. 53–54. 62 Zit. nach Robinson 1995, S. 41. 63 Vickers 1989, S. 151. 64 James A. Boon, „Between-The-Wars Bali. Rereading the Relics“, in: Malinowski, ­Rivers, Benedict and Others. Essays on Culture and Personality, Hg. George W. Stocking, M ­ adison 1986, S. 230. 65 Hitchcock/Norris 1995. 66 Jane Belo, Bali: Ranga and Barong, Seattle/London 1940; dies., Bali: Temple Festival, ­Seattle/London 1953. Claire Holt verfasste auch ein Buch über die Kunst Indonesiens: Holt 1967. 67 Vicki Baum, Liebe und Tod auf Bali, Köln 2015 (zuerst 1937). 68 Walter Dreesen, Hundert Tage auf Bali, Hamburg 1937. 69 Tobing Rony 1996, insb. S. 137–153. 70 Gottowik 2010. 71 Brief vom 11.7.1931; Rhodius 1964, S. 298. 72 Stepputat 2010. 73 André Bazin, Was ist Film?, Berlin 2004, S. 50. 74 Boon 1986, S. 218. 75 Mead beschrieb Spies: „Walter is a perfectly delightful person, an artist and a musician, who has lived in Bali for some eight years and has welcomed and entertained all the interesting people who have come here. He has done a great deal to stimulate modern Balinese painting and has painted Bali himself and in general has worked out a most perfect between himself, the island, its people and traditions. […] Our only other neighbour here is a mild, responsible, only a little twinkling Dutch artist [Rudolf Bonnet] who supplies system and bookkeeping to Walter’s attempts to protect and encourage the Balinese artists to resist the tourists and do good work. Margaret Mead, Letters from the Field 1925–1975, New York 1977, S. 160. 76 Siehe Geertz 1994.

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Anmerkungen

77 Gerald Sullivan, Margaret Mead, Gregory Bateson, and Highland Bali, Chicago/London 1999. 78 Wenig später machten auch Claude und Dina Lévi-Strauss Filmaufnahmen in Brasilien. 79 Zu Batesons Filmen siehe auch Ute Holl, Kino, Trance & Kybernetik, Berlin 2002, S. 58– 79; Catherine Russell, Experimental Ethnography. The Work of Film in the Age of Video, Durham/London 1999, S. 199–206. 80 Bateson/Mead 1942; Margaret Mead/Frances Cooke Macgregor, Growth and Culture: A Photographic Study of Balinese Culture, New York 1951. 81 Bateson/Mead 1942, S. xii. 82 Sullivan 1999, S. 12. Siehe auch Gregory Bateson, „The Value System of a Steady State“, in: Belo 1970, S. 384–401. 83 Viel Aufsehen erregten Derek Freedmans Buch Margaret Mead and Samoa: The Making and Unmaking of an Anthropological Myth (Cambridge, MA 1983) und seine nachfolgenden Publikationen. Siehe auch Gordon D. Jensen/Luh Ketut Suryani, The Balinese People: A Reinvestigation of Character, Singapur 1992; Pollmann 1990; Schulte Nordholt 1999. 84 David Lipset, Gregory Bateson. The Legacy of a Scientist, Boston 1980, S. 155. 85 Stowell 2011, S. 230. 86 Zit. nach Nancy C. Lutkehaus, Margaret Mead. The Making of an American Icon, Princeton/Oxford 2008, S. 180.

