Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen [1 ed.] 9783428502363, 9783428102365

Daß sich im geltenden Völkerrecht multilaterale Verträge nicht nur wegen der Zahl ihrer Vertragsparteien von zweiseitige

135 25 22MB

German Pages 245 Year 2001

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Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen [1 ed.]
 9783428502363, 9783428102365

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CHRISTIAN FEIST

Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von 1 o s t D e I b r ü c k und R a i n e r H o f m a n n

Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

135

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts:

Daniel Bardonnet I'Universite de Paris II Rudolf Bernhardt Heidelberg Lucius Caflisch Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, Geneve Antonius Eitel New York; Bonn

Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie Universität Berlin Krzysztof Skubiszewski Polish Academy of Sciences, Warsaw; The Hague

Luigi Ferrari Bravo Universita di Roma

Christian Tomuschat Humboldt-Universität zu Berlin

Louis Heukin Columbia University, New York

Sir Artbur Watts London

Tommy T. B. Koh Singapore John Norton Moore University of Virginia, Charlottesville

Rüdiger Wolfrum Max-Pianck-lnstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen Von

Christian Feist

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Feist, Christian: Kündigung, Rücktritt und Suspendierung von multilateralen Verträgen I Christian Feist.- Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel ; Bd. 135) Zug!.: Kiel, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10236-3

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10236-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 als Dissertation von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen. Familiären Umständen ist es zuzuschreiben, daß die Arbeit erst so spät zur Druckreife gebracht werden konnte. Rechtsprechung und Literatur sind daher auch nur bis Ende 1999 berücksichtigt. Soweit ich es beurteilen kann, haben sich aber in Praxis und Lehre keine gravierenden Neuerungen ergeben, die eine Revision des Manuskripts erfordert hätten. Dank zu sagen habe ich natürlich in erster Linie meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jost Delbrück, und dies nicht nur für die außerordentliche Betreuung, sondern auch dafür, daß er mir stets nur soviel an Ratschlägen gab, daß sich diese Arbeit ausschließlich auf meine eigenen Gedanken gründet. Was er darüber hinaus an menschlicher Wärme im Kieler Institut verbreitet hat und hoffentlich auch noch verbreitet, bedarf für alle, die bei - niemals unter! - ihm gearbeitet haben, kaum der Erwähnung. Dank zu sagen habe ich auch Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann für die wirklich schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Auch für seine freundlichen Ratschläge, die er mir immer wieder gab, sei gedankt. Nunmehr noch allen anderen Menschen zu danken, die ihren Anteil an der Dissertation hatten, würde den Rahmen des Vorworts wohl sprengen. Hervorheben möchte ich aber Frau Prof. Dr. Doris König, Herrn PD Dr. Christian Tietje, Dr. Jonna Ziemer, Dr. Birgit Kessler, Patrick Leblond, M. Phil. (Cantab.), und Britta Buchenau, die sich Teile oder die ganze Arbeit kritisch durchlasen und mich vor einigen Fehlern bewahrten. Zu erwähnen sind außerdem Herr Jasper Finke, der das Literaturverzeichnis redigierte, und Frau Rotraut Wolf, die gewohnt zuverlässig die Druckvorlage erstellte. Zu danken habe ich schließlich meiner Familie, insbesondere meiner Frau Natascha und meinen Eltern für die Unterstützung während der ganzen Zeit des Promotionsvorhabens und den einen oder anderen Anschub, wenn ich nicht mehr motiviert war. Und last but not least danke ich meinem Söhnchen Arthur. Nicht, daß er irgend etwas für diese Dissertation getan hätte. Sein Werden und Ankommen (geb. 16.01.2001) hat das Erscheinen der Arbeit eher verzögert. Ich wollte ihn aber nicht unerwähnt lassen. Kiel, im April 2001

Christian Feist

Inhaltsverzeichnis § 1 Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erster Teil

Geschichte und verschiedene Ausprägungen multilateraler Verträge in Völkerrechtsheorie und -praxis

§ 2 Kategorisierung multilateraler Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem Westfalischen Frieden:

Bilateralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Westfalische Friede und andere europäische Friedensschlüsse der klassischen Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Bilateralismus im völkerrechtsgeschichtlichen Kontext . . . . . . . . . . . III. Die Struktur des klassischen Völkerrechts im Spiegel der klassischen Völkerrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Zusammenbruch des klassischen Systems als Kollaps eines Machtgleichgewichts auf der Basis des Bilateralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 4 Die Evolution multilateraler Verträge als Regelungsinstrument im Völkerrecht seit dem Wiener Kongreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das stabilisierte Mächtegleichgewicht in Europa als Folge beginnender Mehrseitigkeit in der Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . li. Die weitere Evolution der Mehrseitigkeit als Folge der inhaltlichen Ausweitung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 17 17 19 23 24 25 25 26

§ 5 Die Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und rechtsgeschäftliehen Verträgen nach Bergbohm und Triepel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

§ 6 Kritik an der Einteilung Triepels in der Völkerrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . .

31

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge.. . . I. The Wimbledon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Oscar-Chinn-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Reparations for lnjuries Suffered in the Service of the United Nations. . . IV. Reservations to the Genocide Convention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Mehrheitsvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die abweichenden Voten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Barcelona Traction Case. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 33 34 35 36 36 37 38

8

Inhaltsverzeichnis VI. Der Pfunders-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einlassungen der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Votum der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Ergebnis der Rechtsprechungsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40 40 40 41 42

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen . . . . . . . . .

44 45 45 47

I.

Die vorbereitenden Arbeiten zur Kodifikation des Rechts der Verträge . . I. Die Lauterpacht-Reports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Fitzmaurice-Reports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Beendigung der Vertragsbindung nach einem Bruch des Vertrages durch eine andere Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verdrängung älterer Verträge durch später abgeschlossene Abkommen...... . .. . ............. . .. . ............ . ...... c) Die Aussetzung der Vertragserfüllung als Repressalie . . . . . . . . . . 3. Die Waldock-Reports .. .. .. . . ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Zulässigkeit von Vorbehalten zu Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Beendigung der Vertragsbindung nach einem Bruch des Vertrages durch eine andere Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung der Arbeit der Sonderberichterstatter. . . . . . . . . . . II. Die Arbeit der Völkerrechtskommission auf dem Gebiet des Rechts der Staatenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bestimmung des von einem Völkerrechtsbruch verletzten Staates 2. Das Recht zur einseitigen Rechtsdurchsetzung durch Repressalien ("countermeasures") . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Riphagens Entwurf als Spiegelbild von Art. 5. . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Entwurf von Arangio-Ruiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Differenzierung zwischen völkerrechtlichem Delikt und völkerrechtlichem Verbrechen in Art. 19 des ersten Teils . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Arbeit der ILC an Regeln für Vorbehalte zu multilateralen Verträgen IV. Zusammenfassung der Arbeit der Völkerrechtskommission . . . . . . . . . . .

§9

47 52 55 57 58 60 62 63 64 69 70 71 72 75 76

Die Behandlung multilateraler Konventionen in der WVRK. . . . . . . . . . . . . . . I. Die ,.Object-and-purpose"-Regel in Art. 19 (c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Anerkennung integraler Verträge in Art. 20 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . III. Die Sonderregelung in bezug auf Gründungsdokumente internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Art. 60 - Rücktritt wegen Vertragsverletzung des anderen Teils . . . . . . . .

77 79 79

§ 10 Fallbeispiel: Die Vertragsinstrumente zum völkerrechtlichen Schutz der Umwelt

83

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 89 90 91 91 93

I. II. III.

Ausgangspunkt der Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ,.Pacta-tertiis"-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mögliche Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Urteil im North Sea Continental Shelf Case . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Statusverträge als territorial bezogene Regelungen "erga omnes". . . . .

80 81

Inhaltsverzeichnis a) Waldocks Regelungsentwurf in Art. 63 seiner "Draft Articles". . . . b) Statusverträge in der Völkerrechtspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Status der Aalandinsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der territoriale Status von Südwestafrika (Namibia). . . . . . . . . (3) Der Antarktisvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Andere Verträge mit Wirkung "erga ornnes" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt: Die sich wandelnde Rolle des Gemeinschaftsinteresses vor dem Hintergrund zunehmender Interdependenz . . . . . . . (1) Die Definition des Allgemeininteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Definitionsmacht "erga ornnes" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zur Vereinbarkeil dieser Definitionsmacht mit allgemeinen Strukturprinzipien des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Staatenpraxis zu Ordnungsverträgen im Gemeinschaftsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Objektive Wirkung der UN-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Seerechtskonvention von 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Das Straddling Stocks Agreement von 1995 ...... . .. . . (dd) Ergebnis der Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verträge zum Schutze des Gemeinschaftsinteresses als objektive Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 93 96 96 98 100 106 107 109 111 112 115 115 116 118 121 121

§ 12 Zusammenfassung: Idealtypische Einteilung multilateraler Verträge . . . . . . . . 122 § 13 Völkerrechtstheoretischer Hintergrund der Kategorisierung multilateraler Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Zweiter Teil

Die Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen § 14 Definition von Kündigung, Rücktritt und Suspendierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 § 15 Kündigung und Suspendierung des Vertrages wegen vorhergehender Vertragsverletzung einer anderen Partei: Art. 60 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dogmatische Begründung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anerkennung des Rechts in Völkerrechtstheorie und -praxis . . . . . . . . . . III. Die Qualität der Vertragsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Regelungen für multilaterale Verträge im einzelnen . . . . . . . . . . . . . 1. Die hierzu vertretenen Auffassungen in der Völkerrechtslehre . . . . . . 2. Die völkerrechtliche Judikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3. Staatenpraxis bezüglich multilateraler Verträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Arbeit der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen . . . . a) Der Regelungsentwurf von Fitzmaurice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Regelungsentwurf von Waldock. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133 134 135 138 139 139 142 144 146 146 148

10

Inhaltsverzeichnis c) Die Reaktionen in der ILC und im sechsten Komitee der Generalversammlung.... . .. . ............ . .. . . .. . .. . . . ... .... . . 149 d) Der Kodifikationsentwurf deriLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 e) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 f) Die Vervollständigung des Entwurfs zum Art. 60 WVRK . . . . . . . 156

g) Die Modifikation in Art. 60 Abs. 21it. c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 h) Art. 60 Abs. 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 V.

Zusammenfassende Betrachtung: Art. 60 WVRK als Reflexion der unterschiedlichen Erfüllungsstrukturen multilateraler Verträge . . . . . . . . . . . . 162

VI.

Die Anwendung von Art. 60 WVRK auf Verträge, die aufgrunddes geschützten Gemeinschaftsinteresses über den Kreis der Vertragsparteien hinaus Wirkung entfalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

§ 16 Beendigung der Vertragsbindung wegen grundlegender Änderung der Umstände - "clausula rebus sie stantibus". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die hierzu vertretenen Standpunkte der klassischen und modernen Völkerrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die völkerrechtliche Praxis zur "clausula", insbesondere die Anwendung auf multilaterale Abkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der WVRK vorausgehende Kodifikationsentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Harvard-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Arbeit der Sonderberichterstatter der ILC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Regelungsentwurf von Fitzmaurice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Entwurf von Waldock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Beratungen im Plenum der Völkerrechtskommission . . . . . . . . . . 4. Die Beratungen auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz . . . . . . . . . . IV. Die Anwendung der "clausula rebus sie stantibus" auf multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Sonderfall des Buroparechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Anpassung multilateraler Verträge trotz eingeschränkter An wendbarkeit der "clausula" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Notstandsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsrevision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rahmenkonventionen und Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17 Vertraglich vereinbarte Abweichungen von eine m multilateralen Abkommen durch eine begrenzte Anzahl der Vertragsparteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Praxis und Lehre zu "lnter-se"-Modifikationen vor Verabschiedung der WVRK ... .. . . . .... . . . ....... . ...... . .. . ......... . .... . ... II. Die Regelung in Art. 41 WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165 166 168 171 171 172 172 175 176

177 178 178 182 183 184 185 188 188 189 190 19 1 194 195 196

Inhaltsverzeichnis

11

§ 18 "Inter se" wirksame Suspendierungen multilateraler Verträge. . . . . . . . . . . . . . 198 § 19 Freie Kündigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Stillschweigendes Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die zu dieser Frage vertretenen Auffassungen in derVölkerrechtslehre 2. Die vorbereitenden Arbeiten zur WVRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Beratungen auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz . . . . . . . . . . 4. Staatenpraxis zum stillschweigenden Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . 5. Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausdrückliches freies Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praxis zur EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nordkoreas Kündigung des Nichtverbreitungsvertrages für Kernwaffen 3. Analyse dieser Praxis . ................ . .. . ........... . . . . ..

198 198 199 200 201 202 207 209 209 211 213

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme ("countermeasure") . .. I. Aktivlegitimation zur Gegenmaßnahme: Das Konzept des verletzten Staates . . ........ . ........ . ................. . ... . .......... . .. II. Self-contained Regimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begrenzung der erlaubten Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung zur Aussetzung von Verpflichtungen im Wege der Gegenmaßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 215 216 219 223

§ 21 Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Literaturverzeichnis

229

Sachwortverzeichnis

243

My submission is that the task of deciding these disputes will be made easier if we free ourselves from the traditional notion that the instrument known as the treaty is governed by a single set of rules, however inadequate, and set ourselves to study the greatly differing legal character of the several kinds of treaties and to frame rules appropriate to the several characters of each kind. Arnold Duncan McNair 1930

§ 1 Gegenstand der Arbeit Der Ausgangspunkt der Arbeit ist, daß multilaterale Verträge besondere Merkmale gegenüber zweiseitigen völkerrechtlichen Abkommen aufweisen. Wäre dies nicht so, so müßte der Titel der Arbeit allgemeiner "Kündigung, Rücktritt und Suspendierung völkerrechtlicher Verträge" lauten. Im Rahmen dieser Arbeit wird aber nicht von einer solchen Gleichsetzung ausgegangen. Eine der wesentlichen Aufgaben wird somit sein, die Unterscheidungsmerkmale herauszuarbeiten, nach denen sich multilaterale Verträge bzw. verschiedene Kategorien dieser mehrseitigen Abkommen, von einfachen bilateralen Verträgen abgrenzen lassen. Alsdann wird zu klären sein, welche Folgerungen sich aus dieser verschiedenen Rechtsnatur bzw. diesen verschiedenen Rechtsnaturen, hinsichtlich der Anwendbarkeit der Regeln des allgerneinen Rechts der Verträge ergeben. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf die Regeln aus der Wiener Konvention über das Recht der Verträge' gelegt, da sie nach allgemeiner Auffassung die Kodifizierung des bis dahin und seitdem weitergeltenden völkergewohnheitsrechtliehen Standards darstellt. 2 Der erste Teil der Arbeit wird also ein Raster entwickeln, nach dem 1 Wiener Konvention über das Recht der Verträge vom 23.05.1969, United Nations Treaty Series (UNTS), Vol. 1155, 331 ; BGBI. 1985 li, 927, im folgenden WVRK. 2 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, 433; Jennigs/Watts, Oppenheim' sInternational Law, Vol. I, 2, 9. Aufl. 1992, 1199; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, 97; Shaw, International Law, 3. Aufl., 1991, 561; Schwarzenberger, A Manual of International Law, 6. Aufl., 1976, 121; IGH Fisheries Jurisdiction (United Kingdom v. Iceland), ICJ-Reports, 1971, 3 ( 18); insbes. IGH Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 ( 1970) (Advisory Opinion), ICJ-Reports 1973, 16 (48): "The rules laid down by the Vienna Convention on the Law ofTreaties concerning termination of a treaty on account of breach (adopted without a dissenting vote)

14

§ 1 Gegenstand der Arbeit

multilaterale Verträge hinsichtlich ihrer jeweiligen Rechtsnatur erfaßt werden können, während der zweite Teil sich mit der Arbeit in der Anwendung dieses Rasters auf die Kündigungs-, Rücktritts- und Suspendierungsregeln der WVRK befaßt. Darüber hinaus kann die Darstellung nicht ohne die Einordnung in einen umfassenderen Zusammenhang stattfinden. Dieser besteht in der Struktur des modernen Völkerrechts, das sich vom klassischen, das nur die Souveränitätsbereiche der Staaten gegeneinander abgrenzte, dahingehend unterscheidet, daß es über diese bloße Koordinierung der Völkerrechtssubjekte hinausgeht. 3 Diese moderne Struktur wird von den Normstrukturen des modernen Völkerrechts, mithin auch und gerade von den multilateralen Verträgen als Kodifikationsmedium des modernen Völkerrechts, reflektiert. 4 Schon aus diesem Grunde erscheint diese Einbeziehung des Gesamtzusammenhangs unverzichtbar. Außerdem ist zu beachten, daß die sich wandelnde Struktur des Völkerrechts selbst sich auf die Anwendung des Völkervertragsrechts, das seinen Ursprung zumeist in der klassischen Periode des Völkerrechts hat, auswirken kann. Das folgt aus der Tatsache, daß die Regeln des Völkerrechts und der strukturelle Wandel des internationalen Rechts miteinander in doppelter Wechselwirkung stehen. Die Völkerrechtspraxis und die Forschung sind im Bereiche der Problematik der Vorbehalte zu multilateralen Verträgen schon sehr viel weiter. 5 Das liegt zu einem nicht unerheblichen Teil an dem vielbeachteten Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Zulässigkeil von Vorbehalten zur VölkermordKonvention.6 In diesem Gutachten machte der IGH die Zulässigkeil von Vorbehalten zu multilateralen Verträgen u. a. von der Art des Vertrages abhängig. Wörtlich heißt es dazu:

may in many respects be considered a codification of existing customary law on the subject." 3 Siehe dazu insbesondere Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, 60 ff.; Schwarzenberger, Manual, 5 ff.; zuletzt Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, 580 ff., 696 ff.; Scheuner, in: ders., Schriften zum Völkerrecht, 1984, 213 (228); speziell in bezugauf die Funktion multilateraler Verträge: Dahm/Delbrück!Wolfrum, Völkerrecht Bd. I, 1,1989, 53 ff. und McNair, BYIL XI (1930), 100 (112f.). 4 Dahm/Delbrück!Wolfrum, 53 ff.; Bleckmann, GYIL 28 (1985), 144 (161). 5 Siehe nur Kühner, Vorbehalte zu multilateralen völkerrechtlichen Verträgen, 1986; Bowett, BYIL XLVIII (1976), 67 ff. 6 IGH Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Advisory Opinion), ICJ-Reports 1951 , 15 ff.

§ I Gegenstand der Arbeit

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The character of a multilateral convention, its purpose, provisions, mode of preparation and adoption are factors which must be considered in the absence of any express provision on the subject, the possibility of reservations, as weil as their validity and effect. 7

Wenn es für die Zulässigkeil und Wirksamkeit von Vorbehalten zu multilateralen Verträgen u. a. auf die Art des Vertrages ankommt, so läßt sich daraus zumindest ableiten, daß das Gericht die Existenz verschiedener Kategorien von völkerrechtlichen Verträgen voraussetzt. Daß sich diese Kategorien auf die Anwendung der Regeln über Vorbehalte auswirken, die zu einer eingeschränkten Geltung des Vertrages führen, läßt vermuten, daß auch die Regeln über gänzliche Außerkraftsetzung davon nicht unberührt bleiben.

7

IGH, Reservations, 22.

Erster Teil

Geschichte und verschiedene Ausprägungen multilateraler Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis § 2 Kategorisierung multilateraler Verträge Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen bi- und multilateralen Verträgen und eine daraus folgende differenzierte rechtliche Behandlung fehlt in der WVRK. So gibt es auch verschiedene Autoren, die eine generelle Unterscheidbarkeit hinsichtlich der Rechtsnatur zwischen diesen beiden Vertragstypen ablehnen. So schreibt Hersch Lauterpacht "Every treaty contains rules governing the international conduct of the signatory states and every treaty [ ... ] is a source ofinternationallaw [ .. . ]." 1

Auch andere Autoren wie Reuter2, Brownlie3, Berber4 und Simma5 stehen einer dogmatischen Kategorisierung multilateraler Verträge kritisch gegenüber. Sie sehen Unterscheidungsmerkmale eher als bloße völkerrechtssoziologische Tatsachen an, aus denen sich keine rechtlichen Ableitungen ergeben. 6 Wenn diese Autoren recht hätten, so würde der Gang der weiteren Darstellung sich darauf beschränken müssen, die Anwendung der Kündigungs-, Rücktritts- und Suspendierungsvorschriften der WVRK lediglich daraufhin zu untersuchen, ob sie der Mehrseitigkeit der Verträge Rechnung tragen. Es ist somit von entscheidender Bedeutung, die These dieser Völkerrechtler eingehend zu untersuchen und die Völkerrechtsentwicklung in bezugauf die rechtliche Behandlung von Verträgen

1 Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies oflnternational Law, 1927, 157; ders., Oppenheim's International Law, Vol. I, Peace, 8. Aufl., 1955, 878; zust. Jennings/ Watts, Oppenheim, 1203 f. 2 Reuter, Introduction to the Law ofTreaties, 1989, 20 f., 28. 3 Brownlie, Principles ofPublic International Law, 4. Aufl., 1990, 634. 4 Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Erster Band, Allgemeines Friedensrecht, 2. Aufl., 1975,643. 5 Verdross/Simma, 339; Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, 188 ff. (194). 6 Simma, Reziprozitätselement, 194; Reuter, 21.

§ 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem WestHilisehen Frieden

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nachzuvollziehen, insbesondere die Genese des multilateralen Vertrages als Regelungsinstrumentdes Völkerrechts.

§ 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem Westfälischen Frieden: Bilateralismus Die etwas mehr als 150 Jahre zwischen 1648 und 1815 gelten als die klassische Periode des Völkerrechts. Die Friedensverträge von 1648 beendeten den dreißigjährigen Krieg und stellten den Abschluß der Entwicklung des modernen europäischen internationalen Systems dar, ein System, das auf souveränen Territorialstaaten beruht. 7 Zum ersten mal wurde die souveräne Gleichheit der Staaten ohne Rücksicht auf religiöse oder ideologische Faktoren anerkannt. 8

I. Der Westfälische Friede und andere europäische Friedensschlüsse der klassischen Periode Zunächst ist zu betonen, daß es nicht den Westfälischen Friedensvertrag als solchen gibt. Der Friedensschluß wurde vollzogen aufgrundvon zwei Abkommen, zwischen denen es keine formale Verbindung gibt, den Verträgen von Münster9 und Osnabrück. 10 Ersterer wurde zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Frankreich, letzterer zwischen dem Reich und Schweden geschlossen. Die anderen Staaten waren, soweit sie durch den Friedensschluß betroffen waren, an die Verträge als "foederati et adherentes" 11 der Parteien gebunden. Der Westfälische Friede, der als ein umfassendes europäisches Friedenswerk gilt, 12 war somit das Produktzweier bilateraler Verträge nahezu gleichen Inhalts.

7

38 f.

Dahm/Delbrück/Wolfrum, 5; Cassese, International Law in a Divided World, 1986,

8 Verdross/Simma, 20; Scheuner, Die großen Friedensschlüsse als Grundlage der europäischen Staatenordnung zwischen 1648 und 1815, in: ders., Schriften zum Völkerrecht, 1984, 349 (351 ). 9 Instrumenturn pacis Monasteriense vom 24. Oktober 1648, abgedruckt in: Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Band 1, Bis zum Berliner Kongress (1878), 1911, 21. 10 Instrumenturn pacis Osnabrugiensis vom 14./24. Oktober 1648, abgedruckt in: Strupp, Urkunden, 14. 11 Articulus I der Vertrages von Osnabrück. 12 Statt vieler: Scheuner, in: Schriften zum Völkerrecht, 351.

2 Feist

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Diese Methode des Friedensschlusses würde im heutigen internationalen System kaum Anwendung finden. Mit Sicherheit hätten die Parteien einen einheitlichen multilateralen Vertrag geschlossen und eventuelle unterschiedliche Regelungen für die verschiedenen Parteien durch anschließende Protokolle geschaffen. Der Abschluß eines mehrseitigen Vertrages, der die vollständige Regelung darstellt, erscheint, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, wesentlich einfacher als parallele Verträge abzuschließen. Damit tut sich die Frage auf, warum die Staaten 1648 nicht die wesentlich bequemere Variante des einheitlichen Vertragsinstruments gewählt haben. Die Antwort liegt in der Struktur der zwischenstaatlichen Rechtssetzung begründet, die eine Reflexion der Struktur des klassischen Völkerrechts insgesamt ist. In der klassischen Periode war es unüblich, andere als bilaterale Verträge abzuschließenY Nahezu jeder Vertrag wurde ausschließlich zwischen zwei Parteien geschlossen. 14 Eine der wenigen Ausnahmen stellte der Vertrag von Aix-la-Chapelle (Aachen) von 1748 dar.15 Hierbei handelte es sich allerdings nicht um einen echten mehrseitigen Vertrag, sondern vielmehr um ein Abkommen zwischen zwei Staatengruppen. Dieser Vertrag unterschied sich folglich strukturell nicht von den bilateralen, als auch er einem bilateralen Muster folgte. Ein anderes Beispiel ist der Vertrag von Paris von 1763, 16 der zwischen Spanien, Frankreich, England und Portugal geschlossen wurde. Die meisten der großen Friedensschlüsse des klassischen Völkerrechts wurden, ähnlich wie der westfälische Frieden, durch Abschluß paralleler Bündel zweiseitiger Verträge erreicht, wie z. B. die Verträge von Nijmegen, 17 Rijswick18 und Utrecht. 19 Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Sie belegen eine allgemeinere Struktur: Das Vertragsrecht des klassischen Völkerrechts war eines der bilateralen Verträge. Mehrseitige Verträge bildeten die große Ausnahme und waren, wie der Vertrag von Aix-la-Chapalle zeigt, auch oft von ihrer Rechtsnatur her bilateral. 13 Auch wenn der Index to Multilateral Treaties, Harvard Law School Library (ed.), 1965 auf den S. l-8 mehrere Verträge der klassischen Epoche als multilateral qualifiziert. Der Index istjedoch nicht sehr verläßlich, z. B. wird auch der WestfeHische Friedensvertrag als ein multialteraler Vertrag aufgeführt. 14 Verzijl, International Law in Historical Perspective, Part VI, Juridical Facts as Sources of International Rights and Obligations, 1973, 142; Reuter, 12. 15 Abgedruckt in: Strupp, Urkunden, 62. 16 Abgedruckt in: de Martens, Recuei!, 1e serie, Recueil 1, 204. 17 Abgedruckt in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 14, 365, 441. 18 Abgedruckt in: Strupp, Urkunden, 27. 19 Abgedruckt in: Strupp, Urkunden, 29; der Nachweis weiterer Verträge findet sich in synoptischer Übersicht bei Verzijl, 405-415; siehe auch Mosconi, La Forrmazione dei Trattati, 1968, 115 ff.; Lachs, Le developpement et !es fonctions des traites multilateraux, Recueil des Cours 92 (1957 II), 229 (237 ff.).

§ 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem Westfälischen Frieden

19

II. Der Bilateralismus im völkerrechtsgeschichtlichen Kontext Dieses Phänomen des vorherrschenden Bilateralismus in Verträgen der klassischen Epoche ist im Kontext des damaligen europäischen Staatensystems zu sehen. War das Europa des Mittelalters noch charakterisiert von der "Reichsidee" und waren Papst und Kaiser, jedenfalls normativ, die vorherrschenden Mächte und Integrationsfaktoren/0 so löste sich zum Ende des Mittelalters hin diese Hegemonialstruktur zunehmend auf und wurde ersetzt durch eine mehr oder weniger horizontale Struktur unabhängiger Herrschaftseinheiten, die sich mit Beginn der Neuzeit zu Staaten auf der Basis von territorialer Herrschaft wandelten. Diesem W andlungsprozeß von einem hierarchischen zu einem Koexistenzsystem auf der Basis von souveräner Gleichheie• wurde durch die Verträge von Münster und Osnabrück ein völkerrechtlicher Rahmen gegeben. Die Verträge anerkannten die souveräne Gleichheit der protestantischen und der katholischen Staaten und Proteste des Papstes hiergegen blieben fruchtlos. 22 Es wird auch vertreten, daß dieser Zustand des Systems souveräner gleicher Staaten erst durch den Frieden von Rijswick geschaffen worden sei. 23 Es kommt jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht darauf an, ob das Staatensystem schon 1648 entstand oder später. Entscheidend ist die Tatsache, daß es entstand, so daß dieser Frage nicht weiter nachgegangen werden muß. Zwar betonen die westfälischen Friedensverträge noch die Universalität des Heiligen Römischen Reiches und die Einheit der christlichen Nationen Europas. 24 In Wirklichkeit jedoch dachten die Staaten nicht daran, diese Lippenbekenntnisse als Rechtsprinzipien untereinander umzusetzen. In ähnlicher Weise blieben die in den Verträgen geregelten Mechanismen zur friedlichen Streitbeilegung ineffektiv. Die Staaten trugen ihre Konflikte meist durch Krieg aus. 25 Da es keine den Staaten übergeordnete Macht gab, war das Kriegsführungsrecht im Prinzip frei. Die Autoren des klassischen Völkerrechts, wie Vattel, forderten zwar einen gerechten Kriegsgrund, z. B. einenunerfüllten Anspruch, gestanden aber gleichzeitig den 20 van der Vlugt, RdC 7 (1925 II), 349 (448); Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, 57 ff. 21 Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 1984, 180 ff. 22 Eppstein, The Catholic Tradition ofthe Law ofNations, 1935, 192; Elze/Repgen, Studienbuch Geschichte, Band 2, Frühe Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert, 4. Aufl., 1996, 104. 23 Purchardt, Altes Reich und Europäische Staatenwelt 1648-1806, Ezyklopädie Deutscher Geschichte, Band 4, 1990, 27 f. 24 Gross, The Peace of Westphalia 1648-1948, in: ders. (Hrsg.), International Law in the 20th Century, 1969, 25 (34). 25 Gross, 30; Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 5. Aufl., 1993, 74.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Staaten zu, selbst zu beurteilen, ob sie berechtigt sind, Krieg zu führen. Durch das Fehlen einer höheren Instanz, die ein verbindliches Urteil hätte fällen und Ansprüche womöglich hätte durchsetzen können, wurde es darüber hinaus als notwendig angesehen, daß die Staaten ihre Rechte selbst erkennen und selbst, auch mittels Waffengewalt, durchsetzen. Auch der Versuch, der im Westfälischen Frieden gemacht wurde, ein System obligatorischer Streitschlichtung zu schaffen, das Züge eines kollektiven Sicherheitssystems trug, mißlang, indem es niemals zur Anwendung kam. Es war seiner Zeit zu weit voraus. 26 Eine Begrenzung der Freiheit eines Staates, wirkliche oder vermeintliche territoriale oder sonstige Ansprüche durchzusetzen, gab es folglich nicht. 27 Ein weiteres Merkmal des klassischen Völkerrechts war dessen Relativismus. Im Mittelalter war, jedenfalls "de iure", nur das Führen eines "gerechten" Krieges erlaubt. Völkerrechtssubjekte waren im Prinzip verpflichtet, der "gerechten" Partei zur Seite zu stehen. Im klassischen Völkerrecht gab es demgegenüber das Rechtsinstitut der Neutralität. Einem Staat stand es frei, entweder eine Kriegspartei zu unterstützen oder sich überhaupt nicht in die Auseinandersetzung einzumischen. Das bedeutete, daß Kriege an sich nicht Gegenstand eines moralischen oder völkerrechtlichen Urteils mehr waren. 28 Die einzigen Faktoren, die die Souveränität eines Staates begrenzten, waren die Herrschaftsbereiche der anderen souveränen Staaten, die miteinander koexistierten. Es kann jedoch auf der anderen Seite nicht geleugnet werden, daß ein zwischenstaatliches Recht auch in der klassischen Epoche existierte. So gab es z. B. Rechtsregeln betreffend den diplomatischen Verkehr und ein- wenn auch rudimentäres- Seerecht. Insofern war die Souveränität eines Staates auch durch das Völkerrecht begrenzt. 29 Diese Restriktionen der Souveränität geschahen jedoch nur auf der Grundlage strikter Reziprozität der Beschränkungen: Die Bereitschaft eines Staates, einem anderen Staat Rechte einzuräumen und sich soweit seiner Freiheit zu begeben, stand unter der Bedingung der Bereitschaft des anderen Staates, sich ebenso zu verhalten. Die Basis eines Vertrages war mithin ein "do ut des". Abkommen dienten ausschließlich dem Ausgleich der InterCassese, International Law in a Divided World, 1986, 43 f. Delbrück!Dicke, GYIL 28 (1985), 194 (198). 28 Ziegler, 194; Kimminich, 74; siehe auch Bu/1, The Anarchical Society, 1977, 107; Gräf, Das europäsiche Mächtesystem, in: Mörke/North (Hrsg.), Die Entstehung des modernen Europa, 1600-1900, 1998, II (13); Schilling, Konfessionalisierung und Formierung eines internationalen Systems während der frühren Neuzeit, Archiv für Reformationsgeschichte, Sonderband: Die Reformation in Deutschland und Europa, Interpretationen und Debatten, 1993, 591 (613). 29 Cassese, 47 ff. 26

27

§ 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem Westfälischen Frieden

21

essen eines Staates mit denen eines anderen. Es war das Recht einer horizontalen Staatengemeinschaft, das weder ein vertikales, d. h. hierarchisches, Element aufwies, 30 noch die Verwirklichung von den Staaten übergeordneten Zwecken zum Inhalt hatte. 31 Dieser Befund, so wird argumentiert, gelte nicht ausnahmslos. Die Staatengemeinschaft der klassischen Periode des Völkerrechts habe dem Recht zumindest zwei Aufgaben zur Regelung zugemessen, deren Lösung nicht im Ausgleich kollidierender Staatsinteressen, sondern in der Verwirklichung gleichgerichteter Interessen liege. Diese zwei Ausnahmen liegen im Verbot der Piraterie und im Prinzip des Machtgleichgewichts. Auch zwischen 1648 und 1815 galt Piraterie als Verbrechen und Piraten als "hostes humani generis". Es war das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht, eines jeden Staates, auf hoher See aufgebrachte Piraten seiner Strafgewalt zu unterwerfen und zu bestrafen.32 Dies galt jedoch nur für Piraten, die nicht unter dem Schutz eines Staates standen. Sogenannte Korsaren, d. h. Freibeuter, die mit Kaperbriefen eines Staates ausgestattet waren, konnten nicht von jedem Staat strafrechtlich verfolgt werden. Das Piraterieverbot diente zwar nicht dem Ausgleich kollidierender Interessen der Staaten, sondern diente einem gemeinsamen Interesse der Staatengemeinschaft. Auf der anderen Seite war es aber auch keine Rechtsregel, die die Souveränität der Staaten zu Gunsten dieses gemeinsamen Interesses einschränkte. Insofern war es kein Opfer für die Staaten, der Piraterie mit einem völkerrechtlichen Verbot zu begegnen. Grewe arbeitet heraus, daß es eine völkerrechtliche Regel im klassischen System gibt, die über das reine Recht der Gegenseitigkeit hinausgeht. Bei dieser Regel handelt es sich um das Prinzip des Machtgleichgewichts. 33 Die Staaten seien verpflichtet gewesen, zwischen sich ein Machtgleichgewicht zu errichten und zu erhalten. Eine solche Pflicht basiert eindeutig nicht auf bilateraler Reziprozität. Tatsächlich war das Prinzip des Machtgleichgewichts ausdrücklich im Vertrag von Utrecht enthalten. 34 Jedoch ist unter Völkerrechtlern umstritten, ob es sich dabei um ein Rechtsprinzip handelte. V an Vollenhoven, zum Beispiel, deutet es mehr als ein Leitmotiv der internationalen Diplomatie und spricht ihm

Mosler, RdC 140 (1974-IV), I (31). Dahm/Delbrück/Wolfrum, 5; Kimminich, 74; Claude, Swords into Ploughshares, 4. Aufl., 1971, 23 ; Abi-Saab, EJIL 9 (1998), 248 (255). 32 Grewe, 354 ff. 33 Grewe, 388 ff. 34 Dahm/Delbrück/Wolfrum, 6. 30

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

den Rechtscharakter ab. 35 Andere hingegen, wie Bull,36 Kirruninich37 und Gross 38, sind der Auffassung, daß es zumindest seit dem Vertrag von Utrecht als Regel des Völkerrechts angesehen werden kann. Es kannjedoch dahingestellt bleiben, ob das Prinzip des Machtgleichgewichts eine Regel des klassischen Völkerrechts war oder nicht. Von wesentlich größerer Bedeutung ist die Tatsache, daß ein Machtgleichgewicht nicht mit einer Rechtsordnung von horizontaler Struktur, die auf Reziprozität aufbaut, unvereinbar, sondern, im Gegenteil, die notwendige Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen Rechtsordnung ist. Dies erklärt sich aus der Funktion eines Machtgleichgewichts. Laut Hedley Bull erfüllt ein Machtgleichgewicht unter anderem den Zweck, ein horizontales System von Mächten zu erhalten. 39 Nur, wenn ein annäherndes Gleichgewicht zwischen den Mächten herrscht, kann es Stabilität geben. Wenn eine Macht oder einige Mächte zu stark werden oder auch nur wesentlich stärker als die anderen Mächte zu sein glauben, würde es einen umfassenden Eroberungsversuch geben, was den Zusammenbruch des Systems zur Folge hätte. Der Versuch Napoleons, ganz Kontinentaleuropa französischer Herrschaft zu unterwerfen, ist ein Beispiel für ein derartiges systemvernichtendes Hegemoniestreben. In der Tat hat dieser Versuch auch das Ende der klassischen Periode des Völkerrechts nach sich gezogen.40 Man darf indes das Gebot des Machtgleichgewichts nicht als ein absolutes Verbot territorialer Expansion und als Gewaltverbot definieren. In der klassischen Periode gab es so etwas nicht. So sind z. B. die polnischen Teilungen nicht als mit dem Prinzip des Machtgleichgewichts unvereinbar anzusehen. Die Teilungen brachten territoriale Gewinne für Preußen und Rußland. Daß Polen dabei als Staat unterging, ist kein Widerspruch zu damals geltendem Völkerrecht. Hätte sich allerdings ein Staat allein Polen einverleibt, hätte dies im Konflikt mit dem Prinzip des Machtgleichgewichts stehen können. Hatte somit das Machtgleichgewicht keine friedenssichernde Funktion, so war es doch die unerläßliche Voraussetzung für die Existenz und Stabilität eines Staatensystems, das lediglich in der horizontalen Koexistenz der Staaten bestand. Demzufolge kann nicht der Schluß gezogen werden, daß das Prinzip des Machtgleichgewichts im Widerspruch zu der These steht, daß das Völkerrecht der klassischen Epoche ein Koordinationsrecht war, das außer dem Ausgleich der kollidierenden van Vollenhoven, The Law of Peace, 1936, 83. Bull, I06. 37 Kimminich, 74. 38 Cross, 30. 39 Bull, 106 ff. 40 Dahm/Delbrück/Wolfrum, 6. 35

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§ 3 Das klassische Völkerrechtssystem nach dem Westfälischen Frieden

23

Interessen der Staaten keine Zwecke verfolgt und das auf Reziprozität der Rechte und Pflichten aufbaute. Ein Machtgleichgewicht zwischen den Staaten diente der Stabilisierung des Systems, das ansonsten durch eine Hegemonie abgelöst werden würde.

111. Die Struktur des klassischen Völkerrechts im Spiegel der klassischen Völkerrechtslehre Diese Strukturmerkmale des klassischen Völkerrechts werden auch reflektiert durch die zeitgenössische Völkerrechtsliteratur. Emer de Vattel mag hier beispielhaft herangezogen werden. Er gilt allgemein als der einflußreichste Schriftsteller.41 Es war nicht so sehr sein Anspruch, ein aus dem Naturrecht folgendes kohärentes System des Völkerrechts erst zu entwickeln, wie es bei vielen klassischen Autoren üblich war, sondern es ging ihm vielmehr darum, das Völkerrecht, wie es praktiziert wurde, darzustellen. 42 Er lehnte Christian Wolffs Idee einer civitas maxima, einer über den Staaten stehenden Superstruktur, die ihnen Rechte verlieh und Pflichten auferlegte, als Utopie ab. Er leugnet das Naturrecht zwar nicht und bezeichnet es sogar als "notwendiges Völkerrecht" im Gegensatz zum "freiwilligen Völkerrecht". Dieses "notwendige Völkerrecht" hat indes die Schwäche, daß es nur intern wirkt, d. h. den Staaten nur moralische Handlungsgebote auferlegt. Die anderen Staaten sind nicht in der Lage, aus dem Naturrecht Ansprüche geltend zu machen oder gar durchzusetzen. 43 Insofern spielt das Naturrecht de facto im zwischenstaatlichen Rechtsverkehr keine Rolle. Vattels Darstellung des Völkerrechts geht deshalb auch davon aus, das die Staaten von Natur aus frei sind und völkerrechtlichen Bindungen nicht unterliegen, es sei denn, daß sie sie freiwillig eingegangen sind. Wörtlich schreibt er: "Nach WOLFF wäre das ius gentium voluntarium (freiwilliges Völkerrecht) sozusagen das Bürgerrecht dieser Civitas maxima. Dieser Gedanke befriedigt mich keineswegs, und ich finde die Fiktion einer derartigen Civitas maxima weder gut noch richtig, noch zuverlässig genug, um daraus die Regeln eines universellen und unter den souveränen Staaten notwendigerweise akzeptierten Völkerrechts abzuleiten. Ich kann keine andere natürliche Gemeinschaft unter den Nationen anerkennen als die, welche die Natur unter allen Menschen geschaffen hat. Es gehört zum Wesen jeder bürgerlichen Gemeinschaft

41 Guggenheim, Emer de Vattel und das Völkerrecht, in: de Vattel, Le droit de gens ou principes de Ia loi naturelle (W. Schätze!, Hrsg.), 1958, XVII (XVII); Gross, 41 ff. 42 Guggenheim, in: de Vattel, XVII. 43 de Vattel, I 0 f.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis (civitas), daß jedes Mitglied einen Teil seiner Rechte an die Gemeinschaft abtritt, und daß es eine Autorität gibt, die befahigt ist, allen Mitgliedern zu befehlen, ihnen Gesetze zu geben und gegen Rechtsbrecher Zwang anzuwenden. Etwas ähnliches kann ich unter den Nationen weder feststellen noch vermuten. Jeder souveräne Staat hält sich für unbeschränkt und ist von allen andem Staaten tatsächlich unabhängig.'"'4

Wenn man nun diese extrem voluntaristische Sichtweise des Völkerrechts vor dem Hintergrund der Realität des klassischen internationalen Systems als rein horizontal sieht, wird klar, welche Funktion völkerrechtliche Verträge in dieser Epoche hatten und nur haben konnten: Wie das gesamte Völkerrecht lediglich ein Koordinationsrecht war, in dem sich keine übergeordneten Werte verwirklichten, dienten auch sie nur dem Ausgleich kollidierender Interessen der Staaten. Darüber hinausgehende Zwecke wurden durch sie nicht verfolgt. Im Geltungsgrund der Verträge lag auch gleichzeitig ihre Bindungskraft Als Interessenausgleich zwischen den Staaten waren sie Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, dessen Ausgang in der wechselseitigen Einräumung von Rechten unter der gleichzeitigen und dadurch bedingten Übernahme von Pflichten stand. Die Abkommen folgten einem "Do-ut-des"-Muster und ihre Struktur war streng reziprok in bezugauf Rechte und Pflichten. 45 Diese Struktur erklärt es nun, daß die Verträge der klassischen Epoche bis auf wenige Ausnahmen bilateral waren. Sogar die Verträge, die die Grundlage des westfälischen Friedens bildeten und im Nachhinein als eine Art Verfassung des klassischen Staatensystems angesehen werden, waren zweiseitig. Die Regelungszwecke der Verträge waren auf Zweiseitigkeil angelegt, bedingten sie aber nicht in jedem Falle. Für multilaterale Verträge bestand in aller Regel kein Bedürfnis, da auch mehrseitige Abkommen nichts anderes darstellten, als den Ausgleich kollidierender Interessen und insofern keine Normen von anderer Rechtsnatur schufen. Ein Vertrag zwischen den Staaten A, Bund C schuf Rechts- und Pflichtbeziehungen zwischen A und B, A und C und Bund C. Letztlich war somit auch ein mehrseitiger Vertrag nichts anderes als ein Bündel bilateraler Verträge.

IV. Der Zusammenbruch des klassischen Systems als Kollaps eines Machtgleichgewichts auf der Basis des Bilateralismus Wie schon erwähnt wurde, kollabierte das Machtgleichgewicht und damit das internationale System der klassischen Periode bei dem Versuch des napoleonischen Frankreichs, Kontinentaleuropa zu beherrschen. Die Wiedererrichtung des 44

45

de Vattel, 9. Schwarzenberger, A Manual oflntemational Law, 6. Aufl., 1976, 110.

§ 4 Die Evolution multilateraler Verträge im Völkerrecht

25

alten Staatensystems war ein vorrangiges Ziel des Wiener Kongresses. Das Ergebnis des Wiener Kongresses wies auch einige Züge auf, die an das klassische System anknüpften. So wurde z. B. das Ideal eines europäischen Machtgleichgewichts angestrebt. In vielerlei Beziehungen ging der Kongreß jedoch in seinen Regelungen über das hinaus, was das klassische System und das klassische Völkerrecht auszeichnete. Insbesondere versah er das Völkerrecht mit Regelungszwecken, die über den des Ausgleichs kollidierender Interessen hinausgingen. Diesen neuen Regelungszwecken konnte mit einem Völkerrecht, das lediglich auf bilateraler Reziprozität aufbaute, nicht wirksam gedient werden. Im folgenden ist darzustellen, welche Regelungszwecke sich dergestalt auf die Struktur des Völkerrechts und insbesondere auf die Struktur multilateraler Verträge auswirkten.

§ 4 Die Evolution multilateraler Verträge als Regelungsinstrument im Völkerrecht seit dem Wiener Kongreß I. Das stabilisierte Mächtegleichgewicht in Europa als Folge beginnender Mehrseitigkeit in der Rechtsetzung

Dabei ist zunächst festzustellen, daß es seit 1815 wesentlich häufiger Abschlüsse multilateraler Verträge gab, als dies in der klassischen Periode der Fall war. So waren die Wiener Kongreßakte selbst46 und das Abkommen, das die Heilige Allianz errichtete,47 mehrseitige Verträge, wobei anzumerken ist, daß es sich bei der Allianz nicht um das Ergebnis eines Abkommens handelt, sondern um ein ursprünglich aus vier Staaten bestehendes Bündnis, in das Frankreich später auf dem Kongreß von Aix-la-Chapelle 1818 aufgenommen wurde. 48 Während die Kongreßakte selbst hauptsächlich die Klärung territorialer Fragen bei der Neuordnung Europas zum Inhalt hatte, ging es bei der Heiligen Allianz um die Schaffung und Erhaltung eines stabilen Mächtegleichgewichts in Europa. Das, für sich genommen, ist gegenüber dem klassischen Völkerrecht nichts Neues, denn, wie oben beschrieben wurde, war das Machtgleichgewicht ein Strukturmerkmal des klassischen internationalen Systems und wurde im Vertrag von Utrecht sogar völkerrechtlich anerkannt. Neu gegenüber dem klassischen Völkerrecht istjedoch Abgedruckt in: de Martens, Nouveau Recueil, Vol. 2, 361 . Abgedruckt in: British Foreign State Papers, Vol. 3, 21 1, sowie in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 65, 199. 48 Siehe dazu : Verosta, EPIL, Vol. 7 (1984), 274. 46

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

die Institutionalisierung des Machtgleichgewichts in Form des "europäischen Konzerts" sowie in den Konferenzen, die in unregelmäßigen Abständen stattfanden, z. B. die Konferenzen von Aix-la-Chapelle 1818, von Laibach 1821 und Verona 1822. 49 Das Abkommen der Heiligen Allianz bezog sich auf die gemeinsame christliche Tradition der europäischen Mächte. Im Entwurf des Textes, der auf Zar Alexander I zurückging, war die Rede von den drei Monarchien Österreich, Preußen und Russland als zur seihen christlichen Nation gehörig, als drei Zweige einer gemeinsamen Familie.5° Inhaltlich gab es das Versprechen, einander militärischen Beistand zu leisten. Eine solche Verpflichtung wäre jedoch auch im klassischen Völkerrecht nicht unüblich gewesen. Weitergehend übernahm die Allianz allerdings die Verantwortung, Stabilität und die überkommene Ordnung in Europa insgesamt sicherzustellen. So intervenierten Parteien der Allianz in Fällen interner Aufstände in dritten Staaten: Österreich in Italien 1822 und Frankreich in Spanien 1823.51 Damit schufen die europäischen Großmächte durch die Allianz eine Pentarchie, die kollektiv die Verantwortung für Europa übernehmen wollte. Das Staatensystem war nicht mehr, wie in der klassischen Periode vor 1815, streng horizontal aufgebaut, sondern es wurde in einigen Bereichen hierarchisch. Darüber hinaus geht die Heilige Allianz vom Regelungsgehalt über den reinen Ausgleich kollidierender Interessen hinaus. Die Sicherheit und Stabilität Europas wird zum gemeinsamen Interesse zumindest der fünf Großmächte erklärt. Außerdem wird, indem die Restauration zum Regelungsgegenstand erklärt wird, dem Völkerrecht eine objektiv ordnungspolitische Komponente hinzufügt, 52 ein Merkmal, das dem klassischen Recht fremd war.

II. Die weitere Evolution der Mehrseitigkeit als Folge der inhaltlichen Ausweitung des Völkerrechts Von den Regelungszwecken her wandelte sich das Völkerrecht im 19. Jahrhundert auch noch in anderen Bereichen. 53 So wurde z. B. das Verbot des Sklavenhandels zum Gegenstand völkerrechtlicher Verträge. 54 Ebenso weitete sich der Bereich des zwischenstaatlichen Rechts infolge der verstärkten internationalen Verosta, 274. Siehe Verosta, 274. 51 Vgl. hierzu Grewe, 388 ff. 52 Dahm/Delbrück/Wolfrum, 7. 53 Abi-Saab, 255. 54 Siehe z. B. Actes relatifs al'abolition du traite des negres en France, abgedruckt in: de Martens, Nouveau Recueil, Vol. 2, 603.3. 49

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§ 4 Die Evolution multilateraler Verträge im Völkerrecht

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Zusammenarbeit aus. Die Schiffahrt auf dem Rhein wurde, nachdem sie schon in der Wiener Kongreßakte internationalisiert worden war55, durch ein völkerrechtliches Abkommen geregelt. 56 Gegen Ende des Jahrhunderts entstand das Bedürfnis in einigen Bereichen diese Kooperation zu institutionalisieren. Die Gründung der Universal Postal Union57 und der International Telegraph Union 58 mögen hierfür als Beispiele dienen. In der Folgezeit wurden die Abschlüsse multilateraler Verträge noch häufiger: 59 Diese Abkommen betrafen die Gründung weiterer internationaler Organisationen, humanitäre Fragen, rechtliche Regime für Gebiete außerhalb der Hoheitsbereiche der Staaten, die Kodifizierung des Gewohnheitsrechts und- als relativ moderne Entwicklung- die Regelung des internationalen Umweltschutzes. Dennoch ist fraglich, ob allein aus den Tatsachen, daß es eine Ausweitung des Regelungsbereiches des Völkerrechts und vermehrte Abschlüsse multilateraler Verträge gab, eine strukturelle Veränderung der Pflichten folgt, die sich aus multilateralen Verträgen für die Staaten ergeben. Für sich genommen sind jedenfalls diese Tatsachen kein Beweis eines solchen Wandels der Norrnstrukturen. Und in der Tat erscheint es nicht plausibel, anzunehmen, daß Verträge etwas anderes schaffen, als korrespondierende Rechte und Pflichten zwischen den Vertragsparteien. So ist denn auch die Regel "pacta tertiis nec nocent nec prosunt", wie sie in der Wiener Vertragsrechtskonvention in Art. 34 kodifiziert ist, ein Ausdruck der Vermutung, daß völkerrechtliche Abkommen relatives Recht, d. h. Rechte und Pflichten, zwischen den Parteien schaffen. Wenn man die Position eines Vertragsstaates A eines multilateralen Vertrages betrachtet, so wird klar, daß er Pflichten gegenüber den anderen Parteien B, C und D übernommen hat, auf der anderen Seite aber auch Rechte von B, C und D entsprechend einfordern kann. Wenn man demzufolge ein mehrseitges Abkommen "in Scheiben schneidet", so kann man zu dem Schluß kommen, daß auch ein multilateraler Vertrag letztlich nur ein Bündel zweiseitiger Abkommen ist. 55 s. dazu schon: Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, 70; Münch, EPIL, Vol. 7 (1984), 522 (524). 56 Navigation on the Rhine, Convention of Mayence, abgedruckt in: de Martens, Nouveau Recueil, Vol. 9, 252. 57 Convention for the Formation of a Universal Postal Union, abgedruckt in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 114,409. 58 International Telegraph Convention, abgedruckt in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 130, 198. 59 Reuter, 3 ff.; Hudson, International Legislation, Vol. I, XIX, gibt in diesem Zusammenhang die Zahl von 157 abgeschlossenen multilateralen Verträgen in der Zeit zwischen 1864 und 1914 an.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Andererseits erscheint es aber fraglich, ob ein bloßes Bündel von bilateralen Rechtsbeziehungen geeignet ist, z. B. eine Organisation mit internationaler Rechtspersönlichkeit zu schaffen. Auch ist nicht zu erkennen, wie der Schutz der Umwelt in staatsfreien Räumen durch eine Häufung bilateraler Verträge erreicht werden kann. Sicher ist eine solche Reduzierung des gesamten Völkerrechts auf bilaterale Reziprozität denkbar, doch erscheint eine solche Reduktion gekünstelt, angesichts des naheliegenderen Schlusses, daß es sich bei diesen Abkommen um etwas anderes handelt als den bloßen Austausch von Rechten und Pflichten im Sinne eines "quid pro quo". Deshalb gilt es nun, der Frage nachzugehen, ob zumindest bestimmte multilaterale Verträge sich hinsichtlich ihrer Normstrukturen von bilateralen unterscheiden lassen und wenn ja, welche Besonderheiten diese Normstrukturen aufweisen. Methodisch ist vorher noch anzumerken, daß eine solche Einteilung idealtypischer Natur ist. Den meisten, wenn nicht gar allen völkerrechtlichen Verträgen wird durch die Einteilung Gewalt angetan, da ihre Rechtsnatur in aller Regel komplexer sein wird. Insbesondere werden die verschiedenen in einem Vertrag enthaltenen Normen wahrscheinlich nicht derselben Kategorie von Normen angehören. Man sollte wohl nicht von der Struktur eines multilateralen Vertrages, sondern vielmehr von der Struktur einer Bestimmung eines multilateralen Vertrages sprechen. Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird jedoch im folgenden meist von dem Vertrag die Rede sein.

§ 5 Die Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und rechtsgeschäftliehen Verträgen nach Bergbohm und Triepel Den ersten Versuch, die unterschiedlichen Rechtsnaturen völkerrechtlicher Verträge theoretisch zu erfassen, unternahm Heinrich Triepel, der allerdings auf die schon von Bergbohm entwickelte Kategorisierung60 zurückgriff. 61 Sein Konzept basiert auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen rechtssetzenden Vereinbarungen auf der einen und rechtsgeschäftliehen Verträgen auf der anderen Seite. Letztere dienten ausschließlich dem Austausch von Gütern oder anderen Leistungen. Sie sind vergleichbar mit privatrechtliehen Verträgen. Erstere sind dies indes nicht. Sie haben eine andere Rechtsnatur. Die Staaten - in aller Regel mehr als zwei - wollen nicht Güter oder Leistungen austauschen, sondern Siehe Bergbohm, Verträge und Gesetze als Quellen des Völkerrechts, 1877, 79. Partsch, Vereinbarungstheorie, in: Strupp/Schlochauer (Hrsg.),Wörterbuch des Völkerrechts, Band 3, 1962, 489. 60

61

§ 5 Unterscheidung zwischen rechtsetzenden und rechtsgeschäftliehen Verträgen 29

verfolgen ein gemeinsames Ziel, zu dessen Erreichung sie die Vereinbarung schließen. Ein gemeinsames Ziel, so könnte man sagen, verfolgen auch die Parteien eines (rechtsgeschäftlichen) Vertrages, nämlich, daß der Austausch der gegenseitig versprochenen Leistungen tatsächlich stattfindet. Im Gegensatz zur Vereinbarung treffen die Parteien eines Vertrages jedoch unterschiedliche und korrespondierende Pflichten zur Erreichung des Vertragszweckes: Ein Verkäufer hat dem Käufer die Sache zu übergeben und zu übereignen, der Käufer hat den Kaufpreis zu zahlen. Die Parteien einer Vereinbarung sind im Unterschied zu den korrespondierenden aber unterschiedlichen Pflichten der Vertragsparteien Schuldner identischer Verpflichtungen. Entscheidend für die Unterscheidung ist, welchen Inhalt die den Vertrag oder die Vereinbarung konstituierenden Willenserklärungen haben: Sind sie auf die Übernahme unterschiedlicher, aber korrespondierender Pflichten gerichtet, so wird ein Vertrag geschlossen, sind sie gleichlautend, schließen die Parteien eine Vereinbarung. 62 Die beiden Arten von zwischenstaatlichen Abkommen haben einen grundsätzlich unterschiedlichen Rechtscharakter: Vereinbarungen sind formelle Quellen des Völkerrechts, d. h. durch ihren Abschluß wird Völkerrecht erzeugt. Bei Verträgen handelt es sich indes nicht um formelle Rechtsquellen des Völkerrechts. Sie sind lediglich Rechtsgeschäfte, die Rechte und Pflichten, jedoch kein Recht erzeugen. Sie setzen das Recht vielmehr voraus in Form des allgemeinen Rechts der Verträge.63 Triepel und Bergbohm konstruieren hier eine Analogie zum Zi viirecht Danach kann Recht nur durch die Äußerung eines Gemeinwillens entstehen. Dieser Gemeinwille besteht aus den vereinigten Willen aller beteiligten Rechtspersonen. Er kann sich nur in gleichlautenden Erklärungen der Rechtspersonen ausdrücken. Deshalb kann ein Vertrag, der auf zwar korrespondierenden aber verschiedenen Willenserklärungen aufbaut, niemals formelle Rechtsquelle sein. Triepel schreibt in bezugauf das Völkerrecht hierzu: "[Wir] hatten [ ... ] festgestellt, daß Völkerrecht nur durch Einigung mehrerer Staatswillen zu einem Gemeinwillen entstehen könne. Wir haben weiter gesehen, daß der , Vertrag' zwischen den Staaten in dem nunmehr klargelegten Sinne kein taugliches Mittel zur Bildung solchen Gemeinwillens sei. Daran schloß sich der Nachweis, daß sich auf dem Boden des Landesrechts als einzige Form die Vereinbarung denken lasse."64

Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, 46; Bergbohm, 81. Bergbohm, 79. 64 Triepel, 62.

62 63

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Völkervertragsrecht kann es demzufolge nur in der Form der Vereinbarung geben, die einem solchen Gemeinwillen Ausdruck verleiht. Nur solche Vereinbarungen können als rechtsetzend ("traites lois") bezeichnet werden, während ein Vertrag ("traites contrat") nicht auf einem Gemeinwillen, sondern auf Partikularinteressen aufbaut und aus diesem Grunde kein Recht setzt. 65 Verträge dienen nicht der Durchsetzung eines gemeinsamen Interesses, sondern dem Ausgleich kollidierender Interessen. 66 Reziprozität der Rechte und Pflichten ist ihr bestimmendes Merkmal. 67 Aus diesem Grunde kann ein Vertrag nur zwei Parteien, d. h. entweder zwei Staaten oder zwei Gruppen von Staaten, haben, während Vereinbarungen von der Zahl der Parteien her prinzipiell nicht begrenzt sind. 68 Da eine Vereinbarung nur dem Gemeinwillen der an ihr beteiligten Staaten Ausdruck verleiht, ist es allerdings nicht denkbar, daß sie Recht für Staaten schaffen kann, die nicht Partei sind. Da sie an der Bildung des der Vereinbarung zugrundeliegenden Gemeinwillens keinen Anteil haben, hat die Vereinbarung keine Wirkung in bezugauf Nichtparteien. 69 Triepel gibt einige Beispiele für völkerrechtliche Abkommen, die er als Vereinbarungen ansieht. Dazu gehören bestimmte Abschnitte der Wiener Kongreßakte betreffend die Rheinschiffahrt und den Status von Diplomaten sowie das Brüsseler Abkommen gegen den Sklavenhandel von 1890. Darüber hinaus sind allgemein Abkommen bezüglich Rechtshilfe und Schiedsahkommen Vereinbarungen.70 Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Triepel die bindende Kraft des Völkervertragsrechts aus dem Gemeinwillen folgert. Konsequenterweise spricht er allen Verträgen, die den Ausgleich kollidierender Interessen darstellen, die Rechtsqualität ab, weil sie nicht auf einem Gemeinwillen basieren. Demzufolge können nur multilaterale Verträge formelle Rechtsquellen im Völkerrecht sein. Zu Ende gedacht, müßte man bei der Anwendung dieser Theorie zu dem Ergebnis kommen, daß es sich bei den zwischenstaatlichen Abkommen der klassischen Periode, die, wie wir gesehen haben, nahezu alle den Ausgleich kollidierender Interessen der Staaten darstellen, regelmäßig nicht um die Setzung von Völkerrecht handelte.

Triepel, Triepel, 67 Triepel, 68 Triepel, 69 Triepel, 70 Triepel, 65

66

70. 70. 58. 58. 83. 70.

§ 6 Kritik an der Einteilung Triepels in der Völkerrechtslehre

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§ 6 Kritik an der Einteilung Triepels in der Völkerrechtslehre Die Unterscheidung zwischen rechtssetzendenden Vereinbarungen auf der einen und rechtsgeschäftliehen Verträgen auf der anderen Seite hat großen Einfluß auf die Völkerrechtslehre gehabt. Einige Autoren haben sie übernornrnen. 71 Die Theorie sah und sieht sich jedoch auch enormer Kritik ausgesetzt. Viele Autoren distanzieren sich von der Kategorisierung in Vereinbarungen und Verträge.72 Insbesondere die These, daß es sich bei rechtsgeschäftliehen Verträgen um keine formelle Völkerrechtsquelle handele, wurde von vielen nicht geteilt. Einer der bekanntesten Opponenten Triepels war Sir Hersch Lauterpacht Er schreibt: "[ ... ] [lt] is submitted that a theory which denies to some international treaties the quality of sources of law cannot be accepted. All international treaties are sources of law for the parties who conclude them [ ... ]."73

Grundlage dieser Kritik ist unter anderem Art. 38 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofes - identisch mit dem jetzt geltenden IGH-Statut -, der in bezug auf Rechtsquellen sagt, daß für das Gericht anwendbar seien: "[ ... ] international conventions, whether general or particular, establishing rules expressly recognised by the contracting state."

Vom Wortlaut her ist keinerlei Differenzierung zwischen Vereinbarungen und Verträgen oder gar eine Ausgrenzung von Verträgen aus der Menge der Rechtsquellen auszumachen. Theoretisch wäre zwar denkbar, daß Art. 38 die Unterscheidung nicht erwähnt, da sie vorausgesetzt wird. In den Materialien zum Entwurf des Statuts läßt sich jedoch kein Hinweis darauf finden, und auch die Anwendungspraxis durch das Gericht läßt diesen Schluß nicht zu: Der StiGH wie auch der IGH haben es nie abgelehnt, bilaterale Verträge als Rechtsquellen anzusehen. Das entspricht auch der allgemeinen Völkerrechtspraxis. Triepels Theorie hat sich in bezug auf die Rechtsquellenlehre nie durchsetzen können. Auch bilaterale Verträge sind formelle Rechtsquellen im Sinne des Art. 38. 74

71 So Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., 1964, 142 ff.; Gemma, Appunti di Diritto Internazionale, Diritto Pubblico, 1923, 212 ff. 72 Jennings/Watts, Oppenheim's International Law, Vol. I, Peace, 9. Aufl., 1992, 1203 ff.; Brownlie, Principles of Public International Law, 4. Aufl., 1990, 634; Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Erster Band, Allgemeines Friedensrecht, 2. Aufl. , 1975, 443; Reuter, Introduction to the Law of Treaties, 1989, 28. 73 Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies oflnternational Law, 1972, 158 f.; siehe auch Lauterpacht, Oppenheim's International Law, Vol. I, Peace, 8. Aufl., 1955, 878. 74 Statt vieler: Verdross/Simma, 339.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Auch wenn sich die Lehre Triepels in der Völkerechtswissenschaft und -praxis nicht durchsetzen konnte, so ist sie gleichwohl nicht ohne Wert. Triepel und Bergbohm haben zum ersten mal den Versuch gemacht, völkerrechtliche Verträge hinsichtlich ihrer Rechtsnatur zu kategorisieren. Dabei gingen sie von den hinter den Abkommen stehenden Interessen aus. Grundsätzlich gab es dabei eine Art von Verträgen, die auf der Basis der Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten zu stande kommen. Die andere Art basierte auf einem gemeinsamen Interesse. Die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen spielte bei ihnen keine Rolle. Man wird schwerlich dieser Theorie eine gewisse Plausibilität absprechen können, auch wenn die Einteilung etwas vereinfachend und holzschnittartig erscheint. Gewonnen wurde durch sie jedoch die Einsicht - und das wird auch von den Kritikern nicht bestritten75 - , daß Verträge nach dem Grad der Reziprozität ihrer Verpflichtungen klassifiziert werden können. Einige sind der Auffassung, daß diese Kategegorisierung nur völkerrechtssoziologischen Charakters ist. 76 Dies wird im folgenden unter anderem anhand der Rechtsprechung internationaler Gerichte und Tribunale zu prüfen sein.

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge Da eine Theorie über die Rechtsnatur multilateraler Verträge wertlos ist, wenn die Praxis keine Notiz von ihr nimmt, wird im folgenden die Rechtsprechung des StiGH, des IGH und anderer internationaler Gerichte im Hinblick auf die rechtliche Kategorisierung multilateraler Verträge zu untersuchen sein. Dabei sind folgende Fragen von Interesse: In welcher Hinsicht sind Gerichte bereit, multilaterale Verträge von bilateralen zu unterscheiden, und welche Rechtsfolgen ergeben sich daraus. Zugegeben waren die Gerichte nicht sehr häufig mit solchen Fragen konfrontiert. In einigen Fällen hatten sich die Gerichte jedoch mit ihnen beschäftigt und bisweilen ihre Entscheidungen sogar mit dem spezifischen Charakter eines multilateralen Vertrages begründet.

75 76

Dahm/Delbrück/Wolfrum, 51; Lauterpacht, Private Law Sources, 1927, 158.

z. B. Verdross/Simma, 339.

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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I. The Wimbledon

Der erste Fall, der in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist der Wimbledon-Fall, der vom StiGH entschieden wurde. 77 Großbritannien und Frankreich verklagten das Deutsche Reich wegen einer Verletzung seiner Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag. 78 Laut Art. 380 des Versailler Vertrages hatte Deutschland den Schiffen von Staaten, mit denen es nicht im Krieg lag, die freie Durchfahrt durch den Kanal zu gewähren. Es verweigerte jedoch einem britischen Frachter unter französischer Charter, der Waffen geladen hatte, die Durchfahrt. Das Gericht legte die Vorschrift aus und befand, daß der Kanal durch den Vertrag "[ ... ] has become an international waterway intended to provide unter treaty guarantee easier access to the baltic for the benejit of all nations of the world. " 79

"All nations of the world" waren jedoch nicht Parteien des Versailler Friedensvertrages. Trotzdem befand das Gericht, daß das freie Durchfahrtsrecht nicht nur gegenüber den Unterzeichnerstaaten bestehe. Damit löst das Gericht die Norm heraus aus einer Gegenseitigkeitsstruktur, indem es nicht die Bedingung der korrespondierenden Verpflichtung aus dem Versailler Vertrag an die Berechtigung aus ihm knüpfte. Die Basis der Verpflichtung konnte somit nicht auf der Grundlage reiner Reziprozität erklärt werden. Was allerdings die Basis letztlich sein sollte, wurde vom Gericht in diesem Fall nicht geklärt. Darüber hinaus war diese Ausführung nicht Teil der "ratio decidendi", da beide Kläger auch als Parteien der Versailler Vertrages aus dem Abkommen direkt Rechte geltend machen konnten. Dennoch erkennt das Gericht an, daß die Rechtsnatur von multilateralen Verträgen über ein reines Austauschverhältnis hinausgehen kann. Ein multilateraler Vertrag ist demnach nicht nur ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen.

77 The Wimbledon, PCIJ, Ser. A, No. 1 (1923); siehe dazu auch Böhmer, GYIL 36 (1995), 325 (329); Delbrück, "Laws in the Public Interest"- Some Observations on the Foundations and ldentification of erga omnes Norms in International Law, in: Götz/ Seimer/Wolfrum (Hrsg.), Liber amicorum Günther Jaenicke- Zum 85. Geburtstag, 1998, 17 (20). 78 UKTS 1919, A. 79 PCIJ, Ser. A, No. 1 (1923), 22, Hervorhebung vom Autor; siehe dazu auch Böhmer, 329 f., der nachweist, daß nationale Gerichte von der Wirksamkeit des Art. 380 auch nach dem 2. Weltkrieg ausgegangen sind.

3 Feist

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

II. Der Oscar-Chinn-Fall Der zweite Fall, der hier interessiert, ist der Oscar-Chinn-Fall, der vom StiGH

1934 entschieden wurde. 80 Oscar Chinn, ein britischer Geschäftsmann in Zentral-

afrika, wurde im Belgisehen Kongo gegenüber belgiseben Unternehmen diskriminiert. Das Vereinigte Königreich brachte den Fall vor den StiGH und verlangte, da es das belgisehe Verhalten als eine Verletzung des Völkerrechts ansah, Entschädigung für den von Chinn erlittenen Verlust. Es berief sich insbesondere auf die Konvention von Saint-Germain-en-Laye von 1919,81 die allen Vertragsparteien das Recht auf freien Handel im Belgisehen Kongo und auf dem Kongo gab.

Das Mehrheitsvotum wendete die genannte Konvention auf den Fall an. Zwei Richter verfaßten abweichende Meinungen, van Eysinga82 und Schücking.83 Insbesondere van Eysinga konzentrierte sich dabei auf einen Punkt, der von der Mehrheit der Richter überhaupt nicht angesprochen wurde. Es handelte sich dabei um die Anwendbarkeit der Konvention. Die beiden dissentierenden Richter waren der Auffassung, daß die Konvention ein rechtliches Nullum sei, da sie von einer früheren Vereinbarung, der Berliner Generalakte von 1885,84 abwich. Eine solche Verdrängung des früheren Rechts wäre indes nur zulässig gewesen, wenn alle Parteien des früheren Vertrages dem zugestimmt hätten. Richter van Eysinga schrieb hierzu: "The General Act of Berlin does not create a number of contractual relations between a number of states, relations which may be replaced as regards some of these states by other contractual relations; it does not constitute a ius dispositivum but it provides the Congo Basin with a regime, a statute, a constitution.'.as Die Berliner Akte hätte von den Parteien der Konvention von Saint-Germainen-Laye partiell und insoweit verdrängt werden können, als es die Anwendung des neuen Rechts nur zwischen ihnen betraf. Die dissentierenden Richter waren jedoch der Überzeugung, daß dies ohne Verletzung der Rechte dritter Staaten nicht Oscar Chinn Case (United Kingdom v. Belgium), PCIJ, Ser. A/8, No. 63 (1934). Convention of Saint-Gerrnain-en-Laye of September 10th 1919, abgedruckt in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 225,482. 82 Oscar Chinn Case, Dissentig Opionion J. van Eysinga, 131. 83 Oscar Chinn Case, Dissenting Opinion M. Schücking, 148. 84 General Act ofthe P1enipotentaries of Austria-Hungary, Belgium, Denmark, France, Gerrnany, Great Britain, lta1y, the Netherlands, Portugal, Russia, Sweden, Norway and Turkey (and the United States) respecting the Congo, signed at Berlin 26 February 1885, abgedruckt in: Parry, Consolidated Treaty Series, Vol. 165, 485. 85 Oscar Chinn Case, Dissenting opinion van Eysinga, 133 f. 80 81

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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möglich sei. Die Berliner Akte mußte demzufolge mehr sein als ein bloßes Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen. Wenn sie nämlich eine solche Bündelung gewesen wäre, so hätte die Modifizierung der Rechtsbeziehungen zwischen zwei oder mehr Parteien keinen Einfluß haben können auf die Rechtsbeziehungen zwischen diesen Staaten und solchen, die am ursprünglichen Vertrag festhalten.

111. Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations In diesem von der Generalversammlung der Vereinten Nationen erbetenen Rechtsgutachten ging es um die Frage, welche Kompetenzen die Vereinten Nationen haben, vor nationalen Gerichten eine Klage als Ausübung diplomatischen Schutzrechts zu verfolgen. 86 Der IGH entschied, daß die UN eine Kompetenz habe, Klagen vor nationale Gerichte zu bringen. Diese ungeschriebene Befugnis wurde als "implied power" bezeichnet. Ein weiteres Problem kam hier jedoch hinzu: Nicht nur war eine Kompetenz, Klagen auf dem Wege des diplomatischen Schutzrechts zu erheben, nicht vorgesehen, sondern hier ging es um die Klageerhebung in einem Staat, der nicht Mitglied der Organisation war. Fraglich war also, ob die UN gegenüber Israel eine Rechtspersönlichkeit darstellte. Die Rechtsperson der UN ist durch die Charta, einen völkerrechtlichen Vertrag geschaffen worden. Wenn dieser Vertrag lediglich die Rechtsbeziehungen der Vertragsparteien betreffen würde, so würde auch die UN als juristische Person des Völkerrechts diese Persönlichkeit nur gegenüber den Mitgliedsstaaten besitzen. Nichtmitglieder der UN würde keine Pflicht zur Anerkenntnis der Rechtspersönlichkeit der UN treffen, einem Nichtmitglied stände es also frei, eine Klage der UN vor seinen Gerichten nicht zuzulassen. Das Gericht kam jedoch zu einem anderen Ergebnis. Es war der Auffassung, daß auch dritte Staaten die Rechtspersönlichkeit der UN anerkennen müßten. Es begründete dies damit, "[ ... ] that fifty states, representing the vast majority of members of the international community had the power in conformity with international law to bring into being an entity possessing objective international personality. " 87

Damit entschied sich das Gericht eindeutig gegen eine Theorie, die Verträge lediglich als Basis von gegenseitigen Rechten und Pflichten zwischen den Parteien ansieht. Vielmehr kannjedenfalls durch bestimmte Verträge so etwas wie objektives Recht gesetzt werden. Wieder einmaljedoch wird nicht klargestellt, was 86 Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ-Reports 1949, 174. 87 IGH, Reparations, 185.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

genau aus einem multilateralen Abkommen mehr macht als ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen.

IV. Reservations to the Genocide Convention Das Gericht bestätigte seine Auffassung in dem Rechtsgutachten über Vorbehalte zur Völkermord Konvention. 88 Dem Gericht wurde die Frage vorgelegt, ob und wenn ja in welcher Weise Vorbehalte zur Völkermord Konvention von 194889 mit dem Völkerrecht vereinbar sind. Da die Konvention selbst keine Vorbehaltsklausel enthielt, war die Rechtslage unklar. Im konkreten Fall hatten mehrere Staaten Vorbehalte gegen einige Bestimmungen der Konvention erklärt. Der Generalsekretär der UN notifizierte die Vorbehalte den anderen Parteien der Konvention. Von diesen erklärten einige Staaten sich mit einigen Vorbehalten nicht einverstanden. Nach bis dato gültigem Völkerrecht hätte der Staat, der einen solchen zurückgewiesenen Vorbehalt erklärt hatte, nicht Vertragspartei werden können. 90 Unklar war jedoch, ob das traditionelle Völkerrecht auf die Konvention Anwendung finden sollte. Die Generalversammlung der UN wollte diese Rechtsunsicherheit nicht bestehen lassen und beantragte bei dem IGH ein Rechtsgutachten zur Frage der Zulässigkeil und zur rechtlichen Wirkung von Vorbehalten zur Konvention und zur Wirkung von Widersprüchen gegen Vorbehalte.

I. Das Mehrheitsvotum Das Gericht ging die Frage von der Rechtsnatur der Konvention her an. In bezug darauf sagte es: "In such a convention the contracting states do not have any interest of their own; they merely have, one and all, a common interest, namely, the accomplishment ofthese high purposes which are the raison d'etre ofthe Convention. Consequently, in a convention of this type one can not speak of individual advantages and disadvantages to states, or the maintenance of a perfect balance between rights and duties."91

88 Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Advisory Opinion, ICJ-Reports 1951, 15. 89 UNTS Vol. 78, 277. 9°Klein, EPIL, Vol. 2, 107. 91 IGH, Reservations, 23.

