Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein 9783110212198, 9783110188653

Over the last few years, emotions have been rediscovered as a central object of ethics, philosophical anthropology, and

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German Pages 726 [728] Year 2008

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Table of contents :
Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien
Platon: Affekte und Wege zur Eudaimonie
Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen
Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug?
Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen
Plotin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele?
Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei
Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie
Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele
Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen
Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik
Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik
Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände
Hobbes: Furcht und Bewegung
Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen
Malebranche: Neigungen und Leidenschaften
Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung
Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense
Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte
Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit
Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle
Kant: Vernunftgewirkte Gefühle
Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene
Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen
Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte
James: Von der Physiologie zur Phänomenologie
Whitehead: Kritik der Gefühle
Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann
Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen
Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik
Sartre: Emotionen als Urteile
Langer: Philosophie des Fühlens
Zu den Autorinnen und Autoren
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Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein
 9783110212198, 9783110188653

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Klassische Emotionstheorien

W G DE

Klassische Emotionstheorien Yon Platon bis Wittgenstein Herausgegeben von

Hilge Landweer und Ursula Renz unter Mitarbeit von Alexander Brungs

Walter de Gruyter · Berlin · New York

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-018865-1 Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Einbandkonzept: +malsy, Willich Satz und Layout: Nina Trcka Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhaltsverzeichnis Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Hilge iMtidweer und Ursula

1

Piaton: Affekte und Wege zur Eudaimonie Michael Erler

19

Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen Christof'Kapp

45

Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? Yriedemann Buddensiek

69

Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen Christopher Gill (übersetzt von Oamian Caluori) Pio tin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele? Damian Caluori

95

121

Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei Johannes Brachtendorf

141

Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie Alexander Brungs

163

Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele Martin Pickavé

185

Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen Vesa Hirvonen (übersetzt von Johanna und Raino-hars Albert j

205

Inhaltsverzeichnis

Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik Robert Schnepf

221

Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik Markus Wild

247

Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände Dominik Perler

269

Hobbes: Furcht und Bewegung Michael Hampe

293

Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen Ursula Renz?

309

Malebranche: Neigungen und Leidenschaften Tad Schmält^ (übersetzt von Ursula Rensj

331

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung Angelica Baum und Ursula Ren%

351

Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense Aaron V. Garrett (übersetzt von Ursula Rensj

371

Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte Christoph Oemmerling und Rüge Uandweer

393

Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit Christian Strub

413

Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle Sidonia Blättler Kant: Vernunftgewirkte Gefühle Birgit Recki

435

457

Inhaltsverzeichnis

^ II

Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene Dieter Birnbacher und Oliver Hallich

479

Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen Romano Pocai

501

Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte Werner Stegmaier

525

James: Von der Physiologie zur Phänomenologie Jan Slabj

547

Whitehead: Kritik der Gefühle Maria-Sybilla Loiter

569

Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann Kevin Mulligan Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher

587

613

Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik ... 635 Barbara Merker Sartre: Emotionen als Urteile ]ean-Pierre Wils

661

Langer: Philosophie des Fühlens Rolf Lachmann

681

Zu den Autorinnen und Autoren

705

Detaillierte Inhaltsübersicht Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Hz/ge Landmer und Ursula Ren^ 1. Philosophiegeschichte und Emotionsforschung 2. Zu den Ursprüngen antiker Affektenlehren 3. Emotionen im Banne christlicher Heilslehren 4. Emotionen in der frühen Neuzeit 5. Philosophie, Vernunft und Emotionen 6. Philosophische Emotionstheorie und Psychologie 7. Zum vorliegenden Band Piaton: Affekte und Wege zur Eudaimonie Michael Erler 1. Affekte als Störenfriede 2. Sokrates und die Affekte 3. Sokrates' Partner und ihre Emotionen: Phaidon 4. Affekte der ,anständigen Menschen' 5. Affekt und Therapie 6. Qualität der Affekte: Pbilebos

1 1 5 8 9 11 12 16 19 23 25 28 31 34 36

Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen Christof Rapp 1. Bezeichnung und Begriff 2. Emotionen als Gegenstand von Dialektik und Naturphilosophie 3. Zur Individuation von Emotionen 4. Emotionen in der öffentlichen Rede und im Theater 5. Tugenden, Charakterformung und emotionales Training 6. Das gute Teben und die richtigen Emotionen

45

Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? Friedemann Buddensiek 1. Die Affekte bei den Stoikern

69

48 50 53 57 60 63

72

Detaillierte Inhaltsübersicht

2. Probleme der stoischen Affekttheorie 3. Therapie der Affekte 4. Das Ideal der Affektlosigkeit: Die „guten Gefühle" des Weisen

IX 79 85 90

Die antike medizinische Tradition: Die körperliche Basis emotionaler Dispositionen 95 Christopher Gill (übersetzt von Damian Caluori) 1. Die hippokratische Medizin und verwandte Ideen in der klassischen griechischen Philosophie 99 2. Galenische Medizin 104 Plotin: Was fühlt der Leib? Was empfindet die Seele? Damian Caluori 1. Die affektiven Zustände des Leibes 2. Was empfindet die Seele? Augustinus: Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit und Tyrannei Johannes Brachtendorf 1. Der hellenistische Kontext 2. Augustine Lehre von denpassiones im Grundriss 3. Metaphysische Hintergründe der Affektenlehre 4. Der Mensch unter der Herrschaft der Affekte 5. Die Befreiung von der Herrschaft der Affekte 6. Affekttherapie am Beispiel der Traurigkeit 7. Das sexuelle Begehren Christliche Denker vor dem 13. Jahrhundert: Von der Askese zur Liebestheologie Alexander Brunos 1. Die Bedeutung emotionaler Phänomene im Rahmen einer radikalen Wendung menschlichen Daseins 2. Platonisches Erbe 3. Die ersten theoretischen Aufrisse einer christlichen Anthropologie und die Klassifikation der Gefühlsregungen 4. Monastische Spiritualität und die affektive Neigung zu Gott ....

121 124 130

141 143 146 150 152 154 156 159

163

165 169 171 177

χ

Detaillierte Inhaltsübersicht

Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele Martin Pkkavé 1. Was sind Emotionen? 2. Emotion und Kognition 3. Die Grundklassifikation der Emotionen 4. Verantwortlichkeit für Emotionen 5. Nachwirkung Wilhelm von Ockham: Die Passionen der zwei Seelen 1y esa tìirvonen (übersetzt von Jobanna und Raino-Lars Albert) 1. Der Mensch und die Passionen 2. Sensorische Passionen 3. Die Passionen des Willens Huarte de San Juan und Suárez: Lachen im spanischen Humanismus und in der Spätscholastik Robert Schnepf 1. Lachen und Heiterkeit als Gegenstand der Affekttheorie 2. Systematische Ansätze und literarische Form 3. Hintergründe: Der Mediziner und der Theologe 4. Metaphysik, Natur, Seele — der systematische Ort der Theorie menschlicher Gefühle 5. Lachen und Heiterkeit bei Huarte und bei Suárez

185 188 192 195 200 201 205 207 209 213

221 223 225 229 233 239

Montaigne und La Rochefoucauld: Emotionen in der Moralistik Markus Wild 1. Wer und was sind die Moralisten? 2. Montaigne: Der Zorn als exemplarische Emotion 3. La Rochefoucauld: Emotionen als Ausprägungen der Eigenliebe 4. Autonomie der Emotionen und Emotionen als Handlungen ....

247

Descartes: Emotionen als psychophysische Zustände Dominik Perler 1. Eine mechanistische Gefühlstheorie? 2. Zwei Substanzen und ein komplexer Zustand 3. Der repräsentationale Gehalt von Emotionen 4. Die kognitive Steuerung von Emotionen

269

249 252 259 264

271 273 278 284

Detaillierte Inhaltsübersicht

Hobbes: Furcht und Bewegung Michael Hampe 1. Allgemeine Relevanz und Natürlichkeit der Gefühle bei Hobbes 2. Kausalgenese der Gefühle 3. Moralische Bewertung und Affektivität 4. Affekte als Störungen Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen Ursula Ken^ 1. Naturalismus, Ideenbegriff, individuelle Prägung 2. Die Primäraffekte oder warum Menschen Gefühle haben 3. Sekundäraffekte oder die Vielfalt emotionalen Lebens 4. Fazit: Von der Naturalisierung zur Therapie Malebranche: Neigungen und Leidenschaften Tad Schmält^ (übersetzt von Ursula Ren%) 1. Cartesische und augustinische Psychologie 2. Natürliche Neigungen 3. Die Leidenschaften des menschlichen Geistes

XI 293

295 300 302 303 309 312 316 321 327 331 334 338 343

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung 351 Angelica Baum und Ursula Ren% 1. Programm: Von den Affekten zum Gefühl 354 2. Quellen: Aristoteles, Stoa und Cambridge Vlatonism 357 3. Der Gefühlsbegriff als Grundlage der Tugendethik 360 4. Der psychische Ursprung von Gefühlen und die Bedeutung der Antizipation von Ideen 363 5. Von der Ästhetik der Gefühle zum Criticism·. Das implizite Bildungsprogramm der späteren Philosophie Shaftesburys 365 Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense Aaron V. Garrett (übersetzt von Ursula Ren%) 1. Affektionen und Leidenschaften 2. Historischer Hintergrund 3. Hutchesons Konzeption des moralischen Sinns 4. Das System der Gefühle 5. Die Arten der Leidenschaften nach Hutcheson 6. Fazit

371 374 375 379 384 386 389

XII

Detaillierte Inhaltsübersicht

Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte 393 Christoph Oemmerling und Hilge Lanämer 1. Zur Topografie der Affekte 396 2. Indirekte Affekte 399 3. Gefühlsresonanzen: Zur Rolle von Mitgefühl und Vergleich .... 404 4. Gefühle, Normen, Moral 408 Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Interesselosigkeit 413 Christian Strub 1. Sympathie und moralische Beurteilung 416 2. Sympathie — diesseits von Eigen und Fremd. Nichtinvolviertsein in eine Situation 420 3. Der moralische Standpunkt: Begehren nach Billigung durch den „unparteiischen Zuschauer" 424 Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle Sidonia Blättler 1. Zivilisation der Leidenschaften und der Laster 2. Idylle der sozialen Gefühle 3. Die Norm der Autarkie und die Erziehung zur emotionalen Selbstübereinstimmung

435 438 443 449

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle Birgit Recki 1. Keine Theorie der Affekte — eine begründete Vernachlässigung 2. Eine Theorie der Gefühle: Ihre Stationen und Elemente

457

Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene Dieter Birnbacher und Oliver Hallich 1. Biografie und Persönlichkeit 2. Philosophie als expressive Beschreibung 3. Primat des Affekts über die Vernunft 4. Emotionen als Willensphänomene 5. Emotionen — eine Quelle von Illusionen 6. Emotionen in der Moral

479

460 463

481 482 485 487 494 495

Detaillierte Inhaltsübersicht

Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen Komano Pomi 1. Erfahrung des Nihilismus 2. Analyse der Schwermut 3. Der Schwindel der Freiheit 4. Theorie der Verzweiflung 5. Zwischen Freiheit und Ausgeliefertheit Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte Werner Stegmaier 1. Das Feld und der Gang von Nietzsches Umwertung der Affekte 2. Experimentelle Erweiterungen der Umwertung in Nietzsches Notaten 3. Ideal eines dionysischen Zustands des Affekt-Systems

XIII

501 504 508 510 516 522 525

528 537 541

James: Von der Physiologie zur Phänomenologie 547 Jan Slaby 1. James über Gefühle — die Standard-Lesart 550 2. Die Rezeption der James-Lange-Theorie in Philosophie und Neurowissenschaft 554 3. Der andere James — eine philosophische Theorie des affektiven Weltbezugs 558 Whitehead: Kritik der Gefühle Marìa-Sybilla hotter 1. Whiteheads Metaphysik der Gefühle 2. Philosophische Abenteuer 3. Die Kritik der Gefühle 4. Wirklichkeit als Prozess des Fühlens 5. Die Kultivierung der Emotionen Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann... Kevin Mulligan 1. Werterkenntnisse versus Gefühle 2. Die Taxonomie des emotionalen Lebens 3. Gefühlserkenntnisse 4. Beurteilung

569 571 572 574 578 580 587 591 594 604 611

XIV

Detaillierte Inhaltsübersicht

Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher 1. Wittgensteins Methode: Die übersichtliche Darstellung 2. Wittgensteins Kritik: Das Privatsprachenargument 3. Überlegungen zur Philosophie der Psychologie 4. Schluss

613 617 619 623 633

Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik ... 635 Barbara Merker 1. Heideggers Theorie der Befindlichkeit 638 2. Die Emotion der Furcht 646 3. Die Stimmung der Angst 649 4. Bollnows Heidegger-Kritik 652 5. Existenzphilosophie und Angst 653 6. Die Vielfalt der Stimmungen 654 Sartre: Emotionen als Urteile Jean-Pierre Wils 1. Skizze der „Skizze" 2. Entdeckung der Phänomenologie 3. Die Analyse des Bewusstseins 4. Handlung und Emotion: Der Weg in die Magie 5. Die Stellung des Körpers und die Emotion als Ersatzhandlung

661

Langer: Philosophie des Fühlens Rolfluichmann 1. Der philosophische Ansatz 2. Formen und Formbarkeit des Fühlens 3. Kunst als Phänomenologie des Fühlens 4. Fühlen als allgemeine Bewusstseinsform 5. Die Dynamik lebendiger Aktivität 6. Das Auftauchen des Fühlens 7. Sensibilität und Emotionalität 8. Fühlen und Verhalten 9. Die Entkoppelung des Fühlens vom Verhalten 10. Die kulturelle Form des Fühlens

681 683 686 688 689 691 693 694 695 698 700

Zu den Autorinnen und Autoren

705

663 664 669 672 676

Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Einleitung

Zur Geschichte philosophischer Emotionstheorien Hilge Landmer und Ursula Ren^ \. Philosophiegeschichte und Emotionsforschung Gefühle hatten Menschen schon immer. Manchmal waren sie glücklich, manchmal traurig, sie fürchteten sich, wenn Gefahr drohte, sie beneideten ihre bessergestellten Artgenossen, wenn sie sich nicht gerade über das Zusammensein mit ihnen freuten, und bisweilen empfanden sie Mitleid, wenn sie andere leiden sahen. Das ist auch heute noch so. Es hat ganz den Anschein, als ob mindestens gewisse emotionale Grundphänomene menschliches Leben und Erleben zu allen Zeiten prägen. Differenzen — und damit verbunden: die Notwendigkeit von Differenzierungen — setzen indes dort ein, wo sich die Frage stellt, welche Emotionen Menschen genau haben und wie man diese unterscheiden, beschreiben oder erklären will. Ist, was unsere Alltags spräche suggeriert, Eifersucht fast dasselbe wie Neid, oder besteht, wie man mit Aristoteles annehmen müsste, ein deutlicher, auch moralisch signifikanter Unterschied? Ist das Phänomen der Angst von dem der Furcht verschieden, wie es die neuere Philosophie seit Kierkegaard vorschlägt, ist eines eine Spezifikation des anderen, oder sind sie gar identisch? Bezeichnen heute veraltet anmutende Ausdrücke wie Kleinmut, Sanftmut, Erbarmen, Scheelsucht, Ehrgefühl, Reue reale Phänomene, die wir nur nicht mehr kennen, oder wissen wir einfach besser Bescheid? Ergreift uns heute immer noch Melancholie, oder leiden wir schlicht unter depressiven Verstimmungen? Es stellt sich die Frage, ob die Menschen vergangener Epochen Anderes fühlten oder ob es sich hier um bloße Ubersetzungsprobleme handelt. Ahnliche Fragen tauchen angesichts der Begrifflichkeit auf, mit der wir Emotionen auf allgemeiner Ebene beschreiben. Auch hier gibt es signifikante Differenzen, die in unserem Vokabular noch präsent sind, auch wenn wir uns darüber selten Gedanken machen. Wenn wir etwa sagen, dass uns ein Affekt ergriffen habe, so unterstellen wir, dass wir es bei unseren Emotionen mit von außen induzierten Geschehnissen zu tun haben, die sich unserer ohne unser Zutun bemächtigen. Wenn wir hingegen von

4

Hilge I .andweer und Ursula Renz

den Gefühlen eines Menschen sprechen, denken wir meistens, dass diese von innen kommen und zu dieser Person gehören. Ausdrücke wie „Charakter" und „Haltung" verweisen auf emotionale Dispositionen, die sich in akuten Gefühlen äußern können, aber nicht müssen. Unter Stimmungen schließlich verstehen wir erlebte und auf Situationen bezogene Gemütsverfassungen. Offensichtlich ist schon die alltägliche Nomenklatur des Emotionalen theoriegeladen (was nicht gleichbedeutend ist mit der These, dass auch unser Fühlen selbst theoriegeladen sei), und die Konzeptionen hinter unserer alltäglichen Rede von Emotionen haben einen ganz unterschiedlichen Zuschnitt. Welche Modelle hinter solchen Redeweisen stehen, zeigt der Blick in die Geschichte philosophischer Emotionstheorien. Nicht nur finden sich hier mehrere grundsätzliche Optionen möglicher Konzeptionen von Emotionen und im Einzelnen eine unerschöpfliche Vielfalt von Beobachtungen. Es zeigt sich überdies, dass hinter den verschiedenen Ansätzen oft bestimmte Erkenntnisinteressen — moralisch-praktische, politische, therapeutische oder rein theoretische — stehen, die je nach Kontext beträchtlich variieren können. Emotionstheorien aus verschiedenen Epochen sind deshalb nur bedingt miteinander vergleichbar. Martin Heideggers existenzphilosophische Betrachtungen der Gefühle und Stimmungen sind mit Thomas Hobbes' mechanistischem Kalkül nicht ohne Weiteres in Verbindung zu bringen, obgleich sie beide darin übereinstimmen, dass sie der Angst eine zentrale Funktion im menschlichen Emotionshaushalt zubilligen. Differenzen im Ansatz schließen Parallelen in der Gewichtung und Bewertung einzelner Emotionen keineswegs aus. Solche oft überraschenden Vergleiche sind allerdings nur die Dreingabe einer Auseinandersetzung mit der Geschichte philosophischer Emotionstheorien. Entscheidender ist der Reichtum von Zusammenhängen, der dadurch in den Blick kommt. Schon der philosophische Ansatz eines Autors und seine Emotionstheorie können in unterschiedlicher Weise aufeinander abgestimmt sein. Manchmal ist die Entscheidung eines Philosophen für einen bestimmten Typus von Emotionstheorie weitgehend unabhängig von Phänomenen, die mit menschlichen Emotionen zu tun haben. Dann diktieren oft systematische Vorgaben, was in das Zentrum der entsprechenden Theorie gerückt wird und wie Emotionen konzeptualisiert werden. Manchmal bilden aber auch Annahmen über das menschliche Fühlen den Ausgangspunkt eines philosophischen Ansatzes. Wie sich die verschiedenen Ansätze zueinander verhalten, ist bisher kaum untersucht worden. Nur selten verlaufen die Fronten zwischen den

Zur Geschichte philosophischer 1 imotionstheorien

5

Theorien so eindeutig wie zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als die klassischen rationalistischen Affektenlehren durch die Moral-Sense-Theorien abgelöst wurden. Hier wurden Gefühle plötzlich anders beschrieben — nämlich als zumeist reflexiver Prozess im Inneren von Subjekten —, und es fand überdies eine grundlegende, auch moralische Aufwertung von Gefühlen statt. Jenseits solcher offensichtlichen Positionierungen ist das Verhältnis verschiedener Emotionstheorien allerdings meist weitgehend ungeklärt. Schließt, so fragt sich etwa, ein phänomenologischer Zugang zu Stimmungen naturalistische Erklärungen von vornherein aus? Nicht zwingend, müsste man sagen, wenn man sich etwa das Beispiel von Descartes' Passions de l'âme vor Augen führt.1 Alte Texte legen oft ungewöhnliche Lösungen für gegenwärtig diskutierte Probleme nahe, auch wenn oft erst zu klären ist, wie konsistent diese Lösungen sein können. Insgesamt ist daher die Auseinandersetzung mit klassischen Emotionstheorien keine bloße Traditionspflege, sondern sie stellt wesentliche Hintergründe und Herausforderungen für die gegenwärtige philosophische Auseinandersetzung mit menschlichen Emotionen bereit. Ein historisch geschulter Blick sieht leichter hinter die Kulissen konzeptueller Kämpfe, er erkennt die praktischen Implikationen bestimmter emotionstheoretischer Weichenstellungen schneller und weiß eher um theoretische Untiefen und Abgründe bestimmter Auffassungen. Wer sich allerdings mit der Geschichte der Emotionstheorien befasst, wird keine eindimensionale Geschichte entdecken, und ebenso wenig wird er die aktuell diskutierten philosophischen Theorien ungebrochen wiederfinden. In der Folge möchten wir deshalb einige der wichtigsten Etappen der Entwicklung philosophischer Emotionstheorien kurz skizzieren. Zuvor allerdings bleibt uns festzuhalten, dass die Gefühle selbst vom Wandel der Theorien nur mittelbar tangiert sind. Dass wir bei der Interpretation von emotionalem Erleben mit kulturellen Grammatiken rechnen müssen, schließt epochenübergreifende Gemeinsamkeiten nicht aus.

2. Zu den Ursprüngen antiker Äffektenlehren Es ist nicht ganz unproblematisch, im Blick auf die Philosophiegeschichte von Emotionstheorien zu sprechen. Denn dass Emotionen zum Gegenstand eines rein theoretischen, wissenschaftlichen Interesses werden, ist 1

V g l . D o m i n i k Perler in d i e s e m B a n d .

6

Hilge I .andweer und Ursula Renz

tendenziell eine neuere Erscheinung in der Philosophiegeschichte, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht. 2 Gerade die in der antiken Philosophie entwickelten Affektenlehren arbeiteten hingegen oft lebenspraktischen Anliegen zu. Aristoteles etwa kommt, obwohl er Emotionen als Widerfahrnisse der Seele begreift, am ausführlichsten in der Rhetorik auf sie zu sprechen und nicht etwa in der Seelenlehre. Diese Verortung mag aus heutiger Sicht erstaunen, zumal wenn man bedenkt, dass Gefühle seit der Romantik oft als Ereignisse begriffen wurden, die das authentische Erleben einer Person ausmachen — eine Uberzeugung, an der erst die Sprachphilosophie in der Nachfolge Wittgensteins zu rütteln vermochte. Nicht so in der Antike. Lange bevor sich Philosophen für die Emotionen interessierten, wurden Gefühle in der Dichtung besungen, in Epen beschrieben, in Dramen inszeniert und in Gerichtsprozessen mobilisiert. 3 Und noch bevor Philosophen darauf Bezug nahmen, hatte sich die Rhetorik als praktische Disziplin dieser Thematik angenommen. 4 Die systematischen Voraussetzungen für das Interesse der Rhetorik an den Emotionen sind jedoch nicht sprachphilosophischer, sondern urteilstheoretischer Natur. Aristoteles geht von der Annahme aus, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem akuten Gefühlszustand eines Subjekts und den Urteilen, die es in diesem Zustand fallt. Und genau dieser Zusammenhang macht es aus, dass Menschen durch Gefühle in ihrem Urteil beeinflusst werden können. Ein weiterer Bereich, in dem in der Antike auf Gefühle reflektiert wurde, ist die Ethik. Auch dafür gibt es außerphilosophische Vorlagen und Quellen, wobei neben den schon genannten auch die antike Geschichtsschreibung zu erwähnen ist. So beruht etwa die Moral der Geschichte, welche Herodot am Schluss seiner Historien oder Thukydides im Peloponnesischen Krieg bei der Würdigung des Perikles anklingen lassen, auf Urteilen über bestimmte Affekte wie Habsucht, Ehrgeiz oder Kleinmut. Allerdings ist das Interesse der Ethik an den Gefühlen ein komplexes. Zum einen werden Emotionen entweder als unentbehrlich für moralisches oder zweckmäßiges Handeln oder aber als Störfaktor dafür beschrieben. Die Konsequenz ist in beiden Fällen dieselbe: Emotionen sind zu bearbeiten, damit sie den Handlungszielen angemessen oder moralisch wertvoll sein können. Zum anderen ist der Übergang von der ethischen 2 3 4

Vgl. dazu auch Moreau 2003. Vgl. für exemplarische Analysen etwa Theunissen 2000 und Williams 1993. Dazu Christof Rapp in diesem Band.

Zur Geschichte philosophischer 1 imotionstheorien

7

Analyse zur lebenspraktischen Unterweisung oft fließend. Gerade Emotionen und der Umgang mit ihnen sind vielfach Gegenstand von Lob und Tadel. Es fragt sich, auf welcher Basis Emotionen überhaupt moralisch beurteilt oder sogar verurteilt werden können. Bemerkenswerterweise war es in der Philosophiegeschichte keineswegs immer ausgemacht, dass Gefühle als natürliche Ereignisse anzusehen sind, für die wir im Prinzip nicht verantwortlich sind. Die Stoa etwa, welche den Emotionen im Unterschied zu Piaton und Aristoteles keinen eigenen Seelenteil reservierte, begriff Affekte als Fehlurteile und Irrtümer des Verstandes, die eigentlich gegen die Ordnung der Natur verstoßen und letztlich Krankheiten der Seele darstellen. Dass gerade die Stoa auch vernünftige und mit der Natur in Einklang stehende Emotionen kennt, die constantiae oder eupatheiai,5 ist ein Gedanke, der in der Rezeption oft in den Hintergrund trat, auch wenn er für Shaftesburys historisch folgenreiche Aufwertung der Emotionen Pate gestanden hat.6 Der Antike verdanken spätere Emotionstheorien aber noch einen anderen Grundgedanken, der in der Philosophiegeschichte immer wieder aufgegriffen wurde und der in der Rede von den „Krankheiten der Seele" reflektiert wird: Wer Emotionen als Krankheiten begreift, der wird mit Heilmitteln dagegen ankämpfen oder präventive Maßnahmen ergreifen wollen. Auch wenn die Unterschiede in der Konzeption solcher Maßnahmen sowie in der Bestimmung des Therapiezieles beträchtlich sind, so kennzeichnet es doch sämtliche antike Affektenlehren, dass sie die philosophische Reflexion auf menschliches Fühlen als therapeutische Praxis begreifen. Den Hintergrund dafür bildet die simple, aber existenziell bedeutsame Tatsache, dass kein Mensch in seinem Leben ausschließlich Glück empfindet. Jeder, auch der Glücklichste, leidet irgendwann an seinen Gefühlen, und wer fühlt, weiß darum. Unabhängig davon, wie man Emotionen beschreiben oder erklären will, ist deshalb die Frage, wie (manche) Affekte zu vermeiden oder doch mindestens in eine bekömmliche' Form zu bringen sind, stets virulent. Damit kommen wir zu einer weiteren Quelle philosophischer Emotionstheorien, die in einer gewissen Konkurrenz zu den therapeutischen Ansätzen der Philosophie steht: die antike Medizin mit dem hippokratischen Korpus und den Schriften Galens. Wie die Philosophie verfolgt 5 6

Vgl. dazu Friedemann Buddensiek in diesem Band sowie Newmark 2008. Vgl. dazu Angelica Baum/Ursula Renz in diesem Band.

8

Hilge I .andweer und Ursula Renz

auch die Medizin mit ihren diätetischen Schriften therapeutische Ziele, wobei physiologische Konzepte der Verursachung von Emotionen die Basis dafür bilden. Demgegenüber gingen die philosophischen Vorstellungen einer Therapie der Affekte von der Annahme psychischer, moralischer oder kognitiver Ursachen aus. Schon in der Antike findet man also ein Nebeneinander von — im weiten Sinne gesprochen — psychotherapeutischen und medizinischen ,Heilungskonzepten'. De facto sind die Grenzen zwischen den philosophischen Ansätzen und der Medizin in der Antike allerdings keineswegs trennscharf, es gibt wechselseitige Rezeptionen, 7 und nicht zuletzt teilen Philosophie und medizinische Diätetik das Interesse an der Lebensform des Menschen. 8 Während sich allerdings die Medizin der Lebensform aller Menschen widmete, errichteten die Philosophen verschiedene normative Ideale einer genuin philosophischen Lebensform, die zu leben nur wenigen gegeben war.

3. Emotionen im Banne christlicher Heilslehren Mit zunehmendem Einfluss des Christentums auf die Philosophie trat auch die Diskussion über Emotionen in eine neue Phase. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Christentum und Philosophie stellte sich auch im Bereich der Emotionstheorie, wobei die Antworten darauf sehr unterschiedlich ausfielen. Während die Lehren von Clemens von Alexandrien, Origines und Evagrius Ponticus stoische Askese mit christlichen Heilskonzepten verbinden, indem sie das stoische Ideal der Apathie auf eine platonische Seelenstruktur rückbeziehen, 9 vereinigt der syrische Bischof Nemesius von Emesa in seinem einflussreichen Traktat De natura hominis platonische, aristotelische, stoische und schließlich sogar galenische Uberlegungen unter einem anthropologischen Dach. 10 Für diese beiden Ansätze stellt die Synthese von philosophischen Emotionstheorien und Christentum kein grundsätzliches Problem dar. Etwas anders sah das Augustinus, der einerseits die Emotionsfeindlichkeit der Stoa einer scharfen Kritik unterzog, andererseits die Frage 7 8 9 10

Vgl. dazu Christopher Gill in diesem Band. Zur Lebensformorientierung der antiken Philosophie seit Piaton siehe Hadot 1995, 91. Vgl. für diese Ansätze auch Knuuttila 2004, 113—127 sowie Alexander Brungs in diesem Band. Brungs 2000, 29; Knuuttila 2004, 103-110.

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nach einer Affekttherapie mit der christlichen Sündenlehre in Verbindung brachte. Man kann sich fragen, wie diese beiden prima facie widersprüchlich erscheinenden Tendenzen miteinander vereinbar sind, tatsächlich sind sie jedoch nicht voneinander zu trennen. So begründet Augustinus seine Kritik an der Stoa zwar unter Rückgriff auf die akademisch-peripatetische Auffassung maßgeblich damit, dass Affekte zur Natur des Menschen gehören und deshalb nicht überwunden werden können. Gleichzeitig hält er aber am Ideal einer nicht von Leidenschaften getriebenen Existenz fest, doch hat diese ihren Ort im Paradies oder im Jenseits. Dahinter steht die doppelte These, dass Menschen dieses Ideal nicht aus eigener Kraft erreichen können und dass der Wille, Herr seiner selbst zu sein, den Ursprung der Sünde respektive der Entzweiung von Vernunft und Leidenschaften bedeutet. 11 Die Auswirkungen von Augustinus' Ansatz und insbesondere seines Willlensbegriffs auf die Tradition philosophischer Emotionstheorien sind nicht zu unterschätzen. Nicht nur bildeten Augustin und der augustinische Piatonismus bis ins 13. Jahrhundert, als unter dem Einfluss der arabischen Kommentatoren vermehrt aristotelische Seelenkonzeptionen in den Mittelpunkt traten, den wohl wichtigsten Referenzpunkt mittelalterlicher Seelenkonzeptionen. 12 Auch in den Affektenlehren der frühen Neuzeit wirkte das augustinische Erbe an zahlreichen Stellen weiter, so nicht nur bei Luther, sondern insbesondere auch im Jansenismus, bei Pascal sowie bei Malebranche, dessen Recherche de la vérité die Geister spaltete und noch Hutchesons Emotionstheorie beeinflusste 13 .