Lanzarote. Zurück in die Zukunft 1  1

OPEN–CLOSED. Eine Untersuchung über Stadtentwicklung auf den Kanarischen Inseln, Hg. ETH Studio Basel, Basel 2007. 2 Myers 1966, S. 64.  2 3 Allan Kaprow, „Should the Artist become a Man of the World?“, in: Art News, Bd. 63,  3 Nr. 6, Oktober 1964, S. 34–37, wiederabgedruckt als „The Artist as a Man of the World“, in: ders., Essays on the Blurring of Art and Life, Hg. Jeff Kelley, Berkeley u. a. 1993, S. 46– 58. 4  4 Monique Pelletier, „Le portulain d’Angelino Dulcert / Der Portulan von Angelino ­Dulcert“, in: Cartographica Helvetica. Fachzeitschrift für Kartengeschichte, 2, 1993/94, H. 9, S. 23–31. 5  5 Siehe Kapitel 2. Zur Geologie ferner: Peter Rothe, Kanarische Inseln, Berlin/Stuttgart 1996. 6 Alexander von Humboldt’s Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. Hg.  6 Hermann Hauff, Stuttgart 1861–1862; Alfred Gebauer, Alexander von Humboldt. Seine Woche auf Teneriffa 1799, Zech 2009. 7 Gebauer 2009, S. 49.  7 8 Gebauer 2009, S. 42.  8 9 Hauff 1861–1862, S. 64 (dieser Satz fehlt bei Gebauer).  9 10 Gebauer 2009, S. 44. 11 Gebauer 2009, S. 54–55. 12 Gebauer 2009, S. 58.

Lanzarote. Zurück in die Zukunft

13 Der Pic war im 18. Jahrhundert bereits von mehreren Engländern bestiegen worden. Zum Teide und seiner Erforschung: Juan Tous Meliá, La medida del Teide. Historia: descriptiones, eruptiones y cartografia, San Cristóbal de la Laguna 2015. 14 Atlas geographique et physique du nouveau continent. Voyage de Humboldt et Bonpland. Premiere partie, Relation historique, Paris 1814. 15 Leopold von Buch, Physikalische Beschreibung der Canarischen Inseln, Berlin 1825. 16 Quammen 1996, S. 54–55. 17 Oskar Simony, „Photographische Aufnahmen auf den Canarischen Inseln“, in: Annalen des Naturhistorischen Museums in Wien, 16, 1901, S. 36–62. 18 Arndt 1869, S. 54. 19 Professor Eduard Hildebrandt’s Reise um die Erde. Nach seinen Tagebüchern und mündlichen Berichten erzählt von Ernst Kossak, Berlin 1870. 20 Arndt 1869, S. 65. 21 Arndt 1869, S. 66. 22 Arndt 1869, S. 71. 23 Es gab selbstverständlich auch lokale Künstler: Der einheimische Landschaftsmaler war der 1849 auf Teneriffa geborene Valentín Sanz, der jedoch bald nach seinem Studium in Madrid 1882 nach Kuba auswanderte. 24 Uwe Riedel, Der Fremdenverkehr auf den Kanarischen Inseln. Eine geographische Untersuchung, Kiel 1971. 25 André Breton, „Le château étoile“, in: Minotaure, 8, 1936, S. 25–40. 26 Espinosa 1929, S. 12. 27 Espinosa 1929, S. 20. 28 Regina Böhnke, Tenerife – zwischen Autonomie und Tourismus. Eine ethnologische Kon­ struk­tion von ethnischer Identität auf einer Kanareninsel, Münster u. a. 1998; Pedro ­Almeida Cabrera, Néstor. Un canario cosmpolita, Las Palmas de Gran Canaria 1987. 29 Sack 1987, S. 9. 30 Riedel, S.  51; Maderuelo 2006, S.  138–141; http://fcmanrique.org/recursos/publicacion/­ jameosdelagua.pdf (Abruf 24.4.2018). 31 1966, zit. nach Santana 1993, S. 49. Die in den mehrheitlich populärwissenschaftlichen Publikationen zu dem Künstler zitierten Aussagen Manriques sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da der Kontext oder der Grad der Bearbeitung alles andere als klar ist. 32 Informationes, Madrid, 5.2.1955, zit. nach Santana 1993, S. 48. 33 La jeune peinture espagnole, Ausst.-Kat. Musée d’art et d’histoire Fribourg, Fribourg 1959. 34 Santana 1993, S. 82. 35 Siehe Kap. 3. 36 Santana 1993, S. 131. 37 Zit. nach Santana 1993, S. 96. 38 Kenneth Frampton, „Towards a Critical Regionalism: Six Points for an Architecture of Resistance“, in: The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture, Hg. Hal Foster, S­ eattle 1983, S. 16–30. 39 Ein Protest, der auch in Deutschland rezipiert wurde; 1988 erschien ein langes Interview: „Ein ganzes Volk wird kulturell erledigt“, in: Der Spiegel, Nr. 12, 1988, S. 242–252. 40 Offizielle Statistik: Lanzarote in Zahlen von 2000–2014: Einwohner & Touristen, Arbeitslosenquote; http://www.lanzarote-nachrichten.com/lanzarote-einwohnerzahl-arbeits­ losenquote-­entwicklung/ (Abruf 24.4.2018). 1974 waren es ca. 9500 Touristen.