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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Diese Passage erinnert stark an Triepels Unterscheidung zwischen den einzelnen Willen der Staaten und dem Gemeinwillen, die jeweils konstitutiv für rechtsgeschäftliche Verträge auf der einen und rechtssetzende Vereinbarungen auf der anderen Seite sind. Allerdings ist der IGH weit davon entfernt, Triepels Theorie anzuwenden, zumal es hier um die Frage, die sich Triepel gestellt hatte, gar nicht ging. Das Problem der Rechtsnatur der Verpflichtungen aus der Konvention war nach Auffassung des Gerichts entscheidend für die Anwendung der Regeln bezüglich der Zulässigkeil von Vorbehalten. Wenn der IGH die Verpflichtungen aus der Konvention auf der Basis von Reziprozität der Rechte und Pflichten verstanden hätte, so hätte die Antwort auf die ihm gestellte Frage recht einfach lauten müssen: Ein Staat, dessen Vorbehalt von einem anderen Staat abgelehnt wurde, konnte gegenüber diesem Staat nicht als Vertragspartei gelten, jedoch gegenüber jedem anderen Staat, der Partei war und nicht widersprochen hatte, war er Vertragspartei. Eine solche Aufspaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien ist nur möglich, wenn man die Konvention als eine BündeJung von zweiseitigen Abkommen ansieht. Namentlich die amerikanischen Staaten haben diese Lösung angewandt, die auch deshalb als das Panamerikanische System bekannt ist. 92 Der IGH verfolgte indes einen anderen Lösungsweg. Er stellte nicht auf die Rechtsbeziehungen zwischenjeweils zwei Parteien ab, sondern beurteilte die Vorbehalte von einem objektiven Standpunkt. Ein zulässiger Vorbehalt kann demnach nicht zurückgewiesen werden, ein unzulässiger entfaltet keine Wirkung zwischen allen Parteien. Die Zulässigkeil eines Vorbehaltes richtet sich ebenfalls nach einem verobjektivierten Maßstab: ein Vorbehalt ist nur dann zulässig, wenn er Sinn und Zweck ("object and purpose") der Konvention nicht entgegensteht.

2. Die abweichenden Voten Diese Lösung wurde indes nicht von allen Richtern geteilt. Die Richter Guerrero, McNair, Read und Hsu Mo distanzierten sich in einem gemeinsamen abweichendem Votum93 von der neu entwickelten "Sinn-und-Zweck-Regel" . Sie beanstandeten jedoch nicht die rechtliche Qualifikation der Konvention als eines Abkommens, das nicht lediglich ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen darstellt, sondern nur die Folgerungen der Mehrheit der Richter. 92 Siehe dazu Lijnzaad, Reservations to UN Human Rights Treaties- Ratify and Ruin?, 1994, 16. 93 Joint Dissenting Opinion of Judges Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, IGH, Reservations, 36.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Einen Schritt weiter als die Richter in der Mehrheitsmeinung ging Richter Alvarez in seinem abweichenden Votum. 94 Seiner Auffassung nach seien Vorbehalte gegen bestimmte Arten multilateraler Verträge unter keinen Umständen zulässig. Dabei handelte es sich um Konventionen, die darauf angelegt waren, neue und wichtige Regeln des Völkerrechts zu etablieren, sowie solche, die soziale und humanitäre Fragen betrafen. Solche Abkommen seien nicht lediglich multilaterale Verträge im herkömmlichen Sinne, sondern das Verfassungsrecht der internationalen Gemeinschaft.95 Als solches können sie auch bindende Wirkung für Staaten entfalten, die ihnen gar nicht beigetreten sind.96 Diese Äußerungen des Richters Alvarez sind allerdings nicht sehr einflußreich gewesen. Seine Auffassung, daß das traditionelle Völkerrecht nach 1945 von einer neuen internationalen Rechtsordnung abgelöst worden sei,97 wurde von den meisten Völkerrechtlern nicht geteilt, und seine Wirkung auf Lehre und Praxis blieb gering. 98 Wasjedoch festzuhalten bleibt, ist, daß der IGH bestimmte multilaterale Verträge ihrer Rechtsnatur nach anders betrachtet als "normale" völkerrechtliche Abkommen. Darüber hinaus modifiziert es, seiner Auffassung nach, unter Umständen auch die Anwendung des allgemeinen Rechts der Verträge auf solche multilateralen Verträge.

V. Der Barcelona Traction Case In diesem Fall ging es nicht um die Rechtsnatur von Rechten und Pflichten aus multilateralen Verträgen, sondern um Pflichten, die aus allgemeinem Völkerrecht erwachsen.99 Belgien wollte ein diplomatisches Schutzrecht ausüben zugunsten von belgischen Aktionären einer kanadischen Gesellschaft, der Barcelona Traction Light and Power Company, die von Spanien nicht den internationalen Standards entsprechend behandelt worden war. Das Gericht hatte zu klären, ob Belgien "locus standi" hatte. Es verneinte diese Frage, da nur ausnahmsweise die Aktionäre und nicht nur die Gesellschaft Schutzobjekt sein könnten und in diesem Fall diese Dissenting Opinion of Judge Alvarez, IGH, Reservations, 51. Dissenting Opinion of Judge Alvarez, IGH, Reservations, 51. 96 Dissenting Opinion of Judge Alvarez. IGH, Reservations, 52. 97 Alvarez. Le droit international nouveau, 1959,407 ff. 98 Dahm/Delbrück/Wolfrum, 47; Scheuner, ZaöRV 13 (1950-51), 5 (66 ff.). 99 Case Conceming the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain) Second Phase, ICJ-Reports, 1970, 3. 94 95

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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Ausnahmen nicht gegeben seien. Ohne daß es Teil der eigentlichen Entscheidungsgründe wurde, setzte sich das Gericht auch mit der generellen Rechtsnatur von völkerrechtlichen Pflichten auseinander. Dabei kam es zu dem Ergebnis, daß es eine Kategorie von Pflichten gibt, die nur einem bestimmten anderen Staat auf der Basis der Gegenseitigkeit geschuldet wird. Eine andere Kategorie von Pflichten ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre Erfüllung nicht einem bestimmten Staat geschuldet wird, sondern der Staatengemeinschaft insgesamt. Der IGH führte hierzu aus: .,In particular, an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-a-vis another state in the field of diplomatic protection. By their very nature they are the concern of all states. In view of the importance of the rights involved all states can be held to have a legal interest in their protection; they are valid erga onmes." 100

Der IGH machte hier zwei Elemente deutlich: Zum einen beschrieb er die Erfüllungsstruktur solcher "Erga-omnes"-Normen, zum anderen deutete er an, welche Rechtsfolge sich daran knüpft. Wenn die Erfüllung einer Pflicht nämlich allen Staaten gegenüber geschuldet ist, so ist es nur folgerichtig, daraus zu schließen, daß letztlich jeder Staat die Rechtsmacht haben muß, die Erfüllung dieser Pflicht zu fordern. Im konkreten Fall war die Frage, ob daraus auch eine Klagebefugnis folgen müsse, 101 nicht erheblich, so daß sie nicht beantwortet wurde. Indes, im East-Timor-Fall 102 war der IGH mit genau diesem Problem konfrontiert: Portugal machte geltend, daß Australien das Selbstbestimmungsrecht der Völker mißachte und daß Portugal, obwohl selbst direkt nicht betroffen, aufgrund der "Erga-omnes"-Wirkung dieses Rechstssatzes klagebefugt sei. Der IGH erkannte hier prinzipiell die "Erga-omnes"-Wirkung der Norm an. Er habe jedoch keine Jurisdiktion, da er nicht über die Pflichten Indonesiens entscheiden könne, die notwendigerweise mitbetroffen wären, würde er ein Urteil gegen Australien aussprechen. 103 Der IGH hatte sich in beiden Fällen mit allgemeinem Völkerrecht auseinandergesetzt und nicht mit den Strukturen von Rechtssätzen in multilateralen Verträgen. Andererseits ist nicht gesagt, daß "Erga-omnes"-Wirkung nur Normen des allgemeinen Völkerrechts zukommen kann. Eine Übertragung des vom IGH Gesag-

IGH, Reservations, 32. Siehe dazu: Annacker, Die Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen vor dem Internationalen Gerichtshof, 1994, 107 ff. 102 East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Reports 1995, 90. 103 IGH, Reservations, 102. 100 101

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

ten auf multilaterale Verträge würde im Gegenteil bestätigen, was der IGH und sein Vorgänger in den schon besprochenen Fällen judiziert hatten.

VI. Der Pfunders-Fall Illustrativ in bezug auf die verobjektivierte Rechtsnatur von Pflichten aus einem multilateralen Vertrag und die daran geknüpften Rechtsfolgen ist der Pfunders-Fall, der von der Europäischen Kornmission für Menschenrechte entschieden wurde. 104

1. Der Sachverhalt Der Fall betraf die Verurteilung von mehreren jugendlichen Straftätern. Nach Ansicht Österreichs hatte Italien in den erst- und zweitinstanzliehen Verfahren die Verfahrensgarantien des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. 105 Die Urteile datierten vom 16. Juli 1957 und vom 27. März 1958. Italien war der Konvention am 26. Oktober 1955 beigetreten, Österreich am 3. September 1958. Am 11. Juli 1960 legte Österreich gern. Art. 24 EMRK die Staatenbeschwerde gegen Italien ein.106

2. Die Einlassungen der Parteien Italien verteidigte sich gegen die Beschwerde unter anderem damit, daß sie unzulässig sei, weil Österreich ratione temporis keine Klagebefugnis habe. 107 Österreich brachte dagegen vor, daß nach Art. 24 nur der Verletzerstaal zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung Vertragspartei gewesen sein muß. Der Beschwerdestaat müsse dagegen nur zum Zeitpunkt der Beschwerde Vertragsstaat sein. Dies wurde damit begründet, daß Art. 24 im Gegensatz zur Vorschrift des Art. 46 Abs. 2, die 104 Decision ofthe Commission on the Admissibility of Application No. 788/60 lodged by the Govemment of the Federal Republic of Austria against the Govemment of the Republic of Italy, Yearb. of the Europ. Commission of Human Rights 1961, 117. 105 Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, European Treaty Series, No. 5; UNTS Vor. 213,221. 106 Siehe zu den Daten: Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechlicher Verträge, 1972, 179 f. 107 Yearb. of the Europ. Commission of Human Rights 1961, 134.

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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die Unterwerfung unter die Jurisdiktion des Gerichtshofes betrifft, nicht unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stehe. 108

3. Das Votum der Kommission Die Kommission folgte nicht dem Vorbringen Italiens und entschied, daß sie "ratione temporis" Zuständigkeit besitze. Die Mitgliedschaft Italiens zum Zeitpunkt der fraglichen Akte wurde als ausreichend hierfür angesehen. Ein solches Ergebnis wäre unmöglich, würde man in der EMRK ein Bündel von gegenseitigen Rechten und Pflichten sehen. Dann wäre die rechtliche Situation eindeutig: Italien war zwar zum Zeitpunkt der behaupteten Verletzungshandlungen an die EMRK gebunden, jedoch konnte kein dahingehendes Recht von Seiten Österreichs geltend gemacht werden, da Italien nicht Österreich gegenüber verpflichtet gewesen war. Allein aus der Tatsache, daß die Kommission die Beschwerde Österreichs nicht aus diesem Grunde für unzulässig erklärt hatte, 109 ist zu schließen, daß sie in der EMRK etwas sah, das mehr schuf, als den bloßen Austausch von Rechten und Pflichten. Die Kommission führte aus, was sie dazu bewog, hier nicht die Unzulässigkeil der Beschwerde anzunehmen. Zunächst folgte sie dem Österreichischen Vorbringen, daß nach Art. 24 die Gegenseitigkeit keine vom Wortlaut der Norm vorgegebene Bedingung war, im Gegensatz zum Wortlaut des Art. 46 Abs. 2. Entscheidender waren jedoch Argumente, die aus der Rechtsnatur bzw. der Erfüllungsstruktur der Menschenrechtsnormen der Konvention folgten. Dabei machte die Kommission zunächst die Beobachtung, daß die Staaten nach der EMRK die in ihr verbrieften Rechte nicht nur gegenüber eigenen Staatsangehörigen und den Angehörigen anderer Vertragsstaaten einzuhalten hatten, sondern auch gegenüber Bürgern dritter Staaten und Staatenlosen aus der EMRK verpflichtet waren. 110 Daraus entwickelte sie eine These über die spezifische Natur der EMRK als eine Art europäischer ordre public. Sie führte aus: "[ .. . ] [The] purpose of the High Contracting Parties was not to concede to each other reciprocal rights and Obligations in pursuance of their individual national interests but to realise the aims and ideas of the Council ofEurope, as expressed in its Statute, and to establish a common public order of the free democracies of Europe with the objects of

Yearb. of the Europ. Commission of Human Rights 1961, 134. Die Beschwerde wurde jedoch aus anderen Gründen als unzulässig verworfen. 110 Yearb. ofthe Europ. Commission of Human Rights 1961, 140. 108

109

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis safeguarding their common heritage of political traditions, ideals, freedom and the value oflaw." 111

Die Verpflichtungen aus der Konvention bestanden mithin objektiv und für sich genommen. Es bedurfte keiner Gegenseitigkeit der Verpflichtungen im Sinne eines Austauschverhältnisses. Mehr noch: die Staaten, die im Wege der Staatenbeschwerde das Fehlverhalten anderer Staaten rügen, verfolgen keine eigenen subjektiven Rechte, sondern die Durchsetzung eines objektiven, öffentlichen Interesses. Daher bedarf es auch keiner Gegenseitigkeit der Verpflichtungen zum Zeitpunkt der fraglichen Akte. Die Kommission geht in ihrer Interpretation der EMRK weit über das hinaus, was traditionell in völkerrechtlichen Verträgen gesehen wurde. Während das klassische Muster des völkerrechtlichen Vertrages - auch des multilateralen - darin bestand, daß sich die Parteien Rechte und Pflichten auf der Basis der Gegenseitigkeit einräumen und ein Vertrag folglich nicht mehr als subjektive Rechte schaffen kann, ist der Ansatz der Kommission ein völlig anderer: Die EMRK ist nicht das Ergebnis eines Handels auf der Basis von Gegenseitigkeit, sondern die Setzung objektiven Rechts. Als solches stellt es eine Art europäisches Staatenverfassungsrecht dar. Dieser Ansatz wurde später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt, 112 und auch der für die Interpretation der Amerikanischen Menschenrechtskonvention zuständige Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte legt die Amerikanische Konvention entsprechend aus. 113

VII. Ergebnis der Rechtsprechungsanalyse Die Analyse dieser wenigen völkerrechtlichen Judikate hat gezeigt, daß sich die Triepelsche Theorie von der Unterscheidung zwischen den normsetzenden und den rechtsgeschäftliehen Verträgen in der Praxis nicht hat durchsetzen können. Die völlige Ablehnungjeglicher Unterscheidung von völkerrechtlichen Verträgen hinsichtlich ihrer Rechtsnatur und die entsprechende Anknüpfung von Rechtsfolgen daran war jedoch ebenfalls nicht die Linie der Gerichte. So hat der StiGH im "Wimbledon"-Fall zunächst entschieden, daß ein völkerrechtlicher Vertrag rechtliche Wirkungen nicht nur unter den Vertragsparteien entfalten kann, sondern Yearb. ofthe Europ. Commission ofHuman Rights 196I, 138. Ireland v. United Kingdom, Judgment of I8 January I978, ECHR, Ser. A, Vol. 35, 25 (90 f.). 113 The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Articles 74 and 75), OC-2/82 of 24 September I 982, Inter-American Court of Human Rights, Series A. No. 2, 20-23. 111

112

§ 7 Völkerrechtliche Rechtsprechung zur Rechtsnatur multilateraler Verträge

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auch Rechtspositionen für dritte Staaten zu schaffen vermag. Würde man alle Verträge, also auch multilaterale, auf das Schema eines reziproken Austausches von Rechten und Pflichten reduzieren, so wären rechtliche Effekte, die jenseits der Vertragsparteien Raum greifen undenkbar: die "Pacta-tertiis"-Regel würde unbedingt gelten. Die rechtliche Natur solcher Verträge geht folglich über den bloßen Austausch von Rechten und Pflichten hinaus. Was aber jenseits des Austauschverhältnisses liegt, wird vom StiGH nicht erörtert. Auch im Oscar-Chinn-Fall gehen die Richter van Eysinga und Schücking von der Existenz von Rechtsnormen im Völkerrecht aus, die eine Art objektives Recht darstellen. Die beiden Richter unternehmen jedoch nicht den Versuch einer rechtsdogmatischen Klärung ihrer Theorie. Deutlicher wird demgegenüber der IGH in seinem Gutachten zur Zulässigkeil von Vorbehalten zur Völkermordkonvention. Die Struktur der Normen ist danach abhängig von den die Normen konstituierenden Interessen der Staaten. Handelt es sich um den Ausgleich von korrespondierenden, aber entgegengesetzten Interessen, so entstehen aus dieser Situation Normen, die auf der Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten basieren, die sich die Beteiligten einräumen. Geht es hingegen, wie im Falle der Völkermord-Konvention, nicht um den Ausgleich von Einzelinteressen, sondern um die Verfolgung eines gemeinsamen Ziels, 114 so führt dies zur Entstehung einer anderen Art von Völkerrechtsnormen. Entsprechend der zugrundeliegenden Interessenlage konstituieren die Normen nicht lediglich subjektive Rechte, die mit entsprechenden Pflichten korrespondieren, sondern objektives Recht. Das spiegelt sich im erwähnten Gutachten darin wider, daß die Zulässigkeil von Vorbehalten nicht vom Einverständnis der anderen Vertragsparteien abhängt, sondern vom- objektiven- Erfordernis der Vereinbarkeil des Vorbehalts mit Sinn und Zweck der Konvention. Im Barcelona Traction Fall wurde allerdings in bezug auf allgemeines Völkerrecht - vom IGH vertreten, daß es grundsätzlich zwei Arten völkerrechtlicher Pflichten gebe. Die eine ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Staat ihre Erfüllung jeweils einem bestimmten anderen Staat schuldet, während die andere Art der "Erga-omnes"-Verpflichtungen Pflichten beschreibt, deren Erfüllung der Staatengemeinschaft insgesamt geschuldet wird. Am deutlichsten wird jedoch die Europäische Kommission für Menschenrechte. Sie verfolgt im Pfunders-Fall einen ähnlichen interpretatorischen Ansatz in 114 Von dem heute gebräuchlichen Begriff "Staatengemeinschaftsinteresse" war in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Der Begriff wird allerdings weiter unten noch in bezug auf seine Rolle in multilateralen Verträgen zu untersuchen sein, insbesondere im Rahmen des modernen Umweltvölkerrechts.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

bezugauf die EMRK wie der IGH im o. g. Gutachten bezüglich der Völkermordkonvention. Danach besteht die EMRK nicht aus Bündeln von korrespondierenden Rechten und Pflichten, sondern ist Setzung von objektiven Rechtsnormen im Interesse der Allgemeinheit. Die Kommission macht deutlich, daß die Pflichten, die die Staaten aus der EMRK treffen, nicht die Kehrseite von subjektiven Rechten der Staaten auf Erfüllung sind. Diese Verpflichtung trifft die Mitgliedsstaaten der Konvention unabhängig von der Rechtsposition eines anderen Mitgliedsstaates. Im Gegensatz zu einem gewöhnlichen völkerrechtlichen Vertrag handelt es sich bei der EMRK mithin um objektives Recht, die Kommission spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem Verfassungsdokument Dieneueren Judikate, in denen der IGH und die Kommission deutlicher wurden, betrafen allerdings durchweg Konventionen, die den Schutz des Individuums oder von Menschengruppen zum Ziel haben. Das muß nicht unbedingt heißen, daß die einzigen Konventionen, die nicht auf Reziprozität der Rechte und Pflichten aufbauen, Menschenrechtsverträge sind. Im folgenden wird aber neben der Frage, ob die Tendenz in der Rechtsprechung dogmatisch stimmig ist, auch zu prüfen sein, welche anderen Vertragstypen sich entsprechend kategorisieren lassen.

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Arbeit der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, der International Law Commission (ILC), die sich seit ihrem Bestehen konstant um die systematische Aufarbeitung verschiedener Regelungsbereiche des Völkerrechts kümmert, meist um eine spätere Kodifikation dieses Rechtsgebietes vorzubereiten. So ging dem Entwurf der Wiener Vertragsrechtskonvention eine mehr als ein Jahrzehnt lang dauernde Beratung des Völkervertragsrechts voraus. Insbesondere die Berichte der Sonderberichterstatter ("Special Rapporteurs") Fitzmaurice und Waldock bieten reichliches Material. Aktueller und in bezugauf die hier zu beantwortenden Fragen nicht weniger interessant ist die Arbeit der ILC auf dem Gebiet der Staatenverantwortlichkeit Auf den ersten Blick scheint das nicht unbedingt naheliegend zu sein. Im Rahmen der Fragen jedoch, welcher Staat durch die Verletzung einer Völkerrechtsnorm betroffen ist und welche Gegenmaßnahmen ein verletzter Staat ergreifen darf, wird es auch um die Kategorisierung von völker-

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen

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rechtlichen Normen gehen. Erst kürzlich hat die ILC sich ein neues Arbeitsfeld erschlossen: die rechtlichen Regeln für Vorbehalte zu multilateralen Verträgen. Daß dieser Bereich im Zusammenhang dieser Arbeit interessant ist, ergibt sich schon aus der Betrachtung des oben analysierten IGH-Gutachtens.

I. Die vorbereitenden Arbeiten zur Kodifikation des Rechts der Verträge Die ILC beschäftigte sich über mehr als ein Jahrzehnt mit dem Recht der Verträge. Die Berichte der Sonderberichterstatter waren dabei die Arbeitsgrundlage und deckten alle Bereiche dieses Rechtsgebietes ab. Von Interesse sind die Berichte der drei Sonderberichterstatter Lauterpacht, Fitzmaurice und Waldock.

1. Die Lauterpacht-Reports Als zweiter Sonderberichterstatter nach Brierly zum Recht der Verträge fungierte Sir Hersch Lauterpacht In seinem ersten Bericht 115schlägt er Normen vor, die allgemeine Begriffsbestimmungen enthalten. Darunter befindet sich eine Definition des Begriffs des Vertrages im Völkerrecht. Danach sind Verträge "agreements between states [ ... ] intended to create rights and obligations of the parties".116 Das sei das entscheidende Element, das allen Verträgen eigen sei. Diesen rechtsgeschäftliehen Charakter, so schreibt er in seinem Kommentar, hätten alle bi- und multilateralen Verträge gleichermaßen. 117 Damit erschöpft sich indes nicht die Rechtsnatur jedes multilateralen Vertrages. Lauterpacht zitiert in diesem Zusammenhang das Gutachten des IGH im Fall "Reparations for Injuries Suffered".118 Danach konnte die UN-Charta als völkerrechtlicher Vertrag auch Rechtswirkungen in bezug auf dritte Staaten entfalten, indem diese die internationale Rechtspersönlichkeit der UN nicht ignorieren konnten. Aber auch andere multilaterale Konventionen können so etwas wie die Funktion einer internationalen Legislative erfüllen. Diese speziellen Arten von völkerrechtlichen Abkommen würden, jedenfalls in einigen Bereichen, eine modifizierte Anwendung des all115 Report on the Law ofTreaties by Hersch Lauterpacht, Special Rapporteur, YBILC 1953, Vol. I!, 90. 116 Lauterpacht, Report, 90. 117 Lauterpacht, Report, 83 f. 118 Siehe oben § 7, III.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

gemeinen Rechts der Verträge erfordern. Schließlich schränkt Lauterpacht aber diese Ausnahmen wiederum ein und verweist noch einmal darauf, daß letztlich alle Verträge "contracts" seien und man immer von dieser Annahme ausgehen müsse. 119 Ein Regelungsbereich, in dem die spezielle Rechtsnatur von multilateralen Verträgen die Anwendung der allgemeinen Regeln des Rechts der Verträge modifiziert oder gar ausschließt und besondere Normen Anwendung finden läßt, liegt in der Zulässigkeil und der Wirksamkeit von Vorbehalten. Hier kann der Charakter eines Vertrages entscheidend sein. Insbesondere die Reziprozität der Rechte und Pflichten ist dabei von Bedeutung. Die Basis vieler multilateraler Konventionen, so führt er aus, "[ . .. ] is not the establishment of a nicely balanced system of rights and obligations- of give and take- of the parties inter se, but rather the assumption of an absolute obligation towards a transcending and imperative international interest subscribed to out of a sense of moral obligation and international solidarity." 120

Damit verbunden ist folglich die Anerkenntnis, daß bestimmte multilaterale Verträge sich nicht in der Schaffung von Rechten und Pflichten auf der Basis bloßer Gegenseitigkeit erschöpfen. Da Lauterpacht nach seinem ersten Bericht zum Richter am IGH gewählt wurde, konnte er seine Tätigkeit in der ILC nicht weiter fortsetzen. Trotzdem ist dieser eine Bericht schon aufschlußreich, insbesondere, wenn man ihn vor dem Hintergrund von Lauterpachts wissenschaftlichem Werk betrachtet. In seinen Publikationen 121 pflegte er zu betonen, daß alle Verträge Rechtsquellen des Völkerrechts seien und grundsätzlich nur Wirkung "inter partes" entfalten können. Dies ist insbesondere als Ablehnung der Triepelschen Lehre von den rechtsetzenden und den rechtsgeschäftliehen Verträgen zu sehen. Während er aber in "Private Law Sources and Analogies in International Law" einer eventuellen Kategorisierung von Verträgen nur völkerrechtssoziologischen Wert zumaß, 122 geht er in seinem Bericht für die ILC einen Schritt weiter und ist bereit, an die spezielle Rechtsnatur multilateraler Konventionen andere Rechtsfolgen zu knüpfen.

Lauterpacht, Report, 99. Lauterpacht, Report, 127. 121 Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies ofintemational Law, 1927, 157; ders., Oppenheim's International Law, Vol. I, Peace, 8. Aufl., 1955, 878. 122 Lauterpacht, Law Sources, 157. 119 120

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen

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2. Die Fitzmaurice-Reports

Die Nachfolge Lauterpachts in der Rolle des Sonderberichterstatters der ILC für das Recht der Verträge trat Sir Gerald Fitzmaurice an. Ebenso wie schon Lauterpacht erarbeitete er Entwürfe für eine Kodifikation des Rechts der Verträge. In seinem ersten Bericht123 stellte er Artikel vor, die allgemeine Definitionen enthielten. In Art. 8 124 führt er "in abstracto" eine Unterscheidung zwischen rechtsgeschäftliehen Verträgen auf der einen und rechtsetzenden Verträgen auf der anderen Seite ein. Diese Unterscheidung werde allerdings hauptsächlich aus Bequemlichkeits- und Verfahrensgründen getroffen. In seinem Kommentar führt er aus, daß im Prinzip für alle Verträge ein einheitliches Recht gelte und daß es keine fundamentalen rechtlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Vertragstypen gebe. 125 Insbesondere die Regeln bezüglich des Abschlusses und der Rechtswirksamkeit von Verträgen sowie die Regeln über Vollmachten, Inkrafttreten und Auslegung finden unterschiedslos auf alle Verträge Anwendung.

a) Die Beendigung der Vertragsbindung nach einem Bruch des Vertrages durch eine andere Partei Ein Jahr später stellte Fitzmaurice der ILC seinen zweiten Bericht vor. 126 Im Gegensatz zu seiner Aussage im ersten Bericht, beginnt Fitzmaurice hier unterschiedliche Regeln für die verschiedenen Arten völkerrechtlicher Verträge vorzuschlagen. In diesem Zusammenhang verfeinert er die von ihm schon in Art. 8 vorgenommene Differenzierung. In den Artikeln 18 und 19 seines Entwurfes schlägt Fitzmaurice Regeln vor für die einseitige Beendigung eines Vertrages infolge einer fundamentalen Vertragsverletzung durch eine andere Partei. Dabei macht er in Art. 18 Abs. 1127 einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Situation einer fundamentalen Verletzung eines bilateralen Vertrages und der eines multilateralen Vertrages. Nur im Falle eines bilateralen Vertrages vermag die Partei, die den Vertrag nicht verletzt hat, diesen endgültig zu kündigen. Bei multilateralen Verträgen hat keine Partei ein derartiges Kündigungsrecht Es ist le123 Report on the Law of Treaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1956, Vol. II, 104 ff. 124 Fitzmaurice, Report, 108. 125 Fitzmaurice, Report, 118. 126 Second Report on the Law of Treaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1957, Vol.II, 16 ff. 127 Fitzmaurice, Second Report, 30.

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I . Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

diglich erlaubt, die Erfüllung des Vertrages gegenüber dem Verletzerstaat auszusetzen. Darüber hinaus ist laut Art. 19 dieses Recht beschränkt auf bestimmte Arten multilateraler Verträge. 128 Gemäß Abs. 1, ii dieser Bestimmung hat ein Staat das Recht, die Erfüllung seiner Pflichten aus einem multilateralen Vertrag gegenüber einem Staat zu verweigern, der diesen Vertrag fundamental verletzt hat, nur im Der Wortlaut des Art. 19: "Art. 19. Termination or suspension by operation of law. Case of fundamental breach of the treaty (conditions and limitations of application) I. Limitations in respect of the type of treaty. (i) Fundamental breach as a ground giving a right to the other party to declare the termination ofthe treaty, applies in principle only in the case ofbilateral, not multilateral treaties. (ii) Subject to the special case mentioned in sub-paragraph (iii) below, a breach, however serious, of a multilateral treaty by one party does not give the other party the right to terminale the treaty. However, in the case of obligations of the reciprocal, or interdependent type, a fundamental breach will justify the other parties: (a) In their relations with the defaulting party in refusing performance for the benefit ofthat party of any Obligations of the treaty which consist in a reciprocal gram or interchange between the parties of rights, benefits concessions or advantages of a right to particular treatment in some field with respect to a particular matter; (b) In ceasing to perform any obligations of the treaty which have been the subject of the breach, and which are of such a kind that, by reason of the character of the treaty, their perforrnance by any party is necessarily dependent on an equal or corresponding perforrnance by all the other parties. (iii) If, in respect of a treaty of the type contemplated by sub-paragraph (ii) (b) above, a party commits a generat breach of the entire treaty in such a way as to constitute a repudiation of it, or a breach in so essential a particular as to be tantamount to a repudiation, the other parties may treat it as being an end, or any of them may withdraw from further participation. (iv) In the case of Law-making treaties (traites-lois), or of system or regime creating treaties (e.g., for some area, region or locality), or oftreaties involving undertakings to conforrn to certain standards and conditions. or of any other treaty where the juridical force of the obligation is inherent, and not dependent on a corresponding performance by the other parties to the trreaty as in the cases contemplated in heads (a) and (b) of sub-paragraph (iii) above, so that the obligation is of a self-existent character, requiring an absolute and integral application and perforrnance under all conditions- a breach (however serious) by one party: (a) Can never constitute a ground of termination or withdrawal by the other parties; (b) Cannot even (to the extent to which that might otherwise be relevant or practicable) justify non-perforrnance of the oblligations of the treaty in respect of the defaulting party or its nationals, vessels etc." Fitzmaurice, Second Report, 31. 128

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen

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Falle eines Vertrages, der Verpflichtungen enthält, die das Ergebnis eines reziproken Austausches von Rechten, Vorteilen oder Leistungen sind. Weist der Vertrag allerdings eine Verpflichtungsstruktur auf, nach der die Erfüllung des Vertrages von der gleichzeitigen Erfüllung seitens aller anderen Vertragsparteien abhängig ist, so kann nicht ein Staat allein, sondern können nur alle Staaten außer dem Verletzerstaal zusammen die Vertragsbindung gegenüber dem Verletzerstaal aussetzen. Dies schreibt Art. 19 Abs. 1, ii, b vor. Als eine letzte Gruppe von multilateralen Verträgen behandelt er rechtssetzende ("law-making") Verträge und solche, "where the juridical force of obligation is inherent and not depending on a corresponding perforrnance of the other parties to the treaty [ ... ]. " 129

Im Falle der Verletzung eines Vertrages, der dieser Gruppe angehört, ist weder die einseitige noch die kollektive Suspendierung des Vertrages als Reaktion der anderen Staaten gerechtfertigt. Auf die Konsequenzen, die Fitzmaurice hier in bezugauf die einseitige Beendigung bzw. Suspendierung eines Vertrages zieht, wird weiter unten zurückzukommen sein. In diesem Zusammenhang ist interessant, wie der Sonderberichterstatter die Kategorisierung von multilateralen Verträgen in seinen Artikeln 18 und 19 begründet. Er geht dabei von der Gegenseitigkeit ("reciprocity") der Pflichten, die sich aus den Verträgen ergeben, ausY0 Der erste Typus eines multilateralen Vertrages zeichnet sich durch die strenge bilaterale Gegenseitigkeit der durch ihn konstituierten Rechte und Pflichten aus. So entstehen in einem Vertrag solchen Typs, den die Parteien A, B, C und D geschlossen haben, Rechtsbeziehungen zwischen A und B, A und C, A und D, B und C, B und D und C und D, die alle völlig unabhängig nebeneinander existieren. Eine eventuelle Störung der Rechtsbeziehung zwischen zwei Parteien hat keinen Einfluß auf die Rechtsbeziehungen zwischen den anderen Parteien, istjedoch auch ohne Auswirkung auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten der gestörten Beziehung und dritten Vertragsparteien. Letztlich ist ein Vertrag, der diesem Typ angehört, nichts weiter als ein bloßes Bündel bilateraler Abkommen. Der zweite Typus beschreibt eine andere Art von Interaktion im Rahmen der Vertragserfüllung. Ein Vertrag dieser Kategorie kann nicht in Bündeln von zweiseitigen Rechtsbeziehungen beschrieben werden. Zwar basiert die Erfüllung der Pflichten hier auch auf Gegenseitigkeit, im Unterschied zu dem oben beschriebenen ersten Typus, ist hier die Gegenseitigkeit keine zweiseitige, sondern eine zwischen allen Vertragsparteien. Die Nichterfüllung seitens einer Partei betrifft nicht nur das Rechtsverhältnis zwischen dieser und einer anderen Partei, sondern das 129

Fitzmaurice, Second Report, 30.

°Fitzmaurice, Second Report, 53 f.

13

4 Feist

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l. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Verhältnis zwischen dieser und allen anderen Parteien. Die aus dem Vertrag erwachsenden Pflichten werden somit nicht nur gegenüber einer Partei erfüllt, sondern allen Parteien gegenüber. Umgekehrt ist die Erfüllung wiederum abhängig von der gleichzeitigen Erfüllung der Vertragspflichten durch alle anderen Parteien. Die Pflichten eines solchen Vertrages werden folglich auch im Wege der Gegenseitigkeit erfüllt. Allerdings handelt es sich hier nicht um ein Bündel von unabhängigen bilateralen Rechtsbeziehungen, die aus praktischen, nicht aus zwingenden Gründen in einem multilateralen Instrument zusammengefaßt werden. Ein Vertrag dieses Typs ist notwendig multilateral. Die Bedingung der gleichzeitigen Erfüllung durch alle Vertragsparteien schafft eine interdependente Struktur. Diese kann auch als integrale Struktur beschrieben werden. Der dritte und letzte Vertragstyp beschreibt Verträge, bei denen es, im Gegensatz zu den oben beschriebenen beiden Typen, im Rahmen der Erfüllung überhaupt nicht auf die Interaktion der Vertragsparteien ankommt. Jede Partei eines solchen Vertrages erfüllt ihre Pflichten unabhängig vom Verhalten der anderen Parteien. Die Erfüllung oder Nichterfüllung seitens einer anderen Partei oder mehrerer anderer Parteien hat keinen Einfluß auf das Verhalten der einen Partei, sei dies juristisch oder tatsächlich. Fitzmaurice schreibt dazu wörtlich: "[ ... ] [The] character of the treaty is such that, neither juridically, nor from the practical point of view, is the obligation of any party dependent on a corresponding perforrnance by the others. The obligation has an absolute rather than reciprocal character [ .. . ]. Such obligations may be called self-existent, as opposed to corresponding, reciprocal or interdependent obligations [ ... ]." 131

Solche Verträge weisen typischerweise Pflichten auf, die nicht das Ergebnis eines zwischenstaatlichen "quid-pro-quo" sind, sondern die die Staaten im Interesse der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels eingehen, ohne daß sich für die Staaten ein direkter Vorteil daraus ergibt, daß die anderen Vertragsparteien zum Austausch für die Übernahme der Vertragspflichten ihnen gegenüber Leistungen erbringen oder Vorteile einräumen. Herausragende Beispiele für Verträge dieses Types sind Abkommen, in denen sich die Staaten verpflichten, das Individuum unabhängig von seiner Nationalität zu schützen und ihm bestimmte Rechte in ihren Jurisdiktionsbereichen zukommen zu lassen: Die Staaten verpflichten sich hierzu gerneinsam in einem multilateralen Vertrag. Ob ein oder mehrere Staaten diese Pflichten nicht erfüllen, hat für die Erfüllung aller anderen Parteien keine Bedeutung. Die Nichterfüllung hindert sie nicht am eigenen vertragskonformen Verhalten oder macht ein solches Verhalten schwieriger. Darüber hinaus ist die Übernahme der Pflicht nicht mit dem Genuß von Leistungen oder Vorteilen verbunden, die die anderen Vertragsparteien im 131

Fitvnaurice, Second Report, 54.

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskomrnission der Vereinten Nationen

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Austausch anbieten. Alle Parteien trifft die Pflicht, sich im eigenen Jurisdiktionsbereich dem Vertrag entsprechend zu verhalten. Dadurch wird den anderen Parteien gegenüber keine Leistung erbracht oder ein Vorteil eingeräumt. Die Verträge dieses Typs zeichnen sich folglich dadurch aus, daß die Erfüllung ihrer Pflichten gar nicht im Rahmen einer Interaktion zwischen zwei, mehreren oder allen Vertragsparteien besteht. Die Erfüllung ist somit nicht abhängig vom Verhalten der anderen Parteien. Diese Verträge lassen sich mithin nicht auf der Basis von Gegenseitigkeit deuten. In seinem zweiten Bericht stellte Fitzmaurice also ein Raster vor, daß alle multilateralen Verträge hinsichtlich ihrer Rechtsnatur erfassen soll. Er geht dabei von der Struktur der durch den Vertrag begründeten Pflichten aus, die sich aus der dem Vertrag zugrundeliegenden Interessenlage der Staaten ergibt. Soweit erinnert diese Kategorisierung an die Triepelsche, die von dem Willen der Staaten ausging. Im Unterschied zu Triepel jedoch nimmt Fitzmaurice nicht lediglich eine Differenzierung danach vor, ob die Staaten korrespondierende aber verschiedene oder einen gemeinsamen Willen gebildet haben. Die erste von Fitzmaurice angenommene Kategorie von multilateralen Verträgen entspricht dabei noch im wesentlichen den von Triepel so bezeichneten .,Verträgen" 132 : die Pflichten aus Verträgen dieses Typs sind das Ergebnis einer Übereinkunft auf der Basis der Gegenseitigkeit, indem sich die Parteien Vorteile versprechen, für derenGenuß sie Pflichten einzugehen bereit sind. Dieser Austausch findet auf zweiseitiger Basis statt. Die Zusammenfassung von beliebig vielen zweipoligen Beziehungen in einem einheitlichen Vertragsinstrument ändert dabei nichts an der Bilateralität der Rechtsbeziehungen. Für Triepel waren .,Verträge" nach seiner Terminologie notwendig zweiseitig, mehr als zwei Parteien konnten grundsätzlich nicht an einem solchen Rechtsgeschäft teilnehmen. Da es sich aber bei dieser Kategorie von Verträgen lediglich um Bündel von bilateralen Abkommen handelt, steht Triepels Theorie insoweit nicht in Widerspruch zu den Ergebnissen von Fitzmaurice. Schwieriger verhält es sich jedoch mit den von Fitzmaurice als zweiter und dritter Kategorie von multilateralen Verträgen entwickelten Typen und der Triepelschen Lehre von den rechtsetzenden Verträgen. Während sich der dritte Typus ohne größere Schwierigkeiten auch unter den Begriff der rechtsetzenden Verträge subsumieren ließe, so erweist sich das in bezugauf den zweiten Typ, der als interdependent oder integral bezeichnet werden kann, als nicht möglich. Auf den ersten Blick mag zwar die Triepelsche Systematik auch hier passen, da, im Gegensatz zu dem ersten Typ, hier die Parteien ein gemeinsames Ziel verfolgen. Andererseits entsprechen die Verpflichtungen, die sich aus einem solchen Vertrag 132

Im Gegensatz zu ,.Vereinbarungen", siehe oben§ 5.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

ergeben, nicht der Theorie Triepels. Ging er nämlich von einer gleichen Willensrichtung der Parteien und demzufolge gleichlautenden Verpflichtungen aus, so zeichnet sich die Vertragskategorie Fitzmaurices' dadurch aus, daß die Pflichten aus solchen Verträgen in einem korrespondierenden Verhältnis zueinander stehen, allerdings nicht auf der Basis der Zweiseitig-, sondern der Mehrseitigkeit. Die Pflichten können dabei auch verschiedenen Inhalts sein, so wie sie es im zweiseitigen Austauschverhältnis regelmäßig sind. Die Lehre Triepels erweist sich folglich nicht nur als fehlerhaft in bezug auf die Rechtsquellenqualität Dies wurde oben schon erörtert, wobei allerdings Triepel zugute gehalten wurde, daß eine Kategorisierung von völkerrechtlichen Abkommen ausgehend von den Interessen der Parteien durchaus berechtigt ist. Nunmehr stellt sich heraus, daß der Versuch einer solchen Erfassung nicht befriedigen kann, da er nicht alle denkbaren Konstellationen von vertraglichen Bindungen in mehrseitigen Abkommen zu erfassen vermag. Rein von den Interessen der Staaten oder ihren Willen auszugehen, ist folglich nicht hinreichend, um das Wesen multilateraler Verträge zu deuten. Fitzmaurice bezieht demzufolge auch die Struktur der Verpflichtungen mit ein, um zu einer differenzierteren Klassifizierung zu gelangen. Die drei von ihm entwickelten Typen sind der Triepelschen Lehre zwar in einigen Bereichen ähnlich, gehenjedoch in einiger Beziehung über sie hinaus. Da Fitzmaurice die Gegenseitigkeit oder Unabhängigkeit der aus dem Vertrag erwachsenden Pflichten als Anknüpfungspunkt nimmt, schließt seine Betrachtungsweise die Interessenlage der Vertragsparteien mit ein, bleibt aber nicht an diesem Punkt stehen, sondern konzentriert sich auf die Erfüllungsstruktur des Vertrages selbst als entscheidendes Merkmal.

b) Die Verdrängung älterer Verträge durch später abgeschlossene Abkommen In seinem dritten Bericht für die ILC 133 bestätigt Fitzrnaurice seine im zweiten Bericht vorgestellte Kategorisierung und zeigt auf, welche Konsequenzen sich daraus für die Anwendung des Rechtsgrundsatzes "Iex posterior derogat legi priori" ergeben.

133 Third Report on the Law ofTreaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1959, Vol. li, 20 ff.

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Die Grundregellautet dabei gern. Art. 18 134, daß ein neuererVertrageinen alten 134 Fitvnaurice, Third Report, 27. Der Wortlaut des Artikels: "Article 18. Legality of the object (conflict with previous treaties- normal cases) I. Where a treaty is in conflict with a previous treaty embodying or generally regarded as containing accepted rules of intemationallaw in the nature ofJus cogens, the invalidity of the treaty will ensue on that ground in accordance with the provisions of article 17 above. 2. Subject to the generality of paragraph I above, the present article applies primarily to bilateral treaties, and to those pluri- or multilateral treaties which are of the reciprocating type, providing for a mutual interchange of benefits between the parties, with rights and Obligations for each involving specific treatment at the hands of and towards each of the others individually. The special case of other kinds of pluri- or multialteral treaties forms the subject of article 19 below. 3. The question of incompatibility or conflict between treaties of the kind specified in paragraph 2 above may arise in any of the following Situations: (a) In the case both of bilateral and of pluri- or multilateral treaties: (i) The two treaties have no common parties: no party to the one is party to the other. (ii) The two treaties have common and identical parties: all the parties to the one are also parties to the other. (iii) The two treaties have partly common and partly divergent parties: some parties are parties to both, some to the earlier only, and some to the later only. In the case of two bilateral treaties this takes the formthat there is one party common to both treaties, and that there are two other parties, one of whom is a party to the earlier treaty only, and the other party to the later only. (b) In the case of multilateral treaties only, or where at least one treaty is a multilateral treaty: (iv) Partially common parties, both or all or the parties to the earlier treaty being also parties (but not the only parties) to the later treaty (case of a later treaty to which both or all of the parties to the earlier agree). (v) Partially common parties, but where some only ofthe parties to the earlier one are parties to the later, which has no other parties (case of a later treaty to which some only of the parties to the earlier agree, i.e. case of aseparate and subsequent treaty on the same subject concluded between less than the full number of the parties to the earlier). Subject to the provisions of paragraph I above, inconsistencies or conflicts arising in these cases are resolved in accordance with the provisions of paragraphs 4 to 8 hereunder. 4. Case (i) in paragraph 3. The validity of a treaty cannot be affected merely by the existence of a previous treaty to which neither or none of the parties to the later treaty are also parties. 5. Case (ii) in paragraph 3. In so far as there is any conflict, the later treaty prevails, and either in effect modifies or amends the earlier, or abrogatees some of its provisions, or supersedes it entirely and, in substance, terminales it.

6. Case (iii) in paragraph 3. In sofaras there is any conflict, the earlier treaty prevails in the relations between the party or the parties to the later treaty who also participated in the earlier one, and the remaining party or parties to that earlier one: but the later treaty is not rendered invalid in se, and if, on account of the conflict, it cannot be or is not carried out by the party or parties also participating in the earlier treaty, there will arise a liability to pay

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l. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

verdrängt, jedenfalls insoweit es sich um dieselben Parteien handelt. Dabei ist zu beachten, daß dies gern. Art. 18 Abs. 1 nicht für Verträge gilt, die Regeln des ius cogens enthalten. Nur im Bereich des "ius dispositivum" nämlich sind die Parteien frei, durch neue Regeln die alten zu verdrängen. Ausnahmen gibt es dabei in bezugauf neue Verträge, die nicht exakt dieselben Parteien haben wie der alte. Hier kann der alte Vertrag weitergelten zwischen den Parteien des neuen, die auch dem alten Vertrag angehören und Staaten, die nur Parteien des alten Vertrages sind. Die in Art. 18 aufgestellte Grundregel des "Iex posterior derogat Jegi priori" findetjedoch laut Art. 19 135 keine Anwendung auf Verträge, deren Verpflichtungen "self-existent" sind, also nicht auf der Basis der Gegenseitigkeit erfüllt werden. Nach diesem Artikelentwurf soll ein neuer Vertrag, der von den Regeln eines alten abweicht, unwirksam sein, sofern er von den Regeln des alten abweicht und der alte Vertrag dem dritten Typus angehört, der aus nicht-gegenseitigen Verpflichtungen konstituiert wird. Interessanterweise entspricht dieser Artikel dem Inhalt der besprochenen abweichenden Voten der Richter van Eysinga und Schükdamages or make other suitable reparation to the other party or parties to the later treaty not participating in the earlier, provided the other party concemed was not aware of the earlier treaty and of the conflict involved. 7. Case (iv) ofparagraph 3. The effect is fundamentally the same as in case (ii). In so far as there is any conflict, the later treaty prevails for or in the relations between the parties to it who are also parties to the earlier, and may to that extent in whole or in part modify, abrogate, supersede, or terminale the earlier. 8. Case (v) ofparagraph 3. The effect is fundamentally the same as in case (iii). In so far as there is any conflict, the earlier treaty prevails in the relations between the parties to the later treaty and the remaining party or parties to the earlier one. However, where the earlier treaty prohibits, as between any of the parties to it, the conclusion of an inconsistent treaty, or if the later treaty necessarily involves for the parties to it action in direct breach of their obligations under the earlier one, then the later treaty will be invalidated and deemed null and void." 135 Fitzmaurice, Third Report, 27. Der Wortlaut des Artikel 19: "Article 19: Legality of the object (conflict with previous treaties- special case of certain multilateral treaties) In the case of multilateral treaties the rights and obligations of which arenot of the mutually reciprocating type, where a fundamental breach of one ofthe obligations ofthe treaty by one partywill justify the corresponding non-perforrnance generally by the other parties and not merely a non-performace in their relations with the defaulting party; or (b) of the integral type, where the force of the obligation is self-existent, absolute and inherent for each party and not dependent on a corresponding perforrnance by the others - any subsequent treaty concluded by any two or more of the parties, either alone or in conjunction with third countries, which conflicts directly in a material pariticular with the earlier treaty will, to the extent of the conflict, be null and void."

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king im Oscar-Chinn-Fall. Die Richter sahen es als nicht möglich an, auch nur "inter partes" die Berliner Schlußakte von 1885 durch einen neuen Vertrag zu verdrängen. Die Richter argumentierten, daß die Berliner Akte für das Kongobekken ein verfassungsrechtliches Regime darstelle, von dem nicht abgewichen werden dürfe. 136 Ähnlich wie die beiden Richter begründet Fitzmaurice die in Art. 19 gemachte Ausnahme aufgrunddes Vertragstyps. 137 Die Verpflichtungen aus Verträgen, die in Art. 19 gemeint sind, existieren unabhängig von einer eventuellen Gegenleistung. Sie werden nicht im Verhältnis der Parteien zueinander erfüllt. Im Gegensatz dazu besteht die Erfüllung der Pflichten der beiden anderen Vertragstypen immer aus einer Interaktion der Staaten, d. h. der Schuldnerstaat erfüllt seine Pflicht gegenüber dem Gläubigerstaat bzw. den Gläubigerstaaten. Eine Nichterfüllung der Pflicht betrifft demzufolge auch lediglich den Gläubigerstaat bzw. die Gläubigerstaaten. Im Falle der Verträge im Anwendungsbereich des Art. 19 findet dagegen keine Erfüllung gegenüber einem oder bestimmten Schuldnerstaaten statt. Wenn ein Staat mit Staaten, die nicht mit ihm gemeinsam Parteien eines früheren Vertrages waren, einen neuen Vertrag schließt, dessen Regeln von denen des alten abweichen, oder wenn er einen solchen Vertrag mit Parteien des alten schließt, aber nicht mit allen Parteien, so betrifft das im Falle eines Vertrages, der zwischen den Parteien erfüllt wird, nur die Staaten, denen gegenüber erfüllt wird. 138 Wenn die Verpflichtungen eines Vertrages aber nicht zwischen den Staaten erfüllt werden, so ist die Erfüllungsrichtung auch nicht auf einen Staat oder bestimmte Staaten beschränkbar.

c) Die Aussetzung der Vertragserfüllung als Repressalie In seinem vierten Bericht139 beschäftigt sich Fitzmaurice unter anderem mit Regeln, die es einem Staat erlauben, die Erfüllung eines Vertrages auszusetzen, 136 Oscar Chinn Case (United Kingdom v. Belgium), PCIJ, Ser. A/B, No. 63 (1934), dissenting opinion J. van Eysinga, 133 f. 137 Fitzmaurice, Third Report, 44. 138 Mit der Einschränkung allerdings, daß im Falle eines Vertrages des interdependenten Typs diese Aussage nur stimmt, insoweit sie auf die Konstellation angewandt wird, in der eine Partei eines Vertrages mit Nicht-Vertragsparteien eine abweichende Vereinbarung trifft. 139 Fourth Report on the Law ofTreaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1959, Vol. II, 37 ff.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

um auf einen vorhergegangenen Rechtsbruch eines anderen Vertragsstaates zu reagieren. Dabei entwirft er zwei unterschiedliche Regeln. Zunächst soll es das Recht einer Vetragspartei sein, im Falle einer Nichterfüllung einer Verpflichtung ihr gegenüber, die Erfüllung derselben Verpflichtung gegenüber der nicht erfüllenden Partei ihrerseits zu verweigern. Das gilt gern. Art. 20 allerdings nur für die Nichterfüllung von Verpflichtungen, die reziproken Charakter haben. 140 Die Situation hier ist ähnlich wie bei der, die einem Kündigungs- oder Suspendierungsrecht nach den oben besprochenen Regeln vorausgeht: Eine Vertragspartei hat ihre Pflichten nicht erfüllt; die andere Partei bzw. die anderen Parteien sollen danach grundsätzlich nicht mehr verpflichtet sein, sich ihrerseits gegenüber dem Rechtsbrecher noch vertragsgemäß zu verhalten. Der Unterschied zwischen der oben besprochenen und dieser Regel, die eine Repressalie erlaubt, besteht darin, daß oben die Vertragsbindung bzw. die Erfüllungspflicht deswegen entfällt, weil sonst eine Zumutbarkeitsgrenze überschritten würde, während die Repressalie zum einen eine Genugtuungsfunktion erfüllt, zum andern aber nicht zuletzt auf den Rechtsbrecher Druck ausüben soll, sein Verhalten zu ändern. Die Grenzen beider Rechte sind aber letztlich identisch. So entspricht die Regelung, die Fitzmaurice in seinem Art. 18 141 vorschlägt, im wesentlichen denen, Art. 20 Abs. 1, Fitzmaurice, Fourth Report, 46. Der Wortlaut der Bestimmung: "Article 20. Conditions implied in the case of all treaties of reciprocity or continued performance by the other party or parties 1. By virtue of the principle of reciprocity, and except in the case of the class of treaties mentioned in paragraph 3 (e) of article 18, non performance of a treaty obligation by one party to the treaty will, so long as such non-perforrnance continues, justify an equivalent and corresponding non-perforrnance by the other party or parties. 2. In the case of multilateral treaties, however, such non-perforrnance will only be justified in relation to the particular party failing to observe the treaty. [ ... ]." 141 Der Wortlaut des Artikels lautet: "Article 18. Non-performance by way of legitimate reprisals I. In those cases where a reciprocal, equivalent and corresponding non-observance of a treaty obligation following on a previous non-observance by another party to the treaty, as provided in article 20 below, would not afford an adequate remedy, or would be impracticable, the non-observance of a different obligation under the same treaty or, according to circumstances, of a different treaty may, subject to provisions of paragraphs 3 and 4 below, be justified on a basis of Iegitimale reprisals. 2. The principle of reprisals may also be invoked, subject to the provisions of paragraphs 3 and 4 be1ow, in order to justify the non-observance of a treaty obligation because of the breach by another party to the treaty of a general rule of intemationallaw. 140

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die er bezüglich des oben besprochenen Kündigungs- und Suspendierungsrechts vorgeschlagen hatte. Danach ist eine Repressalie dann ausgeschlossen, wenn es sich bei der Norm, deren Befolgung ein Staat auf diesem Wege aussetzen will, um eine Verpflichtung aus einem Vertrag handelt, der dem integralen Typ angehört oder dessen Verpflichtungen in gar keinem Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander stehen. In seiner Rolle als Sonderberichterstatter der Völkerrechtskommission für das Recht der Verträge erarbeitete Fitzmaurice also ein Raster, nach dem sich multilaterale Verträge hinsichtlich ihrer Rechtsnatur einteilen lassen. Er nimmt dabei eine Differenzierung ausgehend von der Reziprozität der durch denjeweiligen Vertrag begründeten Verpflichtung vor. Das Ergebnis ist die oben besprochene Aufteilung in drei Kategorien. Damit greift er zum Teil auf die Klassifizierung zurück, die von Triepel ausgeht 142 . Er geht allerdings entscheidend über diese Theorie hinaus. Fitzmaurice schied später aus der Völkerrechtskommission aus, um Richter am IGH zu werden. Er konnte folglich diesen Komplex nicht weiter verfolgen.

3. Die Waldock-Reports

Nach seinem Ausscheiden aus der Völkerrechtskommission wurde Fitzrnaurice von Sir Humphrey Waldock ersetzt, der ihm auch in seiner Rolle als Sonderberichterstatter für das Recht der Verträge nachfolgte. Er übernahm nicht die Arbeitsergebnisse Fitzmaurices, sondern erarbeitete für die Kommission einen neuen Kodifikationsentwurf In vielerlei Hinsicht griff er jedoch auf die Berichte seines Vorgängers zurück.

3. Whatever the circumstances, action by way of reprisals may only be resorted to: [ ...) (e) Provided that the treaty concemed is not a multilateral treaty of the ,integral' type as defined in article 19, head (b) of part II, and article 19, paragraph I (iv) of part III, of chapter 1 of the present Code, where the force ofthe obligation is self-existent, absolute and inherent for each party, irrespective and independently of performance by the others; [ ... )" Fitzmaurice, Fourth Report, 45 f. 142 Bisweilen sogar explizit: vgl. Art. 19, I, iv seines Artikels zur Kündigung oder Suspendierung infolge eines fundamentalen Vertragsverstoßes einer anderen Partei, Fitzmaurice, Second Report, 31.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Gleich in seinem ersten Bericht 143 stellte er neue Artikelentwürfe für Definitionen vor. In Art. 1 (d) 144 unterscheidet er zwischen bilateralen sowie pluri- und multilateralen Verträgen. Plurilaterale Verträge sind danach solche, die mehrseitig sind, aber nur von einer begrenzten Anzahl von Staaten abgeschlossen werden können und auch vom Regelungsgegenstand nur für diesen Kreis von Staaten von Interesse sind. Dagegen kodifizieren multilaterale Verträge, die von der Anzahl der Parteien her nicht begrenzt sind, allgemeine Regeln oder betreffen Aspekte, die sowohl für die Parteien als auch für Nichtvertragsstaaten von Interesse sind. In seinem Kommentar weist er darauf hin, daß diese Unterscheidung nicht lediglich akademisch ist, sondern von praktischem Interesse sein kann. Insbesondere erfährt eine solche Klassifizierung der Verträge ihre Bedeutung bei der Anwendung der Regeln über die Zulässigkeit von Vorbehalten.

a) Die Zulässigkeit von Vorbehalten zu Verträgen Mit diesbezüglichen Regeln setzt er sich in demselben Bericht auseinander. In seinen Artikeln 17-19 145 entwirft er ein differenziertes Regelwerk für Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen. Generell sollen danach Vorbehalte nur zulässig und wirksam sein, wenn keiner der anderen Vetragsstaaten gegen einen Vorbehalt eines Staates Einspruch erhebt, wie aus Art. 19 Abs. 4 hervorgeht. Dagegen ist für multilaterale Verträge im Sinne des Art. 1 Abs. 4 c) eine andere Regelung vorgesehen. Hier hat ein Einspruch eines Staates gegen einen Vorbehalt lediglich zur Folge, daß der Vertrag zwischen dem Staat, der den Vorbehalt erklärt und dem, der den Einspruch erhebt, nicht in Kraft tritt. Auffallend ist der Unterschied des Artikelentwurfs von Waldock zur vom IGH vorgeschlagenen Lösung im Falle der Vorbehalte gegen die Völkermordkonvention.146 Der Gerichtshof formulierte eine Regel, die die Zulässigkeit von Vorbehalten von ihrer Vereinbarkeit mit Sinn und Zweck des Vertrages abhängig machte. Damit löste er das Regime für Vorbehalte heraus aus einem Kontext, der auf Reziprozität der in einem Vertrag kodifizierten Rechte und Pflichten basierte. Ein Vorbehalt galt demzufolge entweder gegenüber allen Parteien, oder er war, wenn nicht mit Sinn und Zweck des Vertrages vereinbar, absolut ungültig. Da143 First Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1962, Vol. II, 27 ff. 144 Waldock, First Report, 31. 145 Waldock, First Report, 60 ff. 146 Siehe oben Fn. 88.

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gegen setzt die Lösung, die von Waldock vertreten wird, voraus, daß sich ein multilateraler Vertrag immer in zweiseitige Rechts- und Pflichtbeziehungen aufspalten läßt, da die Rechtswirkung von Vorbehalten hier relativ zu den verschiedenen Rechtsbeziehungen der Parteien auf der Basis der Zweiseitigkeil beurteilt wird. In einem Vertrag, dem die Staaten A, B, C und D angehören, kann folglich ein einen Vorbehalt erklärender Staat A gegenüber den nicht protestierenden Staaten B und C als Partei gelten, nicht hingegen gegenüber einer Einspruch erhebenden Partei D. Damit entspräche letztlich jeder multilaterale Vertrag dem ersten von Fitzmaurice postulierten Typ, der einen multilateralen Vertrag als Bündel bilateraler Abkommen begreift. In seiner Begründung geht Waldock indes gar nicht auf diese Problematik ein. Er rechtfertigt die Regel für Vorbehalte zu multilateralen Verträgen mit der Flexibilität, die sie auszeichne. 147 Vornehmliebes Ziel von multilateralen Verträgen sei eine möglichst weitgehende Verbreitung, möglichst deren Universalität. Diese könne aber nicht oder nur schwer erreicht werden, wenn man auf eine Regel abstelle, die Vorbehalte so sehr einschränke, daß Staaten, die zwar generell gewillt seien, einer Konvention beizutreten, diese aber nicht in allen Einzelheiten ausführen können oder wollen, ausgeschlossen werden. Im Sinne einer möglichst weiten Verbreitung sei es demgegenüber wünschenswert, ein möglichst liberales Regelwerk diesbezüglich zu haben. Dann könnten auch Staaten, die nicht bereit seien, einen Vertrag zur Gänze zu akzeptieren, wohl aber generell mit dem Inhalt der Konvention einverstanden seien, Vertragsparteien werden. Der Nutzen, der dadurch erreicht werde, sei wesentlich größer als der in Kauf zu nehmende Nachteil, daß ein Vertrag dann nicht unbedingt zwischen allen Parteien gleichermaßen Anwendung fände. Wie sich aus der Begründung ersehen läßt, folgt der Kodifizierungsvorschlag für Regeln bezüglich der Zulässigkeil von Vorbehalten nicht aus einer zwingenden Notwendigkeit, die sich aus der speziellen Rechtsnatur eines Vertrages ergibt. Nicht der Charakter eines Vertrages determiniert hier die Regel, die auf ihn Anwendung findet, sondern ein ganz anderes, pragmatisches Kalkül. Das Ziel der größtmöglichen Verbreitung einer Konvention war der Grund, ein flexibles Regelwerk für Vorbehalte zu entwerfen.

147

Waldock, First Report, 62 f.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

b) Die Beendigung der Vertragsbindung nach einem Bruch des Vertrages durch eine andere Partei In seinem zweiten Bericht 148 beschäftigt sich Waldock mit dem Entwurf von Regeln über die einseitige Beendigung der Vertragsbindung. Auf die von Fitzmaurice hierzu gemachten Vorschläge greift er nicht zurück, sondern stellt eigene Artikelentwürfe zur Debatte, die sich von denen seines Vorgängers stark unterscheiden. Die Absätze 4 und 5 seines Art. 20 149 sind spezielle Regelungen für multilaterale Verträge, die Ausnahmen darstellen zu der Grundregel, daß ein Staat als Vertragspartei einen Vertrag kündigen kann, wenn eine andere Partei sich eines schweren Vertragsbruches schuldig macht. Generell sind multilaterale Verträge auch von dieser Regel erfaßt, mit dem Unterschied, daß im Falle eines mehrseitigen Vertrages eine Partei nicht gegenüber allen anderen Parteien kündigen kann, sondern nur gegenüber dem Verletzerstaat die Vertragsbindung beendigen darf. Die Ausnahmen betreffen solche mehrseitigen Verträge, die entweder das Gründungsdokument einer zwischenstaatlichen Organisation sind, oder unter der Schirmherrschaft einer solchen Organisation zustande gekommen sind. Eine solche völkerrechtliche Übereinkunft stellt der Internationale Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte dar, 150 dessen Wortlaut von der Generalversammlung der UN beraten und schließlich als Resolution beschlossen wurde. 151 Im Falle solcher Verträge kann ein Staat nicht einseitig die Vertragsbindung gegenüber einem Verletzerstaat aufbeben oder aussetzen. Diese Entscheidung obliegt dem zuständigen Organ der Organisation, deren Gründungsvertrag verletzt wurde bzw. der Schirmherrin des Vertrages, der verletzt wurde. Auch hier folgt das Kriterium der Differenzierung nicht aus dem Charakter der vertraglichen Verpflichtungen. Wie schon im Falle der Zulässigkeit von Vorbehalten, stellt Waldock auf andere Merkmale ab. Hier ist es der Vertragsinhalt bzw. die Art und Weise seines Zustandekommens. Auch hier ist die Begründung pragmatisch: Im Falle der Existenz von zentralen Organen, die die Vertragserfüllung überwachen, verliert das einseitige Kündigungsrecht aufgrund eines Ver148 Second Report on the Law of Treaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1963, Vol. li, 36 ff. 149 Waldock, Second Report, 72 f. 150 International Covenant on Civil and Political Rights, abgedruckt in: Yearbook ofthe United Nations 1966, 419 ff.; BGBI. 1973 II, 1543 (im folgenden IPBürg). 151 Generalversammlungsresolution 2200 (XXI).

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tragsbruches einer anderen Partei an Bedeutung als Genugtuungs- und Rechtsdurchsetzungsmittel. Wo allerdings ein solches Organ nicht mit der Kontrolle beauftragt ist, bedarf es dieser dezentralisierten Mechanismen nach wie vor, da sonst die unschuldigen Staaten dem Verletzerstaal ohne Reaktionsmöglichkeit gegenüberstehen. Damit wird die Effektivität des Völkerrechts nicht verstärkt, sondern im Gegenteil, geschwächt. Damit verbunden ist auch eine Kritik Waldocks an der von Fitzmaurice vorgenommenen Kategorisierung multilateraler Verträge. Insbesondere deren praktische Bedeutung lasse sich kaum nachweisen. Waldock schreibt dazu in seinem Kommentar: "However true it may be that law-making treaties, treaties creating legal regimes for particular areas and certain other types of treaties may establish obligations of an objective character, there remains a contractual element in the legal relation created by the treaty between any two parties." 152

Neben der geringen praktischen Bedeutung könne eine solche Kategorisierung aber auch negative praktische Auswirkung haben. So sei der Vorschlag Fitzmaurices, den Vertragsstaaten im Falle der schweren Verletzung eines Vertrages, dessen Verpflichtungen objektiver Natur sind, eine Rücktritts- oder Suspendierungsmöglichkeit zu versagen, keine befriedigende Lösung, da die Staaten so die Möglichkeit verlören, gegen einen Rechtsbrecher vorzugehen. Der Rechtsbrecher bräuchte sich dann nicht vor Sanktionen zu fürchten .153 Zusammenfassend läßt sich somit sagen, daß Waldock die von Fitzmaurice vorgeschlagene Kategorisierung zwar nicht rundweg ablehnt, sie aber aus praktischen Gründen nicht weiterverfolgt Seine Regeln orientieren sich weniger an dogmatischen Notwendigkeiten als an der größtmöglichen Praktikabilität. Allerdings haben seine Artikelentwürfe bezüglich des Kündigungs- und Suspendierungsrechts infolge eines schweren Vertragsbruches bei genauerer Betrachtung eine Parallele zu den Vorschlägen seines Vorgängers. Waldock macht Ausnahmen von diesem Recht in Fällen von Verträgen, die entweder das Gründungsdokument einer internationalen Organisation sind, oder unter der Ägide einer solchen Organisation zustande gekommen sind. In solchen Fällen bedarf die Suspendierung des Vertrages der Entscheidung eines zuständigen Organs dieser Organisation. Damit ersetzt er die Möglichkeit der einseitigen Rechtsdurchsetzung, die eine Folge der koordinativen, auf Bilateralismus aufbauenden Struktur des Völkerrechts ist, durch eine zentralisierte Rechtsdurchsetzung. Das impliziert, daß die Verträge, die 152 153

Waldock, Second Report, 76 f. Waldock, Second Report, 77.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

unter diese Ausnahme fallen, einen grundsätzlich anderen Rechtscharakter haben müssen, als gewöhnliche völkerrechtliche Verträge, für die die allgemeine Regel gilt. Wenn für diese die klassische bilateralistische Regel des einseitigen Kündigungsrechts gilt, für die anderen Verträge, die unter die Ausnahme fallen, aber nicht, so bedeutet das, daß sie von objektiverer Natur sind und nicht lediglich gegenseitige Rechts- und Pflichtbeziehungen begründen. Der Unterschied zu dem Ansatz von Fitzmaurice besteht jedoch darin, daß Waldock nicht von der Struktur der vertraglichen Normen selbst ausgeht, sondern vom Regelungszweck des Vertrages oder der Art und Weise seines Zustandekommens.

4. Zusammenfassung der Arbeit der Sonderberichterstatter Während der zweite Sonderberichterstatter Sir Hersch Lauterpacht grundsätzlich davon ausging, daß alle völkerrechtlichen Verträge in ihrem Kern Rechtsgeschäfte sind, die auf den Austausch von Leistungen zwischen den Staaten gerichtet sind, so machte er doch eine Ausnahme, indem er zugestand, daß es durchaus eine Klasse von Abkommen gebe, deren Rechtscharakter sich nicht in der bloßen Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten erschöpfe. Die Auswirkungen dieser These konnte Lauterpacht nur am Beispiel der Zulässigkeil von Vorbehalten nachweisen. Seinem Nachfolger, Sir Gerald Fitzmaurice, war es vergönnt, für längere Zeit Sonderberichterstatter der Völkerrechtskommission zu sein. Diese Zeit nutzte er zur grundsätzlichen Kategorisierung von multilateralen Verträgen hinsichtlich ihrer spezifischen Rechtsnaturen. Das Ergebnis war die Einteilung in drei Idealtypen: Der erste repräsentierte die Verträge, die ein bloßes Bündel bilateraler Abkommen darstellten. Die zweite Klasse stand für Verträge, deren Verpflichtungen nicht auf der Basis zweiseitiger Gegenseitigkeit erfüllt wurden, sondern deren Erfüllung abhing vom gleichzeitigen vertragsgemäßen Verhalten aller Parteien. Die dritte und letzte Kategorie zeichnete sich dadurch aus, daß die Verpflichtungen aus Verträgen, die ihr angehörten, nicht im Rahmen einer zwischenstaatlichen Interaktion erfüllt wurden. Vielmehr bestanden die Verpflichtungen materiell völlig unabhängig voneinander. Fitzmaurice entwarf auf der Basis dieser Kategorisierung Regeln für das Kündigungs- und Suspendierungsrecht nach einem schweren Vertragsbruch einer anderen Partei, die Zulässigkeil von Vorbehalten und die Rechtfertigung einer Erfüllungsverweigerung als Repressalie.

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Sein Nachfolger, Sir Humphrey Waldock, stellte jedoch seine Kodifikationsentwürfe nicht auf das theoretische Fundament seiner Vorgänger. Vielmehr basierten seine Ergebnisse auf praktischen Erwägungen. So schlug er vor, Vorbehalte zu multilateralen Konventionen von allgemeinem Interesse zuzulassen, um eine möglichst hohe Zahl an Vertragsparteien zu erreichen. Aber auch er zollte der Idee, daß nicht alle Verträge bloße Austauschverträge sind, Tribut, indem er das Kündigungsrecht infolge einer schweren Vertragsverletzung einer anderen Partei ausschloß, wenn es sich um Verträge handelte, die entweder das Gründungsdokument einer internationalen Organisation waren oder unter ihrer Ägide geschlossen wurden. Die Arbeiten der Völkerrechtskommission, insbesondere die Kodifikationsentwürfe der Sonderberichterstatter, auf dem Gebiet des Rechts der Verträge dienten als Grundlage der Entwürfe für die Wiener Vertragsrechtskonvention. Es wird an anderer Stelle zu prüfen sein, ob und inwieweit die WVRK von einer Kategorisierung multilateraler Verträge ausgeht.

II. Die Arbeit der Völkerrechtskommission auf dem Gebiet des Rechts der Staatenverantwortlichkeit Ein anderes Rechtsgebiet, das die ILC lange Zeit beschäftigte und auch heute noch beschäftigt, ist das der Staatenverantwortlichkeit Obwohl es von der Staatenverantwortlichkeit keine direkten Anknüpfungspunkte an das Problem der Kategorisierung multilateraler Verträge gibt, sind die Arbeiten der Kommission von Interesse, da sich aus ihr zumindest indirekt Rückschlüsse ziehen lassen. Indirekt sind diese Schlüsse vor allem aus zwei Gründen. Zunächst gibt es im Falle der Staatenverantwortlichkeit, die immer dann entsteht, wenn ein Staat seinen völkerrechtlichen Pflichten nicht nachgekommen ist, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Verpflichtungen aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht. Außerdem geht es nie direkt um die Rechtsnatur der verletzten Pflicht. Nur mittelbar, aus den angeordneten Rechtsfolgen und den Gründen für diese Anordnung, läßt sich wie bei einer Matrize ablesen, welchen Charakters die gebrochene Pflicht war. Der Kodifikationsentwurf gliedert sich in drei Teile: Teill beschäftigt sich mit den allgemeinen Vorschriften, die die Grundlage der Staatenverantwortlichkeit bilden. Darin enthalten sind Definitionen des "internationally wrongful act" sowie Regeln über Zurechnung von Verhalten und Regeln, die die Verantwortlichkeit ausschließen. Teil 2 regelt die Folgen eines Falls der Staatenverantwortlichkeit,

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d. h. Fragen, welchem Staat gegenüber eine Völkerrechtsverletzung verübt wurde, welches die Reaktionsmöglichkeiten eines verletzten Staates sind sowie Art und Umfang von zu leistendem Schadensersatz. Teil 3 beschäftigt sich mit Fragen der Umsetzung und Regeln für friedliche Streitbeilegung. 1s4 Interessant sind im Rahmen dieser Arbeit vor allem die Arbeiten an drei Regelungshereichen des Rechts der Staatenverantwortlichkeit Zwei davon befinden sich in Teil 2 des Entwurfes, einer im ersten Teil. Der erste betrifft die Feststellung des verletzten Staates. Einfachstes Modell ist auch hier wieder das der Zweiseitigkeit, d. h. ein Staat verletzt eine Pflicht, die ihm einem anderen Staate gegenüber obliegt. In diesem Fall ist nur ein Staat als verletzt anzusehen. Komplizierter wird das aber in Rechtsbeziehungen multilateraler Art, also insbesondere bei multilateralen Verträgen. Die ILC hat hierzu einen interessanten Lösungsentwurf vorgestellt. Der andere Bereich, der untersucht wird, betrifft das Repressalienrecht. Iss Die Repressalie besteht immer in einem Verhalten, das normalerweise rechtswidrig wäre, als Reaktion auf einen Rechtsbruch aber ausnahmsweise gerechtfertigt ist. 1s6 Die Frage der Begrenzung dieses Rechtsaufgrund der Natur der Norm, die ein Staat suspendieren will, ist hier von Interesse. Der dritte Untersuchungsgegenstand ist die Differenzierung in völkerrechtliche Delikte auf der einen und Verbrechen auf der anderen Seite. Zu prüfen wird sein, was die Unterscheidungsmerkmale für diese verschiedenen Arten von Völkerrechtsbrüchen sind.