4. Emotionen in der frühen Neuzeit Mit Beginn der frühen Neuzeit setzt in der Philosophie eine rege Auseinandersetzung mit Emotionen ein, die sich in zahlreichen und weit verästelten Affektkatalogen niederschlägt. 14 Diese Diskussion ist grosso modo von drei Einflüssen geprägt. Erstens ist seit der Reformation wieder ein stärkerer Rückgriff auf augustinische Konzepte zu beobachten, was sich auch in der Konzeptualisierung von Emotionen niederschlägt. Zweitens

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Vgl. zu Augustinus Johannes Brachtendorf in diesem Band. Vgl. dazu auch Brungs 2004, 40ff. Vgl. dazu Aaron Garrett in diesem Band. Siehe dazu Schmitter 2006, auch James 1997.

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werden mit der Renaissance auch die antike Rhetorik und vor allem die lateinischen Darstellungen der Stoa sowie — unter den ,Libertins' — des Epikureismus wieder verstärkt rezipiert. Drittens hinterlassen auch die neue Wissenschaft und die mechanistische Naturphilosophie ihre Spuren. Letzteres ist nicht so sehr im Hinblick auf die metaphysischen Fragen der körperlichen oder seelischen Verursachung von Belang; denn eine Konkurrenz zwischen physikalistischen und mentalistischen Kausalerklärungen gab es schon seit der Antike. Fast wichtiger dürften die Folgen sein, welche die neue Physik für den wissenschaftlichen Anspruch philosophischer Affektenlehren hatte. So kann man beobachten, dass die Emotionen seit dem Rationalismus oft als theoretischer Gegenstand sui generis wahrgenommen werden und vor allem systematisch angelegte Affektenlehren nicht mehr primär Teil von praktischen Disziplinen sind.15 Dies schlägt sich allerdings in ganz verschiedener Weise nieder. Während Spinozas Ethik aufs Ganze gesehen durchaus therapeutische Absichten verfolgt,16 ist Hobbes' Ansatz durch einen starken Szientismus geprägt: Wissenschaft, Technik und effiziente Herrschaft, nicht aber Reflexion tragen nach Hobbes zu einem guten Leben bei, und die Begriffe „richtig" und „falsch" gewinnen ihre Gültigkeit aus Regeln, die durch Sanktionen wirksam sind. Dagegen wendet sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts Shaftesbury mit der Prägung des Begriffs des moral sense. Damit bezeichnet er einen natürlichen Sinn für das moralisch Richtige, der sich sowohl in Urteilen über eigenes oder fremdes Verhalten als auch in den Motiven für Handeln niederschlagen kann. Dieser Sinn wird als natürliches Vermögen verstanden, das sich aber durch Bildung und philosophische Reflexion verfeinern lässt. Shaftesbury verfolgt daher ein therapeutisches Projekt, was ihn nicht zuletzt von den eigentlichen Moral-Sense-Theorien unterscheidet, die im Anschluss an ihn entwickelt wurden. Hutcheson will auf der Basis des Moral-Sense-Begriffs ein System der Ethik errichten, das moralisches Handeln stärker als die Naturrechtskonzeptionen des 17. Jahrhunderts auf intrinsische Motivation gründen lässt. Hume versucht, die experimentelle Methode des Denkens für eine Erfahrungswissenschaft vom Menschen fruchtbar zu machen, die konsequent auf Beobachtung gestützt ist. Dabei arbeitet er insbesondere auch die zentrale Rolle der Gefühle anderer für

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Siehe dazu Moreau 2003. Dazu Ursula Renz in diesem Band.

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die Ausbildung eigener Emotionen heraus. 17 Smith schließlich entwickelt die Einsicht in die Bedeutung der Gefühle anderer mit der Idee eines unparteiischen Beobachters weiter, sodass seine Theorie der moralischen Gefühle in eine Sozialtheorie mündet. Bei allen Unterschieden teilen allerdings alle mit dem Moral-Sense-Begriff operierenden Ansätze die These, dass wir es beim Gefühl mit einem potenteren moralischen Vermögen zu tun haben als bei der Vernunft. Kant wird in Reaktion auf diesen Zusammenhang versuchen, die Einsichten der Moral-Sense-Theorien mit denjenigen der eher rationalistischen Tradition zu verbinden und die Moral direkt nur noch auf Vernunft, nicht mehr auf das in seiner Sicht subjektive sinnliche Gefühl zu gründen.

5. Philosophie, Vernunft und Emotionen Das Verhältnis von Philosophie und Emotionen war zumeist ein gespanntes. Schon Piaton begreift Philosophie als ein Mittel gegen den Einfluss, den Emotionen — konkret: die Angst vor dem Sterben — auf das eigene Handeln und Erleben haben. Dahinter steht die Annahme, zwischen philosophischem Denken und dem Erleben bestehe ein Zusammenhang derart, dass nicht nur das Erleben das Denken, sondern auch das Denken das Erleben präge. Auch Piatons Schüler Aristoteles geht von einem solchen Zusammenhang aus, doch er analysiert ihn unter einer sozialphilosophischen Perspektive. Mit seiner Rhetorik, die als einer der Grundtexte der Tradition der Affektenlehren gilt, stellt er die menschlichen Emotionen in einen genuin in ter subjektiven Zusammenhang. Die Erkenntnis der Funktionsweise der Emotionen ist für ihn ein Mittel, auf andere Menschen Einfluss zu nehmen und sich dank einer vernünftigen Steuerung der eigenen Affekte unerwünschten Einflüssen anderer zu entziehen. Der gemeinsame Fluchtpunkt der Philosophie von Piaton und Aristoteles ist für die Geschichte der philosophischen Emotionstheorien von enormer Bedeutung: Philosophie gilt den Philosophen oft als Königsweg, um möglichst große Macht über sich selbst zu erlangen. Mittel dafür ist maßgeblich eine Klärung des eigenen emotionalen Selbstverhältnisses. Je nach Tradition wird diese Klärung entweder als Mäßigung bzw. Auslotung menschlicher Emotionalität zwischen schädlichen Extremen, als Uber17

Vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer in diesem Band.

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windung der Affekte und Leidenschaften oder als Reflexion über ihre natürlichen Wirkungen und inneren Gesetzmäßigkeiten und damit als Selbstverständigung über Gefühle konzipiert. Ein herausragender Markstein im Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Emotionen ist zweifelsohne die praktische Philosophie Immanuel Kants. Sie prägt einen Autonomiebegriff, der als reines Selbstverhältnis des Denkens aufgefasst wird, womit die praktische Philosophie als eine von der Emotionstheorie unabhängige Disziplin begründet wird. Seit Kant scheint es wohl begründet, an den Emotionen vorbei praktische Philosophie zu betreiben. Jene philosophischen Ansätze in der Zeit zwischen Kant und Heidegger hingegen, die Emotionen zu ihrem Gegenstand machen, verstehen sich entsprechend zumeist als Gegenentwurf zu Kant. Die oft suggerierte These, die Emotionen in der Philosophiegeschichte seien marginalisiert worden, erweist sich so gesehen als falsch. Im Gegenteil, offensichtlich ist das Verhältnis zu den Emotionen für das Selbstverständnis der Philosophie auf vielfältige Weise prägend gewesen, und zwar oft selbst dort, wo es nicht explizit thematisiert wurde. Allerdings trifft zu, dass das Verhältnis von philosophischer Vernunft und Emotionen selten ein neutrales war. „Wie hältst du es mit den Emotionen?" scheint eine der Gretchenfragen der Philosophie zu sein.

6. Philosophische Emotionstheorie und Psychologie Nicht alles, was Philosophen über Emotionen geschrieben haben, würde heute ohne weiteres der Philosophie im engeren Sinne zugeordnet werden. Aristoteles' Rhetorik enthält Beobachtungen, die quasi soziologischer oder verhaltenstheoretischer Art sind. Manches von dem, was Descartes über die Leidenschaften der Seele schreibt, schließt eher an seine Physiologie als an seine Erkenntnistheorie an. Spinoza nimmt in seiner Affektenlehre entscheidende Einsichten der Psychoanalyse vorweg. Jean-Jacques Rousseau befasst sich mit Gefühlen u. a. im Kontext politiktheoretischer Problemstellungen. Adam Smiths Moralpsychologie, die auf der Sympathiekonzeption basiert, geht Hand in Hand mit der Entwicklung seiner Nationalökonomie. Kant stellt in seiner Anthropologie Überlegungen an, die in die Psychologie der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts passen würden. Kierkegaard denkt und schreibt sowohl als Theologe als auch als Philosoph.

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Eine solche Zuordnung bestimmter Aspekte von Emotionstheorien zu verschiedenen Einzeldisziplinen ist Ergebnis der historischen Ausdifferenzierung, im Zuge derer sich nach und nach die verschiedenen Geistesund Sozialwissenschaften aus der Philosophie ausgegliedert haben. Insbesondere die Psychologie, die im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin entsteht, trägt zur Entwicklung von Emotionstheorien bei, übernimmt dabei aber auch Fragestellungen, die vorher in der Philosophie verhandelt wurden. Es handelt sich dabei allerdings um einen mehrere Jahrzehnte dauernden Prozess, und auch wenn die dabei ausgebildeten einzelwissenschaftlichen Methoden die verschiedenen Disziplinen trennen, so lassen sich für diesen Zeitraum psychologische von philosophischen Emotionstheorien nicht immer scharf unterscheiden. Nicht nur sind die Fragestellungen oft ähnlich, sondern viele Philosophen, die sich mit Emotionen befasst haben, verstanden sich auch als Psychologen und umgekehrt, wie etwa William James und Wilhelm Wundt. Ein wichtiger Aspekt der Trennung von Philosophie und Psychologie ist der Anspruch auf empirische Abstützung wissenschaftlicher Aussagen. Auch dieser Unterschied lässt sich deutlich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten. Beispielsweise wird die Emotionstheorie David Humes aus heutiger philosophischer Perspektive oft als „Psychologie" bezeichnet, und zwar u. a. deswegen, weil sie sich unmittelbar für empirische Zusammenhänge interessiert. Wie schwierig es daher auch immer sein mag, Gegenstand und Methoden der Philosophie zu bestimmen, so zeichnet sich mindestens eine Differenz zu den übrigen Humanwissenschaften ex negativo ab: Philosophie versteht sich jedenfalls nicht als empirische Wissenschaft. Auf die Etablierung der Psychologie als empirischer Wissenschaft reagiert die Philosophie mit verschiedenen Varianten von Psychologismuskritik, die aber weniger gegen die Psychologie selbst als gegen psychologisierende Annahmen innerhalb der Philosophie gerichtet sind. Ein wesentlicher Kritikpunkt dabei ist die Verwechslung von Genesis und Geltung, etwa in Bezug auf die Funktionsweisen des Bewusstseins, innerhalb mancher psychologischer Theorien. Der Psychologismusvorwurf ist für die Auseinandersetzung mit Emotionen in mehrfacher Hinsicht von Belang. So wendet sich Husserl gegen die Auffassung, nach der die Logik eine psychologische Grundlage habe.18 Er unterscheidet die Genese einzelner Bewusstseinsakte von ihrer allge18

Vgl. Husserl 1900/1901.

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Hilge I .andweer und Ursula Renz

meinen Struktur und entwickelt zur Klärung des Wahrheitsbegriffs als Methode eine von empirischen Zufälligkeiten gereinigte Analyse von Bewusstseinsakten. Ob eine solche ,reine', introspektiv vorgehende Phänomenologie des Bewusstseins methodisch und sachlich überhaupt möglich ist, muss hier offengelassen werden. Der husserlsche Intentionalitätsbegriff erweist sich jedenfalls für die weitere Entfaltung der Emotionstheorien als grundlegend. So legt ihn etwa Max Scheler seiner Emotionstheorie zugrunde, die zum ersten Mal wieder seit Humes Tableau der Affekte versucht, die Emotionen in eine Ordnung zu bringen — eine Theorie, die bei Scheler mit dem metaphysischen Anspruch auftritt, eine apriorisch geltende Ordnung von Werten und Gefühlen zu rekonstruieren. In der an Husserl und Scheler anschließenden Tradition der frühen oder „realistischen" Phänomenologie entsteht eine Vielfalt von gründlichen Einzelanalysen von Gefühlen, so etwa von Else Voigtländer (1910), Willy Haas (1910), Moritz Geiger (1911), Edith Stein (1917) und Aurel Kolnai (1931; 1935).19 Auch allgemeine emotionstheoretische Überlegungen finden sich in dieser Tradition, außer bei Max Scheler vor allem bei Alexander Pfänder (1922), später bei Jean Paul Sartre (1939) und Otto Friedrich Bollnow (1941). Erst Hermann Schmitz verbindet in seinem „System der Philosophie" (1964— 1980) phänomenologische Analysen von einzelnen Emotionen, Stimmungen und verwandten Phänomenen mit einem groß angelegten philosophischen Programm, in dessen Zentrum ausgearbeitete Begriffe von Gefühlen als „Atmosphären" und von „Situation" stehen. Diese neue Phänomenologie ist ebenfalls kritisch gegen den Psychologismus gerichtet, und zwar jetzt dezidiert gegen die Auffassung, wonach Gefühle im Wesentlichen innere Seelenzustände sind. Ganz andere Folgen zeitigt die Psychologismuskritik bei Hermann Cohen, in dessen Werk sich ebenfalls eine umfassende Auseinandersetzung mit Affekten und Gefühlen findet, insbesondere in der Ethik des reinen Willens und in der Ästhetik des reinen Gefühls. Cohen unternimmt im Grunde genommen eine Rehabilitierung der Emotionen unter dezidiert kantischen Vorgaben. Das Resultat ist zum einen eine Tugendlehre, wonach moralisches Handeln stärker als bei Kant durch Affekte motiviert oder getragen sein darf und sogar muss, aber in seiner Richtung gleichwohl durch den reinen Willen bestimmt wird. Zum andern schlägt sich

19

Vgl. dazu Vendrell Ferran 2008.

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Cohens Antipsychologismus in einer Ästhetik nieder, deren Ziel darin besteht, Gefühlen historische Ursprünge zuzuweisen. 20 Eine andere Weise, auf die Vorherrschaft empirischer und insbesondere naturwissenschaftlicher Emotionsforschung zu reagieren, findet man in der amerikanischen Philosophie bei Alfred North Whitehead und bei Susanne K. Langer. Da Whitehead und Langer von einem Kontinuum zwischen ,Geist' und ,Natur' ausgehen, können sie naturwissenschaftliche Resultate eher in ihre jeweilige Naturphilosophie integrieren als andere theoretische Schulen. Der für die jüngste Geschichte der Philosophie der Gefühle wohl wirkmächtigste Denker ist mit Ludwig Wittgenstein ein Philosoph, der zwar eine — ebenfalls antipsychologistisch inspirierte — Philosophie der Psychologie 21 , aber keine Emotionstheorie vorgelegt hat. Auf seine sprachphilosophischen Interventionen lässt sich zurückführen, dass die philosophische Auseinandersetzung mit Emotionen lange Zeit unterbrochen wurde, denn seine Kritik an der Privatsprache wurde so interpretiert, als könne subjektives Erleben kein legitimer philosophischer Gegenstand sein. Innerhalb der analytischen Philosophie dauerte es bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, bis Emotionen wieder philosophisch thematisiert wurden, und zwar von Kenny 22 . Allerdings wird auch dieser Autor erst seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts breiter rezipiert. Entsprechendes gilt für die in den verschiedenen Zweigen der phänomenologischen Tradition entwickelten Emotionstheorien, die — obwohl mit größerer Kontinuität entfaltet — ebenfalls bis in die 80er und 90er Jahre keine breite Resonanz erfahren. Welche Gründe für die dann einsetzende und immer noch anhaltende Konjunktur des wissenschaftlichen Interesses an den Emotionen verantwortlich sind, scheint uns, solange dieser Prozess anhält, nicht ausgemacht zu sein. Dies in einem selbstreflexiven Prozess und dabei insbesondere in interdisziplinärem Austausch auszuloten, scheint uns eine der vielen Aufgaben zukünftiger Forschung über Emotionen zu sein.

20 21 22

Siehe dazu auch Renz 2002. Vgl. Rust 1996. Vgl. Kenny 1963.

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7. Zum vorliegenden Band Mit dem vorliegenden Band möchten wir zur Lektüre der wichtigsten emotionstheoretischen Texte der philosophischen Tradition anregen. Wir haben uns dabei an solche Ansätze gehalten, von denen wir meinen, dass sie auch heute noch lesenswert sind, sei es, um bestimmte historische Entwicklungen zu verstehen, sei es, weil sie in systematischer Hinsicht aufschlussreich sind. Dass es noch unzählige weitere interessante und wichtige Ansätze gibt, ist uns ebenso bewusst wie die Tatsache, dass Lücken bestehen, die eigentlich nicht bestehen sollten. Wir haben ferner bewusst darauf verzichtet, Emotionstheorien heute noch lebender Philosophen in diesen Band mit aufzunehmen, da die Konjunktur philosophischer, einzelwissenschaftlicher und interdisziplinärer Emotionstheorien immer noch ungebrochen anhält und sich noch nicht eindeutig abzeichnet, in welche Richtung diese neuesten Entwicklungen weisen. In der Abfolge der Beiträge haben wir uns weitgehend an die chronologische Reihenfolge der Geburtsjahre der behandelten Philosophen gehalten; Ausnahmen haben wir dort gemacht, wo entweder das Publikationsjahr der jeweiligen emotionstheoretischen Schriften oder Traditionszusammenhänge eine andere Reihung nahelegen. Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe und Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen. Ein großer Dank geht an Alexander Brungs, der uns bei der Konzeption mit seinen profunden Kenntnissen der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie zur Seite stand. Jürgen Frese f unterstützte in der ersten Phase unsere systematischen Überlegungen; wir verdanken ihm zahlreiche Hinweise. Dies gilt auch für Alois Rust. Bei Damian Caluori bedanken wir uns für seine Bereitschaft, in letzter Minute den Beitrag zur antiken medizinischen Tradition zu übersetzen. Für die äußerst aufmerksame, gründliche und geduldige redaktionelle Betreuung sowie für die tatkräftige Behebung sämtlicher technischer Probleme im Zusammenhang mit der Drucklegung und die Einhaltung eines zum Schluss äußerst knappen Zeitplans zeichnet Nina Trcka verantwortlich. Wir möchten ihr ganz herzlich dafür danken. Für finanzielle Unterstützung bei der technischen Erstellung sind wir dem Exzellenzcluster „Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin, dessen erstes Teilprojekt hiermit realisiert wird, und der Professur für theoretische Philosophie an der Ε Τ Η Zürich zu Dank verpflichtet.

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Literatur Besnier, Bernard/Pierre-François Moreau/Laurent Renault (2003), Les Vassions antiques et médiévales, Paris (PUF). Bollnow, Otto Friedrich (1941), Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. Brungs, Alexander (2000), Metaphysik der Sinnlichkeit. Das System der Passiones Animae bei Thomas von Aquin, Halle. Cohen, Hermann (1981, zuerst 1904), Ethik des reinen Willens, hrsg. von Helmut Holzhey mit einer Einführung von Steven S. Schwarzschild, Hildesheim [Nachdruck der 2. revidierten Auflage von 1907, Werke Bd. 7]. Cohen, Hermann (1982, zuerst 1912), Ästhetik des reinen Gefühls, hrsg. von Helmut Holzhey mit einer Einleitung von Gerd Wolandt, Hildesheim [Nachdruck der 1. Auflage von 1912, Werke Bd. 8 und 9], Geiger, Moritz (1911), Uber das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung, in: Bericht über den IV. Kongress für experimentelle Psychologie in Innsbruck vom 19. bis 22. April 1910, Leipzig, 29-74. Haas, Willy (1910), Über die Echtheit und IJnechtheit von Gefühlen, Nürnberg. Hadot, Pierre (1995), Qu'est-ce que la philosophie antique?, Paris. Husserl, Edmund (1900/1901), Logische Untersuchungen in 2 Bdn, Halle. James, Susan (1997), Vassion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy, Oxford. Kenny, Anthony (1963), Action, Emotion, and Will, London. Knuuttila, Simo (2004), Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford. Kolnai, Aurel (1931), Der Hochmut, in: Philosophisches fahrbuch der Göires-Gesellschaft 44, 2. Heft, 153-331. Kolnai, Aurel (1935), Versuch über den Hass, in: Philosophisches Jahrbuch der GöiresGesellschaft 48, 2/3. Heft, 147-187. Moreau, Pierre-François (2003), Les passions: continuités et tournants, in: Besnier et al., a. a. O., 1-12. Newmark, Catherine (2008), Passion - Affekt - Gefühl Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg. Pfänder, Alexander (1922), Zur Psychologie der Gesinnungen, Halle. Renz, Ursula (2002), Affektivität und Geschichtlichkeit: Hermann Cohens Rehabilitierung des Affekts, in: Achim Engstier/Robert Schnepf (Hg.), Spinozas Lehre im Kontext, Hildesheim, 297-319. Rust, Alois (1996), Wittgensteins Philosophie der Psychologie, Frankfurt. Sartre, Jean-Paul (1960, zuerst 1939), Esquisse d'une théorie des émotions, Paris. Schmitter, Amy M. (2006), 17th and 18th Century Theories of Emotions, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy: URL = http://plato.stanford.edu/entries/emotions-17thl8th/index.html; letzter Zugriff 6. Januar 2008. Schmitz, Hermann (1964—1980), System der Philosophie in 5 Bänden, 10 Teilbände, Bonn. Stein, Edith (1917), Zum Problem der Einfühlung, Halle. Theunissen, Michael (2000), Pindar. Menschenlos und Wende derZeit, München. Vendrell Ferran, Ingrid (2008), Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin. Voigtländer, Else (1910), Über die Typen des Selbstgefühls, Leipzig. Williams, Bernard (1993), Shame and Necessity, Berkeley.

Platon (427-347 ν. Chr.)

Platon: Affekte und Wege zur Eudaimonie Michael Erler Die Suche nach einer kohärenten Affekttheorie bei Piaton ist infolge der dialogischen Gestaltung seines Werkes schwieriger, aber auch interessanter und facettenreicher als bei anderen Autoren. Affekte sind zwar bisweilen Gegenstand der Gespräche in den Dialogen, doch geschieht dies in unterschiedlichen Kontexten, bei denen keineswegs immer die Frage nach den Affekten, ihrer Bestimmung und ihrer Bewertung im Vordergrund steht. Doch steht die Frage nach Affekten und dem Umgang mit ihnen auch dann im Hintergrund, wenn es um die Bestimmung von Tugenden wie Tapferkeit im Laches, der Besonnenheit im Charmides oder der Gerechtigkeit in der Politela geht.1 Denn diese Tugenden werden nicht zuletzt als vernunftgeleitete Fähigkeiten verstanden, mit emotionalen Zuständen, wie Furcht, Zorn oder Begierden, richtig umzugehen und sie von der Vernunft kontrollieren zu lassen. 2 Wenn im Pbaidon Sokrates und seine Freunde angesichts des Todes über die Unsterblichkeit der Seele und das Glück des Menschen diskutieren, spielen Affekte ebenso eine wichtige Rolle wie im Phaidros und Symposium, in denen es um das Wesen des Eros geht, im Philebos, der nach dem Rang von Lust und Wissen im menschlichen Leben fragt oder den Nomoi, in denen nach der Bedeutung von Affekten bei der Erziehung der gewöhnlichen' Menschen gefragt wird 3 . Diese Vielfalt unterschiedlicher Kontexte vermittelt einen zunächst zwiespältigen, ja möglicherweise verwirrenden Eindruck. Die Beurteilungen der Affekte scheinen im Vergleich nicht immer kompatibel, ja bisweilen sogar widersprüchlich. Zu bedenken ist jedoch, dass unterschiedliche Nuancierungen möglicherweise dem jeweiligen argumentativen Kontext geschuldet sind und nicht ohne Weiteres auf den Autor projiziert werden 1 2 3

Zur Frage, ob Gerechtigkeit als Thema der Volitela anzunehmen sei, vgl. NeschkeHentschke 1990; Erler 2007b, 207f. Zu Tugend als Wissen vgl. z. B. Men. 87c; vgl. auch van Ackeren 2003, 339f.; allgemein vgl. Konstan 2007 (zu Piaton kurz z. B. 67f., 253f.). Zur Rolle der Affekte in den Nomoi vgl. Görgemanns 1960 und Schöpsdau in Piaton 1994, z. B. 228ff.

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dürfen. 4 Versucht man, die jeweiligen Aussagen und Positionierungen immer situativ als Aussagen des Personals im dialogischen Kontext zu bewerten, dann erweist sich mancher Widerspruch als nur scheinbar. Die einzige Stelle im Œuvre Piatons, an der Sokrates die Lust als etwas Gutes zu bezeichnen scheint (Prot. 351b—353b), erweist sich unter diesem Gesichtspunkt z. B. als punktuelle sokratische Argumentationsstrategie. 5 Will man aufgrund des Facettenreichtums des Dialoggeschehens ein kohärentes Bild platonischer Affektbeurteilung zu zeichnen versuchen, kommt der Umstand zu Hilfe, dass Piaton das Thema nicht nur abstrakt argumentativ behandeln lässt, sondern durch das Verhalten des agierenden Personals gleichsam illustriert und geradezu kommentiert. Wenn Echekrates im Dialog Phaidon den Erzähler des Dialoggeschehens, Phaidon, bittet (58c)6, nicht nur von Sokrates' Worten, sondern auch von dessen Verhalten zu berichten, wirkt dies wie eine Leseanweisung Piatons, die für alle Dialoge und nicht nur für das Verhalten des Protophilosophen Sokrates, sondern auch für das seiner Partner gilt. Auch bei der Frage nach Piatons Affektverständnis lohnt es sich, neben der argumentativen die performative Ebene der Dialoge und neben Sokartes auch das andere Personal zu berücksichtigen. Denn bisweilen kommentiert sich der poeta doctus Plato selbst.7 Auch bei jenen emotionalen Zuständen, denen der Leser bei Sokrates und bei seinen Partnern begegnet, konvergieren Schilderungen von Anlass, Intensität und Auswirkung der Emotionen auf performativer Ebene nicht selten mit den Ergebnissen der argumentativen Analyse. Beides fügt sich zu einem differenzierten Gesamtbild dessen, was man wohl Piaton als Auffassung von Affekt und Emotion zuschreiben darf. 8

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Vgl. Blössner 1997, 8ff. (für Politeia-Interpretation). Vgl. Manuwald in Piaton 1999 (Band VI.2: Protagoras), 378ff. (mit Diskussion unterschiedlicher Positionen). Zu Recht Gallop 2001, 279. Vgl. Gaiser 1959 und Erler 1992. Piaton bietet keine Definition des Affektes (pathos); er verwendet das W'ort pathos vielfältig, z. B. als Emotion, die mit Lust und Schmerz verbunden ist (vgl. Phileb. 35e£).

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1. Affekte als Störenfriede Auch wenn bisweilen unterschiedliche Aspekte hervorgehoben werden, lässt sich in den Dialogen eine Grundhaltung gegenüber den Affekten erkennen, die sich durch Piatons gesamtes Werk zieht. Piaton bewertet Affekte durchgehend kritisch bis negativ, wenn es um das menschliche Streben nach Wahrheit und Glück geht. Wie Aristoteles und die hellenistischen Schulen nach ihm war auch Piaton überzeugt, dass alle Menschen nach Glück im Sinne eines erfüllten Lebens streben (eudaimonia). Die Frage „Wie soll ich leben?", damit ich glücklich bin, wird in der Volitela ebenso gestellt, wie im Gorgias (Gorg. 491 e) und darf als ausgesprochenes oder unausgesprochenes Leitmotiv beinahe aller Dialoge gelten.9 Und hier ist die Antwort für Piatons Sokrates eindeutig: Leitfaden für diese Glückssuche kann allein die Vernunft sein; nur wer sich an der Vernunft orientiert, kann erkennen, was wirklich zuträglich und gut ist; nur wer ihr folgt und alles meidet, was der Rationalität hinderlich ist, kann Glück erreichen. Im Kontext dieser Wahrheitssuche erweisen sich Affekte als Störfaktoren. Denn sie gelten Piaton als Ursache dafür, dass man den wahren Charakter von Dingen und Sachverhalten verkennt und sich deshalb unangemessen verhält. Affekte geraten deshalb in Widerspruch zur Vernunft und können zu einem innerseelischen Zwiespalt führen. 10 Als Quellen dieser irrationalen Störenfriede des Menschen werden von Piaton unterschiedliche Instanzen angegeben. Im Phaidon lokalisiert Sokrates die das Streben nach Wahrheit und Glück behindernden Affekte im körperlichen Bereich. Sokrates folgert dies aus der Beobachtung, dass „in tausend Fällen" „die Seele den körperlichen Bedürfnissen entgegentritt" (Phaed. 94b—c, Übers. Frede) und mit Empfindungen des Körpers (94b—c) wie Hunger, Durst, Furcht und anderen Emotionen in Konflikt treten kann (94d; vgl. 66e); dafür spricht ebenfalls, dass sich Affekte auch durch körperliche Reaktionen wie Erröten oder Erbleichen manifestieren. Noch der Timaios stellt einen engen Zusammenhang zwischen Affekt und Körper her, wenn er dem sterblichen Teil der Seele, die den Körper belebt, „mächtige und unabweisbare Affekte" zuspricht wie Lust, „des Schlechten stärksten Köder " (Tim. 69c, Übers. Schleiermacher).

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Zur eudaimonistischen Ethik Piatons vgl. Stemmer 1988. Zu Glück als Folge seelischer Harmonie und Kontemplation des Seins vgl. Rep. 443c—e, 519a—b; Phaed. 66bf£; Conv. 210aff.; Tim. 42eff. Vgl. Rep. 603eff.; Lg. 644cff.