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Anmerkungen

41 Neben Lanzarote (2000) insb. im Roman Plattform (2001). Siehe dazu: John McCann, ­Michel Houellebecq. Author of our Times, Bern u. a. 2010; Douglas Morrey, Michel ­Houellebecq. Humanity and its Aftermath, Liverpool 2013. 42 Houellebecq 2006 (2000). 43 Houellebecq 2006, S. 24. 44 Houellebecq 2006, S. 50. 45 Houellebecq 2006, S. 18. 46 Houellebecq 2006, S. 22–23. 47 Houellebecq 2006, S. 78. 48 Houellebecq 2006, S. 79. 49 Houellebecq 2006, S. 89. 50 Siehe auch Robert Fleck, Die Mühl-Kommune: freie Sexualität und Aktionismus  – Geschichte eines Experiments, Köln 2003. 51 Katharina Chrostek, Utopie und Dystopie bei Michel Houellebecq, Frankfurt am Main u. a. 2011. 52 Smith 2013, S. 30–31. 53 Sanderson 2013, S. 275. 54 Smith 2013.

Epilog. Exotismus zwischen Klischee und Kritik 1 2 3

„Interview“ in: 6th Caribbean Biennial, Konzept Bettina Funcke, Maurizio Cattelan, ­Dijon 2001 o.S. http://www.biennialfoundation.org/biennials/ghetto-biennale-haiti/ (Abruf 11.5.2018). „‚Haiti ist ein kaputtes Paradies‘ – Das Museum of Trance ist zurück in Berlin“; http://­ hate-mag.com/2016/01/haiti-ist-ein-kaputtes-paradies/ (Abruf 26.4.2018). Zum Museum of Trance siehe auch: Marietta Kesting, „Trance, Rave, Ritual – The Museum of Trance in Haiti“, in: Reale Magie, Hg. Susanne Witzgall, Zürich/Berlin 2017, S. 198–212.

Literaturverzeichnis

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Bildnachweis

Abb. 1: © Andreas Gursky/VG Bild-Kunst, Bonn 2018. Courtesy Sprüth M ­ agers; Abb. 2: Jan Brueghel der Ältere. Die Gemälde, Hg. Klaus Ertz/Christa Nitze-Ertz, Lingen 2008–2010, Bd. II/Mrs. H. John Heinz III; Abb. 4: © Rodney Graham, courtesy 303 Gallery, New York; Abb. 5: © Andrea Zittel, Courtesy Sprüth Magers; Abb. 6: Foto Hugo Glendinning. Courtesy Massimo De Carlo, Milan/London/Hong Kong; Abb. 7: Foto Hugo Glendinning. Courtesy Sammlung Haubrok; Abb. 8: ©  VG Bild Kunst, Bonn 2018; Abb. 9: Foto: Alfredo Rubio; Abb. 10: Courtesy the artists; Abb. 15: Watteau 1982; Abb. 16: Moureau/Grasselli 1987; Abb. 19: Hauptman 1996; Abb. 20, 21: Ausst.-Kat. James Cook and the Exploration of the Pacific, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Museum für Völkerkunde Wien, Historisches Museum Bern, London 2009; Abb. 23: Gauguin 2003; Abb. 24: Kunstmuseum Basel. Die Meister­werke, Hg. Bernard Mendes Bürgi, Nina Zimmer, Ostfildern 2011; Abb. 25: G. Le Bronnec, „Les dernièrs années“, in: Gazette des Beaux-Arts, 1956; Abb. 28, 29, 33: Böcklin 1990; Abb. 36: ­August ­Kopisch – Maler, Dichter, Entdecker, Erfinder, Ausst-Kat. Alte Nationalgalerie, Berlin, Hg. Udo Kittelmann/Birgit Verwiebe, Berlin/Dresden 2016, Abb. 37: À la ­jeunesse d’amour: Villa Lysis à Capri, 1905–2005, Hg. ­Gaetana Cantone, ­ lüschow; Abb. 38: Foto Mimmo Jodice; Abb. 39, 41: Foto Horst ThanhäuCapri 2005, Foto P ser; Abb. 45, 47, 48: S­ towell 2011; Abb. 49: Djawa, XVIII, 1938; Abb. 50, 51: Beryl de Zoete/ Walter Spies, Dance and Drama in Bali, London 1938; Abb. 53, 54: die Autorin; Abb. 56, 57, 59: Gómez Aguilera 2017.