1. Die Bestimmung des von einem Völkerrechtsbruch verletzten Staates Da die Staatenverantwortlichkeit zum einen die Frage betrifft, wann ein Völkerrechtsbruch auftritt, zum anderen aber auch die Rechtsfolgen eines so festgestellten Bruchs, ist es eben nicht ausreichend, sich lediglich mit dem Rechtsbrecher zu beschäftigen. Da eben die Verletzung einer Pflicht ihr Spiegelbild in dem verletzten Recht findet, ist die Ermittlung des Staates, dessen Recht durch die Pflichtverletzung gebrochen wurde, von ebenso großer Bedeutung; denn nur der Staat, der durch die Nichterfüllung einer Pflicht verletzt ist, kann auf die Rechtsfolgen des Rechts der Staatenverantwortlichkeit zurückgreifen. Während es allerdings im Falle der Ermittlung des Verletzerstaales in aller Regel keine ProbleSiehe hierzu Simma, AVR 24 ( 1986), 357 ff. In diesem Zusammenhang ist innerhalb der ILC allerdings immer nur von "countermeasures" und nicht von "reprisals" die Rede. 156 Siehe statt vieler: Verdross/Simma, 907 ff. 154

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me geben kann, diesen zu ermitteln, vorausgesetzt es entstehen keine Probleme im Bereich der Zurechnung des Handeins oder Unterlassens, in dem der Völkerrechtsbruch steckt, ist die Feststellung, welcher Staat oder welche Staaten als verletzt anzusehen sind, oft nicht so einfach zu treffen. In bezug auf Verträge geht es dabei um die Verletzung von Vertragspflichten aus bi- und multilateralen Verträgen. Im Falle eines bilateralen Vertrages ist dabei die Ermittlung des verletzten Staates kein Problem: Grundsätzlich kann dies nur die andere Vertragspartei sein. 157 Auf andere Schwierigkeiten stößt man allerdings bei dem Versuch festzustellen, welcher Staat oder welche Staaten durch die Verletzung einer Pflicht aus einem multilateralen Vertrag verletzt sind. Man könnte einfach annehmen, daß alle Parteien des Vertrages als verletzte Staaten anzusehen sind. Fraglich ist aber, ob man damit allen Arten von multilateralen Verträgen gerecht wird. Zurückgehend auf die von Fitzmaurice vorgeschlagenen Kategorien gibt es mehrseitige Verträge, die nicht mehr sind, als ein bloßes Bündel zweiseitiger Abkommen. Wenn die Pflichten aus einem solchen Vertrag demnach immer nur in bezugauf jeweils eine bestimmte Partei erfüllt werden, so erscheint es unangemessen, allen anderen Parteien, die von einer Nichterfüllung nicht betroffen werden, oder durch sie keinen Schaden erleiden, grundsätzlich die Möglichkeit zu geben, auf die Rechtsverletzung zu reagieren. Auf der anderen Seite wäre es auch denkbar, im Falle der Verletzung eines Vertrages, dessen Pflichten nicht im Verhältnis der Parteien zueinander erfüllt werden, keinen Staat als verletzt anzusehen, da keinem Staat gegenüber eine Erfüllungshandlung vorgenommen wird. Die von der Kommission vorgeschlagene Lösung basiert auf der Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von völkerrechtlichen Pflichten. Weder wurde im Falle der Verletzung eines multilateralen Vertrages grundsätzlich die Lösung der Aufspaltung in zweiseitige Rechtsbeziehungen verfolgt, noch wurde angenommen, daß kein Staat, der Partei eines Vertrages ist, als verletzt gelten kann, wenn er nicht unmittelbar durch die Verletzung betroffen ist. Auf ihrer 37. Sitzung verabschiedete die Kommission nach erster Lesung Art. 5 des zweiten Teils. 158 Mittlerweile ist dieser Art. 5 in unveränderter Form als 157 Eine - hier nicht weiter interessierende - Ausnahme könnte entstehen, wenn durch die Verletzung eines bilateralen Vertrages gleichzeitig Gewohnheitsrecht gebrochen wird. Fraglich ist allerdings dann, ob es sich wirklich um die Verletzung derselben Pflicht handelt. Siehe dazu IGH, Case Conceming Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Merits) (Nicaragua v. United States), ICJ-Reports 1986, 3 (I 0 I ff.). 158 Report ofthe International Law Commission on the work ofits thirty seventh session, YBILC 1985, Vol. II, part 1, 1 (24). Der Wortlaut des Abs. 2:

5 Feist

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Art. 40 in den redigierten Entwurf aufgenommen worden. 159 In diesem Artikelentwurf wird der verletzte Staat in bezugauf jede in Frage kommende Konstellation definiert. Dabei macht der Artikel keine Unterschiede zwischen Normen des Vertrags- und des Gewohnheitsrechts. Im folgenden wird aber, der Einfachheit halber, auf die Erwähnung von Gewohnheitsrechtsregimen verzichtet und nur auf Verträge Bezug genommen. Absatz I beschäftigt sich mit dem Fall der Verletzung eines bilateralen Vertrages. Hier kann nur der andere Vertragsstaat als verletzt gelten. Die Absätze 2 und 3 des Artikelentwurfs sehen dann differenzierte Regeln für verschiedene Arten multilateraler Verträge vor. Ausgegangen wird von der Struktur der Verträge. Gemäß Abs. 2, e, i, ist ein Staat als verletzt anzusehen, wenn die verletzte Pflicht gerade zu seinem Nutzen bestand. Im Gegensatz dazu sind in den anderen Fällen alle Staaten, die Partei eines multilateralen Vertrages sind, verletzt durch den Rechtsbruch eines Vertragsstaates. Das ist zunächst dann der Fall, wenn die Verletzung des Vertrages notwendig den Genuß der Rechte aller anderen Vertragsparteien oder die ihrerseitige Vertragserfüllung beeinträchtigt (Abs. 2, e, ii). Ebenfalls alle Parteien außer dem Verletzerstaat sind gern. Abs. 2, f) verletzt, wenn es sich um einen Vertrag zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten unabhängig von der Nationalität handelt. Gleiches gilt, laut Abs. 3 im Falle eines Vertrages, der ausdrücklich zum Schutze der gemeinsamen Interessen der Staaten abgeschlossen wurde. "In particular ,injured state' means: (a) if the right infringed by the act of state arises from a bilateral treaty, the other state party to the treaty; [ .. .] (e) ifthe right infringed by the act of state arises from a multilateral treaty or from a rule of customary internationallaw, any other state party to the multilateral treaty or bound by the relevant rule of customary law, if it is established that: (i) the right has been created or is established in its favour, (ii) the infringment of the right by the act of state necessarily affects the enjoyment of the rights or the perforrnance of the obligations of all the other states parties to the multilateral treaty or bound by the rule of customary law, or (iii) the right has been created or established for the protection of human rights and fundamental freedoms; (f) if the right infringed by the act of state arises from a multilateral treaty, any other state party to the multilateral treaty, if it is established that the right has been expressly stipulated for the protection of the collective interests of the states parties thereto." 159 Report of the International Law Commission on the work of its forty-eighth session, UN Doc. GAOR, 51st sess., Suppt. No. 10, N51110, 140.

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen

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Seinen Ursprung hat dieser Entwurf in den Arbeiten des damaligen Sonderberichterstatters Willern Riphagen. Insbesondere in seinem vierten Sonderbericht zum Recht der Staatenverantwortlichkeit160 geht er auf die verschiedenen Arten von multilateralen Verträgen und Gewohnheitsrechtsregimen ein und auf ihre Wirkung auf die Regeln zur Feststellung, welche Staaten nach einem Normbruch als verletzt anzusehen sind. In seinem Kommentar beschreibt er die verschiedenen Ausprägungen mehrseitiger Rechtsbeziehungen. 161 Allerdings beschreibt er sie in einer Terminologie, die so von der ILC nicht übernommen wurde. Verträge können seiner Auffassung nach mehr sein als der bloße Austausch von Rechten und Pflichten auf der Basis der ZweiseitigkeiL In einem solchen Falle spricht er von "objective regimes". 162 Grundsätzlich seien solche Regime die Ausnahme. Auszugehen sei vielmehr von der Bilateralität aller zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen als NormalfalL Wörtlich heißt es dazu: "Neither the rules of general customary law nor the provisions of multilateral treaties necessarily create objective regimes; on the contrary, in most cases they create bilateral relationships (corresponding obligations and rights) between ,pairs ' of states, the relationship of which cannot be interconnected." 163

Nach seiner Einteilung treten die "objective regimes" in zwei Ausprägungen auf: Die erste Art eines solchen Regimes ist von interdependenter Natur. Ein Bruch eines solchen Vertrages berührt notwendig die Rechtsbeziehungen zwischen allen Parteien und nicht lediglich zwischen dem Vertragsbrecher und einem einzelnen anderen Vertragsstaat bzw. anderen Vertragsstaaten. Vielmehr ist die Erfüllung der vertraglichen Pflichten und der Genuß der vertraglichen Rechte von der gleichzeitigen Erfüllung durch alle Vertragsparteien abhängig. 164 Die zweite Art eines "objective regimes" zeichnet sich dadurch aus, daß die Verpflichtungen aus einem solchen Vertrag nicht zwischen den Parteien erfüllt werden. Es entsteht keine Abhängigkeit der Erfüllung von der Erfüllung jeweils eines anderen Staates, wie es dem klassischen Modell entspricht, noch eine Abhängigkeit der Erfüllung von der Erfüllung aller anderen Vertragsstaaten, wie es die erste Art der "objective regimes" auszeichnet. Statt dessen erfüllt jeder Staat seine vertraglichen Pflichten für sich und unabhängig vom Verhalten eines anderen Vertragsstaates oder aller anderen Vertragsstaaten. Solche Verträge haben regelmäßig den Schutz

°

16 Fourth Report on the content, forms and degrees of international responsibility (part 2 of the draft articles) by Mr. Willern Riphagen, Special Rapporteur, YBILC 1983, Vol. II, part 2, 3 ff. 161 Riphagen, Fourth Report, 16, 21 ff. 162 Riphagen, Fourth Report, 21 ff. 163 Riphagen, Fourth Report, 22. 164 Riphagen, Fourth Report, 23.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

kollektiver Staateninteressen zum Inhalt oder begründen Verpflichtungen zum Schutze der menschlichen Person unabhängig von ihrer Nationalität. 165 Obwohl der Sonderberichterstatter nicht explizit darauf Bezug nimmt, erinnert seine Klassifikation von völkerrechtlichen Pflichten stark an die von Fitzmaurice in seinen Sonderberichten vorgenommene Einteilung multilateraler Verträge. Hier wie dort ist der "Grundfall" die Verpflichtungsstruktur des bilateralen "do ut des", der strengen Reziprozität der vertraglich begründeten Rechte und Pflichten. Darüber hinausgehend kennen beide die sog. integrale Struktur von Verträgen, in denen die Erfüllung des Vertrages von den Erfüllungshandlungen aller Vertragsparteien abhängt, sowie die Art von multilateralen Verträgen, in denen die Verpflichtungen unabhängig von den Verpflichtungen anderer Parteien bestehen und zu erfüllen sind. Auf Art. 5 des zweiten Teils des Kodifikationsentwurfs zum Recht der Staatenverantwortlichkeit bzw. Art. 40 des redigierten Entwurfs übertragen, kann man an diesem Artikelentwurf die verschiedenen Arten multilateraler Verpflichtungsstrukturen leicht ablesen. Absatz 2, e, i regelt den Fall eines Bündels bilateraler Rechtsbeziehungen in einem multilateralen Vertrag. Absatz 2, e, ii repräsentiert den Fall von integralen Vertragsstrukturen, während Abs. 2, f Verträge erfaßt, deren Verpflichtungen nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis erfüllt werden. Auch Abs. 3 scheint prima facie diese Art von Verträgen zu regeln, indem er darauf abstellt, daß es sich um einen Vertrag handeln muß, der die kollektiven Interessen der Staaten schützt. Diese kollektiven Interessen bedeuten regelmäßig, daß, um sie zu schützen, die Staaten in aller Regel gleichlautende Verpflichtungen eingehen, da eben gleichlautende, gemeinsame und nicht unterschiedliche, korrespondierende Interessen Regelungsgegenstand des Vertrages sind. Diese Gleichsetzung von Abs. 3 mit einer bestimmten Vertragsart istjedoch nicht ohne Ausnahme möglich. Als Beispiel mag hier der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen dienen. Die Verpflichtungen aus diesem Vertrag sind integraler Natur. Die Erfüllung der Pflicht, Atomwaffen nicht an dritte Staaten weiterzugeben, würde sinnlos, wenn auch nur ein Vertragsstaat dieser Verpflichtung nicht nachkommt. Die Nichtverbreitung von Atomwaffen liegt aber im kollektiven Interesse der Vertragsparteien, ist also von Abs. 3 mitgeregelt Demnach vollzieht Art. 5 des zweiten Teils das von Riphagen auf der Grundlage der Arbeiten von Fitzmaurice vorgeschlagene Muster nach, nach dem multilaterale Verträge grundsätzlich drei Idealtypen folgen. Diese Typik wird von Art. 5 in bezugauf die Frage, welcher Staat bei einer Vertragsverletzung 165

Riphagen, Fourth Report, 22 f.

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen

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durch den Vertragsbruch verletzt ist, angewandt. Die Anwendung hätte dabei allerdings auch anders ausfallen können. Im Falle der dritten Kategorie, d. h. bei Verträgen, deren Verpflichtungen nicht zwischen den Parteien erfüllt werden, hätte die Lösung auch lauten können, daß keine Partei in irgend einer Weise rechtlich durch die Verletzungshandlung betroffen ist, da keiner Partei gegenüber erfüllt wurde und das subjektive Recht Spiegelbild der Erfüllung ist. 166 Die andere Möglichkeit, für die sich die ILC im Anschluß an Riphagen entschieden hatte, war, die fehlende Individualisierbarkeit des Adressaten einer Rechtsverletzung dadurch zu kompensieren, allen Vertragsstaaten ein subjektives Recht auf Erfüllung einzuräumen. Auch in diesem Regelungsbereich der Staatenverantwortlichkeit wurde eine Regelung auf der Basis einer Einteilung multilateraler Verträge in drei Kategorien vorgeschlagen. Zu prüfen ist nunmehr, ob diese Einteilung auch an anderen Stellen des Kodifikationsentwurfs zur Grundlage eines Regelungsvorschlags gernacht wurde.

2. Das Recht zur einseitigen Rechtsdurchsetzung durch Repressalien (., countermeasures ")

Ein anderer Bereich des Kodifikationsentwurfes, in dem verschiedene Arten multilateraler Verträge möglicherweise unterschiedliche Behandlung erfahren, ist das Repressalienrecht Dabei ist zunächst anzumerken, daß in der ILC in diesem Zusammenhang nicht mehr von Repressalien ("reprisals") die Rede ist, sondern von Gegenmaßnahmen ("countermeasures"). Diese terminologische Wandlung hat ihre Ursache darin, daß es eine eindeutige Trennung zwischen Friedens- und Kriegsvölkerrecht geben sollte. Die ILC wollte sich im Rahmen der Staatenverantwortlichkeit nur mit dem Friedensvölkerrecht auseinandersetzen. Die Probleme der bewaffneten Repressalien und der Repressalien im Rahmen des humanitären Völkerrechts sollten ganz ausgespart werden.

166 Dies war in der Tat die Position der sozialistischen Staaten, siehe dazu : Sachariev, Die Rechtstellung der betroffenen Staaten bei Verletzungen multilateraler Verträge, 1986, 98 ff. m. w. N.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

a) Riphagens Entwurf als Spiegelbild von Art. 5 Sonderberichterstatter Riphagen behandelte diesen Komplex erstmals in seinem sechsten Bericht 1985 167 und stellt diesbezügliche Regelungsentwürfe zur Diskussion. Danach ist grundsätzlich jeder Staat, der gern. Art. 5 des zweiten Teils als verletzter Staat anzusehen ist, frei in der Wahl der ihm zur Verfügung stehenden Mittel des Rechts der Staatenverantwortlichkeit Dazu gehört auch die einseitige Reaktion auf einen Rechtsbruch mit einer Gegenmaßnahme, d. h. die Aussetzung der Erfüllung eigener Verpflichtungen gegenüber dem VerletzerstaaL Artikel 11 (part 2) 168 der von ihm vorgeschlagenen Regelungen enthält aber Einschränkungen dieses Rechts des verletzten Staates in den Fällen, in denen die Verletzung eines multilateralen Vertrages vorangegangen ist. Danach ist es einem verletzten Staat in bestimmten Fällen nicht erlaubt, die Vertragsbindung als Gegenmaßnahme einseitig gegenüber dem Verletzerstaat auszusetzen. Die Aussetzung ist ausgeschlossen bei Pflichten aus multilateralen Verträgen, wenn die Aussetzung die Erfüllung der Pflichten oder den Genuß der Rechte bei allen anderen Parteien beeinträchtigen würde oder es sich um die Pflicht aus einem multilateralen Vertrag handelt, der entweder die kollektiven Interessen der Vertragsstaaten oder die menschliche Person unabhängig von ihrer Nationalität schützt. Artikel 13 169 stellt demgegenüber eine Ausnahme zur Ausnahme dar. Danach gilt Art. 11 nicht, wenn der vorangegangene Vertragsbruch des VerJetzerstaates so schwerwiegend war, daß Sinn und Zweck des Vertrages endgültig vereitelt sind. In einem solchen Fall besteht die Beschränkung des Rechts auf Gegenmaßnahmen nicht. Die Vorschrift des Art. 11 liest sich wie ein Spiegelbild des Art. 5, was die Klassifizierung multilateraler Verträge betrifft. Hier wie dort gibt es im Prinzip drei Typen von Abkommen. Für den ersteren, der nichts weiter ist als ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen, gelten im Prinzip keine besonderen Regeln. Er wird so behandelt wie ein bilateraler Vertrag. Die beiden anderen Typen sind entweder von integraler Struktur, d. h. die Rechte und Pflichten stehen nicht im bloßen zweiseitigen Gegenseitigkeitsverhältnis, sondern beziehen sich auf die Rechte und Pflichten aller anderen Vertragsparteien, oder sie sind von objektiver 167 Sixth Report on the content, forrns and degrees ofintemational responsibility (part 2 of the draft articles) and ,.lmplementation" (mise en oeuvre) of international responsibility and the settlement of disputes (part 3 of the draft articles) by Mr. Willern Riphagen, Special Rapporteur, YBILC 1985, Vol. II, part I, 3 ff. 168 Riphagen, Sixth Report, 12. 169 Riphagen, Sixth Report, 12.

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Natur, d. h. die Erfüllung des Vertrages findet nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis statt. Die Typik ist hier zwar dieselbe, jedoch führt sie hier zu anderen Rechtsfolgen. Während Art. 5 den Kreis der verletzten Staaten definiert und dabei im Falle multilateraler Verträge diesen Kreis recht weit zieht und damit oft jedem Vertragsstaat eines gebrochenen multilateralen Abkommens die Möglichkeit gibt, gegen den VerIetzerstaat aus der Verletzung eines eigenen Rechts vorzugehen, schränkt Art. 11 diese Möglichkeiten wieder bei den Verträgen ein, bei denen ursprünglich der Kreis der Reaktionsberechtigten weit gezogen wurde. Das könnte zu dem Schluß verleiten, daß letztlich die besonderen Arten multilateraler Verträge eines besonderen Rechtsregimes bedürften. Die allgemeinen Regeln werden zwar auf sie angewandt in bezug auf die Bestimmung der Rechtsverletzung, jedoch nicht, wenn es zur Rechtsdurchsetzung kommt.

b) Der Entwurf von Arangio-Ruiz Artikel11 ist jedoch, im Gegensatz zu Art. 5, nicht von der ILC verabschiedet worden. Darüber hinaus stand Riphagens Nachfolger als Sonderberichterstatter, Gaetano Arangio Ruiz, diesem Regelungsvorschlag eher skeptisch gegenüber. In seinem dritten Bericht 170 geht er auf die Frage von Gegenmaßnahmen ein, ist aber unschlüssig, ob eine dem Art. 11 des Riphagen-Entwurfes entsprechende Regel in seinen Kodifikationsvorschlag mit aufgenommen werden sollte. Diese Frage läßt er indes unbeantwortet. In seinem darauffolgenden vierten Bericht 171 geht er dann nochmals und etwas ausführlicher auf diese Frage ein. Er stimmt seinem Vorgänger darin zu, daß es prinzipiell wünschenswert ist, für multilaterale Verträge mit "Erga-ornnes"-Charakter, die über die bloße BündeJung bilateraler Rechtsbeziehungen hinausgehen, eine Sonderregelung zu schaffen. Diese Sonderregelung solle auch eine Eingrenzung des Rechts auf Gegenmaßnahmen sein. Kritik übt er indes an der Einteilung der multilateralen Verträge, die Riphagen vornimmt. Eine Unterscheidung zwischen den Verträgen, die den kollektiven Interessen der Staaten dienten und solchen, die von ihrer Rechts- und Pflichtenstruktur integral seien, sei aber wenig hilfreich. 172 Insbesondere könne sie in der Praxis kaum durch170 Third Report on State Responsibility by Mr. Gaetano Arangio-Ruiz, Special Rapporteur, YBILC 1991 , Vol. II, part I, 1 ff. (25). 171 Fourth Report on State Responsibility by Mr. Gaetano Arangio-Ruiz, Special Rapporteur, YBILC 1992, Vol. li, part 1, 1 ff. 172 Arangio-Ruiz, Fourth Report, 33 f.

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I . Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

geführt werden. Deshalb schlägt er vor, alle diese Vertragsarten unter den Begriff der "Erga-ornnes"-Verptlichtungen zu subsumieren. Sein Regelungsvorschlag geht folglich dahin, alle Verträge, deren Verpflichtungen "Erga-ornnes"-Charakter haben, von der allgemeinen Regel auszunehmen, die es einem verletzten Staat erlaubt, auf dem Wege der Gegenmaßnahme die Vertragsbindung auszusetzen. Sein Art. 14 Abs. 1, b, ii lautet schlicht, daß ein Staat nicht die Bindung an eine Verpflichtung aussetzen darf, wenn die Verpflichtung nicht nur dem Verletzerstaat, sondern gleichzeitig einem dritten, unbeteiligten Staat gegenüber geschuldet wird. 173 Interessanterweise entspricht dieser Vorschlag dem Art. 6 einer vom Institut de droit international im Jahre 1934 erarbeiteten Resolution. 174 Zusammenfassend kann gesagt werden, daß nach der ILC auch in diesem Zusammenhang die Rechtsnatur multilateraler Verträge maßgeblich die Regeln, die auf sie Anwendung finden sollen, determiniert. Der Vorschlag Riphagens entspricht dabei im wesentlichen dem, den Sir Gerald Fitzmaurice schon 1959 im Rahmen seiner Tätigkeit als Sonderberichterstatter zum Recht der Verträge zur Diskussion gestellt hatte. 175 Die von Arangio-Ruiz formulierte Kritik richtete sich nicht prinzipiell gegen die Einteilung, sondern betraf die mangelnde Praktikabilität. In bezug auf die Gegenmaßnahmen greift die Kritik allerdings ins Leere, da sich auch aus Riphagens Regelungsentwurf kein Unterschied hinsichtlich der Rechtsfolge aus der Art des multilateralen Vertrages in Art. 11 ergibt.

3. Die Differenzierung zwischen völkerrechtlichem Delikt und völkerrechtlichem Verbrechen in Art. 19 des ersten Teils 1976 verabschiedete die ILC Art. 19 des ersten Teils des Kodifikationsentwurfes über Staatenverantwortlichkeit Wie schon dargestellt, betraf der erste Teil nicht die Rechtsfolgen eines Falls der Staatenverantwortlichkeit, sondern die Entstehung eines solchen Falles. In diesem Zusammenhang wurde in Art. 19 zwischen verschiedenen Arten von Völkerrechtsbrüchen als Grundlage der Staa-

Arangio-Ruiz, Fourth Report, 35. Resolution des Institut de droit international über das Regime des repressailles en temps de paix, Annuaire de !'Institut de droit intemationall934, 710. 175 Fourth Report on the Law ofTreaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1959, Vol. II, 37 ff. (45 f.). 173

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tenverantwortlichkeit unterschieden. 176 Danach gab es internationale Delikte ("delicts") auf der einen und internationale Verbrechen ("crimes") auf der anderen Seite. Letztere stellen als besonders schwere Verletzungen des Völkerrechts die Ausnahme dar. Aus der Differenzierung zwischen Delikten und Verbrechen ergeben sich zwei Schlüsse: Zunächst ist das Völkerrecht eine hierarchische Rechtsordnung, d. h. es gibt Normen verschiedener Kategorien. Außerdem ist die Begehung eines internationalen Verbrechens eine Völkerrechtsverletzung nicht nur gegenüber einem Staat oder einigen Staaten, sondern gegenüber der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft. Die Annahme eines solchen Konzepts der völkerrechtlichen Verbrechen ist folglich eine Absage an eine Theorie des Völkerrechts, das in dieser Rechtsordnung eine bloße Koordinierung der Staaten auf der Basis strenger Reziprozität erblickt. Artikel 19 kann als Ausdruck des -auch die Völkerrechtsordnung beeinflussenden- Staatengemeinschaftsinteresses gedeutet werden. 177 176 Report of the International Law Commission on the Work of its Twenty-Eighth Session, YBILC 1976, Vol. II, part 2, 95. Der Wortlaut des Artikels: "Article 19. International Crimes and International Delicts

I. An act of a state which constitutes a breach of international law is an intemationally wrongful act, regardless of the subject-matter of the obligation breached. 2. An internationally wrongful act which results from the breach by a state of an international obligation so essential for the protection of fundamental interests of the international community that its breach is recognized as a crime by that community as a whole constitutes an international crime.

3. Subject to paragraph 2, and on the basis of the rules of international law in force, an international crime may result, inter alia, from: (a) a serious breach of an international obligation of essential importance for the maintenance of international peace and security, such as that prohibiting aggression; (b)a serious breach of an international obligation of essential importance for safeguarding the right of self-determination of peoples, such as that prohibiting the establishment or maintenance of colonial domination; (c) a serious breach on a widespread scale of an international obligation of essential importance for safeguarding the human being, such as those prohibiting slavery, genocide and apartheid; (d)a serious breach of an international obligation of essential importance for the Safeguarding and preservation of the human environment, such as those prohibiting massive pollution of the atmosphere and the seas. 4. Any internationally wrongful act which is not an international crime in accordance with paragraph 2 constitutes an international delict." 177 Simma, International Crimes: Injury and Countermeasures. Comments on Part 2 of the ILC Work on State Responsibilty, in: Weiler/Cassese/Spinedi (eds.), International Crimes of State- A Critical Analysis of the ILC' s Draft Article 19 on State Responsibility, 1989, 283, 290 ff.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Dennoch ist fraglich, ob dieser Artikelentwurf hohen Erkenntniswert besitzt. Der Vorschlag, zwischen Verbrechen und Delikten zu differenzieren, stammt von den Völkerrechtlern des ehemaligen Ostblocks. 178 Demzufolge ist die Akzeptanz dieser Idee unter den Staaten auch nicht ungebrochen. 179 In der neuesten Zeit wurde Art. 19 darüber hinaus noch zum Gegenstand kontroverser Debatten in der Kommission selbst. 180 Meist richtet sich allerdings die Kritik gegen die Annahme einer quasi-strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Staaten untereinander. Eine solche Pflichtigkeit von Rechtssubjekten könne sich nur in einem System ergeben, das eine zentrale Rechtsdurchsetzungsmacht besitze und insgesamt hierarchisch strukturiert sei. Demgegenüber sind die Kritiker mit der These einverstanden, daß es grundsätzlich verschiedene Arten völkerrechtlicher Pflichten gibt, an deren Verletzungen auch unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft werden können. Aus verschiedenen anderen Gründen sind aber die Folgerungen, die sich aus Art. 19 ergeben, für die hier zu beantwortenden Fragen von nicht allzu großem Wert. Die Formulierung des Art. 19 legt nahe, daß es sich bei "international crimes" regelmäßig um Brüche von Normen des allgemeinen Völkerrechts handeln muß, das Vertragsrecht mithin von dem Artikelentwurf nur insoweit erfaßt ist, als es Völkergewohnheitsrecht kodifiziert oder das Vertragsrecht in allgemeines Völkerrecht erwächst. Darüber hinaus geht Art. 19 zwar von einer Kategorisierung völkerrechtlicher Pflichten aus, nimmt die Einteilung aber aus anderen Gründen und nach anderen Kriterien vor, als dies bisher im Laufe der Untersuchung geschehen ist. Während bisher versucht wurde, völkerrechtliche Pflichten aufgrund ihrer Erfüllungsstrukturen zu typisieren, fußt die Differenzierung zwischen Verbrechen auf der einen und Delikten auf der anderen Seite auf dem Inhalt der jeweiligen Normen. Es geht um die Wichtigkeit der Normen für die Staatengemeinschaft. Dabei ist zuzugestehen, daß die Normen, die für die Staatengemeinschaft von besonderem Interesse sind, oft den Kategorien von Pflichten zuzuordnen sind, die bisher als integral bzw. interdependent oder als parallel bzw. objektiv beschrieben wurden. Notwendig ergibt sich diese Korrelation indes nicht. So ist z. B. das Aggressionsverbot als eine der Normen aufgeführt, deren Verletzung 178 Siehe dazu Mohr, The Distinction between "International Crimes" and "International Delicts" and its Implications, in: Spinedi/Simma, United Nations Codification on State Responsibility, 1987, 115, 117 f. 179 Siehe dazu die Zusammenstellung bei Spinedi, International Crimes of State: The Legislative History, in: Weiler/Cassese/Spinedi (eds.), International Crimes of States, 7, 45 ff. 180 Report of the International Law Commission on the Work of Its Fourty-Sixth Session, GAOR, fourty-ninth session, Suppl. 10, UN Doc. N49/l0, 330 ff.

§ 8 Die Arbeit in der Völkerrechtskornmission der Vereinten Nationen

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ein internationales Verbrechen ist. Strukturell ist das Aggressionsverbot jedoch eine Norm, die auf Zweiseitigkeit aufbaut: Ihr Bruch betrifft zunächst nur das Verhältnis zwischen Brecher und direkt Betroffenem. Kollektive Verteidigung ist zwar zulässig, hängt aber von dem Willen des direkt Betroffenen ab. Da somit die Einteilung in Verbrechen und Delikte in Art. 19 nach grundsätzlich anderen Kriterien erfolgt als die Differenzierung nach der Erfüllungsstruktur des Vertrages, wie dies bisher versucht wurde, kommt diesem Artikelentwurf im folgenden für die Untersuchung kein entscheidendes Gewicht zu. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß, auch von dieser Seite betrachtet, klar wird, daß im Zuge der Entwicklung des modernenVölkerrechtsdiese Rechtsordnung sich eindeutig vom bloßen Bilateralismus befreit hat. Die verschiedene Wertigkeit von Normen des Völkerrechts und die Einbeziehung der gemeinsamen Interessen der Staaten, die eine solche hierarchische Ordnung provozieren, spiegeln sich letztlich auch in den Strukturen multilateraler Verträge wider.

111. Die Arbeit der ILC an Regeln für Vorbehalte zu multilateralen Verträgen

In neuester Zeit wurde die ILC erneut mit der Arbeit am Rechtsgebiet der Vorbehalte zu multilateralen Verträgen betraut. Schon lange ist die Frage in der Diskussion, welche Regeln hierfür einschlägig sein sollten. Das Rechtsgutachten des IGH, das weiter oben schon besprochen wurde, stellte zunächst klar, daß zumindest für bestimmte multilaterale Verträge Spezialregeln existieren müssen. Der IGH betonte dabei, daß aus der Tatsache, daß die Völkermordkonvention sich nicht in dem Austausch von reziproken Rechten und Pflichten erschöpfe, auch eine Modifikation der allgemeinen Regeln für Vorbehalte folgen müsse und entwickelte daraus die "Object-and-purpose"-Regel. Bis heute hat sich jedoch keine unumstrittene Regelung ergeben. Die WVRK übernahm die vom IGH vorgeschlagene Regelung in Art. 19, c. Die Frage einer adäquaten Regel ist damit aber nicht gelöst. Aus der Wissenschaft kamen immer wieder Vorschläge, das Recht der Vorbehalte zu modifizieren. 181 Alain Pellet wurde zum Sonderberichterstatter für dieses Rechtsgebiet gewählt. In seinem ersten Beriche 82 faßt er hauptsächlich die Entwicklung bis heute zu181 Siehe nur Lijnzaad, Reservations to Human Rights Treaties - Ratify and Ruin?, 1994, passim. 182 First Report on the Law and Practice Relating to Reservations to Treaties by Mr. Alain Pellet, Special Rapporteur, UN Doc. A/CN.4/470, 30 May 1995.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

sammen und konzentriert sich dabei auf die Regelungen der WVRK. An einer Stelle deutet er jedoch an, daß es fraglich sei, ob die allgemeinen Regeln unterschiedslos Anwendung auf Menschenrechtskonventionen finden sollen. Diese seien im Gegensatz zu anderen völkerrechtlichen Verträgen nicht auf der Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten aufgebaut. Diese fehlende Reziprozität könne womöglich einen Einfluß auf die Zulässigkeil von Vorbehalten haben. 183

IV. Zusammenfassung der Arbeit der Völkerrechtskommission In den über 40 Jahren ihres Bestehens ist die ILC immer wieder beauftragt worden, zentrale Gebiete des allgemeinen Völkerrechts wissenschaftlich zu erfassen und Kodifikationsentwürfe zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang wurde das Hauptaugenmerk auf das Recht der Verträge und das Recht der Staatenverantwortlichkeit gelegt. Insbesondere die Berichte der verschiedenen Sonderberichterstatter enthielten oft profunde dogmatische Analysen, auf die sich Kodifikationsentwürfe stützten. Insbesondere die Arbeiten von Sir Gerald Fitzmaurice haben viel zur Erhellung beigetragen. Die auf ihn zurückgehende Einteilung von Verträgen in drei Kategorien wurde letztlich auch von der ILC im Bereich der Staatenverantwortlichkeit übernommen, indem Art. 5 des zweiten Teils des Kodifikationsentwurfs dieses Raster inkorporiert. Trotz der, insbesondere von Waldock, formulierten Kritik an dieser Kategorisierung hat es in der ILC nie eine Ablehnung einer solchen Einteilung gegeben. Die Kritik richtete sich zumeist gegen die mangelnde Praktikabilität. So bestätigt sich nach Analyse der Arbeiten der Kommission das, was sich aus der Darstellung der völkerrechtlichen Judikate ergab: Nicht alle multilateralen Verträge erschöpfen sich in dem bloßen Austausch von gegenseitig geschuldeten Leistungen und Vorteilen. Im Gegensatz zur Rechtsprechung, die sich nur selten mit dieser Problematik befassen konnte, hatte die ILC die Gelegenheit, sich systematisch damit auseinanderzusetzen. Im Ergebnis kristallisierte sich eine Einteilung multilateraler Verträge in drei Kategorien heraus: Die erste umfaßt Verträge, die bloße Bündelungen bilateraler Rechtsbeziehungen darstellen. Die zweite steht für Verträge, bei denen die Erfüllung im notwendigen Zusammenhang mit der Erfüllung des Vertrages durch nicht nur eine bestimmte Partei, sondern durch alle Parteien steht. Die Struktur der Pflichten ist interdependent. Die letzte Kategorie repräsentiert dann Verträge, deren Pflichten nicht zwischen den Staaten 183

Pellet, First Report, 63.

§ 9 Die Behandlung multilateraler Konventionen in der WVRK

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erfüllt werden. Die Erfüllung steht in keinem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Erfüllung durch einen Staat oder alle anderen Vertragsstaaten. Die Pflichten sind unabhängig voneinander. Solche Verträge werden bisweilen als "objektiv" bezeichnet. Im folgenden wird zu prüfen sein, inwiefern sich diese Strukturen in der WVRK widerspiegeln und ob sich diese theoretische Kategoriserung auf die völkerrechtliche Vertragspraxis anwenden läßt. Im Wege einer beispielhaften Fallstudie werden dabei die Verträge des modernen Umweltvölkerrechts Untersuchungsgegenstand sein, da sie sich durch eine Vielfalt von Regelungsmechanismen auszeichnen.

§ 9 Die Behandlung multilateraler Konventionen in der WVRK Die Wiener Vertragsrechtskonvention ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie das einzige Völkerrechtsdokument ist, das umfassend eine Regelung des allgemeinen Rechts der Verträge darstellt. Darüber hinaus ist sie deswegen wichtig, weil sie allgemein, insbesondere von der Rechtsprechung internationaler und innerstaatlicher Gerichte 184, aber auch der völkerrechtlichen Literatur 185 weitgehend als Kodifikation des bis dahin geltenden Völkergewohnheitsrechts angesehen wird. Eine Lektüre des Konventionstextes ergibt indes kaum Anhaltspunkte für eine Kategorisierung multilateraler Verträge. Vielmehr scheint es das Anliegen der WVRK zu sein, für alle Verträge grundsätzlich ein einheitliches Rechtsregime zur Verfügung zu stellen. Dies überrascht um so mehr, als die Konvention nicht zuletzt das Ergebnis der vorbereitenden Arbeiten der ILC ise 86 und, wie oben dargestellt wurde, insbesondere die Arbeit des Sonderberichterstatters Fitzmaurice 184 Fisheries Jurisdiction (United Kingdom v. Iceland), ICJ-Reports 1971 , 3 (18); Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970 (Advisory Opinion), ICJ-Reports 1973, 16 (48); Goider Case, ECHR, Ser. A, Vol. 18, 5; BVerfGE 40, 141 (167, 176). 185 Verdross/Simma, 433; Jennings/Watts, Oppenheim's International Law, Vol. I, 2, 9. Aufl., 1992, 1199; Heintschel v. Heinegg, in: lpsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, 97; Shaw, International Law, 3. Aufl., 1991 , 561 ; Schwarzenberger, A Manual oflnternational Law, 6. Aufl., 1976, 121. 186 Wetzel/Rauschning, The Vienna Convention on the Law ofTreaties, Travaux Pn!paratoires, 1977, 19.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

sich dezidiert mit diesem Thema auseinandersetzt Insgesamt aber scheint die Konvention diese Einteilung nicht aufzunehmen, und ihre Unterscheidungen zwischen bi- und multilateralen Verträgen beziehen sich meist auf die Feststellung, daß multilaterale Verträge mehr als zwei Parteien haben. 187 So ist es auch die Grundannahme, auf der die WVRK fußt, daß alle Verträge Austauschverhältnisse von Leistungen begründen. Andererseits hat auch Fitzrnaurice zugestanden, daß verschiedene Arten von Verträgen in den meisten Fällen von einem einheitlichen Recht der Verträge erfaßt werden können. 188 Die Regeln über Vertragsabschluß, Vollmachten und Willensmängel sind kaum von der Rechtsnatur des Vertrages abhängig und demzufolge für alle Verträge gleich. Dennoch finden sich bei genauerer Betrachtung der WVRK einige Anknüpfungspunkte für die unterschiedliche Behandlung von Verträgen, die sich aus den spezifischen Erfüllungsstrukturen ergeben. Diese sind die Regeln über Vorbehalte sowie in die Art. 60 WVRK kodifizierten Rücktrittsregeln. Das Recht der Vorbehalte findet sich in den Art. 19-23 WVRK. Die Grundregel ist Art. 21. Danach ist ein Vorbehalt grundsätzlich nur relativ wirksam zwischen dem Staat, der den Vorbehalt erklärt und dem, der ihn akzeptiert. Insoweit wird die Rechtsbeziehung zwischen dem erklärenden und dem annehmenden Staat verändert. Die Anwendung der Regel, für die der Vorbehalt erklärt wurde, ist ausgeschlossen bzw. modifiziert. Zwischen dem erklärenden Staat und anderen, nicht akzeptierenden Staaten sowie zwischen Staaten, die keine Vorbehalte erklärt haben, findenjedoch keine Veränderung in den Rechtsbeziehungen statt. Die Grundregel geht folglich davon aus, daß ein multilateraler Vertrag viele zweiseitige Rechtsbeziehungen zwischen den Vertragsstaaten begründet, die nicht miteinander verknüpft sind. Die Erfüllung der vertraglichen Pflichten findet grundsätzlich im Verhältnis der Zweiseitigkeil statt. Der mehrseitige Vertrag ist demnach nicht mehr, als ein bloßes Bündel bilateraler Abkommen. Dieses scheinbar so eindeutige Bild, daß die WVRK ein Produkt des reinen Bilateralismus ist, wird jedoch getrübt durch einen Blick auf die Voraussetzungen, die für die Zulässigkeil von Vorbehalten gelten. Artikel 21 betraf nur die Rechtswirkungen zulässiger Vorbehalte. Demgegenüber regeln die Art. 19 und 20 die Zulässigkeil selbst. Diese Regeln nehmen zwar nicht direkt und eindeutig auf die, 187 Rosenne, Bilateralism and Community Interestin the Law ofTreaties, in: Friedmann/ Henkin/Lissitzyn (eds.), Transnational Law in a Changing Society, Essays in Honor of Philip C. Jessup, 1972, 202 (209). 188 Report on the Law of Treaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1956, Vol. II, 104.

§ 9 Die Behandlung multilateraler Konventionen in der WVRK

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insbesondere von Fitzmaurice verwandte, Terminologie bezug. Eine genauere Auslegung läßtjedoch darauf schließen, daß die verschiedenen Typen multilateraler Verträge von der Konvention nicht gänzlich ignoriert werden. Insbesondere drei Regeln sind dabei von Interesse: Art. 19 (c), Art. 20 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 3.

I. Die "Object-and-purpose"-Regel in Art. 19 (c) Artikel 19 (c) bestimmt, daß ein Vorbehalt dann unzulässig ist, wenn er Sinn und Zweck ("object and purpose") des Vertrages widerspricht. Die Konvention wiederholt hier das, was der IGH in seinem oben besprochenen Gutachten zur Völkermord-Konvention im Jahre 1951 gesagt hatte. Die WVRK bestätigt damit die Rechtsfindung des IGH. 189 Wie oben erörtert wurde, entsprang der diesbezügliche Rechtsgedanke des IGH der Beobachtung, daß die traditionelle Regel für Vorbehalte, die letztlich ihren Ursprung im Bilateralismus des Rechts der Verträge hatte, modernen Konventionen nicht mehr gerecht werden konnte. Diese modernen Konventionen, so setzte der IGH voraus, erschöpften sich nicht darin, zwischen den Parteien reziproke Rechte und Pflichten zu begründen. Die Struktur dieser Verträge, die darauf gerichtet seien, nicht gegensätzliche Interessen auszugleichen, sondern ein gemeinsames Interesse zu verfolgen, bestehe nicht in einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Aus diesem Grunde sollte sich die Zulässigkeil von Vorbehalten nach einem objektiven Kriterium richten, das sich aus dem Vertrag selbst ergibt. Wenn die WVRK also in Art. 19 (c) auf das Rechtsgutachten des IGH von 1951 Bezug nimmt, so erstreckt sich das auch auf die Gründe, die das Gericht damals zu dieser Entscheidung bewogen haben. Ohne eine solche Einbeziehung würde die "Object-and-purpose"-Regel keinen Sinn machen. Nur in dem Kontext, daß sie für Verträge geschaffen wurde, die sich nicht darin erschöpfen, Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen zu sein, ist sie verständlich.

11. Die Anerkennung integraler Verträge in Art. 20 Abs. 2 Die zweite in diesem Zusammenhang interessante Regel ist Art. 20 Abs. 2. Danach bedarf ein Vorbehalt zu seiner Zulässigkeil der Zustimmung aller Vertragsstaaten, wenn sich aufgrundder begrenzten Anzahl der an der Vertragsan189

Shaw, 574; Verdross/Simma, 467; Brownlie, 609 f.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

bahnung beteiligten Staaten sowie aus Sinn und Zweck des Abkommens ergibt, daß die Anwendung des Vertrages als Ganzes eine entscheidende Voraussetzung der Zustimmung jedes Staates zum Vertrag ist. Hiermit anerkennt die WVRK einen Vertragstyp, bei dem die Erfüllung der vertraglichen Pflichten nicht isoliert zwischenjeweils zwei Staaten stattfindet, deren Rechtsbeziehung weder die zwischen anderen Vertragsstaaten beeinträchtigt, noch von ihnen beeinträchtigt wird. Vielmehr ist die Erfüllung hier anders strukturiert: Notwendige Voraussetzung ist hier, daß der Vertrag von der Gesamtheit seiner Parteien erfüllt wird. In Art. 20 Abs. 2 steckt folglich die Anerkennung des integralen oder interdependenten Typs von multilateralen Verträgen. Diese zeichnen sich eben dadurch aus, daß die Erfüllung der vertraglichen Pflichten durch eine Partei nicht lediglich von der korrespondierenden Erfüllung durch eine andere Partei, sondern von der korrespondierenden Erfüllung durch alle anderen Parteien abhängt. Der Unterschied zwischen dem integralen Vertragstyp und dem, der Art. 20 Abs. 2 zugrunde liegt, besteht in der Begrenzung der Anzahl der Vertragsparteien in der WVRK. Diese Begrenzung läßt sich aus sich selbst heraus nicht verstehen. So ist sie auch der Kritik ausgesetzt, daß solche integralen Verträge, wie sie in Art. 20 Abs. 2 geregelt sind, durchaus universalen Charakter haben können. 190

111. Die Sonderregelung in bezugauf Gründungsdokumente internationaler Organisationen Eine dritte Regel über die Zulässigkeit von Vorbehalten, die in diesem Zusammenhang zu untersuchen ist, enthält Art. 20 Abs. 3. Danach bedürfen Vorbehalte zu Verträgen, die das Gründungsdokument einer internationalen Organisation sind, der Zustimmung des zuständigen Organs der Organisation. Hier wird nicht von der Struktur eines Vertrages ausgegangen, sondern von dessen Regelungszweck. Indirekt läßt sich aber daraus auf die spezielle Vertragstypik schließen. Wie der IGH schon in seinem Gutachten "Reparations for Injuries Suffered" betonte, steckt in dem Vertrag, der eine internationale Organisation gründet und dadurch eine neue juristische Person des Völkerrechts schafft, mehr als der bloße Austausch von Rechten und Pflichten. Im besprochenen Rechtsgutachten ging es indes um die hier nicht interessierende Frage der Wirkung dieser Rechtspersönlichkeit gegenüber Drittstaaten. Jedoch befaßte sich Waldock in

190

Verdross/Simma, 469.

§ 9 Die Behandlung multilateraler Konventionen in der WVRK

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seinem zweiten Sonderbericht über das Recht der Verträge 191 mit Gründungsverträgen von internationalen Organisationen. Der Rücktritt von einem solchen Vertrag infolge des Vertragsbruches durch einen anderen Staat bedarf der Zustimmung des zuständigen Organs der Organisation. Die Regel des Art. 20 Abs. 3 ist in bezug auf Vorbehalte dem Kodifikationsentwurf Waldocks nachgebildet. Waldocks Vorschlag basierte jedoch darauf, daß die Gründung einer internationalen Organisation so etwas wie ein Akt objektiver Rechtssetzung sein muß, da das Organ eine Rechtsmacht ausübt, die jenseits der subjektiven Rechte der Mitgliedsstaaten besteht. Darin liegt eine indirekte Anerkennung von Verträgen, die sich nicht in der Schaffung von subjektiven Rechts- und Pflichtbeziehungen erschöpfen. Gleiches muß folglich auch für Art. 20 Abs. 3 gelten. Die Regeln der WVRK über Vorbehalte zu Verträgen sind also nur auf den ersten Blick vom Bilateralismus beherrscht, wie er sich in Art. 21 ausdrückt. Bei genauerer Betrachtung erblickt man, mehr oder weniger indirekt, daß die WVRK andere Vertragstypen anerkennt und spezielle Regeln für sie bereithält.

IV. Art. 60- Rücktritt wegen Vertragsverletzung des anderen Teils Auch an anderer Stelle wird deutlich, daß die WVRK nicht ausschließlich multilaterale Verträge mit bilateralen gleichsetzt. Artikel 60 regelt die Beendigung oder Suspendierung eines Vertrages wegen Vertragsverletzung. Eine eingehendere Untersuchung dieser Vorschrift, insbesondere ihrer Anwendung auf multilaterale Verträge soll weiter unten stattfinden. Hier sei nur angedeutet, daß Art. 60 verschiedene Regeln für multilaterale Verträge umfaßt. Artikel 60 Abs. 2 (c) regelt den Fall eines Vertrages, der so beschaffen ist, daß eine erhebliche Verletzung seiner Bestimmungen durch eine Vertragspartei die Lage jeder Vertragspartei hinsichtlich der weiteren Erfüllung ihrer Vertragsverpflichtungen grundlegend ändert. Der beschriebene Vertrag entspricht dem integralen Vertragstypus.192 Darüber hinaus bestimmt Art. 60 Abs. 5, daß Verträge mit humanitärer Zielsetzung generell von der Anwendung dieser Vorschrift ausgenommen werden, also nicht wegen eines Vertragsbruches einseitig beendet werden können. Darin könn-

191Second Report on the Law of Treaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1963, Vol. II, 36 (72 f.). 192 Simma, Reflections on Article 60 of the Vienna Convention on the Law of Treaties and Its Background in General International Law, ÖZöRV 20 (1970), 5 (75). 6 Feist

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Vö1kerrechtstheorie und -praxis

te man eine Anerkennung des "objektiven" Vertragstypus sehen. 193 Simma 194 erblickt darin jedoch nicht mehr als die bloße rechtspolitische Motivation, Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht von der Anwendung dieser Vorschrift auszunehmen. Nicht aus dogmatischen, sondern aus sachbezogenen Gründen solle Art. 60 nicht einem Staat die Möglichkeit geben, einen solchen Vertrag einseitig zu beenden, weil ein anderer Staat seine Pflichten nicht erfüllt. Aber auch die rechtspolitische Motivation beruht letztlich auf der speziellen Rechtsnatur eines Menschenrechtsvertrages. Die Rechte und Pflichten der verschiedenen Parteien aus einem solchen Vertrag sind nicht reziprok aufeinander bezogen. Die Nichterfüllung durch einen Staat ist folglich ohne direkten Einfluß auf die materiellen Interessen der anderen Staaten. Eine Aussetzung der Vertragsbindung legitimiert sich deswegen weder als Vermeidung einer unbilligen Härte noch als Instrument, den Vertragsbrecher zum vertragsgemäßen Verhalten zu bewegen. Simma ist zuzugestehen, daß es sich anders in bezug auf Konventionen des humanitären Völkerrechts verhält. Hier ist die Erfüllung der Pflichten durch eine Partei an die Gegenseitigkeitserwartung der Erfüllung durch die anderen Parteien geknüpft. Dennoch ändert dies nichts an dem gerade gesagten über Menschenrechtsverträge im engeren Sinne. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Es hat zwar den Anschein, als ob die WVRK multilaterale Verträge generell nicht anders als bilaterale Verträge behandelt und in allen völkerrechtllichen Abkommen lediglich den Austausch von Leistungen und die Einräumung von Rechten und Pflichten im Gegenseitigkeitsverhältnis sieht. Die genauere Betrachtung, insbesondere der Vorschriften der Art. 19-21 über die Zulässigkeil und Wirkung von Vorbehalten, hat aber ergeben, daß die WVRK durchaus die verschiedenen Typen multilateralter Verträge voraussetzt. Hinsichtlich der Definitionsnormen und der Anwendung der meisten Regeln werden die Typen allerdings gleichgesetzt. Eine solche Gleichsetzung ist aber nicht falsch. Auch Fitzmaurice hat die Auffassung vertreten, daß die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen multilateraler Verträge von begrenztem praktischen Wert sei. 195

193 So ausdrücklich Sinclair, The Vienna Convention on the Law ofTreaties, 2. Aufl., 1984, 190. 194 Sinclair, 74 f. 195 Report on the Law of Treaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1956, Vol. II, 104 (118).

§ 10 Die Vertragsinstrumente zum völkerrechtlichen Schutz der Umwelt

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Letztlich kann dies aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die WVRK, wenn auch nur begrenzt, die weiter oben beschriebene, insbesondere auf Fitzmaurice zurückgehende, Typisierung von Verträgen anerkennt. 196

§ 10 Fallbeispiel: Die Vertragsinstrumente zum völkerrechtlichen Schutz der Umwelt An einem Beispiel soll nun demonstriert werden, ob und wie sich die bis jetzt nur abstrakt vorgenommene Typisierung multilateraler Verträge in der Praxis der Vertragsgestaltung wiederfinden läßt. Als Fallbeispiel sei das Umweltvölkerrecht gewählt. Als eine relativ neue Regelungsmaterie hat es doch eine Vielzahl von Kodifikationen in diesem Bereich gegeben. 197 Darüber hinaus ist der völkerrechtliche Schutz der Umwelt ein charakteristischer Bereich des Kooperationsvölkerrechts, in dem es nicht lediglich um die Abgrenzung der staatlichen Souveränitätsbereiche, sondern auch und gerade um die Erreichung eines gemeinsamen Ziels, nämlich des grenzüberschreitenden Umweltschutzes geht. Völkerrechtsgeschichtlich wird als Ursprung des Umweltvölkerrechts der Schiedsspruch im Trail-Smelter-Fall 198 angesehen. 199 Dabei ging es um die grenzüberschreitenden Emissionen, die ihren Ursprung in einer Schmelze im kanadischen Trail hatten. Diese Emissionen verursachten wirtschaftliche Schäden auf dem Territorium der USA. Die USA verlangten dafür Schadensersatz von Kanada. Zur Beilegung dieses Rechtsstreits wurde ein Ad-hoc-Schiedsgericht gebildet. Es erklärte Kanada für schadensersatzpflichtig. Die entscheidungserhebliche Norm ergab sich dabei aus dem Völkergewohnheitsrecht Danach sei jeder Staat verpflichtet, zu verhindern, daß auf seinem Territorium Handlungen vorgenommen werden, die auf dem Gebiet eines anderen Staates ernsthafte Schäden verursachen. Diese Regel wird heute als eine der Fundamentalnormen des Umweltvölkerrechts angesehen. 200 Neben der völkergewohnheitsrechtliehen Geltung ist So auch Verdross/Simma, 340. Siehe dazu die Übersicht bei Bimie/Boyle, International Law and the Environment, 1992, xviii ff. 198 Trail Smelter Arbitration, Reports of International Arbitral Awards, Vol. III, 1911. 199 Wolfrum, GYIL 33 (1990), 308 (309); Read, Can.Yb. lnt'l L. I (1963), 213 . 200 Dahm/Delbrück/Wolfrum, 446; Verdross/Simma, 646; Bimie/Boyle, 93; Fitvnaurice, M. A., NYIL 25 (1994), 181 (187). 196 197

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

sie auch Ausfluß des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des sie utere tuo ut alienum non laedas. 201 Als solche ist sie ein klassisches Beispiel für eine Norm, die der Abgrenzung der Souveränitätsbereiche dient. Die Annahme liegt nahe, daß hierdurch eine umfassende Regelung für den Umweltschutz im zwischenstaatlichen Bereich geschaffen wird. Denn wenn es jedem Staat verboten ist, Handlungen vorzunehmen oder zuzulassen, die der Umwelt eines anderen Staates ernsthafte Schäden zufügen, so ist damit doch nahezu alles abgedeckt. Es wurde jedoch mehr und mehr deutlich, daß die TrailSmelter-Regel nicht hinreichend ist. Zunächst wird in ihr der Umweltschutz nicht als Selbstzeck angesehen, sondern wird nur als Reflex des Schutzes ökonomischer Interessen eines betroffenen Staates erreicht. Darüber hinaus sind die Probleme der grenzüberschreitenden Umweltzerstörung oft komplexer als die bloße Schädigung eines Staates durch einen anderen. Zunächst sind nicht alle Umweltschäden als wirtschafltich meßbarer Schaden quantifizierbar. Darüber hinaus ist es oft nicht einfach, für Umweltschäden einen bestimmten Verursacher festzumachen. Von vielen Staaten gehen grenzüberschreitende Versehrnutzungen aus. Dabei läßt sich der Schadensbeitrag eines bestimmten Staates oft nicht mehr ausmachen, und der Schaden kann, wie im Falle des Treibhauseffekts, alle Staaten treffen. Eine Haftbarmachung scheidet dann aus. Schließlich ist der Schutz staatsfreier Räume, also der Antarktis und der Hohen See, von entscheidender Bedeutung, wird aber von der Traii-Smelter-Regel nicht erfaßt. Das Modell des reinen Bilateralismus ist folglich ein begrenzt wirksames Mittel, grenzüberschreitenden Umweltschutz sicherzustellen, es ist aber keinesfalls hinreichend. So ist es zwar nicht abgelöst, 202 aber durch modernere Regeln, die diese Bedingungen zu erfüllen suchen, ergänzt worden. Diese Ergänzung orientierte sich an zwei Leitmotiven. Das eine erhob den Umweltschutz selbst zum RegelungszieL Damit sollte der Schutz der Umwelt unabhängig von den ökonomischen Interessen der Staaten erreicht werden. Das andere war die Überwindung des Bilateralismus, d. h. der Anknüpfungspunkt sollte nicht mehr ein Schadensereignis in einem Staat, das einem anderen Staat zurechenbar ist, sein, sondern Handlungs- oder Unterlassungspflichten sollten sich nicht mehr auf diese kausale Verknüpfung beziehen. Einen Schritt auf dem Weg zur Entwicklung eines solchen Umweltvölkerrechts stellt die Konferenz der Vereinten Nationen über die menschliche Umwelt in Stockholm 1972, die so201 202

Verdross/Simma, 644. Worauf Epiney, A VR 33 (1995), 309 (315), zutreffend hinweist.

§ 10 Die Vertragsinstrumente zum völkerrechtlichen Schutz der Umwelt

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genannte Stockholm-Konferenz dar. Die auf ihr verabschiedete Declaration on Human Environmene03 (Stockholm-Deklaration) brachte dieses Ideal in Grundsatz 21 auf den Punkt. Darin hieß es: "States have the responsibility to ensure that activities within their jurisdiction do not cause darnage to the environment of other states or areas beyond state jurisdiction. " 204

Grundsatz 21 urnfaßt diese beiden neuen Regelungsziele: Der Schutz der Umwelt selbst ist Regelungsgegenstand und -zweck, und es geht nicht lediglich um den Schutz von staatlichen Gebieten. Die Entwicklung weg vom bloßen Nachbarrecht wird damit deutlich. Zwar ist die Stockholm-Deklaration nicht selbst ein rechtlich verbindliches Dokument, es ist jedoch allgemeine Meinung, daß sie, wenn nicht eine Wiedergabe des schon geltendenden Gewohnheitsrechts, ein Meilenstein auf dem Weg der Entwicklung einer nunmehr gewohnheitsrechtliehen Regel dieses Inhalts war.205 Die Entwicklung des Umweltvölkerrechts schritt allerdings nicht so sehr durch neu entstehendes Gewohnheitsrecht voran, sondern wurde vielmehr durch eine Vielzahl von multilateralen Verträgen bestimmt. Vorliegend sollen drei Konventionen als Beispiele dienen. Den Anfang macht dabei die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen von 1982. 206 Zwar handelt es sich bei der Konvention nicht um einen rein umweltvölkerrechtlichen Vertrag, große Teile der Konvention sind indes dem marinen Umweltschutz gewidmet, so daß sie ein geeignetes Beispiel ist. Artikel192 schafft eine generelle Verpflichtung, die marine Umwelt zu schützen und zu bewahren. Artikel 194 Abs. 2 konkretisiert diese Pflicht, indem es den Staaten verboten wird, durch Versehrnutzung der Meere anderen Staaten und ihrer Umwelt Schaden zuzufügen. Die Staaten haben dafür zu sorgen, daß Verschmutzung, die von Aktivitäten auf ihrem Hoheitsgebiet ihren Ausgang nimmt oder gar vom Staat selbst verursacht wird, sich nicht außerhalb des Hoheitsgebiets negativ auswirkt. Schließlich ergibt sich aus Art. 197 eine allgemeine Kooperationspflicht in bezugauf den marinen Umweltschutz. 203 Declaration of the United Nations Conference on Human Environment, abgedruckt in: ILM II (1972), 1416. 204 Declaration of the United Nations Conference on Human Environment, abgedruckt in: ILM II ( 1972), 1420. 205 Wolfrum, GYIL 33 (1990), 328 f.; Restatement ofthe Law (Third), Foreign Relations ofthe United States, Vol. 2 (1987), § 601. 206 United Nations Convention on the Law ofthe Sea, 1982, UN Doc. NCONF. 62/122, abgedruckt in: Sands/Taranofsky/Weiss, Documents on International Environmental Law, 1994, 3 26 ff.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Der zweite Vertrag, der in diesem Zusammenhang betrachtet wird, ist die Wiener Konvention zum Schutz der Ozonschicht von 1985 207 . Artikel 2 Abs. 1 und 2, b) legen fest, daß die Staaten eine Verpflichtung trifft, zum Zwecke des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt in ihren Hoheitsbereichen Maßnahmen zu ergreifen, Aktivitäten zu kontrollieren, zu begrenzen oder zu unterbinden, von denen anzunehmen ist, daß sie einen negativen Einfluß auf die Ozonschicht haben. Diese Bestimmung ist indes recht vage gehalten und als solche kaum anwendbar. Das hat allerdings seinen Grund im Charakter der Konvention als Rahmenvereinbarung. Konkrete Reduzierungspflichten ergeben sich aus dem zur Konvention beschlossenen Montrealer Protokoll über Stoffe, die die Ozonschicht zerstören208 . Artikel 2 dieses Protokolls enthält Pflichten, die Ernission bestimmter Stoffe zu reduzieren und gibt den Mitgliedsstaaten der Konvention quantitative Begrenzungen ihrer Ernissionen auf. Diese Quantitäten sind nach Staatengruppen differenziert: Industriestaaten tragen dabei die höchsten Reduzierungspflichten. Als letztes Beispiel sei die Konvention über Biologische Vielfalt genommen.209 Diese Konvention wurde auf dem "Erdgipfel" 1992 in Rio de Janeiro beschlossen. Ziel dieses Vertrages ist die Bewahrung der natürlichen Artenvielfalt möglichst im natürlichen Habitat. Artikel 3 der Konvention wiederholt den schon erwähnten Grundsatz 21 der Stockholm-Deklaration. Konkrete Pflichten in bezug auf die Erhaltung der Artenvielfalt ergeben sich aus den Art. 8 und 9: Die Staaten haben dafür Sorge zu tragen, daß die Artenvielfalt innerhalb (Art. 8), aber auch außerhalb (Art. 9) natürlicher Lebensräume erhalten bleibt. Zu prüfen ist nun, ob sich diese Pflichten aus umweltvölkerrechtlichen Verträgen unter die verschiedenen Typen multilateraler Verträge subsumieren lassen. Ausgehend von Fitzrnaurices Arbeiten im Rahmen der ILC wurde festgestellt, daß sich drei Idealtypen multilateraler Verträge beschreiben lassen. Der erste erschöpft sich in einer bloßen Bündelung bilateraler Rechtsverhältnisse, der zweite zeichnet sich dadurch aus, daß seine Pflichten integral sind, d. h. die Erfüllung der Pflichten einer Partei steht in Wechselwirkung mit der Erfüllung der Pflichten aller anderen Parteien. Schließlich war der dritte Typ dadurch charakterisiert, daß 207 Convention on the Protection of the Ozone Layer, 22 March 1985, Vienna, abgedruckt in: Sands!Faranofsky/Weiss, 167 ff. 208 Montreal Protocol on Substance that Deplete the Ozone Layer, in: Sands!Faranofsky/ Weiss, 190 ff. 209 Convention on Biological Diversity, 5 June 1992, Rio de Janeiro, abgedruckt in: Sands!Faranofsky/Weiss, 846 ff.

§ 10 Die Vertragsinstrumente zum völkerrechtlichen Schutz der Umwelt

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die Verpflichtungen nicht im Gegenseitigkeitsverhältnis zueinander stehen; die Erfüllung jeder Pflicht findet hier ohne Bezug auf die Pflichten der anderen Vertragsparteien statt. Artikel 194 Abs. 2 der Seerechtskonvention verpflichtet die Staaten, Verschmutzungen der marinen Umwelt von anderen Staaten zu unterlassen. Verschmutzt Staat A durch sein Handeln die Küstengewässer des Staates B, so wird ein Staat C, der ebenso wie A und B Mitglied der Seerechtskonvention ist, durch dieses Verhalten nicht beeinträchtigt. Eine Rechtsverletzung findet hier lediglich gegenüber Staat B statt. Artikel 194 Abs. 2 entspricht damit dem Typ der bilateralisierbaren Verpflichtungen multilateraler Verträge. 210 Die Art. 8 und 9 der Artenvielfaltkonvention zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, daß sie den Staaten ein Verhalten vorschreiben, daß sich gänzlich im Bereich der innerstaatlichen Umsetzung abspielt. Zwar ist es denkbar und auch mit Sicherheit der Fall, daß der Schutz von natürlichem Lebensraum von zwei oder mehr Staaten gleichzeitig zu leisten ist, wenn ein Biotop sich über die Staatsgrenzen erstreckt. Ausgehend vom Wortlaut der Art. 8 und 9 hat aber grundsätzlich jeder Mitgliedsstaat für sich den Schutz und die Erhaltung der Lebensräume sicherzustellen. Eine wie auch immer geartete Verknüpfung mit den Pflichten anderer Vertragsstaaten ergibt sich aus der Formulierung der Normen nicht. Ebenso kann jeder Staat im Prinzip, soweit es nicht den Fall der grenzüberschreitenden Biotope betrifft, die Pflichten aus Art. 8 und 9 unabhängig davon erfüllen, ob die anderen Vertragsstaaten sich entsprechend verhalten. Weder stehen die Pflichten aus Art. 8 und 9 der Parteien in einem funktionellen Synallagma, noch wird die Erfüllung durch eine Partei infolge der Nichterfüllung durch eine andere sinnlos oder gar unmöglich. Die Art. 8 und 9 sind damit eindeutig dem dritten Typ der multilateralen Verträge zuzuordnen, der durch die Unabhängigkeit oder Parallelität der Verpflichtungen gekennzeichnet ist. Nicht so eindeutig läßt sich hingegen die Reduzierungspflicht aus Art. 2 des Montrealer Protokolls einordnen. Zwar ist klar, daß die Reduzierungspflicht nicht nur einem bestimmten Staat geschuldet wird. Das Protokoll und die zugrundeliegende Konvention gehören also nicht dem ersten Vertragstyp an, der lediglich in der BündeJung bilateraler Rechtbeziehungen besteht. Problematisch ist aber die Abgrenzung zwischen dem zweiten, integralen und dem dritten, objektiven Typ. Die Staaten sind verpflichtet, die Ernissionen in den Bereichen ihrer Hoheitsaus210 Womit nicht gesagt werden soll, daß die Seerechtskonvention lediglich ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen darstellt. In anderen Fällen weisen die Normen der Konvention andere Verpflichtungsstrukturen auf.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

übung zu reduzieren. Die Erfüllung der Pflichten findet also nicht im zwischenstaatlichen Bereich statt. Trotzdem liegt hier der Fall anders als bei der Artenvielfaltkonvention. Bei dieser macht die Erfüllung auch dann noch Sinn, wenn die anderen Parteien ihren Pflichten nicht nachkommen. Immerhin ist dann der Schutz der Lebensräume und die Erhaltung der Artenvielfalt in dem Staat, der erfüllt, gesichert. Die Reduzierungspflichten dagegen sind, obwohl die Erfüllungshandlungen nicht zwischenstaatlich vorgenommen werden, aufeinander bezogen: Die Reduzierung eines Staates für sich ist kaum sinnvoll. Die Zweckerreichung ist von der Erfüllung der Pflichten insgesamt abhängig. Danach entspricht Art. 2 des Montrealer Protokolls dem integralen Typ. Aber auch das ist bei näherer Betrachtung fraglich. Bei einem Vertrag des integralen Typs ist die Erfüllung der Pflichten einer Partei notwendig verknüpft mit der gleichzeitigen Erfüllung aller anderen Parteien. Erfüllt auch nur eine Partei nicht, so wird der Vertragszweck gefährdet. Hier sind die Reduzierungspflichten aufeinander bezogen. Ob aber die Nichterfüllung durch nur eine Partei den Vertragszweck gefährdet, erscheint zweifelhaft. Zumindest die Nichterfüllung kleinerer Staaten hat keinen nachhaltig Zerstörerischen Effekt auf den Vertrag. Letztlich wird man ein Abkommen wie das Montrealer Protokoll aber doch, wenn auch cum grano salis, dem integralen Typ zuordnen müssen, da dieser noch am ehesten die Struktur dieses Vertrages beschreibt. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß die drei verschiedenen Kategorien Idealtypen von Verträgen beschreiben. Geringfügige Abweichungen in der Realität sind damit unvermeidlich. Damit ist am Beispiel des Umweltvölkerrechts der Nachweis erbracht, daß die oben beschriebenen Kategorien multilateraler Verträge in der Praxis existieren.2ll Es wurde jedoch auch aufgezeigt, daß sie nicht unter allen Umständen ein paßgenaues Schema zur Klassifizierung aller Verträge bieten. Als Idealtypen können sie der Wirklichkeit nur bis zu einem gewissen Grade entsprechen. Die höhere Komplexität der Völkerrechtspraxis kann nicht vollständigerfaßt werden. Dieses Defizit liegt aber in dem Modellcharakter begründet und ist unvermeidlich. Der Blick auf die Vertragspraxis hat aber die Theorie im Prinzip bestätigt, indem die Beispielsverträge sich unter die Kategorien subsumieren ließen.

2 11 Siehe hierzu auch Art. 11 Abs. 2 der (Espoo-)Convention on Environmental Impact Assessment in a Transboundary Context, abgeruckt in: ILM 30 (1991 ), 800 ff., nach der jeder Staat gegen Pflichtverletzungen vorgehen kann.

§ 11 Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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§ 11 Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten I. Ausgangspunkt der Überlegungen Bis jetzt wurden multilaterale Verträge daraufbin untersucht, welche Verpflichtungsstrukturen unter den Parteien durch sie errichtet werden können. Zu einer Charakterisierung der verschiedenen Rechtsnaturen ist dies notwendig, aber nicht hinreichend. Der bisherige Gang der Untersuchung hatte gezeigt, daß die Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien und Drittstaaten bisweilen von Interesse sein können. So hatten der StiGH im Falle "Wimbledon"212 und der IGH im Rechtsgutachten "Reparations for Injuries" 213 sich mit dem Verhältnis von Dritten zu demjeweiligen Vertrag zu befassen. Im ersteren Fall befand das Gericht, daß durch Art. 380 des Versailler Vertrages der Nord-Ostsee-Kanal mit einem internationalisierten Status versehen worden sei, aufgrunddessen die Staaten, d. h. nicht nur die Parteien des Versailler Vertrages, in den Genuß des freien Durchfahrtsrechts durch den Kanal kommen. Durch den Vertrag konnten die Parteien also unmittelbar eine rechtliche Situation schaffen, die über ihren Kreis hinaus Rechtswirkungen erzeugte. 214 Ebenso stellte der IGH in seinem Rechtsgutachten fest, daß die Vereinten Nationen, die als juristische Person des Völkerrechts von den Gründungsstaaten ins Leben gerufen wurden, nicht bloß relative Rechtspersönlichkeit gegenüber den Parteien besitze, sondern auch die anderen Staaten verpflichtet seien, die rechtliche Existenz der UN anzuerkennen. In der kurzen Begründung dieser Rechtsauffassung erklärte das Gericht, "[ .. . ] that fifty states, representing the vast majority of members of the international community had the power in conformity with international law to bring into being an entity possessing objective international personality."215

Damit vertrat auch der IGH die Auffassung, daß durch einen multilateralen Vertrag ein Rechtzustand entstehen kann, aus dem Rechte und Pflichten nicht ausschließlich für die Parteien erwachsen.

PCIJ, Ser. A, No. 1 (1923). Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, ICJ-Reports 1949, 174. 2 14 s. dazu Böhmer, GYIL 36 (1995), 325 (329). 2 15 IGH, Reparations, 185. 212 213

1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

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II. Die "Pacta-tertiis"-Regel Die Art. 34-38 WVRK sehen vor, daß ein Vertrag grundsätzlich keine Rechtswirkungen in bezug auf Dritte entfaltet ("pacta tertiis nec nocent nec prosunt"). Diese Bestimmungen stellen eine Kodifikation des allgemeinen Völkerrechts dar. 216 Danach bedürfen Verträge, die Rechte oder Pflichten für Dritte vorsehen, der Zustimmung des zu Begünstigenden oder Belastenden. Im Falle eines Vertrages zugunsten Dritter ist die Regel indes nicht so strikt: Eine Zustimmung des Drittstaates ist zwar auch hier erforderlich, aber es werden keine hohen Anforderungen an die Form einer solchen Erklärung gestellt. Sie kann sogar vermutet werden, wenn der Vertrag nichts anderes vorsieht. Folglich können vertragsschließende Staaten regelmäßig durch Vertrag Dritten Rechte einräumen, es sei denn, daß diese Dritten dieses Recht ausdrücklich zurückweisen. Demzufolge sind Verträge zugunsten Dritter im Völkerrecht keine Problemfälle. Der Dritte kann das ihm eingeräumte Recht stillschweigend akzeptieren und es ausüben oder er protestiert. Er muß aber noch nicht einmal dies. Es reicht aus, wenn er das ihm eingeräumte Recht einfach nicht wahrnimmt, um in seiner Rechtsstellung nicht berührt zu werden. Demgegenüber ist die Verpflichtung eines Dritten durch völkerrechtlichen Vertrag grundsätzlich nicht möglich, ohne daß dieser ausdrücklich, nach der WVRK sogar in Schriftform, seine Zustimmung erklärt. Das dieturn des StiGH im "Wimbledon"-Fallläßt sich also "prima facie" mit dem allgemeinen Völkerrecht ohne Probleme vereinbaren. In "Reparations for Injuries" hingegen stellte der IGH fest, daß sich aus der UN-Charta als Gründungsdokument der Organisation Pflichten für dritte Staaten unmittelbar ergeben. Vor dem eben dargestellten Hintergrund der "Pacta-tertiis"-Regel erscheint, falls es keine Ausnahmen zu diesem Grundsatz gibt, diese Rechtsansicht zweifelhaft. Nicht nur jedoch im Hinblick auf die reinen Verträge zu Lasten Dritter ist eine genauere Untersuchung, ob und welche Ausnahmen es zu der "Pacta-tertiis"Regel gibt, von Bedeutung. Das Ziel des IGH in "Reparations for Injuries" war es, festzustellen, daß die UN als Rechtspersönlichkeit und die UN-Charta als Rechtsregime für Drittstaaten nicht völlig ohne Bedeutung sein können, sowohl in bezug auf Pflichten als auch auf Rechte. Dementsprechend sind auch bei anderen multilateralen Verträgen die Interessen der Vertragsparteien ausgerichtet: Es geht nicht so sehr darum, Dritten einseitig Pflichten aufzuerlegen, sondern Drittstaaten 21 6

Dahm, Völkerrechtiii, 1962, 112 ff.; Verdross/Simma, 482 ff.; Shaw, 579; Brownlie, 622.

§ ll Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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an eine durch den Vertrag begründete Rechtsordnung zu binden, sei es, weil dies im allgemeinen Interesse der Völkergemeinschaft liegt, sei es, weil ohne die Beteiligung möglichst aller Staaten die Rechtsordnung nicht effektiv sein kann.

111. Mögliche Ausnahmen Im folgenden wird zu untersuchen sein, ob es Ausnahmen zu dem Grundsatz gibt, daß Verträge keine Rechtswirkungen in bezugauf Dritte entfalten.

1. Das Urteil im North Sea Continental Shelf Case Schon im North Sea Contineotal Shelf Case217 erörterte der IGH die Wirkung eines Vertrages auf Dritte. Aus einem Vertrag kann allgemeines Völkerrecht werden: "In so far as this contention is based on the view that Article 6 of the Convention has had influence, and has produced the effect described, it clearly involves treating that Article as a norm-creating provision which has constituted the foundation of, or has generated a rule which, while only conventional or contractual in its origin, has since passed into the general corpus of internationallaw, and is now accepted as such by the opinio iuris, so as to have become binding even for countfies which have never, and do not, become parties to the Convention. There is no doubt that this process is a perfectly possible one and does from time to time occur: it constitutes indeed one of the recognised methods by which new rules of customary internationallaw may be formed. " 218

Der Prozeß, der hier beschrieben wird, betrifft in aller Regel Normen, die eine bestimmte Qualität aufweisen. Der IGH führt hierzu aus: "It would in the first place be necessary that the provision concerned should, at all events potentially, be of a fundamentally norm-creating character, such as could be regarded as fonning the basis of a general rule of law. "219

Dieses Merkmal wird auf multilaterale Konventionen oft zutreffen, da sie generell-abstrakt allgemeine Regeln des Völkerrechts kodifizieren. Indes ist das vom IGH hier betrachtete Phänomen der Rechtsgewinnung keines, das sich aus der unmittelbaren Bindungswirkung eines Vertrages für dritte Staaten ergibt. Vielmehr beschreibt das Gericht, wie sich eine Norm eines Vertrages zu 217 North Sea Continental Shelf Case (Federal Republic ofGermany v. Denmark; Federal Republic of Germany v. The Netherlands), ICJ-Reports 1969, 3. 218 IGH, North Sea Continental She1f Case, 41. 219 IGH, North Sea Continental Shelf Case, 41.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

einer des Gewohnheitsrechts entwickeln kann. Gebunden sind die Drittstaaten aber dann an das allgemeine Völkerrecht, nicht an den Vertrag. Somit ergibt sich hieraus keine Antwort auf die Frage des Verhältnisses von Drittstaaten zu multilateralen Verträgen. Ein anderes Ergebnis auf der Basis der Konstruktion der Entwicklung von allgemeinem Völkerrecht aus Verträgen erzielt D' Amato, indem er die zeitlichen Anforderungen an eine Gewohnheitsrechtsbildung dieser Art minimiert und sogar annimmt, daß die Bildung allgemeinen Völkerrechts nahezu in demselben Moment erfolgt, wie der Vertragsschluß. 220 Eine solche spontane Gewohnheitsrechtsbildung finde danach dann statt, wenn es sich bei der vertraglich fixierten Norm um einen Rechtssatz handele, der grundsätzlich von seiner Geltung her auf die gesamte Staatengemeinschaft ausgedehnt werden könne. 221 Diese Annahme hat einige praktische Vorzüge: sie umgeht das Problem der "Pacta-tertiis" -Regel und ermöglicht gleichzeitig eine Ausweitung der durch einen Vertrag begründeten Ordnung auf den Kreis der Nichtvertragsstaaten. Darüber hinaus ist die Dauer, die eine neue Regel des Gewohnheitsrechts braucht, um sich durchzusetzen, heute wesentlich geringer. So wird erwogen, in den Resolutionen der Generalversammlung der UN den Keim eines dadurch plötzlich entstehenden Gewohnheitsrechts zu sehen. 222 Wäre dies möglich, so stünden der These D' Amatos keine theoretischen Bedenken gegenüber. Dennoch ist es mehr als fraglich, ob eine solche Annahme mit dem Konzept des Völkergewohnheitsrechts überhaupt noch vereinbar ist. Zwar muß der deutsche Begriff des Gewohnheitsrechts, der eine gewisse Dauer bei der Rechtsbildung, eben eine Gewohnheit, voraussetzt, nicht der Maßstab sein, aber auch der IGH forderte zur Bildung von Gewohnheitsrecht ("customary law"), eine gewisse Dauer der Übung.223 Zwar ist das Element der Daueraufgrund der heute veränderten Möglichkeiten der zwischenstaatlichen Kommunikation und des deswegen gewachsenen zwischenstaatlichen Rechtsverkehrs heute von weit geringerer Bedeutung. 224 Jedoch bedarf es auch dann noch einer gewissen Staatenpraxis. 220 D 'Amato, The Concept of Custom in International Law, 1971, I 04; ders., International Law: Process and Prospect, 1987, 123-127. 22 1 D'Amato spricht von "generalizable provisions", siehe D'Amato, Concept, 104. 222 Die Rede ist dabei von "instant", "pressure cooked" oder "hothouse custom", siehe dazu Cheng, IJIL 5 (1965), 23 ff.; Jennings, Recuei1 des Cours 121 (1967-11), 334 f. 223 Asyl um Case (Columbia v. Peru), ICJ-Rep. 1951, 266 (276): "constant and uniform usage, accepted as law". 224 North Sea Continental ShelfCase (Federal Republic ofGermany v. Denmark; Federal Republic of Germany v. The Netherlands), ICJ-Reports 1969, 3 (42); dazu auch Verdross/Simma, 361 f.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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Ohne ein faktisches Handeln der Staaten, das Ausdruck ihrer Rechtsüberzeugung wäre, kann es nicht zu einer echten Gewohnheitsrechtsbildung kommen.