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Mit eben diesem Konflikt von Vernunft und Affekt argumentiert Piaton dann auch in der Politela11, wo er freilich nicht mehr den Körper, sondern die Seele selbst für Emotionen verantwortlich macht. Demnach sind irrationale Instanzen als Quelle der Affekte in der Seele selbst zu lokalisieren. Im Wunsch, eine dem Staatsgebilde analoge Seelenstruktur zu entwickeln, spricht Piaton in der Volitela mit Blick auf unterschiedliche und einander widerstrebende Regungen oder Instanzen in der Seele und unter Berücksichtigung des Satzes vom Widerspruch von drei Seelenvermögen oder Instanzen (435aff.), dem vernünftigen (logistikon), dem aggressiven (thymoeides) und dem triebhaften (epithymetikon). 1 2 Diese Trennung der Seeleninstanzen ist freilich nicht in einem ausschließenden Sinne zu verstehen: Auch Affekten kommt nach Piaton ein kognitives Element zu. Ansonsten ist nicht zu verstehen, wie die unteren Seeleninstanzen erkennen können, dass Vernunft bzw. Philosophenkönige herrschen und kontrollieren sollen.13 Konflikte entstehen, wenn Gefühle fehlgeleitet werden. Die Möglichkeit für solche innerseelischen Konflikte veranschaulicht Piaton verschiedentlich durch Bilder; im Phaidros (246a— b), indem Sokrates die inneren Kräfte mit einem geflügelten Seelengespann, einem geflügelten Lenker und zwei geflügelten, ungleichen und deshalb schwer lenkbaren Pferden, vergleicht 14 , in der Politela durch das Bild vom Ungeheuer (588b—590d), das Menschenverstand, Löwenmut und eine vielköpfige Hydra von Begierden besitzt, die kontrolliert werden müssen und in den Nomoi durch das sogenannte Marionettengleichnis (644d—645b), wobei die Menschen von goldenen Zugdrähten der Vernunft aber auch eisernen Drähten anderer Seelenkräfte gezogen werden 15 . Alle diese Bilder illustrieren, was in den Dialogen immer wieder anklingt: Piaton sieht Emotionen und Vernunft in einem Konflikt miteinander, wobei Emotionen nur als Hindernis für rationales Handeln verstanden werden. Die Möglichkeit, dass Emotionen auch förderlich sein können, wird nicht in Erwägung gezogen. In diesem Zusammenhang wird zumeist empfohlen, dass die irrationalen Seelenregungen kontrolliert und 11 12 13 14 15

Vgl. Rep. 439c-e. In anderem Kontext ist von zwei Instanzen in der Seele die Rede (z. B. Rep. 602e—603a); vgl. Blössner 1997, 240. Piatons Phaidros (243eff.) bietet eine positive Form des Wahnsinns, der zu Erkenntnis befähigt. Dazu vgl. Heitsch in Piaton 1997a, 96ff. Zum Marionettengleichnis in den Nomoi (644d-645b) vgl. Schöpsdau in Piaton 1994, 23Iff.

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der Vernunft unterworfen werden sollen, will man Wissen und Glück erreichen (Rep. 590c—d). Die Dialoge bieten nicht nur theoretische Erörterungen, was Affekte sind und wo man sie zu lokalisieren hat. Sie reflektieren und illustrieren auch, wie Affekte menschliches Streben nach Wissen und Glück behindern (Rep. 588b—590d) und wie man mit ihnen umzugehen hat, um ihre schädliche Wirkung als Störenfriede rationaler Glücksuche zu minimieren, zu kontrollieren oder gar zu beseitigen, wobei bestimmte Haltungen bestimmten Emotionen zugeordnet werden wie Tapferkeit der Furcht, Besonnenheit der Begierde und Lust; Vernunft schließlich soll alle Affekte kontrollieren.

2. Sokrates und die Affekte Eine angemessene Einstellung zu den Affekten lässt Piatons durch seinen Protagonisten Sokrates diskutieren und auch lebensweltlich vorführen. Dem Leser wird auf diese Weise eine bis zur Unterdrückung der Affekte reichende Kontrolle als möglich 16 empfohlen. Denn in den Dialogen wird berichtet oder geschildert, dass und wie Sokrates seine Affekte in unterschiedlichen lebensweltlichen Situationen beherrschen, ja sich von ihnen geradezu befreien kann. In der Apologie weigert sich Sokrates ausdrücklich, an die Emotionen der Zuhörer zu appellieren. 17 Im Dialog Symposium berichtet Alkibiades, wie äußerst tapfer sich Sokrates in den Schlachten von Potidaia und beim Delion verhalten habe.18 Darüber hinaus schildert Alkibiades, wie er als Liebhaber unter Sokrates' Selbstbeherrschung in Liebesdingen zu leiden hatte (Conv. 217bf£). Eindrucksvollstes Dokument für Sokrates' kontrollierten Umgang mit Emotionen ist der Dialog Pbaidon, der Sokrates in seinen letzten Stunden vor der Hinrichtung zeigt und ihn dabei nicht zuletzt als Personifikation des Triumphes des Logos über menschliche Unzulänglichkeiten und Affekte vorstellt. 19 Im Phaidon nämlich, in dem Piaton beim Leser für sein neues Konzept von Philosophie wirbt, es von traditionellen Vorstellungen abgrenzt und als einzig angemessene Tätigkeit der rein rationalen menschlichen Seele

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Zu Sokrates als Ideal der Selbstbeherrschung vgl. Kahn 1996, 331. Vgl. Apol. 35b; dazu Heitsch in Piaton 2002, 143. Vgl. Conv. 220d-221b; Lach. 181b. Vgl. Erler 2007a.

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vorstellt, wird Sokrates zum Jixemplum und gleichsam zum Beleg dafür, dass und wie der Mensch auch unter widrigsten Umständen sein Schicksal tragen und auch angesichts des Todes Zuversicht und Tapferkeit bewahren, ja sogar glücklich sein kann. Piatons Sokratesfigur zeichnet eine geradezu heroische Selbstbeherrschung und nahezu vollständige Affektfreiheit aus. Sokrates verrät keinerlei innere Bewegung während der Diskussionen mit Kebes und Simmias oder als ihm Kriton ein Gespräch über seine Beerdigung aufdrängt (11 S e i l 6a), unwillig wird und dabei zu erkennen gibt, dass er die gesamte Argumentation nicht verstanden hat. Ruhig und beherrscht bleibt Sokrates auch, als er schließlich den Giftbecher erhält und trinkt (116b—117c). Er zeigt sich unberührt von den Klagen anderer, tröstet vielmehr seinerseits seine Freunde, als sie von Trauer übermannt zu werden scheinen. Seine Frau, seine Kinder und seine Angehörigen schickt er fort, als sie auf eine Weise in laute Klage ausbrechen, die an entsprechende Szenen im Drama erinnert.20 Sokrates behält die Fassung, hadert nicht mit seinem Schicksal oder klagt über ungerechte Behandlung — aganaktein (unwillig sein) ist ein Stichwort in diesem Zusammenhang nicht nur im Phaidon, sondern auch in der Apologie und im ΚήίοηΆ —, sondern erweist sich auch in den letzten Stunden seines Tebens als glücklicher Mensch. Der affektfreie Sokrates verhält sich also ganz anders als die Helden in der Tragödie oder im Epos, in denen Hingabe an Affekte bei Helden wie Achill oder hemmungslose Klage bei Göttern wie etwa Zeus angesichts des Todes seines Sohnes Sarpedons (Rep. 387d—388c) oder auch Unwille und Zorn über das jeweilige Schicksal etwa bei Herakles in der letzten Szene des gleichnamigen euripideischen Stücks nicht ungewöhnlich sind.22 Dieser Kontrast in Sokrates' Verhalten zum traditionellen Helden der Tragödie oder des Epos ist gewollt. Dies macht Piaton, der Autor, selbst deutlich, indem er seinen Protophilosophen kurz vor seinem Tod als Fazit seiner Argumentationen nicht nur die Notwendigkeit betonen lässt, körperliche Lüste beiseite zu lassen und sich der Lust der Forschung hinzugeben (Phaed. 114e), sondern ausdrücklich eine tragische Weltsicht ablehnen lässt, die ihn die Umstände seines Todes anders, ζ. B. mit Unwillen,

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Vgl. Phaed. 59e—60a, 116a—b und Sophokles, Oidipous Tyrannos 1071 ff.; Euripides, Alkestis 270ff. 21 Vgl. Phaed. 62d, 115cd; vgl. Apol. 35e, 41d. Darauf macht Szlezák 1985, 235ff. aufmerksam. 22 Vgl. Euripides, Herakles 1370ff.

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wie Kriton dies tut, bewerten ließe. 23 „Hätte ich die Sichtweise eines tragischen Helden" — so kommentiert er sein Verhalten —, „würde ich meine Situation ganz anders" — also unphilosophisch, so muss man ergänzen — „einschätzen" (115c, Ubers. Schleiermacher). In der Tat verhält sich Piatons Protagonist und antitragischer Held Sokrates, wie es Piaton in der Dichterkritik in der Volitela von einer philosophische Tragödie verlangt. Wie dort vorgegeben beweist Sokrates vollständige Kontrolle über die Affekte und ist in jeder Hinsicht besonnen, ruhig und gegen Wechselfälle des Tebens immun, weil er menschliche Belange großen Ernstes nicht für Wert hält. 24 Durch sein Verhalten illustriert Sokrates: Ein wirklicher Philosoph argumentiert nicht nur rein rational, adressatenbezogen und ergebnisorientiert. Er hat auch seine Affekte völlig unter Kontrolle und unterwirft sie dem Togos. Sokrates verzichtet auf Äußerungen und ein Verhalten, die auf Mitleid seiner Zuhörer und Freunde zielen, Affekte wecken oder diese gar verstärken könnten, wie es Piaton beim traditionellen Drama beklagt. 25 Schon in der Apologie hat sich Sokrates daran gehalten, indem er sich rhetorischer Strategien der Mitleidsweckung ausdrücklich enthält (Apol. 35b). Auf diese Weise wird Sokrates zum Exemplum für ein wahrhaft philosophisches, an Tugend orientiertes Teben (Tg. 732e) und zum Protagonisten der schönsten Tragödie, die das beste Teben nachahmt, von der Piaton in den Nomoi spricht (Lg. 817b), und die er in Kallipolis, seinem Idealstaat, zulassen würde 26 . Die durch Sokrates' Verhalten illustrierte antitragische Haltung im Umgang mit Affekten ist eindrucksvoll. Doch hat diese rigorose Haltung und Vorgabe für den wahren Philosophen, der einem Leitbild folgt, das in Emotionen nur einen fehlerhaften Charakter erkennen kann und deshalb nach Ausschaltung der Emotionen strebt, moderne Interpreten auch irritiert und bei ihnen Unbehagen hervorgerufen. 27 23

24 25 26

27

Vgl. Phaed. 115a-c; dazu auch Halliwell 1984; ders. 2002, 106f.; vgl. auch Sokrates' Erklärung, warum er die Frauen fortschickte: Phaed. 117de mit Rep. 387e und 605e. Vgl. Rep. 380e-381d, 387e, 604e, 605c-e. Vgl. Halliwell 2002, 112f£; Giuliano 2005, 102f£, 122, 325. Vgl. Lg. 817b; dazu Görgemanns 1960, 66-69; Schöpsdau in Piaton 1994, 596ff. Zu Piaton und der Tragödie vgl. Kuhn 1941, 1942 und 1969; Gaiser 1984; Halliwell 1984, bes. 55f. Dies führt Martha Nussbaum (Nussbaum 1986, besonders das Kapitel „Plato's anti tragic theatre") dazu, Piatons antitragischer Haltung ein Verkennen der Bedeutung von Scheitern und Macht des Irrationalen im menschlichen Leben vor-

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3. Sokrates' Partner und ihre Emotionen: Phaidon Freilich ist diese Bewertung nur gerechtfertigt, wenn man sich allein an Piatons Ideal des Philosophen und dessen Verkörperung durch Sokrates sowie seinem Streben nach Wahrheit und Glück orientiert. Dies mag in der Tat Piatons Hauptintention bei der Gestaltung seiner Sokratesgestalt und der Schilderung des Dialoggeschehens entsprechen. Doch nicht erst in den späten Λìomoi gibt Platon zu erkennen, dass er nicht nur zu Philosophen, sondern auch zu Menschen spricht (Lg. 732e, Ubers. Schöpsdau). Das gilt für das Personal in den Dialogen, das gilt aber auch für die von ihm erwartete Leserschaft. Jedenfalls konfrontiert Piaton schon in früheren Dialogen seinen Protagonisten Sokrates mit Partnern und rechnet offenbar mit ebensolchen Lesern, die gewöhnliche', von Affekten ,belastete' Menschen mit ,tragischer Lebensperspektive' und deshalb anfállig für Emotionen sind und deren Möglichkeiten, Glück zu erwerben, er deshalb infrage stellt.28 Die dramatisch-dialogische Gestaltung erlaubt Piaton, diese Affektanfälligkeit unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und auch beim Verhalten der gewöhnlichen Menschen mit ,tragischer Weltsicht' Differenzierungen und Nuancierungen erkennen zu lassen, die eine graduelle Bewertung erlauben, ohne dabei die Präferenzen für das Ideal der Sokratesfigur aus dem Blick zu verlieren. Gerade unter diesem Aspekt ist der Dialog Phaidon ein wichtiges Zeugnis, obgleich dieser Dialog doch eigentlich an Nicht-Philosophen appelliert, Philosophen im Sinne Piatons zu werden, und deshalb eine scharfe Trennlinie zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, hinsichtlich ihres jeweiligen Umgangs mit Affekten und ihrer Chancen, Glück zu erlangen, zieht. Doch lässt gerade dieser platonischeprotreptikos zur Philosophie erkennen 29 , dass Piaton neben dem Ideal auch mit anderen Möglichkeiten des Umgangs mit Affekten rechnet. Dieser Dialog deutet an, dass es nicht nur radikale Ablehnung der Affekte geben muss, sondern dass — im Rahmen der antitragischen Sichtweise des Lebens — Umgangsformen mit Affekten vorkommen, die das philosophi-

28 29

zuwerfen und diese Erkenntnis erst wieder Aristoteles und den hellenistischen Schulen zuzusprechen. Nimmt man jedoch Piatons Haltung gegenüber ,anständigen Menschen' und ihren Umgang mit Affekten, ergibt sich ein differenziertes Bild, das auf Aristoteles und den Hellenismus vorausweist; vgl. Gallop 2001, 279ff. Zur Bedeutung des Denkniveaus vgl. Erler 1987, 280f£; Blondell 2002; zum Phaidon vgl. Sedley 1995. Zum protreptischen Charakter des Phaidon vgl. Blössner 2001.

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sehe Ideal nicht ersetzen, jedoch das Leben der Menschen mit tragischer Perspektive im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch für Piaton akzeptabel erscheinen lassen. Der Phaidon ist nämlich nicht nur Zeugnis des Triumphes des Verstandes über die Furcht, des Vertrauens auf den Logos und der konsequenten Anwendung seiner Folgerungen auf das eigene Verhalten. Er dokumentiert auch Missverständnisse gegenüber rationaler Argumentation 30 infolge von Furcht und Misstrauen, Unwillen (aganaktein) über Sokrates' Schicksal, und — besonders in der letzten Szene — Trauer über Sokrates' Tod und den Verlust eines so wichtigen Freundes; offenbar genau das Gegenteil dessen — so scheint es —, was Piaton von einer philosophischen Tragödie erhofft und bei einer traditionellen Tragödie tadelt. Ein Appell an die Emotionen, dem sich auch die Leser des Phaidon zu allen Zeiten kaum haben entziehen können. 31 Betrachtet man Figuren wie Kebes und Simmias, Sokrates' Frau, Kriton, Apollodoros oder Phaidon, aber auch den Wächter, dessen edle Trauer von Sokrates sogar gelobt wird, ergibt sich ein breites Spektrum emotionaler Reaktionen auf Sokrates' Schicksal. Sokrates' Frau und die anderen Frauen sind voll ungehemmter Trauer und Klagen über Sokrates' bevorstehenden Tod. Sie, wie auch der Wächter, haben am philosophischen Gespräch nicht teilgenommen und deshalb keine Chance zu verstehen, warum Trauer und Klage über Sokrates' Tod nicht berechtigt sind, warum der Anlass — Sokrates' bevorstehender Tod — für ihn kein Übel ist. Etwas anders steht es mit Kriton. Er war Zeuge der Diskussion, hat aber offenbar dennoch nicht verstanden, dass die vernünftige Seele, nicht der Körper das wahre Selbst des Sokrates ist, das unsterblich ist. Deshalb sorgt er sich um Sokrates' Beerdigung (Phaed. 115c) und ist und bleibt unwillig {aganagktein) über Sokrates' Tod. Er hat nicht verstanden, dass Furcht vor dem Tod und Trauer bei Sokrates unangemessen sind. Nicht ganz so extrem steht es mit Sokrates' Partnern Kebes und Simmias. Gewiss, Kebes und Simmias sind philosophisch interessiert, gebildet und vertraut im Umgang mit Argumenten. Sie wollen sich der Macht des Logos beugen und sich überzeugen lassen. Sie geben sogar schließlich zu, dass Sokrates schlüssig argumentiert. Doch ist auch ihr Verhältnis zum 30 31

Vgl. Dalfen 1994. Halliwells Folgerung freilich, „that Plato the tragedian has not been wholly supressed by Plato the metaphysician" (Halliwell 1984, 58), berücksichtigt zu wenig, dass für Platon die gewählte literarische Darstellungsweise auch der agierenden Personen Teil der jeweiligen philosophischen Botschaft ist.

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Logos ambivalent, ist bisweilen geprägt von Misstrauen, Zurückhaltung und Unglauben. 32 Eben diesem negativen Einfluss, diesem Misstrauen, sucht Sokrates mit seiner Argumentation zu begegnen. Aufmunterung und Trost möchte er bringen {paramuthia, 70b) und Vertrauen wecken. Und das heißt für ihn offenbar vor allem: Reinigung von Furcht und anderen Affekten bei seinen Partnern. Von den Beweisen verlangt er deshalb Plausibilität, nicht aber notwendig Vollständigkeit. Seine Partner scheinen zunächst die Argumentation und ihr Ergebnis zu akzeptieren. Doch zeigen sie sich dann wieder ungläubig (77e), obgleich sie zugeben, keinen Grund hierfür benennen zu können (91c—d). Kebes will also glauben, ist auch eigentlich überzeugt; aber es bleibt Misstrauen — denn es könnte noch anderes zu sagen sein (Phaed. 107b). Es ist, als sträube sich etwas in ihm, die Folgerungen aus den Argumentationen anzunehmen und zur Maxime eigenen Verhaltens zu machen — und das nicht nur, weil es bisweilen zu Ungereimtheiten kommt. Diesem ,Etwas' als Quelle jener Furcht gibt Piatons Sokrates im Phaidon einen Namen: Es wird als ,Kind im Mann' bezeichnet (77d—e).33 Mit dem Bild vom Kind im Mann als unabhängige Quelle von Affekten und als Adressat einer Art rationaler Affekttherapie durchbricht Piaton die strenge Seele-Leib-Dichotomie im Phaidon, indem er spielerisch eine weitere Quelle für Affekte im Inneren des Menschen einführt. Er weist damit auf das voraus, was in der Politela dann argumentativ als eigene innerseelische Instanz für Affekte etabliert wird. Zugleich wird die Therapiefähigkeit von Affekten zumindest angedeutet, obgleich diese Kur bei Kebes und Simmias wenig erfolgreich zu sein scheint.34

32 33 34

Zum Folgenden vgl. Erler 2004. Vgl. Erler 2004, l l l f f . Die Dichotomie rational (= Seele) - irrational (= Körper) wird durch die Metapher vom Kind im Menschen als Quelle irrationalen Handelns gemildert und dadurch vorweggenommen, was in der Volitela entwickelt wird, vgl. Erler 2004. Offenbar ist dafür, dass ein Bild und kein Hinwies auf eine Seeleninstanz geboten wird, der Kontext iprotrepse) verantwortlich, wie das fur ein ähnliches Bild, „Kallikles in Kallikles" im Gorgas, mit Recht angenommen wird (vgl. Rowe 2007). An die gleiche situative Argumentations Strategie ist wohl in der Volitela zu denken, ehe man eine Änderung in Piatons Denken oder eine Ablösung von Sokrates' Intellektualismus erwägen sollte (dazu Cooper 1999, 76—117). Eine Änderung in Piatons Haltung nimmt an: Rowe 2007.

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4. Affekte der ,anständigen Menschen' Anders ist dies jedoch bei Phaidon, dem Erzähler des Geschehens (89a). Auch er ist nicht frei von Emotionen, empfindet Trauer, bei der philosophischen Diskussion (59a) kann er Tränen nicht zurückhalten (117d) und hat gemischte Gefühle aus Lust und Schmerz, weil er einen guten Freund zu verlieren hat. Doch sucht Phaidon seine Trauer zu verbergen und zurückzuhalten. Vor allem reflektiert er mit Erstaunen darüber, dass er kein Mitleid, keine Emotion empfunden habe, wie er es eigentlich erwartet hätte. Er führt dies darauf zurück, dass Sokrates glücklich gewesen sei und dies auch für das Jenseits erwatet habe (58e). Phaidon hat verstanden, dass der Tod nicht zu fürchten, deshalb für Sokrates kein Übel ist und dieser deshalb glücklich sein konnte. Sokrates' emotionsfreies, sozusagen antitragisches Verhalten bewirkt bei Phaidon also keine Stärkung der Emotionen, was Piaton beim Betrachten von Tragödien befürchtet. Vielmehr wird die rationale Seele Phaidons durch das ,Schauspiel' gestärkt. Denn Phaidon schätzt die ,vorgeführte' Situation im Sinne Piatons also richtig ein und nutzt diese Analyse zur Kontrolle seiner Affekte. Genau einen solchen Umgang mit Emotionen aber empfiehlt Sokrates im Rahmen seiner Dichterkritik in der Politeia (603effi). Trotz aller grundsätzlichen Kritik an Affekten konzediert Sokrates dort nämlich (604b)35, dass Menschen von Affekten nicht nur befallen werden können, sondern dass dies bei entsprechenden Verhaltensweisen nicht notwendig negativ gewertet werden muss. Folgende Vorgaben müssen aber beachtet werden: a)

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Man soll nicht mit Unglück und Schicksal hadern ('aganaktein) (Rep. 604d )36, weil man ja nicht weiß, ob die Ursache des Affektes gut oder schlecht ist, d. h. man soll sich nicht verhalten wie Kriton im Dialog Phaidon-, eine Forderung, der Sokrates im Phaidon, aber auch bei seiner Verteidigung vor den Richtern in der Apologie nachkommt (37b): „Wie kann ich an Stelle dessen, von dem ich nicht weiß, ob es gut ist oder schlecht ist — der Tod, etwas wählen, von dem ich genau weiß, dass es schlecht ist [sc. das Gefängnis]" (Apol. 37b., Piaton 2002, Übers. Heitsch).

Vgl. Rep. 605c, 606d; dazu Halüwell 2002, 112f£; Giuliano 2005, 102ff., 325. Damit wird ein Leitmotiv des Phaidon in der Volitela an einschlägiger Stelle aufgegriffen.

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b) Weiterhin soll man generell (Rep. 604b—d) menschliche Belange nicht allzu ernst nehmen. c)

Vor allem aber gilt es zu beachten, dass übermäßige Trauer einer vernünftigen Einschätzung der Situation und der Fähigkeit im Wege stehe, sich vernünftig auf die Situation einzustellen.

Sokrates wünscht sich vielmehr, dass wir es nicht so machen wie die Kinder, die sich gestoßen haben und nun die schmerzende Stelle halten und fortwährend schreien. Sondern wir müssen die Seele allezeit daran gewöhnen , das Gefallene so schnell als möglich wieder aufzurichten [...] und so durch die Heilkunst die Klagelieder zum Verstummen zu bringen (Rep. 604c-d, Übers. Schleiermacher).

Drei Hilfsmittel für einen richtigen Umgang mit Emotionen wie Trauer werden also empfohlen: übergreifende Einordnung des Schicksalsschlages in den allgemeinen Kontext menschlicher Existenz, vernünftige Analyse des Geschehens, wiederholte Übung zur Heilung und Wiederaufrichtung. Freilich richtet sich diese Aufforderung an einen bestimmten Adressatenkreis. Einem anständigen Mann (aner epieikes, Rep. 603e) konzediert Sokrates, Emotionen, z. B. Trauer beim Verlust eines lieben Angehörigen, zu empfinden. Sokrates behauptet, dass ein derartiger Mensch mit Affekten leichter bzw. besser umgehen kann als ein anderer, dass er Maß halten und dass er gegen Schmerzen ankämpfen wird, „wenn er von seinesgleichen gesehen wird, wie Vernunft \phronesis\ und Gesetz bzw. Sitte \nomos\ es verlangen" (604b—c, Ubers. Schleiermacher). Er kann mit Affekten umgehen, weil er beherzigt, was Sokrates verlangt: Gewöhnung, Maß, Vernunft, Übung, Situationsanalyse. Wer aber kann mit Affekten auf die gewünschte Weise umgehen? Kaum sind Philosophen wie Piatons Protophilosoph Sokrates gemeint, der sich durch Affektfreiheit auszeichnet. Aber auch nicht einfach gewöhnliche Menschen. Sokrates selbst trennt derartige „anständige" Männer von den anderen Menschen (603e5). Ein Hinweis Sokrates' (603e 4—5) auf frühere Ausführungen im dritten Buch (387ff.) macht klar, dass es sich bei den Menschen um die Wächter, also die zweithöchste Klasse in Kallipolis handelt. Von diesen Wächtern verlangt Sokrates (375e) über Antrieb zum muthaften Verhalten zu verfügen, aber auch, Affekte wie Todesangst zu kontrollieren (387cff.) und es gelassen zu ertragen, wenn Angehörige sterben oder ein Unglück erleiden (387e). Diese bezeichnet er als anständige Männer (epieikeis andres) — oder Wächter. Sie zeichnen sich durch traditionelle Tugend aus, die auf Meinung beruht, „nahe dem Körper ist" sowie durch Übung gestützt wird

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(519a, vgl. 429b, 430c) und entsteht, wenn die Affekte der Vernunft gehorchen (442c). Damit ist im idealen Fall die eigene Vernunft {logos) (441 e), aber auch fremde Vernunft gemeint, etwa die von Vorbildern, Sitte {nomos) oder Bildung (paideid) (429c, 430a—b). Sie erlangen zwar kein vollkommenes Glück, wohl aber eine relative Eudaimonie?1 Wir haben es also mit einer Gruppe von Menschen zu tun, die sich durch Affektanfálligkeit auszeichnen, die Affekte aber kontrollieren können, wenn sie bestimmte Vorgaben erfüllen: Analyse der Ursache der Emotion, wobei diese nicht notwendig von ihnen selbst stammen muss; Bereitschaft, sich auf eine Situation einzustellen, Bereitschaft, sich Vorgaben durch nomos, Tradition oder Erziehung zu beugen. Genau davon aber berichtet Phaidon im gleichnamigen Dialog. Es geht Sokrates darin um die Analyse und um die Bewertung der Ursache einer Emotion angesichts des Todes; es geht um den Versuch, durch eine richtige Bewertung des Anlasses einer Emotion — den Tod — die entsprechende Emotion wenn nicht zu beseitigen, so doch zu kontrollieren: Ersteres gelingt Sokrates und zwar aus eigener Kraft — er besingt sich selbst, wie es heißt (Phaed. 114c); letzteres Phaidon, indem er nicht sich selbst, sondern sozusagen das Kind in sich (77e) vom Philosophen Sokrates mit Argumenten und Hinweisen auf den nomos überzeugen lässt. Die Differenz zwischen dem platonischen Protophilosophen Sokrates und Phaidon sowie ihrem jeweiligen Umgang mit Emotionen entspricht jenen Vorgaben, die Sokrates in der Politela für die anständigen Menschen und den wahren Philosophen macht. 38 Wenn sich Sokrates im Phaidon wie ein antitragisch-philosophischer Held verhält, dann Phaidon wie ein anständiger Mensch im Sinne der Politela. Denn er hat erkannt, dass und warum Sokrates heiter in den Tod geht — weil nämlich der Tod für ihn kein Übel ist —, und empfindet deshalb keine Trauer oder Mitleid. Er weiß also, ob es gut oder schlecht ist, was bei anderen Trauer auslöst: Tod für Sokrates. Er hat sich auf die Situation eingestellt, ist zwar dennoch nicht frei von Emotionen, richtet sich aber wieder auf. Er kann also die Situation leichter ertragen als die Frauen, die — um mit der Politela zu sprechen — „wie Kinder, die sich gestoßen haben und nun die schmerzende Stelle halten und fortwährend reiben"

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Dass Nicht-Philosophen nicht glücklich sein können, ist die These von Bobonich 2002; zu Recht bestritten von Kahn 2004, bes. 351; Brisson 2005; vgl. Rep. 472d; (sowie 429c; 430a—b); meine Beobachtungen sprechen ebenfalls gegen die These. Erler 2007a, 70ff.

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(604c, Üb. Schleiermacher), ihren Affekten ausgeliefert sind. Phaidon hat zwar nicht selbst die Lösung gefunden, hat sich aber durch das Spiel des antitragischen Helden Sokrates im Sinne Piatons beeinflussen lassen.

5. Affekt und Therapie Für Piatons Affektenlehre ergibt sich: Mit Blick auf den Protophilosophen Sokrates darf man von einem platonischen Konfliktmodell zwischen Affekt und Vernunft sprechen. Das Verhalten von Phaidon lässt jedoch erkennen, dass Piaton auch der ,tragischen Weltsicht' gewöhnlicher Menschen positive Aspekte abgewinnen kann und die Zerbrechlichkeit des Glücks bei seiner Analyse berücksichtigt. 39 Die Politela argumentiert und der Phaidon illustriert, dass auch Nicht-Philosophen auf einen Anteil am Glück hoffen dürfen, wenn sie mit ihren Affekten richtig umzugehen wissen. Unter den nicht-philosophischen Seelen können diejenigen als besonders glücklich gelten, die der gewöhnlichen Tugend mithilfe von Gewöhnung und Übung nachstreben (82a—b). Kebes vergleicht solche Menschen mit Ameisen oder Bienen. 40 Ziel ist hier nicht Ausrottung oder Minimierung der Affekte, sondern Aufnahmebereitschaft für den Logos. Es geht um die Bereitschaft, Vernunft (logos) anzunehmen, um mit ihr Emotionen zu kontrollieren. Was der Phaidon andeutet, wird in der Politela Teil jenes Programms, das Sokrates als Kern seines Paideiaverständnisses propagiert (401d-402a). Schönes und Richtiges soll man lieben lernen und annehmen, Falsches und Hässliches tadeln und dabei zu einer Harmonie mit dem Logos gelangen. Von zentraler Bedeutung für die paideia des gewöhnlichen Menschen wird daher der Aspekt der Gewöhnung, von dem im Phaidon in Form des Bildes vom „Besingen" die Rede ist. Was der Dialog Phaidon über Pflege des irrationalen Selbst als praeparatio für Belehrung nur andeutet, was dann in der Politela formuliert wird, das wird in den Nomoi zu einem wesentlichen Motiv der Erziehung. Dies kann kaum erstaunen. Denn in den Nomoi geht es gerade um die Erziehung gewöhnlicher Menschen für einen Staat, der von Gesetzen und nicht ausschließlich Philosophen beherrscht wird. Mit Recht hat man auf die Kontinuität dieses Aspektes der paideia bei Piaton hingewiesen: Gewöhnung des vernunftlosen 39 40

Anders Nussbaum 1986. Vgl. Phaed. 82a-b.