Personenregister

Adam, Ken  189 Addison, Joseph  114–115 Adelswärd-Fersen, Jacques d’  119–120, 124–125 Allora & Calzadilla  27 Almodóvar, Pedro  16, 208–216, 217 Amitrano, Adolfo  130–131 Apollinaire, Guillaume  86 Archipenko (-Forster), Gela  162, 181 Ariost (Ludovico Ariosto)  38 Atienza, Martha  25 Audran, Claude  42 Augustus  113–114, 128, 137 Barthes, Roland  15 Bateson, Gregory  147, 177, 183–186 Baudelaire, Charles  91 Baum, Vicki  181 Belo, Jane  147, 181, 183, 186 Berthelot, Sabin  194 Bini, Dante  204–205 Blechen, Carl von  117–118 Blitz, Gérard  15 Blumenberg, Hans  15 Böcklin (-Pascucci), Angela  88, 95 Böcklin, Arnold  19–20, 41, 85–112 Böcklin, Carlo  87 Bonnet, Rudolf  152, 176–177 Boucher, François  41 Bougainville, Louis Antoine de  53–60, 192, 217 Breton, André  139, 196–197, 211 Brueghel, Jan (der Ältere)  11–12, 41, 94 Buchan, Alexander  55 Buondelmonti, Cristoforo  30–32

Burckhardt, Jacob  85, 87–90 Burne-Jones, Edward  94 Cáceres, Eduardo  203, 205 Calderón, Pedro de la Barca  39 Caylus, Compte de  28–29, 113–115 Cerio, Edwin  122–125, 202 Chagall, Marc  134, 162, 168 Charrière, Julian  24 Chauveau, François  35 Chazal Tristán, Aline Marie  70 Chevalier, Nicolas  66 Chirico, Andrea de (siehe Alberto Savinio)  96, 111, 121, 130, 134, 137 Chirico, Giorgio de  96, 111 Church, Frederic Edwin  61 Ciano, Galeazzo  127, 128 Clavel, Gilbert  122, 124 Collar, Beth  25, 111 Colonna, Francesco  32–34, 39, 48, 50, 65 Commerson, Philibert de  53–54 Cook, James  13, 54–55, 58, 62–63, 79 Cook, Thomas  119, 157, 182 Corra, Bruno  123 Couëlle, Jacques  204–205 Courbet, Gustave  103 Couture, Thomas  87 Covarrubias, Miguel  173 Coward, Noël  170, 179 Cranach, Lucas (der Ältere)  41 D’Annunzio, Gabriele  126 Dagnan-Bouveret, Pascal Adolphe Jean  49 Dahlheim, Friedrich  182 Dalí, Salvador  111

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Personenregister

Dancourt (Florent Carton)  40, 46 Darwin, Charles  61, 194 deCaires Taylor, Jason  208 Defoe, Daniel  10, 50–52 Degas, Edgar  62 Delacroix, Eugène  69 Delessert, Édouard  66 Deleuze, Gilles  15, 21, 51, 61 Diderot, Denis  57–59 Dix, Otto  162, 169 Dohrn, Anton  87–88, 128 Domínguez Palazón, Óscar  196, 198 Donnelly, Trisha  27 Douglas, Norman  120, 123 Dreesen, Walter  181 Drexler, Debra  25–26 Duflos, Claude  46–47 Dulcert, Angelino  192 Du Tertre, Jean-Baptiste  59 Erdmann, Edouard  162 Erdmann, Irene  162 Ernst, Max  111, 197 Espinosa, Agustín  197 Falaise, Henri de la  183 Fazzini, Pericle  134 Flaherty, Robert O. 181 Floerke, Gustav  87 Forster, Georg  54, 57–58, 63, 65 Fouquet, Jean  12 Fragonard, Jean-Honoré  41 Friedrich, Caspar David  96 Fries, Ernst  117