2. Statusverträge als territorial bezogene Regelungen "erga omnes" Im Wimbledon Fall urteilte der StiGH, daß durch Art. 380 des Versailler Vertrages alle Staaten in den Genuß eines freien Durchfahrtsrechts durch den Kieler Kanal kommen, unabhängig davon, ob sie Partei des Vertrages sind oder nicht. Schon vorher und bis heute hat es auch in anderen Fällen das Bedürfnis gegeben, territorial bezogene Regelungen mit Wirksamkeit erga ornnes zu haben, um den Status eines Gebiets völkerrechtlich festzulegen. Dabei wirken regelmäßig nicht alle Staaten, oft genug sogar nur einige wenige, an einem diesbezüglichen Vertragswerk mit. Trotzdem hängt die Effektivität eines solchen Statusregimes wesentlich davon ab, daß alle Staaten diesen Rechtszustand zu respektieren haben.

a) Waldocks Regelungsentwurf in Art. 63 seiner "Draft Articles" Sir Humphrey Waldock hat in seiner Eigenschaft als Sonderberichterstatter der ILC zum Recht der Verträge diesbezüglich einen Regelungsvorschlag unterbreitet. Er ging dabei von der Grundannahme aus, daß für bestimmte territorial bezogene Regelungen eine Geltung "erga ornnes" für die Effektivität des Regimes unerläßlich ist und behauptet, daß es in der Völkerrechtspraxis immer wieder Beispiele gegeben habe für solche Regelungen, die von einigen Staaten im Interesse und letztlich auch mit Anerkennung aller Staaten getroffen wurde.225 Dabei konnte er auf die Arbeiten früherer Völkerrechtler zurückgreifen. 226 Interessanterweise ging er auch hier nicht mit seinem Vorgänger Fitzmaurice konform, der noch 1960 eine Kodifizierung von Regeln über Statusverträge ablehnte. Seiner Auffassung nach schafften alle Verträge keine Rechte und Pflichten

225 Third Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1964, Vol. II, part 2, 26 ff. 226 Roxburgh, International Conventions and Third States, 1919, 56 ff., der den Begriff des "International Settlement" verwendete; Westlake, International Law, Vol. I, 1910, 321 ff.; McNair, The Law ofTreaties, 1961,266.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

für Dritte, aber einen Rechtszustand, der von anderen Staaten zu akzeptieren sei; für Statusverträge bestünden folglich diesbezüglich keine Ausnahmen.227 Für Waldock stellen Statusverträge ("treaties providing for objective regimes") eine besondere Kategorie völkerrechtlicher Abkommen dar, die nach generell-abstrakten Merkmalen von anderen Verträgen unterscheidbar sind und auch in den Rechtsfolgen generalisierbare Merkmale aufweisen. Deshalb schlug er in seinem Kodifikationsentwurf eine Bestimmung vor, die abschließend die Voraussetzungen und Rechtsfolgen von Statusverträgen regelt. Es handelt sich um Art. 63 228 • Danach zeichnet sich ein Statusvertrag dadurch aus, daß er eine gebietsbezogene Regelung einiger Staaten im Interesse aller ist. Darüber hinaus müssen die Parteien über die territoriale Kompetenz diesbezüglich verfügen. 229 Diese ergibt sich entweder aus der Regelungsbefugnis eines Vertragsstaates oder der Zustimmung eines regelungsbefugten Staates, der nicht Partei ist.

227 Fifth Report on the Law ofTreaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1960, Vol. II, 67 ff., insbes. Art. 16, 88 und Kommentar, 95 ff. 228 Der Wortlaut dieses Artikels: "Art. 63: Treaties Providing for Objective Regimes: I. A Treaty establishes an objective regime when it appears from its terms and from the circumstances of its conclusion that the intention of the parties is to create in the general interest general obligations and rights relating to a particular region, territory, locality, river, waterway, or to a particular area of sea, sea-bed, or air space; provided that the parties include among their number any State having territorial competence with reference to the subject-matter of the treaty, or any such state has consented to the provision in question. 2. (a) A State, not a party to the treaty, which expressly or impliedly consents to the creation or to the application of an objective regime, shall be considered to have accepted it. (b)A State, not a party to the treaty, which does not protest against or otherwise manifest its oppostion to the regime within a period of X years to the registration of the treaty with the Secretary General of the United Nations shall be considered to have impliedly accepted the regime. 3. AState which has accepted the regime ofthe kind referred to in paragraph I shall be(a) bound by any general obligation which it contains, and (b)entitled to invoke the provisions ofthe regime and to excercise any general right which it may contain subject to the terms and conditions of the treaty. 4. Unless the treaty otherwise provides, a regime of the kind referred to in paragraph I may be amended or revoked by the parties to the treaty only with the concurrence ofthose States which have expressly or impliedly accepted the regime and have a substantial interest in its functioning." Waldock, Fifth Report, 95. 229 Siehe zu diesem Element: Klein, Statusverträge im Völkerrecht, I 980, 209 ff.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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Die Bindungswirkung ergibt sich jedoch nicht aus dem Vertrag selbst: Sie tritt durch Akzeptanz des dritten Staates ein und auch nur bei den akzeptierenden Staaten. Eine Akzeptanz- und hier liegt der Unterschied zu herkönunlichen Verträgen- wird fingiert, wenn der betreffende Staat nicht innerhalb einer bestimmten Frist ausdrücklich erklärt, nicht an das Regime gebunden sein zu wollen. Insoweit besteht, jedenfalls prima facie, kein prinzipieller Unterschied zu herkönunlichen Verträgen, die Bindungswirkung auf Dritte entfalten können, wenn diese zustimmen. Im Falle eines Statusvertrages wird indes dem Dritten auferlegt, sich ausdrücklich gegen eine Bindung zu wehren, da sonst sein Einverständnis fingiert wird. Das hat zur Folge, daß eine Bindung eintritt, wenn er passiv bleibt. Ein Statusvertrag kann demnach Dritte nicht nur ohne ihren Willen verpflichten und berechtigen, sondern auch gegen ihren Willen, falls der Dritte den Willen nicht zum Ausdruck bringt. 230 Aber das Konzept des Statusvertrages ist in der Völkerrechtslehre nicht unumstritten: Neben vielen Befürwortern231 gibt es eine große Anzahl von Wissenschaftlern, die Statusverträge als völkerrechtlich nicht zulässig betrachten. Oft wird das Argument vorgebracht, daß es einer begrenzten Gruppe von Staaten nicht zukomme, eine Regelung mit Wirkung für die Allgemeinheit zu treffen. Eine solche Befugnis lasse sich nicht mit dem Prinzip der Staatengleichheit vereinbaren und sei deshalb abzulehnen. 232 Nicht zuletzt weil die Rechtslage in bezugauf territoriale Regimes mit Wirkung "erga omnes" in dieser Weise umstritten war und heute noch ist, fand die von Waldock vorgeschlagene Regelung keinen Eingang in die spätere WVRK. Dies bedeutet jedoch nicht notwendig, daß es sich bei Statusverträgen um eine Kategorie handelt, die in der Realität keine Entsprechung findet. Entscheidend ist hier, ob sich Beispiele aus der Staatenpraxis finden, nach denen der Nachweis der Existenz oder Nichtexistenz geführt werden kann.

Tomuschat, RdC 241 (1993-IV), 195 (270 f.); Subedi, GYIL 37 (1994 ), 162 (192 f.). z. B. Dahm, Völkerrecht, Bd. 111, 1961 , 173 ff.; Mosler, RdC 140 (1974-IV), I (234 ff.); Klein, 345; McNair, Law ofTreaties, 1961, 266; Dahm/Delbrück/Wolfrum, 3. 232 Siehe nur Wolfrum, Die Internationalisierung staatsfreier Räume, 1984, 96 ff.; Simma, Cornell International Law Journall9 (1986), 189 (201). 230

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I . Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

b) Statusverträge in der Völkerrechtspraxis Auch Waldock nimmt in Anspruch, mit dem Regelungsvorschlag nicht nur das Recht der Verträge weiterzuentwickeln, sondern auch auf einer Tradition in Völkerrechtspraxis und -lehre aufbauen zu können. Schon im 19. J ahrundert haben infolge des Wiener Kongresses die Großmächte im Sinne eines ius publicum europaeum den Versuch unternommen, für alle Mitglieder der damaligen Völkerrechtsfamilie verbindliches Recht zu setzen. Insbesondere ging es dabei, neben der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts der Mächte und der Pflege anderer Gemeinschaftsinteressen, wie der Abschaffung des Sklavenhandels, um die Regelung von Territorialfragen. So geht auch der Status der Schweiz als dauernd neutraler Staat auf die Legislativtätigkeit der Großmächte im europäischen Konzert zurück. 233 In solch einer Weise wurde von den Staaten in der Periode zwischen 1648 und 1815 eine Regelungskompetenz mit dem Anspruch, mit Wirkung "erga ornnes" Recht zu setzen, nicht behauptet. 234

( 1) Der Status der Aalandinsein Bei den Aalandinsein handelt es sich um eine Gruppe von Eilanden in der Ostsee am Eingang zum Bottnischen Meerbusen. Aufgrund dieser Lage sind sie von besonderem strategischen Interesse, und die Staaten hielten es für erforderlich, für die Inseln eine besondere Regelung zu treffen. Im Jahre 1856 wurde im Zusammenhang mit dem Abschluß des Pariser Friedensvertrages235 zwischen Großbritannien und Frankreich auf der einen und Rußland auf der anderen Seite ein die Aalandinsein betreffendes Annexabkommen geschlossen, 236 das aufgrund von Art. 33 des Pariser Vertrages in diesen inkorporiert wurde. Dieses Abkommen sah eine Demilitarisierung der Inselgruppe vor. Nach dem ersten Weltkrieg entstand Finnland als unabhängiger Staat und beanspruchte die Gebietshoheit über die Inseln. Dieser Anspruch wurde als solcher von den anderen Staaten auch nicht bestritten, es war jedoch unklar, ob Finnland die volle Souveränität über dieses Gebiet ausüben konnte, oder ob die Demili233 Siehe dazu: Bindschedler, EPIL, 4th lnst., 1982, 133 (134). 234 Siehe dazu oben, § 3. 235 Abgedruckt in: de Martens, Nouveau Recueil General I, Bd. 15, 770 ff. 236 Abgedruckt in: de Martens, Nouveau Recueil General I, Bd. 15, 788 ff.

§ I I Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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tarisierung auch gegenüber Finnland eine wirksame Beschränkung der Hoheitsausübung war. 237 Um diese Frage zu klären, wurde eine internationale Juristenkommission gebildet, die aus den Völkerrechtlern Larnaude, Huber und Struycken bestand. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß die im Abkommen zum Pariser Vertrag getroffenen Regeln auch gegenüber Finnland als noch nicht existent zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses wirksam seien. 238 Begründet wurde dies damit, daß die Parteien damals eine Regelung des "droit public europeen" getroffen hätten. 239 Dieses gesetzte Recht unterscheide sich von gewöhnlichen Verträgen dadurch, daß es über den Kreis der Vertragsparteien hinaus verbindlich sei, gleichsam objektives Recht setze. 240 Die Wirkung "erga omnes" ergebe sich daraus, daß die Demilitarisierung nicht aufgrund von partikularem, sondern im gesamteuropäischen Interesse erfolgte. Es bleibt noch zu erwähnen, daß die Mitglieder der Kommission nicht eine andere auch mögliche Begründung gewählt haben. Diese wäre die Annahme einer dinglichen Wirkung des Demilitarisierungsabkommens gewesen, so daß Finnland das Gebiet mit dieser dinglichen Belastung übernommen hätte. Im darauffolgenden Jahr stimmte der Völkerbundsrat in einer Resolution ausdrücklich der von Larnaude, Huber und Struycken entwickelten Rechtsansicht zu. 241 Ein großer Teil der zur damaligen Zeit existierenden Staaten war also der Auffassung, daß eine territorial bezogene Regelung von einigen Staaten mit Wirkung "erga omnes" getroffen werden kann, wenn die Regelung im Gemeinschaftsinteresse erfolgt. Vor dem Hintergrund der von Waldock und Klein vorgeschlagenen Definition wird deutlich, daß es sich bei der Aaland Inseln-Regelung um einen Statusvertrag handelt: Die Regelung war gebietsbezogen und erfolgte im gesamteuropäischen Interesse. Die Regelungskompetenz der Staaten folgt hier aber nicht aus der Souveränität, sondern aus der Wahrnehmung eines Mandats im Interesse der anderen europäischen Staaten. 242 237 Siehe dazu Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1981 , 2 ff.; Modeen, EPIL, Vol. I. I 992, 1 ff. (2); McNair, The Law of Treaties, 1961, 264. 238 Societe des Nations, Journal Officiel, Suppl. spec. No. 3 (Octobre 1920). 239 Ebenda, 17. 240 "Veritable droit objectir', ebenda, 17. 241 Resolution vom 24.06.1921, Societe des Nations, Journal Officiel, Suppl. spec., No. 5 (Juillet 1921 ), 24. 242 Siehe dazu Delbrück, "Laws in the Public Interest" - Some Observations on the Foundations and ldentification of erga omnes Norms in International Law, in: Götz/Selmer/ Wolfrum (Hrsg.), Liber amicorum Günther Jaenicke- Zum 85. Geburtstag, 1998, 12 (21 ).

7 Feist

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(2) Der territoriale Status von Südwestafrika (Namibia) Mit Ende des ersten Weltkrieges mußte Deutschland auf seine überseeischen Kolonien verzichten. Diese wurden nicht in die Unanbhängigkeit entlassen oder einer anderen Kolonialmacht übergeben, sondern gern. Art. 22 der Völkerbundssatzung als Mandatsgebiete ausgewiesen. Als "sacred trust of civilisation" sollten diese Gebiete unter dem Schutz des Völkerbundes verwaltet werden. Zu diesem Zweck wurden sie an einen Mandatar übertragen, der die unmittelbare Verwaltungshoheit ausübte, allerdings stellvertretend für den Völkerbund im Interesse der Staatengemeinschaft und der Einwohner des Mandatsgebietes. Dem Mandatar war insbesondere untersagt, das Mandatsgebiet zu annektieren oder sich in sonstiger Weise einzuverleiben. Das Mandat für die ehemalige Kolonie Südwestafrika wurde an die Südafrikanische Union, die spätere Republik Südafrika übertragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg behielt Südafrika die Verwaltungshoheit über Südwestafrika, verfolgte in diesem Zusammenhang aber nunmehr offensichtlich eine Annexion des Mandatsgebiets. 243 Die Generalversammlung der UN verabschiedete 1946 eine Resolution, in der sie diese Bestrebungen Südafrikas kritisierte. 244 Später äußerte die Generalversammlung in einer Resolution die Ansicht, daß Südwestafrika unter der Mandatsverwaltung bleiben sollte. 245 Daraufhin wurde der IGH angerufen und hatte sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, ob die Mandatsregelungen der Völkerbundssatzung und das Mandatsabkommen mit Südafrika rechtlich auch nach Auflösung des Völkerbundes bestand haben. Südafrika selbst vertrat die Rechtsauffassung, das Mandat sei mit dem Ende des Völkerbunds erloschen, da das Mandat auf vertraglicher Grundlage basiere und eine Vertragspartei untergegangen sei, ohne einen Rechtsnachfolger zu hinterlassen. 246 Der IGH hingegen nahm ein Fortbestehen des Mandats an, auch wenn es Südafrika dahingehend Recht gab, daß der Völkerbund ohne Rechtsnachfolger untergegangen sei. Das Bestehen des territorial bezogenen Mandatsregimes war

Siehe dazu Klein, IO f. Resolution on the Future Status of South West Africa, General Assembly, Journal No. 75, Suppl. A 64, Add. I, 883. 245 General Assembly Resolution 141 (II), UN Doc. A/519/47 f. 246 ICJ-P1eadings 1950, 74 ff. 243

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§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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jedoch nicht abhängig von der Existenz des Völkerbundes. 247 Diese Rechtsansicht behielt das Gericht in der Folgezeit bei, nachdem es immer wieder mit dem Rechtsstatus des ehemaligen Südwestafrika konfrontiert wurde. Noch 1971 äußerte sich das Gericht wie folgt: "To the question whether the continuance of a mandatewas inseperably linked with the existence of the League, the answer must be that an institution established for the fulfillment of a sacred trust cannot be presumed to tapse before the achievement of its purpose."248

Damit stellt der IGH klar, daß durch das Mandatsabkommen ein Rechtszustand begründet wird, der nicht mehr mit den Parteien verknüpft ist. Der Status eines Mandats hat damit nicht nur Wirkung für und gegen Dritte, sondern er bedeutet auch eine Rechtstatsache, die nicht mehr von den Parteien abhängig ist, indem sie losgelöst von deren Existenz weiterbesteht Lord McNair hat in seinem Sondervotum zu dem ersten Südwestafrikagutachten einen Standpunkt vertreten, wonach eine territorial bezogene Regelung einiger Staaten mit Wirkung "erga omnes" zulässig ist, wenn die maßgeblichen Mitglieder der Staatengemeinschaft im Interesse dieser Gemeinschaft eine solche Regelung treffen. Er schreibt wörtlich: "From time to time it happens that a group of great Powers, or a !arge number of States both great and small, assume apower to create by a multipartite treaty so me new international n!gime or status which soon acquires a degree of acceptance and durability extending beyond the Iimits of the actual contracting parties, and gi ving it an objecti ve existence. This power is used when some public interest is involved, and its existence often occurs in the course of a peace settlement at the end of a great war.''249

Diese Ansicht wurde von McNair, indes nicht nur bezüglich dieses konkreten Problems, auch an anderen Stellen vertreten. 250 Problematisch mag hierbei insbesondere seine Betonung der Rolle der Großmächte sein. Dies mutet eher als Remineszenz an die Struktur des "ius publicum europaeum" des Europäischen Konzerts an, das in der Tat für die führenden Großmächte, namentlich die Pentarchie, eine besondere Rolle sowohl in der internationalen Politik als auch in der völkerrechtlichen Rechtsetzung vorsah.

247 International Status of South West Africa, ICJ-Reports 1950, 132 f. 248 ICJ-Reports 1971, 32. 249 Separate opinion McNair, in: Legal Status of South West Africa, ICJ-Reports 1950, 146 (153). 250 Etwa in Law ofTreaties, 1961,260 ff.; BYIL VI (1925), 111 (123 ff.).

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

In der Tat wird die Idee des Statusvertrages auch vor diesem Hintergrund als nicht vereinbar mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten kritisiert. 251 Die Staatengleichheit im Völkerrecht bedeutetjedoch nicht, daß allen Staaten die gleiche Rolle zugewiesen werden muß. Insbesondere kennt auch das moderne Völkerrecht eine besondere Verantwortung der Großmächte, und in der UNCharta ist diese Rolle in Form der ständigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und dem damit verbundenen Vetorecht kodifiziert. In bezug auf Namibia/Südwestafrika wurde auch eine Anmaßung einiger Mächte niemals problematisiert. Rechtlich und politisch umstritten war die Position Südafrikas, das sein Hoheitsgebiet auf das Mandat ausdehnen wollte.

(3) Der Antarktisvertrag Insbesondere die Usurpation einer Legislativbefugnis zu Lasten Dritter wurde aber den Parteien des Antarktisvertrages vorgeworfen. Sie hätten unter Mißachtung der Interessen anderer Staaten, insbesondere der Entwicklungsländer, Dritte von Forschung und wirtschaftlicher Nutzung der Antarktis ausgeschlossen. Der Antarktisvertrag ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Staaten, die territoriale Ansprüche in der Antarktis angemeldet hatten, sich aber über die Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche nicht einigen konnten. Darüber hinaus wurden die USA und die UdSSR am Vertrag beteiligt. Ein vornehmliebes Ziel war es, die zum Teil kollidierenden Ansprüche miteinander auszugleichen, ohne daß die Staaten auf diese Ansprüche endgültig verzichten sollten. Aus diesem Grunde wurden die Gebietsansprüche gleichsam "auf Eis gelegt" und ein Verbot neuer Ansprüche in den Vertrag aufgenommen. Mit dem Antarktisvertrag verfolgten die Parteien aber auch noch andere Zwekke, die über diesen bloßen Ausgleich von territorialen Interessen hinausgingen. Dies wird schon in der Präambel des Vertrages deutlich, in der es heißt: "[ ... ]IN DER ERKENNTNIS, daß es im Interesse der gesamten Menschheit liegt, die Antarktis für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen und nicht zum Gegenstand internationaler Zwietracht werden zu lassen [ . ..]." 252

Entsprechend dieser Zwecksetzung sieht Art. l des Vertrages vor:

25 1 Wolfrum, Internationalisierung, 96 ff. ; Simma, Cornell International Law Journal 19 (1986), 189 (201). 252 Antarktisvertrag, UNTS Bd. 402, 71; BGBI. 1979 II, 420.

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"1) Die Antarktis wird nur für friedliche Zwecke genutzt. Es werden u. a. alle Maßnahmen militärischer Art, wie die Errichtung militärischer Stützpunkte und Befestigungen, die Durchführung militärischer Manöver sowie die Erprobung von Waffen jeder Art verboten. 2) Dieser Vertrag steht dem Einsatz militärischen Personals oder Materials für die wissenschaftliche Forschung oder für sonst friedfertige Zwecke nicht entgegen."

Damit ist die Antarktis vollständig demilitarisiert. Darüber hinaus soll die Nutzung der Antarktis durch die Vertragsparteien nicht eingeschränkt werden. Artikel 2 lautet dazu: "Die Freiheit der wissenschafltichen Forschung in der Antarktis und die Zusammenarbeit zu diesem Zweck, wie sie während des internationalen Geophysikalischen Jahres gehandhabt wurde, besteht nach Maßgabe dieses Vertrages fort."

Schließlich war man sich schon damals, obwohl die Zeit des eigentlichen Umweltvölkerrechts erst noch kommen sollte, der Tatsache der verheerenden Auswirkungen der Atomkraft auf die Umwelt bewußt und verbot in Art. 5 die Beseitigung radioaktiver Abfälle und die Durchführung von Kernexplosionen in der Antarktis. Geht man von diesen Teilen des Vertragstextes aus, so liegt die Annahme eines Statusvertrages im Falle des Antarktisvertrages nahe: Es handelt sich um eine territorial bezogene Regelung, die, jedenfalls soweit es die genannten Bereiche betrifft, im Interesse der Staatengemeinschaft getroffen werden sollte. Probleme ergeben sich jedoch bei der Subsumtion unter die anderen Elemente, die nach Waldock und Klein für einen Statusvertrag konstitutiv sind. Es sind dies die Intention zur Regelung "erga ornnes" und die diesbezügliche (territoriale) Kompetenz. Vielfach ist bemerkt worden, es sei gar nicht die Absicht der Parteien des Antarktisvertrages gewesen, die Antarktis mit einem Status zu versehen, der für alle anderen Staaten ebenfalls rechtlich verbindlich sein sollte. Da die Motivation zum Abschluß des Antarktisvertrages primär darin zu erblicken sei, daß die Staaten einen modus vivendi für die widerstreitenden Gebietsansprüche finden wollten und sie gleichsam "auf Eis" legten, handelt es sich in erster Linie um einen Handel zwischen den Parteien, die gar nicht daran dachten, ein objektives Regime zu begründen. 253 253 Simma, Cornell International Law Journal19 (1986), 201; Watts, International Law and the Antarctic System, 1992, 287; Honold, The Yale Law Journal87 (1977-78), 804 (836 f.); Podehl, Das Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag als Ergebnis der Verhandlungen über die Rohstoffnutzung in der Antarktis, 1993, 70 ff. ; im Erg. zust., aber mit anderer Begründung: Lefeber, NYIL 21 ( 1994), 81 ( 118 ff.); Crawford/Rothwell, Austr. YB oflnt. Law 13 (1992), 53 (54).

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Die Beobachtung, daß den Parteien die zumindest vorläufige Regelung der Gebietsansprüche wichtig war und eines der zentralen Leitmotive des Antarktisvertrags wurde, ist richtig, aber bei genauerer Betrachtung ergibt sich, daß erstens dies nicht der einzige Regelungsbereich des Vertrages ist und zweitens auch die Suspendierung der Gebietsansprüche "Erga-ornnes"-Charakter haben muß. Wie schon oben beschrieben, regelt der Antarktisvertrag unter anderem die Demilitarisierung, die Freiheit der Forschung und die Atomwaffenfreiheit Erforderlich für das Funktionieren dieser Ordnungen ist nicht zuletzt, daß es keine Staaten gibt, die als Nichtvertragsstaaten das Regime des Antarktisvertrages ignorieren und dem Vertrag zuwiderhandeln. In einem solchen Falle würde eine Vereinbarung dieser Ziele, die sich ihrer Wirkung nach auf die Vertragsparteien beschränkt, leer laufen und sinnlos werden. Die Postulation der Demilitarisierung etc. schließt folglich notwendig die Intention ein, die zur Verwirklichung dieser Ziele dienenden Normen mit Wirkung "erga ornnes" zu versehen. Darüber hinaus hat auch das "Auf-Eis-Legen" der Gebietsansprüche eine über die Vertragsparteien hinausgehende Komponente, da es darum ging, die Antarktis nicht der einseitigen Okkupation zu unterwerfen. Um dieses Ziel effektiv zu erreichen, bedarf es eines Okkupationsverbots "erga ornnes". Der Schluß vom Vertragszweck des Ausgleichs der Gebietsansprüche unter den Parteien auf die Regelungsintention bloß "inter partes" läßt sich bei genauerer Betrachtung in der Form nicht aufrechterhalten. Auch Art. 10 des Antarktisvertrages spricht gegen die Annahme, die Vertragsstaaten wollten lediglich einen modus vivendi ausschließlich "inter partes" finden. Nach dieser Bestimmung verpflichten sich die Staaten, dafür Sorge zu tragen, daß niemand in der Antarktis Aktivitäten entfaltet, die den Zielen des Vertrages zuwiderlaufen. Artikel 10 kann nur dahingehend verstanden werden, daß die Vertragsparteien nicht nur Handlungen ihrer eigenen Staatsangehörigen oder von Organen ihres Staates dieser Art verhindern, sondern nach dieser Vorschrift auch gegenüber Dritten intervenieren. Sonst wäre diese Norm überflüssig, da die Parteien ohnehin verpflichtet sind, sich den Vertragszielen gegenüber konform zu verhalten und entsprechend auch ihre eigenen Staatsangehörigen verpflichten können. Neben der Intention zur objektiven Regelung müßte es eine Anerkennung der geschaffenen Regeln durch die Staatengemeinschaft geben. Von einigen Völkerrechtlern wird angenommen, daß die Inanspruchnahme einer Regelungsbefugnis

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seitens der Vertragsstaaten legitim ist. 254 Diese Auffassung wird auch von einigen der Staaten des Antarktisvertrages geteilt. So heißt es in einer Stellungnahme Brasiliens, die im Zuge der Diskussion der Antarktisfrage in der UN dem Generalsekretär übermittelt wurde: "lt [der Antarktisvertrag] had substituted a potentially explosive situation of unilateral divergent claims and policies for an objecitve juridical framework valid erga omnes ( ••. ]. "2SS

Auf der anderen Seite gab es viele Staaten, die diese Rechtsauffassung nicht teilten, sondern im Gegenteil der Ansicht waren, daß die Parteien des Antarktisvertrages eine exklusive Regelungsbefugnis für sich in Anspruch nahmen, die sie gar nicht rechtmäßigerweise innehatten. 256 Viele der Nichtvertragsstaaten wollten die Antarktis als "common heritage of rnankind" unter der Aufsicht der UN verwaltet wissen. Diese Diskussion begleiteten mehrere Resolutionen der Generalversammlung. Diese erklärten die Antarktis zu einem Gebiet, das im Interesse aller Staaten von den UN verwaltet werden sollte. Gleichzeitig wurde aber betont, daß die Hauptzielsetzungen des Antarktisvertrages die Akzeptanz der Staatengemeinschaft finden. Abgesprochen wurde den Konsultativparteien die alleinige Kompetenz zur Regelung der Nutzung der Antarktis. Man kritisierte, daß die Parteien sich als exklusiver Klub die Schätze der Antarktis unter Ausschluß der anderen Staaten aufteilen wollten. Aber auch die Resolutionen der Generalversammlung, in denen betont wurde, daß die Antarktis ein Gebiet sei, dessen Verwaltung im Interesse der gesamten Völkergemeinschaft durch die UN erfolgen soll, wiederholen die beschriebenen Regelungsziele des Antarktisvertrages und stellen damit eine Anerkennung des dadurch errichteten Regimes dar. 257 254 Delbrück, Comment, in: Wolfrum (ed.), Antarctic Challenge III, 1988, 292; Song Li, Comrnent: The Legitimacy of Negotiating an Antarctic Mineral Resources Convention among the Antarctic Treaty Parties, in: Wolfrum (ed.), Antarctic Challenge 111, 1988, 308 (310 f.); Sollie, The Legitimacy of Negotiating an Antarctic Mineral Resources Convention among the Antarctic Treaty Parties, in: Wolfrum (ed.), Antarctic Challenge III, 1988, 297 (306 f.); Bimie, The Antarctic Regime and Third States, in: Wolfrum (ed.), Antarctic Challenge II, 1986, 239 (255 ff.); Subedi, GYIL 37 (1994), 162 (183 f.); Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 6. Aufl. 1990, 400; Bastid, Les traites dans Ia vie internationale, 1985, 153; Holloway, Modem Trends in Treaty Law, 1967, 596 ff. m Statement of Brazil, in: Question of Antarctica; Study requested under General Assembly Resolution 38177, Report of the Secretary General, Part Two: Views of States, Volume 2, UN Doc. A/39/583 (part 2) vol. II, 3. 256 Siehe dazu die Übersicht Ober die Ansicht der Staaten in: Question of Antarctica; Study requested under General Assembly Resolution 38177, Report of the Secretary General, UN Doc. A/39/583 (Part 1), 33 ff. 257 Siehe dazu die Resolutionen der Generalversammlung: GA Res. 38177, GAOR 38th session, Suppl. No. 47, UN Doc. A/38/47, 69 f.; GA Res. 39/152, GAOR 39th session,

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Aufgrund der Opposition vieler Staaten zur venneintlichen oder tatsächlichen Exklusivität der Konsultativparteien des Antarktisvertrages stehtjedoch fest, daß dem Regime insgesamt die Akzeptanz fehlt. Dies wird als ein Grund angesehen, dem Vertrag die Statuseigenschaft abzusprechen. 258 Geht man jedoch mit Waldock259 davon aus, daß zur Statusbegründung ausreichend, aber auch erforderlich, die Akzeptanz der allgemeinen Regeln eines Abkommens sind und sich die "Erga-ornnes"-Wirkung des Statusregimes auch nur auf diese allgemeinen Regeln beziehen, so kann man aus diesem Grunde auch zum gegenteiligen Ergebnis kommen. Da gerade die allgemeinen Regeln für die Antarktis -Demilitarisierung, Atomwaffenfreiheit und Freiheit der Forschung- durch die Staatengemeinschaft anerkannt sind, ist die Möglichkeit eines Statusregimes, das sich lediglich auf diese Regeln bezieht, gegeben. Aber auch wenn man eine Intention der Parteien zur Begründung eines Status mit Wirkung "erga ornnes" annimmt und auch eine Akzeptanz dieses Status durch die Staatengemeinschaft sieht, so bleibt immer noch das Problem, ob die Staaten die diesbezügliche Regelungskompetenz hatten. Nach den oben zugrunde gelegten Kriterien ist die Kompetenz eine weitere Voraussetzung für ein wirksames territoriales Regime, das auch Dritten gegenüber rechtswirksam ist. Im Falle des Nord-Ostsee-Kanals konnte man die territoriale Kompetenz zwanglos aus der Gebietshoheit Deutschlands herleiten. Im Falle der Antarktis geht dies nicht, weil einige Staaten des Vertrages zwar Gebietsansprüche stellen, die Ansprüche aber niemals von der Staatengemeinschaft anerkannt wurden. 260 Aber nicht nur aus der fehlenden Akzeptanz, sondern auch aus der fehlenden Effektivität der friedlichen Okkupationen der jeweiligen Gebiete folgen Gründe, die eine Kompetenzbegründung auf territoriale Hoheit ausschließen. Demzufolge kann man auch nicht eine territoriale Kompentenz auf die Gebietshoheit der Antarktisvertragsstaaten stützen. 261 Entsprechend wird argumentiert, daß eine wirksame Kompetenzbegründung mit Wirkung "erga ornnes" hier ausscheide, weil ein Staat oder einige Staaten Suppl. No. 53, UN Doc. N40143, 94; GA Res. 401156, GAOR 40th session, Suppl. No. 53, UN Doc. N40153, 70; GA Res. 441124 B, GAOR 44th session, Suppl. No. 49, UN Doc. N44/49, 91. 258 Lefeber, 118 ff. 259 Waldock, Third Report, 26, 33. 260 Siehe dazu Podehl, 70 ff. 26 1 Podehl, 70 ff. ; Lefeber, 119; Bilder, The Present Legal and Political Situation in Antarctica, in: Chamey (ed.), The New Nationalism and the Use of Common Spaces, 1982, 167 (168 f.); Aubum, Antarctic Law and. Politics, 1982, 25; Wolfrum, Internationalisierung, 48.

§ 11 Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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über einen staatsfreien Raum nicht bestimmen können. Dies widerspreche der Staatengleichheit 262 Wenn man sich vergegenwärtigt, daß kein Staat ein besseres Recht auf die Verfügung über "terra nullius" als ein anderer hat, so ergibt sich daraus, daß eine territoriale Regelungskompetenz für einen staatsfreien Raum von den regelungswilligen Staaten nicht einseitig behauptet werden kann, es sei denn, es treten besondere Gründe hinzu, die zwar nicht eine Ausnahme zum Prinzip der Staatengleichheit darstellen, aber einen Rechtfertigungsgrund für eine Kompetenzbegründung "erga ornnes" bilden. Die hier relevanten Regelungen für die Antarktis erinnern an eine treuhänderische Verwaltung oder an eine Geschäftsführung ohne Auftrag im Dienste der Gemeinschaft. Viele Mitglieder der damaligen Staatengemeinschaft waren damals, als der Antarktisvertrag geschlossen wurde, weder willens noch in der Lage, sich an der Erforschung und Erschließung dieses Kontinents zu beteiligen. Insoweit bestand auch kein aktuelles Interesse dieser Staaten an einer Beteiligung am Antarktisvertrag. Erst später wurden sich insbesondere viele Entwicklungsländer der Tatsache bewußt, daß die Antarktis möglicherweise wirtschaftlich interessant ist und drängten auf eine stärkere Beteiligung durch die UN. Die Tatsache, daß sich zur Zeit des Abschlusses des Antarktisvertrages die meisten Staaten nicht für dieses Gebiet interessiert hatten, machte es den ursprünglichen Vertragsparteien möglich, eine Regelung zwischen sich auszuhandeln. Die Kompetenz, die allgemeinen Regeln des Vertrages mit Wirkung "erga ornnes" zu versehen, ergibt sich dabei aus einer Konstruktion, die der Geschäftsführung ohne Auftrag vergleichbar ist. Die Staaten, die nicht am Antarktisvertrag beteiligt waren, haben die Regelungskompetenz stillschweigend auf die Vertragsparteien übertragen, um zum Wohle aller ein gebietsbezogenes Regime einzurichten. 263 Dies trifft jedenfalls auf die besprochenen allgemeinen Regeln des Vertrages zu. Anderes mag für die Inanspruchnahme anderer Kompetenzen der Konsultativparteien, insbesondere für die Bodenschätze, gelten. Aber in bezug auf die Demiltiarisierung, die Freiheit der Forschung und die Atomwaffenfreiheit264 wurde nie ein Protest der NichtvertragsWolfrum, Internationalisierung, 96 ff. Klein, Diskussionsbeitrag, in: Wolfrum (ed.), Antarctic Challenge II, 1986, 338 (341 f.); zust. wohl auch Delbrück, Comment, 292; siehe zur Konstruktion der Regelungsbefugnis als Geschäftsführung ohne Auftrag auch Ballreich, Völkerrechtliche Verträge zu Lasten Dritter, in: Festschrift für Bilfinger zum 75. Geburtstag, 1954, I (24 ff.). 264 Siehe dazu auch Joyner, The International Journal of Marine Policy and Coastal Law 10 (1995), 30 I (305). 262 263

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

staaten laut. Jedenfalls insoweit ist die Annahme eines Statusvertrages gerechtfertigt.

3. Andere Verträge mit Wirkung "erga omnes" Gerade in jüngster Zeit, aber auch schon früher, hat sich die Frage der Drittwirkung multilateraler Verträge nicht nur für gebietsbezogene Abkommen, sondern auch für andere Regelungen, die Staaten vermeintlich oder tatsächlich im Interesse der Allgemeinheit getroffen haben, gestellt. Insbesondere die Verteilung knapper Ressourcen sowie die Problematik des internationalen Umweltschutzes sind hier als Bereiche zu nennen. Um nur ein Beispiel anzugeben: Es läßt sich ein wirksamer Schutz der Umwelt auf dem Tiefseeboden nur durch ein Regime erreichen, das alle Staaten zu beachten verpflichtet sind. Andernfalls wären selbst bei fast universeller Geltung eines rechtlichen Schutzsystems die Ziele eines solchen Abkommens nicht erreichbar, wenn nur wenige Staaten nicht verpflichtet werden könnten. Diese Staaten könnten als "Trittbrettfahrer" von den Vorteilen einer Regelung profitieren, indem sie z. B. ohne Konkurrenz Dritter an die Bodenschätze auf dem Tiefseeboden herankämen, aber selbst keinen rechtlichen Beschränkungen hinsichtlich des Abbaus ausgesetzt wären. Auch im Bereich des Schutzes der Umwelt jenseits nationaler Jurisdiktionsbereiche ist die Universalität der diesbezüglichen Regelungen von großer Bedeutung. So können weder die Ozonschicht noch das Weltklima effektiv geschützt werden, wenn die Staaten nicht möglichst umfassend an Schutzregimes gebunden werden, auch wenn sie dies, etwa wegen wirtschaftlicher Nachteile, nicht wünschen.265 Letztlich ist auch die Sicherung des Weltfriedens von der Verpflichtung aller Staaten abhängig, an dessen Erhaltung rnitzuarbeiten. Im folgenden soll deshalb an einigen ausgewählten Beispielen aufgezeigt werden, ob sich eine Drittwirkung von multilateralen Verträgen auch jenseits von Statusverträgen ergeben und wie eine solche Wirkung dogmatisch begründet werden kann. Konnte die Begründung eines Statusregimes noch an die territoriale Kompetenz der Vertragsparteien oder die Zustimmung des Inhabers oder der Inhaber der Kompetenz zurückgeführt werden, so besteht diese Möglichkeit für Abkommen, die nicht territorial bezogen

265 s. dazu die Beiträge und Diskussionen in: Delbrück (ed.), Allocation of Law Enforcement Authority in the International System, 1995, und ders. (ed.), New Trends in International Lawmaking- International "Legislation" in the Public Interest, 1997.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

I 07

sind, nicht, während die anderen Elemente des Statusvertrages im Prinzip für eine Ausdehnung auf andere Verträge mit Wirkung "erga ornnes" taugen.

a) Ausgangspunkt: Die sich wandelnde Rolle des Gemeinschaftsinteresses vor dem Hintergrund zunehmender Interdependenz Wie schon erwähnt, ist der Ausgangspunkt für das Bedürnfnis einer Ausweitung der Geltung multilateraler Verträge über den Kreis der Parteien hinaus die veränderte Struktur des internationalen Systems: In der klassischen Periode waren die Staaten souverän in dem Sinne, daß die Existenz des Staates nicht von der Sicherung überstaatlicher Rahmenbedingungen abhing. Demzufolge bestanden während der klassischen Periode keine oder kaum Allgemeininteressen. Die Struktur des Völkerrechts war, wie oben nachgewiesen wurde, streng bilateralistisch, und die Regelungen dienten letztlich dem Ausgleich widerstreitender Interessen. Erste Anzeichen von Regelungen "erga ornnes" im Gemeinschaftsinteresse sind ab 1815 zu erblicken, jedoch blieb die grundsätzliche Struktur weitgehend erhalten. 266 Die gemeinsamen Interessen der Staaten spielten damals noch keine so entscheidende Rolle. Weder bestand die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, noch war das Überleben der gesamten Menschheit durch immer knapper werdende Ressourcen oder die dramatische Veränderung der globalen Umwelt gefährdet. In der heutigen Zeit stellen aber gerade diese Probleme das Völkerrecht immer wieder vor neue Regelungsaufgaben.267 So hat Wolfgang Friedmann schon 1964 festgestellt, daß sichangesichtsder zunehmenden Interdependenz der Staaten das klassische Souveränitätsdogma nicht halten lassen werde, 268 da es zur faktischen Situation nicht mehr passe, zu behaupten, daß die Staaten voneinander unabhängig seien. Ihm zufolge werde die Angewiesenheit der Staaten aufeinander das Staatensystem von einem internationalen in ein transnationales, in einigen Bereichen in ein supranationales, umwandeln.269 Entsprechend dieser Entwicklung werde auch das Völkerrecht eine Evolution vom Recht der Koexistenz zu einem der Kooperation, das nicht der Abgrenzung der Souveränitätsbereiche, sondern der Pflege gemeinsamer Inter266 Siehe aber schon Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten als Rechtsbuch dargestellt, 3. Aufl., 1878, !II, der davon ausgeht, daß die Internationale Legislative zur Regelung gemeinsamer Interessen sich auf Staatenkongresse verlagern wird, auf denen in der Zukunft auch Mehrheitsentscheidungen Recht setzen können sollen. 267 Tomuschat, Obligations, 212 f. 268 Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, 16 f. 269 Friedmann, 37 ff.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

essen diene, durchlaufen. 270 Dabei werde sich insbesondere im Bereich der multilateralen Verträge eine Wandlung vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip vollziehen. 271 Entsprechende Ansichten vertraten zu dieser Zeit auch andere Völkerrechtler, die dem Völkerrecht des modernen Staatensystems andere Aufgaben zumaßen. 272 Allerdings hatten diese Ansichten zu ihrer Zeit wenig Einfluß auf die völkerrechtliche Rechtsetzung im Bereich des Rechts der Verträge. Insbesondere die WVRK hielt in konservativer Weise an der strikten "Pacta-tertiis"-Regel fest. In der Völkerrechtslehre wurde die Idee der Bindung von Staaten an Normen gegen ihren Willen, wenn diese Regeln dem Allgemeininteresse dienen, nie gänzlich aufgegeben. Gerade in jüngerer Zeit wird vielfach vertreten, daß einzelne Staaten sich nicht auf ihre Souveränität berufen könnten, wenn es um den Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter gehe. Eine Bindung an diesbezügliche Regeln finde ohne oder gar gegen ihren ausdrücklichen Willen statt. 273 Dabei beruft man sich zum Teil darauf, daß das Gemeinschaftsinteresse selbst so überragend sein kann, daß dessen bloße Existenz schon die Rechtsregel erzeugt.274 Andere wiederum gehen davon aus, daß die Regeln, an die Dritte gegen

°Friedmann, 61 f.

27

Friedmann, 126; allerdings bezog er dies mehr auf den Prozeß der Vertragsänderung. Strukturell ist dies aber mit der Ausweitung des Vertrages auf Dritte vergleichbar, da hier wie dort eine Rechtssetzung mit Wirkung für Dritte ohne oder sogar gegen ihren Willen erfolgt. 272 Ballreich, 23 ff. ; Holloway, 596 ff.; Kelsen, Principles of Public International Law, 1952, 347 f.; Brierly, The Law of Nations, 6. Aufl., Waldock (ed.), 1963, 322 f.; Lalive, BYIL 24 (1947), 72 (84 ff.); Jessup, A Modem Law ofNations, 1948, 133, 135. 273 Tomuschat, BDGVR, Heft 28 (1988), 9, 34 ff.; ders., RdC 241 (1993-IV), 195 (269); Delbrück, The Impact of the Allocation of International Law Enforcement Authority on the International Legal Order, in: ders. (ed.), Allocation of International Law Enforcement Authority in the International System, 1995, 135 (149); Dahm/Delbrück/Wolfrum, 54; Chamey, AJIL 87 (1993), 529 (547 f.); Brunee, ZaöRV 49 (1989), 791 (793 ff.); Riede[, International Environmental Law - A Law to Serve the Public Interest?- An Analysis of the Binding Effect of Basic Principles (Public Interest Norms), in: Delbrück (ed.), New Trends in International Lawmaking- International ,Legislation' in the Public lnterest, 1997, 61 (89 ff.) ; Simma, Diskussionsbeitrag: Völkerrechtlicher Vertrag und Drittstaaten, BGDVR, Heft 28 (1988), 127 (129); Wolfrum, Diskussionsbeitrag: Völkerrechtlicher Vertrag und Drittstaaten, BGDVR, Heft 28 (1988), 131 ; Capotorti, RdC 248 (1994-IV), 9(171). 274 Brunee, 794. 271

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

I 09

ihren Willen gebunden sind, nur die Konkretisierungen ohnehin bestehender Kooperationspflichten darstellen. 275 Einen anderen Ansatz als die in den vorherigen Fußnoten genannten Autoren vertritt Oxman. 276 Seiner Auffassung nach könne das Problem der allgemeinen Durchsetzung von Normen, die überragend wichtige Gemeinschaftsinteressen schützten, auch mit den Mitteln des klassischen Völkerrechts erreicht werden: So werde z. B. im Rahmen der ICAO ein verbindlicher Standard für alle Luftfahrzeuge erreicht, indem die Staatenmehrheit, die diese Standards setze, Flugzeugen aus anderen Staaten, die diese Standards nicht befolgten, die Landung auf ihren Flughäfen verweigere. Ebenso würden im Rahmen des Wiener Übereinkommens zum Schutze der Ozonschicht sich die Vertragsstaaten verpflichten, Produkte aus Drittstaaten, die unter Nichteinhaltung der Standards der Konvention hergestellt worden seien, nicht einführen. So würde das Übereinkommen praktisch universelle Anwendung finden. Oxrnan bietet hier einen gangbaren Weg für viele Sachbereiche, jedoch kein in jedem Fall anwendbares Konzept. Während man den Flugzeugen die Nichterfüllung der Standards ansieht und den Produkten, die unter Nichteinhaltung der Werte des Übereinkommens hergestellt wurden, diese Eigenschaft anhaftet, so ist dies nicht so z. B. bei Fischen, die unter Verletzung eines Schutzregimes gefangen wurden. Folglich stellen sich die Fragen, wie das Allgemeininteresse, kraft dessen eine Drittwirkung stattfindet, definiert ist und wer diese Definition in verbindlicher Weise vornehmen kann. Darüber hinaus ist zu fragen, ob eine Drittbindung nicht mit fundamentalen Strukturprinzipien des allgemeinen Völkerrechts kollidiert. (1) Die Definition des Allgemeininteresses

Grundsätzlich sind hierbei zwei Ansätze möglich: ein naturrechtlicher und ein positivistischer. Ersterer hat seinen Ausgangspunkt in der Annahme von übergeordneten Interessen, die nicht zur Disposition stehen und unabhängig vom Willen der Staaten existieren.277 Tomuschat, BGDVR, Heft 28 (1988), 34 ff. Oxman, ZaöRV 55 (1995), 536 (540); ders., The International Commons, the International Public Interest and New Modes of International Lawmaking, in: Delbrück (ed.), New Trends in International Lawmaking- International ,Legislation · in the Public Interest, 1997, 2 (40 ff.). 277 In diese Richtung geht die Annahme einer zwischenstaatlichen "volonte generale" von Ballreich, 24 ff.; siehe dazu auch Riede[, 89 ff. 275

276

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Die Annahme von solchen vorgegebenen Werten läßt sich letztlich nicht beweisen. Damit sind vorgegebene Werte aber auch nicht widerlegt. Entscheidend ist jedoch, daß vorgegebene Werte in der Rechtsbildung auf internationaler Ebene keine Auswirkungen zeigen. Effektiv sind Werte nur, wenn sie von den Staaten selbst gesetzt werden. 278 Es bleibt also nur die Berücksichtigung der von den Staaten selbst formulierten Interessen. Die Formulierung eines Gemeininteresses muß dabei, da es nicht vorgegeben ist, aus der Kombination der Individualinteressen erfolgen. 279 Jedoch ist die bloße Addition sich zufällig entsprechender Interessen zur Bildung eines Gemeinschaftsinteresses nicht ausreichend. Geht es z. B. um den Schutz einer gemeinsamen knappen Ressource, so hat jeder Staat individuell das Interesse, möglichst viel von der Ressource zu bekommen, bevor sie durch die anderen Staaten verbraucht wird. Jeder Staat hat dasselbe Interesse am möglichst ungehinderten Zugang zur Ressource. Die bloße Addition dieser Individualinteressen zu einem Gemeinschaftsinteresse wäre absurd, da dann das Gemeinschaftsinteresse lauten würde, die Ressource möglichst schnell und rücksichtslos zu verbrauchen. Aber dieses Interesse ist lediglich ein kurzfristiges. Mittel- bis langfistig hat jeder Staat ein Interesse daran, die Ressource zu erhalten, um sie auch in Zukunft nutzen zu können. Zu unterscheiden sind folglich kurz-, mittel- und langfristige Interessen. Nur diese mittel- und langfristigen Interessen können sich in ihrer Addition zu einem Gemeinschaftsinteresse entwickeln. Dabei sind verschiedene Arten von konformen Interessen zu unterscheiden: 280 Zunächst gibt es solche, die sich aus der zufälligen Deckung von Individualinteressen ergeben ("coinciding interests"). Demgegenüber verursacht die Entsprechung von mittel- und langfristigen Individualinteressen ein stabileres geteiltes Interesse ("shared interest"). Aber erst die überragend wichtige Bedeutung für die Allgemeinheit macht aus einem solchen geteilten Interesse ein Gemeinschaftsinteresse ("common concern of mankind"). Solche sind immer da zu vermuten, wo bei Verletzung das Bestehen der Staatengemeinschaft insgesamt gefährdet sein kann oder gar das Überleben der Menschheit. 281 Namentlich sind dies der Schutz der Umwelt und die Bewirtschaf-

278 Annacker, Die Durchsetzung von erga omnes Verpflichtungen vor dem Internationalen Gerichtshof, 1994, 32. 279 Annacker, 32. 280 Brunee, 807 f.; Riede/, 17. 281 Stocker, Das Prinzip des Common Heritage of Mankind als Ausdruck des Staatengemeinschaftsinteresses im Völkerrecht, 1993, 16 f. ; Schneider, World Public Order ofthe Environment. Towards an International Law and Organization, 1979, 9; Komicker, lus Cogens und Umweltvölkerrecht, 1997,44 f.

§ ll Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

111

tung knapper, gemeinsam genutzter Ressourcen sowie die Erhaltung des Weltfriedens. 282

(2) Die Definitionsmacht ,.erga omnes" Nun stellt sich die Frage, wer die Kompetenz hat, zu bestimmen, wie diese Gemeinschaftsinteressen konkret auch gegen den Willen einzelner Staaten von allen zu schützen sind. Im Rahmen der Statusverträge gab es an dieser Stelle die territoriale Kompetenz, kraft derer Staaten befugt waren, Normen mit Wirkung "erga ornnes" zu setzen. Eine vergleichbare Möglichkeit scheidet hier aber aus. Im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. Jahrhundert nahmen einige an, daß den Großmächten aufgrund ihrer besonderen Verantwortung so etwas wie die Befugnis zukam, im Interesse aller verbindliche Regelungen zu treffen. Zwar könnte man in der Tatsache der ständigen Mitgliedschaft der Großmächte im Sicherheitsrat der UN eine völkerrechtliche Anerkennung der Großmachtstellung auch heute noch erkennen, aber auf der anderen Seite verbietet die in Art. 2 Abs. 1 UN-Charta verbriefte Staatengleichheit, solch eine Befugnisapriori für diese Staaten anzunehmen. Wenn man auch das Gemeinschaftsinteresse letztlich auf die Summe der Individualinteressen zurückführen muß, so muß die Befugnis zur Definition des Interesses analog dazu bei den Staaten in ihrer Gesamtheit liegen. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß alle Staaten hierbei zustimmen müssen, denn in diesem Falle gäbe es das Problem der Drittwirkung gar nicht und außerdem würde dann die Formulierung eines Gemeinschaftsinteresses nahazu ausgeschlossen, da es immer mindestens einen Staat geben wird, der Einspruch erhebt bzw. sich auf andere Weise entzieht. Ausreichend, aber erforderlich ist also die Formulierung des Gemeinschaftsinteresses durch die weit überwiegende Mehrheit der Staaten. Hinzu kommen muß jedoch schließlich ein prozedurales Element. Wie sich schon in der "Pacta-tertiis"-Regel ausdrückt, soll kein Staat an vertragliche Regeln gebunden sein, denen er nicht zugestimmt hat. Wenn auch ausgehend von den Statusverträgen diese strikte Regel nicht unter allen Umständen Bestand haben kann, so drückt sich doch darin ein allgemeinerer Rechtsgedanke aus: kein Teilnehmer einer Rechtsgemeinschaft soll durch Regeln verpflichtet werden, an deren Entstehung er keinen Anteil hat. Daraus ergibt sich als Gebot prozeduraler Fair-

282

Komicker, 45 ff.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

ness, 283 daß kein Staat an eine Regelung im Gemeinschaftsinteresse gebunden werden kann, wenn er nicht zumindest die Chance der Beteiligung hatte und somit seinerseits Einfluß auf die Rechtsgestaltung nehmen konnte. 284

(3) Zur Vereinbarkeif dieser Definitionsmacht mit allgemeinen Strukturprinzipien des Völkerrechts Es fragt sich aber, ob selbst die überwältigende Mehrheit der Staaten die Kompetenz haben kann, ein Gemeinschaftsinteresse zu definieren, aus dem sich Normen ergeben, die Bindungswirkung auch für Staaten entfalten, die ihnen nicht zugestimmt haben. Ein gewichtiges Argument gegen eine solche Annahme ergibt sich aus dem Urteil des StiGH im Lotus-Fall. Darin heißt es: "Intemationallaw govems relations between independent States. The rules oflaw binding upon States therefore ernanale from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and established in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrietions upon the independence of States cannot therefore be presumed."285 Damit erkennt zwar der StiGH an, daß es so etwas wie rechtlich relevante Allgemeininteressen im internationalen System gibt, die sich im positiven Völkerrecht niederschlagen. Gleichzeitig leugnet er jedoch die Möglichkeit einer Bindung der Staaten an Rechtsnormen, wenn sie nicht mit zumindest der konkludenten ("acquiesence") Zustimmung der Staaten erfolgt. Sollte die Annahme des Gerichts auch den heutigen Stand des Völkerrechts widerspiegeln, wäre in der Tat eine Drittwirkung von multilateralen Verträgen, die dem Gemeinschaftsinteresse dienen, nicht möglich. Es fragt sich aber, ob dieser rein voluntaristische Ansatz des StiGH im Lotus-Fall nicht überholt ist.

Siehe dazu Franck, Fairness in International Law and Institutions, 1995, 7. Delbrück, .,Laws in the Public Interest", 246, 34 f.; Ziemer, Das gemeinsame Interesse an einer Regelung der Hochseefischerei, 2000, 266 ff.; in dieser Richtung auch Dicke, 283

284

National lnterest vs. the lnterest of the International Community - A Critical Review of Recent UN Security Council Practice, in: Delbrück (ed.), New Trends in International Lawmaking- International ,Legislation' in the Public Interest, 1997, 145 (167), in bezug auf die Legitimität des Sicherheitsrates Allgemeininteressen zu definieren und durchzusetzen. 285 The Lotus Case (France v. Turkey), PCIJ, Ser. A, No. 10, 18.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

113

Zwar vertritt Prosper Weil, daß auch heute noch das Völkerrecht auf einer bilateralistischen Struktur aufbaue. 286 Er argumentiert gegen die Annahme von "ius cogens" und "Erga-ornnes"-Normen und behauptet, daß diese Kategorien dem Völkerrecht sein festes Strukturprinzip raubten, ohne es durch ein brauchbares neues zu ersetzen. 287 Letztlich führe die Annahme einer Normhierarchie nur dazu, daß Rechtsunsicherheit bestehe, die für das System insgesamt negativ sei. Aber gegen diesen Ansatz wurde überzeugend der Beweis geführt, daß es im Völkerrecht, wie auch in anderen Rechtssystemen Normhierarchien gibt. 288 Entscheidend gegen die Annahme, daß die "Lotus-Formel" noch immer gilt, spricht aber vornehmlich die seit den zwanziger Jahren gewandelte Struktur des internationalen Systems. Standen sich früher die Staaten weitgehend autonom gegenüber und war die zwischenstaatliche Zusammenarbeit nicht in diesem Maße überlebensnotwendig, so besteht diese Autonomie heute faktisch nicht mehr. Wie oben schon nachgewiesen wurde, haben globale Probleme, wie Friedenssicherung, die Verteilung knapper Ressourcen und der Umweltschutz, zu einer wechselseitigen Abhängigkeit geführt. Bisweilen wird sogar angenommen, daß bei der Lösung dieser Probleme die staatliche oder die zwischenstaatliche Ebene nicht mehr die entscheidenden Foren sind, sondern daß hier eine Globalisierung über die Internationalisierung hinaus stattfindet. 289 Die Frage ist aber, inwiefern dieser Wandel des Systems auch zu einem Wandel der Strukturen des Rechts führt. Kannaufgrund der Bedeutung eines Gemeinschaftsinteresses eine Bindung von Staaten gegen ihren Willen an Normen, die dem Schutz eines solchen Interesses dienen, stattfinden? Im Bereich der Gewohnheitsrechtsbildung kann man beobachten, daß mit einem streng voluntaristischen Ansatz nicht mehr alles erklärbar ist. Zwar kann grundsätzlich ein Staat, der durch eine gewohnheitsrechtliche Norm nicht gebunden werden will, die Rolle eines "persistent objector" annehmen, indem er klar und unmißverständlich zum Ausdruck gibt, daß die fragliche Regel für ihn nicht gelten soll. 290 Aber die Anerkennung der Kategorie von "lus-cogens"-Normen führte dazu, daß es gewisse Rechtssätze im Völkerrecht gibt, die es einem Staat nicht erlauben, als "persistent Weil, AJIL 77 (1983), 413 (430 ff.). Weil, 430 ff. 288 Siehe nur Fastenrath, EJIL 4 (1993), 305 (338 ff.). 289 Delbrück, Indiana Journal of Global Legal Studies I (1993), 9 (I 0 f.); Senghaas, EA 199211,643 (647 f.). 290 IGH Asylum Case (Columbia v. Peru), ICJ-Reports 1950, 266; Anglo-Norwegian Fisheries Case (UK v. Norway), ICJ-Reports 1951, 116 (1 31); Fitzmaurice, RdC 92 (1957-11), 3 (100); Verdross/Simma, 352; Brownlie, Principles ofPublic International Law, 4. Aufl., 1990, 10; Shaw, International Law, 3. Aufl., 1991,76. 286

287

8 Feist

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objector" eine Bindungswirkung dieser Normen ihm gegenüber zu verhindern. 291 Dies hat Ausdruck in Art 53 WVRK gefunden. Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtsregel des allgemeinen Völkerrechts als zwingend anzusehen, wenn die Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit ("the international comrnunity as a whole") diesen Geltungsrang annimmt und anerkennt. Die Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit ist aber nicht identisch mit der Gesamtheit der Staaten. Ausreichend aber erforderlich ist die Anerkennung der Norm durch eine überwältigende Mehrheit der Staaten, die alle ideologischen und geographischen Gruppen einschließt. 292 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Äußerung des Vorsitzenden des Drafting Commitee für die WVRK, der sagte, daß im Zusammenhang mit "ius cogens" "[ ... ] there was no question of requiring a rule tobe accepted and recognized as peremptory by all states. It would be enough if a !arge majority did so; that would mean that if one state in isolation refused to accept the peremptory character of a rule or if that state was supported by a small number of states, the acceptance and recognition of the rule by the international community as a whole would not be affected." 293

Die Bindung eines Staates an eine Regel, der er sich widersetzt, ist im Bereich des Völkergewohnheitsrechts folglich durchaus denkbar. Als Beispiel hierfür mag das Verbot der Apartheid gelten: Südafrika hat sich über Jahrzehnte diesem Verbot zu entziehen versucht. Nach den allgemeinen Regeln hätte dieses Verhalten Südafrika zu einem "persistent objector" gemacht, für den diese Regel dann nicht gelten würde. Die Auffassung der Staaten war jedoch nie von der Annahme geprägt, Südafrika sei an das Apartheidverbot nicht gebunden. 294 Mit dem Nachweis, daß im Bereich des Gewohnheitsrechts eine Bindung von renitenten Staaten an Rechtssätze möglich ist, die von einer überwältigenden Staatenmehrheit in Geltung gesetzt werden, ist gleichzeitig auch die unbedingte Geltung der Lotus-Formel widerlegt. Die Souveränität der Staaten kann nicht als zwingendes Strukturprinzip gegen die Entfaltung einer Bindungswirkung von völkerrechtlichen Normen gegen den Willen einzelner Staaten ins Feld geführt werden. Chamey, 547 f. Shaw, 99; Sinclair, The Vienna Convention on the Law ofTreaties. 2. Aufl., 1984, 248; Simma, Does the UN Charter Provide an Adequate Legal Basis for Individual or Collective Responses to Violations ofObligations erga ornnes?, in: Delbrück (ed.), The Future of International Law Enforcement, New Scenarios- New Law?, 1992, 125. 293 United Nations Conference on the Law ofTreaties, First Session, Official Records, UN Doc. NConf. 39/11 (1969), 472 (para 12). 294 Komicker, 73 f.; Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law, 1988,214 ff.; Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992, 189 ff. 29 1 292

§ 11 Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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(4) Die Staatenpraxis zu Ordnungsverträgen im Gemeinschaftsinteresse Im folgenden ist zu untersuchen, ob die Praxis der Staaten Anhaltspunkte für die Annahme einer Bindung dritter Staaten an Verträge gibt, deren Partei sie nicht sind. Die Untersuchung wird sich dabei auf einige Konventionen beschränken. Zunächst soll dabei einer Drittwirkung der UN-Charta nachgegangen werden, um anschließend anhand der UN-Seerechtskonvention von 1982 und dem Straddling Stocks Agreement von 1995 den Nachweis einer Geltung multialteraler Verträge über den Kreis der Parteien hinaus zu erbringen.

(aa) Objektive Wirkung der UN-Charta Da gerade die UN-Charta für die zunehmende Organisierung der Staatengemeinschaft steht und bisweilen sogar als "Verfassung der Staatengemeinschaft" angesehen wird, liegt es nahe, an ihr zu untersuchen, inwiefern sie über den Kreis der Parteien hinaus Rechtswirkungen erzeugt. Zwar kann man heute diese Frage als eher akademisch abtun, aber in der Vergangenheit war die Mitgliedschaft in den UN nicht so selbstverständlich und trotzdem nahm die Organisation für sich in Anspruch, im Rahmen ihrer Satzungszwecke auch Nichtmitgliedern gegenüber regelnd tätig zu werden, wie das Beispiel des Korea-Krieges zeigt. So wird von vielen angenommen, daß die Charta Verbindlichkeit auch gegenüber Nichtmitgliedern entfaltet. Zum Teil wird dies durch die Auslegung des Art. 2 Abs. 6 der Charta begründet. 295 Diese Bestimmung wendet sich jedoch an die Organisation selbst und verpflichtet sie, dafür Sorge zu tragen, daß die Staaten, die nicht Mitglieder der UN sind, sich konform zu den Grundsätzen der Charta, insbesondere in bezugauf die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu verhalten. Zwar geht aus dieser Norm hervor, daß die UN Anspruch erhebt, über den Kreis der Parteien hinaus tätig zu werden, eine Verpflichtung dritter Staaten läßt sich aus dem Wortlaut jedoch nicht ableiten. Entsprechend wird auch vertreten, daß nicht Art. 2 Abs. 6 die Rechtsgrundlage für

295 Goodrich/Hambro/Simons, Charter of the United Nations, Commentary and Documents, 3. Aufl., 1969, Art. 2 (6), 56 ff.; McDonald, The Charter ofthe United Nationsand the Development ofFundamental Principles oflntemational Law, in: Cheng/Brown (eds.), Contemporary Problems of International Law: Essays in Honour of Georg Schwarzenherger on his eightieth birthday, 1988, 196 (204 ff.); Kelsen, The Law of the United Nations, 1950, 85 f., 108; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional de las Naciones Unidas, 1958, 65 ff.

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eine "Erga-omnes"-Wirkung der Charta sein kann, 296 sondern daß der besondere Charakter der UN als umfassender Organisation der Staatengemeinschaft im Interesse aller Staaten auf dem Gebiet der Friedenssicherung verbindliche Vorgaben für alle macht. Hier wird also vom Allgemeininteresse direkt auf die "Erga-omnes"-Wirkung der Charta geschlossen. Diese Auslegung ist aber nicht eine bloße Annahme einiger Völkerrechtler. In der Praxis der UN hat es schon in der Frühzeit Beispiele dafür gegeben, daß es im Rahmen der Friedenssicherung der Organisation auf die Mitgliedschaft der betroffenen Staaten nicht ankam. 297 So haben weder die Nichtmitgliedschaft Nordkoreas noch die Rhodesiens die Staaten und die Organisation dazu veranlaßt, die Illegalität der Maßnahmen, die gegen diese Staaten beschlossen wurden, zu vermuten. Aber auch in neuererZeithat die fehlende Mitgliedschaft in Fällen der Friedenssicherung oder -Schaffung durch die Organisation keine Rolle gespielt: Nach dem Zerfall Jugoslawiens war fraglich, ob die neu entstandenen Gebilde Staaten waren und ob sie die Mitgliedschaftsrechte und -pflichten des untergegangenen Staates rnitübernahmen. Dennoch wurde nicht in Frage gestellt, daß die BundesrepublikJugoslawien infolge des Kosovo-Konflikts eine Pflicht trifft, die Anordnungen des Sicherheitsrats in bezugauf die Friedenssicherung zu befolgen. Die Charta der UN belegt folglich die Erstreckung eines multilateralen Vertrages auf dritte Staaten.

(bb) Die Seerechtskonvention von 1982 Die Seerechtskonvention von 1982,298 die 1994 in Kraft getreten ist, regelt umfassend das internationale Seerecht. 299 Hier von Interesse sind die Regelungen in bezug auf den Tiefseeboden. Die Seerechtskonvention sieht vor, daß im Bereich der Hohen See der Meeresboden der Verfügung einzelner Staaten entzogen ist. Die wirtschaftliche Nutzung des Tiefseebodens (des "Gebiets") steht unter 296 Tomuschat, RdC 241 (1993-IV), 195 (252 ff.); Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (357); Brierly, 326 f.; Lalive, 84 ff.; Hannikainen, Peremptory Norms (Jus Cogens) in International Law, 1988,219 ff. 297 Siehe hierzu die Beispiele bei Goodrich/Hambro/Simons, 56 ff., und bei Hannikainen, 219 ff. 298 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, BGBI. 1994 II, 1799. 299 Siehe dazu Jenisch, Die UN-Seerechtskonvention- Eine Verfassung für die Meere tritt in Kraft, 1994.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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dem Vorbehalt einer Genehmigung durch die Tiefseebodenbehörde, die durch die Konvention geschaffen wurde. 300 Diese Beschränkung der Nutzung gilt nach dem Wortlaut des Vertrages nicht nur für die Parteien der Seerechtskonvention, sondern für alle Staaten. Artikel 137 lautet wörtlich: "I. Kein Staat darfüber einen Teil des Gebiets oder seine Ressourcen Souveränität oder souveräne Rechte beanspruchen oder ausüben[ ... ]. II. Alle Rechte an den Ressourcen des Gebiets stehen der ganzen Menschheit zu, in deren Namen die Behörde handelt. Die Ressourcen sind unveräußerlich. Die aus dem Gebiet gewonnenen Mineralien dürfen jedoch nur in Übereinstimmung mit diesem Teil und den Regeln, Vorschriften und Verfahren der Behörde veräußert werden. III. Ein Staat oder eine natürliche oder juristische Person kann Rechte in bezugauf die aus dem Gebiete gewonnenen Mineralien nur in Übereinstimmung mit diesem Teil beanspruchen, erwerben oder ausüben. Auf andere Weise beanspruchte, erworbene oder ausgeübte Rechte werden nicht anerkannt."

Nach dem Wortlaut des Art. 137 wird der Geltungsanspruch für das Tiefseebodenregime auf Staaten ausgedehnt, die nicht Parteien des für dieses Regime konstitutiven Vertrages sind. Die Wortlautauslegung wird durch den Vergleich mit einer anderen Bestimmung desselben Abschnittes bestätigt. In Art. 139 heißt es: "Die Vertragsstaaten sind verpflichtet sicherzustellen, daß die im Gebiet ausgeübten Tätigkeiten in Übereinstimmung mit diesem Teil durchgeführt werden."

Der Gebrauch der Bezeichnung "Vertragsstaaten" gegenüber dem Begriff "alle Staaten" macht deutlich, daß in Art. 137 der Adressatenkreis ein anderer, größerer ist als in Art. 139. Auch die teleologische Auslegung des Art. 137 führt zu demselben Ergebnis: Ein wirksames Haushalten mit den Ressourcen des Gebiets ist ausschließlich dann möglich, wenn sichergestellt wird, daß dritte Staaten, die nicht Parteien der Seerechtskonvention sind, auch von dem vertraglichen Regime erfaßt werden. Sonst könnten Nichtvertragsstaaten als Trittbrettfahrer ("free rider") das Regime umgehen und dadurch letztlich dessen Zweck vereiteln, indem sie Unternehmen erlauben könnten, unter ihrer Flagge den Meeresboden auszubeuten. Sinn und Zweck der Regelung gebieten es folglich geradezu, den Geltungsbereich des Tiefseebodenregimes auf Nichtvertragsstaaten auszudehnen. Diesem Auslegungsergebnis entsprechen auch Überlegun-

300 Auch wenn nachträglich durch das Durchführungsabkommen zu Kap. XI der Konvention ein nunmehr wesentlich marktwirtschaftlicheres Konzept verfolgt wird, so wird der Meeresboden noch kein freies Gut, und die hier zitierten Vorschriften behalten insoweit ihre Wirksamkeit. Siehe dazu Nelson, The International Journal of Marine Policy and Coastal Law 10 (1995), 189 (203).

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

gen der Staaten und der Völkerrechtslehre im Vorfeld der Seerechtskonvention.301 Um über die Effektivität des Meeresbodenregimes etwas zu sagen, ist es noch zu früh, da die Konvention erst 1994 in Kraft getreten ist und der Tiefseebergbau wirtschaftlich nicht von so großem Interesse ist, wie erwartet worden war. Festzuhalten bleibt jedoch, daß offensichtlich die Mehrheit der Staaten, nämlich diejenigen, welche Parteien der Konvention sind, der Auffassung sind, daß eben diese Staatenmehrheit verbindliches Recht für dritte Staaten setzen kann.

(cc) Das Straddling Stocks Agreement von 1995 Im Zusanunenhang mit der Seerechtskonvention von 1982 wurde ein Abkonunen zum Schutz der wandernden Fischschwärme auf der Hohen See abgeschlossen.302 Hierbei stellt sich die Problematik der Drittwirkung in besonderem Maße. Fischschwärme auf der Hohen See unterliegen nicht der Jurisdiktion eines oder einiger Staaten, da die Hohe See selbst ein staatsfreier Raum ist. Aus diesem Grunde können oder konnten Fischschwärme auf der Hohen See ohne Beschränkung von Fischereiflotten aller Länder ausgebeutet werden. Die Gefahr besteht, daß dadurch die Vorräte in absehbarer Zeit erschöpft sind. Zwar ist die Hochseefischerei im staatsfreien Gebiet nicht von so großer Bedeutung, da der weit überwiegende Teil (zwischen 85 und 95 %) des gefangenen Fisches aus den Hoheitsgewässern und den ausschließlichen Wirtschaftszonen der Staaten stammen.303 Da aber die Fischschwärme auch in küstennahen Gewässern dazu neigen, zwischen der Hohen See und den 200-sm-Zonen zu pendeln, können Fischereiflotten jenseits der Wirtschaftszonen frei fischen und so den Schutz von Fischen unterlaufen. Ein Beispiel hierfür ist das "Doughnuthole" in der Beringsee. Die Wirtschaftszonen der USA und Rußlands umfassen fast die gesamte See. In der Mitte dieses fischreichen Gewässers befindet sich 301Siehedazu van Dyke/Yven, San Diego Law Review 19 (1982), 493 (536 f.) ; Kewenig, EA 1981, 1 (8). 302 Agreement for the Implementation of the Provisions of the United Nations Convention on the Law of the Sea of 10 December 1982 Relating to the Conservation and Management of Straddling Fish Stocks and Highly Migratory Fish Stocks vom 4. August 1994, UN Doc. NCONF. 164/37, abgedruckt in: ILM 34 (1995), 1542. 303 Siehe dazu: Juda, International Law and Ocean Use Management- The Evolution of Ocean Govemance, 1996, 258.

§ ll Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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jedoch eine Zone Hoher See, wo Drittstaaten keinen Beschränkungen unterworfen waren. 304 Die USA, Rußland und die in dieser Region Fischerei betreibenden Staaten schlossen hierüber ein Abkommen, das den Fischfang begrenzt. Aber auch in anderen Gegenden der Welt gibt es ähnliche Konflikte zwischen Küstenstaaten und den Fischereiflotten dritter Staaten. In diesem Zusammenhang ist nur der Fischereistreit zwischen Kanada und der EU zu nennen, nachdem spanische Trawler vor Neufundland intensiven Fischfang betrieben hatten. Dieses Konfliktpotential führte letztlich zum Abschluß des vorstehend genannten Abkommens. Gemäß Art. 3 findet es Anwendung auf wandernde Fischschwärme auf der Hohen See, d. h. jenseits der 200-sm-Zonen ("beyond areas of national jurisdiction"). Das Abkommen verweist in seinen operativen Bestimmungen auf regionale Fischereiabkommnen und verpflichtet die Parteien, solchen Abkommen beizutreten bzw. den Regionalabkommen Folge zu leisten oder solche Abkommen zu schließen. Ebenso wie im Rahmen des Tiefseebergbaus besteht hier ein dringendes Bedürfnis nach Universalität der Beteiligung, da sonst das Abkommen seinen Zweck kaum erfüllen kann. Denn nur wenige Staaten könnten das Schutzregime oder die Schutzregimes für Fischschwärme auf der Hohen See durch ihre Fischereiflotten unterlaufen oder - schlimmer noch - fremden Fischereiflotten eine "flag of convenience" bieten, wodurch es zu einer Ausflaggung der Fischereiflotten der Parteien des Abkommens kommen könnte. Diese Drittstaaten würden dann als Trittbrettfahrer von dem Schutzregime profitieren, ohne selbst Pflichten diesbezüglich zu übernehmen. Zwar erscheint eine solche Trittbrettfahrerei unbillig, jedoch war es in Verträgen unüblich- und vor dem Hintergrund der "Pacta-tertiis"-Regel rechtlich nicht möglich, Dritten direkt Pflichten aufzuerlegen. Artikel 33 des Abkommens macht hierzu eine bemerkenswerte Ausnahme, indem sich diese Bestimmung unmittelbar der Drittstaatenproblematik widmet. Der zweite Absatz dieser Norm lautet: "States parties shall take measures consistent with this Agreement and intemationallaw to deter the activities flying the flag of non-parties which undermine the effective implementation of this agreemnent." Auf den ersten Blick liest sich die Vorschrift relativ unspektakulär: Verpflichtet werden lediglich die Vertragsstaaten. Das erscheint gegenüber klassischen Bestimmungen nicht neu zu sein: Auch Art. 2 (6) der Charta der UN wendet sich 304

Siehe dazu Juda, 261 ff.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

an Drittstaaten, beläßt es aber bei einer Einladung, wohingegen Rechte und Pflichten aus der Charta lediglich den Mitgliedsstaaten erwachsen. Bei genauerer Betrachtung des Art. 33 Abs. 2 gelangt man jedoch zu einem anderen Ergebnis: Hier geht es nicht lediglich darum, dritten Staaten das Angebot zu machen, sich einer Ordnung freiwillig zu unterwerfen, sondern die Vertragsstaaten werden verpflichtet, ein Verhalten der Fischereiflotten dritter Staaten zu verhindern ("deter"), das dem Schutzzweck des Abkommens zuwiderläuft. Verhindern kann in diesem Zusammenhang bedeuten, daß die Vertragsstaaten aktiv gegenüber fremden Flotten tätig werden und sie effektiv am Fischfang auf der Hohen See hindern. Jedoch ist es auch möglich, dieser Norm eine andere Deutung zu geben. Danach bedeutet "deter", Maßnahmen zu ergreifen, die im Rahmen des geltenden Völkerrechts Flotten von Nichtvertragsstaaten den Fischfang so unattraktiv zu machen, daß er nicht betrieben wird. Zu nennen sind dabei die Verweigerung des Zugangs zu den Häfen von Vertragsstaaten für Schiffe dieser Flotten und der Nichtankauf von Fischen aus diesen Staaten, die unter Nichtbeachtung dieses Abkommens gefischt wurden. Eindeutiger ist aber die Vorschrift des Art. 8 Abs. 4, der von vornherein die Fischerei auf der Hohen See nur Staaten erlaubt, die Mitglieder regionaler Fischereiabkommen sind oder sich deren Regeln unterwerfen. Wörtlich heißt es: "Only those States which are members of such an organization or participants in such an arrangement, or which agree to apply the conservation and management measures established by such organization or arrangement, shall have access to the fishery resources to which those measures apply."