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Kindes an den Logos mithilfe der paideicfi1 ist der Grundgedanke der Paideia-Konzeption auch in den Nomoi42. Denn es geht in den Nomoi vornehmlich um den affektbelasteten Normalmenschen (Lg. 732e) — verstanden als „Kind" im übertragenen Sinne — und deshalb verstärkt um jene Pflege des irrationalen Selbst, die für die Aufnahmebereitschaft für den Logos notwendig ist.43 Denn nicht zuletzt dies macht beim Nichtphilosophen Tugend aus (653b). Kontinuität vom Phaidon bis zu den Nomoi hinsichtlich der Affekttherapie wird also deutlich, wenn man nicht nur auf Sokrates, sondern auch auf das übrige Verhalten des Personals der Dialoge achtet. Aus Sokrates', aber auch Phaidons Umgang mit Affekten, wie der Dialog Phaidon sie illustriert und die Politela sie erläutert, ergibt sich eine weitere Folgerung: Wenn Sokrates seine Affekte nahezu beseitigen, wenn Phaidon sein „Kind im Mann" mit rationalen Argumenten besingen, d. h. unter Kontrolle bringen kann, wenn Sokrates generell erwartet, dass ein anständiger Mensch seine Affekte durch Analyse von Situation und Anlass beeinflussen kann, dann müssen die Affekte und ihre Quelle, die irrationalen Seeleninstanzen, rational beeinflussbar sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann Pia ton als Ziel der Erziehung vorgeben, die menschlichen Affekte der Vernunft gefügig zu machen. Anders als später die Stoa und das von stoischen Vorstellungen beeinflusste 18. Jahrhundert 44 geht Piaton also keineswegs von einer radikalen Dichotomie von Vernunft und Affekt aus, die eine Beeinflussung ausschließt45. Piaton akzeptiert vielmehr die Existenz kognitiver Elemente in Affekten in der Uberzeugung, dass eine gewisse Art von Erkenntnis dem Auftreten von Affekten vorausgehen muss: 46 Auch ein homerischer Held muss bemerken, dass seine Ehre beschädigt wird, ehe er in Zorn gerät;47 ebenso muss man tragische Umstände zunächst als tragisch erkennen, um dann Trauer empfinden zu können. Wer Unrecht erleidet, verbindet damit eine Erkenntnis, die zu einem emotionalen Zustand und damit zur Behinderung vernünftiger Über41 42 43 44 45 46 47

Zum Verhältnis der Nomoi zur Volitela unter diesen und anderen Gesichtspunkten vgl. Schöpsdau in Piaton 1994, 126ff.; Erler 2007b, 207f. "Zsai pmdeia in den Nomoi vgl. Görgemanns 1960, 155ff. und Schöpsdau in Piaton 1994 (Buch I U I ) , 253ff. Dazu Schöpsdau in Piaton 1994, 255. Vgl. Abel 1978. Vgl. Cessi 1987, 127ff. Vgl. Schmitt 2003, 346. Vgl. Schmitt 2003, 395 (mit Blick auf Homer, llias 23, 566-611).

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legungen führen kann. Eine solche Störung ist Folge einer kognitiven Tätigkeit, die freilich nicht als bewusste Reflexion im modernen Sinn verstanden werden muss. 48 Gleichwohl kann eben hier eine rationale Therapie ansetzen, welche Emotionen durch Analyse von Situation, Anlass und Disposition des Handelnden kontrollieren will, wie Sokrates es verlangt und in den Dialogen vorführt. Der Phaidros bestätigt dies. Denn in diesem Dialog analysiert Sokrates die Tiebe zunächst als erotischen Wahn (243e—257b), der sich freilich dadurch auszeichne, dass er den Tiebenden von dem geliebten Einzelnen im sinnlichen Bereich zum allgemein Geliebten im ewigen Bereich empor führt. Damit erhält der Affekt Eros eine kognitive Funktion, wie sie der Philosophie zukommt, indem sie vom phänomenal Einzelnen zur Erkenntnis des Geistigen hinaufführt. Piatons Konzeption der Affekte konvergiert in dieser Hinsicht mit modernen Auffassungen 49 , die das kognitive, rational beeinflussbare Element im Bereich der Affekte betonen.

6. Qualität der Affekte: Philehos Piatons kritische Bewertung der Affekte und seine Vorgaben für einen angemessenen Umgang mit ihnen orientiert sich zumeist an ihrer Quantität und zielt auf deren Kontrolle. 50 Doch kommen bei der Beurteilung der Affekte auch andere, qualitative Aspekte zur Sprache.51 Ansätze hierfür finden sich schon im Phaidon in eben jenen Äußerungen Phaidons, mit denen er seine ungewöhnliche Emotionslage während der letzten Stunden des Sokrates kommentiert 52 , wonach er kein Mitleid (eleos), sondern nur eine ungewohnte Mischung von Schmerz und Tust (59a) angesichts der Tatsache empfanden habe, dass Sokrates bald sterben werde. Wir wiesen schon darauf hin, dass Phaidon einen Grund für seine besondere Gefühlsanlage in jenem untragischen Verhalten und Reden des Sokrates und in dessen Zuversicht sieht, nach dem Tod werde es ihm 48 49 50 51 52

Zur Problematik kognitiver Emotionstheorien mit Blick auf Aristoteles vgl. Rapp in Aristoteles 2002, bes. Bd. 2, 542ff., 559ff. Dazu vgl. Schmitt 1994, 585ff.; ders. 2003, 288ff. Vgl. die Messkunst der Lüste im Prot. 351b-358a. Vgl. dazu Frede 1992. Zum Folgenden vgl. demnächst Erler, Michael, Trauer und Lust. Emotion und Tragödie im Philebos (im Erscheinen).

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nicht schlecht gehen. Freilich, so analysiert Phaidon weiter, fröhlich sei er auch nicht gewesen, obgleich es sich im Gefángnis um die üblichen philosophischen Gespräche gehandelt habe. Wie seine Freunde empfindet Phaidon also Schmerz über die Trennung von Sokrates und hat nicht die gewohnte Freude am philosophischen Gespräch, zugleich aber auch Lust, die sich freilich wesentlich von der Art von Lust unterscheidet, von der sonst im Phaidon die Rede ist. Lust wird im Phaidon zumeist in Beziehung zum Körper gesetzt und deshalb als problematisch angesehen. 53 Denn — wie Sokrates einmal erläutert — wird „in diesem Zustand die Seele am meisten von dem Leibe gebunden" (83c, Ubers. Schleiermacher). Körperliche Lust ist auch gemeint, wenn Sokrates auf dem Bett sitzend dezidiert bestreitet, dass Lust zugleich mit ihrem Gegensatz Schmerz beim Menschen vorkommen könne (60b; vgl. 83b—e). Allein gegen Schluss des Phaidon (114e) ist von einer Lust beim Lernen, also von einer seelischen Lust, die Rede, die der Seele angemessen und positiv zu bewerten sei, ein Aspekt, der später in der Politela aufgegriffen wird, wenn es um die geistige Lust des Philosophen beim Wissenserwerb geht (580d—583a). Ansonsten bleibt es bei der grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber der Lust. Allein im Protagoras scheint Sokrates der Lust positive Züge abzugewinnen (351c). Doch wird dort die Lustthematik nur eingeführt, um Sokrates' Argument zu stärken, dass Tugend Wissen sei. Die Akzeptanz der Lust in diesem argumentativen Kontext soll zeigen, dass sich selbst auf hedonistischer Grundlage die Notwendigkeit und der Vorrang des Wissens vor Lust erweist. 54 Vor diesem Hintergrund ist Phaidons Selbstanalyse bemerkenswert. Zwar handelt es sich bei Phaidons Lust angesichts von Sokrates Tod ebenfalls um eine seelische Lust. Jedoch unterscheidet sich diese Lust von der beim Lernen durch einen wichtigen Aspekt. Denn anders als Lust beim Lernen begleitet die Lust Phaidons keine Tätigkeit, sondern resultiert aus der Erwartung, dass es Sokrates im Hades gut gehen werde, d. h. dass der Tod kein Übel für ihn ist. Diese Erwartung ist ursächlich verbunden mit Sokrates' Tod und damit mit Trennungsschmerz. Sie bewirkt aber Lust, weil sie getragen wird von der von Sokrates vorgelebten und argumentativ begründeten Uberzeugung, dass die Seele unsterblich ist, dass Gerechtigkeit im Jenseits belohnt wird und dass Sokrates deshalb im Jenseits so glücklich sein wird, 53 54

Vgl. Phaed. 66c, 83d, 94bc. Vgl. Manuwald in Platon 1999, 382.

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wie er es im Diesseits ist. Deshalb empfindet Phaidon trotz der Trennungsschmerzen also Lust als etwas Positives. Denn die ihr aufgrund philosophisch begründeter Uberzeugung zugrunde liegende Erwartung scheint einlösbar. Deshalb überwiegt in der Mischung von Lust und Schmerz bei Phaidon das Element der Lust, wird der Trennungsschmerz gemildert und empfindet Phaidon kein Mitleid. Es zeigt sich, dass der Affekt hier nicht wie sonst unter quantitativen, sondern unter qualitativen Gesichtspunkten beurteilt wird; die Emotion wird verstanden und bewertet als Mischung von Schmerz und Erwartungslust; ihre Qualität wird bestimmt mit Blick auf Mischungsverhältnis und Anlass. Die Möglichkeit einer qualitativen Beurteilung von Affekten wird auch im Gorgias angedeutet, wenn Sokrates Kallikles eine inhaltliche Differenzierung zwischen qualitativ besseren und schlechteren Lüsten abzwingt, über die ein besonderes Wissen zu urteilen habe (Gorg. 494c—500a); sie liegt ebenfalls dem 9. Buch der Politela zugrunde, wenn Sokrates dort die mit Philosophie verbundene Lust anderen Lüsten für haushoch überlegen erklärt.55 Vor allem aber wird der qualitative Aspekt bei Bewertung und Therapie von Affekten zum Thema im Dialog Philebos, wo die Lust als Erwartungshaltung verstanden und verlangt wird, dass das Lustreben sich in Eintracht mit Vernunft auf das Gute auszurichten hat (21 d—23b, 66d— 67b). Affekte werden im Philebos als integraler Bestandteil des Lebensglücks angesehen und akzeptiert. Man kann sagen, dass Piaton hier jene Perspektive auf das Leben des gewöhnlichen Menschen bei der Betrachtung der Affekte, jene ,tragische' Lebensperspektive, zur Grundlage seiner Ausführungen macht, von der er sich im Phaidon distanziert. In der Tat spielt er an entscheidender Stelle auf eben diese Perspektivenwahl auch im Philebos an. Mit gutem Grund gilt die moralische Beurteilung von Emotionen, wie sie im Philebos diskutiert wird, als bedeutsam und zukunftsweisend. 56 Zwar ist im Philebos von einer Behinderung und Störung der Vernunft durch irrationale Seelenteile keine Rede. Gleichwohl werden auch im Philebos die Affekte zumeist negativ bewertet und kritisch diskutiert: Dies geschieht freilich unter einem neuen Gesichtspunkt, der nicht zuletzt mit der Perspektive auf den gewöhnlichen Menschen zusammenhängt. Denn im Phi55 56

Es gibt demnach bessere und schlechtere Lust, vgl. Hermann 1972, 38ff.; Piaton 1997b, 223ff. Vgl. Frede in Platon 1997b, 290.

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lebos wird der Lust im Leben ein bestimmter Rang zugebilligt 57 und die Gefühle werden als komplexe Gebilde verstanden, die sich durch eine Mischung von Lust und Schmerz auszeichnen. Um sie beurteilen zu können, muss der jeweilige Gehalt, die Art der Mischung und das jeweilige Objekt der Affekte untersucht werden. Es macht demnach einen Unterschied, worüber man sich ärgert oder freut, warum man trauert oder Schmerz empfindet und wovon man sich Hilfe oder Heilung erwartet. Anlass und Inhalt der Affekte werden zu Kriterien für ihre differenzierte Bewertung. Im Philebos (31b—59d) werden verschiedene Arten von Lust und Erkenntnis diskutiert. Dabei kommen seelische Emotionen wie Furcht, Zorn, Trauer und Wehklage zur Sprache. Sokrates' Analyse ergibt, dass es sich um Mischungen von Schmerz und Lust handelt, die gegenüber reiner Lust negativ bewertet werden, und zwar auf differenzierte Weise (47d— 50e). Ausschlaggebend ist, dass bei Emotionen immer Schmerz mit Lust verbunden ist, sodass Emotionen grundsätzlich zwar negativ zu bewerten sind. Da jedoch der Anteil an Schmerz differiert, ergeben sich auch Differenzen in der Beurteilung. Kriterium für die Bewertung sind Anlass und Inhalt der Affekte, also die Frage, worüber man trauert, zornig ist oder wovor man Furcht hat. Sokrates erläutert dies am Beispiel des Zorns, den Achill in der Ilias empfindet (IL 18, 108-9; Phileb. 47e). Achill ist zornig und erbittert über seine Kränkung durch Agamemnon, gleichzeitig aber fühlt er sich von Lust wie von süßem Honig erfüllt. Homer bestätig somit, was nach Sokrates bei Kränkung immer gilt: Der Schmerz über die erlittene Kränkung geht einher mit einer Lust, die aus der Erwartung entspringt, sich bald rächen zu können. 58 Lust also als Folge einer Erwartung: Zunächst scheint dies nur ein für den Zorn spezifischer Mischungsaspekt zu sein. Doch gilt dies nach Piaton auch bei anderen Affekten. Immer spielt Erwartungslust eine Rolle und ist für die Bewertung von grundlegender Bedeutung. Dies zeigt Sokrates am Beispiel emotionaler Erfahrungen von Zuschauern bei Komödien und Tragödien. Obgleich es auf den ersten Blick nicht plausibel zu sein scheint, insistiert Sokrates darauf, dass bei der Komödie die Zuschauer eine Mischung von Schmerz und Lust befällt (48b). Dabei geht er von einer negativen Grundstimmung als Konstante menschlichen Verhaltens aus: der Missgunst, die den Mitmenschen nichts 57 58

Die beste Lebensweise ist die, welche Vernunft und Lust mischt (Phileb. 22a, 65a, 66d). Vgl. Frede in Piaton 1997b, 284.

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Gutes gönnt. An diese Missgunst, so argumentiert Sokrates, appellieren die Komödien. Sie sei eng verbunden mit und geradezu Voraussetzung für jene Lust, die sich einstellt, wenn — wie in der Komödie üblich — das Missgeschick und das törichte Verhalten schwacher Personen vorgeführt werde, die keine Schuld auf sich geladen haben (48dff.). Ob eine solche Analyse des Komödieneffektes beim Zuschauer plausibel erscheint, sei hier dahingestellt. Wichtig ist der Umstand, dass auch hier die Rezeptionshaltung des Komödienpublikums unter Hinweis auf eine Mischung von Emotionen beschrieben wird und dass für die Bewertung wiederum Anlass und Inhalt der Emotionen als Kriterien dienen. Jede Lust beim Betrachten einer Komödie hat eine negative Komponente, weil sie auf Missgunst beruht. Entscheidend ist jedoch, ob dieser Schmerz die Lust überwiegt oder von dieser ausgeglichen wird. In gleicher Weise wird Sokrates wohl Emotionen beim Betrachten einer Tragödie analysieren. Doch lässt Piaton dies im Philebos mit der pauschalen Bemerkung offen (48a, Ubers. Frede) „Du erinnerst dich aber doch auch an die Zuschauer in den Tragödien, wie sie sich zugleich freuen, während sie Tränen vergießen"? Vermutlich ist das Problem ein Thema der Gespräche der nächsten Tage (50de). Man darf annehmen, 59 dass Piaton auch bei den Rezipienten von Tragödien Emotionen beobachtet, die aus Schmerz und Lust gemischt sind, insofern Mitleid mit den Helden stets mit der Hoffung verbunden ist, dass sich für sie alles zum Besten wenden wird. Diese Hoffnung sorgt für die Lustkomponente bei den Emotionen, die beim Betrachten einer Tragödie auftreten. Ungemischten, reinen Schmerz gibt es nur, wenn für eine Erwartung auf Rettung keine Hoffnung besteht. Da nun bei traditionellen Tragödien die Erwartungen auf einen guten Ausgang immer enttäuscht werden, überwiegt bei den Zuschauern immer der Schmerz, und dies ist der Grund, weshalb Piaton die traditionelle Tragödie aus Kallipolis verbannen lässt. Doch führt Piatons Sokrates dies im Philebos eben nicht aus, überträgt vielmehr den gemischten emotionalen Zustand der Zuschauer von Tragödien und Komödien auf das Leben allgemein (50b): „Diese Überlegung zeigt uns aber auch" — so beschließt er nämlich seine Analyse der gemischten Gefühle in der Seele —, „dass in der Trauer, in der Tragödie wie in der Komödie — nicht nur auf der Bühne, sondern auch in jeder Tragödie und Komödie des Lebens — Lust mit Unlust gemischt ist" (Übers. Frede). Sokrates betrachtet im Philebos das Leben des Menschen also aus einer Art tragischer Perspek59

Vgl. Frede in Platon 1997b, 285; vgl. auch 238.

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tive, wonach Leid und Schmerz offenbar von Natur aus zum Leben des Menschen gehören und dem Affekt immer eine negative Note verleihen. Wenn das Leben voller Tragödien ist, sind Affekte wie Trauer für die Menschen naturgegeben und unvermeidlich, ebenso aber die Lust, die sich aus der Erwartung ergibt, dass Trauer überwunden werden kann. Wird diese Erwartung erfüllt, wird die Trauer ausgeglichen, freilich nicht beseitigt.60 Kurz, es geht im Philebos um eine bestimmte Lebensform, die man tragisch nennen kann und zu der Affekte wie Zorn oder Trauer, also Störungen des emotionalen Haushaltes, gleichsam naturgegeben gehören. Ob diese tragische Lebensperspektive eine Alternative hat, wird im Philebos nicht gefragt oder diskutiert. Eben dies aber geschah im Phaidon, dort freilich aus anderer — antitragischer — Perspektive. Beide Aspekte ergänzen sich also und tragen dazu bei, dass Piatons Konzept der Affekte facettenreich ist und sich nicht in einer starren, rein konfliktgesteuerten Dichotomie von Vernunft und Affekten erschöpft.

Literatur Piatons Dialoge werden nach unterschiedlichen Ubersetzungen zitiert. Hinweise auf Textstellen bei Piaton erfolgen standardisiert unter Angabe von Siglen — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Apol. Conv. Gorg. Lach. Lg. Men. Phaed. Phileb. Prot. Rep. Tim.

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Aristoteles (384-322 ν. Chr.)

Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen Christof Kapp Aristoteles setzt sich in seinen Schriften zur Ethik, zur Rhetorik, zur Dichtungstheorie, zur Psychologie und Naturphilosophie immer wieder mit den Phänomenen auseinander, die wir heute als „Emotionen" oder „Affekte" bezeichnen würden. Dennoch hat er keinen fest umrissenen Begriff von Emotionen; obwohl einige Beispielemotionen, wie der Zorn oder die Furcht, konstant wiederkehren, scheint er nirgendwo in dem erhaltenen Werk eine definitive Liste von Emotionen vorlegen zu wollen. Wir suchen auch vergeblich nach einer regelgerechten Definition der Emotionen, vielmehr führt Aristoteles das Phänomen der Emotionen meistens durch eine Liste von Beispielen in die Diskussion ein. Schließlich kann man auch nicht guten Gewissens von „der Emotionstheorie des Aristoteles" sprechen, obschon die unterschiedlichen Kontexte jeweils aufschlussreiche Bausteine zu einer solchen Theorie der Emotionen liefern. Trotz dieser Einschränkungen steht außer Frage, dass die Behandlung der Emotionen bei Aristoteles einen wesentlichen Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung des Emotionsbegriffs hatte. Ganz abgesehen von dem unvergleichlichen Einfluss, den Aristoteles auf den Emotionsbegriff der mittelalterlichen Philosophen hatte, gelten seine Ausführungen ζ. B. auch noch verschiedenen Autoren des 20. Jahrhunderts als Vorbild für einen propositionalen und einen kognitiven Emotionsbegriff; viele sehen Aristoteles außerdem als das entscheidende Vorbild an, wenn es um die motivationale und diskfiminative Rolle der Emotionen in der Ethik geht. Auch in der Geschichte der Rhetorik und der Dichtungstheorie nehmen aristotelische Theorien einen besonders wichtigen Rang ein: Für die Rede vor einem öffentlichen Publikum billigt Aristoteles die gezielte Stimulation von Emotionen beim Zuhörer als eine kunstgemäße Uberzeugungstechnik, und in der Theorie der Dichtung steht Aristoteles' Name für die Auffassung, dass die Tragödie durch ihren Handlungsverlauf

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und die dargestellten Charaktere eine bestimmte emotionale Reaktion der Zuschauer, nämlich Furcht und Mitleid, hervorrufen müsse. 1

1. Bezeichnung und Begriff Was wir Emotionen nennen, fühlbare Episoden von Zorn, Furcht, Freude usw., fasst Aristoteles unter dem Begriff pathos (bzw. Plural: pathe) zusammen. Der griechische Ausdruck kommt von dem Verb paschein — „erleiden" — und betont somit den passiven Charakter der entsprechenden Zustände, ähnlich wie in den Ubersetzungen affectus, „Affektion", „Widerfahrnis" oder ursprünglich auch „Leidenschaft". Das Problem mit dem Ausdruck pathos bei Aristoteles ist, dass es sehr vieles umfasst, nämlich praktisch alles, was einem Subjekt im wörtlichen oder übertragenen Sinn widerfahren kann, z. B. Schlafen, Wachen, Empfängnis, Haarausfall. Eine gewisse Präzisierung ist dann gegeben, wenn Aristoteles von „Widerfahrnissen der Seele" — pathê tes psychés spricht; allerdings ist auch dieser Ausdruck noch ziemlich unspezifisch: Zum einen gelten z. B. auch alle Arten von Wahrnehmung als solche „Widerfahrnisse der Seele", zum anderen meint dieser Begriff innerhalb der besonderen aristotelischen Seelentheorie keineswegs, dass die entsprechenden Zustände exklusiv der Seele zukommen würden, denn für Aristoteles sind alle Zustände der Seele letztlich Zustände des beseelten Körpers. In einigen Passagen verwendet Aristoteles den Ausdruck pathos jedoch für eine bestimmte Teilmenge von seelischen Zuständen, die sich von anderen solchen Zuständen auf signifikante Weise unterscheidet — und diese Verwendungsweise scheint im Hinblick auf die Emotionen relevant zu sein: In Nikomachische Ethik II, 4 z. B. unterscheidet Aristoteles die pathê sowohl von den Fähigkeiten (dynameis) als auch von den Haltungen, Eigenschaften oder Dispositionen (Habitus, hexeis). In diesem Zusammenhang erfahren wir über die pathê, dass wir, wenn wir sie haben, dafür weder gelobt noch getadelt werden können, d. h. dass wir sie nicht freiwillig haben, dass wir uns nicht dazu entscheiden, sie zu haben, und dass wir unseren pathê entsprechend als bewegt {kineisthai) bezeichnet werden, d. h. dass die pathê mit konkreten Veränderungen verbunden sind. — Aber auch in diesem besonderen Kontext, in dem Aristoteles tatsächlich so etwas wie 1

Für weiterführende Literatur vgl. Cooper 1996; Fortenbaugh 1975; Frede 1996; Halliwell 1992; Nussbaum 1996; Sherman 1995 und Striker 1996.

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die Emotionen im Blick zu haben scheint, ist der Ausdruck pathos allein noch nicht hinreichend deutlich; deshalb erläutert Aristoteles: „Unter pathos' verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, freundschaftliches Wohlwollen, Hass, Sehnsucht, Eifer, Mitleid und überhaupt alles, das Lust und Schmerz zur Folge hat." (EN II, 4, 1105b21-23) Aristoteles führt die Emotionen also durch eine Liste von Beispielen ein, ohne sie wirklich zu definieren, und es ist auffallig, dass er auch in anderen Schriften (z. B. EE II, 2, 1220M2-14; DA I, 1, 403al6-18) nur solche Aufzählungen, aber keine Definition im technischen Sinn anbietet. Auch die Beispiellisten sind im Übrigen nicht konstant, wenngleich einige Emotionen, wie zum Beispiel der Zorn, immer ausdrücklich enthalten sind. Was einem definitorischen Merkmal in der hier zitierten Bemerkung am nächsten kommt, ist der Hinweis auf Lust und Schmerz, wenngleich Aristoteles hier, streng genommen, nicht sagt, dass alle Emotionen mit Lust und Schmerz verbunden sind, sondern umgekehrt, dass alles, was mit Lust und Schmerz verbunden ist, auch zu den hier gemeinten pathê gezählt werden kann. Dennoch ist die Verbindung mit Lust- und Schmerzempfindung natürlich ein wichtiges Merkmal der hier zur Frage stehenden seelischen Zustände. Tatsächlich enthalten so gut wie alle Einzelemotionen, die Aristoteles an anderen Stellen behandelt, in ihrer Definition einen Hinweis auf Lust oder Schmerz oder eine Abfolge von Lust- und Schmerzzuständen. 2 Die Formulierung „was Lust und Schmerz zur Folge hat", die nicht im Sinne der zeitlichen Abfolge, sondern einfach im Sinne von „wo Emotionen sind, da ist auch Lust oder Schmerz" zu verstehen ist, bleibt recht unpräzise und lässt verschiedene Möglichkeiten zu, die Lust- oder Schmerzempfindung mit der Emotion zu kombinieren: Ob z. B. die Emotion selbst eine sich unter bestimmten Anlässen einstellende Lust- oder Schmerzempfindung darstellt, oder ob die Emotion eine Reaktion auf einen erlittenen Schmerz oder eine empfundene Freude ist, oder ob Lust und Schmerz in zeitlichem Abstand auf die eigentliche Emotion folgen usw. bleibt bei dieser Formulierung ganz offen. Wir wissen daher über den aristotelischen Emotionsbegriff bisher zunächst nur so viel: Bei einer Emotion handelt es sich um einen seelischen Zustand, der (i.) sich so verhält wie die allseits bekannten Emotionen, Zorn, Furcht usw., der (ii.) auf die eine oder andere Weise mit der Empfindung von 2

Eine in der Forschungsliteratur immer wieder diskutierte Ausnahme könnte der Hass sein. Vom Hassenden sagt Aristoteles nämlich ausdrücklich, er empfinde im Unterschied zum Zornigen keinen Schmerz (Rhet. II, 4, 1382al3).

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Lust und Schmerz verbunden ist, der (iii.) weder durch eine Entscheidung noch willentlich oder freiwillig herbeigeführt wird, sondern eher passiv — im Sinne des Wortes pathos— erlebt oder erlitten wird und der (iv.) mit einer Veränderung dessen verbunden ist, der sich in dieser Emotion befindet. Letzteres beinhaltet mit Sicherheit soviel, dass die Emotion immer auch eine körperliche Veränderung darstellt. So ist Aristoteles z. B. der Auffassung, dass man den Naturforscher, sozusagen den Physiologen, fragen müsse, wie die Auflösung bestimmter pathê vonstatten gehe. Offenbar denkt Aristoteles auch, dass es zu den verschiedenen Emotionen — oder zumindest zu einigen — spezifische körperliche Reaktionen gibt: Sein Standardbeispiel ist dies, dass der Zorn ein Sieden des Blutes rund um die Herzgegend sei; während der Zorn somit immer mit einer Erhitzung verbunden sei, gehört für Aristoteles die Furcht zu den ,kalten' Emotionen, bei denen auch der Körper oder eine Stelle im Inneren des Körpers im wörtlichen Sinn abkühlt. Dieser Aspekt der körperlichen Veränderung ist auch interessant im Hinblick auf die Frage, ob Emotionen für Aristoteles eher Episoden oder eher Stimmungen oder Dispositionen sind. Zumindest was die für Aristoteles paradigmatischen Emotionen angeht, so scheint nämlich klar, dass sie mit außerordentlichen körperlichen Veränderungen verbunden sind und daher sicherlich als Episoden und nicht etwa als die Disposition zu einer bestimmten emotionalen Verhaltensweise angesehen werden müssen. Einschränkend muss man hier sagen, dass sich Aristoteles dabei an bestimmten paradigmatischen Emotionen, wie eben dem Zorn, orientiert, während dieselben Zusammenhänge nicht gleichermaßen auf alle Emotionen anwendbar sind: So behandelt Aristoteles in Rhet. II, 3 z. B. auch die Sanftmut als ein pathos, beschreibt dann aber die Sanftmut als die Beilegung von Zorn oder das Ausbleiben von Zorn in Situationen, in denen man eigentlich mit einer zornigen Reaktion gerechnet hätte. Zumindest Letzteres - das Ausbleiben von Zorn und der damit verbundenen Veränderung — lässt sich nur schwer im Sinne einer Episode verstehen.