Goethe, Johann Wolfgang von  56, 87, 115–­ 116, 134, 197 Gogh, Vincent van  69, 70 Goris, Reloef  166, 173 Graham, Rodney  21 Green, Renée  22 Gründler, Curt  175 Guilleragues, Gabriel de  28 Gurlitt, Fritz  97, 100 Gursky, Andreas  7–9, 27 Hackert, Jacob Philipp  115–116 Hadrawa, Norbert  116 Hagedorn, Bastian  219 Hamsun, Knut  162 Hartung, Georg  194–195 Hédelin, François  37 Heemskerck, Maarten van  41 Heine, Heinrich  100 Hesiod  30, 59 Hildebrandt, Eduard  194–196 Hitler, Adolf  97 Hodges, William  55, 63–64 Hoëvell, Wolter Robert Baron van  155–156 Hoffmann, Josef  121 Holbein, Hans  83, 104 Holt, Claire  171, 181 Homer  10, 16, 30, 92–95, 137–146, 197, 215 Houellebecq, Michel  10, 208–213, 216 Houtman, Cornelius de  154–155 Hulsius, Levinus  154–155 Humboldt, Alexander von  61, 192–194 Hutton, James  60 I Ketut Ngéndon  147

Gaudí, Antoni  205 Gauguin, Gustave  17–20, 25–26, 28, 67–85, 92, 97, 103–105, 110, 112, 125, 148, 150–­ 153, 160–161, 166, 168, 171- 172, 176, 190–191 Gauguin, Mette Sophie  68 Gillot, Claude  42 Gjellerup, Karl  119 Glass, Gaston  183 Glissant, Édouard  22, 84 Godard, Jean-Luc  16, 125, 139–146, 214–­ 216

Jacobs, Julius  155, 158 Jaenichen-Woermann, Hedwig  162 Jean Paul  100–102 Jullienne, Jean de  49 Kaprow, Allan  191 Klee, Paul  162 Kleyer, Bertel  162 Kleyer, Edwin  162 Klinger, Max  97

Personenregister

Kopisch, August  117–119 Koke, Robert  152 Koke, Louise  152 Kokoschka, Oskar  134, 162 Krause, Gregor  149, 158–160, 164, 166, 168, 171, 173 Krupp, Friedrich Alfred  119 Kunst, Jaap  165 La Fontaine, Jean de  39 Lang, Fritz  141–142, 144, 215 Laval, Charles  70 Lazzaro Moro, Anton  60 Lecocq, Pascal  111 Lempad, I Gusti Nyoman  166, 176 L’Hermite, François Tristan  36 Lindner, Fritz  181 Linke, Armin  24 Lorris, Guillaume de  33 Loti, Pierre (Julien Viaud)  66–67, 72, 84, 160 Louis XIV  34, 38–39, 42, 48 Luhmann, Niklas  37 Lully, Jean-Baptiste  39 Lyell, Charles  194 Mackenzie, Compton  122, 125 Maiuri, Amedeo  128 Malaparte, Curzio (Kurt Erich Suckert)  19, 124–146, 190 Manrique, César  19–20, 27, 186–213 Marinetti, Filippo Tomaso  122–124, 129, 133 Marrero Regalado, José Enrique  206 Martín-Fernández de la Torre, Miguel  198 Marx, Karl  51 Mead, Margaret  147–148, 177, 183–186 Meier, Theo  152 Melville, Herman  80 Meyer, Georg Friedrich  100 Meyer de Haan, Jacob  70 Millares, Manolo  201, 202 Moerenhout, Jacques-Antoine  57, 76 Molière 39 Monfreid, Daniel  72, 81 Morales, Luis  203 Moravia, Alberto  141–142