Nach allgemeinem Völkerrecht wäre dies eine unzulässige Anmaßung von Hoheitsrechten gegenüber anderen Staaten, da die hohe See staatsfreies Gebiet ist. Voraussetzung der Wirksamkeit des Art. 8 Abs. 4 ist folglich eine dahingehende Duldungspflicht der Drittstaaten gegenüber dem Handeln der Vertragsparteien. Diese ergibt sich aus dem überragenden Gemeinschaftsinteresse, zum Schutz der Fischschwärme die regionalen Schutzregimes zu beachten. 305 Aus dem Straddling Stocks Agreement ergibt sich somit eine echte Verpflichtung von Drittstaaten. Diese besteht darin, gern. Art. 8 Abs. 4 im Falle der Nichtmitgliedschaft von regionalen Fischereiorganisationen oder der Nichtbefolgung der von ihnen festgesetzten Standards ein Fischereiverbot zu akzeptieren.

305

s. dazu Ziemer, 275 ff.

§ II Die Wirkungen multilateraler Verträge auf dritte Staaten

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(dd) Ergebnis der Bestandsaufnahme Die Beispiele haben gezeigt, daß in der Völkerrechtspraxis die Setzung von Recht mit obkjektivem Geltungsanspruch durch viele, aber nicht alle Staaten im Falle des Schutzes überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter durchaus kein unbekanntes Phänomen ist.

b) Verträge zum Schutze des Gemeinschaftsinteresses als objektive Rechtsetzung Wie aufgezeigt wurde, gilt die Lotus-Formel, nach der ein Staat nur an Rechtssätze des Völkerrechts gebunden ist, wenn er deren Geltung ausdrücklich zugestimmt hat, im heutigen Völkerrecht nicht mehr. Allein die modernen Mechanismen der Entstehung von Gewohnheitsrecht und die Akzeptanz von zwingendem Völkerrecht, über das die Staaten nicht disponieren können, widerlegt den reinen Voluntarismus des Lotus-Urteils. Die Praxis multilateraler Abkommen ist seit dem 19. Jahrhundert davon geprägt, daß immer wieder versucht wurde, von einigen oder mehreren Staaten Regelungen mit Wirkung "erga ornnes" zu treffen, wenn ihrer Auffassung nach das Gemeinschaftsinteresse nach einer solchen Regelung verlangte. Historische Beispiele hierfür sind die Aaland-Insein sowie die Beurteilung der Generalakte von Berlin durch die Richter van Eysinga und Schücking im Oscar-ChinnFall.306 Waren in der Vergangenheit solche Regelungen territorial bezogen, so hat sich diese Praxis auf andere Regelungsmaterien im Gemeinschaftsinteresse ausgeweitet. Das liegt an der zunehmenden Interdependenz der Staaten, deren Fortbestehen im Gegensatz zu früher wesentlich von der gemeinschaftlichen Lösung drängender Probleme abhängt. Zu nennen sind dabei die Sicherung des Weltfriedens, die Verteilung knapper Ressourcen und der internationale Umweltschutz. Aufgrund dieser Praxis und der oben beschriebenen Ablösung des reinen Voluntarismus im Völkerrecht kann man sagen, daß eine Regel zumindest im Entstehen begriffen ist, die es der Staatenmehrheit nunmehr erlaubt, im Rahmen des Schutzes überwältigender Gemeinschaftsinteressen beim Abschluß multilateraler Abkommen, jedenfalls im begrenzten Rahmen, Dritten Pflichten aufzuerlegen, soweit es für das Funktionieren eines Schutzregimes unerläßlich ist. Das Verfahren der Setzung solcher Normen muß jedoch unter der möglichen Beteiligung aller Staaten stattfinden. Nur so ist gewährleistet, daß sich ein Inter306 Siehe oben§ 7, II.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

esse auch als Gemeinschaftsinteresse herausstellt. Darüber hinaus entspricht eine Bindung von Staaten an Regeln, an deren Bildung er nicht zumindest die Chance hatte mitzuwirken, nicht prozeduraler Fairness und könnte nicht als legitim gelten.307

§ 12 Zusammenfassung: Idealtypische Einteilung multilateraler Verträge Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß multilaterale Verträge hinsichtlich ihrer Erfüllungsstrukturen Besonderheiten gegenüber bilateralen Abkommen aufweisen und darüber hinaus diese Charakteristika selbst unterschiedlich ausfallen können. Von einigen Autoren wird angenommen, daß die Verpflichtungsstrukturen aus multilateralen Verträgen sich nur hinsichtlich der Zahl der Aktiv- und Passivlegitimierten von zweiseitigen Abkommen unterscheiden .308 Ein Vertrag begründe immer wechselseitige Rechts- und Pflichtbeziehungen zwischen den Parteien. Bei multilateralen Verträgen könne jede Partei die Erfüllung der Verpflichtungen jeder anderen Partei einfordern und schulde gleichzeitig ihrerseitige Erfüllung gegenüber allen anderen. Aufgrund der vorstehend gewonnenen Ergebnisse ist diese Auffassung als zu vereinfachend abzulehnen. Sie wird den verschiedenen Strukturen mehrseitiger Abkommen nicht gerecht. In diesem Zusammenhang vertritt Hutchinson309 eine differenziertere Auffassung: Grundsätzllich gebe es verschiedenartige Erfüllungsstrukturen multilateraler Verträge, wie sie in Art. 5 des zweiten Teils des Entwurfs der ILC über das Recht der Staatenverantwortlichkeit niedergelegt seien. Insbesondere gebe es Verträge, die sich als BündeJung bilateraler Rechtsbeziehungen beschreiben lassen. Neben diesen Rechtsbeziehungen zwischen jeweils zwei Staaten, bei dem dem jeweils betroffenen Staat sogenannte primäre subjektive Rechte zustünden gebe es aber auch solche sekundärer Natur, die in einem mulitlateralen Vertrag jedem Staat eine Rechtsstellung in bezug auf die in ihm enthaltenen Verpflichtungen Siehe dazu Franck, Fairness in International Law and Institutions, 1995, 7. Jessup, A Modem Law of Nations, 1948, 154; Lauterpacht, Second Report on the Law of Treaties, YBILC 1954, 134; Rosenne, The Law and Practice of the International Court, Bd. II, 520; von Münch, Völkerrecht, 1982, 225. 309 Hutchinson, BYIL 59 (1988), 151. 307 308

§ 12 Zusammenfassung: Idealtypische Einteilung multilateraler Verträge

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einräumten. 310 Danach sei jede Vertragspartei eines multilateralen Vertrages berechtigt, auf Vertragsverletzungen zu reagieren. Auch wenn seine primären Rechte nicht verletzt seien, so könne er dochjedem direkt verletzten Staat bei der Durchsetzung seiner primären Rechte Hilfe leisten. Jeder Staat habe ein Interesse an der Erhaltung des durch den multilateralen Vertrag begründeteten Rechtsregimes. Dieses Regime werde durch Nichtbefolgung unterminiert. Dieses Erhaltungsinteresse drücke sich in den sekundären Verpflichtungen ("second Ievel Obligations") aus, deren Erfüllung ein Vertragsstaat jeder anderen Vertragspartei schulde. Des weiteren bestünden diese sekundären Rechte unabhängig von der Geltendmachung der primären Rechte durch den direkt betroffenen Staat. Das ergebe sich daraus, daß das Erhaltungsinteresse nicht an das Erfüllungsinteresse des direkt betroffenen Staates gekoppelt sei. 311 Diese Auffassung widerspricht nicht den vorstehend gewonnenen Ergebnissen der Analyse, insbesondere wird nicht die grundstätzliche Kategorisierung der Verpflichtungsstrukturen in Frage gestellt. Deswegen kann auch der Annahme solcher sekundären Rechte zugestimmt werden. Die These der sekundären Rechte bei multilateralen Verträgen wird auch durch Art. 63 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs bestätigt. Danach können in Fällen, in denen es um die Auslegung eines Vertrages geht, Parteien dieses Vertrages, die durch den Rechtsstreit nicht direkt betroffen sind, auf ihren Antrag hin am Verfahren teilnehmen. Dem Statut liegt die Annahme zugrunde, daß jede Partei eines Vertrages ein Interesse an dessen Anwendung hat, auch wenn sie selbst im konkreten Fall nicht betroffen sein mag. Das entspricht Hutchinsons Theorie von den sekundären Rechten und Pflichten aus multilateralen Abkommen. Damit bleibt es bei der gefundenen Einteilung multilateraler Verträge. Es wurde dabei der Nachweis geführt, daß es multilaterale Abkommen gibt, die nicht mehr sind als ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen. Als Beispiel mag das Wiener Diplomatenrechtsübereinkommen gelten. Eine Verletzung des Vertrages durch Staat A gegenüber Staat B, etwa durch Ausweisung eines Diplomaten, betrifft in keiner Weise die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Staat A und einem dritten Mitgliedstaat C. Ebenso gibt es Verträge, deren Erfüllung auf der zwischenstaatlichen Ebene nicht lediglich zwischen jeweils zwei Parteien, sondern zwischen allen Parteien stattfindet. Solche Verträge wurden als integral bezeichnet. Klassisches Beispiel hierfür sind mehrseitige Abrüstungsabkommen. Darüber hinaus existieren Verträge, die nicht zwischenstaatlich erfüllt werden. Hier ist die Erfüllungsrichtung rein innerstaatlich. Repräsentanten dieser Katego310 3 11

Hutchinson, 159. Hutchinson, 168 ff.

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I. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

rie sind Menschenrechtsabkommen. Schließlich wurde aufgezeigt, daß bei bestimmten multilateralen Verträgen eine Bindung dritter Staaten, d. h. solcher, die nicht Parteien des Vertrages sind, entstehen kann. Die Voraussetzungen einer solchen Bindungswirkung sind, daß die Staatenmehrheit zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsinteressen handelt und der effektive Schutz dieser Interessen andernfalls vereitelt würde. In der Völkerrechtslehre und-praxisist nicht eindeutig, welche Rechtsfolgen sich aus den verschiedenen Strukturen dieser Verträge ergeben. Klar ist nur, daß alle Verträge gleichermaßen Völkerrechtssätze enthalten. Insbesondere hat sich die auf Triepel und Bergbohm zurückgehende These von der Unterscheidung zwischen rechtsgeschäftliehen und rechtsetzenden Verträgen in Theorie und Praxis nie durchsetzen können. Offen bleibt jedoch die Frage, ob alle Verträge, gleich welcher Kategorie, den Parteien neben den Pflichten, die sie unstreitig konstituieren, auch entsprechende Rechte gegenüber einer oder allen anderen Parteien auf Erfüllung einräumen. Unproblematisch ist dies bei den Verträgen der beiden erstgenannten Kategorien: Hier korrespondieren die Erfüllungshandlungen zwischen zwei bzw. allen Parteien. Daraus ergibt sich, daß die Erfüllungshandlung mit einem entsprechenden Recht des Staates gekoppelt sein muß, seinerseits ordnungsgemäße Erfüllung von dem oder den anderen zu verlangen. Im Falle der integralen Verträge fragt sich jedoch, ob jeder Staat selbständig von einem anderen Staat Erfüllung verlangen kann, oder ob alle Staaten gemeinsam dieses Recht geltend machen müssen, da die geschuldete Handlung gegenüber allen Staaten als Gläubigern vorgenommen werden muß. Sachariev312 ist der Auffassung, daß solche integralen Verpflichtungen nicht "bilateralisierbar" seien und demzufolge auch grundsätzlich nicht ein einzelner Staat berechtigt sein soll, selbständig einen Rechtsbrecher mit Sanktionen zu verfolgen. Dabei übersieht Sachariev aber, daß die Erfüllung der geschuldeten Pflicht nicht ausschließlich allen Parteien gegenüber erfolgt, sondern auch gerade dem einzelnen Staat, der an der Erfüllung ein konkretes Interesse hat. Demzufolge hat im Falle integraler Verträge jeder Staat für sich ein Recht gegenüber jedem anderen Vertragsstaat auf Erfüllung, das er selbständig geltend machen kann. Anders liegt der Fall jedoch bei Verträgen, deren Verpflichtungen nicht zwischenstaatlich erfüllt werden. Hier fehlt es an der Korrespondenz der jeweiligen Erfüllungshandlungen. Das vertragsgemäße Handeln eines Staates ist unabhängig 312 Sachariev, Die Rechtsstellung der betroffenen Staaten bei Verletzungen multilateraler Verträge, 1986,98 ff.; ders., NJIL 35 (1988), 273 (285).

§ 12 Zusammenfassung: Idealtypische Einteilung multilateraler Verträge

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von einem entsprechenden Verhalten der anderen Staaten. Aus der Tatsache, daß die Erfüllungshandlungen nicht in notwendigem Zusammenhang stehen, könnte man schließen, daß auch kein Recht des erfüllenden Staates besteht, vertragsgemäßes Verhalten zu fordern. So wurde und wird vielfach in der Literatur behauptet, daß solche Verträge keine subjektiven Rechte, sondern ausschließlich objektives Recht enthielten. 313 Gläubiger seien hier nicht die einzelnen Staaten, sondern die internationale Gemeinschaft als Ganzes. Dem wird jedoch entgegengehalten, auch sogenannte "objektive" Verträge schafften mit der Erfüllungspflicht korrespondierende subjektive Rechte auf Erfüllung/14 wenngleich sie sich nicht darin erschöpften. 315 Die bestimmende Motivation hinter jedem Vertrag sei letztlich die Gegenseitigkeitserwartung. Ohne die Tatsache, daß sich andere Staaten auch zu einem entsprechenden Verhalten verpflichten wollten, ginge ein Staat kein Abkommen ein. Er könnte sich selbst auch einseitig verpflichten, aber die Tatsache, daß er es im Zusammenhang mit anderen Staaten tue, mache deutlich, daß ein Interesse bestehe, daß auch andere Staaten sich entsprechend verpflichteten, wie umgekehrt diese Staaten ein Interesse an der Verpflichtung wiederum dieses Staates hätten. Lediglich die Erfüllungsstruktur dieser Verträge unterscheide sich. Dies sei nicht so sehr eine normative als mehr eine rechtssoziologische Kategorie.316 Für die Annahme wirklich objektiven Rechts aus multilateralen Verträgen spricht, daß hier nicht individualisierbare Interessen der einzelnen Staaten geschützt werden, sondern gemeinsame Interessen. Begreift man das subjektive Recht als rechtlichen Schutz eines individualisierbaren Interesses, so wird 3 13 McNair, The Law ofTreaties, 1961,259 ff. ; Fitzmaurice, G., ICLQ 2 (1953), 1 (14); Reservations to the Convention on the Prevention of the Crime of Genocide, dissenting opinion of Judge Alvarez, ICJ-Reports 1951, 15 (83); Khol, Zwischen Staat und Weltstaat Die internationalen Sicherungsverfahren zum Schutz der Menschenrechte, 1969, 22. 314 Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, 641 f.; Walter, Die europäische Menschenrechtsordnung, 1970, 83 ff.; Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, 188 ff.; ders., International Crimes: Injury and Countermeasures. Comments on Part 2 ofthe ILC Work on State Responsibility, in: Spinedi/Simma (eds.), International Crimes of States, 1987, 283 (290); Hofmann, ZaöRV 45 (1985), 195 (228, Fn. 126); Bryde, Verpflichtungen erga omnes aus Menschenrechten, BGDVR, Bd. 33 (1994), 165 (182); Hahn, Die einseitige Aussetzung von GATTVerpflichtungen als Repressalie, 1996, 103 ff.; Wilting, Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, 1996, 106. 315 Bleckmann, 641 f. 316 Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972,212 ff.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

deutlich, daß die Erfüllung nicht als Erfüllung des individuellen Rechts eines Vertragspartners erfolgt, sondern nur gegenüber der Gesamtheit der Parteien. Die Mechanismen, die dem einzelnen Staat die Möglichkeit geben, die Erfüllung des Vertrages geltend zu machen, wie die Staatenbeschwerde in der EMRK, wären als Ausformungen einer "actio popularis" zu erklären. In der Tat hat die Europäische Menschenrechtskommission in der oben besprochenen Pfunders-Entscheidung317 die Beschwerdebefungnis Österreichs auf diesen Rechtsgedanken gestützt. Fraglich ist jedoch, wie die Wahrung objektiver Verpflichtungen bei Fehlen vereinbarter Überwachungsmechanismen garantiert werden kann. Gilt die Verpflichtung allen anderen Vertragsparteien gegenüber, so bedarf es eines gemeinsamen Handeins aller Vertragspartner. Ein solches Handeln wäre, insbesondere im Rahmen von Abkommen mit mehr als 100 Vertragsparteien, schwer zu erreichen. Eine Alternative dazu wäre, die Staatengemeinschaft als eigenständige Rechtspersönlichkeit anzusehen, die dann durch eigene Organe handelt. Im Rahmen der Friedenssicherung nach Kapitel VII der UN-Charta findet etwas änliches schon statt. Es ist völkerrechtlich nicht zu begründen, inwiefern die Staatengemeinschaft als solche Rechtspersönlichkeit besitzt und welches Organ mit der Wahrung des Rechts beauftragt sein soll. Die Funktion des Sicherheitsrates ist auf die Wahrung des Friedens und der Sicherheit beschränkt. Auch wenn man den Tatbestand der Friedensbedrohung des Art. 39, der ein Handeln des Sicherheitsrats _rechtfertigt, noch so weit ausdehnen wollte, so kann daraus keine Allzuständigkeit des Organs zur Wahrung aller Gemeinschaftsinteressen folgen. Daß der Sicherheitsrat in den letzten Jahren seine Kompetenzen ausgeweitet hat, mag als Anzeichen für eine beginnende Zentralisierung der Rechtsdurchsetzung bei Staatengemeinschaftsinteressen gelten. Eine solche Zentralisierung ist jedoch noch nicht erreicht, zumal der Sicherheitsrat nicht in jedem Fall einschreiten kann oder will, da entweder die Mitglieder selbst betroffen sein können oder enge Verbündete eines Mitglieds und die Vielzahl der Fälle vom Sicherheitsrat auch gar nicht bewältigt werden könnte.318

Siehe oben§ 7, VI. Siehe aber: Simma, Does the UN Charter Provide an Adequate Legal Basis for Individual or Collective Responses to Violations of Obligations erga ornnes?, in: Delbrück (ed.), The Future of International Law Enforcement, New Scenarios - New Law?, 1992, 125 (143 f.), der für die Zukunft diesem Modell eine Chance zu geben scheint. 317

3 18

§ 12 Zusammenfassung: Idealtypische Einteilung multilateraler Verträge

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Die Annahme lediglich objektiver Verpflichtungen würde also zu einer Hemmung der Effektivität führen. 319 Schon aus diesem Grunde ist die Theorie von den rein objektiven Verpflichtungen abzulehnen. Aber auch die Rechtsprechung des IGH geht nicht von der Objektivität der Verpflichtungen aus. Ausgangspunkt ist immer ein subjektives Recht eines Staates, wobei es nicht auf ein materielles Interesse, dem das Recht folgt, ankommt. Im Südwestafrika-Fan führt er dazu aus: "[ ... ] [lt] may be said that a legal right or interest need not necessarily relate to any material or , tangible', and can be infringed even though no prejudice of a material kind has been suffered. " 320

Die Voraussetzungen dafür sind: "In order to generate legal rights and obligations, it must be given juridical expression and be clothed in legal form.''321

Diese Rechtsauffassung bestätigte der IGH später in den schon besprochenen Entscheidungen Barcelona Traction und East Timor. 322 Danach hat im Falle der Verletzung einer "Erga-omnes"-Verpflichtung grundsätzlich jeder Staat das Recht, selbst gegen den Rechtsbrecher vorzugehen und eine entsprechende Klagebefugnis, die nicht eine "actio popularis", sondern die Verfolgung eines eigenen Rechts ist. 323 Dem entspricht auch der von der ILC vorgeschlagene Art. 40 des Kodifikationsentwurfes zum Recht der Staatenverantwortlichkeit. 324 Danach soll im Falle 319 So auch Hahn, 103 ff.; Simma, Zwischenstaatliche Durchsetzung vereinbarter Menschenrechte, in: von Münch (Hrsg.), Staatsrecht- Völkerrecht- Europarecht, Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, 635 (636); ders. , Does the UN Charter Provide an Adequate Legal Basis for Individual or Collective Responses to Vialaiions of Obligations erga ornnes?, in: Delbrück (ed.), The Future oflnternational Law Enforcement, New Scenarios- New Law?, 1992, 125 (143 f.). 320 South West Africa Cases (Ethiopia v. South Africa; Liberia v. South Africa), Second Phase, ICJ-Reports 1966, 3 (32). 321 Ebenda. 322 Siehe oben§ 7, V. 323 Stein, Decentralized International Law Enforcement - The Changing Role of the State as Law Enforcement Agent, in: Delbrück (ed.), Allocation of International Law Enforcement Authority in the International System, 1995, 107 (114 f.); Delbrück, The Impact of the Allocation of International Law Enforcement Authority on the International Legal Order, in: ders. (ed.), Allocation of International Law Enforcement Authority in the International System, 1995, 135 (152) zum rechtspoL Hintergrund; Simma, RdC 250 (1994-VI), 217 (296 f.) zur Durchsetzung von Menschenrechten. 324 Siehe oben § 8, II. 1.

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

der Verletzung von Pflichten, deren Erfüllung nicht lediglich einem Staat geschuldet wird, jeder Staat, gegenüber dem der Verletzerstaal in vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Bindung in bezug auf die verletzte Pflicht steht, in seinem eigenen subjektiven Recht betroffen sein. Aufgrund der Mängel der objektiven Theorie sowie der ständigen Rechtsprechung und der übereinstimmenden Auffassung der Experten in der ILC ist anzunehmen, daß alle Verträge subjektive Rechte der Staaten begründen, kraftderer sie auch im Falle integraler oder "objektiver" Verträge Erfüllung aus eigenem Recht verlangen können. Im Gegensatz zu anderen multilateralen Verträgen, die nur eine BündeJung bilateraler Rechtsverhältnisse darstellen, bedarf es hier nicht der Prüfung, ob gerade dem Staat gegenüber, der Erfüllung verlangt, eine Verletzung begangen worden ist. Es istjedoch noch anzumerken, daß die Vertreter der objektiven Theorie insoweit Recht haben, als sie behaupten, daß sich multilaterale Verträge der in ihrem Sinne objektiven Art nicht in bilaterale Rechtsverhältnisse auflösen lassen. Sie gehen vielmehr darüber hinaus und schaffen neben den subjektiven Rechten auch objektives Recht. Neben der hier vorgestellten Kategorisierung multilateraler Verträge gibt es auch andere Ansätze. So wird vertreten, daß Gründungsverträge internationaler Organisationen, insbesondere die UN-Charta, keine Verträge im herkömmlichen Sinne darstellen würden, sondern vielmehr internationales Verfassungsrecht seien. 325 Die Gründung einer internationalen juristischen Person lasse sich nicht ohne weiteres mit den klassischen Mitteln des Rechts der Verträge erklären. Vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Idealtypen lassen sich solche Gründungsverträge jedoch einordnen. Sie werden vornehmlich den integralen oder objektiven Typen zugeordnet werden. Was aber in der Tat zu beachten ist, ist die Entstehung eines neuen Rechtssubjekts, das, wie die IGH im Fall "Reparations for Injuries Suffered" feststellte, über den Kreis der Mitgliedstaaten hinaus Rechte und Pflichten haben kann. Diese spezielle Natur eines Gründungsvertrages hat in der WVRK in Art. 20 Abs. 3 Niederschlag gefunden, wonach ein Vorbehalt zu einem solchen Vertrag zu seiner Wirksamkeit der Zustimmung des zuständigen Organs der Organisation bedarf. Des weiteren wurde schon in der Völkerbundszeit eine Erfassung multilateraler Verträge nach dem Grad ihrer Offenheit für Beitritte vorgeschlagen. Diesen Vorschlag machten Schücking, Guerrero und Diena, die als Dreierausschuß vom League of Nations Committee for Progressive Development of International Law mit der Lösung dieses Problems betraut waren. Sie teilten Verträge in "absolutely 325

Vgl. Rosenne, Developments in the Law of Treaties 1945-1986, 1989, 189 ff.

§ 13 Vö1kerrechtstheoretischer Hintergrund multilateraler Verträge

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open", "relatively open" und "closed conventions" ein. 326 Diese Klassifizierung findet sich in der Völkerrechtspraxis bisweilen wieder, wenn der Beitritt zu Verträgen an gewisse Bedingungen geknüpft ist und fand seine Kodifikation in Art. 20 Abs. 2 WVRK, der eine spezielle Regelung für Vorbehalte zu sogenannten plurilateralen Verträgen trifft. Hinsichtlich der hier zu untersuchenden Thematik der einseitigen Außerkraftsetzung ist diese Klassifikation nicht von Bedeutung, weil sie nichts über die Rechtsnatur der vertraglichen Verpflichtungen aussagt. Aus diesen Gründen bleibt es bei der vorgeschlagenen idealtypischen Einteilung in drei Kategorien von Verträgen. Eine andere Frage, die hier nicht beantwortet werden und auf die nur hingewiesen werden kann, ist, ob sich aus den verschiedenen Rechtsnaturen multilateraler Verträge auch Unterschiedlichkeiten im Rahmen der Inkraftsetzung im innerstaatlichen Bereich ergeben können. 327 Darüber hinaus wird das Problem der Rechtsnatur multilateraler Verträge von Jenks auch im Rahmen der Staatennachfolge in Verträge erörtert.

§ 13 Völkerrechtstheoretischer Hintergrund der Kategorisierung multilateraler Verträge Nunmehr soll kurz skizziert werden, ob die vorgeschlagene Einteilung auch vor dem Hintergrund völkerrechtstheoretischer Modelle Bestand haben kann. Die Struktur des internationalen Systems hat sich seit dem Westfälischen Frieden, der den Ausgangspunkt dieser Arbeit darstellt, insofern nicht verändert, als es (noch) keine zentrale Durchsetzungsinstanz mit umfassender Kompetenz gibt und die Staaten nach wie vor Erzeuger des Rechtes sind, dem sie sich unterwerfen. Wie jedoch aufgezeigt wurde, hat sich durch die Ausweitung der Regelungsbereiche des Völkerrechts eine Wandlung der Verpflichtungsstrukturen multilateraler Verträge ergeben. Dies ergab sich aus den Regelungszwecken, für die notwendig multilaterale Verträge abgeschlossen werden mußten, da bilaterale Abkommen hierfür nicht taugten. Der internationale Menschenrechtsschutz, die 326 Ihr Bericht ist abgedruckt in: Rosenne (ed.), League of Nations Committee for Progressive Development of International Law (1925-1928), Vol. II, Documents, Dubbs Ferry, 1972, 481 ff. 327 Dazu: Bemhardt, Diskussionsbeitrag, in: Matscher/Siehr/Delbrtick, Staatsverträge erga omnes und deren Inkorporation in nationale IPR-Kodifikationen- Vor- und Nachteile einer solchen Rezeption, BDGVR, H. 27, 199 f.

9 Feist

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1. Teil: Multilaterale Verträge in Völkerrechtstheorie und -praxis

Friedenssicherung im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit und Bereiche des internationalen Umweltschutzes können hierfür als Beispiele angegeben werden. Der Wandel des Völkerrechts spiegelt sich somit wider in den gewandelten Verpflichtungsstrukturen der Verträge. Im folgenden soll nun anband der Modelle Georg Schwarzenhergers und Wolfgang Friedmanns versucht werden, diesen Wandel aufzuzeigen und die Kategorien von Verträgen hierbei einzuordnen. Nach Schwarzenherger gibt es zwei Idealtypen sozialer Systeme: Gesellschaft und Gemeinschaft. 328 Er geht dabei von den von Tönnies entwickelten soziologischen Kategorien aus. 329 In der Gesellschaft verfolgen die Mitglieder verschiedene Interessen und stehen sich grundsätzlich feindlich gegenüber. In der Gemeinschaft verfolgen sie gleichgerichtete Interessen. Während die Gesellschaft auf Furcht und dem Selbsterhaltungstrieb basiert, so kennzeichnet die Gemeinschaft Liebe und die Bereitschaft zur Hingabe ("Iove and self-sacrifice"). In reiner Form finden sie keine Entsprechung in der Realität. Existierende soziale Systeme weisen immer Elemente beider Typen auf. Während einige Systeme eher eine Gesellschaft darstellen, tendieren andere mehr zur Gerneinschaft hin, ohne daß die eine Form die andere völlig verdrängt. Die Strukturen der sozialen Systeme werden durch entsprechende Idealtypen des Rechts reflektiert. In der Gesellschaft gilt das Recht der Macht, in der Gemeinschaft das Recht der Koordination, d. h. ein Recht, das die gemeinsamen Anstrengungen bei der Erreichung gemeinsamer Ziele regelt. Die real existierende Mischform sozialer Systeme wird durch das Recht der Gegenseitigkeit reflektiert. Das internationale soziale System, die Staatengemeinschaft, ist nach Schwarzenherger eines, das von den Strukturen einer Gemeinschaft bestimmt wird. 330 Verträge stellen üblicherweise den Ausgleich kollidierender Interessen dar. Ist ein Kontrahent stärker als der oder die anderen, so kann er seine Interessen durchsetzen, und das Recht der Macht gilt. Im Allgemeinen sind die Vertragspartner jedoch annähernd gleich stark, und die Verträge basieren auf der Gegenseitigkeit.331 Jedoch können Spuren einer Gemeinschaft und damit des Rechts der Koordination im internationalen System nachgewiesen werden, wenn Staaten zur Erreichung gemeinsamer Zwecke, jenseits des Ausgleichs kollidierender Interessen, 328 329

34 ff. 330 331

Schwarzenberger, A Manual of International Law, 6. Aufl., 1976, 9 ff. Tönnies, Gesellschaft und Gemeinschaft, Neudruck der 8. Aufl., 1935, 1988, 7 ff., Schwarzenberger, The Frontiers oflnternational Law, 1962, 21 ff. Schwarzenberger, Frontiers, 31.

§ 13 Vö1kerrechtstheoretischer Hintergrund multilateraler Verträge

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Recht setzen. 332 Wie aufgezeigt wurde, geschieht dies im Bereich der Menschenrechte sowie beim Schutz der Umwelt jenseits nationaler Hoheitsbereiche. Die Anwendung von Schwarzenhergers Modell auf die Strukturen multilateraler Verträge bedeutet, daß der erste Typ von Verträgen, der ein bloßes Bündel bilateraler Rechtsverhältnisse ist, das Recht der Gegenseitigkeit repräsentiert. Der dritte, "objektive" Typ ist dem Recht der Koordination zuzurechnen. Die Einordnung des zweiten, integralen Typs ist demgegenüber schwieriger: Verpflichten sich die Staaten einerseits zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels, so findet die Erfüllung jedoch andererseits im Rahmen der- umfassenden- Gegenseitigkeit statt. Bei der Typologie Schwarzenhergers steht aber nicht so sehr die Erfüllungsstruktur, sondern stehen die Interessen im Vordergrund. Aus diesem Grunde kann der integrale Typ dem Recht der Koordination zugeordnet werden. Eine andere Möglichkeit der theoretischen Erfassung ergibt sich aus Wolfgang Friedmanns Idee des Rechts der Kooperation, das dem Recht der Koexistenz gegenübergestellt wird. 333 Das moderne Völkerrecht wurde vor Aufgaben gestellt, die nicht mehr mit den traditionellen Mitteln des Koexistenzvölkerrechts zu lösen waren. Das Koexistenzvölkerrecht hatte ausschließlich die Funktion, die Souveränitätsbereiche der Staaten gegeneinander abzugrenzen. Im Zuge der Ausweitung der Regelungsbereiche des Völkerrechts auf Gegenstände, die über diese Abgrenzung hinausgehen, entstand ein neuer Typ von Rechtsnormen, der das Recht der Kooperation darstellt, das starke Ähnlichkeit mit Schwarzenhergers Recht der Koordination hat. 334 Dieses dient der Erreichung gemeinsamer Ziele. Der integrale und der objektive Vertragstyp reflektieren dieses Recht der Kooperation. Die gefundene idealtypische Einteilung hat somit auch Bestand vor dem Hintergrund rechtstheoretischer Erfassungendes Völkerrechts.

Dazu Simma/Paulus, EJIL 9 (1998), 266 (276 ff.) . Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, 65 ff.; s. auch Jenks, The Common Law of Mankind, 1958, 17. 334 Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, 278 ff. 332 333

Zweiter Teil

Die Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen § 14 Definition von Kündigung, Rücktritt und Suspendierung Allen Begriffen ist gemeinsam, daß sie die einseitige Außerkraftsetzung vertraglicher Bindungen umschreiben. Im deutschen Privatrecht gibt es darüber hinaus die Differenzierung zwischen der Kündigung als Beendigung eines Dauerschuldverhältnisses "ex nunc", dem Rücktritt als Umwandlung eines Schuldverhältnisses in ein Rückgewährschuldverhältnis sowie dem einseitigen Leistungsverweigerungsrecht, wie es in §§ 273, 320 BGB geregelt ist. Welches der drei Rechtsinstitute jeweils greift, ist dabei - abgesehen von der Geltendmachung im konkreten Fall- nicht so sehr vom Willen der Parteien, als mehr von gesetzlichen Voraussetzungen abhängig: Die Leistung kann vorübergehend verweigert werden, wenn der andere Vertragsteil seine Pflichten aus dem Vertrag nicht erfüllt. Die Kündigung und auch der Rücktritt bedürfen eines Kündigungs- bzw. eines Rücktrittsgrundes. Des weiteren ist der Rücktritt in aller Regel bei Dauerschuldverhältnissen ausgeschlossen. 1 In der WVRK wird ebenfalls an vielen Stellen zwischen Kündigung, Rücktritt und Suspendierung differenziert. So z. B. in Art. 56 Abs. 1 und 57. Diese begriffliche Trennung hatjedoch nicht die Bedeutung, wie sie sich aus dem BGB ergibt. Art. 70 WVRK regelt, daß im Falle der Kündigung oder des Rücktritts die Vertragsbeendigung zwischen erklärendem Staat und Adressat ex nunc erfolgt und durch die vorherige Durchführung des Vertrages geschaffene Rechtslagen zwischen den betroffenen nicht berührt werden. Eine Umwandlung in ein Rückgewährschuldverhältnis wie es die Rechtsfolge eines Rücktritts nach §§ 346 ff. BGB ist, findet im Falle des Rücktritts vom Vertrag im Völkerrecht nicht statt. Hinsichtlich der Rechtsfolgen werden Kündigung und Rücktritt folglich gleichgestellt. Eine terminologische Unterscheidung der Begriffe gibt es jedoch insofern, als von Kündigung ("denunciation") gesprochen wird, wenn sich eine Berechtigung hierzu aus dem jeweiligen Vertrag selbst ergibt und von Rücktritt 1

Siehe dazu Palandt/Heinrichs, 47. Aufl., 1988, Einf. vor § 346, Anm. 2 f.

§ 15 Kündigung/Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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("termination") dann, wenn die Rechtfertigung dafür sich aus dem allgemeinen Recht der Verträge ergibt. 2 Da in den Rechtsfolgen aber kein Unterschied besteht, wird im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr zwischen Kündigung und Rücktritt unterschieden. Die Folgen einer Suspendierung sind in Art. 72 WVRK geregelt. Sie entsprechen im wesentlichen denen des zivilrechtliehen Leistungsverweigerungsrechts: Für die Dauer der Suspendierung sind die Parteien von der Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Vertrag befreit. Die Suspendierung wirkt nicht zurück. Stellen sich die eben beantworteten Fragen für zwei- und mehrseitige Verträge gleichermaßen, so tritt im Fall multilateraler Verträge noch eine neue Dimension hinzu. Aufgrund der höheren Anzahl an Vertragsparteien begründet ein solcher Vertrag nicht lediglich ein, sondern eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen. In bezug auf die einseitige Vertragsbeendigung oder-aussetzungstellt sich damit die Frage, in Person welcher Vertragsparteien diese Rechtswirkungen eintreten. Denkbar ist, daß die Vertragsbindung zwischen jeweils zwei Parteien betroffen ist, aber auch, daß die Bindungen zwischen einem kündigenden oder suspendierenden Staat auf der einen und allen anderen Vertragsparteien auf der anderen Seite beendet oder ausgesetzt sind. Des weiteren kann der Vertrag insgesamt, also mit Wirkung "erga omnes partes", beendet oder suspendiert werden. Dies begründet eine zusätzliche Dimension, die im folgenden zu beachten ist. Dabei werden auch die Rechtsnatur des jeweiligen Vertrages und auch die mit den Rechtsnaturen korrespondierenden Interessenkonstellationen eine Rolle spielen.

§ 15 Kündigung und Suspendierung des Vertrages wegen vorhergehender Vertragsverletzung einer anderen Partei: Art.60WVRK Eine Regelung, die in differenzierter Weise in die WVRK Eingang gefunden hat, ist in Art. 60 das Recht, einen Vertrag infolge einer erheblichen Vertragsverletzung durch eine andere Vertragspartei zu beenden. Dies kann entweder durch Kündigung oder durch allseitige Aufhebung geschehen. Des weiteren kann die Vertragsbindung auch durch Suspendierung ausgesetzt werden.

2 Auskunft des Expert Consultant auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz. abgedr. in UN Doc. A/CONF. 39/11/Add. 2, 275; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984,513.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

I. Dogmatische Begründung des Rechts Der Rechtsgedanke, der der Regelung zugrunde liegt, ergibt sich aus dem Gesichtspunkt der Opfergrenze: Keinem Staat soll zugemutet werden, einen Vertrag gegenüber einer anderen Partei zu erfüllen, wenn diese ihrerseits ihren Pflichten nicht nachkommt. Der Verletzerstaat könnte sonst die Vorteile als Gläubiger genießen, ohne die Lasten des Vertrages tragen zu müssen, während umgekehrt der andere Staat, der seine Pflichten erfüllt, nicht seinerseits von der gleichzeitigen Erfüllung durch den Vertragspartner profitiert. Letztlich basiert dieses Recht zur einseitigen Beendigung oder Suspendierung der Vertragsbindung auf dem römisch-rechtlichen Grundsatz "inadimplenti non est adimplendum".3 Ausgehend davon ist dieser Aufhebungs- bzw. Suspendierungsgrund abzugrenzen von der Aussetzung der vertraglichen Bindung als Repressalie. Geht es nämlich bei der Repressalie um die Reaktion auf vorher geschehenes Unrecht, so ist hier der Wegfall des Interesses an der vertraglichen Bindung die Grundlage. Bei einer Repressalie besteht der Sinn der Aussetzung der Pflichterfüllung in der Ausübung von Beugezwang, um den Verletzer zum rechtmäßigen Verhalten zu bewegen. 4 Bei der hier zu erörternden Regel geht es darum, daß das durch den Vertrag geschaffene Gleichgewicht von Rechten und Pflichten gestört ist und einer Anpassung bedarf. 5 Diese Auffassung hat auch Widerhall in der völkerrechtlichen Rechtsprechung gefunden. So heißt es in dem abweichenden Votum des Richters Hudson im Fall der Ableitung von Wasser aus der Maas, "that where two parties have assumed an identical or a reciprocal obligation, one party which is engaged in a continuing non-performanceofthat obligation should not be permitted to take advantage of a similar non-performance."6

3 PCIJ, Diversion of Water from the Meuse Case, Ser. NB, No. 70, dissenting opinion M. Anzilotti, 49; Rosenne, Breach ofTreaty, 1985, 8; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, 515; Simma, ÖZöRV 20 (1970), 5 (8 f., 19 ff.). 4 Simma, Reflections, 8 f.; Wengler, Völkerrecht I, 537; Annacker, GYIL 37 (1994), 206 (236 f.); Bleckmann, Gedanken zur Repressalie, in: von Münch (Hrsg.), Staatsrecht- Völkerrecht- Europarecht, Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, 193 (205); Nisot, RGDIP 74 (1970), 668; Linsi, Gegenmassnahmen in der Form des Embargos zur Durchsetzung elementarer Vökerrechtsverpflichtungen in der schweizerischen Aussenpolitik, 1994, 12; differenzierend: Sicilianos, EJIL 4 (1993), 241 (258 f.). 5 Fitzmaurice, RdC 92 (1957-11), 3 (120). 6 PCIJ, Diversion ofWater from the Meuse Case, Ser. NB No. 70, dissenting opinion M. Hudson, 77; siehe auch ebenda, dissenting opinion M. Anzilotti, 50.

§ 15 Kündigung!Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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Der gedankliche Ausgangspunkt ist also, daß die Partei, der gegenüber das Geschuldete nicht geleistet wird, ihrerseits nicht verpflichtet sein soll, das ihr Obliegende zu leisten. Das Recht zur Außerkraftsetzung des Vertrages fußt damit letztlich auf der materiellen Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten. Auch wird deutlich, daß es eines Verschuldens der verletzenden Partei nicht bedarf, weil die Nichterfüllung als Reaktion keinen sanktionierenden Charakter hat, sondern lediglich das Gleichgewicht der Rechte und Pflichten wiederherstellt. 7 Dogmatisch abzugrenzen ist dieses Recht von der im Bereich der Staatenverantwortlichkeit zu verortenden Möglichkeit, die Vertragsbindung im Wege der Repressalie oder Gegenmaßnahme ("countermeasure") auszusetzen. Insbesondere Gomaa8 geht von einer unzutreffenden dogmatischen Einordnung aus, wenn er Art. 60 WVRK als Kodifikation des Repressalienrechts versteht. Eindeutig ist die Aussage der ILC selbst zu dieser Abgrenzung: "The right to take this action arises under the law of treaties independently of any right of reprisal [ . .. ]." 9

Der Aussetzung von Verträgen im Rahmen der Selbsthilfe ist ein eigenständiger Abschnitt gewidmet. 10

II. Anerkennung des Rechts in Völkerrechtstheorie und -praxis Wie oben schon erwähnt, war das Recht, einen Vertrag infolge einer Vertragsverletzung durch die andere Partei außer Kraft zu setzen, schon im römischen Recht anerkannt. Auch die Klassiker des Völkerrechts haben die Existenz eines entsprechenden Rechts angenommen. So schreibt schon Christian Wolff: "Da wir aber, vermöge dessen, was erwiesen worden, das Recht haben, vom Vertrage abzugehen, so handeln wir nicht wider Treu und Glauben, wenn wir deswegen vom Vertrage abgehen, weil der andere zuerst davon abgegangen." 11

Auch de Vattel hielt es für gerechtfertigt, als Reaktion auf einen Vertragsbruch den Vertrag zu kündigen. Er sagte, für einen Staat bestehe, statt Krieg zu führen, GYIL 37 (1994), 206 (236 f.). Gomaa, Suspension or Termination of Treaties on Grounds of Breach, 1996, 95 ff. 9 Report of the International Law Corninission on the Work of its Eighteenth Session, YBILC 1966, Vol. 2, 172 (255). 10 Siehe unten § 20. 11 Wolf!, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Faksimile der Ausgabe Halle, 1754, Gaber, Jörn (Hrsg.), 1980, § 442, 274. 7 Annacker,

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsrege1n aufmultilaterale Verträge

um seine Ansprüche durchzusetzen, die Möglichkeit, sich der Vertragsbindung zu entledigen. "Ist man doch unzweifelhaft dazu berechtigt, weil man nur unter der Bedingung etwas versprochen hat, daß der Vertragsgegner seinerseits alle seine Verpflichtungen erfüllt. " 12 Auch Bluntschli erkennt ein diesbezügliches Rücktrittsrecht an. Bei ihm heißt es: "Wenn eine Vertragspartei ihre Verbindlichkeit nicht erfüllt, oder die Vertragstreue bricht, so ist die verletzte Partei zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt.'' 13 Das Recht, von einem Vertrag zurückzutreten, wenn ein anderer Vertragspartner diesen verletzt, schien also allgemein anerkannt zu sein. Dagegen wurde in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts jedoch eingewandt, daß man den Staaten nicht die alleinige Entscheidungskompetenz darüber geben könne, ob ein Vertrag verletzt worden sei und ein Rücktrittsgrund bestehe. Erforderlich sei vielmehr eine Entscheidung einer objektiven Instanz, also eines Gerichtes oder Schiedstribunals.14 Dabei wurde nicht in Abrede gestellt, daß der Vertragsbruch letztlich zur Beendigung der Vertragsbindung führen kann. Abgelehnt wurde lediglich, den Staaten im Sinne eines Kündigungs- oder Rücktrittsrechts die diesbezügliche Entscheidungskompetenz zu geben. Diese Ansicht schien unter den anglo-amerikanischen Völkerrechtlern vor demZweiten Weltkrieg verbreitet zu sein. Im von USamerikanischen Völkerrechtlern vorgestellten Kodifikationsentwurf zum Recht der Verträge, dem sogenannten "Harvard-Draft", wurde eine entsprechende Regel vorgeschlagen. Dieser Article 27 a lautet: "If a State fails to carry out in good faith its Obligations under a treaty, any other party to the treaty, acting within reasonable time after the failure, may seek from a competent international tribunal or authority a declaration to the effect that the treaty has ceased to be binding upon it in the sense of calling further performance with respect to such state.'' 15

In der Kornmentierung dazu hieß es: Jeder Staat könne entscheiden, ob er auf einen Vertragsbruch reagieren wolle. Im Falle der Verletzung eines multilateralen Vertrages finde eine Beendigung der vertraglichen Bindung nur im Verhältnis

12 de Vattel, Le droit de gens ou principes de Ia loi naturelle, dt. Übersetzung, Schätze! (Hrsg.), 1959, Buch li, Kap. VIII,§ 200 (280). 13 Bluntschli, Das moderne Völk~rrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, 3. Auf!., 1878, § 455 (S. 256). 14 Garner/lobst Ili, AJIL 29 (1935), 569 (584 f.). 15 AJIL 29 ( 1935), Suppl. III, Research in International Law under the Auspices of the Faculty of the Harvard Law School, 662.

§ 15 Kündigung/Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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zwischen Verletzer und Verletztem statt. 16 Bei multilateralen Verträgen diene das objektive Verfahren auch dazu, daß das Gericht oder die zuständige Autorität die Rechte auch am Vertrag beteiligter Drittstaaten beachte. 17 Ebenso sah ein Kodifikationsentwurf der International Commission of American Jurists, der 1927 in Rio de Janeiro erarbeitet wurde, vor, daß im Falle eines Vertragsbruches die beteiligten Staaten in Verhandlungen treten sollten. Sollten die Verhandlungen ohne Ergebnis bleiben, sei der Internationale Gerichtshof oder ein Schiedsgericht anzurufen. 18 Die Idee, die hinter dieser Auffassung steht, ist die einer Objektivierung des Völkerrechts und seiner Durchsetzung: Nicht die Staaten selbst sollen die Durchsetzungsinstanzen des Völkerrechts sein, sondern diese Kompetenz soll zunehmend auf zwischenstaatliche Autoritäten und unabhängige Gerichte verlagert werden. Im Zusammenhang mit den in dieser Arbeit vertretenen Thesen über multilaterale Verträge als Mittel der Rechtsetzung im objektiven Interesse spricht einiges für diese Auffassung. Denn wenn das Völkerrecht auch durch multilaterale Verträge eine Wandlung von einem Recht, das lediglich kollidierende Interessen der Staaten ausgleicht, zu einer objektiven Rechtsordnung, die der Erreichung gemeinsamer Ziele dient, vollzieht, so ist es nur konsequent, die Durchsetzung und Überwachung des Rechts auf andere Institutionen, die den Staaten insoweit übergeordnet werden, zu übertragen. Trotzdem konnte sich die These, daß ein völkerrechtlicher Vertrag bei Nichterfüllung nicht gekündigt werden kann, sondern daß nur von einer kompetenten Instanz die Auflösung des Vertrages erklärt werden kann, nicht durchsetzen. Auf Ablehnung stieß die These insbesondere bei den französischsprachigen Völkerrechtlern und bei Anzilotti, 19 aber auch die angelsächsischen Autoren dieser Zeit waren der Meinung, daß der Staat, dessen Rechte verletzt seien, ein Kündigungsrecht habe. 20 Auch die deutschsprachige Lehre favorisierte ein Kündigungsrecht. 21

Ebenda, 1093. Ebenda, 1092. 18 Article 15 des Draft of the International Corninission of American Jurists, Rio de Janeiro 1927, abgedruckt in: AJIL 29 (1935), Suppl. III, Research in International Law under the Auspices of the Faculty of the Harvard Law School, 1222 (1224). 19 Fauchille, Traite de droit international public, 1923, 338; Rousseau, Principes generaux de droit international public, 1944, 539 f. ; Anzilotti, Cours de droit international public, 1929, 465 f.; Scelle, Precis de droit des gens, principes et systematique, deuxieme partie, 1934, 338. 20 Oppenheim, International Law, A Treatise, Vol. I, Peace, 2. Aufl., 1912, 579; Fenwick, 16

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Die zeitgenössische Völkerrechtslehre problematisiert zumeist die Frage, ob die Staaten ein Kündigungsrecht haben, kaum oder gar nicht. 22 Auch ist bei der Beratung der WVRK weder von Seiten der Staatenvertreter noch von den Experten ein Einwand hinsichtlich des Kündigungsrechts gekommen. Schließlich hat auch der IGH im Namibia-Gutachten die gewohnheitsrechtliche Geltung der Kündigungsregeln der WVRK angenommen. 23 Es ist folglich davon auszugehen, daß nach geltendem Völkerrecht grundsätzlich eine Vertragspartei zur Kündigung oder zur Suspendierung des Vertrages berechtigt ist, wenn eine andere Vertragspartei diesen Vertrag bricht.

111. Die Qualität der Vertragsverletzung

Jeder Beendigungsgrund für Verträge muß mit der Grundregel "pacta sunt servanda" vereinbar sein. Als Ausnahmen zu der Grundregel würden sie diese ad absurdum führen, wenn ihnen nicht enge Grenzen gesetzt werden. Wenn jede Vertragsverletzung Anlaß zur Kündigung oder zur Suspendierung des Vertrages gäbe, so hätte dies katastrophale Folgen. Jede noch so unbedeutende Nichtbefolgung der vertraglichen Normen könnte dann die Geltung des Vertrages insgesamt in Frage stellen. Ein solches unbeschränktes Kündigungs- oder Suspendierungsrecht wäre nicht mit der Regel "pacta sunt servanda" vereinbar. Aus diesem Grund ist das Recht, die Vertragsbindung infolge einer Verletzung auszusetzen oder zu beenden, auf die Fälle einer erheblichen Verletzung des Vertrages beschränkt, wie sich aus Art. 60 Abs. 1 WVRK ergibt. 24 Solche erheblichen Verletzungen des Vertrages bestehen nach Abs. 3 des Artikels in der nach dem Vertrag nicht zulässigen Ablehnung des ganzen Vertrages oder in der VerletInternational Law, 3. Aufl., 1949, 452; Moore, A Digest of International Law V, 319; Kelsen, Principles oflnternational Law, 1952, 358. 21 Verdross, Völkerrecht, 5. Aufl., 1964, 152; Wengler, Völkerrecht I, Erster und zweiter Teil, 1964, 538; Dahm, Völkerrecht 111, 1961, 137; Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1, Allgemeines Friedensrecht, 1960,457. 22 O'Connel, International Law I, 2. Aufl., 1970, 267; Shearer, Starke's International Law, 11. Aufl., 1994, 430: Brownlie, Principles of Public International Law, 4. Aufl., 1990, 618; Seidl-Hohenveldem, Völkerrecht, 8. Aufl., 1994, 110 f.; Neuhold/Hummer/Schreuer (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, 2. Aufl., 1991, 79; Rosenne, Breach of Treaty, 1985, 43. 23 IGH Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) (Advisory Opinion), ICJ-Reports 1973, 16 (48). 24 Statt vieler: Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, 516 f.

§ 15 Kündigung/Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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zung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung. Durch diese Eingrenzung des Rechts wird dessen Vereinbarkeil mit der Grundregel gewahrt. Ergäbe sich diese Einschränkung nicht aus dem Wortlaut des Art. 60, so müßte sie unter Zugrundelegung der teleologischen und systematischen Auslegungsmethoden sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aber ohnehin in Art. 60 hineingelesen werden.

IV. Die Regelungen für multilaterale Verträge im einzelnen Bei einem bilateralen Vertrag ist die Rechtslage relativ einfach: Der Staat, dessen Rechte verletzt worden sind, soll berechtigt sein, die Vertragsbindung vorübergehend oder ständig aufzuheben. Hier macht die Regel Sinn und entspricht dem Rechtsgefühl: Das durch den Vertrag begründete Gleichgewicht von Rechten und Pflichten wurde durch den Normbruch gestört. Es liegt nun beim verletzten Staat, ob er das Gleichgewicht durch seinerseitige Nichterfüllung wiederherstellen will. Jenseits der beteiligten Staaten ergeben sich keine Rechtswirkungen. Bei rein bilateralen Rechtsbeziehungen ist die Regelung also sachgerecht. Nicht so eindeutig ist jedoch, welche Rechtsfolgen sich aus der Verletzung multilateraler Verträge ergeben. In diesen Fällen besteht nicht ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten zwischen lediglich zwei Parteien. Hier stellen sich zudem die Fragen, welcher Staat oder welche Staaten das Recht haben sollen, die Vertragsbindung einseitig aufzuheben und wem gegenüber sie dazu berechtigt sein sollen.

1. Die hierzu vertretenen Auffassungen in der Völkerrechtslehre Unter welchen Umständen multilaterale Verträge infolge eines Vertragsbruches gekündigt oder suspendiert werden können, ist in der Völkerrechtslehre stark umstritten. Insbesondere gingen die Meinungen vor Erarbeitung der diesbezüglichen Regel in der WVRK stark auseinander. Zum Teil wird vertreten, daß jede Partei eines multilateralen Vertrages berechtigt sein soll, die Vertragsbindung gegenüber dem Verletzerstaat auszusetzen oder endgültig zu beenden. 25 Jeder Staat habe ein Interesse daran, daß der Vertrag von 25 Harazsti, Some Fundamental Problems of the Law of Treaties, 1973, 316 f.; Sinha, Unilateral Denunciation of Treaty Because of Prior Vio1ations by other Party, 1966, 66.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

allen Parteien erfüllt werde. Das gelte für alle Verträge. Darüber hinaus gebe es keine Staatenpraxis, die eine modifizierte Anwendung der Regel bei multilateralen Verträgen als Völkergewohnheitsrecht beweisen würde.26 Haraszti vertritt in bezug auf integrale multilaterale Verträge, daß diese bei Verletzung auch nur durch eine Partei von jedem Staat mit Wirkung gegenüber allen gekündigt werden können. Der Grund hierfür bestehe darin, daß in einem solchen Falle die Erfüllung des Vertrages im Ganzen sinnlos geworden sei. 27 Eine Ausnahme macht Haraszti allerdings bei Verträgen, durch die eine zwischenstaatliche internationale Organisation gegründet werde: Hier sei lediglich das zuständige Organ der Organisation berufen, darüber zu entscheiden, ob ein Staat, der seine Pflichten verletzt hat, noch Mitglied der Organisation sei. Andernfalls würde die Situation unübersehbar werden, wenn die Staaten selbst kompetent seien, über die Mitgliedschaft des betreffenden Staates zu befinden. Hier bedürfe es einer allgemeinverbindlichen Entscheidung durch ein unparteiisches Organ. 28 Sinha und Haraszti folgen hier dem von Waldock als Sonderberichterstatter gemachten Regelungsvorschlag, wonach jede Partei eines multilateralen Vertrages diesen kündigen kann. Die Kündigungswirkung trittjedoch nur gegenüber dem Verletzerstaal ein, und eine Kündigung ist bei Verträgen ausgeschlossen, die die Gründungsakte einer internationalen Organisation sind oder unter der Schirmherrschaft einer solchen Organisation zustande gekommen sind. 29 Von anderen wird vertreten, daß ein Staat nur dann einen multilateralen Vertrag kündigen könne, wenn alle anderen Parteien ihre Pflichten aus dem Vertrag gegenüber diesem Staat verletzt hätten. 30 Zur Begründung wird angeführt, daß die Störung des Gleichgewichts der Rechte und Pflichten bei einem multilateralen Vertrag für einen Staat erst dann eingetreten sei, wenn er bei gleichzeitiger Erfüllungspflicht von gar keinem Staat seinerseits die Erfüllung mehr erwarten könne. Dahm schränkt das Kündigungsrecht jedoch ein. Es gebe Verträge, die unter allen Umständen erfüllt werden müßten. Diese dürften auch bei Verletzung des Vertrages durch alle anderen Parteien nicht gekündigt werden. Zu solchen Verträgen zählten insbesondere die humanitären Abkomrnen.31

Sinha, 66. Haraszti, 316. 28 Harazsti, 316. 29 Art. 20 Abs. 4 und 5 des Regelungsentwurfes, Second Report on the Law of Treaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1963, Vol. li, 36 (72 f.). 30 Dahm, Völkerrecht III, 1961, 137; Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Band li, 1948, 50; Delbez, Les principes generaux du droit international public, 3. Aufl., 1964, 339. 3 1 Dahm, 139. 26

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Demgegenüber gehen Rousseau 32, Kelsen33 und McNair34 davon aus, daß der Bruch eines multilateralen Vertrages nur die Aussetzung der Vertragsbindung zwischen dem Verletzerstaal und dem Verletzten rechtfertige. Die anderen Staaten seien durch die Rechtsbeziehungen in keiner Weise betroffen. Demzufolge wäre es unangemessen, wenn sie durch die Kündigung in ihren Rechten beeinträchtigt würden. Schließlich gibt es eine Gruppe von Autoren, die davon ausgehen, daß die Kündigung eines multilateralen Vertrages mit dem Charakter eines rechtsetzenden Vertrages im Triepelschen Sinne nicht in Betracht komme. 35 Der Grund für diese Einschränkung liege in der fehlenden Anwendbarkeit der Regel von ihrem Grundgedanken her begründet: Das Kündigungs- oder Suspendierungsrecht ergebe sich aus einer Störung des Gleichgewichts von Rechten und Pflichten, des Synallagmas. Wo aber von vornherein kein solches Gleichgewicht im Sinne einer Austauschbeziehung existiere, könne es nicht gestört werden. Die Verpflichtungen würden unabhängig voneinander existieren und müßten unbedingt erfüllt werden. Deswegen könne die Nichterfüllung eines solchen Vertrages kein Recht für andere Vertragsparteien eröffnen, ihrerseits die Erfüllung zu verweigern. Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß in der Literatur die Frage der Kündigung oder der Suspendierung von multilateralen Verträgen schon vor der WVRK als Problem erkannt und kontrovers diskutiert wurde. Im Prinzip bestand dabei Einigkeit, daß multilaterale Verträge gegenüber bilateralen anders behandelt werden müssen. Darüber hinaus gingen die Meinungen jedoch weit auseinander: Während einige der Auffassung waren, ein mehrseitiger Vertrag könne von einer Partei nur dann gekündigt werden, wenn alle anderen Vertragsstaaten diesen verletzt hätten, vertraten andere, daß grundsätzlich jeder Staat das Recht habe, gegenüber auch nur einem nichterfüllenden Staat die Vertragsbindung außer Kraft zu setzen. Darüber hinaus wurde von einigen Autoren hinsichtlich des Vertragstyps differenziert. Wenn der Vertrag zu den rechtsetzenden gehöre, könne er nicht einseitig beendet werden bzw. diese Möglichkeit sei ausgeschlossen, wenn der Vertrag das Gründungsdokument einer internationalen Organisation sei. Im folgenden wird zu klären sein, welcher der Ansätze sich im geltenden Völkerrecht hat durchsetzen können. Dazu werden die Äußerungen in der VölkerrechtRousseau, 539 f. Kelsen, 358. 34 McNair, The Law ofTreaties, 1961,580. 35 Scelle, Precis de droit des gens, principes et systematique, deuxieme partie, 1934, 338; Fitzmaurice, RdC 92 (1957-11), 1 ( 120); Berber, 457; Wengler, 538; Heintschel v. Heinegg, in: lpsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, 179 in bezugauf Art. 60 Abs. 5 WVRK. 32 33

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

liehen Judikatur ausgewertet, die relevante Staatenpraxis analysiert und die Arbeit der Völkerrechtskommission der UN begutachtet. Schließlich wird die diesbezügliche Regelung der WVRK, Art. 60, untersucht, einschließlich der Äußerungen der Staatenvertreter im Rahmen der Vertragsverhandlungen.

2. Die völkerrechtliche Judikatur Die völkerrechtliche Judikatur hat zu diesem Thema noch nicht Stellung genommen, weil die Frage noch nie entscheidungserheblich war. Im oben schon erwähnten Fall der Wasserableitung aus der Maaß ging Richter Hudson in seinem Sondervotum davon aus, daß die dogmatische Grundlage des Kündigungsrechts wegen Vertragsverletzung das gestörte Vertragsgleichgewicht sei: Eine Partei dürfe nicht die Vorteile der Befriedigung ihrer Ansprüche genießen, wenn sie gleichzeitig die Erfüllung ihrer Pflichten verweigere. Hudson hat dabei nicht ausdrücklich eine idealtypische Einteilung multilateraler Verträge, wie sie dieser Arbeit zugrunde liegt, angenommen. Aus der Aussage läßt sich jedoch schließen, daß ein Kündigungsrecht danach nicht in Betracht kommen kann, wenn die Verpflichtungen nicht gegenseitiger Natur sind. Im Namibia-Gutachten kam der Internationale Gerichtshof auf Art. 60 WVRK zurück, der zwar nicht direkt anwendbar war, aber nach Auffassung des Gerichts eine Kodifizierung des parallel geltenden Völkergewohnheitsrechts darstellte. 36 Das Gericht hatte dabei die Frage zu klären, ob das Mandat, das Südafrika seit der Völkerbundszeit für Südwestafrika innehatte, noch fortbestand oder ob es infolge der behaupteten Verstöße gegen die Mandatsverpflichtungen Südafrikas erloschen sei. Die diesbezügliche Kündigungserklärung konnte dabei in einer Südafrika verurteilenden Generalversammlungsresolution liegen. Gegenstand der Resolution37 war das Verhalten Südafrikas und dessen Negierung etwaiger Verpflichtungen aus dem Mandat gegenüber der Staatengemeinschaft. Der IGH ging zunächst davon aus, daß das Mandatsabkommen, das zunächst zwischen dem Völkerbund und Südafrika geschlossen worden war, nach der Auflösung des Bundes zwischen Südafrika und den Mitgliedstaaten der UN fortbestehe.38 Aus einem ursprünglich bilateralen Vertrag wurde somit ein mehr36 IGH Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970) (Advisory Opinion), ICJ-Reports 1973, 16 (48). 37 Resolution 2145 (XXI). 38 IGH, Legal Consequences, 50.

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seitiger. Durch diesen Schritt wurden die Mitgliedstaaten die Gläubiger. Als solche konnten sie aus der Verletzung des Mandats Rechte herleiten. Das Gericht ging weiter davon aus, daß sich aus der Rechtsnatur des Vertrages keine Beschränkung des Kündigungsrechts ergebe. Es existiere ein "general principle of law that a right of terrnination on account of a breach must be presumed to exist in respect of all treaties, except as regards provisions relating to the protection of the human person contained in treaties of humanitarian character (as indicated in article 60 para. 5, of the Vienna Convention). The silence of a treaty as to the existence of such a right cannot be interpreted as implying the exclusion of a right which has its source outside ofthe treaty, in general intemationallaw, and is dependant on the occurence of circumstances which are not normally envisaged when the treaty is concluded."39

Die Kündigung sei durch eine Generalversammlungsresolution erfolgt. Dabei hätten die Mitgliedstaaten der UN von einem kollektiven Kündigungsrecht in entsprechender Anwendung des Art. 60 Abs. 2 lit. a WVRK Gebrauch gemacht. 40 Das Rechtsgutachten sagt folglich aus, daß es nach allgemeinem Völkerrecht ein Kündigungsrecht bei multilateralen Verträgen gebe, wenn eine Partei einen schweren Vertragsbruch begeht. Des weiteren existiere dieses Recht grundsätzlich bei allen Verträgen mit Ausnahme der Abkommen humanitärer Natur. Die Kündigungserklärung könne dabei durch die Vertragsparteien, die den Vertrag nicht verIetzt haben, mittels kollektiver Willenserklärung erfolgen. Interessanterweise handelt es sich bei der Resolution, die vom IGH als Kündigungserklärung angesehen wurde, nicht um eine einstimmige, sondern um eine, die mit einigen Gegenstimmen verabschiedet wurde. Der Wortlaut des Art. 60 Abs. 2 lit. a sieht aber vor, daß alle anderen Vertragsparteien einvernehmlich den Vertrag aufheben. In einem anderen Fall, in dem die Kündigung eines multilateralen Vertrages wegen einer Vertragsverletzung Entscheidungsgegenstand war, griff Indien die Zuständigkeit des ICAO-Councils an. 41 Dieses Organ, so die indische Argumentation, sei nicht zur Streitentscheidung befugt, weil Indien den Vertrag zur Gründung der ICAO vorher gegenüber Pakistan außer Kraft gesetzt habe. Damit sei der Vertrag zwischen diesen Staaten nicht mehr anwendbar und demzufolge auch die Regeln über Streitbeilegung nicht mehr. Der IGH folgte dieser Argumentation nicht. Die Frage, ob ein Vertrag verletzt sei und deswegen außer Kraft gesetzt werden könne, sei eine Frage der Auslegung des Vertrages. Darüber könne der 39 IGH, Legal Consequences, 47. IGH, Legal Consequences, 51. Appeal Relating to the Jurisdiction of the ICAO-Council (lndia v. Pakistan), ICJ-Reports 1972, 46. 40 41

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

IGH befinden und auch der ICAO-Council sei zu dieser Entscheidung befugt. 42 Interessant ist diese Entscheidung allein deswegen, weil sie besagt, daß es nicht im freien Ermessen des jeweiligen Staates liegt, sein Recht auszuüben, sondern daß es eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit geben muß. Diese kann der Staat nicht durch die Kündigung gleichsam abschneiden. Die Rechtsprechung zum Kündigungsrecht wegen Vertragsverletzung ist nicht sehr umfangreich. Im Namibia-Gutachten hat der IGH allerdings die Auffassung vertreten, daß in Art. 60 WVRK allgemeines Völkerrecht kodifiziert sei. Diese Rechtsauffassung bestätigte der IGH 1998 im Fall des Gabcfkovo-NagymarosStaudamms. 43

3. Staatenpraxis bezüglich multilateraler Verträge Die Praxis der Staaten zur Frage, ob ein Staat berechtigt ist, im Falle einer Vertragsverletzungeiner anderen Partei die Vertragsbindung aufzuheben oder auszusetzen, ist hinsichtlich bilateraler Abkommen reichhaltig und läßt den Schluß zu, daß gewohnheitsrechtlich eine entsprechende Regel anerkannt ist. 44 Im folgenden sollen jedoch nur die Beispiele aus der Staatenpraxis angeführt werden, in denen es um den Rücktritt oder die Aufhebung von multilateralen Verträgen ging. Hierbei stellen sich die Fragen, ob die für zweiseitige Abkommen anerkannte Regel in gleicher Weise für multilaterale gilt, wem gegenüber und unter welchen Umständen ein Staat die Bindung an den Vertrag aufheben oder aussetzen kann und ob dies für alle Verträge gleichermaßen gilt. Ein Fall betrifft die Geltendmachung dieses Rechts durch Preußen bezüglich einer Verletzung der Pariser Deklaration von 1856. In zwei Fällen behauptete Preußen eine Verletzung dieses mehrseitigen Abkommens, in einem Fall durch Dänemark in einem anderen durch Frankreich. In beiden Fällen wies die britische Regierung das Begehren Preußens zurück, jeweils aus anderen Gründen.45 Im ersten Fall hieß es, daß Preußen sich nicht darauf berufen könne, daß das Abkommen gegenüber einem dritten Staat nicht eingehalten würde, im anderen Fall IGH, ICAO-Council, 64; siehe dazu auch Briggs, AJIL 68 (1974), 51 (67). IGH, Case Conceming the Gabcikovo-Nagymaros-Project (Hungary v. Slowakia), ILM 37 (1998), 162 (195). 44 Siehe dazu die umfangreichen Nachweise bei Sinha, 22, 104 ff.; McNair, Law of Treaties, 582. 45 McNair, Law of Treaties, 582. 42

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wurde eine Verletzung des Abkommens verneint. Wörtlich hieß es jedoch in einem Bericht des Queen' s Advocate an die Regierung, daß "[ ... ] if one oftwo Belligerents should break one ofthe conditions ofthe Declaration of Paris, that fact should release the other Belligerent from the obligation to observe any of the conditions ofthat Declaration. " 46

Ein solches Recht beschränke sich jedoch auf die Aussetzung des Vertrages gegenüber der anderen kriegführenden Partei, die das Abkommen verletzt habe. Es sei hingegen nicht erlaubt, von der Vertragserfüllung gegenüber neutralen Mächten abzusehen. 1867 wurde durch den Londoner Vertrag die Neutralität Luxemburgs und des Fürstentums Limburg vereinbart. 47 Im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges kündigte Bismarck in einer Note an, daß aufgrundder Vertragsverletzungen durch Frankreich der Norddeutsche Bund beabsichtige, den Vertrag nicht weiter zu erfüllen.48Zu einer Kündigung kam es letztlich aufgrundeiner diplomatischen Intervention Großbritanniens nicht. 49 Vor Ausbruch des ersten Weltkrieges betonte Frankreich noch einmal, daß es im Falle einer Verletzung dieses Abkommens durch das Deutsche Reich sich für berechtigt halte, die Bindung an den Vertrag gegenüber Deutschland aufzuheben. 5° Im Parallelfall des Londoner Vertrages von 1839 bezüglich der Garantie der belgischen Neutralität51 äußerten die Staaten im Zusammenhang mit den Kriegen von 1870-1871 und 1914-1918 ähnliche Rechtsauffassungen.52 Im Zusammenhang mit dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928 schrieb der damalige US-Außenminister Kellogg an die Regierungen Belgiens, der Tschechoslowakei, Frankreichs, Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Irlands, Italiens, Japansund Polens, daß im Falle der Verletzung dieses Abkommens alle anderen Parteien von den vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem vertragsbrüchigen Staat automatisch befreit seien. Es bedürfe keiner ausdrücklichen Anerkennung dieses Rechts im Vertragstext 53 Dieser Rechtsauffassung schlossen sich Chamberlain und Stresemann an. 54 Zitiert nach: McNair, Law ofTreaties, 586. Hertslet, Map of Europe by Treaty, Vol. III, 1801 . 48 Hertslet, 1901 ff. 49 Sinha, 118. 50 Sinha, 119. 51 Hertslet, Map of Europe by Treaty, Vol. li, 996. 52 Zitiert nach: Sinha, 117 ff. 53 Sinha, 142. 54 Sinha, 142. 46 47

10 Feist

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Ein neueres Beispiel der Staatenpraxis betrifft den Vertrag zur Beendigung oberirdischer Atomwaffenversuche. Im Zusammenhang mit diesem Abkommen äußerte der damalige US-amerikanische Außenminister, daß, sollte die Sowjetunion ihren Pflichten aus diesem Abkommen nicht nachkommen, die USA berechtigt seien, vom Vertrag zurückzutreten und daß alle anderen Parteien das gleiche Recht hätten. 55 Aus dieser Staatenpraxis läßt sich mit einiger Sicherheit der Schluß ziehen, daß auch die Verletzung multilateraler Verträge nach Auffassung der Staaten ein Kündigungsgrund sein kann. Die Praxis erscheint jedoch zu dürftig, um daraus genauere Schlüsse ziehen zu können, wie ein solches Recht genau ausgestaltet ist und inwieweit es beschränkt ist. Deutlich wurde jedoch, daß es keine Beschränkung hinsichtlich der Rechtsnatur des jeweiligen Abkommens gibt. Differenziert wird in der Praxis lediglich zwischen der Aussetzung gegenüber der Partei, die den Vertrag verletzt hat und der Beendigung gegenüber allen Vertragsstaaten.

4. Die Arbeit der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen Aufschlußreicher sind die Berichte von Fitzrnaurice und Waldock für die ILC. Vorbereitend für die WVRK erarbeiteten die Sonderberichterstatter der Völkerrechtskommission Regelungsentwürfe für den Fall des Rücktritts oder die Suspendierung eines Vertrages infolge einer Vertragsverletzung durch eine andere Partei. Dabei divergieren die Ansichten der beiden Sonderberichterstatter erheblich. Einigkeit besteht nur insofern, als die Behandlung zweiseitiger Abkommen keine Probleme bereitet und die Rechtsfolgen bei der Verletzung multilateraler Verträge nicht für alle Verträge einheitlich sein können.

a) Der Regelungsentwurf von Fitzmaurice Die von Fitzrnaurice hierzu vorgeschlagene Regelung in Art. 18 und 19 seines Kodifikationsentwurfs wurde oben56 schon eingehend dargestellt. Danach war er von einer idealtypischen Einteilung der Verpflichtungsstrukturen multilateraler Verträge ausgegangen, die auch dieser Arbeit zugrunde liegt. Wie bei zweiseitigen Verträgen solle bei multilateralen Abkommen, die sich darin erschöpften, eine BündeJung bilateraler Rechtsbeziehungen zu sein, der Staat, dessen Rechte ver55

Zitiert nach: Briggs, AJIL 68 (1974), 643 (663 ff.).

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§ 8, I. 2. b).

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Ietzt seien, die Vertragserfüllung aussetzen dürfen. Dies dürfe er allerdings nur gegenüber dem Staat, der zuerst die Erfüllung seiner Pflichten gegenüber ihm unterlassen habe. Zwischen ihm und den übrigen Parteien bleibe der Vertrag in Kraft. Bei multilateralen Verträgen, die anderen Typen angehörten, sei eine einseitige Aussetzung der Vertragsbindung oder gar eine Kündigung gegenüber lediglich einem Staat nicht möglich. Dies liege an der fehlenden bilateralen Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten aus dem Vertrag. Bei einem Vertrag mit integraler Erfüllungsstruktur sei eine Pflichtverletzung nicht nur eine Verletzung der Rechte eines Staates, sondern der Rechte aller anderen Staaten. Die Rechtsfolge einer solchen Verletzung bestimme sich nach Art. 19 Abs. 1, ii, b, iii. Dabei differenziert er zwischen einfachen und schweren Vertragsverletzungen. Bei einfachen Verletzungen eines integralen Vertrages soll jeder Staat berechtigt sein, die Erfüllung der verletzten Verpflichtung vorübergehend auszusetzen. Bei schweren Vertragsverletzungen könnten die anderen Parteien dagegen den Vertrag als beendet betrachten. Darüber hinaus könne jede Partei für sich von der weiteren Teilnahme am Vertrag zurücktreten. Hier bedürfe es nicht der Feststellung der besonderen Betroffenheit einer Partei, weil eben alle Parteien durch die Verletzungshandlung in ihren Rechten betroffen seien. Das Gleichgewicht von Rechten und Pflichten sei hier nicht nur zwischen zwei Vertragsstaaten, sondern zwischen dem Verletzer und allen anderen Parteien gestört. Daraus folge, daß jeder Staat das Gleichgewicht zwischen sich selbst und dem Verletzer dadurch wiederherstellen könne, daß er die verletzte Norm seinerseits nicht erfülle. Bei einer schweren Vertragsverletzung, die einer einseitigen Beendigung gegenüber gleichwertig sei, mache der Vertrag insgesamt für die anderen Parteien keinen Sinn mehr und sie könnten ihn insgesamt aufheben. Des weiteren sei die weitere Erfüllung auch für jeden Staat einzeln sinnlos geworden, so daß auch ein Rücktrittsrecht für jeden Staat existieren müsse. Im Falle eines Vertrages, dessen Pflichten nicht zwischen den Staaten erfüllt werden, also solchen, die objektiver Natur sind,57 führe die Nichterfüllung durch eine Partei nicht zu entsprechenden Rechtsfolgen. Fitzmaurice zählt zu Verträgen dieses Typs solche, die ein gebietsbezogenes Regime einrichten, Abkommen, in denen sich die Staaten verpflichten, gemeinsame Standards verbindlich zu machen und andere Verträge, deren rechtliche Bindungswirkung nicht auf der zwischenstaatlichen Gegenseitigkeit der Erfüllungshandlungen basiert.

57

Fitzmaurice spricht hier von "traites lois", Art. 19 Abs. 1, iv.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

b) Der Regelungsentwurf von Waldock Auch der Art. 20 des Kodifikationsentwurfs von Sir Humphrey Waldock58 wurde weiter oben schon vorgestellt. 59 Danach differenziert Sir Humphrey im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht zwischen verschiedenen Idealtypen multilateraler Verträge. Seiner Auffassung nach sei die Einteilung von Fitzmaurice lediglich von akademischem Wert und von geringem praktischen Nutzen. Im einzelnen sieht Art. 20 Abs. 4 lit. a, i, ii im Prinzip eine einheitliche Grundregel für alle multilateralen Verträge vor. Danach können alle Parteien einen multilateralen Vertrag zwischen sich und einer anderen Partei kündigen, wenn diese Partei eine Vertragsverletzung begangen hat. Darüber hinaus steht es gern. Art. 20 lit. b, i, ii allen Vertragsparteien- außer dem Verletzerstaat- zu, den Vertrag zwischen sich und dem Verletzer gemeinsam zu beenden. Schließlich sollte nach Art. 20 Abs. 4, b jede Partei eines multilateralen Vertrages zurücktreten können, wenn sie zwar nicht durch den Vertragsbruch direkt betroffen sei, die Art und Weise der Vertragsverletzung aber die Erreichung des Vertragszweckes insgesamt vereitele. In diesem Falle könne sich jeder Staat gegenüber allen anderen Vertragsparteien einseitig von der Vertragsbindung befreien. Gemäß Art. 20 Abs. 5 ist das Recht zur einseitigen aber auch zur kollektiven Beendigung ausgeschlossen, wenn es sich um einen mehrseitigen Vertrag handelt, der das Gründungsdokument einer zwischenstaatlichen internationalen Organisation ist oder wenn der Vertrag unter der Schirmherrschaft einer solchen Organisation zustande gekommen ist. In diesen Fällen kann nach diesem Artikelentwurf nur das zuständige Organ dieser Organisation die Rechtsverletzung verbindlich feststellen und daran den Ausspruch einer Rechtsfolge knüpfen. In seiner Kommentierung60 vertrat Sir Humphrey die Auffassung, daß die Kategorisierung multilateraler Verträge, wie sie von Fitzmaurice vorgenommen worden sei, von geringem praktischen Wert sei. Deswegen wolle er auch grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den Vertragstypen machen. Im Hinblick auf eine verdichtete Organisierung der Staatengemeinschaft erschien es ihm jedoch wünschenswert, solchen multilateralen Verträgen, die Gründungsdokumente zwischenstaatlicher Organisationen darstellten oder unter ihrer Schirmherrschaft abgeschlossen worden seien, einen erhöhten Bestandsschutz zuzuerkennen. 58 Second Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1963, Vol II, 36 (72 f. ). 59 Siehe oben§ 8, I. 3. b). 60 Waldock, Second Report, 77.