2. Emotionen als Gegenstand von Dialektik und Naturphilosophie In einer bekannten Passage vom Beginn der Schrift De Anima wirft Aristoteles die Frage auf, ob allgemein die Widerfahrnisse der Seele (pathê tés psychés) allein der Seele oder immer zugleich auch dem Körper zukommen. Er entscheidet die Frage zugunsten der letzteren Möglichkeit und belegt

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dies am Beispiel der Emotionen: „Es scheinen auch die Widerfahrnisse der Seele alle mit dem Körper verbunden zu sein, Zorn, Sanftmut, Furcht, Mitleid, Zuversicht, ferner Freude und das Lieben und Hassen: denn gleichzeitig mit diesen erleidet der Körper etwas." (DA I, 1, 403al6-19) Die Körpergebundenheit der Emotionen illustriert er im Anschluss an die zitierte Passage unter anderem an Fällen, in denen wir durch kleine und unbedeutende Erlebnisse in den Zustand der Furcht oder des Zorns versetzt werden, weil der Körper sich schon in einem entsprechenden Zustand befindet, während wir sonst oftmals bei viel stärkeren Eindrücken keine Emotion erfahren. Aristoteles scheint hier an ein Phänomen zu denken, das dem der inertia, der Trägheit von Emotionen nicht unähnlich ist: Unter Letzterer versteht man das Phänomen, dass die körperliche Reaktion nach einer Emotion noch andauert, während der eigentliche Anlass, also ζ. B. die furchterregende Situation oder die empörende Handlungsweise, längst verschwunden ist. Ganz ähnlich besteht im vorliegenden Fall ein Missverhältnis zwischen dem Anlass zu einer Emotion bzw. der Wahrnehmung dieses Anlasses und der Intensität und Dauer der tatsächlich empfundenen Emotion, und ähnlich wie bei der inertia ist es die körperliche Reaktion, die für dieses Missverhältnis verantwortlich ist. — Aus diesen Überlegungen geht klar hervor, dass für Aristoteles die Emotionen einerseits wesentlich körperliche Veränderungen sind, andererseits aber auch mit einem bestimmten Anlass oder Erlebnis (egal ob wirklich erlebt oder nur eingebildet) korreliert sind. Dies bringt Aristoteles in folgendem Resümee zum Ausdruck: Wenn sich dies so verhält, ist klar, dass die pathê der Seele in Materie befindliche Begriffe/Erklärungen ( l o f f i ) sind, so dass ihre Definitionen von solcher Art sind wie ,das Zürnen ist eine Art von Bewegung des so-und-so beschaffenen Körpers — oder Körperteils oder der (so-und-so beschaffenen) Fähigkeit — aufgrund dieser bestimmten Ursache um dieses bestimmten Zweckes willen'. (DA I, 1, 403a24—27)

Demnach muss, wer eine bestimmte Emotion definieren will, einerseits die Art von Bewegung oder Veränderung erfassen, die der Körper bei der entsprechenden Emotion durchläuft und andererseits eine spezifische Ursache und einen spezifischen Zweck benennen. Konkret würde das z. B. so aussehen, dass man den Zorn in körperlicher Hinsicht als ein Sieden des Blutes in der Herzgegend definiert, als spezifische Ursache und Zweck aber hinzufügt, dass dies durch eine erlebte Erniedrigung oder eine vermeintliche Erniedrigung verursacht wurde und mit dem Streben nach Vergeltung einhergeht. Von dem ersten Teil der Definition sagt Aristote-

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les auch, es sei die Definition des Naturphilosophen, von dem zweiten, es sei die Definition des Dialektikers, wobei unter einem „Dialektiker" in diesem Kontext einfach ein Philosoph zu verstehen ist, der die Dinge begrifflich oder definitorisch erörtert, ohne die materiellen Ursachen im Detail zu untersuchen. Aristoteles' Tendenz scheint nun tatsächlich die zu sein, dass eine volle wissenschaftliche Erklärung von Emotionen und generell von körpergebundenen seelischen Zuständen beide Typen von Definition erfordert und dass die wohlverstandene Naturphilosophie nicht nur auf die materiell-körperlichen Vorgänge sieht, sondern ζ. B. auch darauf, aus welchem Grund und zu welchem Anlass sich eine solche Veränderung vollzieht. Dies muss man wohl vor dem Hintergrund der aristoteKschen Vier-Ursachen-Lehre verstehen, der zufolge man neben den materiellen Ursachen auch die Bewegungsursache sowie die Form- und Zweckursache berücksichtigen muss. Was bedeutet dies nun konkret (a) für das Wesen von Emotionen und (b) für das Entstehen und Abklingen von Emotionen? Zu (a): Aristoteles' Theorem von den zwei Definitionsarten könnte man leicht so verstehen, als bestünde eine Emotion gewissermaßen aus zwei Komponenten, einer körperlich-materiellen, auf die sich die naturwissenschaftliche Definition bezieht, und einer seelischen, auf die sich die dialektische Definition bezieht. Diese Zwei-Komponenten-Theorie stünde aber nicht nur im Widerspruch zu einigen fundamentalen Aussagen der aristotelischen Seelentheorie, es ist auch nicht genau das, was wir in den relevanten Texten finden. Außerdem ergäbe sich bei einer solchen Zwei-KomponentenTheorie das Problem, dass eine kausale Interaktion zwischen der seelischmentalen und der körperlich-materiellen Komponente stattfinden müsste; von einer solchen Interaktion ist bei Aristoteles jedoch gar nicht die Rede. Was Aristoteles zu meinen scheint, ist vielmehr, dass die Emotion zwar eine körperliche Veränderung ist und sich weder in Wirklichkeit noch in Gedanken von dieser materiellen Veränderung abstrahieren lässt, dass aber unter den relevanten Ursachen einer Emotion nicht nur materielle Ursachen, sondern auch andersartige Ursachen vertreten sind, wie beim Zorn ein konkreter Anlass, der mit (der subjektiven Erfahrung von) Erniedrigung, Beleidigung oder Geringschätzung zu tun hat, und ein Zweck oder Ziel, nämlich beim Zorn die angestrebte Vergeltung, zu der uns die Emotion antreibt. Zu (b): Wenn es demnach zwei Ursachenarten gibt, die für eine Emotion relevant sind, nämlich die materiellen Ursachen auf der einen, und die in der dialektischen Definition genannten Ursachen auf der anderen Seite, dann

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sind für das Entstehen und Abklingen einer Emotion offenbar beide Ursachenarten relevant Was die körperKch-materiellen Ursachen von bestimmten Emotionen angeht, so kennen wir aus den aristotelischen Texten nur wenige Details. Aristoteles' bevorzugte Beispiele sind wiederum Zorn und Furcht: Ersterer ist mit einer Art der Erhitzung, letztere mit einer Art der Abkühlung verbunden. Zu den notwendigen Voraussetzungen für das Zustandekommen einer dieser beiden Emotionen gehört daher in jedem Fall die Fähigkeit des Körpers, im entscheidenden Augenblick das entsprechende Temperaturniveau zu erzeugen. Diese Voraussetzung ist ζ. B. dann nicht gegeben, wenn sich der Körper gerade auf einem entgegengesetzten Temperaturniveau befindet — etwa unter dem Einfluss einer anderen Emotion oder unter dem Einfluss von Krankheit, Fieber, Alkohol usw. Allgemein scheint nach Aristoteles beim Körper älterer Menschen die Fähigkeit zu einer starken und nachhaltigen Erhitzung abzunehmen, weswegen ältere Menschen auch weniger zum Zorn disponiert sind oder nur einen schwachen und kurzzeitigen Zorn entwickeln können. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum sich bestimmte Emotionen gegenseitig ausschließen: Man kann zur selben Zeit nicht eine ,erhitzende' und eine ,abkühlende' Emotion empfinden, obwohl es nichts Widersprüchliches an sich hätte, wenn man zur selben Zeit gegenüber Person A Furcht und gegenüber Person Β Zorn empfände. — Dies ist die allgemeine Funktionsweise; viele Einzelheiten, die uns in diesem Zusammenhang interessieren würden — ζ. B. ob es wirklich für jede Emotion einen distinkten körperlichen Zustand gibt, ob sich dieser distinkte körperliche Zustand auch mit rein physiologischen Mitteln simulieren lässt usw. —, sind bei Aristoteles jedoch nicht näher beschrieben. Neben den körperlichen Ursachen sind für das Entstehen und Abklingen einer Emotion natürlich auch die in der dialektischen Definition genannten Ursachen wichtig. Mit diesen beschäftigen sich die folgenden beiden Abschnitte.

3. Zur Individuation von Emotionen Unser emotionales Vokabular kennt sehr viele Arten von Emotionen und sehr viele Differenzierungen, Schattierungen und Ubergänge. Wenn Aristoteles in moralpsychologischen Kontexten über Emotionen spricht, dann scheint er sich dieser Vielfalt sehr wohl bewusst und bisweilen ist er sogar um eine Erweiterung und Differenzierung des gewöhnlichen Vokabulars bemüht. Im Rahmen der physiologischen Kategorien, die Aristoteles zur Verfügung stehen, wie ζ. B. Erhitzung und Abkühlung, lässt sich diese Viel-

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fait nur schwer modellieren — und wir wissen auch nicht, ob Aristoteles eine solche materielle Beschreibung aller emotionalen Unterschiede überhaupt anstrebte. Aus diesem Grund scheint für die Individuierung einzelner Emotionen der sogenannte „dialektische" Beschreibungstyp sehr viel aufschlussreicher als der materiell-physiologische. In der Schrift Topik illustriert Aristoteles verschiedene formale Probleme des Definierens an Emotionen, woraus man schließen kann, dass diese sogar bevorzugter Gegenstand dialektischer Definitionsübungen waren. Die ausführlichste Auflistung solcher dialektischer Definitionen von verschiedenen Emotionstypen findet sich im zweiten Buch von Aristoteles' Rhetorik, dort definiert Aristoteles die pathê Zorn, Sanftmut, Furcht, Zuversicht, Freundesliebe, Hass, Dankbarkeit, Scham, Schamlosigkeit, Neid, Entrüstung, Eifer, Schadenfreude, Verachtung sowie zwei namenlose Emotionen. Die Besonderheit dieser Definitionen verdeutlicht man sich am besten anhand einiger Beispiele: Zorn

„ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht" (II, 2, 1378a31-33)

Furcht

„eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels" (II, 5, 1382a21—22)

Scham

„eine Art von Schmerz und Beunruhigung über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen einzubringen scheinen, seien sie gegenwärtig, vergangen oder zukünftig" (II, 6, 13 83b 12—14)

Mitleid

„eine Art von Schmerz aufgrund eines vermeintlichen Übels, das verderblich oder schmerzlich ist, bei jemandem, der es nicht verdient hat, dass ihm derartiges widerfährt, und von dem man erwarten kann, dass man es selbst oder einer der Seinigen erleidet, und dies ist der Fall, wenn es nahe scheint" (II, 8, 1385bl3—16)

Neid

„eine Art von Schmerz über das vermeintliche Wohlergehen hinsichtlich der besagten Güter bei den Ahnlichen [...] und zwar nicht, damit sich für einen selbst etwas Nützliches ergibt, sondern wegen jener" (II, 10, 1387b23-25)

Tabelle: Dialektische Definitionen einiger Emotionstypen nach Aristóteles.

Aristoteles: Bausteine für eine Theorie der Emotionen

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Alle hier aufgeführten Emotionen werden als eine Art von Schmerz oder Beunruhigung definiert; die Individuierung der verschiedenen Emotionstypen erfolgt durch die Anlässe oder Ursache des Schmerzes und durch das Verhältnis des Betroffenen zu diesen Anlässen. In allen Fällen gibt es einen je verschiedenen Gegenstand, auf den sich die Emotion richtet. Einige Definitionen nennen neben dem Gegenstand der Emotion explizit auch Merkmale der Personen, die mit dem Anlass oder Gegenstand der Emotion in Verbindung stehen. Und diese Merkmale spezifizieren in den meisten Fällen auch ein besonderes Verhältnis zu dem von der Emotion Betroffenen: So müssen die Zielpersonen beim Neid dem Betroffenen ähnlich sein und die Zielpersonen beim Zorn müssen im Verhältnis zum Betroffenen eine Stellung innehaben, aufgrund welcher ihnen ein herabsetzendes Verhalten nicht zusteht usw. Festzuhalten ist daher zunächst, dass die Emotionen durch Bezug auf die Ursache oder den Anlass bzw. durch den Gegenstand, auf den sich die Emotion richtet, sowie durch das Verhältnis dieses Gegenstandes zu bestimmten Zielpersonen sowie zur Person des Betroffenen individuiert werden — und nicht etwa durch die Qualität des gefühlten Schmerzes. Dies schließt nicht aus, dass sich der Schmerz beim Neid anders anfühlt als, sagen wir, der Schmerz beim Mitleid, jedoch ist entscheidend, dass Aristoteles die Distinktheit der Emotionen nicht aus diesen phänomenalen Unterschieden, sondern auf die Beschreibung von Situationen und Gegenständen gründet. Der von einer Emotion Betroffene muss auf den jeweiligen Gegenstand irgendwie bezogen sein: Er muss eine Vorstellung von dem betreffenden Gegenstand haben oder muss der Meinung sein, dass der betreffende Gegenstand gegeben ist, oder muss den Gegenstand wahrnehmen oder sich ihn einbilden usw. Die Formulierungen „vermeintliche Herabsetzung", „vermeintliches Übel", „vermeintliches Wohlergehen" zeigen an, dass es für das Zustandekommen der Emotion nicht darauf ankommt, dass der betreffende Gegenstand tatsächlich existiert bzw. der betreffende Sachverhalt tatsächlich vorliegt, sondern nur darauf, dass der Betroffene selbst den relevanten Gegenstand oder Sachverhalt für gegeben hält. In diesem Zusammenhang ist man versucht zu sagen, dass der Betroffene davon überzeugt ist, dass eine Herabsetzung vorliegt, oder urteilt, dass ein bestimmtes Verhalten eine solche Herabsetzung darstellt. Wenn man die Sache so formuliert, käme der aristotelische Ansatz einer urteilsbasierten Emotionstheorie oder sogar einer Urteilstheorie der Emotionen sehr nahe. Dies zu sagen, scheint in einem Sinn richtig, in einem anderen Sinn irreführend zu sein: Tatsächlich scheint Aristoteles mit der Urteilstheorie

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der Emotionen die Auffassung zu teilen, dass Emotionen durch Sachverhalte individuiert werden, die als Inhalt eines Urteils und einer Uberzeugung formuliert werden können, ζ. B. ist Zorn durch das Urteil oder die Uberzeugung bestimmt, dass jemand, dem es nicht zusteht, mich erniedrigend behandelt hat, Furcht durch das Urteil oder die Überzeugung, dass ein bedrohliches Übel nahe bevorsteht, Mitleid durch das Urteil oder die Überzeugung, dass jemand unverdientermaßen unglücklich ist. Irreführend ist jedoch die Gleichsetzung von Aristoteles mit den Urteilstheoretikern in folgenden Hinsichten: (i.) Wenn wir schon sagen wollen, dass es ein Urteil ist, das eine Emotion individuiert, dann müssten wir hinzufügen, dass dieses Urteil lediglich den Gegenstand der Emotion näher beschreibt, aber dass nicht jeder, der die betreffende Emotion hat, tatsächlich ein entsprechendes Urteil selbst gefallt haben muss: In einem bestimmten Sinn nämlich stellen Urteile eine relativ anspruchsvolle intellektuelle Operation dar, welche durchzuführen nicht jeder in der Lage ist; so scheinen nach Aristoteles gerade auch Kinder und selbst Tiere bestimmte Emotionen zu haben, obwohl sie selbst nicht in der Lage sind, ein Urteil (in jenem anspruchsvollen Sinn) zu fällen. Auch Erwachsene urteilen ζ. B. in Situationen der Überraschung nicht, dass etwas ein bedrohliches Übel sei, das nahe bevorsteht, und empfinden dennoch Furcht. Viele Emotionen kommen allein durch Wahrnehmung oder Einbildung (phantasia) zustande, bedürfen aber keiner höheren kognitiven Operation, also auch keines Urteils, falls darunter eine solche anspruchsvollere Operation verstanden wird. Schon daher ist es ratsam, Aristoteles keine allgemeine Urteilstheorie der Emotionen zu unterstellen, wenngleich unumstritten ist, dass die angeführten Emotionen zum Teil aufgrund von durchaus anspruchsvollen Einschätzungen zustande kommen können: Einige Emotionen setzen moralische Evaluationen voraus (verdient/ unverdient), andere prognostische Überlegung (wahrscheinlich, künftig, nahe bevorstehend) usw. (ii.) Schon weil für Aristoteles Emotionen Bewegungen oder Veränderungen des Körpers sind, stimmen die Emotionen nicht immer mit den Urteilen überein: Wenn jemand seinen Zorn gerade an einer Person ,ausgelassen' hat, wird er einer zweiten Person, die eigentlich noch mehr Anlass zum Zürnen bietet, nicht in gleicher oder proportional stärkerer Weise zürnen, obwohl er urteilt, dass die durch die zweite Person erlittene Erniedrigung schwerer wiegt. Und ein älterer Mensch, der nicht mehr über die für starke Zornausbrüche erforderliche Körperhitze verfügt, wird ebenfalls nicht die Emotion empfinden, die eigentlich seinem Urteil entspräche. Schließlich ist die Kovarianz von Urteil und Emo-

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tion auch dann gestört, wenn sich der Körper bereits im Zustand einer Emotion, ζ. B. im Zustand des Zorns, befindet und wir deshalb aufgrund nichtiger Anlässe zu neuen heftigen Zornausbrüchen verleitet werden, (iii.) Wenn wir außerdem das Urteilen so verstehen, dass es jederzeit an uns liegt, ob wir ein Urteil fallen wollen oder nicht, dann besteht eine weitere Disproportionalität von Urteil und Emotion darin, dass es nach Aristoteles nicht in derselben Weise an uns liegt, ob wir eine Emotion empfinden oder nicht: Selbst wenn wir hier und jetzt urteilen, dass etwas verdient, unverdient, bedrohlich usw. ist, empfinden wir keine dem Urteil entsprechende Emotion, wenn wir dafür nicht zuvor eine entsprechende charakterliche Disposition ausgebildet haben (siehe dazu unten den Abschnitt 5: Tugenden, Charakterformung und emotionales Training); selbst wenn wir z. B. urteilen, dass uns jemand erniedrigend behandelt hat, werden wir keinen Zorn empfinden, sofern wir nicht zuvor eine dauerhaft positive Einstellung zu uns selbst (also so etwas wie Selbstachtung) entwickelt haben.

4. Emotionen in der öffentlichen Rede und im Theater Affekte oder Emotionen wie Zorn, Mitleid, Wohlwollen waren Gegenstand der antiken Rhetorik, lange bevor die Philosophie diese als Thema entdeckte. Der Sophist Thrasymachos soll beispielsweise eine Sammlung von fertigen Formeln erstellt haben, mit denen man offenbar bei jeder Gelegenheit und ungeachtet des konkreten Anlasses das Mitleid der Zuhörer auslösen konnte (Rhet. III, 1, 1404al4f.). In der konventionellen Rhetorik zur Zeit des Aristoteles hatten die Emotionen bereits einen standardisierten Ort: Im Proömium musste der Redner das Wohlwollen der Zuhörer wecken, und im Epilog war es üblich, entweder den Zorn gegenüber den Gegnern oder das Mitleid mit der eigenen Person zu erregen. Bereits auf der ersten Seite seiner Rhetorik wendet sich Aristoteles gegen diese Art von Praktiken. Er wirft den bisherigen Rhetoriklehrern ein kunstfremdes, d. h. unmethodisches Verfahren vor, da sie größtenteils über das außerhalb der Sache Tiegende handelten, indem sie Empfehlungen zu Beschuldigung, Mitleid, Zorn und solchen Emotionen der Seele geben, während sie den für den sachbezogenen Uberzeugungsprozess zentralen Faktor, den rhetorischen Beweis, vernachlässigten. Es sei auch nicht richtig, wenn man den Richter zu Zorn, Neid oder Mitleid verleitet und ihn auf diese Weise ablenkt und verwirrt und sein Urteil verdunkelt.

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Trotz dieser Kritik an den Vorgängern enthält auch Aristoteles' eigene Rhetorik ausführliches Material zur kunstgerechten Erregung von Emotionen. Im Mittelpunkt der entsprechenden Schrift steht die Lehre von den drei kunstgemäßen Uberzeugungsmitteln {pistéis): Eines davon ist der rhetorische Beweis, eines die Charakterdarstellung und eines die Emotionserregung; es bedeute nämlich, so führt Aristoteles aus, für das Uberzeugen einen wichtigen Unterschied, in welchem emotionalen Zustand sich der Zuhörer befindet: Denn die Dinge scheinen für diejenigen, die lieben, und für diejenigen, die hassen, nicht dieselben zu sein, auch nicht für die, die zürnen, und die, die sich sanftmütig verhalten, sondern entweder erscheinen sie als durchweg verschieden oder als der Bedeutung nach verschieden: Dem Liebenden nämlich erscheint die Person, über die er das Urteil fallt, entweder gar kein oder nur ein geringfügiges Unrecht begangen zu haben, dem Hassenden jedoch erscheint das Gegenteil der Fall zu sein. (Rhet. II, 1, 1377b31-1378a3)

Ziel der rhetorischen Bemühung in der öffentlichen Rede ist stets das Urteil, das der Zuhörer fällen soll und im Gericht oder in der Volksversammlung ganz konkret durch seine Stimmabgabe kundtut. Von dieser Urteilsbildung nun sagt Aristoteles ganz illusionslos, dass sie nicht allein auf den vorgebrachten Beweisen, sondern auch auf anderen Faktoren beruht, auf die der Redner deshalb Rücksicht nehmen muss. Da nun, wie im obigen Zitat dargelegt, auch der emotionale Zustand einer dieser Faktoren ist, hat der Redner natürlich ein elementares Interesse daran, diese Gefühlslage des Zuhörers gezielt zu steuern. Wie soll das konkret vor sich gehen? Voraussetzung für die gezielte und kunstgemäße Emotionserregung ist ein Wissen vom Wesen der verschiedenen Emotionen, d. h. man muss zumindest die Art von Definition kennen, die wir weiter oben als die „dialektische" Definition kennengelernt haben. Verfügt man über eine solche, dann kann man daraus leicht ableiten, über was für Dinge, gegenüber welcher Art von Personen und in welchem Zustand man eine bestimmte Emotion empfindet (Rhet. II, 1, 1378a22-26). In den Kapiteln II, 2-11 der Rhetorik buchstabiert Aristoteles diese drei Faktoren im Anschluss an die Definition jeder Emotion in detaillierten Listen aus. Der Redner, der sich dieser Listen bedient, muss nun nur noch den Zuhörer glauben machen, dass z. B. eine Beleidigung vorliegt, dass es der beleidigenden Person nicht zustand, sich so zu verhalten, und dass die Zuhörer sich ein solches Verhalten nicht bieten lassen müssen, um das Publikum in Zorn zu versetzen. Oder, wenn Furcht eine Beunruhigung in Anbetracht eines nahe bevorstehenden verderblichen Übels ist und man diese besonders im

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Zustand der eigenen Hilflosigkeit empfindet, dann muss der Redner, um die Zuhörer dazu zu bringen, dass sie sich ζ. B. vor ihren Grenznachbarn fürchten, lediglich zeigen, dass das Verhalten der Grenznachbarn bedrohlich ist, dass die eigene Stadt verwundbar ist und dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Ein bestimmtes Emotionspaar, nämlich die beiden sogenannten ,tragischen Affekte', Furcht und Mitleid (phobos und eleos), sind nach Aristoteles' Auffassung auch für die Wirkung der Tragödie signifikant: Nach seiner berühmten Definition handelt es sich bei der Tragödie um die Nachahmung (mimesis) einer Handlung, die beim Zuschauer Furcht und Mitleid und eine Reinigung (katharsis) von solchen Emotionen bewirke (Poet. 6, 1449b27—28). Gegenüber einer prosaischen öffentlichen Rede verfügt das Theater natürlich über ganz andere Mittel und Möglichkeiten: Die Sprache der Tragödie bedient sich eines poetischen Stils und ist rhythmisch und melodisch durchkomponiert. Es kommt nicht nur auf den Text allein, sondern auch auf die Aufführung durch die Schauspieler und auf die Inszenierung an. Es ist wahrscheinlich, dass alle diese Faktoren einen gewissen Einfluss auf die emotionale Verfassung des Zuhörers haben können. Besonderen Wert legt Aristoteles allerdings auf den mythos, also die Handlung bzw. den Handlungsverlauf einer Tragödie. Dieser Handlungsverlauf soll so angelegt sein, dass sich die eigentümliche Wirkung der Tragödie, also auch Mitleid und Furcht, bereits dann einstellt, wenn man von den entsprechenden Geschehnissen bloß hört (Poet. 14, 1453b4fi). Man kann daher sagen, dass die in einer Tragödie dargestellten Geschehnisse selbst die maßgeblichen Emotionen auslösen sollen. Wie aber kann der Tragödiendichter wissen, ob ein bestimmtes Geschehen diese furcht- oder mitleiderregende Wirkung haben wird? Es scheint, als behandle Aristoteles dies ganz analog zur Emotionserregung in der öffentlichen Rede, denn er verweist für die emotionale Wirkung der tragischen Handlungsabläufe explizit auf die Verfahren des Redners (Poet. 19, 1456b2£): Wenn man als Tragödiendichter weiß, über welche Art von Dingen die Menschen für gewöhnlich z. B. Mitleid empfinden, dann kann er solche Geschehnisse darstellen, bei denen ein eigentlich tugendhafter und dem Zuschauer nicht unähnlicher Protagonist in unverdientes Unglück verwickelt wird. Ähnlich wie bei der öffentlichen Rede wird die emotionale Reaktion dadurch stimuliert, dass man die Meinungen der Zuhörer oder Zuschauer über das Vorliegen von mitleidswürdigen oder furchterregenden Konstellationen beeinflusst. Der Unterschied zur Emotionserregung durch den Fachmann für Rhetorik besteht nur darin, dass

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dieser sagt oder steigt, dass ζ. B. eine Person Merkmale aufweist, durch die sie unser Mitleid verdient, während in der Tragödie die dargestellten Handlungsabläufe selbst die mitleids- und furchterregenden Merkmale aufweisen müssen. Was hat dies alles schließlich mit einer Reinigung oder katharsis zu tun? Mitleid und Furcht stellen für sich genommen durchweg schmerzliche Emotionen dar. Was der Zuschauer im Theater erlebt, ist aber eher ein ,Wechselbad der Gefühle', denn außer den schmerzlichen Emotionen Mitleid und Furcht erlebt er auch eine spezifische Art von Wohlgefallen oder Tust (Poet. 14, 1453bl0—14). Aristoteles benötigt daher einen Begriff, der das besondere Wohlgefallen an der Tragödie mit den schmerzlichen Emotionen verknüpft, die die Tragödie definieren. Genau für diese Funktion scheint der Begriff der katharsis bestens geeignet, wird er doch auch an anderer Stelle von Aristoteles dazu gebraucht, die wohltuende Erleichterung zu beschreiben, die eben mit der Auflösung von starken, schmerzlichen Affekten verbunden ist (vgl. Pol. VIII, 7, 1342all—15). Nicht zuletzt kann man in der Wahl des Terminus katharsis unschwer eine ironische Anspielung auf Piaton erkennen, der katharsis als eine der Wirkungen von Philosophie verstand (ζ. B. in Phaidon, Sophistes), die Wirkung der Tragödie aber durchaus kritisch beurteilte (ζ. B. in Politeid).

5. Tugenden, Charakterformung und emotionales Training Das gute und glückliche Leben besteht für Aristoteles wesentlich in der Ausübung von Tugenden. Er unterscheidet zwischen Tugenden des Verstandes und Tugenden des Charakters. Eine Charaktertugend zu haben heißt, unter bestimmten Umständen und in einem bestimmten Bereich des Tebens die richtigen Dinge zu tun und dabei die richtigen und angemessenen Emotionen zu haben. Das wiederum impliziert, dass es für die Ausübung einer Tugend nicht ausreichend ist, richtig zu handeln bzw. das Richtige zu tun. Für die Tugend der Gerechtigkeit ζ. B. genügt es nicht, gerechte Taten zu vollbringen; um gerecht zu sein, muss man gerecht handeln und dabei die richtige emotionale Einstellung haben, d. h. man muss die gerechten Dinge gerne tun. Jemanden, der das Richtige tut, den es aber Uberwindung kostet, das Richtige zu tun, nennt Aristoteles „beherrscht". Beherrscht zu sein ist besser als unbeherrscht oder schlecht zu sein; noch besser als beherrscht zu sein ist es allerdings, tugendhaft zu sein, und dazu gehört eben — zusätzlich zu richtigen Handlungen — eine

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emotionale Einstellung, durch die man das Richtige gerne, bereitwillig und ohne sich dafür überwinden zu müssen tut. Der Unterschied zwischen der tugendhaften und der nur beherrschten Person ist für Aristoteles kein trivialer, denn es liegt nicht in ihrer Macht, die richtigen emotionalen Einstellungen, deren die nur beherrschte Person ermangelt, hier und jetzt zu erwerben. Welche Emotionen wir in einer Situation haben, hängt vielmehr davon ab, welchen Charakter und welche charakterlichen Dispositionen wir haben; und welche charakterlichen Dispositionen wir haben, ist nach Aristoteles keine Sache des Augenblicks, sondern hängt davon ab, wie wir von Kindheit an erzogen wurden und wie wir bis zum jetzigen Zeitpunkt gelebt haben. Außerdem nimmt Aristoteles an, dass man solche Dispositionen am einfachsten im Laufe der Kindheit und Jugend ausbilden kann, während es schwierig ist, seine charakterlichen Einstellungen als Erwachsener nochmals neu auszurichten. Deshalb sagt Aristoteles einmal: „Also bedeutet es keinen geringen Unterschied, ob man von Kindheit an so oder so gewöhnt wurde; es hängt aber viel davon ab, ja sogar alles." (EN II, 1, 1103b23-25) Zunächst sagt dieser Zusammenhang etwas Wichtiges über das Wesen der Emotionen bei Aristoteles aus: Der Umstand, dass es nicht in unserer Macht liegt, ob wir in einer Situation eine bestimmte Emotion haben oder nicht haben (siehe oben, Abschnitt 1), hängt damit zusammen, dass die Art und die Intensität der Emotionen, die wir haben, von unserem Charakter abhängig sind. „Charakter" wiederum bedeutet bei Aristoteles so etwas wie die Summe der langfristigen Strebensdispositionen. Da sich unser Streben oder Meiden auf die Dinge richtet, die wir für gut oder schlecht halten, kommt in unserem Streben eine Evaluation zum Ausdruck. Insofern anerkennt Aristoteles indirekt, dass Emotionen langfristige evaluative Einstellungen zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel, das Aristoteles selbst einmal benutzt, ist das folgende: Man zürnt jemandem, der sich über Philosophie lustig macht nur dann, wenn man sich selbst bemüht hat zu philosophieren (Rhet. II, 2, 1379a34—37); d. h. das Zürnen bringt hier zum Ausdruck, dass die betreffende Person eine positiv evaluative Einstellung zur Philosophie einnimmt, denn ohne diese Einstellung wäre der Zorn nicht zu erklären. Ein anderes Beispiel ist das der sogenannten ,knechtischen' Gesinnung: Eine solche liegt nach Aristoteles bei jemandem vor, der auch dann nicht zürnt, wenn er zürnen sollte, weil ihm an der für die Empfindung von Zorn erforderlichen Selbstachtung mangelt; auch die Selbstachtung stellt eine Art von evaluativer Einstellung, nämlich der eigenen Person gegenüber, dar. Wichtig ist nun, dass sich die-

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se Art von Einstellung nicht willentlich und nicht kurzfristig einnehmen, abstellen oder verändern lässt: Wer die Philosophie schätzt, der wird sich unwillkürlich über den ärgern, der sie herabzusetzen versucht. Und wer in der Vergangenheit keine Selbstachtung entwickelt hat, der wird nichts dabei empfinden, wenn andere an dieser zu kratzen versuchen. Alle diese evaluativen Dispositionen und Einstellungen sind durch eine ihnen eigentümliche Vorgeschichte geprägt worden und mit ihnen zusammen sind auch die emotionalen Reaktionen von dieser Vorgeschichte abhängig. Folgt man dieser Überlegung, dann wird nachvollziehbar, warum Aristoteles denkt, dass man die Entwicklung des Charakters nicht zufälligen Faktoren überlassen, sondern vielmehr versuchen soll, auf diese einen möglichst großen und günstigen Einfluss zu gewinnen. Auf die Frage, wie eine solche Charakterformung möglich sei, antwortet Aristoteles mit einem relativ simplen Modell: So wie wir handeln, so wird auch unser Charakter. Denn ebenso wie nur der ein guter Vierkämpfer wird, der sich im Vierkampf übt, könne nur der gerecht werden, der gerecht handelt und sich durch gerechtes Handeln an das Gerechtsein gewöhnt, und nur der tapfer werden, der sich gefährlichen Situationen aussetzt und sie zu meistern lernt, und nur der besonnen werden, der sich im Umgang mit Genüssen übt und sich ihrer zu enthalten lernt. Der Weg zur Tugend führt somit nur über eine Art von Training im Umgang mit den für eine Tugend typischen Situationen einerseits und den sie begleitenden Emotionen und Begierden andererseits. Eine Schwierigkeit bei diesem Modell der Charakterformung besteht darin zu beschreiben, wie genau der Übergang aussieht von den nur tugendanalogen Handlungen, die man ausführt, bevor man im Besitz der Tugend selbst ist, zu den im engeren Sinn tugendhaften Handlungen einer tugendhaften Person. Klar ist jedoch, dass dieser Übergang damit zu tun hat, dass sich von einem bestimmten Punkt der Charakterformung an die angemessenen emotionalen Reaktionen von selbst einstellen und dass somit die Emotionen und ihre motivationale Kraft das tugendhafte Handeln unterstützen. Natürlich besteht die skizzierte Verbindung von Gewöhnung, charakterlicher Einstellung und emotionaler Reaktion nicht nur auf Seiten der Tugend, sondern auch auf deren Gegenseite, nämlich bei der Untugend bzw. dem Laster. Wer sich daran gewöhnt, schlechte Dinge zu tun, wird eine entsprechende charakterliche Disposition dazu ausbilden und wird auch durch seine emotionalen Reaktionen zum Ausdruck bringen, dass er die Ziele der schlechten Menschen billigt und hochschätzt. Nur die Erziehung - sowohl die individuelle als auch die durch gute Gesetze — hält

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Menschen, deren Charakter noch formbar ist, dazu an, nicht die verwerflichen, sondern die richtigen Dinge zu tun, damit sie sich an die richtigen und tugendhaften Handlungsweisen gewöhnen können. Außerdem verstärkt sie durch Lob und Tadel sowie durch Belohnung und Sanktionierung die Erfahrung, dass das gute Handeln angenehm und das falsche unangenehm ist. Da die Moralerziehung bei Aristoteles daher immer auch auf die Formung der irrationalen Strebungen abzielt, indem sie das Tugendhafte mit dem Empfindungswert ,angenehm' und das Gegenteil mit dem Empfindungswert ,unangenehm' verknüpft, und da dieser Prozess seine nachhaltige Wirkung nur langfristig entfalten kann, spielt im aristotelischen Erziehungskonzept die Gewöhnung eine wichtige Rolle, wenngleich der Ubergang vom vortugendhaften in den tugendhaften Zustand nicht durch Gewöhnung allein erklärt werden kann, sondern wesentlich ein Element der Anerkennung sowie spezifische intellektuelle Kompetenzen voraussetzt.