Moreau, Gustave  90, 94 Moreris, Louis  37 Moretti, Luigi  130 Morice, Charles  72 Morus (More), Thomas  10, 1229 Munthe, Axel  120, 125 Murnau, Friedrich Wilhelm  163–164, 181–­182 Mussolini, Benito  127, 128 Nashashibi/Skaer (Rosalind Nashashibi, Lucy Skaer)  26 Nassau-Siegen, Prinz Karl Heinrich Nikolaus Otto von  3 Naumann, Henrike  219 Nerval, Gérard de  29, 32 Néstor (Néstor Martín-Fernández de la Torre)  197–198, 206 Neuhaus, Hans, 176 Neuhaus, Rolf, 176 Nicolai, Olaf  21–22 Nietzsche, Friedrich  88, 105, 107–110, 119 Nieuwenkamp, W. O. J. (Wijnand Otto Jan)  149–151, 153, 155–158, 168, 170, 176, 178 Parkinson, Sydney  55 Pechstein, Max  18–19, 68, 148, 164 Pellisson, Paul  35 Perelli, Eugenia (Edda)  126 Pissarro, Camille  79 Pivi, Paola  22–24 Platon  12, 29, 120 Plessen, Victor von  166–167, 182 Plinius, der Ältere  192 Puvis de Chavannes, Pierre  72, 83 Radiguet, Max  80 Ramírez Cerdá, José (Pepin)  199, 202 Redon, Odilon  71 Reynolds, Joshua  63 Rimbaud, Arthur  69 Robert, Hubert  100 Roh, Franz  162–163, 166, 168–169 Rohde, Erwin  105 Rommel, Erwin  135–136 Roosevelt, André  153, 166, 182

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Personenregister

Rossellini, Roberto  145, 216 Rouffaer, Gerret Pieter  149, 178 Rousseau, Henri  162, 168 Rousseau, Jean-Jacques  48, 51, 58, 100 Rubens, Peter Paul  42, 46, 47 Runkel, Ferdinand  87, 96, 102 Russel Wallace, Alfred  61

Stamford Raffles, Thomas  155 Stuck, Franz von  94 Stutterheim, W. F. 166, 173–174 Suckert, Erwin Alexander  126 Sueton 113–114 Sukawati, Cokorda Gde Agung  176 Sukawati, Cokorda Gde Raka  166, 176

Saint-Non, Abbé Jean-Claude Richard de  116 Salina, Tita  25 Sayers, Charles Eugene Henri  152, 166 Schinkel, Friedrich  116, 121 Schmidt, Friedrich Albert  87 Schoonderbeek, Georgette  163, 165–166 Schoonderbeek, Johan  163 Schuh, Gotthard  153 Scudéry, Madeleine de  35–37, 39–40, 50, 53, 65 Segalen, Victor  67, 82, 84 Shakespeare, William  10 Silvestre, Israël  38 Simony, Oskar  194 Sloterdijk, Peter  51 Smith, John „Warwick“  115 Smithson, Robert  205 Soto Morales, Jesús  203 Sowa, Michael  111 Spies, Bruno  161 Spies, Leo (Ljowa)  161–162, 170 Spies, Leon  161 Spies, Margarete (Daisy)  161, 161 Spies (-von Mohl), Martha  161–162, 165, 182 Spies, Walter  18–20, 148–154, 160–186, 190–191

Tallemant, Abbé Paul  36–37 Tamburi, Orfeo  130 Tan, Fiona  24, 27 Tasso, Torquato  39 Tiberius  113–114, 116, 137, 146 Tizian  41, 46 Trego, Charles T.  183 Urfé, Honoré d’ 40 Van Dyke, W. S.  181 Verlaine, Paul  91–92 Véron, Pierre-Antoine  53 Viaud, Gustave  67 Viaud, Julian (siehe Pierre Loti) Voltaire 37 Wallis, Samuel  54 Watteau, Antoine  13, 18–20, 28–29, 41–53, 58, 65, 78, 91–95, 102, 112–113, 217 Webb, Philip Barker  194 Webber, John  55–56, 62–64, 76 Wense, Hans Jürgen von der  162 Westerdahl, Eduardo  196 With, Karl  159–160 Zittel, Andrea  22 Zoete, Beryl de  181