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In der ILC wurde dieser Vorschlag Waldocks noch im seihen Jahr diskutiert und bis auf die Ausnahme in bezug auf internationale Organisationen generell akzeptiert.61 Entsprechend dieser Beschlußlage stellte Sir Humphrey einen neuen Artikelentwurfvor. Diesen übermittelte er der ILC in seinem fünften Bericht. 62 Der darin enthaltene Art. 4263 enthielt in seinen Absätzen 2 und 2 (bis) keine dem Art. 20 Abs. 4 des vorhergehenden Entwurfs entsprechende Regelung mehr. Nach Art. 42 Abs. 2 soll es keine Unterschiede hinsichtlich der Vertragstypen geben. Gemäß Art. 42 Abs. 2 a soll eine Partei berechtigt sein, den Vertrag mit Wirkung für sich selbst und den Verletzerstaal zu suspendieren, wenn er durch die Verletzung in seinen Interessen betroffen sei. Des weiteren (Art. 42 Abs. 2, b) können alle Parteien einvernehmlich den Vertrag insgesamt oder zwischen ihnen auf der einen und dem Verletzer auf der anderen Seite suspendieren. Art. 42 Abs. 2 (bis) schließlich entspricht Art. 20 Abs. 4 des alten Entwurfs, wonach jede Partei mit Wirkung gegenüber allen anderen die Vertragsbindung aussetzten kann, wenn die Vertragsverletzung die Erreichung des Vertragszwecks vereitele. c) Die Reaktionen in der ILC und im sechsten Komitee der Generalversammlung Während die Regelungsentwürfe von Fitzmaurice nie im Plenum der ILC diskutiert werden konnten, waren die Vorschläge seines Nachfolgers Gegenstand ausgedehnter Debatten in der ILC. Des weiteren hatte auch das sechste Komitee der Generalversammlung Gelegenheit, zu den Entwürfen Stellung zu nehmen. Dabei stellte sich heraus, daß Waldocks Art. 42 die Grundlage des Entwurfs für die WVRK wurde. In der ILC herrschte mehrheitlich Einverständnis mit Art. 42 des Waldocksehen Entwurfs. 64 Lediglich Cadieux65 und Tunkin66 übten Kritik, die sich allerdings nicht durchsetzen konnte. Ausdruck dieser Auffassung ist Art. 57 des Konventionsentwurfs der ILC, der Art. 42 des Waldock-Entwurfs stark ähnelt. 67 YBILC 1963, Vol. I, 244 ff. Fifth Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1966, Vol. II, I. 63 Waldock, Fifth Report, 37. 64 831st meeting, YBILC 1966, Vol. I, 59-67. 65 YBILC 1966, Vol. I, 63. 66 YBILC 1966, Vol. I, 63. 67 YBILC 1966, Vol. II, 253. 61

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Dazu passen auch die überwiegenden Reaktionen der Staaten. Diese waren mehrheitlich zufrieden mit dem Entwurf. Als eine der wenigen Ausnahmen forderte Portugal, daß hier hinsichtlich der Rechtsfolgen zwischen rechtsgeschäftliehen Verträgen auf der einen und rechtsetzenden auf der anderen Seite differenziert werden solle. 68 Des weiteren haben die USA und die Niederlande angemahnt, eine Regelung in diesem Bereich auf die verschiedenen Vertragstypen abzustimmen. 69 Entsprechend kam auch das sechste Komitee der Generalversammlung, das mit Völkerrechtsfragen betraut ist, zu keinem anderen Ergebnis. 70 Es wurde lediglich angemerkt, daß einige multilaterale Verträge sich vollständig in Bündel zweiseitiger Rechtsbeziehungen aufspalten ließen. Für Verträge dieses Typs sei die Anwendung der Regel für zweiseitige Abkommen passend. Als Zwischenergebnis bleibt also festzuhalten, daß die Staaten mit einem Regelungsentwurf, der nicht wie der von Fitzmaurice ausdrücklich zwischen verschiedenen Vertragstypen differenziert, in der Mehrheit einverstanden waren.

d) Der Kodifikationsentwurf der ILC Aufbauend auf die Sonderberichte von Sir Humphrey und die Reaktionen der Staatenvertreter im sechsten Komitee sowie der Regierungen selbst, stellte die ILC einen Kodifikationsentwurf vor, der die Verhandlungsgrundlage für die spätere WVRK bildete. Dieser Artikel 57 bildete die Grundlage der späteren Regelung in Art. 60 WVRK. Im vollen Wortlaut zitiert: "1. A material breach of a bilateral treaty by one of the parties entitles the other to invoke the breach as a ground for tenninating the treaty or suspending its operation in whole or in part. 2. A material breach of a multilateral treaty by one of the parties entitles: (a) the other parties by unanimous agreement to suspend the operation of the treaty or to terminate it either: (i) in the relations between themselves and the defaulting state, or (ii) as between all the parties; (b) A party specially affected by the breach to invoke it as a ground for suspending the operation of the treaty in whole or in part in relations between itself and the defaulting state; 68 Comments on Governments on parts I, li and II of the draft articles on the Law of treaties, YBILC 1966, Vol. II, 279 (324). 69 Zitiert bei Waldock, Fifth Report, 33-35. 70 Report of the sixth Committee, UN Doc. A/560 1.

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(c) Any other party to suspend the operation of the treaty with respect to itself ifthe treaty is of such a character that a material breach of its provision by one party radically changes the position of every party with respect to the further performance of its obligations under the treaty. "71 Zunächst ist festzustellen, daß die Ideen beider Sonderberichterstatter sich nicht haben durchsetzen können. Der Regelungsentwurf differenziert grundsätzlich zwischen bi-und multilateralen Verträgen auf die jeweils ausschließlich Abs. I bzw. Abs. 2 anwendbar sind. Absatz I besagt dabei lediglich, daß die erhebliche Verletzung eines Vertrages einen Kündigungsgrund darstellt. Der für multilaterale Verträge konzipierte Abs. 2 geht ebenfalls von dem Grundsatz aus, daß eine erhebliche Vertragsverletzung zur Beendigung der Vertrages führen kann. Im Detail wird jedoch hinsichtlich der Rechtsfolgen danach differenziert, ob alle Vertragsparteien außer dem Verletzer oder eine verletzte Partei allein auf den Vertragsbruch reagieren. Ohne Einschränkung können alle Vertragsstaatenaußer dem Verletzer einstimmig die Bindung an den Vertrag endgültig oder vorübergehend aufheben. Darüber hinaus können sie entscheiden, ob dies mit Wirkung nur gegenüber dem Verletzer geschehen, oder ob der Vertrag zwischen allen ausgesetzt oder beendet werden soll. Im Gegensatz dazu hat ein Vertragsstaat allein grundsätzlich nur das Recht, die Geltung des Vertrages zu suspendieren, wobei dieses Recht zusätzlich nach Maßgabe der Abs. 2 b) und c) eingeschränkt ist. Gemäß Abs. 2 b) kann eine Vertragspartei die Geltung des Vertrages suspendieren, wenn sie besonders betroffen ("specially affected") ist. Diese Suspendierung ist jedoch beschränkt auf das Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Verletzer. Eine Suspendierung, die Wirkung gegenüber allen Vertragsparteien entfaltet, kann nach Abs. 2 c) nur dann erklärt werden, wenn der verletzte Vertrag eine Rechtsnatur ("character") aufweist, wonach eine Vertragsverletzung durch eine Partei die Position aller anderen Parteien hinsichtlich der weiteren Vertragserfüllung grundlegend ändert. In der Begründung verwies die ILC zunächst darauf, daß sie es für erforderlich halte, unterschiedliche Rechtsfolgen an eine gemeinsame Reaktion der Vertragsstaaten auf der einen und das Verhalten einer einzelnen Vertragspartei auf der anderen Seite zu knüpfen. 72 Grundsätzlich stellte die Kommission die Situation einer einzelstaatlichen Reaktion mit der Situation der Verletzung eines bilateralen 71 Report of the International Law Commission on the Work of its Eighteenth Session, YBILC 1966, Vol. 2, 172 (253). 72 Report of the International Law Commission on the Work of its Eighteenth Session, YBILC 1966, Vol. 2, 172 (255).

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Vertrages gleich. Es sollten hierbei aber auch die Interessen der anderen Vertragsstaaten berücksichtigt werden, so daß das Recht des verletzten Staates auf eine Aussetzung der Vertragsbindung mit Wirkung zwischen ihm selbst und dem Verletzerbeschränkt bleiben solle. Außerdem biete sich eine Suspendierung generell nur für einen durch die Verletzung besonders betroffenen Staat an. Eine Begrenzung des Suspendierungsrechts auf besonders betroffene Staaten sei nach Auffassung der ILC besonders im Fall allgemeiner, rechtsetzender Verträge erforderlich. Zwar wurde die Frage, ob im Falle solcher Verträge einzelnen Staaten überhaupt nach dieser Vorschrift Reaktionsmöglichkeiten eröffnet werden sollten, letztlich bejaht. Denn es sollte dem Staat, der seine Vertragspflichten verletzt habe, nicht die Möglichkeit eröffnet werden, von den anderen Staaten die weitere Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen zu verlangen. Außerdem würden sogar solche Abkommen, wie die Völkermord-Konvention oder die Genfer Abkommen zum Humanitären Völkerrecht, Austrittsklauseln enthalten. Eine Sonderbehandlung für Abkommen dieser Art solle danach im Rahmen des Art. 57 nicht stattfinden. Ein weitgehender Schutz der Integrität des Vertragsregimes bei einem solchen Vertrag werde durch die Einschränkung der Berechtigung auf den besonders betroffenen Staat und die begrenzte Suspendierungswirkung "ratione personae" erreicht. Zur Begründung der Sonderregelung in Art. 57 Abs. 2 c) führt die ILC an, daß die Regierungen während der Beratung des Entwurfs das Problem, daß bei bestimmten multilateralen Abkommen die Nichterfüllung durch bloß eine Partei das Vertragsregime insgesamt unterwandern würde, einer besonderen Regelung haben zugeführt sehen wollen. In einem solchen Fall könne ein Staat nicht die Erfüllung seiner Pflichten bloß dem nicht erfüllenden Staat gegenüber aussetzen. Die Erfüllung des Vertrages sei nicht teilbar. Könnte ein verletzter Staat in einem solchen Fall aber nicht auf die Verletzung reagieren, weil die begrenzte Suspendierung unmöglich sei, so sei die Wahrung seiner Rechte nicht gesichert. In einem solchen Fall müsse es dem Staat aber dennoch möglich sein, ohne vorher Konsens unter den Vertragsparteien herzustellen, die Bindung an den Vertrag auszusetzen.

e) Analyse Im Gegensatz zum Entwurf Waldocks knüpft Art. 57 ein differenzierteres Rechtsfolgeregime an die Reaktion der Vertragsparteien im Kollektiv einerseits und an die eines einzelnen Staates andererseits. Die Vertragsstaaten in ihrer Gesamtheit sind als "Herren des Vertrages" in einem weitaus freieren Maße berechtigt, eine Vertragsverletzung zum Gegenstand einer Beendigung oder Aussetzung

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des Vertrages zu machen, als dies ein einzelner verletzter Staat zu tun vermag. Eine etwaige Einschränkung des Kollektivrechts aufgrund der Rechtsnatur des jeweiligen Vertrages ist dabei nicht vorgesehen. Auch sind die Vertragsstaaten, wenn sie einstimmig handeln, nicht verpflichtet, das Kündigungs- oder Suspendierungsverfahren, einschließlich der Mechanismen zur friedlichen Streitbeilegung, zu beschreiten. Sie können allein aufgrund der gemeinsamen Ausübung des Rechts die Bindung an den Vertrag ganz oder teilweise aufheben oder aussetzen. 73 Dagegen bestimmen sich die Reaktionsmöglichkeiten eines einzelnen Staates, der sich infolge einer Verletzung vom Vertrag lösen möchte, allein nach der Rechtsnatur des jeweiligen Vertrages. Gemäß Abs. 2lit. b bedarf es einer besonderen Betroffenheit des Staates, es ist folglich nichtjede Verletzung im Sinne des Abs. 3 ausreichend. Besonders betroffen kann ein Staat nur sein, wenn in seine Rechte durch die Verletzung intensiver eingegriffen wird als in die Rechte der übrigen Vertragsparteien. Diese besondere Rechtsbeziehung kann sich entweder aus der Art und Weise des Vertragsbruchs oder aus der Natur der verletzten vertraglichen Pflicht ergeben. Praktisch kommt dabei nur die Natur der verletzten Pflicht in Betracht. Denn durch Abs. 3 ist die Art und Weise der Verletzung schon weitgehend eingeschränkt, nämlich auf Ablehnung der Erfüllung des Vertrages insgesamt oder die Verletzung einer für die Zweckerreichung des Vertrages wesentlichen Bestimmung. Demnach kann ein Staat nur dann besonders betroffen sein, wenn in eine ihm zustehende subjektive Berechtigung eingegriffen wird, die andere Vertragsparteien nicht haben. Das wiederum setzt voraus, daß sich der mehrseitige Vertrag in Rechtsbeziehungen zwischen jeweils zwei Parteien aufspalten lassen können muß, in diesem Fall in eine bilaterale Rechtsbeziehung zwischen Verletzer und Verletztem. Die Anwendung des Abs. 2 lit. bist also beschränkt auf Verträge die ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen darstellen und sich darin erschöpfen. 74 In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage der ILC in der Kommentierung des Entwurfs zu sehen: "When an individual party reacts alone the Commission considers its position is similar tothat in the case of bilateral treaties, butthat its right should be so limited to suspending the treaty in whole or part as between itself and the defaulting state. " 75

Siehe dazu Simma, Reflections, 65 ff. Simma, Reflections, 67 f.; ders., RdC 250 (1994-IV), 217 (351 ); Hutchinson, BYIL 59 (1988), 151 (188 ff.); Hafner, GYIL 31 (1988), 187 (190). 75 ILC-Report 1966, 255. 73

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Die ILC stellt also ebenfalls die Analogie zu zweiseitigen Abkommen her. Des weiteren heißt es: "In the case of a multilateral treaty the rights of the other parties have to be taken into account [ ... ]. " 76

In die Rechte dritter Vertragsstaaten darf durch die Aussetzung des Vertrages zwischen dem verletzten Staat und dem Verletzer also nicht eingegriffen werden. Das setzt aber voraus, daß die Rechte Dritter durch eine Suspendierung auch nicht berührt werden können. Das ist nur möglich, wenn der Vertrag sich darin erschöpft, ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen zu sein, weil nur dann die Rechtsbeziehungen zwischen jeweils zwei Parteien sich nicht auf die Rechtsstellungen der anderen Vertragsstaaten auswirken. Im Unterschied dazu erlaubt lit. c) einen solchen Eingriff in die Rechte dritter Vertragsparteien im Falle einer Suspendierung infolge einer Vertragsverletzung, wenn durch die Verletzung das Vertragsregime insgesamt ausgehöhlt wird. Als Beispiele für solche Verträge werden von der ILC Abrüstungsverträge genannt. 77 Im Falle eines solchen Vertrages steht die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen nicht lediglich in einem Gegenseitigkeitszusammenhang zwischen jeweils zwei Parteien, sondern die Erfüllungshandlung einer Partei korrespondiert mit der gleichzeitigen Erfüllung durch alle anderen Parteien. Abkommen dieser Art werden durch den Idealtyp des integralen Vertrages repräsentiert. 78 Die Unterschiede der Regelung in lit. c) gegenüber der des lit. b) ergeben sich dabei zum einen aus der Verletzung selbst und zum anderen aus der Position des verletzten Staates zu den anderen Parteien hinsichtlich seiner Reaktionsmöglichkeiten. Einer besonderen Betroffenheit durch den Vertragsbruch bedarf es nicht. Es wird sie auch in aller Regel nicht geben, weil der Erfüllungsanspruch aller anderen Parteien gleichermaßen tangiert ist. Des weiteren ist es nicht möglich, im Falle eines solchen Vertrages die Vertragsbindung nur im Verhältnis zwischen zwei Staaten auszusetzen. Da nur gegenüber allen Parteien gleichzeitig erfüllt werden kann, bedeutet die Erfüllungsverweigerung gegenüber einer Vertragspartei, daß auch die Erfüllungsansprüche aller anderen Parteien nicht eingelöst werden. Da es also schon an dem Merkmal der besonderen Betroffenheit fehlt und auch die Möglichkeit der bilateralisierten Vertragsaussetzung nicht gegeben ist, wurde für diese Art von Verträgen die beschriebene Sonderregelung geschaffen, wonach ILC-Report 1966, 255. Ebenda. 78 Simma, Reflections, 75 f.; Reuter, 196.

76 77

§ 15 Kündigung/Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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jeder Staat, außer demjenigen, der seine Pflichten verletzt hat, die Bindung mit Wirkung gegenüber allen aussetzen kann. Es wäre indes auch vorstellbar, im Fall der Verletzung eines integralen Vertrages einen gegenteiligen Standpunkt einzunehmen: Die Integrität des Vertragsregimes wäre in einem noch wesentlich höheren Maße gefährdet, wenn man es jedem Vertragsstaat erlauben würde, im Falle einer Vertragsverletzung durch eine andere Partei, den Vertrag mit Wirkung "erga ornnes partes" zu suspendieren. 79 Im Interesse der Erhaltung des Vertrages - wenn auch mit weniger Parteien - sollte es einzelnen Staaten nicht erlaubt sein, nach eigenem Ermessen die Vertragsbindung auszusetzen. Die ILC hat sich jedoch für die gegenteilige Lösung entschieden, die auch offensichtlich die Auffassung der Staaten widerspiegelt. So stellte für den Fall des Atomteststopvertrages der US-amerikanische Außenminister fest, daß im Falle eines Vertragsbruchs seitens der UdSSR die Bindung der USA an den Vertrag entfalle und sie sofort wieder oberirdische Atomversuche aufnehmen könne. 80 Die Opfergrenze für die verletzten Staaten wurde also nicht zugunsten des Integritätsinteressesam Vertrag nach unten verschoben. Vielmehr wurde als entscheidend erachtet, daß die Erfüllung für einen Vertragsstaat infolge einer Vertragsverletzung sinnlos werden kann. Zusammenfassend ergibt sich aus Art. 57 Abs. 2, der im wesentlichen die Grundlage des späteren Art. 60 Abs. 2 WVRK darstellt, daß die Möglichkeiten zur Kündigung und Suspendierung für einzelne Staaten im Falle der Verletzung eines multilateralen Vertrages stark eingeschränkt, dem Grunde nach aber gegeben sind. Einzelne Vertragsparteien eines mehrseitigen Abkommens können einen Vertrag zunächst nur suspendieren und nicht kündigen. Des weiteren können sie dies auch nur, wenn sie in eigenen Rechten betroffen sind, und auch dieses Recht ist, außer im Falle der Verletzung eines integralen Vertrages, beschränkt auf das Rechtsverhältnis zwischen dem Staat selbst auf der einen und dem vertragsbrüchigen Staat auf der anderen Seite. Läßt sich ein multilateraler Vertrag hingegen nicht bilateralisieren, so ist einem verletzten Staat grundsätzlich die Möglichkeit genommen, die Bindung an den Vertrag auszusetzen, weil er dadurch in die Rechte dritter Vertragsparteieneingreifen würde, es sei denn, ein integraler Vertrag nach lit. c) ist verletzt worden.

79

80

Reuter, 196. Siehe dazu Briggs, AJIL 58 (1964), 643 (663 ff.).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

f) Die Vervollständigung des Entwurfs zum Art. 60 WVRK

Wie bereits erörtert, ähnelt der Art. 57 des ILC-Entwurfs bereits stark dem Art. 60 WVRK. In zwei Teilregelungen weicht Art. 60 allerdings vom Entwurf ab.

g) Die Modifikation in Art. 60 Abs. 2 lit. c) Die Absätze 2 entsprechen sich bis auf eine Ausnahme. In lit. c) des Art. 60, der die Reaktionsmöglichkeiten einzelner Staaten bei der Verletzung bestimmter integraler Verträge betrifft, heißt es im Gegensatz zum lit. c) des Art. 57 Abs. 2 ILC-Entwurf: "any party other than the defaulting state to invoke the breach as a groundfor suspending the Operation of the treaty [ .. . ]. " ( Hervorhebungen vom Verf.)

Aus dieser scheinbar geringfügigen Veränderung des Wortlauts ergeben sich entscheidende Unterschiede hinsichtlich der Rechtsfolge: Nach dem Entwurf der ILC sollte jeder Vertragsstaat außer dem vertragsbrüchigen Staat durch Aussetzung der Vertragsbindung unmittelbar auf die Verletzung reagieren können. In der endgültigen Fassung wurde dies durch das Recht ersetzt, sich zum Zwecke der Suspendierung auf den Vertragsbruch berufen zu können. Das bedeutet, daß nunmehr der verletzte Staat nicht einfach die Aussetzung der Vertragsbindung durch einseitige Willenserklärung, gerichtet an alle anderen Parteien, herbeiführen kann. Er muß das hierfür von der WVRK vorgesehene Verfahren einhalten. 8 1 Nach diesem Verfahren muß die Vertragspartei, die die Aussetzung begehrt, ihr Verlangen den anderen Parteien unter Angabe von Gründen notifizieren. Daraufhin kann der Vertrag nach Ablauf einer Frist von 3 Monaten suspendiert werden, wenn nicht eine andere Vertragspartei dagegen Einwendungen erhebt. Werden Einwendungen erhoben, so besteht eine Verpflichtung, den Streit friedlich beizulegen oder gegebenenfalls eine Klärung vor dem IGH herbeizuführen. 82

h) Art. 60 Abs. 5 Eine Neuregelung gegenüber dem Entwurf der ILC stellt Art. 60 Abs. 5 dar. Diese Vorschrift nimmt bestimmte Verträge vom Anwendungsbereich des Art. 60 aus. Im vollen Wortlaut heißt es: 81

82

Briggs, AJIL 68 (1974), 51 (56). Siehe dazu Simma, Reflections, 79 ff.; Gomaa, 197 ff.

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,.Paragraphs I to 3 do not apply to provisions relating to the protection of the human person contained in treaties of a humanitarian character, in particular to provisions prohibiting any form of reprisals against persons protected by such treaties."

Diese Vorschrift wurde infolge der Beratungen des Entwurfs der ILC auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz eingefügt. Ausgangspunkt dafür war ein Vorschlag der Schweizer Delegation, der dort mündlich vorgetragen wurde und lautete: "The foregoing rules do not apply to humanitarian conventions concluded with or between states not bound by multilateral conventions for the protection of the human person which prohibit reprisals against individuals. Agreements of this kind must be observed in all circumstances."83

Eine schriftliche Ausarbeitung dieses Vorschlages folgte. Sie lautete: "The foregoing paragraphs do not apply to provisions relating to the protection of the human person contained in conventions and agreements of a humanitarian character, in particular, to rules prohibiting any form or reprisals against protected persons." 84

Der Schweizer Delegierte Bindschedler begründete den Vorschlag damit, daß eine Kündigung oder Suspendierung solcher Abkommen Menschenleben gefährden könnte. 85 Der Vorschlag der Schweiz stieß im Plenum auf breite Zustimmung86, so daß ohne kontroverse Diskussion Art. 60 Abs. 5 als Ergänzung aufgenommen wurde. Schon vor Verabschiedung des Art. 60 Abs. 5 WVRK gab es in der Völkerrechtslehre Stimmen, die eine entsprechende Regel des Völkerrechts forderten. Dahm87 und Schwelb88 meinten, daß bei Verträgen, deren Zielrichtung der Schutz von Menschen sei, eine Aussetzung oder Kündigung infolge einer Vertragsverletzung nicht in Betracht kommen dürfe. Dahm89 führt zur Begründung an, daß humanitäre Verträge zu einer Kategorie multilateraler Verträge gehörten, die unter allen Umständen erfüllt werden müßten. In diesem Zusammenhang verweist er auf den diesbezüglichen Entwurf der Art. 19 Abs. 3 lit. e und 19 des damaligen Sonderberichterstatters Fitzrnaurice. Schwelb90 dagegen kritisiert den Ansatz Fitzrnaurices' 83 61st meeting ofthe Committee ofthe Whole, para. 12, 354 f., UN Doc. NCONF. 39/11. 84 UN Doc. NCONF. 39/L. 31, abgedruckt in: UN Doc. NCONF. 39/11/Add. 2, 269. 85 UN Doc. NCONF. 39/11, 354. 86 Siehe dazu die Aussprache beim 21. Plenary Meeting UN Doc. NCONF. 39/Add. 1, 112 ff. 87 Dahm, Völkerrecht IIJ, 134. 88 Schwelb, India J. of Int'l Law 7 (1967), 309 (322). 89 Dahm, Völkerrecht IIJ, 134. 90 Schwelb, India J. oflnt'l Law 7 (1967), 309 (324 f.).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

und sieht die besondere Situation des Schutzes von Dritten, die nicht Vertragsparteien sind, als entscheidend an. Insbesondere lehnt er die These ab, daß es Verträge mit rein objektiven Verpflichtungen gebe. Auch Verträge zum Schutz der menschlichen Person würden Elemente der Gegenseitigkeit in ihren Strukturen aufweisen. 91 Ob Abs. 5 wegen der besonderen Erfüllungsstruktur oder wegen der speziellen Interessenlage in die WVRK Einzug gefunden hat, beurteilt sich danach, wie der Begriff "provisions relating to the protection of the human person contained in treaties of a humanitarian character" zu verstehen ist. Ausgehend von der Tatsache, daß Abs. 5 auf Vorschlag der Schweiz entstand und wegen der Formulierung "humanitarian character", könnte man davon ausgehen, daß Abs. 5 lediglich die Abkommen des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts von der Geltung des Art. 60 ausnimmt. Dafür spricht auch der Verweis auf das Repressalienverbot, das ein typisches Element der Verträge des Genfer Rechts ist und sich z. B. in Art. 46 der Ersten Genfer Konvention92 findet. Eine solche Beschränkung des Tatbestands des Abs. 5 auf diese Abkommen nimmt in der Tat Simma an. 93 Seiner Auffassung nach beziehe sich Art. 60 von vornherein nicht auf multilaterale Verträge, die nicht zwischenstaatlich, sondern "nach innen" erfüllt würden. Menschenrechtsabkommen gehörten dieser Kategorie an. 94 Dagegen sprichtjedoch die Entstehungsgeschichte. In der bereits zitierten Begründung des Vorschlages durch die Schweizer Delegation wurde nicht nur auf die Gewährleistungen des humanitären Völkerrechts Bezug genommen, sondern auf den Schutz der menschlichen Person allgemein. Auch Verträge wie die Völkermord-Konvention und Menschenrechtskonventionen sollten durch Abs. 5 von der Geltung des Art. 60 ausgenommen werden. Des weiteren beschränkt sich der Wortlaut der Norm nicht auf das Genfer und Haager Recht. Demzufolge wird in der Lehre auch überwiegend angenommen, daß Art. 60 Abs. 5 alle Verträge, die den Schutz der menschlichen Person zum Inhalt haben, erfaßt.95 Schwelb, lndia J. of Int'l Law 7 (1967), 309 ( 322). Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde, BGBl. 1954 II, 781. 93 Verdross/Simma, 519. 94 Verdross!Simma, 518. 95 Barile, The Protection ofHuman Rights in Article 60 Paragraph 5 ofthe Vienna Convention on the Law ofTreaties, in: Le droit international aI' heurede sa codification, Etudes en l'honneur de Roberto Ago, Band 3, 1987, 2 (4); Gomaa, 109 ff. ; Schwelb, The Law of Treaties and Human Rights, in: Reisman/Bums (eds.), Toward World Order and Human Dignity, Essays in Honor of Myres S. McDougal, 1976, 262 (278 ff.); Schachter/Henkinl Pugh/Smit, International Law, 3. Aufl., 1993, 509; Reuter, lntroduction to the Law ofTreaties, 1995, 200 f. 91

92

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Ist damit die Reichweite des Tatbestands des Abs. 5 geklärt, so stellt sich nunmehr die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Ausnahmevorschrift Ruft man sich in Erinnerung, daß die Regelungen des Art. 60 Abs. 1-4 ihre Rechtfertigung vor dem im Falle der Vertragsverletzung gestörten Synallagma findet, 96 so liegt die Vermutung nahe, daß die Ausnahmevorschrift des Abs. 5 sich aus der fehlenden Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten in den von ihr geregelten Verträgen ergibt. Dazu müßte es sich bei den in Abs. 5 genannten Verträgen durchweg um solche handeln, deren Pflichten "objektiv", d. h. nicht zwischen den Staaten erfüllt werden. Dies trifftjedenfalls bei Menschenrechtsabkommen im eigentlichen Sinne zu, denn hier ist die Erfüllungsrichtung der Pflichten eine rein innerstaatliche. Die Erfüllungshandlungen der einzelnen Staaten korrespondieren nicht miteinander. Eine so eindeutige innerstaatliche Erfüllungsrichtung ergibt sich jedoch nicht für Verträge des humanitären Kriegsvölkerrechts. Zwar werden durch sie wie bei den Menschenrechtsabkommen in erster Linie die Individuen und nicht die Vertragsparteien unmittelbar begünstigt. Dies spricht für die Annahme der Objektivität auch dieser Verträge. Aus der Lektüre der Vertragstexte ergibt sich jedoch etwas anderes. Danach stehen die Erfüllungshandlungen in einem zumindest formellen Gegenseitigkeitszusammenhang. Aus Art. 2 Abs. 3 der 1. Genfer Konvention ergibt sich, daß das Abkommen nur dann direkt zwischen Kriegsparteien Anwendung findet, wenn sie Vertragsstaaten der Konvention sind. Ist eine der kriegführenden Parteien nicht Konventionsmitglied, so wird ihr gegenüber die Konvention nur angewandt, wenn sie die Bestimmungen des Vertrages annimmt und anwendet. Zu dieser formellen Gegenseitigkeit tritt bei eingehender Betrachtung die materielle hinzu: Denn die Bestimmungen der Konvention greifen gegenüber Truppenteilen und Zivilisten des jeweiligen Kriegsgegners schützend ein. Dagegen verpflichten sich die Staaten im Falle der Einräumung von Menschenrechten im eigentlichen Sinne, diese Rechte allen in ihrem Herrschaftsgebiet befindlichen Menschen zukommen zu lassen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob diese Menschen eigene Staatsangehörige, Angehörige anderer Vertragsstaaten oder gar Angehörige von Nichtvertragsparteien oder Staatenlose sind. Dies ergibt sich zum Beispiel aus Art. 1 EMRK. 97 Das humanitäre Völkerrecht betrifft im Gegensatz dazu nicht die Einhaltung von Mindeststandards im eigenen Staatsgebiet eines Konventionsstaates oder bei dessen eigenen Truppen und Zivilisten.98 Die ErfülSiehe oben§ 15, 1. Siehe dazu Go/song, RdC 110 (1963-III), 7 (61). 98 Bindschedler, Die Vereinten Nationen und das Kriegsrecht, in: lbler, Melanges offerts aJurai Andrassy, 1967. 78 (83 ff.). 96 97

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

lung dieser Abkommen ist folglich nicht nach innen gerichtet, sondern erfolgt auf zwischenstaatlicher Ebene. 99 Ausnahmen mag es bei der Geltung der Konventionen im Fall interner Konflikte geben. Diese Tatsache ändertjedoch nichts an der grundsätzlichen Gegenseitigkeit der Regeln im von den Konventionen als Normalfall angesehenen internationalen Krieg. Hiergegen wird jedoch vorgebracht, daß die Bestimmungen der Konventionen des humanitären Völkerrechts unter allen Umständen erfüllt werden müßten, also nicht im Gegenseitigkeitszusammenhang stünden. 100 Die Vertreter dieser Ansicht setzen jedoch Sinn und Zweck der Abkommen mit der Erfüllungsstruktur gleich. Ihnen ist zuzugestehen, daß nicht nur die Staaten selbst, sondern in erster Linie die Menschen ein Interesse an der Erfüllung haben und dieses Interesse als objektiv bezeichnet werden kann. Dies darf jedoch nicht verwechselt werden mit der Erfüllungsrichtung. Zwar korreliert notwendig eine objektive Erfüllungsstruktur mit einem objektiven Interesse, der Umkehrschluß ist jedoch nicht möglich. Dehnt man den Anwendungsbereich des Art. 60 Abs. 5 auf alle völkerrechtlichen Verträge aus, die den Schutz der menschlichen Person zum Inhalt haben sowie aufiLO-Konventionen zum Arbeitsschutz und Abkommen zum Schutz der Sicherheit von Seeleuten auf hoher See, 101 so wird klar, daß diese Vorschrift sich nicht vor dem Hintergrund der Erfüllungsstruktur dieser Verträge rechtfertigen läßt. Denn auch die ILO-Konventionen basieren, jedenfalls zum Teil, auf der Gegenseitigkeit der durch sie begründeten Pflichten zwischen den Vertragsstaaten. Die Staaten verpflichten sich zur Einhaltung arbeitsrechtlicher Mindeststandards unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit, weil ein Staat, der von diesem Standard abweicht, sich einen illegitimen Standortvorteil schaffen würde. Das System des

99 Simma, Das Reziprozitätselement im Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge, 1972, 104 ff.; Schwarzenberger, International Law, Volume II, The Law of Anned Conflict, 1968, 452; grundsätzlich zur Unterscheidung von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten: Robertson, Humanitarian Law and Human Rights, in: Swinarski (ed.), Etudes et essais sur le droit international humanitaire et sur principes de Ia Croix-Rouge en l'honneur de Jean Pictet, 1984, 793 ff. ; Glaser, Einführung in das humanitäre Völkerrecht, 1993, 24 ff. 100 Draper, The Red Cross Conventions, 1958, 8; Sandoz/Swinarski/Zimmermann, Commentary on the Additional Protocols of 8 June 1977 to the Geneva Conventions of 12 August 1949, 1987, Protocol I, Article 1, Rn. 49; de Preux, International Review of the Red Cross 25 ( 1985), 25; Schind/er, Die erga omnes-Wirkung des humanitären Völkerrechts, in: Beyerlin/Bothe/Hofmann!Petersmann (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, 199 (200 f.). 101 Schwelb, The Law ofTreaties and Human Rights, in: Reisman/Weston, Toward World Order and Human Dignity, Essays in Honor of Myres S. McDougal, 262 (279).

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internationalen Arbeitsschutzes kann nur funktionieren, wenn es international einheitlich gehandhabt wird. 102 Die "ratio legis" des Abs. 5 ergibt sich folglich aus dem Sinn und Zweck der Verträge, die in seinen Anwendungsbereich fallen. In diesen Verträgen werden nicht in erster Linie die Interessen der Vertragsparteien geschützt, sondern die Staaten machen sich zum Sachwalter der Interessen Dritter, nämlich der Individuen, die nicht Angehörige der Vertragsstaaten sein müssen. Dem Individualschutz im Völkerrecht liegt ein darüber hinausgehendes Allgemeininteresse zugrunde. Art. 60 Abs. 5 WVRK reflektiert demzufolge ein Gemeinschaftsinteresse im Völkerrecht und schützt es in besonderer Weise vor Aushöhlung. Von einigen wird jedoch vertreten, daß Art. 60 Abs. 5 WVRK sich aus der fehlenden Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten der individualschützenden Verträge ergibt. 103 Soweit Art. 60 Abs. 5 WVRK indes Verträge des humanitären Kriegsvölkerrechts betrifft, verbietet er die Kündigung bei Verträgen, die eine gegenseitige Erfüllungsstruktur aufweisen. Die Vertreter dieser Ansicht schließen von der Interessenlage auf die Erfüllungsstruktur. Das ist indes nur in einer Richtung möglich: Eine genuin multilaterale Erfüllungsstruktur, also eine integrale oder objektive, bedeutet immer, daß die Staaten durch den Vertrag ein Gemeinschaftsinteresseschützen wollen. Es ist hingegen nicht möglich, von der bilateralen Gegenseitigkeit der Verpflichtungen eines Vertragsregimes auf den ausschließlichen Schutz von Partikularinteressen zu schließen. Die Ausnahmeregelung des Art. 60 Abs. 5 WVRK ist folglich vor dem Hintergrund des Schutzgutes der Verträge, die von dieser Ausnahme betroffen sind, zu sehen. Dieses Schutzgut ist die menschliche Person, und der Schutz ist in umfassendem Sinne zu verstehen. Die Staaten haben sich in diesen Verträgen verpflichtet, ein Interesse zu schützen, das nicht identisch ist mit der Summe ihrer Einzelinteressen, sondern darüber hinaus geht. Der Schutz der menschlichen Person ist ein Gemeinschaftsinteresse i. e. S. Durch Abs. 5 wird dieses Gemeinschaftsinteresse der Verfügungsgewalt der jeweiligen Vertragsstaaten entzogen. Diesen ist sogar verwehrt, Verträge, die diesem Interesse dienen, einstimmig infolge einer Vertragsverletzung aufzuheben. Art. 60 Abs. 5 nimmt somit individaulschützende Verträge von der Mechanik der Gegenseitigkeit in bezugauf Kündigung und Suspendierung aus, 104 selbst wenn die Rechte und Pflichten eines solchen Vertrages im Gegenseitigkeitszusammenhang stehen sollten. 102 Siehe zur Erfüllungsstruktur eingehend Simma, From Bilateralism to Community lnterest, 212 ff., insbes. 214. 103 Barile, 12 f. ; Heinschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl., 1990, 179. 104 Simma, Reflections, 75. II Feisr

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

V. Zusammenfassende Betrachtung: Art. 60 WVRK als Reflexion der unterschiedlichen Erfüllungsstrukturen multilateraler Verträge Die Analyse hat ergeben, daß sich in Art. 60 WVRK die im ersten Teil dargestellten Idealtypen multilateraler Verträge widerspiegeln. Dabei ist für die Aufhebung eines Vertrages durch alle Vertragsstaaten außer dem Vertragsbrüchigen die Erfüllungsstruktur nicht von Bedeutung: Hier stellt sich lediglich die Frage, ob die Staaten den Vertrag insgesamt aufheben wollen oder nur gegenüber dem Verletzerstaal die Bindung beenden. Die Regeln, die bei einem multilateralen Vertrag einen Staat allein berechtigen, die Vertragsbindung gegenüber einer vertragsbrüchigen Partei auszusetzen, folgen jedoch aus der Erfüllungsstruktur des Vertrages, der suspendiert werden soll: Handelt es sich bei dem Vertrag um ein Bündel bilateraler Rechtsbeziehungen, so ist der Staat, den die Verletzung betrifft, befugt, die Bindung an den Vertrag gegenüber seinem säumigen Schuldner auszusetzen. Er ist nicht berechtigt, dies mit Wirkung "erga ornnes partes" zu tun. Und andere Vertragsparteien, deren unmittelbare Rechtsstellung durch die Verletzung nicht berührt ist, haben keine Reaktionsmöglichkeit. Bei integralen Verträgen kann jede Partei mit Wirkung gegenüber allen kündigen, weil die weitere Erfüllung insgesamt sinnlos geworden ist. Demgegenüber ist die Rechtsstellung eines einzelnen Staates bei Verträgen, deren Erfüllungsstruktur objektiv ist, nicht geregelt. 105 Die Regelung für bilateralistische Verträge paßt nicht, weil es hier in aller Regel keinen besonders betroffenen Staat gibt und- was entscheidender ist- eine Aussetzung der Vertragsbindung nur gegenüber einer Partei schwerlich möglich ist. Die Regelung in bezug auf integrale Verträge läßt sich ebenfalls nicht anwenden, weil die weitere Erfüllung eines Vertrages, dessen Pflichten nicht in einem Gegenseitigkeitszusammenhang stehen, für eine Partei nicht sinnlos wird, wenn eine andere Partei nicht erfüllt. Es scheint so, als ob die ILC dieses Problem übersehen hat, denn in der Begründung ihres Kodifikationsentwurfs sprach sie sich dagegen aus, für diesen Vertragstyp eine gesonderte Regelung vorzuschlagen. Es sollte bei der grundsätzlichen Anwendbarkeit der Vorschrift auch auf diese Verträge bleiben, wenngleich die Interessen der anderen Vertragsparteien zu beachten seien. 106 Diese Gleichung in der von der ILC gedachten Form kann nicht aufgehen: Wenn man nämlich die Interessen der übrigen Vertragsparteien in Rechnung stellt, muß eine Suspendierung gegenüber dem Verletzerstaal ausgeschlossen sein, weil sie gleichzeitig die 105 106

Verdross/Simma, 515 f. Siehe oben § 14, 4. c) (4).

§ 15 Kündigung/Suspendierung wegen vorhergehender Vertragsverletzung

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Erfüllungsverweigerung gegenüber allen anderen Parteien bedeutet. In bezugauf objektive Verträge läuft die Regelung also leer, wenn ein einzelner Staat die Vertragsbindung aussetzen will. In Art. 60 Abs. 5 schließlich drückt sich nicht die spezielle Erfüllungsstruktur individualschützender Verträge aus, sondern die Regelung ergibt sich aus dem Schutz des Gemeinschaftsinteresses. Der Schutz des Gemeinschaftsinteresses wird durch diese Ausnahmeregelung in besonderer Weise geschützt, indem es der Dispositionsbefugnis der Vertragsparteien insoweit entzogen wird, als es die Vertragsbeendigung im Falle einer schweren Verletzung betrifft. In einem solchen Falle ist es sogar den Vertragsstaaten in ihrer Gesamtheit verwehrt, die Vertragsbindung gegenüber dem vertragsbrüchigen Staat oder insgesamt aufzuheben oder zu suspendieren.

VI. Die Anwendung von Art. 60 WVRK auf Verträge, die aufgrund des geschützten Gemeinschaftsinteresses über den Kreis der Vertragsparteien hinaus Wirkung entfalten Zu prüfen bleibt schließlich, ob und wie die Regelung des Art. 60 auf Verträge Anwendung findet, die aufgrund des durch sie geschützten überragend wichtigen Gemeinschaftsinteresses über den Kreis der Vertragsparteien hinaus Geltung beanspruchen. Im ersten Teil 107 wurde nachgewiesen, daß die Geltung solcher Verträge allgemeinen Strukturprinzipien des Völkerrechts nicht widerspricht und daß es Anzeichen dafür gibt, daß eine solche Wirkung im Entstehen begriffen ist.

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Dabei wurde aufgezeigt, daß diese Verträge nicht in erster Linie anqand ihrer Erfüllungsstruktur diesen Charakter aufweisen. Sie werden in aller Regel dem objektiven oder dem integralen Typ angehören, für die jeweils unterschiedliche Regeln gelten. Die Geltung über den Kreis der Parteien hinaus ergibt sich aus der Tatsache, daß ohne diese Wirkung der wirksame Schutz des Gemeinschaftsinteresses vereitelt würde. Eine Subsumtion aufgrunddieser Eigenschaft der Wirkung gegenüber Dritten unter den Abs. 2 des Art. 60 ist demzufolge nicht möglich. Es verwundert nicht, daß sich das Problem der Beendigung solcher Verträge für die Völkerrechtspraxis und -lehre bisher noch nicht gestellt hat, weil es sich bei ihnen um ein relativ neues Phänomen handelt. Die folgenden Überlegungen können deshalb auch nicht mit dem Anspruch versehen sein, die "Iex lata" zu beschreiben, sondern stellen einen Versuch dar, aus den oben angestellten dogrnati107

Siehe oben § 11.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

sehen Erwägungen Folgerungen für diesen Fall zu ziehen. Letztlich ist es nicht mehr als eine Prognose, wie das Völkerrecht sich entwickeln könnte. Man könnte zunächst annehmen, daß Verträge, die aufgrundihres Regelungsgehalts Wirkung über den Kreis der Vertragsparteien hinaus Wirkung entfalten, genauso wie andere Verträge unter das Raster des Art 60 Abs. 2 WVRK fallen. Die Einordnung würde dann dazu führen, daß zumindest, wenn es sich um einen integralen Vertrag handelt, jeder Vertragsstaat für sich die Bindung aufheben kann und im übrigen alle Vertragsstaaten gemeinsam auf eine Verletzung entsprechend reagieren können. Die Vertragsparteien könnten also über den Vertrag disponieren, was ihre eigene Bindung an ihn betrifft. Gleichzeitig werden aber Dritten durch den Vertrag Pflichten auferlegt. Diese Dritten können nicht über die Geltung dieser Pflichten bestimmen. Insbesondere ist ihnen verwehrt, im Falle einer Vertragsverletzung die Bindung auszusetzen, weil sie eben keine Vertragsparteien sind. Hier tut sich ein Wertungswiderspruch auf: Die Vertragsparteien erlegen Dritten Pflichten auf, die zwar zunächst für alle, ob Vertragspartei oder nicht, in gleicher Weise gelten, von denen sich aber unter Umständen die Parteien befreien können, die Dritten aber nicht. Die Vertragsparteien könnten für sich eine Privilegierung in Anspruch nehmen, die insbesondere vor dem Hintergrund, daß sie sich als Sachwalter eines Allgemeininteresses verstehen, ungerechtfertigt erscheint. Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Wertungswiderspruch aufzulösen: Die eine Möglichkeit ist, den Kreis der subjektiv Berechtigten nach Art. 60 WVRK auf die Nichtvertragsparteien auszudehnen, die andere besteht darin, auch Vertragsstaaten die Berufung auf Art. 60 zu verwehren. Die Lösung nach der erstenVariante würde dazu führen, daß das Vertragsregime insgesamt noch instabiler würde, als wenn nur die Vertragsparteien selbst zurücktreten könnten. Im Sinne eines effektiven Schutzes eines Gemeinschaftsinteresses könnte dies kaum sein. Demgegenüber würde der Ausschluß der Rechte nach Art. 60 WVRK zu einer Stabilisierung der vertraglich begründeten Ordnung führen. Außerdem liegt hier eine Analogie zu Art. 60 Abs. 5 WVRK nahe: Wie bereits erörtert wurde, liegt die ratio legis dieser Norm nicht in der Erfüllungsstruktur, sondern in der Interessenlage bei Verträgen, die dem Schutz der menschlichen Person dienen. Diese Verträge sind nicht kündbar oder auflösbar im Falle einer Vertragsverletzung, weil ein über die Interessen der Parteien hinausgehendes Interesse beeinträchtigt würde. Es spricht viel dafür, diesen Rechtsgedanken auch auf Verträge anzuwenden, die aufgrunddes durch sie geschützten Gemeinschaftsinteresses auch über den Kreis der Parteien hinaus Wirkung entfalten. 108

108

Ähnlich auch Bleckmann, in FS Schlochauer, 205 f.

§ 16 Beendigung der Vertragsbindung wegen Änderung der Umstände

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Aber auch aus einem anderen Grunde scheint Art. 60 WVRK auf diese Verträge nicht anwendbar zu sein. Die Mechanik dieser Vorschrift versagt spätestens dann, wenn ein Nichtvertragsstaat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, weil man ihm gegenüber die Sanktionen des Rücktritts oder der Vertragsaufhebung nicht androhen kann, denn er ist ja nicht VertragsparteL Mehr noch als bei anderen multilateralen Verträgen wird sichtbar, daß im Völkerrecht das Bauelement der Gegenseitigkeit nicht in allen Fällen die angemessenen Regeln determinieren kann. Gibt es bei Verträgen mit integraler und objektiven Erfüllungsstrukturen schon Schwierigkeiten, ein für die Anwendung des Art. 60 WVRK erforderliches Synallagma zu finden, so stößt die Norm endgültig in den Fällen an ihre Grenzen, in denen Verträge objektives, d. h. allgemeinverbindliches Recht setzen.

§ 16 Beendigung der Vertragsbindung wegen grundlegender Änderung der Umstände - "clausula rebus sie stantibus" Die "clausula rebussie stantibus" (im folgenden: "clausula") gehört zu den umstrittensten Problemen im Recht der Verträge. 109 Dies reicht von der Frage, ob sie überhaupt geltendes Völkerrecht darstellt, über ihre dogmatische Einordnung, die Reichweite von Tatbestand und Rechtsfolge bis hin zur Frage, ob bestimmte Verträge von ihrer Geltung ausgenommen sind. In der WVRK hat sie in Art. 62 Niederschlag gefunden. Dort steht sie im Zusammenhang mit den anderen Kündigungs- und Suspendierungsregeln. Die Regelung des Art. 62 WVRK hat nicht die Form eines Kündigungsrechts, sondern stellt negativ den Grundsatz auf, daß eine Änderung von Umständen grundsätzlich nicht zur einseitigen Beendigung einer Vertragsbindung berechtigt. Von diesem Grundsatz gibt es dann nach Art. 62 eine Ausnahme, die allerdings wiederum eingeschränkt wird. Diese vorsichtige Formulierung der "clausula" mag als Beleg für die Umstrittenheil ihrer grundsätzlichen Geltung sowie ihre restriktive Anwendung gelten. 110 Dies, obwohl sie die völkerrechtliche Ausprägung eines in vielen Privatrechtsordnungen enthaltenen Grundsatzes darstellt. 111 Siehe nur Verdross/Simma, 536; Pott, Clausula rebussie stantibus, 1992, 6 ff. So auch der IGH Case Conceming the Gabcfkovo-Nagymaros-Project (Hungary v. Slowakia), ILM 37 (1998), 162 (195); Schwarzenberger, A Manual oflntemational Law, 6. Aufl., 1976,139. 111 Köhler, Die "clausula rebus sie stantibus" als allgemeiner Rechtsgrundsatz, 1990, passim. 109

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Ausgangspunkt der "ratio legis" der "clausula" ist die unmittelbar einleuchtende Tatsache, daß Verträge nicht unabhängig von den äußeren Vertragsumständen gesehen werden können. Da sie Recht zur Regelung eines bestimmten Lebenssachverhaltes sind, können sie sinnlos werden, wenn der zu regelnde Lebenssachverhalt sich geändert hat oder gar nicht mehr exisitiert. Unter solchen Umständen kann eine Vertragsbindung unzumutbar werden, und der Vertrag müßte den Umständen angepaßt oder aufgehoben werden. 112 Die historischen Wurzeln dieses Rechtsgedankens reichen bis in das römische Recht zurück. 113 Seine Ausformung als Rechtsprinzip wurde jedoch erst im Mittelalter vollendet. 114 In europäischen Privatrechtssystemen hat der Grundsatz als "Wegfall der Geschäftsgrundlage" im deutschen, als "imprevision" im französischen und als "frustration" im englischen Recht seine jeweilige Gestalt angenommen.115 In kodifizierter Form ist die "clausula" Bestandteil des deutschen Verwaltungsrechts im Bereich der öffentlich-rechtlichen Verträge: § 60 VwfVG gibt den Parteien eines öffentlich-rechtlichen Vertrages das Recht, dessen Anpassung zu verlangen, wenn die tatsächlichen Umstände sich in einer Weise gewandelt haben, die das weitere Festhalten am Vertrag unzumutbar machen. Sollte eine Anpassung nicht möglich sein, so kann die Partei kündigen, für die die weitere Erfüllung unzumutbar werden würde. Diesen Rechtssätzen ist gemeinsam, daß sie eine Vertragsanpassung oder-aufhebungfür den Fall vorsehen, daß eine weitere Erfüllung für eine Partei infolge eines nichtvorhergesehenen Umstandes sinnlos wird.

I. Die hierzu vertretenen Standpunkte der klassischen und modernen Völkerrechtslehre In derVölkerrechtslehre war umstritten, ob die "clausula" einen Rechtssatz des Völkerrechts darstellt. Ein prominenter Gegner der "clausula" war Grotius. 116

112 Müller, Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, 210; Verdross/Simma, 528; Köhler, 272 ff. 113 Köhler, 23 ff.; Müller, 210; Pott, 6; Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus, 1911, 70. 114 Kaufmann, 70; Haraszti, RdC 146 (1975-III), 1 (10). 115 Köhler, 135 ff. ; Pott, 6 ff. 116 Grotius, Deiure belli ac pacis libri tres, dt. Übersetzung von Walter Schätze!. 1950, 299 (II, Kap. 16, XXV, 2).

§ 16 Beendigung der Vertragsbindung wegen Änderung der Umstände

167

Demgegenüber erkannten Vattel 117 und Wolff118 ihre Geltung an und sahen in ihr eine stillschweigende Vertragsbedingung. In der Folgezeit hat die "clausula" immer wieder Ablehnung erfahren, 119 wobei die Ablehnung zum Teil rechtspolitisch motiviert war. Lauterpacht 120 leugnete die Geltung der "clausula" aus zwei Gründen: Zum einen bestehe im Völkerrecht ein Mangel an einer obligatorischen Gerichtsbarkeit, die autoritativ über die Anwendung der "clausula" im konkreten Fall entscheiden könne, so daß im internationalen System die "clausula" zu einer politischen Maxime verkommen müsse. 121 Zum anderen seien die Beispiele aus der Staatenpraxis nicht ausreichend, um eine Regel des Gewohnheitsrechts feststellen zu können, zurnal vielfach die Berufung auf die "clausula" von anderen Staaten zurückgewiesen worden sei. 122 Trotz dieser geäußerten Bedenken hat die überwiegende Mehrheit der Völkerrechtler eine völkerrechtliche Geltung der "clausula" angenommen. Hinsichtlich ihrer Rechtsnatur werden indes verschiedene Meinungen vertreten. Dahm123 und McNair124 sahen die "clausula" als Element der ergänzenden Vertragsauslegung an. Dahm beruft sich dabei auf die Analogie zum zivilrechtliehen Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Kaufmann 125 deutete die "clausula" als Ausprägung des Selbsterhaltungsrechts der Staaten und beschränkte ihren Anwendungsbereich auf solche Fälle, in denen es um die Bewahrung dieses Rechts ging. Des weiteren wurde, jedenfalls bis zur Verabschiedung der WVRK eine subjektive Theorie vertreten, wonach die "clausula" eine stillschweigende Vertragsbedingung darstelle. 126 Zu ermitteln sei danach der hypothetische Parteiwille für den Fall des unvorhergesehenen Wandels der Umstände. Die subjektive Theorie setzte sich jedoch zunehmender Kritik aus. Es komme nicht darauf an, 117 de Vattel, Le droit des gens ou principes de Ia loi naturelle, dt. Übersetzung W. Schätze! (Hrsg.), 1950, 332 (§ 296). 118 Wolf!, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, Faksimile der Ausgabe Halle, 1754, Gaber, Jöm (Hrsg.), 1980,600 (§ 814). 119 Z. B. von Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1892, 98 f. (Fn. 29); Kelsen, Principles of International Law, 1952, 359 f. 120 Lauterpacht, Private Law Sources and Analogies of International Law, 1927, 170. 121 Lauterpacht, Law Sources, 169. 122 Lauterpacht, Law Sources, 170. 123 Dahm, Völkerrecht III, 1962, 145. 124 McNair, Law of Treaties, 436. m Kaufmann, 204. 126 Wengler, Völkerrecht I, 372; Lauterpacht, Oppenheim's International Law, Vol. I, 1955, 732; Fauchille, Traite de droit international public, tome I, 3eme partie, 1926, 383 ff.; Hall, A Treatise on International Law, 1924,407.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

was die Parteien sich im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorgestellt hätten, sondern darauf, ob unter den geänderten Umständen von den Parteien die weitere Vertragserfüllung noch billigerweise verlangt werden könne. 127 Diese Kritik ist berechtigt, weil es der Willkür Tür und Tor öffnen würde, wenn man lediglich auf einen hypothetischen Parteiwillen abstellen würde, der sich kaum oder gar nicht im Nachhinein ermitteln läßt. Gleichwohl ist zu beachten, daß bei der Ermittlung dessen, was den Parteien billigerweise noch zugemutet werden kann, die ursprünglichen Erwartungen der Parteien von Bedeutung sind. 128 Entscheidend ist jedoch, daß nach richtiger Auffassung die "clausula" keine stillschweigende Vertragsbedingung darstellt, sondern eine objektive Regel des Völkerrechts ist. 129

II. Die völkerrechtliche Praxis zur "clausula", insbesondere die Anwendung auf multilaterale Abkommen Der Blick auf die Praxis vermag die Annahme zu rechtfertigen, daß die "clausula" eine Regel des Völkergewohnheitsrechts darstellt. Hinsichtlich der Praxis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sei auf die Darstellungen bei Kaufmann 130 und Hill 131 verwiesen. Aus dem 20. Jahrhundert sind hierbei die Fälle der Genfer Freihandelszone und die isländischen Fischereistreitfälle zu erwähnen. Im Rechtsstreit um die Genfer Freihandelszone berief sich Frankreich auf die "clausula", allerdings nicht als Rücktrittsgrund, sondern als Begründung des Antrags auf Vertragsanpassung. 132 Das Gericht enthielt sich einer Aussage über die "clausula", weil sie nicht entscheidungserheblich war. 133 Ausdrücklich anerkannt wurde die "clausula" jedoch später vom IGH in den isländischen Fischereistreitfällen. Das Gericht vertrat die Ansicht, daß die "clausula" in der Form des Art. 62 WVRK Gewohnheitsrecht Z. B. Verdross/Simma, 528; Pott, 44 f. Müller, 216 f. ; Lissitzyn, AJIL 61 (1969), 895 (915). m Verdross/Simma, 528; Haraszti, 47; Pott, 44 f.; Rousseau, Principes generaux du droit international public, 1944, 584 ff. 13 Kaufmann, 7 ff. 131 Hill, The Doctrine of "Rebus sie Stantibus" in International Law, The University of Missouri Studies, Vol. IX, No. 3, 1934, 17 ff. 1! 2 Siehe dazu das Vorbringen Frankreichs in StiGH, Ser. C, No. 58,405. I )) StiGH, Case of the Free Zones of Upper Savoy and the District of Gex, Ser. NB, No. 46, 158. 127 128

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sei. 134 Das Gericht bestätigte seine Rechtsauffassung im ungarisch-slowakischen Staudammfall. 135 Aus der neueren Staatenpraxis ist ein Fall zu nennen, in dem die Niederlande sich auf die .,clausu1a" berufen haben: die Niederlande erklärten in einer Note vom 16.12.1982 gegenüber Surinam, daß sie die Erfüllung eines zwischen diesen Staaten bestehenden Vertrages über Entwicklungszusammenarbeit aussetzen würden. Als Begründung wurde angeführt, daß die innerstaatlichen Verhältnisse in Surinam, insbesondere die fortdauernde Mißachtung der Menschenrechte, eine Entwicklungszusammenarbeit für die Niederlande unzumutbar machten. 136 Aus der Spruchpraxis deutscher Gerichte läßt sich ablesen, daß die "clausula" als Rechtsregel zwischen den Bundesstaaten angewandt wird. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich sah sie als Bestandteil des Bundesrechts an. Dabei stellte das Gericht zunächst fest, daß sie eine Regel des Völkerrechts sei, die in den Rechtsbeziehungen zwischen den Reichsländern entsprechend anzuwenden sei. 137 Diese Rechtsprechung führte das BVerfG 1973 im Coburg-Bayern-Fall fortY 8 Auch aus der Praxis der UN läßt sich die Geltung der "clausula" ableiten: Auf Anfrage des Wirtschafts- und Sozialrates erstellte der Generalsekretär 1950 ein Gutachten über die Fortdauer der Verbindlichkeit der in der Völkerbundszeit geschlossenen Verträge zum Minderheitenschutz. Der Generalsekretär vertrat in diesem Gutachten die Auffassung, daß die "clausula" geltendes Völkerrecht darstelle und grundsätzlich auf diese Verträge anwendbar sei. 139 Der Anwendungsbereich sei allerdings eng begrenzt auf die Fälle, in denen sich die Umstände in einer Weise gewandelt hätten "as torender its [the treaty's] application morally and physically impossible" .140 Aus dem Blick auf die allgemeine Praxis ergibt sich damit, daß die "clausula" als Regel des Völkergewohnheitsrechts anerkannt ist, wenngleich ihre Anwendung im Einzelfall umstritten ist, und internationale Gerichte bis heute einem auf die "clausula" gestützten Antrag auf Vertragsauflösung oder -rücktritt nicht stattIGH Fisheries Jurisdiction Case (UK v. Iceland), ICJ-Reports I 973, 4 (49 ff.) . IGH, Case Conceming the Gabcfkovo-Nagymaros-Project (Hungary v. Slowakia), ILM 37 (1998), 162 (195). 136 Der Wortlaut dieser Note findet sich bei: Lindemann, ZaöRV 44 (1984), 64 (68, Fn. 19). 137 Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, RGZ 1 I 2, Anh., I 3 (28). 138 BVerfGE 34, I 31 ff. 139 UN Doc. E!CN. 4/367, 36. 140 UN Doc. E!CN. 4/367, 37. 134 135

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

gegeben haben. Aus diesem Grunde sollen noch zwei Fälle dargestellt werden, in denen sich Staaten auf die "clausula" berufen haben, um sich ihrer Bindung an multilaterale Abkommen zu entledigen. Am 31.10.1871 erklärte Rußland seinen Rücktritt vom Pariser Friedensvertrag vom 30.03.1856 141 , als es um die Neutralisierung des Schwarzen Meeres und die sich daraus für Rußland ergebenden Beschränkungen hinsichtlich seiner Seestreitkräfte ging. In der Zirkularnote von Fürst Gortschakoff, 142 die die Rücktrittserklärung enthielt, berief sich Rußland u. a. auf einen grundlegenden Wandel der Umstände: Grundlage der russischen Abrüstungsverpflichtungen sei die Erwartung gewesen, daß Rußland vom Schwarzen Meer aus keinerlei militärischen Bedrohungen ausgesetzt werde. Davon könne jedoch keine Rede mehr sein. Das Machtgleichgewicht habe sich in dieser Region zu ungunsten Rußlands verschoben. Die anderen Parteien des Pariser Friedensvertrages wiesen das Begehren Rußlands gemeinsam durch die Londoner Erklärung vom 17.12.1871 zurück. 143 Die Staaten stellten sich auf den Standpunkt, "that it is an essential principle of the Law of Nations that no Power can Iiberate itself from the engagements of a Treaty, nor modifying the Stipulations thereof, unless with the consent of the Contracting Powers by means of an amicable agreement."

Diese Erklärung könnte ihrem Wortlaut nach als Ablehnung jeglichen einseitigen Rücktrittsverlangens verstanden werden, insbesondere als Ablehnung der "clausula" als Rechtsgrund hierfür. Die weitere Aufklärung des damaligen Kontexts ergibt jedoch, daß die Staaten in erster Linie wegen Rußlands überraschendem Vorgehen diese ablehnende Position einnahmen. Rußland hatte es versäumt, die anderen Vertragsparteien vorher von seiner Absicht zu unterrichten. Die Londoner Deklaration wird demzufolge auch in erster Linie als Bestätigung einer vor Rücktritt zu erfüllenden Verhandlungspflicht angesehen. 144 Der andere hier darzustellende Fall betrifft eine Suspendierung der LoadlineConvention durch die USA. Die USA erklärten am 9. August 1941 die Aussetzung der weiteren Erfüllung dieser Konvention. Das Abkommen sah eine Begrenzung der zulässigen Beladung von Handelsschiffen vor. Die USA begründeten die Suspendierung des Abkommens mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs. Der Friedenszustand habe die Grundlage des Vertrages dargestellt. In Kriegszeiten sei die von der Konvention vorgesehene Beschränkung nicht angemessen, weil die Gefahren für Handelsschiffe auf Hoher See von feindlichen Kriegsschiffen aufgeHertsleu, Map of Europe by Treaty, Vol. II, 1875, 1243 ff. Hertslell, Map of Europe by Treaty, Vol. III, 1875, 1892. 143 Abgedruckt in: Hertslell, Map ofEurope by Treaty, Vol. III, 1875, 1904. 144 Kaufmann, 12 ff.; Polt, 22 ff. 141

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bracht zu werden dann größer seien als das Risiko, das eine zu große Ladung bedeute. Besser sei es in einem solchen Fall, weniger Schiffe mit jeweils mehr Ladung auf den Meeren zu haben. 145 Gegen diese Suspendierung erhob keiner der anderen Vertragsstaaten Protest, und die USA erklärten die Konvention nach Ende des 2. Weltkriegs wieder für anwendbar. 146 Aus der dargestellten Staatenpraxis ergibt sich, daß die "clausula" von ihrem Anwendungsbereich nicht auf bilaterale Verträge beschränkt wird. Des weiteren läßt sich nicht auf die Geltung besonderer Regeln für multilaterale Verträge schließen, weder in verfahrens-noch in materiellrechtlicher Hinsicht. Die Staatenpraxis in bezugauf multilaterale Verträge insgesamt erscheint jedoch quantitativ nicht ausreichend, um die Annahme zu rechtfertigen, daß für diese Abkommen keine Besonderheiten bestehen, wenn die "clausula" angewendet wird.

111. Der WVRK vorausgehende Kodifikationsentwürfe 1. Der Harvard-Entwurf Der Entwurf einer Vertragsrechtskonvention der Harvard Law School von 1935 enthielt eine Regelung zur Behandlung des grundlegenden Wandels der Umstände. Dieser Art. 28 lautete: "Article 28. REBUS SIC STANTIBUS (a) A treaty entered into with reference to the existence of a state of facts the continued existence of which was envisaged by the parties as a determining factor moving them to undertake the obligations stipu1ated, may be declared by a competent international tribunal or authority to have ceased to be binding, in the sense of calling for further performance, when the state of facts has been essentially changed. (b) Pending agreement by the parties upon and decision by a competent international tribunal or authority, the party which seeks a declaration may provisionally suspend performance of its obligations under the treaty. (c) A provisional suspension ofperformance by the party seek:ing such a declaration will not be justified definitively until a decision this effect has been rendered by the competent international tribunal or authority. " 147

Dem Wortlaut nach ist dieser Entwurf eine Umsetzung der subjektiven Theorie ("a determining factor moving them to undertake the obligations stipulated"). Das 145 Text der OS-amerikanischen Note und des Gutachtens des Attomey General bei Lissitzyn, 908 f. 146 Siehe Lissitzyn, 909, Fn. 35. 147 Harvard Law School, Draft, 1096.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

endgültige Schicksal des Vertrages im Falle des Wandels der Umstände wird jedoch nicht den Parteien überlassen. Der Staat, der sich auf die "clausula" beruft, kann nicht von sich aus die Vertragsbindung aufheben, sondern muß sich hierzu an ein internationales Gericht oder eine vergleichbare Institution wenden. Er darf die weitere Erfüllung nur bis zu einer endgültigen Entscheidung vorläufig aussetzten. Eine solche Regel würde insbesondere die von Lauterpacht beschriebene Gefahr der Willkür bei der Geltendmachung der "clausula" wirksam eindänunen. 148 Mangels einer obligatorischen Gerichtsbarkeit im internationalen System oder jedenfalls eines zwingend vorgeschriebenen Streitschlichtungsverfahrens gab der Entwurf nicht den Stand des damals geltenden Völkerrechts wieder, das in bezug auf die Rechtsdurchsetzung noch auf Selbsthilfemechanismen basierte. Wünschenswert wäre eine objektivierte Entscheidung aber insbesondere bei multilateralen Verträgen, die ein Gemeinschaftsinteresse regeln, weil ein solches Verfahren einen stabilisierenden Effekt für das Vertragsregime hätte. Die Anwendung der "clausula" aus rein politischen Erwägungen heraus wäre weitgehend ausgeschlossen und könnte im Ergebnis nicht den beabsichtigten Erfolg bringen.

2. Die Arbeit der Sonderberichterstatter der ILC

Im Rahmen der vorbereitenden Arbeiten zu einer Vertragsrechtskonvention befaßten sich die Sonderberichterstatter Fitzmaurice und Waldock mit der "clausula". Auch das Plenum der ILC debattierte hierüber, wobei die jeweiligen Arbeitsergebnisse insbesondere in bezug auf multilaterale Verträge stark voneinander abwichen.

a) Der Regelungsentwurf von Fitzmaurice Fitzmaurice legte 1957 seinen Entwurf vor, der auch eine detaillierte Regelung der "clausula" für multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen einschloß. Die Art. 21-23 149 sind dabei von ihrer Breite her wohl weniger als ein Konventionsentwurf im eigentlichen Sinne anzusehen, sondern stellen eher ein Restatement nach anglo-amerikanischer Tradition dar. Deswegen sollen hier auch nur Ähnlich auch Schwarzenberger, Manual, 139. Second Report on the Law ofTreaties by Sir Gerald Fitzmaurice, Special Rapporteur, YBILC 1957, Vol. II, 16 (32 f.). 148 149

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Ausschnitte wörtlich wiedergegeben werden. In Art. 21 Abs. 4 S. I heißt es zur allgemeinen Charakterisierung der "clausula": "The principle of rebussie stantibus, which is an objecitive principle of law, does not involve any ,clausula' rebussie stantibus deemed tobe implied in all treaties of unlimited duration [ ... ]."

Des weiteren sei die Anwendung der "clausula" abhängig vom Vertragstyp und der Art und Weise des Wandels der Umstände. Außerdem formuliert Fitzmaurice einige Ausschlußgründe in Art. 22. Die Anwendung der "clausula" sei auf die Fälle beschränkt, in denen sich die objektiven Umstände gewandelt hätten, die für beide Parteien die Basis des Vertrags darstellten. Abzugrenzen davon sei allerdings der Wandel in der Motivation der Vertragsparteien, der keine Berufung auf die "clausula" rechtfertige. Ausgeschlossen sei die Anwendung der "clausula" bei Verträgen, die eine Kündigungsklausel enthalten sowie bei befristeten Verträgen. Des weiteren müsse die "clausula" innerhalb einer angemessenen Zeitspanne ("reasonable time") nach Wandel der Umstände geltend gemacht werden. Und schließlich dürfe der Wandel der Umstände nicht von der Partei verursacht worden sei, die sich darauf berufe. In Art. 23 wird ein Verfahren vorgeschlagen, das dem des Harvard-Drafts stark ähnelt: Die die "clausula" geltend machende Partei solle die Vertragsbindung nur vorübergehend aussetzen dürfen. Die endgültige Loslösung dieser Partei vom Vertrag bedürfe der Zustimmung der anderen Vertragsstaaten oder könne, wenn diese nicht einverstanden sind, vom IGH oder einem Schiedsgericht ausgesprochen werden. In dem hier zu untersuchenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist jedoch das differenzierte Rechtsfolgeregime, das Fitzmaurice für multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen entwirft. Hinsichtlich der idealtypischen Einteilung der Verträge greift der Sonderberichterstatter auf die schon für den Fall der Kündigung bzw. Suspendierung wegen Vertragsverletzung entwickelten Grundsätze zurück. Danach sei zu prüfen, ob es sich bei dem Vertrag, dessen Kündigung begehrt wird, um einen des bilateralistischen, des integralen oder des objektiven Typs handele. Im Falle eines bilateralistischen Vertrages könne im Falle des Wandels der Umstände die vertragliche Bindung nur im Rechtsverhältnis zwischen den Staaten suspendiert werden, zwischen denen der Umständewandel eingetreten sei. Die Rechtsverhältnisse zwischen diesen Staaten und dritten Vertragsparteien blieben davon unberührt. Bei integralen Verträgen sei ein auf der Basis der "clausula" erklärter Rücktritt gegenüber allen Vertragsparteien gleichermaßen wirksam, während die "clausula" bei objektiven Verträgen kein Kündi-

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gungsrecht vennittele. Diese Verträge seien unabhängig vom Wandel der äußeren Umstände zu erfüllen. Fitzmaurice begründet diese Auffächerung der Rechtsfolgen nach Vertragstypen damit, daß der Fall des Wandels der Umstände vergleichbar sei mit dem der schweren Vertragsverletzung. Im übrigen verweist er auf die Kommentierung zu seinem Art. 18, in dem er das Kündigungsrecht bei einer Verletzung eines multilateralen Vertrages von dem jeweiligen Vertragstyp abhängig macht. 150 In diesem Zusammenhang ist die Erläuterung der möglichen Fälle des Wandels der Umstände aufschlußreich: Fitzmaurice geht dabei von zwei Konstellationen aus, die einen Wandel der Umstände bedeuten. Der erste Fall sei dann gegeben, wenn aufgrund der gewandelten Umstände der Vertragszweck nicht mehr erreicht werden könne. In Analogie zum englischen Recht bezeichnet er diese Konstellation als "frustration". Als Beispiel gibt er hierfür den prominenten Fall des ausgefallenen Krönungsumzugs an. Die Miete eines Fensterplatzes, um von dort aus das Ereignis beobachten zu können, wurde sinnlos, nachdem der Umzug abgesagt worden war. Der Mietzins wurde infolgedessen nicht mehr geschuldet. Der zweite denkbare Fall des Umständewandels betreffe Dauerschuldverhältnisse, die im Völkerrecht, insbesondere bei multilateralen Verträgen, die Regel darstellen. Bei solchen Verträgen könne sich eine Partei rechtmäßigerweise auf die "clausula" berufen, wenn die weitere Erfüllung des Vertrages für sie eine unbillige oder schikanöse Belastung darstellte. 151 Voraussetzung ist also eine Störung des ursprünglich vertraglich gebildeten Gleichgewichts von Rechten und Pflichten, des funktionellen Synallagmas. Die strukturelle Vergleichbarkeit dieses Falles zur schweren Vertragsverletzung liegt auf der Hand: In beiden Fällen geht es um die Zumutbarkeit der weiteren Bindung an den Vertrag, wenn die Erfüllung für eine Partei sinnlos geworden ist, weil die Gegenleistung entfällt oder wertlos geworden ist. Die Analogie erscheint vor diesem Hintergrund konsequent. Ebenfalls folgerichtig ist die Differenzierung der Rechtsfolgen nach Vertragstypen: Besteht im Falle eines integralen Vertrages ein Synallagrna zwischen allen Vertragsparteien gleichzeitig, so gibt es in bilateralistischen Verträgen eine Vielzahl von zweiseitigen Rechtsbeziehungen. Diese Strukturen sind für die Anwendung der "clausula" bestimmend. Bei objektiven Verträgen stehen die vertraglich begründeten Pflichten nicht in einem Gegenseitigkeitszusammenhang. Daraus folgt, daß es ein Synallagma, das gestört werden kann, nicht gibt und für die "clausula" kein Anwendungsbereich verbleibt. 150 151

Siehe oben§ 15, IV. 4. a). Fitzmaurice, Second Report, 60.

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Dieser Regelungsentwurf von Fitzmaurice hängt in seiner Akzeptanz davon ab, daß auch die idealtypische Kategorisierung multilateraler Verträge angenommen wird. Da die ILC nicht dazu gekommen ist, seinen Vorschlag eingehend zu beraten, ist nicht geklärt, ob er sich hätte durchsetzen können. Sein Nachfolger, Sir Humphrey Waldock, lehnte die von Fitzmaurice vorgenommene Einteilungjedenfalls ab. b) Der Entwurf von Waldock Waldock erstellte für die "clausula" zwei Regelungsentwürfe, diebeidestark von dem Vorschlag seines Vorgängers abweichen. Den ersten Entwurf stellte er 1963 vor. 152 In der Begründung zu dem in diesem Entwurf enthaltenen Art. 22 griff er insoweit ausdrücklich auf die Arbeit seines Vorgängers zurück als er die "clausula" als objektives Rechtsprinzip und nicht als stillschweigende Vertragsbedingung deutete. Des weiteren stimmte er Fitzmaurice zu, daß der Anwendungsbereich Fälle betreffe, in denen entweder von "frustration" oder von einer Verschiebung des vertraglichen Gleichgewichts der Rechte und Pflichten gesprochen werden könne. Außerdem übernahm er die von Fitzmaurice schon formulierten negativen Tatbestandsmerkmale. Auch bei dem Waldock-Entwurf sollte die Berufung auf die "clausula" unzulässig sein, wenn der Staat, der sich auf sie berufen will, den Wandel selbst herbeigeführt hat, oder wenn zwischen dem Wandel und der Geltendmachung der "clausula" eine zu lange Zeitspanne verstrichen ist. Im Gegensatz zu Fitzmaurice differenzierte er jedoch nicht zwischen verschiedenen Arten multilateraler Verträge. Ein Ausschluß der "clausula" komme gleichwohl bei einigen Vertragsarten in Betracht. Die Ausnahmen ergäben sich aber nicht aus der normativen Struktur der Verträge, sondern aus ihren Regelungsmaterien. Danach sei die Kündigung eines Vertrages, der eine Grenze festlege oder eine Gebietszession oder die sonstige Einräumung territorialer Rechte zum Inhalt habe, nach dieser Vorschrift ausgeschlossen. Ebenfalls ausgeschlossen sei die Anwendung der "clausula" bei einem Vertrag, der die Gründungsurkunde einer zwischenstaatlichen Organisation darstelle. Die Wirksamkeit der Kündigungserklärung sei abhängig von der Einhaltung von Verfahrensvorschriften, die schon stark denen der WVRK ähneln. Die kündigungswillige Partei müsse ihr Begehren allen anderen Vertragsstaaten gegenüber notifizieren. Falls diese nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums widerspächen, werde die Kündigung wirksam. Andernfalls bestehe die Verpflichtung, in ein Ver152 Second Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1963, Vol. II, 36 (79 f.).