6. Das gute Leben und die richtigen Emotionen Im Rahmen der aristotelischen Ethik haben Emotionen eine vielfaltige Bedeutung für das moralisch erfolgreiche Handeln und das gute Leben. Zunächst bedeutet es natürlich einen Unterschied für die Qualität unseres Lebens, ob in ihm die negativen, schmerzlichen oder die positiven Emotionen überwiegen. Das bedeutet nicht, dass das gute Leben nur im Haben von positiven Emotionen bestehen würde; jedoch nimmt Aristoteles an, dass das tugendhafte Handeln der tugendhaften Person auch mit angenehmen, lustvollen Empfindungen verbunden ist, und zumindest diese sind von nicht unwesentlicher Bedeutung für die Qualität des gelungenen Lebens. Emotionen können tugendhafte Handlungen motivieren und sie unterstützen. Der Zorn, den jemand demgegenüber empfindet, der ζ. B. seiner Familie oder seinen Freunden geschadet hat, kann den Betroffenen zu tapferen und nach landläufiger Ansicht lobenswerten Handlungen bewegen. Eine bestimmte Emotion, vglos (Eifer, Amibition) hat sogar immer den Effekt, dass sie den Betroffenen motiviert, um edle und anerkennenswerte Güter in einem positiven Sinn zu wetteifern. Emotionen allgemein können auch dadurch das richtige Handeln befördern, dass sie einen dosierten Einfluss auf unsere Urteile und Entscheidungen gewinnen: Ein richtiges Maß an Furcht kann uns dazu bewegen, bei einer Abwägung

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oder Entscheidung umsichtiger vorzugehen, als wir es ohne Furcht getan hätten. Die Emotionen einer tugendhaften Person können diese sogar spontan zur richtigen Handlungsweise bewegen, wenn keine Zeit zur Überlegung bleibt: In einer plötzlichen Gefahrensituation beispielsweise kann die Furcht ein spontanes Zurückweichen bewirken, das den Betroffenen rettet. Außerdem setzen die Emotionen den Handelnden jederzeit in eine Beziehung zu früher gemachten Erfahrungen: Schlechte und gute Erfahrungen der Vergangenheit haben einen Einfluss darauf, wie wir ähnlichen Situationen in der Gegenwart begegnen. Schlechte Erfahrungen machen jemanden tendenziell furchtsamer und damit vorsichtiger, fortgesetzt gute Erfahrungen werden dazu führen, dass sich jemand immer mehr traut. Auf diese Weise helfen Emotionen eine gegenwärtige Situation im Lichte der früher gemachten Erfahrung zu bewerten, sie helfen u. a. zu entscheiden, welche Dinge zu schwierig für uns sind und welche wir meistern können. Eine bestimmte Emotion wiederum, die Scham, hilft uns nach Aristoteles, das Richtige und Tugendhafte zu tun, solange wir noch über keinen fest entwickelten Charakter verfügen. Da sich nämlich besonders die jungen Menschen schämen, wenn sie von tugendhaften Menschen dabei beobachtet werden, wie sie schändliche Dinge tun, werden sie aufgrund der Scham solche Situationen zu vermeiden suchen und sich an die Konventionen halten, auch wenn sie deren Sinn noch nicht verstehen. Emotionen können also im Rahmen der aristotelischen Ethik auf vielfältige Weise das richtige Handeln und die Ausübung von Tugenden unterstützen und so zum guten Leben beitragen. Damit scheint Aristoteles eine sehr viel günstigere Einschätzung der Emotionen und allgemein der irrationalen Antriebe vorzunehmen als beispielsweise Piaton oder die Stoiker. Jedoch hat auch die Nützlichkeit der Emotionen für Aristoteles eine genau zu bezeichnende Grenze: Nützlich und dem guten Leben zuträglich sind die trainierten Emotionen einer Person mit wohlgeformtem Charakter. Dagegen können untrainierte Emotionen oder die Emotionen einer unbeherrschten oder lasterhaften Person sogar einen großen Schaden anrichten. Bei der unbeherrschten Person können emotionale Impulse das vernünftige Urteil zunichte machen oder sie können dazu führen, dass eine vernünftige Überlegung unmöglich wird. Wenn wir übertrieben furchtsam oder übertrieben wagemutig sind und wenn sich diese Emotionen nicht an den in Gefahrensituationen gemachten Erfahrungen orientieren, dann kann uns die Lenkung durch diese Emotionen leicht ins Verderben führen. Wenn unsere Anfälligkeit für Zorn nicht proportional zu

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einem realistischen Maß an Selbstachtung entwickelt wurde, werden wir überall vermeintliche Herabsetzungen und Vernachlässigungen vermuten, was zu vielfältigen Problemen im Umgang mit anderen führen kann. — Dies sind die Gründe, warum Aristoteles nicht den Emotionen als solchen einen Wert für das gute Leben zuschreiben möchte, sondern nur denjenigen Emotionen, die Ausdruck eines wohlgeformten, tugendhaften Charakters sind. Nur wer seine evaluativen Dispositionen und Einstellungen im Sinne der Tugenden geformt und entwickelt hat, kann sich auf seine Emotionen verlassen. Die tugendhafte Person ist daher für Aristoteles dadurch charakterisiert, dass sie die richtigen Emotion hat. An einer bekannten Stelle drückt er das so aus: Zum Beispiel kann man von Furcht und Zuversicht, Begierde, Zorn, Mitleid und überhaupt von Lust und Schmerz zu viel oder zu wenig haben, und in beiden Fällen ist es nicht richtig. Wenn man diese Dinge hingegen zum richtigen Zeitpunkt, mit Bezug auf die richtigen Objekte, gegenüber den richtigen Personen mit den richtigen Zielen fühlt, dann ist das die Mitte und das Beste, und das ist charakteristisch für die Tugend. (EN II, 5, 1106M8-23).

In dieser Passage formuliert Aristoteles das Ideal der richtigen oder angemessenen Emotionen. Ob eine emotionale Emotion angemessen ist oder nicht, bemisst sich demzufolge nach unterschiedlichen Parametern, dem Zeitpunkt, dem Anlass, der betroffenen Person usw. So kann sich ein Zuviel an Zorn ganz unterschiedlich äußern: wenn man jemandem aufgrund von nichtigen Dingen zürnt, wenn man jemandem zum falschen Zeitpunkt zürnt, wenn man einer Person zürnt, die eine solche Reaktion nicht verdient hat, wenn man zu heftig zürnt oder zu lange, wenn man sich vom Zorn zu übermäßigen Reaktionen hinreißen lässt u. a. m. Zuviel oder zuwenig von einer Emotion zu haben heißt nichts anderes, als dass eine bestimmte emotionale Reaktion in mindestens einer dieser Hinsichten unangemessen ist - und zwar entweder, indem sie hinter dem angemessenen Maß zurückbleibt oder darüber hinausgeht. Dies ist zugleich der Grundgedanke der Lehre von der Tugend als einer Mitte (die sogenannte Mesotês-Lehre): Bei allem, was kontinuierlich ist, gibt es diese zwei Weisen, das Richtige zu verfehlen, und genau in diesem Sinn ist die Tugend eine Mitte, nämlich die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, und das wiederum bedeutet, dass die Tugend nicht fehl geht, sondern das Richtige bzw. das richtige Maß trifft. Was bedeutet dies alles nun für den emotionalen Zustand einer tugendhaften Person? Einfacher ist es zu sagen, was es nicht bedeutet. Ers-

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tens bedeutet die Lehre von der Mitte nicht das, was man gemeinhin unter dem Ideal der ,gemäßigten' Emotionen versteht, nämlich dass die tugendhafte Person nur durch mittelstarke bzw. gemäßigte Emotionen affiziert werden soll. Diese Auffassung wurde bisweilen unter dem Begriff der metriopatheia als das distinktive Merkmal der aristotelischen Tugendlehre gegenüber dem stoischen Ideal der apatheia, der vollständigen Abwesenheit von Emotionen, angeführt. Wenn Aristoteles jedoch den tugendhaften Zustand durch richtige oder angemessene Emotionen charakterisiert, geht es ihm nicht darum zu sagen, dass die Emotionen immer nur dosiert auftreten dürften: Unter Umständen wird das Ideal der angemessenen Emotionen nur durch eine sehr starke emotionale Reaktion erfüllt — nämlich dann, wenn die Situation eine heftige Reaktion erfordert. Zweitens ist die Formel von der Tugend als einer Mitte nicht als Verfahren zur Berechnung der richtigen Handlungsweise und der richtigen Emotion zu verstehen. Da nämlich die Mitte immer das richtige Maß meint und das Richtige in unterschiedlichen Situationen und für unterschiedliche Beteiligte ganz unterschiedlich aussehen kann, ist die hier zur Rede stehende richtige Mitte nicht dadurch zu finden, dass man sich immer im gleichen Abstand zu den beiden Extremen aufzuhalten versucht. Aristoteles illustriert dies einmal am Beispiel des im Training befindlichen Wettkämpfers, für den das richtige Maß an Nahrung natürlich ein anderes ist als für die untrainierte Person. Daraus schließt er, dass es auch bei der Tugend nicht um die Mitte in den Dingen, sondern um die Mitte ,für uns' gehe (EN II, 5, 1106a29-b7). Im Hinblick auf die Emotionen bedeutet daher die Mesotês-Lehre nicht mehr und nicht weniger, als dass die tugendhafte Person die richtigen Emotionen hat. Jedoch verbirgt sich dahinter weder eine allgemeine Empfehlung zur Mäßigung der Emotionen noch ein Verfahren zur Bestimmung des richtigen Maßes an Emotionen. Welchen Sinn hat diese Lehre dann überhaupt? Die Antwort ist vermutlich in folgendem Zusammenhang zu suchen: Aristoteles charakterisiert die eudaimonia, das gute und glückliche Leben des Menschen, durch eine Ausübung der tugendhaften Dispositionen der Seele. Da nun die menschliche Seele über einen vernünftigen Seelenteil verfügt und über einen, der selbst unvernünftig ist, aber auf die Vernunft hören kann, gibt es auch zwei Arten von Tugend. Eine Art von Tugend, die Charaktertugend, bezieht sich auf den unvernünftigen Seelenteil und dessen Dispositionen, Einstellungen oder Haltungen; sind letztere gut, handelt es sich um einen tugendhaften Charakter. Doch wann sind die Dispositionen des unvernünftigen Seelenteils gut?

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Genau dann, wenn sich der unvernünftige Seelenteil so verhält, wie es die Vernunft, also der den Menschen auszeichnende Seelenteil, anordnen würde; und die Übereinstimmung mit dem vernünftigen Prinzip gilt wiederum als Maßstab für das, was als richtig gelten kann. Mit Blick die Emotionen bedeutet die Mesotês-Lehre daher Folgendes: Die Emotionen einer tugendhaften Person sind richtig oder angemessen, weil sie durch charakterliche Dispositionen und Haltungen bedingt sind, die in Ubereinstimmung mit der Vernunft geformt und habituiert wurden. In der tugendhaften Person konvergieren daher die unvernünftigen Antriebe einschließlich der Begierden und Emotionen in einem bestimmten Sinn und bis zu einem bestimmten Punkt mit den Wünschen der Vernunft. Das heißt natürlich nicht, dass beim Tugendhaften das einzelne Vorkommen einer Begierde oder Emotion einer vernünftigen Überlegung entspringen würde — dies würde dem auch von Aristoteles hervorgehobenen Phänomen widersprechen, dass Emotionen typischerweise unwillentlich und plötzlich auftreten —, es heißt lediglich, dass die für das Zustandekommen einer Emotion mitverantwortlichen Charakterzüge den Zielen der Vernunft entsprechen (wobei der Erwerb solcher Charakterzüge in der Regel nur durch eine an den Maßstäben der Vernunft orientierte Lebensführung oder eine dementsprechende Erziehung möglich ist: siehe oben, Abschnitt 6). Beim Tugendhaften kommt es daher nicht zu einem grundsätzlichen Zielkonflikt zwischen vernünftigen und unvernünftigen Antrieben, und wenn solche Zielkonflikte ausgeschlossen sind — und nur dann, unterstützen die Emotionen nicht nur die tugendhafte und gelungene Lebensführung, sondern sind zum Teil sogar konstitutiv für das glückliche Leben.

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Literatur Aristoteles' Schriften werden mithilfe von Siglen zitiert. Die Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser. Die verwendeten Siglen sind: DA EE EN Poet. Pol. Rhet.

— De Anima — Eudemische Ethik — Nikomachische Ethik — Poetik — Politik — RJìetorik

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Stoa: Zenon (ca. 335—263 ν. Chr.) Chrysipp (280-208 ν. Chr.) Poseidonios (135—51 v. Chr.) Seneca (1 ν. Chr.—65 η. Chr.) Epikur (341-270 v. Chr.)

Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? Friedemann

Buddensiek

Bei Aristoteles und auch bei Piaton spielen bestimmte Affekte eine wichtige Rolle für die Ermöglichung des guten Lebens: Geeignet geformt, bilden sie den entscheidenden Antrieb für Aktivitäten, die das gute Leben unterstützen. Im Unterschied dazu findet sich in der Stoa (beginnend mit dem 3. Jh. v. Chr.) mit dem Ideal der Affektlosigkeit (apatheia) eine Konzeption des guten Lebens, die eine vollständige Verbannung von Affekten, wie wir sie kennen, vorsieht. Ein Grund für diese Verbannung könnte darin liegen, dass die äußere Welt, auf die die Affekte bezogen sind, im Hellenismus als unverfügbar angesehen wird, sowie in der Annahme, dass es der (von den Stoikern angenommenen) Natur des Menschen widerspricht, dass er sich in seiner Aktivität auf diese unverfügbare Welt bezieht. In diesem Kapitel soll vor allem die stoische Affekttheorie, die die Grundlage für diese Verbannung war, dargestellt werden, und zwar mit Schwerpunkt auf der Theorie Chrysipps und einigen ihrer besonderen Probleme. Die epikureische Theorie der Affekte kommt, kürzer, im Abschnitt zur Therapie der Affekte zu Sprache, die den Epikureern — wie auch den Stoikern — ein besonderes Anliegen war. In der epikureischen Affekttheorie werden Affekte vor dem Hintergrund des Glücksideals der Unerschütterlichkeit (ataraxia) behandelt, sie werden nicht grundsätzlich verbannt. Insgesamt wird die epikureische Theorie jedoch — falls bzw. soweit sie in systematisch interessanter Hinsicht über die allgemeinen Bestimmungen zu den Zentralbegriffen Lust und Schmerz hinausgeht — in den überlieferten Quellen nicht gut sichtbar. Ergiebiger sind die Quellen für die stoische Theorie. Diese Theorie ist (gerade in ihrer chrysippeischen Ausprägung) vor allem wegen ihrer stark kognitivistischen oder rationalistischen Affektauffassung von Interesse. Von besonderem Gewicht für die philosophie- und ideengeschichtliche Tradition ist, in Verbindung damit, das stoische Ideal der Affektlosigkeit. Und schließlich sind von Interesse für die gegenwärtige Diskussion —

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wie etwa die Arbeiten Martha Nussbaums zeigen — gerade auch die Ausführungen zum Umgang mit den Affekten bzw. zu ihrer Therapie, die wir bei den Stoikern und den Epikureern finden.

1. Die Affekte bei den Stoikern Die Stoa erörtert Affekte nicht aus einem selbstzweckhaften Interesse an ihnen, sondern deshalb, weil sie als Hindernisse für ein gutes Leben gelten. Kennzeichen eines guten Lebens ist das „in Ubereinstimmung leben" oder „das in Ubereinstimmung mit der Natur leben", und das heißt: leben in Ubereinstimmung mit dem individuellen logos, welcher dem Menschen nach stoischer Meinung wesentlich eigen ist, und in Ubereinstimmung mit dem logos, der die Welt insgesamt konstituiert. Affektlosigkeit ist für dieses „in Ubereinstimmung leben" eine wesentliche Voraussetzung, weil Affekte Defekte des logos sind. Kenntnis dessen, was Affekte sind, ist erforderlich, weil die Affekte — als Hindernisse für ein gutes Leben — zu therapieren, und das heißt: zu eliminieren sind. Damit ist nun nicht gemeint, dass für ein gutes Leben jede Art von Gefühl zu eliminieren wäre. Vielmehr wird auch der Glückliche, d. h. der stoische Weise — wenn es ihn irgendwann einmal geben sollte —, bestimmte Gefühle haben, nämlich die sogenannten „guten Gefühle" (eupatheiai). Diese Gefühle unterscheiden sich aber von allen Gefühlen, die wir, d. h. die Nicht-Weisen, haben und kennen. Nur mit Blick auf diese Gefühle, d. h. die Affekte, vertreten die Stoiker die Forderung der apatheia. Voraussetzung für das Verständnis der stoischen Konzeption oder Konzeptionen der Affekte ist die stoische Auffassung von der Seele. Die Seele wird, allgemein in der Antike, als Prinzip der Selbstorganisation, der Selbstbewegung oder der Aktivitäten des Lebewesens verstanden. Piaton und Aristoteles sprechen nun von mehreren Teilen, Bereichen oder Vermögen der Seele und ordnen die Affekte einem (unteren) arationalen Vermögensbereich zu, den logos einem anderen, rationalen Bereich. Demgegenüber vertreten die älteren Stoiker eine monistische Konzeption der Seele mit Blick auf Denken und Fühlen 1 : Die Seele wird in ihren kogniti1

Für Chrysipp vgl. u. a. PHP 4.2.2. Im Gegensatz zur traditionellen Annahme, Monismus bedeute, dass das Führungsvermögen in genau einem Zustand ist, bedeutet Monismus Inwood 1985, 33 zufolge, dass das Vermögen sich zu jedem Zeitpunkt (wenn auch nicht notwendig über die Zeit hin) in interner Harmonie seiner verschiedenen Bereiche befindet.

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ven, motivationalen und handlungsrelevanten Aspekten mit dem rationalen „Führungsvermögen" (dem logos des Einzelnen) identifiziert. Sie weist keinen abgetrennten affektiven Bereich auf Vielmehr ist ein Affekt eine Zustimmung (synkatathesis) und ein Impuls (hormê) des Führungsvermögens (d. h. des individuellen logos) als ganzen, 2 und genauer: Ein pathos ist eine bestimmte Uberzeugung des Affizierten, dass etwas Bestimmtes der Fall ist, das für ihn gut bzw. schlecht ist, und dass darauf in bestimmter Weise zu reagieren ist.3 Allerdings wird aus den überlieferten Texten nicht klar, ob bzw. wie weit alle Stoiker dieser Definition selbst in dieser noch unspezifizierten Formulierung zugestimmt hätten. 4 Dazu ein knapper Überblick: Für Xenon (ca. 335/3—263/1 v. Chr.) ist ein Affekt ein gegen die Natur des Menschen (d. h. seinen logos) gerichteter Impuls der Seele, der mit einer irrationalen Annahme über das gegenwärtige bzw. künftige Vorliegen eines Sachverhalts verbunden ist, den man selbst irrigerweise (und insofern irrationalerweise) für sehr vorteilhaft oder sehr schädlich hält. In diesem selbstverantworteten Abgewandt-Sein von der Vernunft geht der Af-

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Plut. VM 441C (LS 61B9), 447A (LS 65G3); siehe auch Stob. 2.88.8-10 (LS 65A1), PHP 4.4.6. Die Frage, ob Affekte als Meinungen (bzw. Annahmen oder Uberzeugungen) oder als Urteile (im Sinne von „Urteilsakten") aufzufassen sind, wird von Vogt aufgeworfen und (für Chrysipp) zugunsten der ersten Option beantwortet (dies 2004, 81-85). Für die erste Option spricht als Beleg etwa TD 3.74f.; Ps.Andr. 1 (LS 65B); Plut. VM 447A (LS 65G3); PHP 4.2.1 (LS 65D1); Stob. 2.88.22-89.3 (LS 65C); evtl. PHP 4.5.24Í. (LS 65L2). Für die zweite Option spricht als Beleg etwa DL 7.111; Plut. VM 447A (LS 65G3); PHP 4.1.17, 4.3.1-3. Der Sache nach benötigt Chrysipp für die Konzeption des Affekts eine Einstellung, die länger anhalten kann. Eine solche Einstellung kann oder kann nur durch einen Urteilsakt verursacht oder aktiviert werden (siehe auch Plut. VM 441D (LS 61B11)), ist aber selbst kein Urteilsakt. Andererseits wird die Meinung als schwache und falsche Zustimmung definiert (siehe SE AM 7.151 (LS 41C3); ferner Stob. 2.112.2-4 (LS 41G4)), sodass sich die Frage ergibt, wie sich Zustimmung und Urteil zueinander verhalten. Aus sachlichen Gründen sollte jedenfalls nicht die Entstehungsursache der Uberzeugung (und des Affekts) mit der Uberzeugung (dem Affekt) identifiziert werden. Für eine Identifizierung der Konzeption von Zenon und Chrysipp siehe Inwood 1985, 130f. („at most a verbal refinement"); für eine Unterscheidung siehe Sorabji 1998, 150 (unter Bezug auf PHP 4.2.4f., 4.3.lf., 5.1.4) und ders. 2000, 63-65. Für eine Unterscheidung der Konzeption von Chrysipp und Poseidonios siehe Sorabji 2000, 94 (und insgesamt Kapitel 6-8), für eine übereinstimmende AffektKonzeption bei Chrysipp und Poseidonios siehe Brennan 2002, 178.

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fekt über das Maß der Vernunft hinaus und gilt insofern als „exzessiv". 5 Galen zufolge sind die Affekte für Zenon nun aber nicht die Uberzeugungen selbst, sondern Zusammenziehungen, Ausbreitungen, Anschwellungen oder Verkleinerungen einer materiell gedachten Seele, die mit den Uberzeugungen mitentstehen (siehe PHP 4.3.2, 5.1.4, 5.6.42).6 Allerdings ist Galen in diesem Kontext kaum ein zuverlässiger Zeuge, und ob Zenon diese Unterscheidung tatsächlich getroffen hat, lässt sich nicht sicher feststellen.7 Eindeutig ist, dass für Chrysipp (280/76-208/4 v. Chr.) ein Affekt eine Uberzeugung ist, nicht etwas, das nur in Verbindung mit der Uberzeugung mitentsteht. (Seine Affekttheorie können wir in dieser Hinsicht als „kognitivistisch" bezeichnen.) Ansonsten finden sich bei Chrysipp dieselben Elemente in der Charakterisierung des Affekts wie bei Zenon. 8 Die Identifizierung der Affekte mit Uberzeugungen hat unter anderem die Konsequenz, dass Kinder und vernunftlose Lebewesen keine Affekte haben können, und zwar deshalb nicht, weil nach stoischer Auffassung nur Lebewesen, deren logos ausgebildet ist, einschlägige Überzeugungen besitzen können. 9 Kinder können für sie relevante Sachverhalte nicht so erfassen, wie es die Vernunft täte, und zwar deshalb nicht, weil sie die relevanten Sachverhalte prinzipiell, d. h. auf der Grundlage der ihnen zur Verfügung

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Vgl. Cicero TD 3.75, 4.11, 4.47, Académica posteriora 1.38f.; DL 7.110; Stob. 2.39.4-9; Zenons Formulierung auch Stob. 2.88.8-10 (LS 65A1); Ps.-Andr. 1 (LS 65B). Ps.-Andr. 1 (LS 65B) führt die Definition von Schmerz als arationale Zusammenziehung („oder als frische Annahme der Gegenwart eines Übels, bei welchem man glaubt sich zusammenziehen zu müssen") an; ebenso die Definition von Lust als arationale Anschwellung („oder als frische Annahme der Gegenwart eines Guts, bei welchem man glaubt anschwellen zu müssen"). Nussbaum führt DL 7.1 lOf. und TD 3.74f. als „some evidence" dafür an, dass „Zeno on occasion did identify passion and judgment" (dies. 1994, 372 Anm. 31). Eine nähere Analyse der Texte bestätigt diese Evidenzannahme nicht. Der Affekt als Urteil (krisis): DL 7.111; als Urteil, nicht als etwas, das mit dem Urteil mitentsteht: PHP 4.1.17; der Affekt als unvernünftige, von der Vernunft abgewandte Bewegung: PHP 4.4.16E, 4.6.23, 4.4.32; Plut. VU 450D; als exessiver, der Vernunft nicht gehorchender Impuls: PHP 4.2.8, 16£, 4.4.24E, 4.5.13. Die Verschiedenheit der stoischen Definitionen von „pathos" erklärt sich Vogt 2004, 70 zufolge durch die Verschiedenheit der je gewählten Perspektiven auf das zu Definierende. Siehe PHP 5.1.10; siehe auch S VF 3.477 = Orígenes hl Mattbaeum 13.16.22-28, 46-55 (Klostermann).

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stehenden Fähigkeiten, noch nicht begrifflich fassen und in den relevanten Kontext einordnen können. Eine direkte Reaktion auf Chrysipps Affekt-Konzeption ist die Konzeption von Poseidonios (ca. 135—51 v. Chr.). Poseidonios zufolge kann Chrysipp vor allem das nicht erklären, wie ein Affekt ein exzessiver Impuls sein kann, d. h. ein Impuls, der über das Angemessene und Vernünftige hinausgeht, wenn doch — Chrysipp zufolge — wesentlich die Vernunft für das Entstehen und Vorliegen von Affekten verantwortlich ist.10 Chrysipp kann (Poseidonios zufolge) ferner nicht erklären, wie sich — bei gleichbleibender Uberzeugung — Affekte mit der Zeit abschwächen können oder wie derselbe Eindruck bei verschiedenen Personen zu verschiedenen Affekten führt.11 Poseidonios selbst erklärt Affekte 12 durch die Hinzunahme von „affektbezogenen Bewegungen" (pathêtikai kinêseis), von denen er offenbar häufig sprach (siehe PHP 5.5.26). Solche vorvorhandenen, unwillkürlichen affektbezogenen Bewegungen beeinflussen uns darin, Sachverhalte als zuoder abträglich zu bewerten, ohne dass sie selbst die Uberzeugung oder der Impuls wären, die für den Affekt konstitutiv sind.13 Eine Konsequenz aus der Einführung dieser Bewegungen ist unter anderem, dass Affekte, sofern sie sich den Bewegungen verdanken, nicht in unserer Macht liegen und auch nicht therapierbar sind. Dann aber liegt auch der Besitz von Tugend und das Weise-Sein nicht bei uns — eine für einen Stoiker unliebsame Konsequenz. 14

10 Vgl. PHP 4.3.4, 4.3.8, 4.5.29, 4.5.41, 4.5.44, 4.7.19, 4.7.37, 5.6.4-6, 5.6.14. - Mit unserer Hauptquelle für Poseidonios als Kritiker Chrysipps, nämlich Galens PHP, sind erhebliche Probleme verbunden. Galen versucht durchwegs, Poseidonios als Platoniker gegen Chrysipp in Stellung zu bringen (vgl. Galens Referat zur platonischen Seelendreiteilung und zur Zuordnung der Affekte zu den arationalen Teilen bei Poseidonios, etwa PHP 4.3.3, 4.7.24, 5.1.5) - wohl, um die vermeintliche Unplausibilität der chrysippeischen Theorie durch den Nachweis dafür hervorzuheben, dass selbst Stoiker in entscheidenden Punkten von ihr abwichen. Zu Poseidonios' Affekttheorie bzw. Chrysipp-Kritik siehe Cooper 1998; Tieleman 2003, Kap. 5; Halbig 2004, 52-56. 11 Siehe Poseidonios' Ausführungen und Kritik in PHP 4.5.33—41; vgl. aber für Chrysipp zur Veränderung des Affekts PHP 4.7.12-17, 4.7.25-27, 36. 12 Vgl. Cooper 1998, 89f. 13 Ferner setzt Poseidonios für das Entstehen von Affekten bildliche Repräsentationen des relevanten Sachverhalts voraus, siehe PHP 5.6.25, vgl. auch Cicero TD 4.12. 14 Siehe Cooper 1998, 96-99.

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Ein weiteres Element stoischer Affekttheorie findet sich schließlich in Senecas (ca. 1 v. Chr.—65) Affektkonzeption (die ansonsten traditionell stoisch ausfällt), nämlich die Konzeption der propatheiai\ d. h. bestimmter „voraffektiver" Regungen.15 Kriterium für den Unterschied zwischen Affekten und nicht-affektiven Regungen ist fur Seneca die Frage, ob die Regung willentlich ist, und das heißt für ihn: Ob sie bewusst ist und ob eine Zustimmung zur relevanten Vorstellung erfolgt. Nur wenn dies der Fall ist, sind solche Regungen durch uns kontrollierbar. Nur sie sind auch moralisch relevant. Eine Regung, die eine unwillkürliche Reaktion auf etwas Präsentiertes ist und für die die Kontrollierbarkeit nicht gegeben ist, gilt nicht als Affekt. Solchen nicht-kontrollierbaren Regungen ist auch der Weise unterworfen.16 Zu diesen Regungen gehören zum Beispiel einfache körperliche Reaktionen, aber etwa auch Mitlachen, Mittrauern, Mit-wütend-sein, Mitfürchten etwa bei Theateraufführungen sowie Erbleichen, Zittern oder Herzschlagen beim Sichwappnen für die Schlacht (Seneca De ira 2.2.1, 2.3.2f.). Für die Affekttheorie sind diese Regungen relevant, weil sie zwar sprachlich fassbar sind, dennoch aber nicht als rational gelten (eine Verbindung, die die ältere Stoa noch angenommen hätte). Eine rationale Regung (und somit ein Affekt) ist bei Seneca nicht schon dann gegeben, wenn der Gehalt einer Regung und unsere Reaktion auf ihn formulierbar ist.17 Seneca engt den Bereich dessen, was als Affekt gilt, ein, und zwar wohl deshalb, weil er so die traditionelle stoische Affekttheorie gegen Kritik (auch etwa vonseiten des Poseidonios) zu verteidigen können glaubte. Kommen wir nach diesem Uberblick auf verschiedene Elemente der stoischen Affekttheorie zu sprechen, und hier vor allem auf die phantasia (den Eindruck): Ein Affekt ist eine Uberzeugung, die zum einen eine bestimmte Zustimmung dazu involviert, dass sich eine Sache auch in Wirklichkeit so verhält, wie sie uns in dem Eindruck, den wir von ihr in der Seele haben, erscheint (zur phantasia als Eindruck vgl. Plut. CN 1084F (siehe LS 39F); SE AM 7.228; DL 7.46, 7.50); und zum anderen eine bestimmte Zustimmung dazu, dass es richtig ist, auf diese Sache, die sich so verhält, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Was ist genauer mit phantasia gemeint? 15

Seneca ist die erste wichtige Quelle für die propatheiai, nicht aber ihr Entdecker (siehe Graver 1999; ferner Halbig 2004, 57-60). Für eine weitere Quelle zu den propatheiai siehe Epiktet, fr. 9 (bei Aulus Gellius Noctes Atticae 19.1.14—20; siehe LS 65Y). 16 Vgl. Seneca De ira 1.16.7, 2.2.1E, 2.3.4f, 2.4.1f., Ep 57.3-6; Cicero TD 3.83; siehe auch Inwood 1993, 174-177. 17 Vgl. Inwood 1993, 166, 177, 179, 181.

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Die phantasia ist — Chrysipp zufolge — eine Affektion {pathos) der Seele,18 die sowohl sich selbst als auch das, was sie verursacht, dem, dessen phantasia es ist, bekannt macht (Aetius 4.12.1 (LS 39B1)). Sie kann infolge von Wahrnehmung wie auch infolge von Denken entstehen (DL 7.51). Sie kann der Welt angemessen oder unangemessen sein (DL 7.46). phantasiai vernünftiger Lebewesen sind stets vernünftige phantasiai (DL 7.51). Demnach sind auch alle unangemessenen phantasiai (eines vernünftigen Lebewesens) vernünftige phantasiai. Vernünftig ist eine phantasia genau dann, wenn — wie im Fall des vernünftigen Lebewesens — ihr Gehalt durch einen logos dargestellt werden kann: Eine solche phantasia ist der formulierbare Eindruck, dass etwas Bestimmtes der Fall ist.19 Als Affektion ist die phantasia als ein Widerfahrnis definiert:20 Bestimmte Eindrücke jedenfalls können wir, bei Gleichheit der Wahrnehmungsbedingungen, auf denen sie beruhen, nicht verändern. Dennoch sind wir in 2wei Hinsichten für Eindrücke wesentlich mitverantwortlich. Zum einen können wir in vielen Fällen die Bedingungen und den Bereich der relevanten Wahrnehmung wählen. Zum anderen, und wichtiger, werden Eindrücke zu den Eindrücken, die sie sind, innerhalb eines Kontextes, zu dem vor allem auch das relevante Begriffssystem gehört.21 Für die Ausbildung dieses Kontextes, seiner Ausrichtung, Ausdehnung und inneren Dichte, sind wir wesentlich selbst verantwortlich. Wenn nun Affekte — den Stoikern zufolge — Uberzeugungen sind, d. h. hier: Ergebnisse der Anerkenntnis der Angemessenheit bestimmter komplexer Eindrücke, dann sind wir schon auf einer frühen Ebene für unsere Affekte verantwortlich, nämlich dort, wo wir den Begriffsrahmen bilden. Die Abhängigkeit der Affekte von Eindrücken hat in anderer Hinsicht eine bestimmte systematische Konsequenz: Sie bedeutet, dass es keine Affekte ohne Objekte gibt. Die Objekte mögen sich in einer Weise präsentie18

Genauer: Die phantasia ist ein Aspekt des Führungsvermögens: vgl. Iamblich bei Stob. 1.368.16-20 (LS 53K2); siehe auch Plut. CN1084A-B. 19 Vgl. SE AM 8.70: Die phantasia ist der (sprachlich formulierbare) Eindruck, den zum Beispiel ein Wahrgenommenes auf das Begriffssystem desphantasichTtäge.is hat (so Brennan 2003, 261 f., Anm. 8; siehe auch Frede 1986, 104). 20 Neben Aetius (siehe oben) finden wir, unter Zuschreibung an namentlich nicht genannte Stoiker, phantasia definiert als „pathos der Seele" auch bei Nemesius De natura hominis 6 (172; 55.14—16 Morani). Die Mühe, die die Stoiker mit der Definition der phantasia hatten, wird in SE AM 7.228-2.41 durch die Modifikationen illustriert, die sie der Definition gaben. 21 Vgl. Calcidius ad Timaeum 220 (LS 53G7, 9); siehe auch Cicero Académica priora 2.21 f. (LS 39C), 2.30f. (LS 40N).

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ren, die nicht den Tatsachen entspricht — gleichwohl handelt es sich um Objekte, zuallermindest um fingierte Objekte. Damit ist nun aber nur ein bestimmter Bereich seelischer Zustände abgedeckt. Ein anderer Bereich, nämlich der der Stimmungen, wird nicht mit erfasst. Dies jedenfalls dann nicht, wenn wir Stimmungen als etwas ansehen, das — für sich genommen — nicht objektbezogen ist. Nun könnte man meinen, dass dies die Stoiker nicht irritieren muss: Sie sagen eben nichts über solche seelischen Zustände, die kein Objekt haben. Allerdings könnten die Stoiker diese Hilfe nicht akzeptieren: Der Grund, weshalb sie sich für Affekte interessieren, ist der, dass Affekte unser Leben beeinträchtigen. Dann aber erwartete man, dass die Stoiker sich auch für solche Stimmungen, die nicht objektbezogen sind, interessierten. Einer eventuellen stoischen Erwiderung der Art, dass auch Stimmungen von einer bestimmten Perspektive auf die Welt abhängen, ließe sich wohl entgegenhalten, dass vielmehr umgekehrt die Perspektive von der Stimmung abhängt. Die stoische Theorie ist also, wie es scheint, insofern unvollständig, als sie Stimmungen nicht erfasst. Eine weitere Voraussetzung für das Vorliegen von Affekten — neben dem Vorliegen komplexer Eindrücke — ist die Akzeptanz des relevanten Eindrucks, d. h. die Zustimmung zu ihm. Diese Zustimmung erfolgt genau dann, wenn der Eindruck zu dem Gefüge unserer sonstigen gegenwärtigen oder gespeicherten Eindrücke, Begriffe und Theorien, d. h. zum selbstverantworteten Kontext des Eindrucks, passt. (Wir stimmen zum Beispiel dem Eindruck, ein halb ins Wasser getauchter Stock sei geknickt, deshalb nicht zu, weil dieser Eindruck nicht zu jenem Gefüge passt; für das Beispiel bei den Stoikern siehe SE A M 7.244). Zustimmung wie auch Verweigerung der Zustimmung liegt ausschließlich bei uns. Von den Eindrücken, denen wir zustimmen, sind nun einige impulsive Eindrücke {phantasiai hormêtikai), nämlich diejenigen, die uns einen Gegenstand als erstrebenswert oder als zu Vermeidendes, als für uns gut bzw. als für uns schlecht präsentieren. Ein solcher impulsiver Eindruck ist mit dem Eindruck, wie zu reagieren sei, unmittelbar verbunden bzw. identisch mit ihm. Die Zustimmung zu ihm bezieht sich, als Uberzeugung, auf die dem relevanten Sachverhalt entsprechende Proposition. Der unmittelbar zugehörige Impuls bezieht sich, als Zustimmung, auf das Prädikat jener Proposition. Er ist Impuls bestimmter Strebensreaktionen oder er ist das, was den Impuls in Bewegung setzt (Stob. 2.88.1—6 (LS 331), siehe auch 2.86.17f. (LS 53Q1); Brennan 2003, 266-268). Der Impuls wiederum verursacht direkt die entsprechende Handlung.

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2. Probleme der stoischen Äffekttheorie Unter den Problemen, die mit stoischen Affektkonzeptionen verbunden sind, sticht das Problem der kognitivistischen Affektauffassung heraus, welches sich — vor allem — in Chrysipps These findet, Affekte seien durch Urteile verursachte Überzeugungen. In diesem Zusammenhang sind einige Teilprobleme auch dann von Interesse, wenn sich aus ihrer Erörterung kein systematisch befriedigendes Gesamtbild ergibt. Die Teilprobleme betreffen die Uberzeugungsstruktur des Affekts, das Verhältnis von Uberzeugung und Impuls in einer kognitivistischen Theorie, die Auffassung von Affekten als defekten Einstellungen und schließlich den Gefühlsaspekt der einzelnen Affekte. Binnenstruktur Zur Anzahl der Überzeugungen in Chrysipps Affekten. Ein Affekt ist, Chrysipp zufolge, eine Uberzeugung. Eine solche Uberzeugung besteht in der Zustimmung zu einem gegebenen Eindruck. Nimmt Chrysipp nun neben der Überzeugung, etwas sei gut bzw. schlecht für uns (Sachverhaltsüberzeugung), noch eine weitere Überzeugung an, nämlich die Uberzeugung, es sei angemessen, auf diese oder jene Weise zu reagieren (Reaktionsüberzeugung)? Haben wir es mit einer oder mit zwei Uberzeugungen zu tun?22 Relevant ist diese Frage zum einen mit Blick auf das logische Verhältnis der Überzeugungen zueinander (falls es mehrere sind), zum anderen mit Blick auf die Therapie des Affekts. Wir haben keinen Text, in dem Chrysipp sich explizit zur Anzahl der involvierten Uberzeugungen äußert. Für die Annahme, er habe zwei Überzeugungen im Fall des Affekts angenommen, könnte man eine Stütze in TD 3.76 sehen. Cicero referiert hier verschiedene Arten der Therapie der Affekte. So habe etwa Kleanthes empfohlen, dem Trauernden klarzumachen, dass das betreffende Übel kein Übel sei. Die Peripatetiker hätten empfohlen, ihm klarzumachen, dass es kein großes Übel sei. Die Epikureer hätten den Trauernden von der Fokus sierung auf das Übel zur Fokus sierung auf ein Gut gelenkt. Chrysipp zufolge aber gehe es beim 22

Dass der Fall nicht offensichtlich ist, zeigt ein Blick auf Cicero. Dort finden sich (in stoischem Kontext der Tusculaneti) unter anderem folgende Annahmen: (1) eine Meinung von Gutem bzw. Schlechtem erregt eine Bewegung oder Leidenschaft: Die Leidenschaft ergibt sich aus (oder infolge) der Meinung oder durch eine Meinung. Die Ursache der Leidenschaft ist nichts anderes als diese Meinung (TD 3.24£, 3.61). (2) Der Schmerz ist die Meinung, ein großes Übel liege vor, und zwar so, dass Schmerz zu empfinden angemessen erscheint (TD 3.25).

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Trost zuallererst darum, dem Trauernden die Meinung zu nehmen, er erfülle mit der Trauer eine gerechte und geschuldete Pflicht. Aus diesem Referat könnte man nun schließen, dass Chrysipp die Therapie des Schmerzes auf die zweite von zwei im Schmerz involvierten Uberzeugungen beziehe (nämlich die Reaktionsüberzeugung), und daraus wiederum, dass er zwei Uberzeugungen annehme. Das aber geht aus dem Text nicht hervor. Es ist Ciceros Montage, die uns den Eindruck vermittelt, Chrysipp habe als Gegenstand der Therapie im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht die erste, sondern die zweite Uberzeugung vorgesehen. Der Text sagt nur, dass Chrysipp die Therapie auf die Uberzeugung zielen lässt, man müsse Schmerz empfinden. Wie Chrysipp das Verhältnis dieser Überzeugung zur Überzeugung, ein großes Übel sei gegenwärtig, bestimmt hat, sagt der Text nicht.23 Sorabji führt unter anderem folgende Gründe an, weshalb Chrysipp eine zweite Überzeugung („Reaktion F ist angemessen") brauchte: (1) Chrysipp glaubte, dass es diese Überzeugung sei, die in der Therapie anzugehen sei. (2) Auch wenn die Überzeugung über das Vorhandensein von Gutem (bzw. Schlechtem) unverändert bleibt, kann der Affekt sich abschwächen. 24 Zu (1) ließe sich jedoch erwidern, dass mit dem ausdrücklichen Bezug auf die Reaktionsunangemessenheit auch nur die Perspektive gemeint sein könnte, von der aus eine (einzige) Überzeugung zu modifizieren ist. Zu (2) ließe sich erwidern, dass — bei in bestimmter Hinsicht gleichbleibender Überzeugung — der Kontext der Überzeugung sich so ändern kann, dass eine Affektänderung eintritt. Vor allem diese zweite Erwiderung ist wichtig: Der als Grundlage für den Affekt dienende Eindruck ist immer ein Eindruck innerhalb des Systems von Begriffen und weiteren Eindrücken, die der Träger der phantasia hat. Von diesem System hängt wesentlich ab, welche Eindrücke wir haben. Der affektrelevante Eindruck steht im Zusammenhang von Eindrücken und Begriffen, die in einem umfassenden Sinn das betreffen, was wir sind und, davon abhängig, was es ist, das uns widerfahren ist: Der zentrale Eindruck kann nur als Teil dieses Systems identifiziert werden. Der Eindruck, der das betrifft, was wir sind, schließt aber alle unsere Wertschätzungen ein, d. h. alle Überzeugungen über das, 23

Gleiches gilt für die zweite Erwähnung Chrysipps in diesem Zusammenhang (TD 3.79). Cicero erwähnt den Ansatzpunkt der Therapie ohne Nennung Chrysipps mehrfach, siehe TD 3.61, 3.68, 3.70, 3.77-78. 24 Siehe Sorabji 2000, 32f. (zu (1) siehe TD 3.76 und 3.79, zu (2) Verweis auf PHP 4.7.14).

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was für uns Gutes bzw. Schlechtes (vermeintlich) ist, aber auch alle Überzeugungen, die das Verhältnis betreffen, in dem wir zur Welt stehen und in das wir uns zur Welt setzen. Innerhalb dieses Gesamtnetzes von Begriffen, Annahmen und Eindrücken findet nun jener zentrale affektbegründende Eindruck samt Zustimmung einen ganz bestimmten Platz. Die Uberzeugung über die angemessene Reaktion kann nun aber keinen davon verschiedenen logischen Platz einnehmen: Wenn sie die Reaktionsüberzeugung genau zu jener Sachverhaltsüberzeugung ist, muss sie dieselben Beziehungen aufweisen. Weil Uberzeugungen über ihren Platz im Gesamtgefüge bestimmt werden, handelt es sich bei beiden Uberzeugungen um ein und dieselbe Überzeugung. (Die Überzeugung über die Angemessenheit der Reaktion hat dieselbe „Bewertungsstelle" wie die Sachverhaltsüberzeugung.) Diese eine Überzeugung ist dann eine Überzeugung zum Beispiel des Inhalts25, dass uns durch die Wegnahme von etwas ein Schaden zugefügt wurde, über den wir außer uns geraten sollten. Eine Veränderung des Affekts bei gleichbleibender Überzeugung wäre demnach wesentlich mit einer Veränderung des Überzeugungskontextes zu erklären, nicht mit der Annahme zweier Überzeugungen. 26 Überzeugung und Impuls: Der Kognitivismus. Eine der besonders irritierenden Annahmen der chrysippeischen Theorie ist die Annahme, dass eine Überzeugung („so und so ist zu reagieren") einen Impuls involvieren können soll. Diese Irritation bezieht sich auf jede Art von Motivation, also nicht nur auf die Motivation im Fall des Affizierten, sondern auch auf die im Fall des Weisen (welcher keine Affekte hat). Die Quellen für Chrysipps Begründung sind recht schmal. Vielleicht hätte er aber Folgendes angemerkt: Zum einen ist überhaupt nicht klar, inwiefern eine Verlagerung der affektiven Motivation oder des Impulses in einen arationalen Bereich eine Antwort auf die Frage, wie es zum affektiven Impuls kommt, sein können soll. Zum anderen (so eventuell Chrysipp) spricht alles dafür, dass Affekte begrifflich fassbar und insofern rational sind: Alles, was ein rationales We25 26

So Nussbaum 1994, 375, siehe auch 382. Entsprechend lässt sich PHP 4.7.14f. einordnen, wo Chrysipp zitiert wird: „Fortzubestehen scheint mir eine Meinung von der Art, dass etwas Schlechtes gegenwärtig ist, doch wie sie älter wird, lässt die Kontraktion nach und, wie ich glaube, der Antrieb zur Kontraktion. Vielleicht besteht aber auch dieser Antrieb fort, doch was daran anschließt, entspricht ihm nicht [mehr], weil zusätzlich eine andere Disposition von bestimmter Beschaffenheit entsteht, die aus diesen Begebenheiten nicht schlüssig folgt." (Übers. Hülser, LS 65Q2£, verändert).

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sen als solches tut, ist dank dieser Gefasstheit rational. Zum dritten (so Chrysipp) ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass der Mensch einer und nicht mehrere ist und dass die gesamte Ursache für sein Handeln ihm zugeordnet wird, und zwar insofern er ein rationales Wesen ist. Dies (so Chrysipp) ist eben der Grund für die kognitivistische Auffassung der Affekte: Die Vernunft ist so strukturiert, dass sie alle Handlungsmotivation aus sich selbst hervorbringt, es gibt keinen Platz für andere Quellen der Motivation. 27 Unsere Irritation dürfte hier fortbestehen. Chrysipp würde dann aber wohl fragen, wonach wir eigentlich noch weiter suchen, wenn wir nach dem Impuls fragen. Vielleicht hat unsere Frage auch mit der Annahme zu tun, im Fall des Affekts würden wir in bestimmter Weise getrieben, oder mit der Annahme, der Affekt habe einen bestimmten Erlebnisaspekt. Die erste Annahme würde Chrysipp in der Behandlung der sog. „Exzessivität" des Affekts aufnehmen, auf die zweite Annahme würde er (wie die Stoiker insgesamt) in Verbindung mit der Behandlung einzelner Affekte und ihrer materiellen „Verankerung" eingehen. Affekte als Defekte: Die Exzessivität. Chrysipp zufolge sollen Affekte Uberzeugungen (des logos) und zugleich Defekte (des logos) sein. Wie passt das zusammen? Chrysipp nimmt ausdrücklich auf die Standard-Definition Bezug, wonach ein Affekt eine vernunfdose, gegen die Natur gerichtete Bewegung ist und exzessiv ist (PHP 4.2.11). Mit „exzessiv" ist gemeint, dass die Impulse das richtige innere Verhältnis (symmetria), das der eigentlichen Natur des Affizierten entspricht, verlassen (PHP 4.2.14). Dies illustriert er durch den Vergleich mit einer rennenden Person: Die rennende Person hat, im Unterschied zur gehenden Person, ihre Bewegung nicht unmittelbar unter Kontrolle, sondern wird von ihr, wie von einer ihr äußeren Kraft, fortgetragen (PHP 4.2.15-18; 4.4.24f., 30f., 4.5.13f., 4.6.35). Rational ist dieser exzessive, vom logos als Norm abweichende Zustand, und das heißt der Affekt, insofern, als schon der Eindruck, der dem Affekt zugrunde liegt, als Eindruck eines rationalen Wesens selbst rational ist. Es handelt sich bei ihm um einen (begrifflich vollständig fassbaren) Eindruck mit dem propositionalen Gehalt, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Die affekt-konstituierende Überzeugung ist insofern rational, als es die

27

Dieser letzte Punkt bei Cooper 1998, 78. — Der psychische Monismus, den man sonst als Grund für den Kognitivismus sehen könnte, ist tatsächlich nicht dessen Grund, sondern Folge.

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Zustimmung zu einem solchen Eindruck ist. Irrational ist dieser Zustand, weil er eine Abweichung von der eigentlichen, rationalen Natur des Affizierten ist. Chrysipp kann nun insofern davon sprechen, dass der Affizierte im Zustand des Affekts wie von einer ihm äußeren Kraft fortgetragen wird, als der Affizierte von etwas bewegt wird, das nicht seine eigene Natur ist, nämlich von einem Zustand, der aus dem richtigen Verhältnis geraten ist: Er lebt nicht mehr in Ubereinstimmung mit der Natur und handelt in dieser Hinsicht nicht mehr rational (vgl. Tieleman 2003, 178; vgl. PHP 4.6.44): ,er tritt aus sich heraus', ,gerät außer sich', seine exzessiven Impulse besitzen Eigendynamik. 28 Er wird, wenn auch selbstverantwortet, von diesen Zuständen getrieben, genauer: In diesen Zuständen treibt er sich selbst gegen sich selbst. In einem solchen Zustand ist es sehr wohl möglich (so etwa auch im Fall der „Willensschwäche"), dass der Affizierte in einem bestimmten, schwachen Sinn noch Kenntnis davon hat, welches die richtige Uberzeugung oder die richtige Handlung ist. Klassisches, von Chrysipp selbst angeführtes und oft diskutiertes Beispiel hierfür ist Medea, die weiß, dass es nicht richtig ist, ihre Kinder dem sicheren Tod auszuliefern (sie hat insofern Zugriff auf den ,richtigen' logos), es aber dennoch tut (ihr logos, der sich in defizientem Zustand befindet, wird handlungswirksam). 29 Anders als bei Piaton oder Aristoteles stehen hier nicht verschiedene Teile der Seele einander gegenüber, sondern es ist jeweils der ganze Mensch (d. h. das ganze Führungsvermögen), der sich entweder im Affekt oder im natürlichen Zustand befindet. 30 Entsprechend wird innerer Konflikt, der im Fall der Willensschwäche vorzukommen scheint, als rascher Wechsel des Gesamtzustands einer Person verstanden (vgl. Plut. VM 441C (LS 61B9), 441F).

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29 30

Vgl. Long 1999, 583. Die seelische Disposition zu solchen Zuständen ist zugleich eine physische Disposition zu Zuständen, in denen der Affizierte von etwas, das er selbst nicht ist, mitgerissen wird, ohne dies (als das, was er eigentlich ist) zu kontrollieren. Zum Verhältnis von Disposition und Affekt vgl. etwa Graver 2002, 148-156 (zu TD 4.23-33); siehe auch PHP 5.2.3-7, 5.2.14 und Tieleman 2003, 326. Vgl. Euripides Medea 1078£, dazu PHP 3.3.16, 4.6.19; für die intensive Beschäftigung Chrysipps mit der Medea siehe auch DL 7.180. Vgl. Gill 1983.

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Einzelne Affekte: Der Erlebnisaspekt. Der andere Aspekt, der uns in Chrysipps Affekt-Konzeption bisher zu kurz zu kommen scheint, ist der des Erlebnisaspekts des Affekts. Hierfür bietet sich nun ein Blick auf einzelne Affekte an. Die Stoiker liefern neben den allgemeinen Ausführungen zu Affekten auch Einteilungen und Beschreibungen der einzelnen Affekte. (Eine klassische Quelle für solche Einteilungen sind Ciceros TD, etwa ab 3.14.) Die Einteilungen gehen übereinstimmend von vier Affektgruppen oder Hauptaffekten aus. Diese werden eingeteilt einerseits danach, ob sie sich auf Gutes (Erwünschtes) oder auf Schlechtes (Unerwünschtes) beziehen, andererseits danach, ob sie sich auf Gegenwärtiges oder auf Zukünftiges beziehen. Auf ein gegenwärtiges Übel bezogen ist der Hauptaffekt Kummer oder seelischer Schmerz (lypê, aegritudóyx, d. h. Schmerz, der die oben erläuterte Uberzeugungsstruktur aufweist. Auf ein künftiges Übel bezogen ist die Furcht (pbobos, metus), auf ein anwesendes Angenehmes bezogen die Lust (hêdonê, voluptas gestiens, laetitidf2, auf ein künftiges Angenehmes bezogen die Begierde (epithymia, cupiditas, libido).33 Diese vier Hauptarten werden sorgfältig weiter unterteilt. Mit dieser Unterteilung müssen dann prinzipiell alle Affekte erfasst werden können (wenn auch die gegebenen Auflistungen keinen Vollständigkeitsanspruch haben), da die Therapie aller Affekte Voraussetzung für das gute Leben ist. Einzelne Affekte (wie auch ihre Therapie) stehen im Zusammenhang miteinander: Wen Schmerz befällt, den befällt in der entsprechenden Situation auch Furcht (nämlich vor dem künftigen Eintreten desselben Übels), Kleinmut, Niedergeschlagenheit, Furchtsamkeit und Feigheit (TD 3.14). Schmerz ist auch mit Zorn und mit Neid verbunden (3.19—20) und Furcht mit Hoffnung (Seneca Ep. 5.7). Insgesamt dürfte die Verbindung der Affekte direkt auf die Verbindung der Eindrücke, die für sie charakteristisch sind, und das Verhältnis ihrer jeweiligen logischen Orte zurückgehen. 34 31 Nussbaum 1994, 386 übersetzt „distress". 32 Nussbaum 1994, 386 übersetzt „deäghf. 33 Für die vier Affektgruppen siehe etwa auch Ps.-Andr. 1 (LS 65B); Stob. 2.88.1421 (LS 65A3f.), 2.90.19-91.9 (LS 65E); DL 7.110; TD 3.24f., 4.11). Zu beachten ist (so auch Vogt 2004, 71), dass Lust bzw. Schmerz gerade nicht Definiens der Affekte sind (Begierde und Furcht werden als in bestimmter Weise vorgeordnet betrachtet, siehe Stob. 2.88.16-21 (LS 65A4)). Für die weitere Unterteilung siehe etwa TD 4.16-21; siehe auch Ps.-Andr. 2-5; DL 7.111-114; Stob. 2.90.19-91.9 (LS 65E). 34 Vgl. auch Nussbaum 1994, 386-389. - Cicero wählt für die Unterarten des Schmerzes das Bild von den verschiedenen Wurzeln desselben Stammes (TD 3.83£).

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Die Definition einiger einzelner Affekte in dieser Unterteilung ist nun ein guter Beleg für das Interesse der Stoiker an der Gefühlsseite der Affekte, das über die elementare, eher physiologisch konnotierte Unterscheidung von „Anschwellungen" und „Zusammenziehungen" (des pneumà) im Fall der Hauptaffekte hinausgeht: 35 Diese Gefühlsseite wird gerade nicht geleugnet, sie soll vielmehr durch die Identifizierung des Affekts mit einer bewertenden Überzeugung der materiell gedachten Seele erfasst sein.36 Bedrückung oder Bedrängnis etwa ist ein beschwerender, bedrückender Schmerz. „Belästigt-Sein" ist ein beengender Schmerz, der uns das Gefühl verschafft, keinen Platz zu haben. „Bestürzung" ist ein irrationaler Schmerz, der aufreibt („abschabt") und verhindert, das Gegenwärtige zu überblicken. Nagender Schmerz ist ein eindringender und scharfer Schmerz, seelischer Schmerz kann eine bestimmte Art von Biss sein (DL7.111f.; Ps.-Andr. 2; Plut. VM 449A; PHP 4.3.2).37 Offenbar haben auch für die Stoiker affektive Uberzeugungen eine bestimmte Erlebnisqualität. Irritierend bleibt nur, dass Chrysipp sie auch mit dieser Qualität identifiziert.