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fahren der friedlichen Streitbeilegung einzutreten und gegebenenfalls den IGH anzurufen. In der Zwischenzeit könne die Vertragsbindung vorübergehend ausgesetzt werden. Dieser Artikel 25 des Waldock-Entwurfs 153 gilt allerdings für alle Kündigungs- und Suspendierungsgründe, ist also nicht auf die "clausula" beschränkt. In bezug auf multilaterale Verträge weicht derVorschlag Waldocks somit stark von dem seines Vorgängers ab. Darüber hinaus nahm Waldock später infolge der Reaktion der Staatenvertreter die Ausnahmeregelung für multilaterale Verträge zurück.154 Ebenso wie im Falle des Kündigungsrechts wegen Vertragsverletzung differenziert er nicht zwischen den Erfüllungsstrukturen multilateraler Abkommen. Dagegen könnten bestimmte Regelungsmaterien zu einem Ausschluß der "clausula" führen.

3. Die Beratungen im Plenum der Völkerrechtskommission Auf der Basis des soeben dargestellten Entwurfs von Waldock erstellte die ILC einen Vorschlag zur Regelung des "Clausula"-Tatbestands in ihren "draft articles".155 Dieser Art. 59 ist mit dem späteren Art. 62 der WVRK weitgehend identisch. Die Bestimmung der Konvention stellt eine erweiterte Fassung des Entwurfs dar, in dem die Bestimmungen der Abs. 2 lit. b und Abs. 3 hinzugefügt wurden. Wie beide Sonderberichterstatter, vertrat auch die ILC die Auffassung, daß es sich bei der "clausula" um eine objektive Rechtsregel handelt und nicht um eine stillschweigende Vertragsbedingung. 156 Um den Ausnahmecharakter der "clausula" noch stärker zu betonen, wählte die ILC die negative Formulierung des Tatbestands, 157 wonach eine Berufung aufveränderte Umstände grundsätzlich ausgeschlossen sein soll, es sei denn, die Bestimmungen des Abs. 1 lit. a und b greifen ein. Allerdings stellte die ILC klar, daß ihrer Auffassung nach bestimmte Modalitäten des Wandels der Umstände- vor allem der Wandel im inneren System eines Staates- und Arten von Verträgen vom Anwendungsbereich der "clausula" ausgeschlossen werden sollten. So könne z. B. bei militärischen Bündnissen eine 153 Waldock. Second Report, 86 f. 154 Sixth Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur,

YBILC 1966, Vol. II, 1 (44). 155 Report of the International Law Corninission on the work of the second part of its seventeenth session, YBILC 1966, Vol. II, 169 (184). 156 ILC-Report 1966, 258. 157 ILC-Report 1966, 259.

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Veränderung im politischen System eines Bündnismitgliedes einen Wandel der Umstände i. S. d. Art. 59 bedeuten. 158 Des weiteren meinte die Kommission, daß die "clausula" hinsichtlich des Kündigungs- bzw. Suspendierungsverfahrens nicht anders zu behandeln sei als die anderen Beendigungstatbestände. Insbesondere bedürfe es keines gegenüber den anderen Tatbeständen zusätzlichen Erfordernisses einer Entscheidung einer unabhängigen Streitschlichtungsinstanz, wie dies von einigen Regierungen vorgeschlagen wurde. 159

4. Die Beratungen auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz Der soeben dargestellte Entwurf der Völkerrechtskommission war auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz 1968 Gegenstand umfangreicher Beratungen. Sowohl bei den Debatten im Committee of the Whole 160 als auch bei den Plenary Meetings 161 war einer der Hauptstreitpunkte die Anwendung der "clausula" auf territorial bezogene Verträge. Lediglich in einigen Diskussionsbeiträgen äußerten sich die Delegierten zur Rechtsnatur der "clausula" und dem daraus folgenden Anwendungsbereich. So sprach der vietnamesische Delegierte im Committee of the Whole davon, daß die "clausula" ein gestörtes Gleichgewicht der vertraglichen Rechte und Pflichten voraussetze. 162 Dem stimmten der japanische 163 und der afghanische 164 Vertreter zu. In den Plenary Meetings äußerte sich der kolumbianische Delegierte dahingehend, daß die "clausula" ein "[ .. . ] safety valve for treaty provisions which had become obsolete and burdensome [ •• .]"165

darstelle. Sie greife bei einer Störung des Synallagmas ein, die nicht in einer Vertragsverletzung bestehe. ILC-Report 1966, 259. ILC-Report 1966, 260. 160 United Nations Conference on the Law ofTreaties, First Session, Vienna, 26 March24 May 1968, Official Records, UN Doc. A/CONF. 39111 , 365 ff. 161 United Nations Conference on the Law ofTreaties, Second Session, Vienna, 9 April22 May 1969, Official Records, UN Doc. A/CONF. 3911 1/Add. 1), 116 ff. 162 First Session, 366. 163 First Session, 367. 164 First Session, 373. 165 Second Session, 118. 158 159

12 Feist

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Ohne weitere Differenzen über die dogmatische Natur der "clausula" wurde Art. 62 im Plenum mit 93 Stimmen, bei 3 Gegenstimmen und 9 Enthaltungen, angenommen.

IV. Die Anwendung der "clausula rebus sie stantibus" auf multilaterale Verträge verschiedener Ausprägungen Es kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, daß sich weder aus der Staatenpraxis noch aus Art. 62 WVRK unmittelbar Beschränkungen oder Modifizierungen hinsichtlich der Anwendung der "clausula" auf multilaterale Verträge ableiten lassen.

1. Allgemein

Zu prüfen bleibt jedoch, ob sich solche Beschränkungen oder Modifizierungen aus den Rechtsnaturen der Verträge selbst ergeben oder ergeben müßten. Ausgangspunkt der diesbezüglichen Überlegungen sind die Fragen, zwischen welchen Parteien eines mehrseitigen Abkommens sich die Umstände gewandelt haben und wie das in Art. 62 Abs. 1 lit. b WVRK genannte Tatbestandselement der tiefgreifenden Umgestaltung der noch zu erfüllenden Verpflichtungen zu verstehen ist. Die Praxis und der überwiegende Teil der Völkerrechtslehre tendieren dahin, daß ein Staat, der sich rechtmäßigerweise auf die "clausula" beruft, die Vertragsbindung zwischen sich und allen anderen Vertragsparteien aufheben bzw. aussetzen kann. Aus dem bereits dargestellten Fall der Loadline-Convention ergibt sich ein solches Verhalten der USA, das von allen anderen Staatenjedenfalls geduldet wurde. In der modernen Literatur wird die Frage, wem gegenüber die "clausula" bei multilateralen Verträgen geltend gernacht werden kann, oft gar nicht gestellt. 166 Eine Ausnahme bildet der schon besprochene Sonderbericht von Sir Gerald Fitzrnaurice. Danach soll die "clausula" im Falle bilateralistischer Verträge eine Partei nur berechtigen, sie im Verhältnis zwischen sich und dem Staat geltend zu machen, gegenüber dem ein Wandel der Umstände eingetreten ist. Im Verhältnis zu den anderen Parteien bleibt der Staat an den Vertrag gebunden. Bei integralen Verträgen wandeln sich die Umstände zwischen allen Parteien, so daß in diesem Falle gegenüber allen Parteien die Kündigung wirksam wird. Bei objektiven Verträgen ist hingegen die Berufung auf die "clausula" ausgeschlossen. 166

z. B. Pott, 118 f. ; Verdross/Simma, 526 ff. ; Reuter, 188 ff.

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l 79

Sieht man in der "clausula" die mögliche Rechtsfolge eines infolge eines Wandels der Umstände gestörten Synallagmas, so erscheint es konsequent, eine Analogie zum Kündigungsrecht wegen Vertragsverletzung herzustellen. In der Tat ist es rechtsdogmatisch geradezu geboten, im Falle eines integralen Vertrages allen Staaten ein Kündigungs- bzw. Suspendierungsrecht gegenüber allen anderen Vertragsparteien einzuräumen. Die Rechtsbeziehungen der Parteien sind untrennbar miteinander verbunden. Die Erfüllung findet gegenüber allen Parteien gleichzeitig statt, und jeder Staat kann von allen Parteien die Erfüllung verlangen. Ändern sich die dem Vertrag zugrundeliegenden Umstände, so muß sich dieser Wandel auf die Rechtsbeziehungen zwischen allen Staaten auswirken, weil sie nicht trennbar sind. Als Beispiel aus der Staatenpraxis für eine solche Konstellation kann die Suspendierung der Loadline-Convention durch die USA gelten, die bereits dargestellt wurde. Zu prüfen bleibt jedoch, ob und inwieweit die Analogie zum Kündigungsrecht wegen Vertragsverletzung auch für die anderen Idealtypen multilateraler Verträge brauchbar ist. Gegen die Ausdehnung der Analogie spricht zunächst, daß weder die Staatenpraxis noch der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 62 WVRK dafür etwas hergeben. Aus der Analyse der Staatenpraxis und der Literatur sowie aus der negativen Formulierung des Art. 62 WVRK läßt sich aber auf ein allgemeines Bedürfnis nach einer restriktiven Anwendung der "clausula" schließen. Gibt es danach kein Gebot, die "clausula" grundsätzlich auf alle Verträge anzuwenden, sondern im Gegenteil eine Tendenz zur Eindämmung ihres Anwendungsbereichs, so ist das oben angeführte Argument jedenfalls nicht zwingend, soweit es gegen eine Einschränkung oder gar einen Ausschluß der Anwendbarkeit der "clausula" auf bestimmte Vertragstypen ins Feld geführt wird. Zunächst stellt sich die Frage, ob die "clausula" mit der von Fitzmaurice vorgeschlagenen Einschränkung bei bilateralistischen multilateralen Verträgen zu versehen ist. Die "clausula" würde dann nur im Verhältnis zwischen denjenigen Parteien Anwendung finden, zwischen denen ein Wandel der Umstände das Ausmaß der noch zu erfüllenden vertraglichen Verpflichtungen tiefgreifend umgestaltet hat. Da es schwerfällt, diese Frage abstrakt zu beantworten, soll versucht werden, das Problem anhand eines von Fitzmaurice 167 in diesem Zusammenhang gebildeten Beispielsfalls zu verdeutlichen. Eine Mehrzahl von Staaten hat sich durch multilateralen Vertrag verpflichtet, sich jeweils gegenseitig für ihre Handelsflotten freien Zugang zu den Seehäfen einzuräumen. Infolge eines territorialen Wandels, den A nicht zu vertreten hat, verliert Vertragsstaat A seinen Zugang zum Meer und seinen Seehafen. Trotzdem existiert unter der Flagge A's noch eine 167

Fitzmaurice, Second Report, 61.

180

2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Handelsflotte, die die vertraglich eingeräumten Privilegien in den Häfen des Vertragsstaates B genießt. B beruft sich daraufhin auf die "clausula" und kündigt gegenüber Staat A den Vertrag. B trägt vor, daß es das Ausmaß der für ihn noch zu erfüllenden vertraglichen Verpflichtungen tiefgreifend umgestalte, den Handelsschiffen aus A gegenüber den Vertrag zu erfüllen, während seine eigene Handelsflotte im Jurisdiktionsbereich von A nicht in den Genuß dieser Vorteile kommen könne. Es soll hier zunächst nicht geklärt werden, ob die Berufung auf die "clausula" tatsächlich begründet wäre. Vorliegend ist ausschließlich von Interesse, welche Rechtsfolge sich ergibt, wenn man die Erfüllung des "Clausula"-Tatbestandes als gegeben annimmt. Danach ergibt sich folgendes Bild: Durch den Wandel der dem Vertrag zugrundeliegenden Umstände wird das Rechtsverhältnis zwischen A und B berührt. Die faktische Situation zwischenBundden anderen Vertragsparteien bleibt jedoch unverändert: Nach wie vor können die Schiffe der Handelsflotte von B die Häfen in den anderen Staaten anlaufen. Demzufolge vermag der hier vorliegende Umständewandel eine Kündigung gegenüber einem anderen Vertragsstaat nicht zu rechtfertigen. B ist nur berechtigt, gegenüber A die Bindung an den Vertrag auszusetzen oder zu beenden. Ausgehend von dem vorgenannten Beispiel liegt der Schluß nahe, daß ein Wandel der Umstände im Falle eines bilateralistischen multilateralen Vertrages grundsätzlich nur die Suspendierung oder Beendigung des Vertrages im Verhältnis zwischen zweien oder einigen wenigen Staaten zu rechtfertigen vermag. Es kannjedoch auch bei einem solchen Vertrag nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß sich die Umstände zwischen allen Parteien wandeln und davon auch die Rechtsbeziehungen aller Parteien untereinander beeinflußt werden. Aus diesem Grunde erscheint es nicht möglich, eine Regel zu formulieren, daß bei bilateralistischen multilateralen Verträgen ein Wandel der Umstände immer nur eine Kündigung oder Suspendierung des Vertrages zwischen jeweils zwei Vertragsparteien ermöglicht. Aus der Erfüllungsstruktur eines solchen Vertrages ergibt sich aber, daß die Anwendung der "clausula" abhängig von der Tatsache ist, ob sich zwischen der die "clausula" anrufenden Partei und derjenigen, gegenüber der gekündigt oder suspendiert wird, konkret die Umstände gewandelt haben. Nur im Rahmen dieses vertraglich begründeten Rechtsverhältnisses greift die "clausula" mit ihren Rechtsfolgen ein, während die vertraglichen Beziehungen beider Parteien zu den anderen Vertragsparteien hiervon unberührt bleiben. Die "clausula" ist folglich aufbilateralistische multilaterale Verträge grundsätzlich anwendbar, wenn auch mit beschränkter Wirkung. Für die Beantwortung der Frage nach dem Einfluß der Erfüllungsstruktur eines mehrseitigen Vertrages auf die Anwendbarkeit der "clausula" bleibt noch zu prü-

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fen, inwieweit die "clausula" auf Verträge anwendbar ist, die nicht zwischenstaatlich erfüllt werden, sondern deren Erfüllungsrichtung nach innen gerichtet ist, also auf Verträge, die als objektiv bezeichnet werden. Weder aus der Staatenpraxis noch aus WVRK und den vorbereitenden Arbeiten dazu läßt sich dazu etwas ableiten. In der Literatur gehen die Meinungen hierüber auseinander. Von einem Teil der Lehre wird vertreten, die "clausula" sei grundsätzlich auf alle Verträge anwendbar, insbesondere gebe es keine Einschränkung bei multilateralen Verträgen.168 Oft wird die Frage, ob es eine solche Einschränkung überhaupt geben könnte, gar nicht gestellt. 169 Andere, insbesondere ältere, Autoren sind dagegen der Auffassung, daß die "clausula" auf normative Verträge ("traites-lois") nicht angewendet werden kann. 170 Dabei sprechen die Staatenpraxis und der Wortlaut des Art. 62 WVRK nicht für eine solche Einschränkung des Anwendungsbereichs. Nur McNair 17 1 schließt aus der Londoner Erklärung 172 auf die Auffassung der sich darin äußernden Staaten, daß normative Verträge nicht einseitig kündbar seien. Trotzdemerscheint die Annahme einer Einschränkung aus folgenden Gründen bedenkenswert: Laut Art. 62 WVRK muß sich aufgrunddes Wandels der Umstände das Ausmaß der noch zu erfüllenden vertraglichen Verpflichtungen tiefgreifend umgestaltet haben. Konkret bedeutet dies, ausgehend von der Analogie zu den nationalen Rechtsordnungen, daß es den Parteien nicht zugemutet werden kann, den Vertrag angesichtsder veränderten Umstände noch weiter erfüllen zu müssen. 173 Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung muß infolge des Wandels gestört sein. Die Entstehung einer solchen Konstellation kann bei objektiven Verträgen zwar nicht von vornherein ausgeschlossen werden, ist aber kaum denkbar. Da die Verpflichtungen aus solchen Verträgen nicht zwischenstaatlich, sondern nach innen erfüllt werden, hat ein Wandel der objektiven Umstände auf die Erfüllung auch keinen Einfluß. Außerdem berechtigt eine Veränderung des inneren Zustandes eines Staates nicht zur Anrufung der "clausula", denn die Umstände, die sich gewandelt haben, müssen für alle Parteien eine wesentliche Grundlage des Vertrages gebildet haben. Haraszti, 72; Reuter, 189; Pott, 54. Statt vieler: Shaw, International Law, 3. Aufl., 599 f. 170 Baron de Taube, RdC 32 ( 1930-11), 295 (372); Fairman, AJIL 29 ( 1935), 219 (229); McNair, BYIL II ( 1930), I 00 ( 11 0); zweifelnd Poch de Clavides, RdC 118 ( 1966-II), I 09 (178 ff.) . 171 McNair, BYIL II (1939), 100 (110). 172 Hertslett, Map of Europe by Treaty, Vol. III, 1875, 1904. 173 Verdross/Simma, 526; Köhler, 165; siehe auch das Urteil des BVerfG im CoburgBayem-Fall: BVErfGE 34, 211 (232). 168

169

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Die Anwendung der "clausula" ist folglich auf Verträge mit objektiver Erfüllungsstruktur faktisch ausgeschlossen. Der Formulierung einer diesbezüglichen Rechtsregel bedarf es jedoch nicht, weil schon der Tatbestand der "clausula" bei objektiven Verträgen regelmäßig nicht erfüllt sein kann.

2. Der Sonderfall des Europarechts Augangspunkt dieses Seitenblicks auf das Europarecht, das sonst im Rahmen dieser Arbeit kaum in Betracht gezogen wird, ist die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. 174 In diesem Urteil hat das Gericht befunden, daß die deutsche Mitgliedschaft in der EU, um verfassungsgemäß zu sein, nicht unumkehrbar sein dürfe. Die Bundesrepublik müsse aus eigenem Antrieb von den Verträgen zurücktreten können. 175 Unter welchen Bedingungen der Bundesrepublik dieses Recht zustehen könne oder ob damit nur die faktische Möglichkeit des Austritts unter Inkaufoahme einer Verletzung internationalen Rechts gemeint war176, ließ das Gericht offen. Es kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, daß das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung der deutschen Mitgliedschaft die Möglichkeit eines Rechtsbruchs ins Kalkül gezogen hat. Da aber das Gemeinschaftsrecht eine Austrittsmöglichkeit nicht vorsieht, stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit der Regeln des AllgemeinenVölkerrechts und hierbei insbesondere die der "clausula". Im europarechtlichen Schrifttum wird demgegenüber aber zum Teil vertreten, daß das Europarecht eine eigene Rechtsordnung darstelle, auf die das Völkerrecht und insbesondere das allgemeine Recht der Verträge einschließlich der "clausula" keine Anwendung finde. 177 Ein anderer Teil der Literatur vertritt die Auffassung, daß auf die Verträge des Europarechts das allgmeine Völkerrecht und damit auch die "clausula" grundsätzlich anwendbar seien. 178 Ob aus der Rechtsnatur des EuroBVerfGE 89, 155. m BVerfGE 89, 190. 176 So die Auslegung von Götz, JZ 1993, 1081 (1085). 177 Hilf, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 5. Auf!., 1997, Art. 240, Rn. 9; Schwarze, EuR 18 (1983), 1 (18); /psen, EuR 29 (1994), I (15 f.); Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, in: Bemhard/Geck/Jaenicke, Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte- Festschrift für Hermann Mosler, 1983, 173 (184). 178 Herdegen, Europarecht, 1997, 57 f.; Streinz, Europarecht, 4. Auf!., 1999, 37; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Auf!., 1996, 314; Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, 2. Auf!. 1998, 242; Bleckmann, DÖV 1978, 391 (394); Röttinger, in: Lenz, EG-Vertrag, Kommentar, 1994, Art. 230, Rn. 3 ff.; Geier, EG-Vertrag, 2. Auf!., 1995, Art. 240, Rn. 9; 174

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parechts tatsächlich der Ausschluß der Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts folgt, ist eine europarechtliche Frage und kann hier nicht beantwortet werden. Im Rahmen dieser Arbeit von Interesse ist lediglich, daß das Schrifttum hier von einer Einschränkung der "clausula" ausgeht. Denn auch die Vertreter der Ansicht, wonach das Völkerrecht auf das Europarecht grundsätzlich anwendbar bleibt, gehen davon aus, daß die Anwendung der "clausula" nur unter sehr engen Voraussetzungen, die vom Gemeinschaftsrecht vorgegeben sind, anwendbar ise 79 bzw. daß die theoretische Anwendbarkeit praktisch leer läuft, weil sie in der Praxis kaum vorstellbar ist180• Festzuhalten bleibt somit, daß im Bereich des Europarechts die Poblematik erkannt wurde, daß die "clausula" auf Verträge dieser Kategorie nicht zu passen scheint. Dabei divergieren die Lösungsversuche eher hinsichtlich ihrer dogmatischen Begründung. In der Konsequenz besteht weitgehend Einigkeit, daß die Anwendung der "clausula" auf die Verträge des Gemeinschaftsrechts zu verhindern ist und in der Praxis kaum denkbar wäre.

V. Die Anpassung multilateraler Verträge trotz eingeschränkter Anwendbarkeit der "clausula" Der Befund hinsichtlich der Anwendbarkeit der "clausula" steht damit fest: Auf bilateralisierbare multilaterale Verträge ist sie mit der Maßgabe anwendbar, daß sie die Suspendierung des Vertrages zwischen denjenigen Staaten erlaubt, zwischen denen sich die Umstände geändert haben, während der Vertrag im übrigen unberührt bleibt. Im Falle eines integralen Vertrages kann ein Staat, der sich rechtmäßigerweise auf die "clausula" beruft, dieses Abkommen gegenüber allen anderen Staaten außer Kraft setzen. Bei objektiven Verträgen schließlich ist die "clausula" zwar nicht "de iure" ausgeschlossen, aber faktisch kaum anwendbar. Die "clausula" erscheint für multilaterale Verträge teils aus tatsächlichen und teils aus rechtspolitischen Gründen nicht geeignet, sachgerechte Regelungen für den Fall eines grundlegenden Wandels der Umstände bereitzustellen. Die fehlende Eignung bei objektiven Verträgen wurde soeben dargestellt. Ihre rechtspolitische Fragwürdigkeit ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Bei integralen Verträgen stellt ihre Anwendbarkeit eine ständige Gefahr für das durch einen solchen VerTomuschat, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1981 (42. Lieferung), Art. 24, Rn. 37. 179 Streinz, 37; Röttinger, Art. 240, Rn. 3 ff.; Schweitzer/Hummer, 314. 180 Pechstein/Koenig, 242.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

trag begründete Rechtsregime dar, weil infolge der auf ihr beruhenden Kündigung auch andere Staaten das Interesse am Vertrag verlieren würden und der Vertrag ausgehöhlt würde. Insbesondere bei objektiven Verträgen stabilisiert der faktische Ausschluß der "clausula" zwar zunächst die vertraglich begründete Ordnung, er führt jedoch auf lange Sicht zu einer Starrheit des Vertrages, was zu einem Akzeptanzverlust führen kann, wenn sich der Vertrag unter geänderten äußeren Umständen nicht mehr als zeitgemäß erweist. Führt man sich vor Augen, daß die "clausula" so etwas wie ein Ventil ist, das es Staaten erlaubt, sich unzumutbar oder unzeitgemäß gewordener vertraglicher Bindungen zu entledigen, so wird klar, daß das vollständige Fehlen eines solchen Ventils negativ ist. Der Verzicht auf die "clausula" bei objektiven Verträgen wäre nur dann rechtspolitisch zu verkraften, wenn sich die Dichotomie von Stabilität des Vertragsregimes auf der einen und der Dynamik des internationalen Systems auf der anderen Seite, das eine Flexibilität des Rechts erfordert, anders auflösen läßt. Erst wenn das Recht in der Lage ist, sich veränderten Bedingungen anzupassen, kann es dauerhaft seine stabilisierende Funktion erfüllen. 181 Ein solches Bedürfnis nach ständiger Anpassung des Rechts an die sich verändernden Bedingungen läßt sich anband der Bestimmungen des Art. 19 der Völkerbundssatzung und des Art. 14 der UN-Charta nachweisen. 182 Es ist im folgenden zu untersuchen, inwieweit Mechanismen des Völkerrechts es den Staaten erlauben, das Recht aus multilateralen Verträgen den veränderten Bedingungen anzupassen und ob diese Mittel ein Ersatz für die "clausula" darstellen können.

1. Notstandsklauseln Notstandsklauseln in Menschenrechtskonventionen wie Art. 15 EMRK erlauben es den Vertragsparteien für einen begrenzten Zeitraum, die Bindung an den Staat zwar nicht auszusetzen aber zu relativieren, wenn besondere interne Situationen die ordnungsgernäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen nicht zulassen. Die Voraussetzungen einer Klausel wie Art. 15 EMRK sind jedoch sehr eng gefaßt. Des weiteren ist das Ausmaß der Einschränkung der Anwendbarkeit an die 181 182

Degan, Sources oflnternational Law, 1997,437. Degan, 437; Grewe, EPIL, Vol. III, 1997,965.

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jeweilige Notstandssituation geknüpft. Schließlich gibt es Bestimmungen in der EMRK, von denen unter keinen Umständen eine Abweichung erlaubt ist, und die Berufung auf die Notstandsklausel unterliegt der richterlichen Kontrolle durch den EuGMR. 183 Da innerstaatliche Umstände im Prinzip die einzig denkbaren sind, die bei Menschenrechtskonventionen das Ausmaß der noch zu erfüllenden Verpflichtungen tiefgreifend umgestalten können, scheint eine Notstandsklausel bei solchen Abkommen ein geeignetes Mittel zu sein, den Wandel von Umständen rechtlich zu regeln.

2. Vertragsrevision Ändern sich bei multilateralen Abkommen aber die Umstände auf zwischenstaatlicher Ebene oder wird die Erfüllung für viele Parteien gleichermaßen unzumutbar, so bietet sich die Möglichkeit, durch Änderung des Vertrages diesen der veränderten Situation anzupassen. Zudem ist das Mittel der Vertragsänderung flexibler als die "clausula", die nur ein Kündigungs- oder Suspendierungsrecht vermittelt. Die Nachteile der Vertagsrevision für den einzelnen Staat liegen aber auf der Hand: Laut Art. 40 WVRK kann eine Vertragsänderung nur dann für alle Parteien wirksam werden, wenn alle ihr zustimmen. Weisen einzelne Staaten das Änderungsbegehren zurück, so sind sie nicht an den geänderten, sondern bleiben an den ursprünglichen Vertrag gebunden. Der geänderte Vertrag gilt nur zwischen den übrigen Parteien. Die Staaten, die eine Änderung wünschen, müssen also entweder versuchen, die Zustimmung aller anderen Parteien zu bekommen oder sich mit einer Relativierung des Vertrages abfinden. Abgesehen von der Frage, ob eine solche Relativierung bei allen Verträgen überhaupt rechtlich möglich ist, 184 ist eine solche Aufspaltung des Vertrages in vielen Fällen nicht wünschenswert und praktikabel. 185 Man stelle sich nur vor, daß ein Vertrag mit ca. 80 Parteien mehrfach geändert wird, wobei die erste Änderung von 65 Staaten akzeptiert wird und die zweite von 60, wobei einige Staaten, die der zweiten Änderung zugestimmt haben, die erste abgelehnt haben und umgekehrt. Die Frage, welche Fassung des 183 EuGMR, Lawless-Case, Ser. A, Vol. 3, 65; Villiger, Handbuch der EMRK, 1993, 399 f.; zu den Voraussetzungen des Art. I im einzelnen siehe Frowein/Peukert, Art. 15, Rn. 6 ff. 184 Verneinend bei einigen Verträgen z. B. Verdross/Simma, 507. 185 Jennings, RdC 121 (1967-II), 321 (556).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Vertrages jeweils zwischen den Parteien im einzelnen anzuwenden wäre, würde noch komplizierter werden, wenn der Vertrag weitere Änderungen erführe. Das Ziel muß also sein, bei der Änderung eines multilateralen Vertrages eine Änderung mit der Wirkung für alle Vertragsparteien herbeizuführen. In Anbetracht dieser Problematik gehen die Staaten in der Praxis zunehmend dazu über, multilaterale Verträge mit Änderungs- und Revisionsklauseln zu versehen, wonach die Wirksamkeit einer Änderung von der Zustimmung lediglich einer qualifizierten Mehrheit abhängen soll. Diese Entwicklung ist insbesondere bei internationalen Organisationen zu beobachten. 186 Eine Vorreiterrolle in diesem Zusammenhang spielte die Satzung des Völkerbundes. Nach Art. 26 der Satzung kann die Satzung geändert werden, wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten einschließlich aller Mitglieder des Völkerbundsrats eine Änderung ratifizieren. Staaten, die eine Änderung ablehnen, sind dann an die geänderte Satzung gebunden. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, aus dem Völkerbund auszutreten. Das Universalitätsprinzip, wonach eine möglichst große Ausdehnung des Völkerbunds angestrebt war, wurde hier zugunsten des Mehrheitsprinzips, das die Wandelungsfähigkeit der Satzung gewährleisten sollte, eingeschränkt. 187 Die UN-Charta bedarf zu ihrer Änderung gern. Art. 108, 109 der Ratifikation des Änderungsvorschlags durch zwei Drittel der Mitglieder einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Art. 108 regelt das Verfahren bei Änderung einzelner Bestimmungen, während Art. 109 den Fall einer generellen Revision betrifft. Die Charta ist in der geänderten Form für alle Mitglieder, also auch für diejenigen, die eine Änderung ablehnen, verbindlich. Entsprechend der Regelung der Völkerbundssatzung wird den Staaten, die gegen eine Änderung waren, jedoch ein außerordentliches Austrittsrecht eingeräumt. 188 Die Charta ist nach diesen Regeln schon mehrfach geändert worden, wobei es zu keinen Austritten in diesem Zusammenhang kam. 189 Komplexer und differenzierter sind die Änderungsmechanismen der Seerechtskonvention von 1982. Die Art. 312-315 und 155, 156 regeln drei verschiedene Arten der Vertragsänderung: Zunächst kann gern. Art. 312 ein Vertragsstaat nach Ablauf von 10 Jahren nach lokrafttreten der Konvention Änderungsvorschläge 186 Siehe dazu Schenners!Blokker, International lnstitutional Law- Unity within Diversity, 3. Aufl., 1995, 72 ff. 187 Schücking/Wehberg, Die Satzung des Völkerbundes, 2. Aufl., 1924,776 f.; Tobin, The Tennination of Multipartite Treaties, 1963, 140 ff. 188 Statt vieler: Karl/Mützelberg, in: Simma (ed.), The Charter of the United NationsA Commentary, Art. 108, Rn. 42 f. 189 Karl/Mützelberg, Rn. 44 ff.

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machen, die dann auf einer Staatenkonferenz beraten werden. Der Beschluß über eine Änderung soll im Konsensus gefaßt werden, wobei allerdings Mehrheitsentscheidungen möglich sind, wenn ein Konsens nicht erzielt werden kann. Nach dem vereinfachten Verfahren des Art. 313 kann ein Staat einen Änderungsvorschlag machen, der vom Generalsekretär an die anderen Parteien schriftlich weitergeleitet wird. Dieser Vorschlag gilt als angenommen, wenn nicht innerhalb von 12 Monaten nach der Weiterleitung eine der Vertragsparteien widerspricht. Artikel 314 bezieht sich ausschließlich auf die Änderung des Tiefseebodenregimes und schreibt die Beteiligung der Organe der Tiefseebodenbehörde nach Art. 155, 156 an dem Verfahren vor. Für alle diese Vorschriften giltjedoch gern. Art. 316, daß Änderungen der Seerechtskonvention in Kraft treten, sobald 60 oder zwei Drittel der Vertragsparteien, je nachdem welche Zahl höher ist, ihre Ratifikationsurkunden bezüglich der Änderung beim Generalsekretär hinterlegt haben. Gemäß Art. 316 Abs. 3 werden aber nur die Änderungen des Tiefseebodenregimes nach Art. 314 auch für die Parteien verbindlich, die eine Änderung nicht ratifiziert haben. 190 In ähnlicher Weise sind Änderungsmechanismen in Menschenrechtskonventionen aufgenommen worden. Änderungen bedürfen zu ihrer Wirksamkeit meist einer Ratifikation durch eine qualifizierte Mehrheit der Vertragsstaaten. Jedoch ergibt sich z. B. aus Art. 51 Abs. 1 und 2 IPBürg und aus Art. 11 Abs. 2 und 3 des hierzu vereinbarten Ersten Fakultativprotokolls, daß der geänderte Vertrag nur zwischen denjenigen Staaten gilt, die die Änderung ratifiziert haben, während im übrigen der ursprüngliche Vertrag Anwendung findet. Aus den beschriebenen Mechanismen läßt sich die Tendenz ableiten, daß multilaterale Verträge durch Änderungs- und Revisionsbestimmungen anpassungsfähiger gemacht werden. In einigen Fällen ist es dabei einer qualifizierten Mehrheit der Staaten möglich, den Vertrag mit Wirkung für alle Parteien auch gegen den Willen einer Minderheit von Vertragsstaaten zu ändern. Diese Tendenz hat Jessup schon früh beobachtet. 191 Andere Autoren haben die Möglichkeit der für alle Parteien geltenden Vertragsänderung durch qualifizierte Mehrheit auf Gründungsverträge internationaler Organisationen beschränkt. 192 Zusammenfassend 190 Allgemein zu diesen Vorschriften: Kiderlein, The Review Provisions of the United Nations Law of the Sea Convention and the Powers of the Review Conference, in: Wolfrum (ed.), Law ofthe Sea at the Crossroads: The Continuing Search for a Universally Accepted Regime, 1991,319 ff. 191 Jessup, A Modem Law ofNations, 142 ff. 192 Winterhager, Die Revision von Gründungsverträgen Internationaler und Supranationaler Organisationen, 1963, 50 f. ; Hoyt, The Unanimity Rule in the Revision ofTreaties- A Re-Examination, 1959, 78 f.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

läßt sich dies mit einem Zitat von Wolfgang Friedmann auf den Punkt bringen, der bereits 1964 bemerkte: "It is already evident, however, that both the increasing complexity ofinternational society and the growing need for international organisation and co-operation are beginning to breakdown the traditional principle of unanimity in international treaty law, and to prepare the way, however modestly and tentatively, for internationallegislation by qualified majority. " 193

In bezugauf das Recht der EuropäischenUnion wird von Köbler vertreten, daß hieraufgrundder Revisionsbestimmungen der Verträge die "clausula" verzichtbar geworden sei. 194 Ein anderes Element der Dynamik, das hier indes nicht weiter untersucht werden soll, ist die Modifizierung eines Vertrages durch die spätere Vertragspraxis, wonach ein Vertrag den geänderten Bedingungen formlos angepaßt wird. 195 3. Rahmenkonventionen und Protokolle

Eine weitere Möglichkeit, multilaterale Abkommen hinsichtlich des Wandels der Umstände flexibler zu gestalten, ist die insbesondere im Umweltvölkerrecht gewählte Form der Rahmenkonvention, die durch konkretisierende Protokolle ergänzt werden. 196 Die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Vertragsstaatenkonferenzen ermöglichen es, die in der Rahmenkonvention relativ allgemein gehaltenen Verpflichtungen zu konkretisieren und laufend anzupassen. Dies ergibt sich z. B. aus Art. 4 Abs. 2 lit. a-d der Klimakonvention. Durch diesen Mechanismus wird eine Wandelungsfähigkeit von multilateralen Regimen nicht nur institutionalisiert, sondern das System ist geradezu auf Änderbarkeit angelegt. 197

4. Bewertung Die beschriebenen Mechanismen lassen die Tendenz erkennen, daß mit dem vermehrten Auftreten multilateraler Verträge auch eine Evolution vertragsinterner InFriedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, 130. Köhler, 168 ff. 195 Siehe hierzu: Kar/, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, 1983, passim.

193 194

196 Siehe dazu Lang, BGDVR, Heft 32 (1991), 57 (64 ff.) ; Pulvenis, The Framework Convention on Climate Change, in: Campiglio/Piueschi/Snibaldoffreves, The Environment after Rio, International Law and Economics, 1994, 71 (1 02 ff.). 197 Bowman, ICLQ 44 (1995), 540.

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strumente einherging, diese Verträge an veränderte Situationen anzupassen. Diese Tendenz folgt jedoch nicht aus der Erfüllungsstruktur dieser Verträge, sondern aus dem Bedürfnis, ein multilaterales Vertragsregime dauerhaft zu stabilisieren. Insbesondere Verträge wie die Klimakonvention gehören, wie im ersten Teil schon erörtert wurde, nicht dem objektiven Typ an. Trotzdem besteht ein Zusammenhang mit der Struktur dieser multilateralen Konventionen und den beschriebenen Mechanismen, worauf McNair schon 1930 hinwies: 198 Der "clausula" liegt der Rechtsgedanke des gestörten Synallagmas zugrunde. Es geht also darum, das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Leistung und Gegenleistung zu regeln. Bei multilateralen Verträgen des integralen oder objektiven Typs geht es aber nicht in erster Linie um den Austausch von Leistungen, um ein "do ut des", sondern um die gemeinschaftliche Regelung eines Gegenstandes im Gemeinschaftsinteresse. Darüber hinaus haben die beschriebenen Mechanismen gegenüber der "clausula" einen weiteren Vorteil: Während bei Anwendung der "clausula" der Vertrag gekündigt oder suspendiert wird, hat die Anwendung der Revisions- oder Anpassungsregeln nicht die Beendigung der Vertragsbindung zum Ergebnis und auch nicht zum Ziel, sondern die Anpassung der vertraglichen Vetpflichtungen an die veränderten Umstände und damit auch die dauerhafte Stabilisierung des Vertragsregimes. Es bleibt jedoch offen, ob sich ein Staat nicht doch auf die "clausula" berufen könnte, wenn die weitere Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen jenseits seiner Opfergrenze läge.

VI. Ergebnis Es bleibt festzuhalten, daß die "clausula" aus Rechtsgründen keine Einschränkungen bei multilateralen Verträgen erfährt. Dennoch ist sie bei objektiven Verträgen faktisch kaum anwendbar. Des weiteren ist die Tendenz zu beobachten, daß viele multialterale Abkommen mit vertragsinternen Mechanismen ausgestattet sind, die es erlauben, die vertraglichen Verpflichtungen den veränderten Umständen anzupassen. Die Anwendung der "clausula" wird dadurch aber nicht von Rechts wegen ausgeschlossen. Rechtspolitisch sinnvoll und bedenkenswert ist dabei der Ansatz von Doehring, der davon ausgeht, daß bei vorhandenen Revisionsund Modifikationsklauseln die "clausula" auf einen Vertrag nur dann anwendbar sein solle, wenn diese Mechanismen nicht zu einer Vertragsanpassung geführt haben. 199 198 199

McNair, BYIL 11 (1939), 100 ( 110 f.). Doehring, ZaöRV 15 (1953/54), 521 (537).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Insbesondere bei Verträgen, die den Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsinteresses zum Ziel haben, sollte die Dispositionsbefugnis der Parteien über den Vertrag eingeschränkt werden. Klein schließt die Anwendbarkeit der "clausula" auf Statusverträge aus, weil das durch einen solchen Vertrag geschützte Gemeinschaftsinteresse der Verfügungsmacht der Staaten entzogen ist. 200 Aus dem gleichen Grunde äußert er Zweifel in bezugauf die Anwendung der "clausula" auf Menschenrechtskonventionen. 201 Gibt es danach keine Regel des Völkerrechts, die die Geltung der "clausula" bei multilateralen Konventionen von vornherein einschränkt oder gar ausschließt, so gibt es doch vermehrt Tendenzen, sie durch andere Mechanismen zu ersetzen. Des weiteren gibt es vielfach rechtspolitische Bedenken, diesen Kündigungsgrund auf Verträge anzuwenden, deren Sinn und Zweck nicht der Austausch von Leistungen sind, sondern die eher im Zusammenhang mit internationaler Legislative im Gemeinschaftsinteresse zu sehen sind.

§ 17 Vertraglieh vereinbarte Abweichungen von einem multilateralen Abkommen durch eine begrenzte Anzahl der Vertragsparteien Wenn einzelne Parteien eines mehrseitigen Vertrages untereinander vereinbaren, daß zwischen ihnen von den Bestimmungen dieses Vertrages abgewichen werden soll, so handelt es sich dabei nicht um eine Kündigung oder Suspendierung des Vertrages im Sinne der WVRK. Denn hier wird eine zumindest zweiseitige Vereinbarung getroffen, während es sich bei Kündigung und Suspendierung um einseitige Rechtsgeschäfte handelt. Trotzdem ist es gerechtfertigt, im Rahmen dieser Arbeit diese Situation zu behandeln. Ebenso wie bei Kündigung oder Suspendierung geht es um eine willkürliche Änderung der Bindung an den Vertrag, ohne daß alle Parteien des Vertrages dieser Änderung zustimmen müssen. Deutlicher wird diese Vergleichbarkeit noch, wenn man die Abweichung von der Vertragsrevision abgrenzt. Den Beteiligten an einer abweichenden Vereinbarung geht es lediglich darum, die Vertragsbindung "inter se" zu modifizieren, während das Ziel einer Vertragsrevision die Änderung des Vertrages mit Wirkung möglichst für alle Parteien ist. DieserUnterschied kommt auch in der WVRK durch die getrenn200 Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1980, 294; siehe in bezugauf den Fall des Kieler Kanals speziell Böhmer, GYIL 36 (1995), 225 (339). 201 Klein, Statusverträge, 294, Fn. 225.

§ 17 Abweichungen von einem multilateralen Abkommen

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ten Regelungen für Revisionen in Art. 40 und inter-se-Modifikationen in Art. 41 zum Ausdruck. 202

I. Praxis und Lehre zu "Inter-se"-Modifikationen vor Verabschiedung der WVRK Mit dem vermehrten Abschließen multilateraler Verträge seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert trat das Problem auf, daß Staaten bei beabsichtigten Vertragsänderungen nicht immer die Zustimmung aller Parteien einholen konnten. Waren sich aber immerhin einige Parteien darüber einig, von dem ersten Vertrag abzuweichen, so entstand das Problem, ob zwischen diesen Parteien geltende Abweichungen rechtlich zulässig waren. Die Frage der Zulässigkeil wurde schon in einem Rechtsgutachten der britischen Regierung vom 18. Mai 1958 aufgeworfen. Dort wurde die Auffassung vertreten, die Schweiz dürfe nicht mit einzelnen Staaten abweichende Vereinbarungen über ihre dauernde Neutralität treffen, weil dadurch ein "public interest of Europe" tangiert würde. 203 In der Havanna Convention on Treaties hieß es dazu in Art. 19 Abs. 1: "Two or more states may agree that their relations are to be governed by rules other than those established in general conventions celebrated by them with other states." 204

Die gleiche Regelung findet sich in dem Kodifikationsentwurf der International Comrnission of American J urists von 1927 in Art. 17.205 Die Staaten sollten danach unter sich abweichende Regelungen von multilateralen Verträgen treffen dürfen und sollten in diesem Recht keinerlei Beschränkungen unterworfen werden. Durch diese Modifikationen "inter se" durfte jedoch der Vertrag im übrigen nicht berührt werden("[ ... ] may agree that theirrelations aretobe governed [ ... ]").Die Folge wäre demnach, daß die Parteien zwei verschiedene Verpflichtungen hinsichtlich desselben Gegenstandes treffen würden, zum einen die Verpflichtungen aus dem ersten Vertrag gegenüber den Parteien dieses Vertrages, die sich an der Modifikation nicht beteiligen und zum anderen die Verpflichtungen aus dem Modifikationsvertrag gegenüber dessen Parteien. 202 Siehe dazu auch Verdross/Simma, 508; Report ofthe International Law Commission on the work of its seventeenth session, YBILC 1966, Vol. II, 169 (233). 203 Zitiert nach McNair, Law of Treaties, 262. 204 Abgedruckt in: Research in International Law, Vol. III, Law of Treaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 1203 ff. 205 Draft of the International Commission of American Jurists, Rio de Janeiro, 1927, abgedruckt in: Research in International Law, Vol. III, Law of Treaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 1222 (1224).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Praktische Relevanz bekam die Frage von Zulässigkeil und Rechtsfolge von "Inter-se"-Modifikationen von multilateralen Abkommen im Rechtsgutachten des StiGH zum Fall der Kompetenz der Donaukonunission für das Gebiet zwischen Galatz und Braila. 206 In diesem Fall ging es um die Frage, ob eine Gruppe von Parteien des Versailler Vertrages in bezugauf die Regelungen zur Donau von diesem Vertrag abweichende Regelungen treffen durften. Richter Nyholm sprach sich dagegen aus und hielt diese Absprache für nichtig. 207 Richter Negulesco stimmte ihm darin zu und führte ergänzend aus, daß die Konferenz, auf der die abweichenden Regeln beschlossen worden seien, nicht unter Teilnahme aller Staaten des Versailler Vertrages stattgefunden habe. Die Konferenzteilnehmer hätten "inter se" keine Abweichung von den bis dahin geltenden Regelungen vereinbaren dürfen, denn "[ ... ] the regime of the Danube does not concem particular interests, but seeks to guarantee in a unifonn manner the right of navigation which, under Art. 52 of the Treaty of Berlin, is recognized as of European interest. " 208

Negulesco stellt sowohl auf die Erfüllungsstruktur ("uniform rnanner") als auch auf das durch den ursprünglichen Vertrag geschützte Gemeinschaftsinteresse ab. In den Fällen, in denen die Erfüllungsstruktur oder das vertraglich geschützte Gemeinschaftsinteresse "Inter-se"-Abweichungen entgegenstehen würden, seien sie nicht zulässig. Im oben schon dargestellten Osar Chinn Fall waren die Fragen nach Zulässigkeil und Rechtsfolge von "Inter-se"-Abweichungen zu multilateralen Verträgen ebenfalls entscheidungserheblich. 209 Der Vertrag von Saint Germain wich dabei in bezugauf die Regelungen betreffend das Kongobecken von der Berliner Generalakte ab, wobei nicht alle Parteien der Berliner Generalakte auch Vertragsstaaten des Vertrages von Saint Gerrnain wurden. Im Urteil stellte sich die Mehrheit der Richter auf den Standpunkt, daß die Parteien des Rechtsstreits die Gültigkeit der Konvention nicht in Abrede gestellt hätten und es deswegen auch für das Gericht keinen Anlaß gebe, an deren Wirksamkeit zu zweifeln. Die dissentierenden Richter van Eysinga und Schücking kamen zu dem Ergebnis, daß es den Parteien des Vertrages von Saint Germain nicht gestattet gewesen sei, von der Berliner Generalakte "inter se" abzuweichen und daß die Rechtsfolge dieses Verstoßes die 206 Jurisdiction of the European Commission of the Danube between Galatz and Braila, Ser. B, No. 14. 207 Jurisdiction of the European Commission of the Danube between Galatz and Braila, Ser. B, No. 14, Observations by M. Nyholm, 71 (73). 208 Jurisdiction of the European Commission of the Danube between Galatz and Braila, Ser. B, No. 14, Dissenting opinion by M. Negulesco (o. Fn. 188), 84 (129). 209

Siehe oben§ 7, II.

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Nichtigkeit der abweichenden Bestimmungen sei. Diese Nichtigkeit sei für das Gericht von Amts wegen zu beachten, unabhängig von den Parteivorträgen. In dem Votum van Eysingas heißt es: "This regime which forms an indivisible whole may be modified, but for this the agreement of all the contracting Powers is required. An inextricable legal tangle would result if, for instance, it were held that the regime of neutralisation provided for in Article II of the General Act of Berlin might be in force for some contracting parties while it had ceased to operate for certain others [ ... ]."210 Richter Schücking schloß sich diesen Ausführungen an und ergänzte sie dahingehend, daß er die relevanten Bestimmungen des Vertrages von Saint Germain als "ex tune" nichtig ansah. 211 Im Harvard-Entwurf von 1935 war eine Regelung für den Fall der "lnter-se"Abweichung einiger Parteien eines multilateralen Vertrages vorgesehen. Laut dessen Art. 22 Abs. 2 sollte eine solche Abweichung nur eingeschränkt möglich sein. Die Bestimmung lautet: "Two or more other States parties to a treaty to which other States are parties may make a treaty which will supersede the earlier treaty in their relations inter se, only if this is not forbidden by the provisions of the earlier treaty and if the later treaty is not inconsistent with the general purpose of the earlier treaty as to be likely to frustrate that purpose."212 Zur Begründung dieser differenzierten Regelung, nach der eine Abweichung grundsätzlich erlaubt sein soll, aber nicht den Zweck des ersten Vertrages vereiteln darf, wurde ausgeführt, daß es viele multilaterale Verträge gebe, von denen eine Abweichung ausdrücklich untersagt sei. Dies sei zur Klarstellung in den Entwurf mit aufgenommen worden.213 Diese Regelung sei jedoch nicht ausreichend, denn es könne sich auch ohne ausdrückliches Verbot eine abweichende Vereinbarung als unzulässig erweisen, wenn sie gegen Sinn und Zweck des ersten Vertrages verstoße. Eine solche Abweichung, die die Zweckerreichung des ersten Vertrages vereiteln könne, müsse verboten sein. 214 Das sei bei solchen multilateralen Abkommen der Fall, die eine einheitliche Anwendung zwischen allen Parteien Oscar Chinn Case, Ser. NB, No. 63, dissenting opinion of J. v. Eysinga, 131 (134). Oscar Chinn Case, Ser. NB, No. 63, dissenting opinion ofM. Schücking, 148 (149); zustimmend Cavaglieri, RdC 26 (1929-1), 315 (51 0). 212 Research in International Law, Vol. III, Law ofTreaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 210

211

1016. 213

Research in International Law, Vol. III, Law of Treaties, AJIL 29 (1935), Suppl.,

1016 f.

214 Research in International Law, Vol. III, Law of Treaties, AJIL 29 (1935), Suppl.,

1016 (1017). 13 Feist

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

zwingend erforderten. Insbesondere gehe es dabei um Abkommen, die aufgrund ihres legislativen oder konstitutionellen Charakters auf universelle Geltung angelegt seien. In diesen Fällen hätten die Parteien ihre Vertragsfreiheit von vornherein beschränkt. 215 Nach diesem Regelungsentwurf sollten die Parteien eines multilateralen Vertrages nicht umfassend berechtigt sein, von diesem Vertrag "inter se" abzuweichen. Im Gegensatz zu den Voten der Richter Schücking und van Eysinga wurde hier jedoch die Frage nach der Rechtsfolge einer abweichenden Vereinbarung offengelassen.

II. Die Regelung in Art. 41 WVRK Artikel41 WVRK ähnelt von der Struktur der entsprechenden Bestimmung des Harvard-Entwurfs. Einzelne Parteien eines multilateralen Vertrages haben danach grundsätzlich das Recht "inter se" von diesem Vertrag abweichende Regelungen zu treffen, es sei denn eine der Beschränkungen dieses Rechts greift ein. Diese Beschränkungen ergeben sich materiell aus Abs. 1. Absatz 2 dieser Vorschrift schreibt in prozeduraler Hinsicht die Pflicht vor, die begehrte Abweichung in jedem Fall allen anderen Vertragsparteien zu notifizieren. Nach Abs. 1 ist die Abweichung unzulässig, wenn sie durch den ersten Vertrag selbst ausgeschlossen wird. Des weiteren dürfen der Genuß der Rechte und die Erfüllung der Pflichten des Vertrages durch die anderen Parteien von der Abweichung nicht beeinträchtigt werden und die Abweichung darf nicht eine Bestimmung des ersten Vertrages erfassen, von der nicht abgewichen werden kann, ohne daß Ziel und Zweck des gesamten Vertrages vereitelt würde. Diese Vorschrift basiert auf dem Art. 3 7 des letzten Entwurfs der ILC. 2 16 Artikel 41 WVRK unterscheidet sich von diesem Vorschlag lediglich hinsichtlich einiger redaktioneller Änderungen. Die Kommission war der Auffassung, daß eine "Inter-se"-Abweichung nur dann möglich sein solle, wenn die drei in Art. 37 bzw. Art. 41 Abs. 1 WVRK genannten negativen Tatbestandsmerkmale erfüllt seien. Dabei könnten die einzelnen Ausschlußgründe sich bisweilen überschneiden. 217 Eine eingehendere Begründung gab die ILC im folgenden nicht. Als Beispiel für eine "Inter-se"-Abweichung, die Ziel und Zweck eines Vertrages vereiteln würde, 215 Research in International Law, Vol. III, Law ofTreaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 1016 (1018). 216 Report of the International Law Commission on the work of its eighteenth session, YBILC 1966, Vol. II, 172 (233). 217 ILC-Report 1966, 235.

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nannte sie die Abweichung einzelner Parteien von Abrüstungs- oder Neutralisierungsverträgen. Des weiteren läßt die ILC die Frage nach der Rechtsfolge einer verbotenen Abweichung unbeantwortet. Die Rechtsfolge läßt sich ebenfalls nicht aus Art. 41 selbst ableiten. 218

111. Analyse Aus der Praxis und der positiven Formulierung des Art. 41, der von der wohl herrschenden Lehre als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts angesehen wird, 219 läßt sich der Schluß ziehen, daß es Parteien eines multilateralen Vertrages grundsätzlich erlaubt ist, von dessen Regeln mit Wirkung "inter se" abzuweichen. Zu diesem Grundsatz gibt es aber einige Ausnahmen, die sich zum Teil aus dem Vertragswortlaut selbst, zum Teil aus Sinn und Zeck des Vertrages oder aus dessen Erfüllungsstruktur ergeben. Für den ausdrücklichen Ausschluß abweichender Vereinbarungen durch den Vertrag selbst lassen sich zahlreiche Beispiele anführen. 220 Der Ausschluß der Abweichung, wenn dadurch Ziel und Zweck des Vertrages vereitelt würde, weil von einer für die Zweckerreichung essentiellen Bestimmung abgewichen wird, reflektiert die hinter solchen Verträgen erkennbare besondere Interessenlage der Parteien. In der Kommentierung zum Harvard-Entwurf wurde angeführt, daß bei vielen multilateralen Verträgen die einheitliche Geltung unabdingbar sei, weil sie konstitutionellen Charakter hätten. 221 Ähnlich äußerte sich hierzu 1930 Manley Hudson: Bei Abkommen, deren Sinn es sei, einen Bereich des Völkerrechts mit dem Anspruch auf universelle Geltung zu kodifizieren, widerspreche es dem Geist solcher Verträge, wenn es einzelnen Staaten gestattet wäre, von diesem Abkommen abzuweichen. 222 Hier ist der Schutz eines dem jeweiligen Vertrag zugrundeliegenden Gemeinschaftsinteresses der Grund für den Ausschluß von "Inter-se"Abweichungen.

Zuleeg, GYIL 20 (1977), 246 (251). Principles ofPublic International Law, 4. Aufl., 1990, 625; Shaw, International Law, 3. Aufl., 1991, 583; Verdross/Simma, 508; Reuter, 136 f. 220 Siehe dazu die Nachweise beim Harvard Draft, Research in International Law, Vol. III, Law ofTreaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 1016 f.; ILC-Report 1966, 233. 221 Research in International Law, Vol. 111, Law of Treaties, AJIL 29 (1935), Suppl., 1018 f. 222 Hudson, AJIL 24 (1930), 447 (461). 21 8

219 Brownlie,

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Schließlich kann sich ein weiterer Ausschlußgrund aus der Erfüllungsstruktur des Vertrages ergeben. Denn nach Art. 41 WVRK ist eine "Inter-se"-Abweichung nur dann erlaubt, wenn sie nicht in Rechtspositionen derjenigen Parteien eingreift, die an dieser abweichenden Vereinbarung nicht teilnehmen. Das setzt voraus, daß die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen zwischen den Parteien aufteilbar ist. In einem multilateralen Vertrag zwischen den Staaten A, B, C und D müßte die Nichterfüllung von A gegenüber C nicht bedeuten dürfen, daß dadurch auch A seine Pflichten gegenüber B und D nicht erfüllt hätte. Das ist nur bei bilateralisierbaren multilateralen Verträgen möglich, nichtjedoch bei integralen und objektiven Verträgen. Die Erfüllungsstruktur kann hier folglich die Möglichkeit einer "Interse"-Abweichung ausschließen. 223 In den Regeln zur Zulässigkeil von "inter se" wirkenden Modifikationen eines multilateralen Vertrages spiegelt sich also die Tendenz des modernen Völkerrechts wider, Gemeinschaftsinteressen stärker zu schützen. Des weiteren reflektieren sie auch die verschiedenen Erfüllungsstrukturen multilateraler Verträge, wie sie dieser Arbeit zugrunde liegen. Der hier zum Ausdruck kommende Schutz von Gemeinschaftsinteressen müßte sich auch auswirken bei Verträgen, die ein so überragend wichtiges Gemeinschaftsinteresse schützen, daß sie über den Kreis der Parteien hinaus rechtliche Wirkung erzeugen. Wenn Sinn und Zweck solcher Verträge es zwingend erfordern, daß sie auch Dritten Staaten, die nicht Parteien dieser Verträge sind, Pflichten auferlegen, so ließe es sich mit diesem Erfordernis nicht vereinbaren, wenn einzelne Parteien von den Bestimmungen solcher Verträge abweichende Vereinbarungen treffen dürften. Dies ergibt sich unabhängig von der Erfüllungsstruktur solcher Verträge, die darüber hinaus "Inter-se"-Modifikationen meist entgegenstehen dürfte.

IV. Rechtsfolge Aus der beschriebenen möglichen Rechtswidrigkeit von "Inter-se"-Abweichungen ergibt sich nicht zwingend eine Rechtsfolge. Denkbar sind zwei mögliche Konsequenzen dieser Rechtswidrigkeit Zum einen könnten die Abweichungen nichtig sein, zum anderen könnte ihre Rechtswidrigkeit zu ihrer bloßen Aufhebbarkeil führen. Die Parteien einer solchen Abweichung wären somit nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit den übrigen Parteien des multilateralen Vertrages gegenüber verpflichtet, die Abweichung rückgängig zu machen. 223

Verdross/Simma, 508; Wilting, Vertragskonkurrenz im Völkerrecht, 1996,99 f.

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In seinem abweichenden Votum zum Oscar-Chinn-Fall vertrat Schücking die Auffassung, die Abweichung von der Berliner Generalakte durch den Vertrag von Saint Gennain sei "ex tune" nichtig.224 Ähnliche Ansichten in bezugauf Modifikationen vertreten Jenks 225 und Stabreit226 • Schücking führte aus, daß die Berliner Generalakte durch die Abweichung insgesamt entwertet würde. Die einzige Möglichkeit dies wirksam auszuschließen, sei die Annahme der Nichtigkeit der Abweichung. Schücking konnte sich jedoch mit dieser Auffassung nicht durchsetzen. Die Mehrheit der Richter ging von der Wirksamkeit des Vertrages von Saint Germain aus. Gegen eine Nichtigkeit sprechen sich Simrna227 und Zuleeg228 aus. Nur wenn die Abweichung gegen zwingendes Völkerrecht verstoße, könne man von ihrer Nichtigkeit ausgehen. Für diese Auffassung spricht nicht nur, daß es hinsichtlich der Annahme der Nichtigkeit an Staatenpraxis fehlt. Auch die WVRK selbst gibt keine Anhaltspunkte für die Rechtsfolge der Nichtigkeit. Im Gegenteil: Die Nichtigkeit eines Vertrages ist dort, wo sie anzunehmen ist, ausdrücklich angeordnet, wie z. B. in Art. 51-53 und 64 WVRK. Im übrigen verweist die WVRK in Art. 73 auf die unverändert geltenden Regelungen des Rechts der Staatenverantwortlichkeit Fraglich ist aber, ob diese Rechtsfolge grundsätzlich angemessen ist. In bezug auf Art. 41 Abs. 1 lit. b, i WVRK, der auf die Erfüllungsstruktur Bezug nimmt, mag dies gelten, weil in diesem Fall ausschließlich die Partikularinteressen der einzelnen Parteien betroffen sind. Im Gegensatz dazu betrifft der Ausschlußgrund des Art. 41 Abs. llit. b, ii WVRK aber das Vertragsregime insgesamt und schützt es vor Aushöhlung. Hier wäre es rechtspolitisch sinnvoll, die Nichtigkeit einer abweichenden Vereinbarung anzunehmen. Aus der Staatenpraxis läßt sich diese Rechtsfolge jedoch nicht ableiten, so daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß sich das geltende Völkerrecht schon so darstellt.

Oscar Chinn Case, Ser. A/8 No. 63, dissenting opinion of M. Schücking, 148 f. Jenks, BYIL 30 (1953), 401 (430 f.). 226 Stabreit, Die Revision multilateraler Verträge durch eine begrenzte Anzahl der Vertragsparteien, 1964, 108. 227 Verdross/Simma, 508. 228 Zuleeg, 250. 224 225

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

§ 18 "Inter se" wirksame Suspendierungen multilateraler Verträge Keinen Unterschied hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung macht es, ob einige Parteien eines Vertrages diesen "inter se" suspendieren oder modifizieren wollen. Denn in beiden Fällen ändern sie ohne Einverständnis der anderen Parteien die rechtlichen Beziehungen untereinander in bezug auf den Vertrag. Demzufolge ist auch die Regelung in Art. 58 WVRK für diesen Fall mit Art. 41 nahezu identisch.

§ 19 Freie Kündigungsrechte Die WVRK regelt außervertragliche Rücktrittstatbestände. Es kann sich aber auch aus den konkreten Verträgen selbst ein Kündigungsrecht ergeben. Dieses Recht kann als ausdrückliche Bestimmung in den Vertrag mitaufgenommen sein. Denkbar ist auch, daß ein Kündigungsrecht aus der Natur des Vertrages folgt oder sich ein solches Recht aus der ergänzenden Auslegung des Vertrages ergibt. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Erfüllungsstrukturen multilateraler Abkommen und die Interessenkonstellationen, die hinter diesen Abkommen stehen, auf die Anwendung dieser Kündigungsrechte Einfluß haben.

I. Stillschweigendes Kündigungsrecht Gegen die Annahme eines stillschweigend vorausgesetzten Kündigungsrechts spricht zunächst ein Umkehrschluß: Sollte es dem Willen der Parteien entsprechen, den Vertrag mit einem Kündigungsrecht zu versehen, so hätten die Parteien dies ausdrücklich geregelt. Aus dem Fehlen einer solchen Bestimmung könnte man auf das Fehlen einer entsprechenden Absicht schließen, so daß Verträge ohne ausdrückliche Regelung von den Parteien einseitig nur nach den Vorschriften des allgemeinen Rechts der Verträge beendet werden können. Anknüpfungspunkt für eine gegenteilige Annahme ist aber Art. 56 Abs. 1 lit. b WVRK. Danach ist ein Vertrag, der keine ausdrückliche Kündigungsregelung enthält, zwar grundsätzlich nicht kündbar. Aus der Natur des Vertrages oder den Umständen seines Abschlusses kann sich jedoch in einigen Fällen die Existenz eines stillschweigenden Kündigungsrechts ergeben.

§ 19 Freie Kündigungsrechte

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1. Die zu dieser Frage vertretenen Auffassungen in der Völkerrechtslehre Die wohl herrschende Meinung in der modernen Völkerrechtsliteratur ist, daß Verträge zu erfüllen und grundsätzlich nicht nach freiem Ermessen einseitig kündbar sind. 229 Die hier zitierten Autoren erkennen jedoch an, daß ein ausnahmsweises Kündigungsrecht nach Art. 56 Abs. llit. b WVRK existiert. Von der älteren Lehre wurde mehrheitlich vertreten, daß bestimmte Kategorien von Verträgen frei kündbar seien, auch wenn der Vertrag selbst darüber nichts aussage. 230 Als Beispiele hierfür geben diese Autoren Handelsabkommen und Bündnisverträge an. Aus der Natur dieser Verträge könne man schließen, daß sie nicht auf ewige Dauer angelegt seien. Diese Auffassung ist vom englischsprachigem Schrifttum weitgehend unverändert übernommen worden. 231 Daneben werden jedoch auch andere Meinungen vertreten. So ist Dahm232 der Auffassung, ohne eine Kündigungsbestimmung sei ein freies Kündigungsrecht ausgeschlossen. Andere Autoren sind gegenteiliger Auffassung: Haraszti 233 möchte der Souveränität der Staaten den Vorzug geben und vermutet im Zweifel, daß ein Vertrag, der darüber keine Aussage trifft, kündbar sei. Giraud234 sieht alle allgemeinen multilateralen Konventionen als frei kündbar an, wobei er eine angemessene Kündigungsfrist annimmt. Schließlich meint Kiss 235 , daß Verträge ohne Kündigungsbestimmung immer, ohne daß es eines Kündigungsgrundes bedürfe, kündbar seien und führt hierzu Aussagen aus der französischen Regierungspolitik an. Ein einheitliches Meinungsbild ergibt sich danach nicht. Die Mehrheit der Autoren geht aber davon aus, daß ein Vertrag ohne Kündigungsbestimmung nicht frei kündbar sei, daß aber von dieser Grundregel Ausnahmen bestehen. 236 229 Brownlie, 616; Shaw, 595; Verdross/Simma, 513; Jennings/Watts, 1298 f.; Shearer, Starke's International Law, 11. Aufl., 1994, 433; Fischer/Köck, Allgemeines Völkerrecht, 4. Aufl., 1994, 62. 230 Hall, A Treatise on International Law, Pearce Higgins (ed.), 8. Aufl., 1924, 405; Brierly, The Law ofNations, Waldock (ed.), 6. Aufl., 1963, 331 ff.; Oppenheim, International Law, Vol. I, Peace, 2. Aufl., 1912,571 f. 231 McNair, Law of Treaties, 511; Elias, The Modem Law of Treaties, 1974, I 05 ff.; Detter de Lupis, Essays on the Law ofTreaties, 1967, 87; Lauterpacht, Oppenheim' s International Law, Vol. I, Peace, 8. Aufl., 1955, 843; Malanzcuk, Akehurst's Modem Introduction to International Law, 7. Aufl., 1997, 142. 232 Dahm, Völkerrecht III, 130. 233 Haraszti, Some Fundamental Problems ofthe Law ofTreaties, 1973,264. 234 Giraud, Annuaire de l'Institut de Droit International, 1961, tome I, 5 (183). 235 Kiss, AFDI 5 (1959), 784 (787). 236 So auch Widdows, BYIL 53 (1982), 83 (104).

200

2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

2. Die vorbereitenden Arbeiten zur WVRK Im Rahmen der Bemühungen der ILC das Recht der Verträge zu kodifizieren, hatten die Sonderberichterstatter Fitzmaurice und Waldock Regelungsvorschläge ausgearbeitet. Außerdem beschäftigte sich die Kommission später im Plenum mit der Frage eines impliziten Kündigungsrechts. Der Ausgangspunkt von Fitzrnaurice war, daß die Bindung an völkerrechtliche Verträge nur dann einseitig aufgehoben werden könne, wenn sich eine solche Möglichkeit aus demjeweiligen Vertrag selbst oder aus dem allgemeinen Völkerrecht ergebe. 237 Entsprechend schrieb der Art. 4 seines Entwurfs 238 vor, daß Verträge ohne Kündigungsklausel grundsätzlich nicht kündbar seien, daß es aber von dieser Regel zwei Ausnahmen gebe. Aus dem Vertrag selbst könne man im Wege der ergänzenden Auslegung eine entsprechende Absicht der Parteien erkennen oder der Vertrag gehöre einer Kategorie von Abkommen an, bei denen man von ihrer Natur her auf eine Kündigungsmöglichkeit schließen könne. Als Beispiele für solche Verträge führt Fitzmaurice Handelsabkommen und militärische Allianzen an. Er reiht sich damit in die bereits dargestellte Tradition des angelsächsischen Schrifttums ein. Einen umfangreichen Regelungsentwurf stellte Waldock in Art. 17 seiner ersten draft articles vor. 239 Ebenso wie bei seinem Vorgänger sollten Verträge danach grundsätzlich nicht frei kündbar sein. Einen ausdrücklichen Ausschluß der freien Kündigung schlug er für Grenzverträge, Abkommen zur Errichtung eines territorialen Regimes, Friedens- und Abrüstungsverträge und für allgemeine multilaterale Konventionen zur Kodifizierung oder Weiterentwicklung des allgemeinen Völkerrechts vor. Demgegenüber sollten Handelsverträge, militärische Bündnisse, außer Abmachungen nach Kapitel VIII der UN-Charta, Abkommen im Bereich der technischen Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Soziales, Handel, Wissenschaft und Kommunikation sowie Schiedsahkommen und Verträge zur friedlichen Streitbeilegung frei kündbar sein. Des weiteren sollte die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen für die Staaten zur freien Disposition stehen. Dieser Vorschlag konnte indes in der Kommission keine Mehrheit finden. 240

237 SecandRepart an the Law afTreaties by Sir Gerald Fitvnaurice, Special Rapparteur, YBILC 1957, Val. li, 16 (21). 238 Fitzmaurice, Secand Repart, 38. 239 SecandRepart an the Law afTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapparteur, YBILC 1963, Val. li, 36 (63 f.) . 240 Siehe dazu die Debatte in der ILC, YBILC 1963, Val. I, 94 f.

§ 19 Freie Kündigungsrechte

201

Auf der Basis dieser Debatte und der daraus hervorgehenden Änderungsvorschläge revidierte Waldock seinen Entwurf und stellte 1966 einen neuen Entwurf in Art. 39 seines Drafts vor. 241 Darin waren keine Typisierungen mehr enthalten. Ein Vertrag sollte danach frei kündbar sein, wenn sich die diesbezügliche Absicht der Parteien aus der Art des Vertrages, den vorbereitenden Arbeiten oder den Umständen seines Abschlusses ermitteln ließe. Die Kündigungsfrist sollte drei Monate betragen. Der von der ILC auf Basis der Waldock-Reports verfaßte Entwurf stellte nur noch auf die Absicht der Parteien ab. Laut Art. 53242 sollte ein Vertrag, der keine Kündigungsbestimmung enthält, nicht frei kündbar sein, es sei denn, es sei von dem gegenteiligen Willen der Parteien auszugehen. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß nicht allein der Charakter des jeweiligen Vertrages für die Annahme seiner Kündbarkeit ausschlaggebend sei, sondern daß die Vertragsart nur ein Element unter vielen sei, das für die Ermittlung des Parteiwillens von Bedeutung sei. Alle Vertragsumstände müßten berücksichtigt werden.243

3. Die Beratungen auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz Der Entwurf der ILC wurde bei der Wiener Vertragsrechtskonferenz zunächst vom Committee of the Whole beraten. Dabei stellte sich heraus, daß die Grundannahme gegen ein freies Kündigungsrecht übernommen wurde. 244 Einige Delegierte betonten die besondere Problematik des stillschweigenden Kündigungsrechts, weil man zwischen den Interessen der Parteien an der Integrität des Vertrages auf der einen und dem Interesse der einzelnen Partei an Flexibilität auf der anderen Seite abwägen müsse. 245

241 Fifth Report on the Law ofTreaties by Sir Humphrey Waldock, Special Rapporteur, YBILC 1966, Vol. II, I (28). 242 Report of the International Law Commission on the work of its eighteenth session, YBILC 1966, Vol. II, 172 (250). 243 ILC-Report 1966, 251. 244 United Nations Conference on the Law of Treaties, Ist session, Vienna, 26 March24 May 1968, Official Records, Summary Records ofthe Committee ofthe Whole, UN Doc. NCONF. 39/11, 336 ff. 245 United Nations Conference on the Law of Treaties, Ist session, Vienna, 26 March24 May 1968, Official Records, Summary Records of the Committee of the Whole, UN Doc. NCONF. 39/11: Spanien, 337, Vereinigtes Königreich, 339, Italien, 340, Thailand, 340, Polen, 341.

202

2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Ein gemeinsamer Änderungsvorschlag Kolumbiens, Venezuelas und Spaniens einer umgekehrten Formulierung, wonach die grundsätzliche Vermutung für ein freies Kündigungsrecht bestehen sollte246 , wurde nicht angenomrnen. 247 Vom Komitee angenommen wurde dagegen ein Ergänzungsvorschlag des Vereinigten Königreichs. 248 Der Entwurf der ILC sollte dahingehend erweitert werden, daß sich die Annahme eines stillschweigenden Kündigungsrechts auch aus der Natur des Vertrages ergeben könne. In der so geänderten Form fand der Regelungsentwurf am Ende eine breite Mehrheit. 249 Als dieser Entwurf noch einmal bei den Plenary Meetings besprochen wurde, äußerte nur noch der italienische Delegierte Bedenken: Wenn man von der Natur eines Vertrages auf ein stillschweigendes Kündigungsrecht schließen könne, so würde dies die Stabilität völkerrechtlicher Verträge insgesamt gefährden.250 Der Entwurf wurde ohne Änderungen mit 95 Stimmen bei 6 Enthaltungen angenommen. 251 Er entspricht Art. 56 WVRK.

4. Staatenpraxis zum stillschweigenden Kündigungsrecht Die Staatenpraxis wird unter folgenden Gesichtspunkten analysiert: Zunächst geht es um die Frage, ob grundsätzlich Verträge frei kündbar sind, oder ob sich aus der Praxis das Gegenteil ergibt. Des weiteren gilt es, herauszufinden, ob die Staaten von der freien Kündbarkeit bestimmter Arten von Verträgen ausgehen.

UN Doc. NCONF. 39/C-1/L. 307 Add. I and 2. United Nations Conference on the Law ofTreaties, Ist session, Vienna, 26 March24 May I968, Official Records, Summary Records of the Committee ofthe Whoie, UN Doc. NCONF. 3911I, 343. 248 United Nations Conference on the Law of Treaties, Ist session, Vienna, 26 March24 May I968, Official Records, Summary Records of the Committee of the Whole, UN Doc. NCONF. 39111,343. 249 United Nations Conference on the Law ofTreaties, Ist session, Vienna, 26 March24 May I968, Official Records, Summary Records of the Committee of the Whoie, UN Doc. NCONF. 39111,477: 56 Ja-Stimmen, beijeweils 10 Enthaltungen und Gegenstimmen. 250 United Nations Conference on the Law of Treaties, 2nd session, Vienna, 9 April22 May 1969, Official Records, Summary Records of the Plenary Meetings, UN Doc. NCONF. 39111/Add. I, 110. 251 United Nations Conference on the Law of Treaties, 2nd session, Vienna, 9 April22 May 1969, Official Records, Summary Records of the Plenary Meetings, UN Doc. NCONF. 39111/Add. I, 110. 246 247

§ 19 Freie Kündigungsrechte

203

Ein frühes Beispiel aus der Staatenpraxis ist die bereits oben252 erörterte Londoner Erklärung. Darin wiesen die Staaten der Berliner Generalakte das russische Kündigungsbegehren mit der Begründung zurück, daß kein Staat sich seinen Verpflichtungen entledigen könne, es sei denn durch Vereinbarung mit den anderen Vertragsparteien. Daraus läßt sich ablesen, daß es den Staaten grundsätzlich nicht freisteht, ihre vertraglichen Verpflichtungen durch Kündigung zu beenden. Im 20. Jahrhundert kam es verbreitet zu Kündigungsbegehren bei Verträgen ohne Kündigungsklausel, wobei sich die kündigungswillige Partei zur Begründung auf die Natur des Vertrages berief. 1938 erklärte Paraguay die Rücknahme seiner Unterwerfungserklärung unter die Gerichtsbarkeit des StiGH. In der schriftlichen Erklärung hierzu vertrat Paraguay die Auffassung, daß die Unterwerfungserklärung frei rücknehmbar sei. 253 Diese Erklärung bedeutete zwar nicht eine Kündigung des StiGH-Statuts, jedoch steht sie einer Teilkündigung des Statuts gleich, weil sie einen wesentlichen Anwendungsbereich dieses Abkommens betrifft. 254 Der Generalsekretär des Völkerbunds unterrichtete alle Vertragsstaaten des Statuts, die eine unbedingte Unterwerfungserklärung abgegeben hatten, von dieser Erklärung. Sechs dieser Staaten protestierten gegen das Vorgehen Paraguays und erkannten die Rücknahme nicht an.255 Im isländischen Fischereistreit befand der IGH, daß der Notenaustausch zwischen Island und dem Vereinigten Königreich, der eine Streitbeilegungsklausel enthielt, nicht auf unbegrenzte Geltungsdauer angelegt sei und demzufolge gekündigt werden könne. 256 Begründet wurde diese Rechtsauffassungjedoch mit derbesonderen Situation dieses Einzelfalls: Die Unterwerfung unter die Zuständigkeit des IGH im Notenaustausch sei auf einen bestimmten Fall beschränkt und aufschiebend bedingt gewesen. Aus der Praxis ergibt sich damit nichts, was die Annahme eines freien Kündigungsrechts bei Verträgen zur friedlichen Streitbeilegung rechtfertigen würde. Weitaus umfangreichere Praxis gibt es bei Austrittsbegehren aus internationalen Organisationen, die keine ausdrückliche Austrittsmöglichkeit eröffnen. Obwohl die meisten Gründungsverträge internationaler Organisationen eine Austrittsm § 15, II. 253 Zitiert nach Fachiri, BYIL 20 (1939), 52. 254 Fachiri, 55. 255 Widdows, BYIL 53 (1982), 83 (97). 256 Fisheries Jurisdiction (UK v. Ice1and), Jurisdiction ofthe Court, ICJ-Reports 1974,

14 f.

204

2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

klausei enthalten,257 gibt es einige solcher Dokumente, die hierzu nichts aussagen. Dazu gehören u. a. die Charta der Vereinten Nationen, die Satzung der WHO und der EG-Vertrag. Auf der Gründungskonferenz zur UN wurde der Punkt verhandelt, ob die Mitgliedschaft in der Organisation zur Disposition des einzelnen Mitglieds stehen sollte. Es wurde eine Resolution verabschiedet, in der die Auffassung zum Ausdruck kam, daß die Organisation ein Mitglied gegen seinen Willen nicht zur weiteren Mitgliedschaft zwingen solle. Wenn ein Staat unter besonderen Umständen nicht bereit sei, seine Mitgliedschaftspflichten zu erfüllen, mache es keinen Sinn, ihn als Mitglied zu behalten. Des weiteren solle ein Staat austreten dürfen, wenn infolge einer Revision der Charta für ihn die sich aus der Charta ergebenden Pflichten als nicht mehr akzeptabel herausstellten. 258 Danach sollte es also ein Austrittsrecht geben, dessen Ausübung allerdings nicht vollständig im Ermessen der Staaten stand, sondern an gewisse Bedingungen geknüpft war. In der Praxis der Organisation gab es einen Fall des Austritts. 1965 erklärte lndonesien seinen Rückzug aus der Organisation, nachdem Malaysia als Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt worden war. 259 Die Delegation des Vereinigten Königreichs äußerte hierzu, daß der Austritt ohne Rechtsgrund erfolgt sei. 260 Die Organe der UN enthielten sich einer Äußerung. Der Generalsekretär teilte lediglich mit: "Your statement [has] been noted." 261 1965 wurde lndonesien nicht als Mitglied der UN geführt. 262 Indonesien erklärte am 19. September 1966, daß es mit Beginn der 21. Sitzungsperiode seine Mitgliedschaft wieder aufnehmen wolle. 263 Der Präsident der Generalversammlung äußerte daraufhin, daß Indonesiens Abwesenheit 1965 nicht als Austritt, sondern als bloßes Ruhen der Mitgliedschaft zu werten sei. Indonesien solle, falls keine Einwände erhoben würden, seine mitgliedschaftliehen Rechte und Pflichten wieder in vollem Umfange erhalten. 264 Indonesien wurde ohne Widerspruch der Mitglieder wieder zu allen Aktivitäten der Organisation zugelassen. 265 Die darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung spricht folglich nicht für ein freies Austrittsrecht Des weiteren wurde der Versuch unter2s7 Siehe die Nachweise bei Schenners/Blokker, International Institutional Law, 3. Aufl., 1995, 83 ( § 120, Fn. 154); siehe auch Widdows, 98, der feststellt, daß weniger als ein Fünftel der Gründungsverträge internationaler Organisationen kein Austrittsrecht enthält. 2s8 Text der Resolution in: UNCIO, Vol. 7, 267. 259 UN Doc. A/5857, 4; siehedazu Unni, InL5 (1965), 128 f.; Blum, ICLQ 16 (1967), 522. 260 UN Doc. A/5861; United Nations Yearbook 1965, 189 ff. 261 Brief des Generalsekretärs vom 26. Februar 1965, UN Doc. A/5899. 262 Blum, 527; Schenners/Blokker, 90 (§ 131 ). 263 UN Doc. A/6419. 264 UN Doc. A/PV. 1420, 7 ff. 26s Blum, 522; Schwelb, AJIL 61 (!967), 661 (668 ff. ).

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205

normnen, dem indonesischen Vorgehen die Schärfe zu nehmen, indem man es als bloß vorübergehende Suspendierung der Mitgliedschaft wertete, obwohl der Wortlaut der Erklärung von 1965 diese Interpretation nicht nahelegte. Auch bei der WHO kann von einem freien Austrittsrecht nicht gesprochen werden. Auf der Gründungskonferenz bestand Einigkeit, daß nur im Falle der Satzungsänderung die Mitglieder ein außerordentliches Kündigungsrecht hätten. 266 Die USA meldeten daraufhin einen Vorbehalt an, worin sie für sich ein Austrittsrecht mit einer Frist von einem Jahr in Anspruch nahmen. Diesern Vorbehalt wurde nicht widersprochen. Er wird für die USA als konstitutiv für ein Austrittsrecht angesehen, weil sich ein solches Recht weder ausdrücklich noch konkludent aus der Satzung ergebe. 267 In der Folge gab es jedoch Austritts begehren. Im Februar 1948 erklärten die UdSSR, die Ukraine und Weißrußland ihre Austritte aus der Organisation. 268 Diese Erklärungen wurden vorn Exekutivsekretär der WHO als unbegründet zurückgewiesen, weil kein Austrittsrecht bestehe. 269 Die danach von der Tschechoslowakej270 und Ungarn271 erklärten Austritte wurden ebenfalls von der WHO nicht anerkannt. 272 Schließlich äußerten alle diese Staaten im Jahre 1954 ihre Bereitschaft zum Wiedereintritt in die WH0. 273 Nachdem die Ostblockstaaten im Jahre 1957 die Mitarbeit in der Organisation wieder aufgenormnen hatten, sprach der sowjetische Delegierte bei der WHO davon, daß die UdSSR lediglich ihre ruhenden Mitgliedschaftsrechte wieder wahrnehmen würde, während es vorher hieß, die Sowjetunion sei erneut in die WHO eingetreten.274 Auch hieraus spricht die Tendenz, einemAustrittjedenfalls ex post die Wirkung als vollständige Beendigung der Mitgliedschaft abzusprechen und ihn statt dessen als Suspendierung der Mitgliedschaft zu werten. In bezugauf den EG-Vertrag, der kein ausdrückliches Kündigungsrecht enthält, wird angenormnen, daß einzelne Mitgliedstaaten kein Austrittsrecht haben. 275 Innenpolitisch gab es Anfang der 80er Jahre in Griechenland und im Ver266 Proceedings of the International Health Conference, 1946, Official Records WHO, No. 2, 1948, 26 und 74. 267 Schermers/Blokker, 87 (§ 125). 268 AdG 1948/49, 1922, 1826. 269 AdG 1948/49, 1822. 270 AdG 1959, 2359. 271 AdG 1950, 2394. 272 Schenners/8/okker, 88 (§ 126). 273 AdG 1955, 5949; Feinberg, BYIL 39 (1963), 189 (205). 274 Zitiert nach Feinberg, 207. 275 Hilf, in: von der Groeben!Thiesing/Ehlerrnann, Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 4, Art. 189-248, 4. Aufl., 1991, Art. 240, Rn. 8; Pescatore, RTDE 17 (1981 ), 617 (622 ff.).

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

einigten Königreich Diskussionen um einen eventuellen Austritt. Die Befürworter eines Austritts haben sich jedoch in keinem Fall durchsetzen können. 276 Die Praxis der EG spricht also ebenfalls nicht für die Annahme eines freien Kündigungsrechts. Aufschlußreich sind für den Bereich allgemeiner multilateraler Verträge die Verhandlungen zu den Seerechtskonventionen von 1958 und die nachfolgende Praxis zu diesen Abkommen. Bei den Vertragsverhandlungen wurde der Antrag gestellt, die Konventionen mit einer Kündigungsklausel zu versehen. Dieser Antrag wurde abgelehnt. 277 Ausdrücklich wandte sich Italien gegen diesen Antrag und führte aus, daß es sich bei diesen Konventionen um Instrumente eines allgemeinen Verhaltenskodex handele, der nicht zur freien Disposition stehen dürfe. 278 Die Konventionen traten ohne ausdrückliches Kündigungsrecht in Kraft. Am 3. Juni 1971 notifizierte der Präsident Senegals dem Generalsekretär der UN als Depositar der Konventionen die Kündigungen279 der Konvention über das Küstenmeer und die Anschlußzone280 und der Fischereikonvention281 • Senegals Rechtsauffassung war, daß das Völkergewohnheitsrecht jedem Staat ein freies Kündigungsrecht ohne Einschränkungen vermittele. Die UN trat dem entgegen und nahm die Kündigung nicht an. Art. 56 kodifiziere allgemeines Völkerrecht, und die Genfer Seerechtskonventionen gehörten nicht zu denjenigen Verträgen, die nach dieser Vorschrift von ihrer Natur her als kündbar angesehen werden müßten. 282 Das Vereinigte Königreich stimmte dem zu und sah die Kündigungen als unwirksam an. 283 Der Blick auf die Praxis zeigt, daß wenig für die Annahme freier Kündigungsrechte multilateraler Verträge spricht. Insbesondere haben die Staaten versucht, Austritte "ex post" in bloße Suspendierungen umzudeuten, wahrscheinlich, um keine Präzedenzfälle zu schaffen. Das läßt auf die Auffassung schließen, der Integrität des Vertragsregimes einen größeren Stellenwert einzuräumen als dem Interesse der einzelnen Staaten an Flexibilität. Hilf, in: von der Groebenffhiesing/Ehlermann, Art. 240, Rn. 8; Pescatore, 622. Siehe dazu Elias, The Modem Law ofTreaties, 105. 278 Zitiert nach Widdows, 104 f. 279 Zitiert nach Bardonnet, AFDI 18 (1972), 123 ff.; Widdows, 105. 28 Convention on the Territorial Sea and the Contiguous Zone, Geneva, 29 April 1958, UNTS 516,205. 281 Convention on Fishing and Conservation of the Living Resources in the High Seas, Geneva, 29 April 1958, UNTS 559, 285. 282 Widdows, 105 f. 283 Widdows, 105 f. 216

277

°

§ 19 Freie Kündigungsrechte

207

5. Analyse Aus der Lehre und der Praxis ergibt sich zunächst, daß Verträge grundsätzlich nicht frei kündbar sind. Das Gegenteil kann dann angenommen werden, wenn sich eine entsprechende Absicht der Parteien aus den Vertragsumständen ermitteln läßt oder, wenn sich ein stillschweigendes Kündigungsrecht aus der Natur des Vertrages ergibt. Die Absicht der Parteien läßt sich nur anband des konkreten Vertrages mittels der Auslegung, womöglich der ergänzenden Auslegung, ermitteln. Die im Rahmen dieser Arbeit verwandten Kriterien zur Einteilung multilateraler Verträge lassen sich hier nicht anwenden, wie überhaupt generell-abstrakte Kriterien für die Ermittlung der Parteiwillen ungeeignet sind. Deshalb kann im Rahmen dieser Untersuchung allein das Kriterium der Natur des Vertrages einen Anknüpfungspunkt bieten. Die dargestellte Praxis erlaubt jedoch kaum den Schluß auf bestimmte Arten von Verträgen, die nach dieser Regel frei kündbar sein sollen. Eher läßt die Praxis auf Kategorien von Verträgen schließen, bei denen die freie Kündigung ausgeschlossen ist. Dazu gehören Unterwerfungserklärungen unter die Jurisdiktion eines internationalen Gerichts und Gründungsverträge internationaler Organisationen. Ebensowenig kann von der immanenten Kündbarkeit allgemeiner multilateraler Konventionen ausgegangen werden, wie das Beispiel der Genfer Seerechtskonventionen von 1958 zeigt. Gibt danach die Staatenpraxis nichts her, so ist davon auszugehen, daß das allgemeine Völkerrecht keine eindeutige Regel enthält, wonach bestimmte Arten von Verträgen von ihrer Natur her frei kündbar sind. 284 Es bleibt folglich nur noch zu prüfen, welchen Inhalt Art. 56 Abs. 1 lit. b WVRK als partikulares Völkerrecht hat. Für diesen Fall ergibt sich, ausgehend von den Beratungen in der ILC und auf der Wiener Vertragsrechtkonferenz ein klareres Bild: Unter den Tatbestand dieser Vorschrift lassen sich danach Verträge subsumieren, die von ihrer Natur her nicht als dauerhafte Regelungen angesehen werden. 285 Traditionell wird die Auffassung vertreten, daß Handelsverträge und militärische Allianzen als solche bloß vorübergehende Abkommen anzusehen seien.286 Jedenfalls hat sich die bereits zitierte Auffassung Girauds 287 nicht durch-

Widdows, 110; ähnlich auch schon Jennings, RdC 121 (1967-11), 323 (565). Elias, 107; Shaw, 595; Sinclair, 187; Capotorti, RdC 134 (1971), 519 (539). 286 Siehe die in Fn. 230 genannten Autoren. 287 Giraud, 185. 284

285

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

setzen können, wonach die Mitgliedschaft in allgemeinen multilateralen Konventionen für Staaten zu ihrer alleinigen Disposition stehen solle. 288 Aus den zitierten Auffassungen ergibt sich des weiteren, daß die Erfüllungsstruktur eines Vertrages als solche nicht für die Frage der Kündbarkeit von Bedeutung ist. Entscheidend sind die jeweilige Regelungsmaterie und die damit verbundene Interessenkonstellation. Die als klassische Beispiele angeführten Handelsabkommen und Bündnsisverträge betreffen jeweils nur Partikularinteressen der an ihnen beteiligten Staaten und haben im übrigen keine Auswirkungen über den Kreis der Parteien hinaus. Daraus schließt McNair, daß sich ein freies Kündigungsrecht aus der Natur des Vertrages ergeben könne, wenn es sich um einen Vertrag handele, der sich in einer Austauschbeziehung erschöpfe. 289 Stelle ein Vertrag mehr dar, als einen solchen "bilateral bargain", so sei die Kündigung ausgeschlossen. Die Auffassung McNairs überzeugt. Zunächst ist dabei zu bedenken, daß nach der Grundregel "pacta sunt servanda" die Annahme eines freien Kündigungsrechts auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt sein muß. Der Ausnahmecharakter wird dadurch bestärkt, daß in viele Verträge Kündigungsklauseln ausdrücklich aufgenommen worden sind. Die Staaten regeln also diese Möglichkeit ausdrücklich, wenn sie es wünschen und gehen im übrigen davon aus, daß es kein grundsätzliches Recht gibt zu kündigen, wenn es nicht eingeräumt wurde. 290 Der Blick auf die Praxis bestätigt diese Annahme. Des weiteren genießt der Schutz von Gemeinschaftsinteressen einen erhöhten völkerrechtlichen Schutz, insbesondere wird die Integrität eines Vertragsregimes im Gemeinschaftsinteresse als besonderes Schutzgut angesehen. Die Dispositionsbefugnis der einzelnen Staaten soll möglichst gering sein. Als Beispiele für diese Regel mögen Art. 60 Abs. 5 und Art. 31 WVRK gelten. Dieser Tendenz würde es widersprechen, wenn man von der freien Kündbarkeit multilateraler Verträge, die den Schutz eines Gemeinschaftsinteresses zum Gegenstand haben, ausginge.291

288 Siehe die Mehrheitsauffassung des Institut de Droit International, Annuaire de I ' Institut de Droit International, 1961, tome 1, 293. 289 McNair, Law ofTreaties, 505. 290 Widdows, 95. 291 So ausdrücklich in bezugauf den IPBürg Nowak, CCPR-Kommentar, 1989, Einf., Rn. 25 f. (XXV).

§ 19 Freie Kündigungsrechte

209

II. Ausdrückliches freies Kündigungsrecht Wie vorab schon erörtert wurde, enthalten viele multilaterale Konventionen eine Bestimmung, wonach die Parteien ohne Angabe eines Grundes zur Kündigung berechtigt sind. Freilich ist die Kündigung meist an eine Frist gekoppelt. Beispiele hierfür sind Art. 44 des Abkommens über die Rechtsstellung der FlüchtIinge (Genfer Flüchtlingskonvention) vom 28. Juli 1951,292 Art. 52 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989,293 Art. 65 EMRK, Art. 315 der Seerechtskonvention von 1982 und Art. 19 des Wiener Übereinkommens zum Schutz der Ozonschicht vom 22. März 1985. 294 Abkommen ohne entsprechende Bestimmung, wie der IPBürg, sind eher die Ausnahme. Auf den ersten Blick erscheint es müßig, ausdrücklich eingeräumten freien Kündigungsrechten einen eigenen Abschnitt zu widmen. Denn jede Diskussion darüber sollte sich wegen der insoweit eindeutigen Rechtslage eigentlich erübrigen. Dies ist jedoch nur ein "Prima-facie"-Schluß, der nicht in vollem Umfang gerechtfertigt ist. Die allgemeinen Regeln einer Konvention können gewohnheitsrechtliche Geltung erlangen. In diesen Fällen nützt die Ausübung der Kündigungsbefugnis wenig. Aber auch jenseits dieser Evolution des vertraglich gesetzten Rechts zum Gewohnheitsrecht hat die Praxis in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, daß es Tendenzen gibt, wonach in einigen Fällen die eigentlich freie Kündigung nicht widerspruchslos hingenommen wird und dadurch zumindest faktischen Einschränkungen unterworfen ist. Diese Tendenz soll anhand zweier Beispiele exemplarisch aufgezeigt werden.

1. Praxis zur EMRK Laut Art. 65 EMRK sind die Parteien berechtigt, die Konvention jederzeit und ohne Angabe von Gründen zu kündigen. Trotz dieser umfassenden Befugnis hat es bis heute erst einen Fall einer Kündigung gegeben. Griechenland kündigte am 12. Dezember 1969 seine Mitgliedschaft mit Wirkung zum 13. Juni 1970. 295 Obwohl dies nicht erforderlich gewesen wäre, versah Griechenland die Erklärung mit einer eingehenden Begründung. Danach hätten sich die Organe der EMRK im Zusammenhang mit den gegen Griechenland erhobenen Staatenbeschwerden parteiBGBl. 1954 li, 619. BGBI. 1992 11, 990. 294 BGBI. 1989 II, 160. 295 Kündigungsschreiben abgedruckt in: ZaöRV 30 (1970), 419 f. 292

293

14 Feist

210

2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

isch verhalten und von politischen Motivationen leiten lassen. Der Generalsekretär des Buroparats nahm diese Erklärung entgegen und bestätigte in seinem Antwortschreiben die Wirksamkeit der Kündigung, verwahrte sich aber gleichzeitig im Namen der Organe gegen die erhobenen Vorwürfe.296 Nachdem das ObristenRegime in Griechenland wieder abgesetzt worden war, trat Griechenland wiederum der EMRK bei. 297 Im Jahre 1988 begannen in der Schweiz Diskussionen über eine Kündigung der EMRK, verbunden mit einem Wiedereintritt unter einem Vorbehalt in bezug auf das Individualbeschwerdeverfahren. 298 Hintergrund war das Urteil des EuGMR im Fall Belilos.299 DieBefürwortereiner Kündigung konnten sichjedoch nicht durchsetzen. Die Gegner einer Kündigung brachten vor, daß ein solches Vorgehen der fortschreitenden Integration der Schweiz in Europa zuwiderlaufen würde. 300 Des weiteren wurde vertreten, daß die Kündigung der EMRK für die Schweiz politisch unmöglich sei.301 Die EMRK hat sich damit, trotz der weitreichenden Kündigungsmöglichkeit des Art. 65, als außerordentlich stabile Regelung erwiesen, zumal die einzige ausgeführte Kündigung einige Jahre später wieder zurückgenommen wurde. In diesem Zusammenhang ist auch die oben302 dargestellte Rechtsprechung des EuGMR zu sehen, die in der Konvention nicht einen bloßen völkerrechtlichen Vertrag wie jeden anderen sieht, sondern sie als eine Art europäischen "ordre public", ja sogar europäisches Verfassungsrecht sieht. Es wäre sicherlich nicht richtig, aufgrunddieser Tatsachen eine Derogation des Art. 65 EMRK anzunehmen. Zwar wäre eine solche Derogation durch später entstandenes Gewohnheitsrecht prinzipiell möglich. 303 Und im Unterlassen der Ausübung des Kündigungsrechts und dem Wiedereintritt relativ kurz nach Ausübung könnte man die diesbezügliche Staatenpraxis entdecken. Es fehlt jedoch an der erforderlichen Rechtsüberzeugung.304 Zu keinem Zeitpunkt hat ein Mitgliedstaat Abgedruck in: ZaöRV 30 (1970), 421 f. Frowein!Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Aufl., 1996, 759. 298 Siehe dazu Villiger, Rn. 39 f. (28 f.). 299 Belilos Case, Urteil vom 28. Apri11988, Ser. A, Vol. 131. 300 Villiger, Rn. 40 (29). 301 Levi, Schweizer. Zeitschr. f. Strafr. 106 (1989), 225 (228). 302 Siehe oben § 7, VI. 303 Zu den Voraussetzungen dafür siehe Kar/, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, 1983, 108 ff. 304 Zu diesem Element Kar/, 109. 296 297

§ 19 Freie Kündigungsrechte

211

der EMRK ausdrücklich oder konkludent geäußert, daß er das Kündigungsrecht als nicht mehr bestehend betrachte. Was bleibt, ist die Erkenntnis, daß die Mitgliedstaaten von ihrem Kündigungsrecht keinen - jedenfalls keinen dauernden - Gebrauch machen und zumindest politisch durch die tatsächliche Ausübung dieses nach wie vor bestehenden Rechts sich ein Staat einen nicht unerheblichen Rechtfertigungsdruck auferlegen würde. Des weiteren hat nicht zuletzt die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zu einer Verdichtung des Konventionsrechts geführt, das in vielen Punkten auch schon Bestandteil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geworden ist. Es wäre vor diesem Hintergrund nicht vermessen, zu behaupten, daß für die Mitgliedstaaten eine Kündigung der EMRK innenpolitisch zu ungeheuren Schwierigkeiten führen und außenpolitisch zumindest auf Unverständnis der übrigen Parteien stoßen würde. Eine Kündigung wäre damit ein so großes politisches Wagnis, daß man sie als faktisch ausgeschlossen ansehen kann, obwohl die Möglichkeit "de iure" weiter besteht.

2. Nordkoreas Kündigung des Nichtverbreitungsvertrages für Kernwaffen Ebenso wie die EMRK, aber auf universeller Ebene, hat sich der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen (NVV) 305 als außerordentlich stabil erwiesen, obwohl auch dieses Abkommen eine weitreichende Kündigungsmöglichkeit bietet. Durch dieses Abkommen soll die Verbreitung von Kernwaffen verhindert werden. Es wird also ein überragend wichtiges Gemeinschaftsinteresse durch den NVV geschützt. 306 Dem entspricht auch die Tatsache, daß mit 178 Parteien307 die weit überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft dem Vertrag angehört. In den ersten 25 Jahren seit Inkrafttreten des Abkommens gab es keine Kündigungsbegehren.308 Dies, obwohl Art. 11 NVV eine solche Möglichkeit eröffnet. Danach kann jeder Vertragsstaat in Ausübung seiner Souveränität den NVV kündigen, wenn er entscheidet, daß außerordentliche Umstände im Zusammenhang mit dem Vertrag die wichtigsten Interessen des Staates gefährdet haben. 305 Treaty on the Non-Proliferation ofNuclear Weapons vom I. Juli 1968, UNTS 729, 161. 306 Präambel des NVV; Roberts, NPT Extension, International Security, and the End of

the Cold War, in: von Leeumer (ed.), The Future ofthe International Non-Proliferation Regime, 1995, 29; Simma, RdC 250 (1994-IV), 217 (333). 307 Simma, RdC 250 (1994-IV), 217 ( 332). 308 Goldblat, RdC 256 (1995), 9 (84).

212

2. Teil: Anwendung der Beendigungsrege1n auf multilaterale Verträge

Die Kündigungsfrist beträgt drei Monate, und die Kündigungserklärung, die dem Sicherheitsrat der UN und allen anderen Parteien zu notifizieren ist, soll eine Wiedergabe der die Kündigung rechtfertigenden Tatsachen enthalten. Aus der Formulierung dieser Bestimmung ist zu schließen, daß die Bestimmung, welche nationalen Interessen eine Kündigung rechtfertigen, im freien Ermessen des Staates liegen. 309 Art. 11 kommt damit einem freien Kündigungsrecht faktisch gleich. Am 22. März 1993 kündigte Nordkorea an, aus dem NVV auszutreten.310 Es begründete diesen Schritt mit der empfundenen Bedrohung durch die militärische Kooperation Südkoreas mit den USA. Die USA würden Nordkorea mit Atomwaffen bedrohen. Das Vorgehen Nordkoreas wurde von den Depositarmächten des NVV, Rußland, USA und dem Vereinigten Königreich in einer Stellungnahme vom 1. April 1993 kritisiert. 311 Es wurde bezweifelt, ob ein die Kündigung rechtfertigender Sachverhalt vorliege. Der Sicherheitsrat nahm sich der Kündigungserklärung an und machte sie am 11. Mai 1993 zum Gegenstand einer Resolution. 312 Darin wurde Nordkoreas Kündigungsabsicht nicht als rechtswidrig angesehen und die Verweigerung der Kooperation mit den Inspektionsteams der IAEO nicht verurteilt. Die Bedeutung des NVV für die Erhaltung des Weltfriedens wurde in der Präambel der Resolutionjedoch ausdrücklich hervorgehoben und ausgehend davon Nordkorea nachdrücklich aufgefordert, sein Verhalten in bezugauf den NVV zu überdenken. In folge dieser Resolution setzte Nordkorea die Kündigung des NVV am 11. Juni 1993 aus. 313 Auf einer Revisionskonferenz im Jahre 1995 beschlossen die Parteien des NVV, den Vertrag auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Alle Nichtvertragsparteien wurden aufgefordert, dem NVV beizutreten. 314

Goldblar, 84; Simma, RdC 250 (1994-IV}, 217 (332). AdG 1993, 37650 f. 311 UN Doc. S 25515/annex. 312 SC Res. 825/1993, abgedruckt in: Resolutions adopted and Decisions taken by the Security Council in 1993, 116 f. 3 13 AdG 1993,37935. 314 1995 Review Conference ofthe Parties to the Treaty on Non-Proliferation of Nuclear Weapons, Decision 2 und Decision 3, ILM 34 (1995), 961 (969 f.- Decision 2) (972 f.Decision 3). 309

310

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

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3. Analyse dieser Praxis Aus der dargestellten Praxis zur EMRK und zum NVV läßt sich ablesen, daß die Vertragsparteien in aller Regel von den ihnen eingeräumten Kündigungsrechten keinen Gebrauch gemacht haben. Übten sie es doch aus, so wurde dies nicht von den anderen Parteien stillschweigend zur Kenntnis genommen, sondern die kündigungswilligen Staaten sahen sich einigem politischen Druck ausgesetzt. Auch innenpolitisch kann die bloße Diskussion über eine eventuelle Kündigung zeigen, daß diese nicht durchsetzbar wäre. Im Falle Nordkoreas war der außenpolitische Druck so stark, daß Nordkorea kaum eine andere Wahl blieb, als die Kündigung auszusetzen. Es bleibt also festzuhalten, daß die Parteien von Abkommen wie der EMRK und dem NVV, die ein Gemeinschaftsinteresse schützen, eine Kündigung nicht als den Normalfall der Vertragspraxis ansehen und zur Tagesordnung übergehen. Es wäre verfrüht, davon auf eine im Entstehen begriffene Regel des Völkerrechts schließen zu wollen, wonach Kündigungsklauseln solcher Verträge nichtig wären. Die Tatsache, daß ein Gemeinschaftsinteresse die Staaten aber dazu bewegt, auf die Ausübung der Kündigungsbefugnis so zu reagieren, daß sie faktisch ausgeschlossen oder weitgehend erschwert wird, fügt sich in das Gesamtbild ein: Verträge, die ein überragend wichtiges Gemeinschaftsinteresse schützen, entfalten andere Wirkungen als Verträge, die lediglich Partikularinteressen dienen.

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme ("countermeasure'') Das allgemeine Recht der Staatenverantwortlichkeit erlaubt es Staaten, auf eine Verletzung ihrer Rechte durch andere Völkerrechtssubjekte mit einer Aussetzung der Erfüllung der eigenen Verpflichtungen gegenüber diesem Subjekt zu reagieren. Dieses Mittel der erlaubten Selbsthilfe wird allgemein als Recht zur Gegenmaßnahme bezeichnet ("countermeasure").315 Bisweilen findet sich noch im 315 Case Concerning the Air Services Agreement of 27 March 1946 (United States v. France), ILR 54, 304 (337); ILC-Draft on State Responsibility, Art. 30, in: Report of the International Law Commission on the work of its forty-eighth session, UN Doc. GAOR 51st sess., Suppl. No. 10, A/51/10; Dahm/Delbrück/Wolfrum, 88 ff.; Reuter, 192 ff.; Klein, BGDVR, H. 37 (1998), 39 (42 f.); Hahn, Die einseitige Aussetzung von GAlT-Verpflichtungen als Repressalie, 1997, 84 f.; de Hoogh, Obligations Erga Ornnes and International Crimes, 1996, 212; Simma, RdC 250 (1994-IV), 217 (306, 312 f.) .

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Schrifttum die ältere Bezeichnung dieses Rechts als Repressalie. 316 Es besteht allgemeine Einigkeit, daß die Berechtigung zur Gegenmaßnahme sich unabhängig von der Tatsache ergibt, ob die verletzte Pflicht vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Natur ist. Lediglich Bowett317 ist der Auffassung, daß hinsichtlich der Vertragsaussetzung das Recht der Verträge abschließende Regelungen geschaffen habe. Für eine Anwendung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit mit womöglich abweichenden Rechtsfolgen sei kein Raum. Daß diese Auffassung nicht geltendes Völkerrecht widerspiegelt, ergibt sich schon aus dem Schiedsspruch im bereits zitierten Air-Services-Fall. 3 18 Das Schiedsgericht nahm die Möglichkeit der Aussetzung einer vertraglichen Verpflichtung im Wege der Gegenmaßnahme ohne weiteres an und ging auf eine eventuelle Vorrangigkeit des Rechts der Verträge nicht mit einem Wort ein. Entscheidend ist jedoch, daß Art. 60 WVRK als mit dem Recht zur Gegenmaßnahme strukturell vergleichbare Norm einen anderen Regelungsbereich betrifft: Artikel 60 WVRK dient der Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts der vertraglich begründeten Rechte und Pflichten,319 während die Gegenmaßnahme als Mittel einseitiger Rechtsdurchsetzung dazu dient, auf den Rechtsbrecher Druck auszuüben, damit er sich wieder rechtmäßig verhält. 320 Ohne im Detail auf das Recht der Staatenverantwortlichkeit eingehen zu wollen, stellen sich im Rahmen dieser Untersuchung folgende Fragen: Zunächst ist zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen ein Staat berechtigt ist, auf eine Rechtsverletzung zu reagieren, also zur Gegenmaßnahme aktivlegitimiert ist. Des weiteren stellt sich die Frage, ob das Recht zur Gegenmaßnahme durch speziellere Mechanismen ("self-contained regimes") ausgeschlossen werden kann. Schließlich sind die rechtlichen Grenzen auszuloten, denen eine Gegenmaßnahme bei multilateralen Verträgen unterliegt.

316 Verdross/Simma, 907 ff.; Doehring, The Unilateral Enforcement oflntemational Law by Excercising Reprisals, in: MacDonald (ed.), Essays in Honour ofWang Tieya, 1994, 235. 317 Bowett, Treaties and State Responsibility, in: Le droit international au service de Ia paix, de Iajustice et du developpement, Melanges Michel Virally, 1991, 137 (142). 318 ILR 54, 304 ( 337). 319 Siehe oben§ 15, I. 320 Hahn, 65 ff.; Simma, ÖZöRV 20 (1970), 5 (8 f., 19 f.); Arangio-Ruiz. Third Report on State Responsibility, YBILC 1991, Vol. II, part 1, I (22 f.); siehe auch den Schiedsspruch Rainbow Warrior (New Zealand v. France), Schiedsspruch vom 30. April 1990, RGDIP 94 (1990), 838 (851).

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

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I. Aktivlegitimation zur Gegenmaßnahme: Das Konzept des verletzten Staates Es bedarf kaum der Diskussion, daß sich das Recht, auf eine Rechtsverletzung zu reagieren, nicht aus der bloßen Tatsache der Rechtsverletzung ergeben kann. Erforderlich ist darüber hinaus, daß ein Staat, der gegen einen Rechtsbrecher tätig werden möchte, in seinen eigenen Rechten betroffen ist. 321 Nach Art. 40 des ILCEntwurfs zum Recht der Staatenverantwortlichkeie22 und der im ersten Teil vorgenommenen idealtypischen Klassifizierung multilateraler Verträge323 ergibt sich folgendes Bild: Ausgehend von der Erfüllungsstruktur der Verträge ist bei einem Vertrag mit bilateralistischer Erfüllungsstruktur nur diejenige Vertragspartei als verletzt anzusehen, gegenüber der nicht ordnungsgemäß erfüllt wurde. Bei einem integralen Vertrag ist jede Partei durch eine Nichterfüllung verletzt. Das gleiche ergibt sich bei objektiven Verträgen. Dieses Ergebnis entspricht dem Rechtsgefühl und spiegelt auch den Grundsatz des Ausschlusses der "actio popularis", der in den meisten nationalen Rechtsordnungen gilt, wider. 324 In der Völkerrechtspraxis sind Versuche, die Reaktionsbefugnis im Falle von Rechtsverletzungen auf nicht verletzte Staaten auszudehnen, vereinzelt geblieben, wie z. B. das Bestreben der USA, unter Ausweitung der Mooroe-Doktrin eine Befugnis zur Intervention in mittelamerikanische Staaten herzuleiten, um Schulden dieser Staaten bei europäischen Staaten einzutreiben. 325 Es stellt sich aber auf der anderen Seite die Frage, ob es nicht etwas holzschnittartig ist, bei allen multilateralen Verträgen, außer denen mit bilateralistischer Erfüllungsstruktur, grundsätzlich alle Parteien als verletzt und damit aktivlegitimiert anzusehen. Denn meist wird es Staaten geben, die durch eine Vertragsverletzungunmittelbarer in ihren Interessen betroffen sind als andere. Entsprechend gab es auch Äußerungen in der ILC, das Konzept des verletzten Staates zu überdenken und gegebenenfalls Abstufungen hinsichtlich der Betroffenheit 32 1 Air Services Case, 337; Case Conceming the Barcelona Traction Light and Power Company (Belgium v. Spain), Second Phase, ICJ-Reports 1970, 3 (32); Art. 47 ILC-Draft, abgedr. in: ILC-Report No. 48, 144; Dahm/Delbrück/Wolfrum, 91; Klein, BGDVR 37 (1998), 39 (49); Hahn, 74 f.

Siehe oben § 8, II. 1. Siehe oben § 12. 324 Siehe dazu rechtsverg1eichend: Bleckmann, Allgemeine Staats- und Yölkerrechtslehre, 1996, 605. m s. dazu Akehurst, BYIL 44 ( 1970), 1 (3, 14 ff.) . 322

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

einzuführen. 326 Gegen eine solche Differenzierung an dieser Stelle hat sich der damalige Sonderberichterstatter Arangio-Ruiz ausgesprochen. 327 Grundsätzlich sollten Verletzungen eines multilateralen Regimes eine Angelegenheit aller an diesem Regime beteiligten Staaten sein. Dazu gehöre auch die rechtliche Betroffenheit. Des weiteren erfordere die Verletzung eines subjektiven Rechts nicht, daß die Verletzung einen ersatzfähigen Schaden beim Gläubiger verursacht habe. Abstufungen könnten sich indes auf der Rechtsfolgeseite ergeben, wenn sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Gegenmaßnahme stelle. Diese Auffassung vermag zu überzeugen, zumal sie auf der Basis des bisherigen Regelungsentwurfs steht, der auch bei der Frage, welcher Staat verletzt ist, zwischen direkter und indirekter Verletzung nicht unterscheidet.

II. Self-contained Regimes Ist damit geklärt, daß im Falle der Verletzung objektiver und integraler Verträge grundsätzlich jede Partei dieses Vertrages als verletzt anzusehen ist und zu Gegenmaßnahmen aktivlegitimiert ist, stellt sich nunmehr die Frage, ob dieses Recht aufgrund von speziellen, vertragsinternen Regeln ausgeschlossen werden kann. Diese speziellen Mechanismen könnten vorrangig gelten und das Recht zur Gegenmaßnahme ausschließen. Anknüpfungspunkt dieser Überlegungen ist das Urteil des IGH in der Teheraner Geiselaffäre. In diesem Fall befand das Gericht, daß die Regeln des Wiener Diplomatenrechtsübereinkommens ein "self-contained regime" darstellten. Das bedeute, auf Verletzungen dieses Abkommens dürfe nur mit den vertragsinternen Mitteln reagiert werden. Die Aussetzung der Bindung an das Übereinkommen als Gegenmaßnahme sei ausgeschlossen. 328 Diese Rechtsauffassung scheint in der Praxis multilateraler Abkommen ihre Bestätigung zu finden. Viele Verträge enthalten Regelungen, nach denen die Behauptung einer Vertragsverletzung ein Verfahren der friedlichen Streitbeilegung nach sich zieht. Beispiele hierfür sind Art. 40 ff. IPBürg, Art. 169, 170 EGV, 326 Report of the International Law Commission on the work of its fiftieth session, UN Doc. GAOR, 53rd session, Suppl. No. 10, A/53/10, 134 f.; in dieselbe Richtung argumentiert auch Frowein, RdC 248 (1994-IV), 345 (353 f.). 327 Fourth Report on State Responsibility by Gaetano Arangio-Ruiz, Special Rapporteur, YBILC 1992, Vol. II, part 1, 1 (44 ff.). 328 Case Concerning United States Diplomatie and Consular Staff in Teheran (USA v. Iran) Judgment, ICJ-Reports 1980, 3 (40).

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

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Art. 279 ff., 286 ff. SRK 1982. Im Detail unterscheiden sich die Verfahren erheblich: Die Intensität reicht von Verfahren, an deren Ende lediglich eine Empfehlung an die Parteien steht, über spezielle Regelungen der erlaubten Selbsthilfe bis hin zu verbindlichen Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts. Namentlich für den Bereich des EG-Rechts wird vom EuGH aber auch von Teilen der Literatur vertreten, daß hinsichtlich Vertragsverletzungen das Verfahren vor dem EuGH die Anwendung des allgemeinen Völkerrechts vollständig verdränge. 329 Der damalige Sonderberichterstatter der ILC, Riphagen, stellte 1982 einen Regelungsentwurf vor, wonach die allgemeinen Regeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit nur dann und insoweit eingreifen sollten, als es in einem Vertrag keine speziellen Regelungen hinsichtlich der Vertragsverletzung gäbe. 330 Zur Begründung führte er aus, diese vertragsinternen Mechanismen seien maßgeschneidert und für den speziellen Vertrag daher angemessener als das allgemeine Recht. Sie würden als Ieges speciales die allgemeinen Regeln verdrängen, wie auch das Beispiel des EGVertrages zeige. 331 Die ILC schloß sich dem Entwurf Riphagens inhaltlich an. 332 Die Annahme einer vollständigen Verdrängung der allgemeinen Regeln setzt jedoch voraus, daß die Staaten den Willen erklärt haben, durch solche Spezialmechanismen die allgemeinen Regeln des Rechts der Staatenverantwortlichkeit abbedingen zu wollen. Das wiederum kann nur dann angenommen werden, wenn die Sonderregelungen wirklich abschließend im Sinne einer "Iex specialis" sind. Vor diesem Hintergrund ist Art. 37 des ILC-Entwurfs zu verstehen, der lautet: "The provisions of this Part do not apply where and to the extent that the legal consequences of an intemationally wrongful act have been determined by other rules of intemationallaw relating specifically tothat act."333

Spezielle Regeln sind also nur dann und insoweit vorrangig und abschließend, als sie einen vollständigen und vollwertigen Ersatz zu den allgemeinen Regeln darstellen. Ausgehend vom gegenwärtigen Stand des Völkerrechts wird angenom329 EuGH, Rs 232178 (Kommission ./. Frankreich) ,.Schaffleisch", Slg. 1979, 2729 (2739); Rs 325/82 (Kommission./. Deutschland), Slg. 1984, 777 (793); Krück. in: von der Groebenffhiesing!Ehlermann, EWGV -Kommentar, Band 3, 4. Aufl., 1991, Art. 171 , Rn. 9; Schwarze. EuR 18 (1983), 1 (22 f.); a. A. Däubler, NJW 1968, 325 (331 ). 330 Third Report on the content, form and degree of international responsibility (part 2 of the draft articles) by Mr. Willern Riphagen, Special Rapporteur, YBILC 1982, Vol. II, part 1' 22 (27). 331 Riphagen, Third Report, 27 ff. 332 Art. 2, part II, abgedr. in: Report of the International Law Commission on the work of its 25th session, YBILC 1983, Vol. II, part 2, 42. 333 Abgedr. in: Report of the International Law Commission on the work of its 48th session, GAOR 51st session, Suppl. No. 10, A/51/10, 138.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln aufmultilaterale Verträge

men, daß es noch keine vertragsinternen Regelungen gebe, die eine solche, das allgemeine Recht verdrängende, Intensität aufweisen.334 Die in der Literatur gewichtigen Gegenstimmen 335 basieren auf der nicht zu leugnenden Tatsache, daß die groben Mittel des allgemeinen Rechts der Staatenverantwortlichkeit oft nicht geeignet seien, den feingesponnenen Strukturen moderner Verträge gerecht zu werden und daß das Recht zur Gegenmaßnahme Verträge destabilisieren könne. Diesen Bedenken steht jedoch das Problem entgegen, was Staaten im Falle des Versagens der vertragsinternen Mechanismen noch tun können. Wenn die vertragsinternen Mechanismen zu schwach ausgelegt sind, um wirklich Druck auf einen Rechtsbrecher ausüben zu können und der Rückgriff auf das Recht zur Gegenmaßnahme verwehrt wäre, so wäre ein solches multilaterales Regime mit einer geringeren Schutzintensität versehen, als jedes beliebige bilaterale Handelsabkommen, für dessen Einhaltung das gesamte Instrumentarium des allgemeinen Rechts zur Verfügung steht. In diesem Zusammenhang ist auch die Anmerkung von Klein 336 beachtlich, wonach der Schutz der Integrität des Vertrages gewährleistet wäre, wenn im Wege der Gegenmaßnahme die Erfüllung einer nicht diesem Vertrage entstammenden Pflicht ausgesetzt würde. Des weiteren spricht in der Praxis nichts für die grundsätzliche Annahme von "self-contained regimes". Im US-amerikanischen Restatement findet sich die Aussage, daß die USA das Recht habe, auf Vertragsverletzungen ihr gegenüber immer mit einer Gegenmaßnahme zu reagieren. 337 Auf eine parlamentarische Anfrage antwortete die Bundesregierung, daß sie im Rahmen des IPBürg sich für grundsätzlich berechtigt halte, auf Verletzungen des Paktes mit den Mitteln des allgemeinen Rechts der Staatenverantwortlichkeit zu reagieren. 338 In ähnlichem Zusammenhang heißt es schließlich im Air Services Case: "[ .. . ] [It] must be concluded that under present-day intemational1aw States have not renounced their right to take countermeasures in such situations." 339

In der Entscheidung heißt es weiter, daß dieses Recht jedoch gehemmt sei, wenn der Fall einer gerichtlichen Klärung unterbreitet würde, an dessen Ende ein verbindliches Urteil stünde. 334 Fourth Report on State Responsibility by Mr. Gaetano Arangio-Ruiz, Special Rapporteur, YBILC 1992, Vol. Il, part 1, 1 (35 ff.); Simma, NYIL 16 (1985), 111 (135); Klein, 49 f.; Hahn, !58 ff.; de Hoogh, 251 ff.; Däubler, 331. 335 Doehring, 240; Frowein, RdC 251 (1994-V), 345 (400). 336 Klein, 50. 337 Restatement ofthe Law (Third), Foreign Relations ofthe United States, 1987, § 702. 338 BT-Drucks. 911981, 2; siehe dazu auch Tomuschat, VN 1978, I (8). 339 Air Services Case, 340.

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

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Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, daß im gegenwärtigen Völkerrecht grundsätzlich nicht von der Annahme der Existenz sogenannter "self-contained regimes" auszugehen ist, die den Staaten den Rekurs auf das Recht zur Gegenmaßnahme verwehren können. Eine solche Verdrängung des allgemeinen Rechts wäre nur dann anzunehmen, wenn die speziellen Regeln einen vollwertigen Ersatz, insbesondere im Hinblick auf die Effektivität der Rechtsdurchsetzung darstellen. 340 In bezug auf das Europarecht ist der Schutz der Vertragsintegrität durch die Rechtsprechung des EuGH allerdings schon so weit gediehen, daß ein Rückgriff auf die Instrumente der Staatenverantwortlichkeit, insbesondere das Recht zur Gegenmaßnahme, jedenfalls unnötig und politisch nicht sinnvoll ist. 341 Eine andere Frage ist, ob Gegenmaßnahmen erst nach oder schon parallel zu Verfahren der friedlichen Streitbeilegung angewendet werden dürfen. 342 Da aber in diesen Fällen das Recht zur Gegenmaßnahme jedenfalls nicht dauernd ausgeschlossen wäre, sondern allenfalls vorübergehend gehemmt,343 wird dieser Frage nicht weiter nachgegangen. Denn ihre Beantwortung würde an dem hier gewonnenen Ergebnis nichts ändern, daß die Existenz spezieller, vertragsinterner Regeln, das Recht zur Gegenmaßnahme grundsätzlich nicht ausschließt.

111. Begrenzung der erlaubten Selbsthilfe

Nachdem nunmehr geklärt ist, daß das Recht zur Gegenmaßnahme grundsätzlich nicht von vornherein durch spezielle vertragsinterne Mechanismen ausgeschlossen ist, stellt sich die Frage, ob sich aus der Pflicht selbst, deren Erfüllung im Wege der Gegenmaßnahme ausgesetzt werden soll, Beschränkungen ergeben. Ein bekanntes Beispiel hierfür bietet das humanitäre Völkerrecht mit seinen Repressalienverboten, wie sie sich z. B. aus Art. 20 des Ersten Zusatzprotokolls von 1977 ergeben. 344 So ausdrucklieh Däubler, 331. Simma, RdC 250 (1994-IV), 217 (253 f.). 342 Siehe dazu Arangio-Ruiz, EJIL 5 (1994), 20; Crawford, EJIL 5 (1994), 65; Tomuschat, EJIL 5 (1994), 77; Simma, EJIL 5 (1994), 102. 343 So auch Art. 48 des ILC-Draft, abgedruckt in: Report of the International Law CornInissionon the work of its 48th session, GAOR 51st session, Suppl. No. I 0, N51/l 0, 144 f. 344 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer in internationalen bewaffneten Konflikten (Protokoll 1), BGBI. 1991 II, 968; allgemein zum Repressalienverbot vor 1977: Kalshoven, Belligerent Reprisals, 1971 , 333 ff.; nach 1977: Bienzanek, Reprisals as a Means ofEnforcing the Laws ofWarfare: The Old and the New Law, in: Cassese (ed.), The New Humanitarian Law of Armed Conflict, 1979, 232 (247 ff.). 340 341

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Im ILC-Entwurf befindet sich in Art. 50345 ein Regelungsvorschlag, der Bereiche des Völkerrechts "ratione materiae" dem Zugriff im Rahmen der Gegenmaßnahme entzieht. Danach sollen Gegenmaßnahmen verboten sein, die in der Anwendung oder der Androhung von militärischer Gewalt bestünden, extremen wirtschaftlichen oder politischen Zwang ausübten, mit der Absicht, die territoriale Integrität oder politischen Unabhängigkeit des Zielstaates zu gefährden oder gegen die Unverletzlichkeit diplomatischen und konsularischen Personals, der Gebäude, Archive und Dokumente verstießen. Des weiteren seien Gegenmaßnahmen untersagt, die grundlegende Menschenrechte mißachteten und solche, die eine Umgehung vorrangiger ("peremptory") Normen des Völkerrechts darstellten. Zu prüfen ist nunmehr, ob dieser Katalog geltendes Recht wiedergibt. Hinsichtlich des Gewaltverbotes ist dabei nur zu sagen, daß die UN-Charta Ausnahmen nur im Falle eines bewaffneten Angriffs oder im Rahmen von Maßnahmen nach Kapitel VII erlaubt. Ob es jenseits der Charta noch Rechtfertigungen für die Anwendung militärischer Gewalt gibt, ist fraglich. Fest steht aber, daß es ein Verbot unilateraler bewaffneter Gegenmaßnahmen für Rechtsverletzungen unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs gibt. 346 Rechtsdurchsetzung mittels militärischer Gewalt wird wohl nur kollektiv und zum Schutz von Menschenrechten oder anderer wichtiger Gemeinschaftsgüter zulässig sein.347 Das Verbot von Gegenmaßnahmen, die einer politischen oder wirtschaftlichen Zwangsausübung gleichkommen, wurde von Arangio-Ruiz in seinem dritten Bericht vorgeschlagen. 348 Die Generalversammlung hat mehrfach in ihrer großen Mehrheit der Überzeugung der Staaten Ausdruck verliehen, daß die Ausübung von wirtschaftlichem oder politischem Zwang gegen einen Staat, der geeignet ist, die politische Unabhängigkeit dieses Staates zu gefährden, unzulässig ist. 349 Es besteht kein Zweifel, daß Staaten die Ausübung eines solchen Zwangs nicht erlaubt 345 Abgedr. in: Report of the International Law Commission on the work of its 48th session, GAOR 51st session, Suppl. No. 10, N51/10, ILC, 145. 346 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States), ICJ-Reports 1986, 14 (II 0); Restatement of the Law (Third), Foreign Relations of the United States, 1987, § 905, Abs. 2 (380); Arangio-Ruiz, Fourth Report, 23 ff. 347 Siehe dazu Nowrot/Schabacker, Am. Univ. Intern. Law Rev. 14 (1998), 321 (330 ff.). 348 Arangio-Ruiz, Third Report on State Responsibility, YBILC 1991 , Vol. II, part I, I ( 13 ). 349 Res. 2131 (XX), Declaration on the Inadmissibility of Intervention in the Domestic Affairs of States and the Protection of their Independence and Sovereignty, GAOR, 20th session, Suppl. No. 14, N6014, 11 f. ; Res. 2625 (XXV), Declaration on Principles oflnternational Law Conceming Friendly Relations in Accordance with the Charter of the United Nations, GAOR, 25th session, Suppl. No. 28, N8028, 121 ff. (123).

§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

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ist, weil dies gegen das Interventionsverbot verstieße. 350 Dies steht auch einer Gegenmaßnahme entgegen. 351 Für die Annahme eines Verbots von Gegenmaßnahmen, die einen Eingriff in grundlegende Menschenrechte darstellen würden, spricht die Praxis der Staaten, bei der Ausübung von Gegenmaßnahmen darauf zu achten, die Bevölkerung des jeweiligen Zielstaates der Maßnahmen zu schonen. Das Vereinigte Königreich fror im Falklandkrieg alle argentinischen Konten ein. Ausnahmen bestanden für diejenigen Konten, die den im VK lebenden Argentiniern zur Deckung der Kosten für Lebenshaltung, Medizin, Bildung und ähnlichem sowie für Reisekosten dienten.352 Ähnlich verhielten sich die USA gegenüber Libyen. Sie verhängten gegen Libyen ein Exportembargo, nahmen aber davon Güter für humanitäre Zwecke, wie Lebensmittel, Textilien und Medizin, aus. 353 Die gleiche Linie verfolgten die USA später gegenüber dem Irak infolge der Invasion Kuwaits.354 1talien setzte nach der Ermordung eines Italieners in Somalia alle Aktivitäten in Somalia aus, die nicht direkt humanitären Zwecken dienten. 355 Die Regel, daß eine Repressalie nicht gegen die Grundsätze der Humanität verstoßen dürfe, wurde schon vom Schiedsgericht im Naulilaa-Fall formuliert. 356 So entspricht die These, daß Gegenmaßnahmen nicht gegen grundlegende Menschenrechte verstoßen dürfen, auch der Auffassung der Völkerrechtslehre. 357 Der Vorschlag des Verbots von Gegenmaßnahmen, die gegen das Diplomatenrecht verstoßen, geht auf die bereits dargestellte Entscheidung des IGH in der Teheraner Geiselaffäre zurück. 358 An dem grundsätzlichen Verbot solcher Gegen350 Dicke, Die Intervention mit wirtschaftlichen Mitteln im Völkerrecht, 1978, 198 f.; Kewenig, BGDVR Heft 22 (1983), 7 (14 f.). 351 Arangio-Ruiz, Fourth Report, 28 f. 352 Bank of England, Note vom 13. April 1982, abgedr. in: BYIL 53 (1982), 511. 353 Executive Order No. 12543, vom 7. Januar 1986, abgedr. in: AJIL 80 (1986), 630. 354 Executive Order No. 12722, ohne Datum, abgedr. in: AJIL 84 (1990), 903. 355 Arangio-Ruiz, Fourth Report, 31. 356 Responsabilite de I' Allemagne a revision des dommages causes dans Ies colanies portugaises du sud de I' afrique (Portugal contre Allemagne), Schiedsspruch vom 31. Juli 1928 (Naulilaa), RIAA II, 1011 (1026). 357 Fiedler, BDGVR, Heft 37 (1998), 9 (25 f.); de Hoogh. 260 ff.; Alland, International Responsibility and Sanctions: Self Defence and Countermeasures in the ILC Codification of Rules Governing International Responsibility, in: Spinedi/Simma (eds.), United Nations Codification of State Responsibility, 1985, 143 (185); Nahlik, RGDIP 82 (1978), 130 (168). 358 Case Conceming United States Diplomatie and Consular Staff in Teheran (USA v. Iran) Judgment, ICJ-Reports 1980, 3.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

maßnahmen dürfte kein Zweifel bestehen. 359 Ebenso verboten sind Gegenmaßnahmen, die von höherrangigen Normen des Völkerrechts ("peremptory norrns") abweichen, denn die Geltung dieser Normen ist der Dispositionsbefugnis der Staaten entzogen. 360 Diese Einschränkungen entziehen schon weite Regelungsbereiche multilateraler Verträge dem Zugriff im Rahmen von Gegenmaßnahmen. Eine weitere Einschränkung des Rechts zur Gegenmaßnahme ergibt sich schließlich aus der Erfüllungsstruktur des jeweiligen Vertrages, dem die im Rahmen der Gegenmaßnahme ausgesetzte Pflicht entnommen wird. Dies hat seinen Grund darin, daß eine Gegenmaßnahme eine Pflichtverletzung immer nur gegenüber dem direkten Adressaten rechtfertigt. Gegenüber Dritten ist dieses Verhalten rechtswidrig, wenn es in deren Rechte eingreift. 361 Das bedeutet vor dem Hintergrund der im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Typisierung, daß nur die Aussetzung von Verpflichtungen aus einem Vertrag des bilateralistischen Typs rechtmäßig ist, denn im Falle eines integralen Vertrages ist jede andere Partei durch die Erfüllungsverweigerung eines Staates in ihren Rechten verletzt. Gleiches gilt für den Fall einesobjektiven Vertrages. Für den integralen Vertragstyp zeichnet sich hier ein Unterschied in der Rechtsfolge zu Art. 60 WVRK ab: Während dort eine erhebliche Vertragsverletzung eines integralen Vertrages den Rücktritt einer Partei gegenüber allen ermöglichte, ist hier keine Aussetzung der Bindung an einen solchen Vertrag möglich. Im übrigen gibt es keine Beschränkungen des "indirekt" verletzten Staates, nur weil er keinen ersatzfähigen Schaden erlitten hat. Indirekt kann jedoch die Tatsa359 Dominice, Repressailles et droit diplomatique, in: Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für Hans Huber zum 80. Geburtstag, 1981,541 (551 f.); Röling, NYIL 11 (1980), 147. 36 Fiedler, 25; Klein, 55; de Hoogh. 259 ff. 361 Schiedsspruch im Cysne-Fall: Responsabilite de I' Allemagne a revision des actes commis posterieurement au 31 juillet 1914 et avant que le Portugal ne participant aIa guerre (Portugal contre Allemagne), RIAA II, 1035 (1057); Art. 47 Abs. 3 ILC-Draft, ILC-Report No. 48, 144, Kommentar 158; Art. 6 der Resolution des Institut de droit international über das Regime für Repressalien in Friedenszeiten, abgedr. in: Annuaire de !'Institut de Droit International, 1934, 71 0; Eighth Report on State Responsibility by Mr. Roberio Ago, Special Rapporteur, The internationally wrongful act of the State, source of international responsibility, YBILC 1979, Vol. II, part I, 3 (46); Arangio-Ruiz, Third Report, 24, 35; Hatschek, Völkerrecht als System rechtlich bedeutender Staatsakte, 1923, 405; Doehring, ZaöRV 47 (1987), 44 (49 f.); Dahm, Völkerrecht II, 1961, 430; Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Band lll, Streitbeilegung, Kriegsverhiitung, Integration, 1964, 89; Schlochauer, AVR 16 (1974175), 239 (273 f.); Annacker, GYIL 37 (1994), 206 (247); Malanzcuk, Counterrneasures and Self Defence as Circumstances Precluding Wrongfulness in the International Law Commission's Draft Articles on State Responsibility, in: Spinedi/Simma (eds.), United Nations Codification of State Responsibility, 1985, 197 (213).

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§ 20 Aussetzung der Vertragsbindung als Gegenmaßnahme

223

ehe, daß ein Staat in diesen Fällen nicht allzu schwer in seinen Rechten getroffen sein wird, Einfluß auf die Intensität ihm erlaubter Gegenmaßnahmen haben. Arangio-Ruiz schreibt zu den dergestalt eingeschränkten Reaktionsmöglichkeiten: "They are merely the consequence of the application, in each hypothetical or actual situation, ofthe general rules or principles governing countermeasures, such as the obligation of prior demand for cessation or reparation or prior exhaustion of dispule settlement procedures, and, of course, the requirement of proportionality. " 362

Ist ein Staat demnach "indirekt" betroffen, also als Partei eines multilateralen Vertrages nur "de iure" und nicht "de facto" verletzt, rechtfertigen sich für ihn danach zwar grundsätzlich Gegenmaßnahmen, diese müssen jedoch in Relation zu seiner Verletzung auf niedriger Schwelle angesetzt werden.

IV. Zusammenfassung zur Aussetzung von Verpflichtungen im Wege der Gegenmaßnahme Bei der Betrachtung des Rechts zur Aussetzung der Erfüllung multilateraler Verträge im Wege der Gegenmaßnahme stellten sich die Fragen, wann ein Staat dazu aktivlegitimiert ist und welche Grenzen dieses Recht hat. Ausgehend von der Definition des verletzten Staates, wie sie von der ILC vorgenommen wurde, sind bei bilateralistischen Verträgen nur der konkret betroffene Staat, bei integralen und objektiven Verträgen hingegen jede andere Vertragspartei grundsätzlich befugt, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Des weiteren gibt es auch keinen "A-priori"Ausschluß dieses Rechtsaufgrund spezieller, vertragsinterner Mechanismen, weil diese das allgemeine Recht der Staatenverantwortlichkeit nicht endgültig verdrängen. Dem erhöhten Schutz von Gemeinschaftsinteressen wird auch dadurch Rechnung getragen, daß bestimmte Regelungsgegenstände dem Zugriff durch Gegenmaßnahmen entzogen sind. So sind Gegenmaßnahmen verboten, die in der Drohung oder Anwendung militärischer Gewalt bestehen, die Ausübung wirtschaftlichen oder politischen Zwangs darstellen, der die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit des Adressaten der Maßnahme gefährdet oder die Unverletzlichkeit des diplomatischen oder konsularischen Personals, der dazu dienenden Gebäude, Archive und Dokumente bedeutet. Des weiteren sind Gegenmaßnahmen untersagt, die den Kernbestand der Menschenrechte angreifen oder mit höherrangigem Recht nicht vereinbar sind. Der Schutz multilateraler Erfüllungsstrukturen im übrigen wird dadurch gewährleistet, daß eine Gegenmaßnahme die Rechts362

Arangio-Ruiz, Fourth Report, 47 f.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

widrigkeit nur gegenüber dem konkreten Adressaten ausschließt, so daß die Aussetzung einer Vertragsbindung als Gegenmaßnahme nur im Falle eines bilateralistischen Vertrages möglich ist.

§ 21 Schlußbetrachtung Als mittlerweile gesicherter Bestand der Völkerrechtslehre kann die im ersten Teil der Arbeit vorgenommene idealtypische Einteilung multilateraler Verträge nach denjeweiligen Erfüllungsstrukturen gelten. Umstritten war lediglich, ob bei den sogenannten objektiven Verträgenjede Vertragspartei gegenjede andere einen Erfüllungsanspruch hat oder ob die Erfüllung nicht den einzelnen Parteien, sondern der Gemeinschaft der Parteien als solcher geschuldet ist. Die Analyse hat ergeben, daß ersteres der Fall ist, wie sich nicht zuletzt in Art. 40 des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit ausdrückt, der sich mit der Definition des verletzten Staates bei einer Völkerrechtsverletzung befaßt. Aus diesem Regelungsvorschlag ergibt sich des weiteren das erhöhte Schutzbedürfnis von Gemeinschaftsinteressen. In den Einzelheiten noch nicht geklärt ist die Frage, ob ein multilateraler Vertrag auch Staaten, die keine Vertragsparteien sind, binden kann, wenn dieser Vertrag den Schutz eines überragend wichtigen Gemeinschaftsinteresses zum Inhalt hat und das Ausscheren einzelner Staaten diesen Schutz vereiteln könnte. Die Entwicklung des Völkerrechts geht aber in diese Richtung, und es sprechen keine grundsätzlichen strukturellen Bedenken dagegen. Die These Prosper Weils kann als widerlegt gelten, wonach das geltende Völkerrecht nach wie vor auf bilateralistischen Strukturen basiere und jegliche Tendenzen, dies zu verändern zur Aufweichung des Normbestandes führen müsse. 363 Jedoch geht auf der anderen Seite Philip Allott zu weit, wenn er behauptet, daß die Staaten ihre Rolle im internationalen System verlieren würden, zugunsten einer Weltgesellschaft, die ohne Mediatisierung des Individuums durch die Staaten ein neues internationales Recht schaffe. 364 Haben somit die verschiedenen Erfüllungsstrukturen und auch der Schutz von Gemeinschaftsinteressen in Idealtypen multilateraler Verträge ihren Niederschlag gefunden, so stellt sich die Frage, ob dies Einfluß auf die Rechtsfolgeregimes des Völkerrechts hat. Der "Prima-facie"-Schluß einer Modifizierung auch in diesen Bereichen liegt nahe. Betrachtet man aber die einzelnen Regelungsbereiche und die dort auf multilaterale Verträge zugeschnittenen Regeln, so stellt sich heraus, 363 364

Weil, AJIL 77 (1983), 413 (431). Allott, EJIL 3 (1992), 219 (249 f.).

§ 21 Schlußbetrachtung

225

daß trotz der Anerkennung genuin multilateraler Strukturen auf der Rechtsfolgeseite diese W andelung oft nicht oder nur unzureichend nachvollzogen wurde. Daß dieser Befund nicht auf den Regelungsbereich des allgemeinen Rechts der Verträge beschränkt ist, soll kurz anband zweier Beispiele illustriert werden, ohne daß dabei jeweils ins Detail gegangen werden soll. Das erste Beispiel betrifft die Regelungen für Vorbehalte zu multilateralen Verträgen. Daß die WVRK in den dort enthaltenen Regelungen multilateralen Strukturen nur in den Art. 20 Abs. 2 und 3 Rechnung trägt, ist bereits oben 365 erörtert worden. Artikel 21 WVRK geht von der bilateralistischen Struktur eines multilateralen Vertrages aus. Lediglich die Sinn-und-Zweck-Regel in Art. 19 lit. c WVRK ist ein Einfallstor für Wertungen des Gemeinschaftsinteresses. Entsprechend wurde auch in der ILC Kritik an den bestehenden Regeln für Vorbehalte laut, ohne daß es indes zu einem abweichenden Regelungsvorschlag kam. 366 Diese Kritik wird auch in der Literatur geübt. 367 Eine Tendenz, Gemeinschaftsinteressen bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Vorbehalten zu Menschenrechtsabkommen Ausdruck zu verleihen, ist aus der Belilos-Entscheidung des EuGMR368 sowie einer Äußerung des Human Rights Committee in bezug auf Vorbehalte zum IPBürg369 abzuleiten. Ein zweites Beispiel betrifft die Entscheidung des IGH im East-Timor-Fall. Der IGH befand, daß zwar Portugal klagebefugt sei, weil das geltend gemachte Selbstbestimmungsrecht der Osttimoresen "Erga-omnes"-Charakter besitze und daher vonjedem Staat geltend gemacht werden könne. In der Sache könne jedoch keine Entscheidung getroffen werden, weil diese auch ein Urteil über die Pflichten Indonesiens mit einschließe und Indonesien nicht Partei dieses Rechtsstreits sei. 370 Der IGH berief sich hierbei auf die im Fall Monetary Gold entwickelte Doktrin, daß in einem Rechtsstreit über Rechte und Pflichten Dritter nicht geurteilt werden dürfe. 371 In diesem Fall hätte eine Entscheidung zugunsten Italiens notwendig bedeutet, daß das streitbefangene Gold zur Zahlung von Schulden Albaniens an oben § 9, 1.-111. Zusammenfassung der Debatte in: Report of the International Law Commission on the workofits forty-ninth session, UN Doc. GAOR 52nd sess., Suppl. No. 10, N52110, 116 ff. 367 Simma, RdC 250 (1994-VI), 217 (330 f.); speziell zu Menschenrechtsabkommen Lijnzaad, Reservations to UN Human Rights Treaties, Ratify and Ruin?, 1995,399 ff. 368 EuGMR, Ser. A, Vol. 131. 369 General Cornrnent No. 24 (52), UN Doc. CCPRIU21/Rev. 1/Add. 6. 370 East Timor (Portugal v. Australia), ICJ-Reports 1995, 90 (102). 371 Case of the Monetary Gold Removed from Rome in 1943 (Preliminary Question) (ltaly v. France, United Kingdom of Great Britain and Northem Ireland, United States of America), ICJ-Reports 1954, 19 (32). 36 s Siehe

366

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

Italien verwertet werden könnte, obwohl die Frage, ob Albanien bei Italien Schulden hatte, nicht geklärt und Albanien nicht Partei des Rechtsstreits war. Die Anwendung dieser Doktrin auf den FallEast Timor wurde kritisiert. 372 Es wurde vorgebracht, daß der IGH zwar grundsätzlich die Geltung von "erga ornnes" wirkendem Recht anerkannt habe, durch die Entscheidung in diesem Fall diesem Konzept jedoch die Wirksamkeit genommen hätte. Insbesondere Coffrnan zeigte dabei auf, daß die Doktrin aus Monetary Gold sich aus bilateralistischen Erwägungen ergebe und auf genuin multilaterale Strukturen nicht passe, daß aber auf der anderen Seite für diese Strukturen ein rechtliches Vakuum bestehe.373 Aber auch im Bereich des Rechts der Verträge bestehen ähnliche Defizite, wie die Analyse aufgezeigt hat. Dabei mag Art. 60 WVRK noch als verhältnismäßig akzeptable Regelung gelten, denn in dieser Norm wird sowohl den verschiedenen Erfüllungsstrukturen multilateraler Verträge Rechnung getragen, als auch in Art. 60 Abs. 5 ein Gemeinschaftsinteresse gesondert geschützt. Ebenso können die Regelungen für "inter se" wirkende Modifizierungen und Suspendierungen von Verträgen gewertet werden. Anders liegt der Fall jedoch bei den übrigen Regeln des Rechts der Verträge, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht wurden. In Art. 62 WVRK, der Kodifizierung der "clausula rebussie stantibus", kommen aus Gemeinschaftsinteressen folgende Beschränkungen dieses Kündigungsrechts nicht vor. Einzige Ausnahme ist der Ausschluß der "clausula" bei Grenzverträgen. Weder die Erfüllungsstrukturen noch die Interessenkonstellationen haben nach der WVRK einen Einfluß auf Tatbestand und Rechtsfolge der "clausula". Dies, obwohl Klein überzeugend das Bedürfnis nach einer Einschränkung dieses Kündigungsrechts bei Statusverträgen, wegen des durch diese Verträge geschützten Gemeinschaftsinteresses, forderte. 374 Auf einem anderen Blatt steht, daß bei objektiven Verträgen eine Erfüllung des "Clausula"-Tatbestandes kaum denkbar ist, und daß im Rahmen des Europarechts die Berufung auf die "clausula", wenn nicht rechtlich so dochjedenfalls faktisch, ausgeschlossen ist. Des weiteren sind zunehmend Tendenzen zu beobachten, dem Wandel der Vertragsurnstände, der ja auch dem "Clausula"-Tatbestand zugrunde liegt, auf andere Weise rechtlich zu begegnen als durch Einräumung eines Rücktritts- oder Suspendierungsrechts. Denn ein Beendigungsrecht ist vielen Verträgen, bei denen sich die Umstände gewandelt haben, nicht angemessen, weil diese auf Dauer angelegt sind. Diesem 372 East Timor, dissenting opinion of Judge Weeramantry, IJC-Reports 1995, 139 (170); Simma, RdC 350 (1994-IV), 217, (297 f.); Chinkin, ICLQ 45 (1996), 712 (719); Coffman, GYIL 39 (1996), 285 (322). 373 Coffman, 322. 374 Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1980, 294.

§ 21 Schlußbetrachtung

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Bedürfnis entsprechen die oben beschriebenen Mechanismen der Vertragsanpassung, nach denen es bisweilen sogar möglich ist, einen Vertrag durch qualifizierte Mehrheit mit Wirkung gegenüber allen Parteien zu ändern. Im Rahmen der Analyse der freien Kündigungsrechte hat sich gezeigt, daß nicht die stillschweigenden Kündigungsrechte ein Problem darstellen. Dies ergab sich schon daraus, daß keine diesbezügliche Regel des Gewohnheitsrechts festgestellt werden konnte. Des weiteren ergab auch die Auslegung von Art. 56 Abs. 1 WVRK nichts, was für die implizierte Kündbarkeit von Abkommen mit multilateralen Erfüllungsstrukturen sprach. Der weitere Gang der Darstellung hat jedoch aufgezeigt, daß ausdrücklich eingeräumte Kündigungsrechte bisweilen nur schwer mit dem durch den jeweiligen Vertrag geschützten Gemeinschaftsinteresse in Einklang zu bringen sind. Die Beispiele des Austritts Griechenlands aus der EMRK und des Bestrebens Nordkoreas, den Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen zu kündigen, machten deutlich, daß die Formulierung eines freien Kündigungsrechts nicht bedeutet, daß die Bindung an den jeweiligen Vertrag zur unbedingten Disposition der Parteien steht. Jedenfalls im Falle des Nichtverbreitungsvertrages hat schon die Anzeige der Kündigungsabsicht zur Ausübung starken politischen Drucks auf Nordkorea geführt. Des weiteren war zu beobachten, daß in solchen Verträgen enthaltene Kündigungsrechte selten bis nie ausgeübt werden. Ohne, daß man daraus folgern könnte, daß im Wege der desuetudo diese Kündigungsrechte verdrängt werden, ist als Ergebnis festzuhalten, daß der Schutz von Gemeinschaftsinteressen in solchen Verträgen zumindest faktisch die Ausübung von Kündigungsrechten erschwert. Als Ergebnis konnte demnach festgehalten werden, daß das allgemeine Recht der Verträge und die Kodifizierung dieses Rechts in der WVRK grundsätzlich vom Bilateralismus auch in mehrseitigen Abkommen ausgeht. Genuin multilateralen Strukturen und dem erhöhten Schutzbedürfnis von Gemeinschaftsinteressen wird nur vereinzelt Rechnung getragen. 375 Im Rahmen der Betrachtung des Rechts der Staatenverantwortlichkeit wurde deutlich, daß es an durchgängiger zentraler Rechtsdurchsetzung fehlt. Dieses Vakuum wurde in Art. 40 des ILC-Entwurf durch die Multilateralisierung des Elements des verletzten Staates aufgefüllt. Jeder Staat, der an einem genuin multilateralen Regime beteiligt ist, ist bei einer Verletzung dieses Regimes unabhängig von 375 Siehe dazu Rosenne, Bilateralism and Community lnterest in the Codified Law of Treaties, in: Friedmann/Henkin/Lissitzyn (eds.), Transnational Law in aChanging Society, Essays in Honor of Philip C. Jessup, 1972, 202 (206 f.); siehe aber auf der anderen Seite Jessup, A Modem Law of Nations, 1948, 133, der eine wachsende Tendenz zur Anerkennung von Multilateralismus im Recht der Verträge zu beobachten glaubte.

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2. Teil: Anwendung der Beendigungsregeln auf multilaterale Verträge

allen anderen Mitgliedern in seinen eigenen Rechten verletzt. Wenn aber jeder Staat "ut singuli" als verletzt zur Gegenmaßnahme aktivlegitimiert ist, so stellt sich die Frage, wie ein Ausufern von Gegenmaßnahmen und die damit verbundene Gefahr der Aushöhlung multilateraler Regimes verhindert werden kann. Dabei stellen die in vielen Verträgen enthaltenen Mechanismen der Überwachung der Vertragsbefolgung und Streitbeilegung einen Schritt dar, im Interesse an der Integrität dieser Verträge durch maßgeschneiderte Reaktionsfomen diese vor Aushöhlung zu schützen.376 Daß diese Mechanismen grundsätzlich nicht "self-contained regimes" im Sinne einer Verdrängung des allgemeinen Rechts der Staatenverantworrtlichkeit darstellen, ändert nichts an diesem Befund. Einschränkungen erfährt das Recht zur Gegenmaßnahme, indem bestimmte Reaktionsarten und Regelungsmaterien, wie z. B. die Ausübung militärischer Gewalt und der Zugriff auf grundlegende Menschenrechte, von vornherein als Gegenmaßnahme ausgeschlossen werden. Multilaterale Strukturen schließlich werden durch die Begrenzung der Rechtfertigungswirkung der Gegenmaßnahme auf das Verhältnis zwischen dem ausübenden Staat und dem Adressaten geschützt. Die Gegenmaßnahme ist damit im Bereich multilateraler Strukturen in ihrer Effektivität weitgehend beschränkt. Hierin zeigt sich auch die besondere Schwierigkeit, die die Projektion des traditionell bilateralistischen Konzepts der einseitigen Rechtsdurchsetzung auf genuin multilaterale Strukturen macht. So war es Gegenstand und Ziel der Arbeit, aufzuzeigen, daß es im Völkerrecht genuin multilaterale Strukturen und einen erhöhten Schutz von Gemeinschaftsinteressen gibt und daß diesen Phänomenen nicht immer angemessene Rechtsfolgen gegenüber stehen.

376 Frowein, Die Verpflichtungen erga omnes im Völkerrecht und ihre Durchsetzung, in: Bemhardt/Geck/Jaenicke (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, Internationale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte- Festschrift für Hermann Mosler, 1983, 241 (255).

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Sachwortverzeichnis Aix-la-Chapelle, Vertrag von 18

ius cogens 54, 114

Apartheid 114

ius dispositivum 54

Barcelona Traction-Fall 38 f., 43

Kooperation 27

Belilos-Fall 210, 226

Kooperationsrecht 83, 108, 131

Berliner Generalakte 34 f., 192

Kriegsführungsrecht 19

Briand-Kellogg-Pakt 145 Bündnisverträge 199 Coburg-Bayern-Fall 169 Delikt, internationales 2 ff., 64 Diplomatenrecht, internationales 221 East Timor-Fall39, 127, 226 f. erga ornnes 39 ff., 43, 71 f., 93, 99, 102 ff., 111 ff., 116, 121, 226 f.

Legislative, internationale 45, 91 Loadline-Convention 170, 178 locus standi 38 f. Londoner Erklärung 170, 181, 203 Lotus, The 112, 121 Maastricht-Entscheidung 182 Machtgleichgewicht 21 Mandat, internationales 98, 142

Erfüllungsrichtung 55, 65, 160

Monetary-Gold-Fall 226

Erfüllungsstruktur 75 ff., 123, 126, 147, 158, 162, 180, 189, 196, 208,222 f. , 226

Münster, Vertrag von 17 ff.

Fairness 112, 122 Geschäftsgrundlage, Wegfall der 166 Grotius, Hugo 166 Handelsabkommen 199, 218 Heilige Allianz 25, 26 Heiliges Römisches Reich 19. Humanitäres Völkerrecht !52, 157 ff., 219 f.

Namibia 142 Napoleon 22 Nijmegen, Vertrag von 18 North Sea Continental Shelf Case 91 f. objective regime 67, 94 Oscar-Chinn-Fall 34 ff., 55, 121, 192, I 97 Osnabrück, Vertrag von I 7 ff. ordre public 41 Ozonschicht 86, 106, 109 Paris, Vertrag von 18

ICAO 109, 143

Pariser Deklaration von 1856 144

Interdependenz 50, 67, 107 f.

Pentarchie 26, 99

244

Sachwortverzeichnis

persistent objector 114

Tiefseeboden 88, 117

Piraterieverbot 21

Trail-Smelter-Fall 83

Rechtsgeschäft 30 ff.

Utrecht, Vertrag von 18, 25

Rechtsnatur 12,46,133,153,178 Rechtspersönlichkeit, internationale 35 f., 80, 89, 126, 128 Reichsidee 19

Vattel, Emer de 19, 23, 135, 167 Verbrechen, internationales 64, 72 ff. Vereinbarung 28 ff., 37,51

Reparations for Injuries 35 f., 45, 89, 128

Versailles, Vertrag von 33, 93

Reziprozität, 20, 30, 33, 44, 49, 56, 58, 68, 73

Vertragsanpassung 183 ff. Vertragstyp 50, 68, 150

Rijswick, Vertrag von 18

Völkermordkonvention 14, 36 f., 43, 75, 152

Saint-Gerrnain-en-Laye, Konvention von 34, 192, 197

Vorbehalte 13, 36 f., 43, 58 f., 78 ff., 226 f.

Sklavenhandel26,30

Wiener Kongreß 25, 30

subjektives Recht 68, 81, 124 f., 216

Wimbledon, The 33 ff., 89

Synallagma 159, 165, 174, 189

Wolff, Christian 22, 135 f., 167