3. Therapie der Affekte Stoiker und Epikureer erörtern Affekte nicht aus einem Erkenntnisinteresse an Affekten als solchen. Vielmehr erörtern sie Affekte, weil Affekte auf die eine oder andere Weise ein zentrales Hindernis auf dem Weg zum guten Leben sind. Die Verwirklichung des guten Lebens ist das Hauptziel. Ein Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen, ist die Therapie der Affekte, und genauer: die Therapie der Überzeugungen, die mit Affekten verbunden (oder mit ihnen identisch) sind. Diese Therapie (und die Verbesserung der menschlichen Seele) ist der Zweck von Philosophie. Da alle Menschen dieser Therapie bedürfen, muss sie jeweils so gefasst sein, dass sie ihnen gerecht werden kann. 38 Die Auffassung dazu, wie die Therapie beschaffen 35 36 37

38

Cicero TD 3.83; Ps.-Andr. 1 (LS 65B); PHP 4.2.5Í., 4.3.2, 5.1.4; siehe auch 3.1.25, 3.5.43. Vgl. auch Nussbaum 1994, 369; 2001, 56-63. Diese Beispiele zeigen auch die erheblichen Schwierigkeiten, die sich uns für die phänomenale Erfassung des Affekts (und für seine Bestimmung und Benennung) stellen, der im antiken Text jeweils gemeint ist. Ist zum Beispiel angor Beklemmung, Sorge, Niedergeschlagenheit oder Pein (siehe TD 4.18)? Zur Therapie als Philosophiezweck siehe Porphyrius Ad Marcella/» 31 (LS 25C), ferner Seneca Ep. 16; zum allgemeinen Bedarf an Therapie siehe Seneca Ep. 16.3; zur Verbreitung der Grundzüge der Philosophie zum Zweck der Therapie bei

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sein muss, hängt wesentlich aber von der Auffassung darüber ab, worin ein gutes Leben besteht, und von der Auffassung darüber, was Affekte sind. Epikur weist, im Unterschied zu den Stoikern, Affekten — in gewissem Maß — eine positive Rolle für das Erreichen des guten Lebens zu. Affekte zeigen uns — als eines der „Wahrheitskriterien" (wir würden vielleicht eher von „Angemessenheitskriterien" sprechen) —, was zu wählen und zu meiden ist.39 Ihre Rolle soll offenbar darin bestehen, zu unserer Sicherheit beizutragen (zur Sicherheit als Ziel XD 6f., 14), indem wir zum Beispiel dank des Zorns auf eine Schädigung so reagieren, dass in weiterer Zukunft ein unerschüttertes Leben gesichert bleibt. Eine ähnliche Rolle haben Affekte, wenn sie therapierende Funktion haben. Dies ist etwa dort der Fall, wo sie gewissermaßen natürliche Reaktionen auf Widerfahrnisse sind und bei der Verarbeitung solcher Widerfahrnisse helfen. Diese Rolle weist Epikur ausdrücklich der Trauer etwa angesichts des Verlusts eines Menschen zu. Epikur vertritt nicht nur kein Ideal der Affektlosigkeit. Vielmehr sieht er den zentralen Effekt der Trauer hier darin, dass sie das Aufkommen von Zuständen vermeiden hilft, die weit schmerzhafter oder negativ folgenreicher sind.40 Trauer ist in diesem Fall nicht ein zu therapierender, sonder ein therapierender Affekt. Für Epikur ist nun Ziel der Therapie der Affekte, den Einzelnen zu jenem natürlichen Zustand zurückzuführen, in dem er nur natürliche, keine „leeren", d. h. schädlichen (im Unterschied zu natürlichen oder lebensnotwendigen) Begierden hat,41 d. h. zu jenem Zustand der Begierden, der

39 40 41

den Epikureern siehe Nussbaum 1994, 129; zur (für den Epikureismus ungewöhnlichen) Verbreitung dieser Grundzüge in der Öffentlichkeit siehe Diogenes von Oinoanda fr. 2, 3, 30, 119 (und Smith 1993, 122£). DL 10.31; KD 24; Hdt. 38, 82. Zum Kriterium siehe D L 10.34, Men. 129, Aristokles bei Eusebius, Praeparatio evangelica 14.21, 768d—769a (fr. 260 Usener). Siehe Ep. ad Dositheum (bei Plutarch Non posse suaviter vivi secundum Epicurum (Contra Epicuri beatitudine/») 1101A-B, fr. 120 Usener). Für die Einteilung siehe Philodem De ira 6.13-23, 37.24-38.8 und 42.22-34, sowie Annas 1989, 148. Dass Epikur einen Platz zum Beispiel für angemessenen nicht-leeren Zorn angenommen hat, ergibt sich für Procopé aus einem Zitat bei Seneca, in dem Epikur von „unmäßigem" Zorn spricht (Seneca Ep. 18.4; Procopé 1998, 181, 187£; vgl. auch Lukrez De natura rerum 3.312f. (siehe LS 14D5); der Preis der Zorn-Freiheit aus KD 1 bezieht sich auf die „Unsterblichen"); siehe auch den Zorn des Weisen: Philodem De ira 41.28-42.14, 44.9-22, 47.29-41. Annas 1992, 197f. zufolge unterscheidet sich der Zorn des Weisen von dem des Nicht-Weisen insofern, als der Weise Annahmen hat, die ihn zu anderen Konsequenzen fuhren (bei ihm führt Zorn vor allem zur Distanzierung). Procopé 1998,

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jenem gleicht, in dem sich der Mensch bei seiner Geburt befunden hat und den er infolge der Einwirkung von Umgebungseinflüssen verlassen hat.42 Es ist eine Rückführung zur Lust, wobei „Lust" für Epikur die Abwesenheit von Schmerz bedeutet. 43 Für diese Zurückführung sind leere Begierden oder Affekte — zum Beispiel Furcht vor dem Tod oder vor den Göttern — dem, der sie hat, als leer aufzuzeigen. 44 Die Therapie erfolgt nur von außen her: Sie beruht auf einem LehrerSchüler-Verhältnis, in dem die Meinung des Lehrers als unangreifbar gilt.45 Eine Selbsttherapie, ein eigenständiges Auffinden der richtigen Uberzeugungen, ist offenbar nicht vorgesehen. Die Therapie verlangt zunächst die Offenlegung der relevanten Annahmen des Schülers.46 Die Korrektur der Annahmen kann dann nach Bedarf auf verschiedenen Ebenen oder auf verschiedene Weisen erfolgen: durch behutsame Belehrung, aber auch durch scharfen Tadel oder (vermutlich) sogar öffentliche Bloßstellung der entsprechenden Annahmen bzw. ihres Vertreters. 47 Zentrales Mittel dieser Therapie von außen her sind die Lehren Epikurs, die der Schüler zu verinnerlichen hat (da seine eigenen falschen Annahmen nicht alle an der „Oberfläche" liegen), sei es auch nur in der Kurzversion von Zusammenfassungen (vgl. Epikur Hdt. 35f., 83; siehe auch Men. 135). Die Therapie ist insofern dogmatisch, als sie auf epikureischen Lehren über die Beschaffenheit der Welt und unserem Bezug zu ihr beruht. 48 Mit diesem therapeutischen Verfahren durch Belehrung scheint nun ein zweites Verfahren zu konkurrieren, in dem es um eine Linderung von Affekten geht, nämlich das Verfahren der Ablenkung: In diesem Verfah-

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47 48

174—177, 183 f. nimmt an, Philodem habe die (quasi-aristotelische) Position der angemessenen Affekte im Unterschied zu affekt-kritischeren und affekt-unkritischeren Epikureern vertreten. Nussbaum 1994, 107. Es finden sich hier vielfache Analogien zu Verfahren der Medizin, siehe dies. 1994, 116. Zur Therapie im Epikureismus ingesamt dies. 1994, Kapitel 4—7. Siehe etwa Epikur KD 3, 18—21; zur Abwesenheit von Schmerz als Lebensziel siehe Men. 128. Zum Tod und zur Furcht vor ihm siehe zum Beispiel KD 2, 20; Men. 124—126; zu den Göttern und der Furcht vor ihnen zum Beispiel Men. 123f., Hdt. 76f., 81 f. Nussbaum 1994, 130. Siehe Philodem De ira 3.6—25. Wesentlich für die Offenlegung ist auch die Selbstoffenbarung des Schülers: Er muss von sich selbst erzählen (Philodem, De liberiate dicendi 28, 40-42, 49, 51). Vgl. Philodem De liberiate dicendi 64 und 83 (zusammen mit Nussbaum 1994, 126). Vgl. Nussbaum 1994, 129-133.

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ren wird Schmerz — Epikur zufolge — durch eine Ablenkung vom Gedanken an etwas Beschwerliches und durch eine Hinlenkung zur Betrachtung von lustbringenden Dingen gemildert (TD 3.32—38). Wenn dieses Verfahren aber nicht nur auf Symptome zu beziehen sein soll, sondern ebenfalls auf die Grundlage des leeren Affekts zielt, ist das dogmatische Verfahren als Teil der Therapie durch Ablenkung anzusehen, d. h. als langfristig angelegter Versuch, die Menge der affektrelevanten Annahmen zu verändern. Im Unterschied zur epikureischen Therapiekonzeption verstehen stoische Konzeptionen die Therapie wesentlich als Selbstheilung (oder als Anleitung dazu): Das Individuum ist nicht Objekt, sondern Subjekt der Therapie.49 Wesentliche Voraussetzung der Therapiekonzeption ist die Annahme, dass die Vernunft (alias Tugend) für den Menschen das einzige Relevante ist, d. h. das, worauf allein ein gutes Leben baut. Alles andere — seien es etwa Familie, Freunde, Besitz, der eigene Körper oder das eigene Leben — ist nach stoischer Meinung dem Menschen äußerlich und ohne Wert in sich. Nur die Vernunft hat mit ihm selbst zu tun und verdient Fürsorge, nur sie steht in seiner Macht, sie ist hinreichend und notwendig für ein gutes Leben.50 Die zu therapierenden Annahmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Unterscheidung zwischen Zugehörendem und Fremdem nicht oder nicht auf die richtige Weise machen: Ihr Fehler besteht darin, dass sie dem Menschen Äußerliches für relevant oder wesentlich für ihn halten. Der zentrale Ansatzpunkt für die Therapie besteht in der (Anleitung zur eigenen) Prüfung und Korrektur unseres Gebrauchs, unserer Einordnung oder Bewertung der phantasiai, d. h. dessen, wie die Welt uns erscheint (vgl. Epiktet Dissertationes 1.1.7, Encbemdion 1.5). Unter den Therapiemitteln sind — bei Chrysipp — das wichtigste die ,gesunden' logoi (etwa über das, was tatsächlich gut ist). Nur wenn solche Argumente oder Theorien dem Affizierten (in seinem Zustand) nicht vermittelbar sind, verfährt die Therapie auch auf der Grundlage von Theorien, die dem Affizierten in seinem rational defizienten Zustand zugänglich sind.51 Hier besteht die Aufgabe der Therapie dann darin, dem Affizierten zu zeigen, dass seine Annahme, er müsse affektiv reagieren, nicht einmal zu seinen eigenen sonstigen Annahmen passt. (Dies ist vermutlich der Ort für den verkürzenden Bericht, Chrysipp zufolge ziele die

49 50 51

TD 3.6, 3.66f.; Seneca Bp. 8.2, 33.7-9, 41.If.; Chrysipp in PHP 5.2.22-4. Vgl. Seneca Ep. 41.6-8; Epiktet Dissertationes 2.9.2£; DL 7.102, 7.127. Vgl. SVF 3.474 = Orígenes Contra Celsum 1.64 (67.5-11 Marcovich), 8.51 (566.16-28 Marc.); dazu Tieleman 2003, 166-169.

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Therapie auf die Angemessenheit der Reaktion; vgl. TD 3.76, 3.79.) In diesem Fall ist die geeignete Therapie auf die relevanten Umstände und Zustände des Einzelnen zugeschnitten.52 Weiteres Therapiemittel sind Beispiele, die — etwa durch die Relativierung der Größe individuellen Teids — dem Affizierten deutlicher machen, in welcher Situation er sich tatsächlich befindet (TD 3.56f., 3.59)53. Ein wesentliches Mittel der Affektprävention ist außerdem die gedankliche Vorbereitung auf zu erwartende Übel.54 Für ein letztes Therapiemittel ist schließlich der Umstand relevant, dass Affekte physische Zustände sind: Therapie der Affekte ist stets Therapie der Seele als materiellem Körper, zum Beispiel auch durch geeignete Diät.55 Im Unterschied zur epikureischen Therapie soll die stoische Therapie die Affekte, die wir, d. h. die Nicht-Weisen, haben, letztlich ganz beseitigen (Seneca Ep. 116). Dies gilt für Affekte jeder Intensität (jede noch so schwache Krankheit ist eine Krankheit) und für Affekte jeder Art (jeder Affekt ist eine Funktionsstörung des Ganzen, vgl. Cicero TD 3.82f.). Plausibel ist die vollständige Beseitigung insofern, als es sich bei Affekten generell um unangemessene Uberzeugungen handelt, es also keinen Grund gibt, sie beizubehalten: Sie sind nicht arational, sondern irrational, sie sind niemals gerechtfertigt. Zum anderen sind Affekte — anders als die peripatetische Theorie dies sieht — nicht notwendig als Motivation für angemessenes Handeln (vgl. Seneca De ira 1.12.1f.), sie sind zudem unzuverlässig (1.16.6), schlecht oder nicht kontrollierbar (1.7.4), sie sind höchst unangenehm (1.1.3—5)56: Schmerz „zerfetzt und zerfrisst die Seele und zerstört sie ganz" (Cicero TD 3.27). Er ist, wie Chrysipp meint, eine Auflösung ('solutio) des ganzen Menschen (TD 3.61). Dies alles nähme man mit dem Affekt in Kauf, um sich auf etwas Externes zu beziehen, das, da von uns verschieden, ohnehin nicht in unserer Macht steht und uns nicht wesentlich ist.

52 Vgl. TD 3.76, 79, 4.59; Seneca De ira 1.6.2, Ep 38.1, 64.8f. 53 Vgl. Nussbaum 1994, 338. 54 Siehe TD 3.52; Galen PHP 4.7.7. Die Ablehnung des Verfahrens bei den Epikureern siehe TD 3.32—34. 55 Da die Seele für die Stoiker ein materieller Körper ist, ist ihre Therapie immer auch die Therapie eines solchen Körpers. Auf die erhebliche Relevanz dieses Sachverhalts (und entsprechend die Relevanz der Sorge um den Körper) unter anderem bei Chrysipp weist vor allem Tieleman 2003, Kap. 4 hin, vgl. ferner die Verkürzung dieser Perspektive bei Cicero TD 4.23, ihre Wiederaufnahme bei Seneca, etwa De im 2.19f. 56 Siehe insgesamt Nussbaum 1994, 390-393.

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4. Das Ideal der Affektlosigkeit: Die „guten Gefühle" des Weisen Im Unterschied zum Affizierten oder Affizierbaren ist der stoische Weise vollständig vernünftig. Er ist insofern affektlos, als er nicht die Affekte besitzt, die wir (d. h. alle Nicht-Weisen) besitzen: Von irrationalen Affekten ist er frei. Unsere Affekte sind Uberzeugungen, die Gegenstände oder Sachverhalte als gut oder schlecht ansehen, die es nicht sind, und die uns affektive Reaktionen angemessen erscheinen lassen, die es nicht sind.57 Solche Überzeugungen hat der stoische Weise nicht. Allerdings besitzt er sogenannte „gute Gefühle" (eupatheiai). Gut sind diese Gefühle insofern, als sie gut begründet (eulogos), d. h. rationale Emotionen sind: Emotionen einer vollständig rationalen Vernunft, deren Gefühle nicht durch falsche Annahmen über die Welt gefärbt sind. Die Rede von „guten Gefühlen" darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei ihnen, wie Seneca sagt, um eine „ernste Sache" handelt (Ep. 3.23.4), um eine ernste Freude an der gesamten und eigenen Natur, nämlich der Tugend, und um ein ernstes, unaufgeregtes Bemühen um sie. Gegenstand der guten Gefühle sind keine indifferenten Dinge (etwa herkömmliche vermeintliche Güter, wie zum Beispiel materielle Güter), sondern nur das, was tatsächlich gut und erstrebenswert ist, nämlich Vernunft, d. h. Tugend. 58 Die guten Gefühle werden nach denselben Kriterien wie die Affekte eingeteilt: Bei den angenehmen guten Gefühlen ist das auf gegenwärtiges Gutes gerichtete Gefühl, bei dem die Seele durch Vernunft ruhig und beständig bewegt wird, die Freude {chara, laetitia), das auf künftiges Gutes gerichtete das Wollen (boulêsis, voluntas), das auf künftiges Schlechtes gerichtete die Vorsicht (eulabeia, cautio).59 Ein auf gegenwärtiges Schlechtes gerichtetes gutes Gefühl gibt es nicht, da es für den Weisen, der in jeder 57

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Der Nicht-Weise hat den Übergang v o m vor-rationalen zum rationalen Zustand verpasst. Er hält (aus seiner vor-rationalen Zeit als Nicht-Erwachsener) das noch für bedeutsam, was nicht-rationale Wesen zu Recht für bedeutsam halten (vgl. Frede 1986, 108f.; zur Frage der Angemessenheit des Ideals der Affektlosigkeit in Abhängigkeit vom umfassenden Theorierahmen siehe Halbig 2004, 66—68). Siehe hierzu Brennan 1998, 34-36, 54-57, 68f., auch gegen Nussbaum 1994, z. B. 399. Siehe aber auch die Diskussion bei Vogt 2004, 76—79, wo die Uneindeutigkeit der Text- und Sachlage hervorgehoben wird. Cicero TD 4.12-14; Ps.-Andr. 6; D L 7.116. Diesen Arten von guten Gefühlen werden wiederum Unterarten zugeordnet, siehe DL 7.116.

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relevanten Hinsicht gut ist, solches Schlechtes tatsächlich nicht gibt. Schmerz über den gegenwärtigen Mangel an Tugend bei anderen muss er (so lässt sich spekulieren) deshalb nicht empfinden, weil er weiß, dass die Welt auch in diesem Detail bestmöglich eingerichtet ist. Dieser holistische Zug führt zu einer allgemeinen Schlussbetrachtung. Die Einschätzung der Plausibilität hellenistischer Affekttheorien hängt davon ab, ob Affekten ein Weltbezug zugeordnet werden kann und überdies ein Weltbezug, wie Epikur und wie etwa Chrysipp ihn den Affekten zuordnen, d. h. ein Bezug eines Individuums solcher Art auf eine Welt solcher Art, wie Epikur bzw. Chrysipp ihn annehmen. Jeder Auseinandersetzung mit und jede Kritik an hellenistischen Affekttheorien muss daher mindestens eine Diskussion zur Ebene dieser Kritik vorausgehen. Und vielleicht ist gerade der gesamtsystematische Anspruch, der mit jenen Theorien verbunden ist, eines ihrer auch heute noch interessanten Merkmale.

Literatur Die untersuchten Schriften antiker Autoren werden mithilfe von Siglen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Soweit vorhanden, werden unten nach der zitierfähigen Ausgabe auch Ubersetzungen der Texte angeführt. Die verwendeten Siglen sind: DL Hdt. KD LS Men. PHP Plut. CN Ps.-Andr. SE AM Seneca Ep. Stob. S VF TD

- Diogenes Laertios, Vitaephilosophomm - Epikur, Ad Herodotum (DL 10.35-83) — Epikur, Kyriai doxai (Ruta sententiae, DL 10.139—154) — Long/Sedley - Epikur, AdMenoeceum (DL 10.122-135) - Galen, De placitis Hippocratis et Piatonis (de Lacy) - Plutarch, De communibus notitiis; VM = De virtute morali — Pseudo-Andronicus, Depassionibus (GHbert-Thirry) — Sextus Empiricus, Advenus Mathematicos —Ad Eucilium epistulae morales - Stobaeus, Anthologium (Wachsmuth/Hense) - Stoicorum vetemm fragmenta (ν. Arnim) - Cicero, Tusculanae disputationes

Annas, Julia (1989), Epicurean Emotions, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 30, 145-164. Annas, Julia (1992), Hellenistic Philosophy of Mind, Berkeley. Arnim, Hans von (Hg.) (1903-1924), Stoicorum vetemm fragmenta, 4 Bde., Leipzig (=SVF). Brennan, Tad (1998), The Old Stoic Theory of Emotions, in: Sihvola/EngbergPedersen a. a. O., 21-70.

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Friedemann Buddensiek

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Dies lässt sich leicht veranschaulichen. Angenommen, in meiner Furcht vor dem Hund repräsentiere ich ihn als ein gefährliches Tier, das sich gleich auf mich stürzt und mich zerfleischt. Um diese Emotion in den

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Griff zu bekommen, muss ich mich durch einen Willensentscheid dazu zwingen, andere Repräsentationen zu bilden, etwa indem ich mir den Hund als ein braves, gut dressiertes Tier vorstelle oder indem ich mir ausmale, wie nett ich mit ihm spielen könnte. Diese Gegenrepräsentation neutralisiert die ursprüngliche Repräsentation und führt dazu, dass die Furcht abgeschwächt oder gar durch eine andere Emotion — etwa durch Wohlgefallen oder Freude an dem Hund — ersetzt wird. Wie dieses Beispiel verdeutlicht, kann zur Kontrolle einer Emotion eine kognitive Therapie eingesetzt werden. Das Entscheidende an einer solchen Therapie liegt darin, dass eine Emotion nicht einfach durch einen souveränen Willensentscheid beseitigt wird. 20 Ich kann mich ja nicht einfach dafür entscheiden, mich auf Kommando nicht mehr vor dem Hund zu fürchten. Solange ich ihn als ein bedrohliches Tier repräsentiere, muss ich mich fürchten. Die Furcht wird schrittweise abgebaut, indem ihr repräs en ta tionaler und evaluativer Gehalt durch einen anderen ersetzt wird. Da diese Veränderung des Gehalts erfordert, dass bewusst eine alternative Repräsentation gebildet wird, liegt hier eine genuin kognitive Therapie vor. Eine solche Therapie ist natürlich nur möglich, wenn man sich dafür entscheiden kann, alternative Repräsentationen zu bilden und zur Neutralisierung der ursprünglichen Repräsentation einzusetzen. Dies wiederum setzt voraus, dass die Emotion nicht — wie es ursprünglich schien — darauf beschränkt ist, einen einzigen Willensakt auszulösen. Eine Emotion kann (zusammen mit der Disposition zur Bildung von Repräsentationen, die immer vorhanden ist) auch bewirken, dass die willentliche Entscheidung, alternative Repräsentationen zu bilden, getroffen wird. Für das Beispiel mit der Bewunderung heißt dies: Im ersten Moment löst diese Emotion in mir den Wunsch oder gar die Entscheidung aus, das bewunderte Objekt zu besitzen. Doch die Emotion veranlasst mich auch dazu, nachzudenken, was an dem Objekt vielleicht nicht bewundernswert oder gar abstoßend ist. Dies wiederum bringt mich dazu, mich gegen das Objekt zu entscheiden oder mich indifferent zu verhalten. Entscheidend ist

20

Dies gilt es mit Blick auf die häufig kritisierte These zu beachten, dass jede Seele „eine absolute Macht über ihre Leidenschaften erlangen kann" (AT XI, 368; H 85). Descartes vertritt damit nicht die extreme voluntaristische Position, dass wir eine Emotion durch einen bloßen Willensentscheid unter Kontrolle bringen oder gar beseitigen können. Er tritt für die schwächere (und plausiblere) Position ein, dass man eine kognitive Therapie einsetzen kann, um eine Emotion abzuschwächen oder zu verändern. Ob die Therapie gelingt, hängt von der jeweiligen Situation ab.

Descartes: 1 Emotionen als psychophysische Zustände

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dabei, dass der spontane Willensakt korrigiert werden kann, und zwar durch eine kognitive Therapie, in der ich bewusst alternative Repräsentationen bilde. Freilich ist zu betonen, dass die ursprünglich determinierenden Faktoren durch eine solche Therapie nicht außer Kraft gesetzt oder mit einem Schlag beseitigt werden. Vor allem werden jene Faktoren nicht zum Verschwinden gebracht, die von Natur aus festgelegt sind. Wenn ich ein Objekt voller Bewunderung betrachte, kann ich gar nicht anders, als innezuhalten und mich ganz auf dieses Objekt zu konzentrieren. Und wenn ich mich vor dem Rottweiler fürchte, kann ich gar nicht anders, als zu erstarren und in Schweiß auszubrechen. Der entscheidende Punkt der kognitiven Therapie besteht nicht in einer Beseitigung dieser spontanen körperlichen Reaktionen, sondern in der willentlichen Erzeugung neuer Repräsentationen, die zu anderen Emotionen und damit auch zu anderen körperlichen Reaktionen führen. Erst wenn ich den Rottweiler nicht mehr als gefährlichen Hund repräsentiere, werde ich gelassen, was wiederum zur Folge hat, dass ich nicht mehr erstarre. Es ist daher wichtig, die Therapie als einen Prozess zu betrachten und genau zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt dieses Prozesses zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist es, die Therapie nicht als einen linearen Prozess aufzufassen, der zielstrebig auf einen einzigen Endpunkt hinsteuert. Meine willentliche Entscheidung, den Rottweiler anders zu repräsentieren, führt nicht zwangsläufig dazu, dass ich ihn als einen Spielkameraden repräsentiere und dadurch gelassen werde. Es kann auch sein, dass ich ihn dann als ein Tier repräsentiere, das nicht nur mich bedroht, sondern auch alle Menschen in meinem Umfeld und besonders kleine Kinder. Dann fürchte ich mich noch mehr vor ihm. Es kann sogar sein, dass ich konfligierende Repräsentationen habe (ich stelle mir den Hund gleichzeitig als Spielkameraden und als gefräßiges Tier vor) und dass ich dann konfligierende Emotionen habe. Descartes weist ausdrücklich auf diese Möglichkeit hin, indem er bemerkt, jemand könne sich gleichzeitig in Furcht und Hoffnung befinden. Dies könne geschehen, wenn „man sich zur gleichen Zeit verschiedene Gründe vorstellt" (AT XI, 456; H 261), d. h. wenn man unterschiedliche evaluative Repräsentationen hat, die unterschiedliche Emotionen auslösen. Daher gibt es keine Garantie, dass eine Emotion durch eine Therapie nach und nach verschwindet. Es kann auch sein, dass die Therapie zu einem emotionalen Konflikt führt. Trotzdem ist sie ein zentraler kognitiver Ansatz, mit dem Emotionen schrittweise verändert werden können.

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Darüber hinaus verweist Descartes auf eine weitere Möglichkeit zur Kontrolle und Veränderung von Emotionen. Wie bereits erwähnt, ist es für ihn entscheidend, dass bei einer Emotion ein bestimmter Hirnzustand mit einem bestimmten geistigen Zustand verknüpft ist. Diese Verbindung ist zunächst von Natur aus gegeben. Dies schließt allerdings nicht aus, „dass man sie jedoch durch Gewohnheit mit anderen verbinden kann" (AT XI, 368; H 85£). Descartes illustriert dies mit folgendem Beispiel: Wenn ein Hund ein Rebhuhn sieht und gleichzeitig einen Gewehrschuss hört, bewirken diese Sinneseindrücke und die entsprechenden Hirnzustände, dass der Hund sofort flieht. Man kann ihn aber derart als Jagdhund dressieren, dass dieselben Sinnes eindrücke und Hirnzustände bewirken, dass der Hund stehen bleibt (AT XI, 369£; H 89). Die ,Verdrahtung' der körperlichen Zustände kann gezielt verändert werden — nicht auf Anhieb, wohl aber durch einen kontinuierlichen Prozess. Ahnlich gilt für einen Menschen, dass die Verbindung von körperlichen und geistigen Zuständen verändert werden kann, und zwar nicht nur durch eine kognitive Therapie, sondern auch durch eine Art von Dressur — oder vorsichtiger ausgedrückt: durch eine Verhaltenstherapie. So kann man jemanden immer wieder mit dem Bild von einem Rottweiler konfrontieren, bis es in ihm nicht mehr Furcht, sondern Gelassenheit auslöst. Er hat dann nicht eingesehen oder sich bewusst vorgestellt, dass dieses Tier nicht bedrohlich ist, sondern er hat sich schlicht und einfach an das Bild gewöhnt. Die ,Verdrahtung' von Hirnzustand und geistiger Reaktion ist dann in einem längeren Prozess verändert worden. Es ist somit nicht nur eine Veränderung von Repräsentationen, die eine Veränderung von Emotionen bewirken kann, sondern auch eine neue Verbindung von Hirnzuständen und geistigen Zuständen. Diese kann sowohl von einer fremden Person veranlasst werden (nämlich wenn jemand anderes mir immer wieder das Bild von einem Rottweiler vorsetzt) als auch von der betroffenen Person selbst (nämlich wenn ich mich immer wieder dazu zwinge, dieses Bild anzuschauen und mich daran zu gewöhnen). Dies ist mit Blick auf die bereits mehrfach erwähnte Zuordnung von körperlichen und geistigen Zuständen bemerkenswert. Obwohl es eine natürliche Ordnung gibt, die festlegt, welche Hirnzustände mit welchen geistigen Zuständen verbunden sind, ja im Normalfall verbunden sein müssen, handelt es sich dabei nicht um eine unverrückbare Ordnung. Nicht nur Gott, der jederzeit eine andere Ordnung wählen könnte, sondern auch wir Menschen können diese Ordnung partiell verändern, indem wir einigen Hirnzuständen andere geistige Zustände zuordnen und damit

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Schritt für Schritt unsere emotionalen Reaktionen transformieren. Wir sind keine Automaten, die gemäß einem festgelegten Programm immer wieder die gleichen emotionalen Zustände hervorbringen, sondern kognitive Lebewesen, die über diese Zustände nachdenken und sie durch eine geeignete Therapie zumindest teilweise in den Griff bekommen können. Gerade im therapeutischen Umgang mit unseren Emotionen zeigen wir, dass wir ein reflektiertes Verhältnis zu unseren psychophysischen Zuständen haben können und in der Lage sind, sie bis zu einem gewissen Grad zu verändern.

Literatur Descartes' Schriften werden nach der französischen Ausgabe seiner Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählten deutschen Ubersetzungen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Altere Ubersetzungen wurden an die neue Rechtschreibung angeglichen. Die verwendeten Siglen sind: AT H S W

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Thomas Hobbes (1588-1679)

Hobbes: Furcht und Bewegung Michael Hampe 1. Allgemeine Relevanz und Natürlichkeit der Gefühle bei Hobbes Die Hobbes'sche Auseinandersetzung mit den menschlichen Emotionen wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Hobbes zusammen mit Spinoza zu den wenigen Autoren seiner Zeit gehört, die nicht glaubten, die Welt sei für den Menschen eingerichtet. Teleologische Weltkonzeptionen gehen davon aus, dass Menschen in die Natur oder Welt „hineinpassen" und die Affekte, die aus Leid entstehen, wie Unlust, Furcht und Hoffnung, sind in diesem Fall das Ergebnis eines „falschen" Lebens, dem es nicht gelingt, die naturgemäße Einpassung in die Welt zu realisieren, oder in dem diese naturgemäße Einpassung absichtlich verlassen wird. Für Hobbes ist dagegen der Naturzustand des Menschen bekanntlich ein Kriegszustand, gekennzeichnet von beständiger „Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes"; in diesem Zustand ist das „menschliche Leben [...] einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz." (Lev. 89, dt. 96) Nach der stoischen Vorstellung eines Lebens gemäß der natürlichen Ordnung, ist eine Befreiung von denjenigen unliebsamen Affekten mögkch, die diese Ordnung stören und durch falsche Konventionen oder Unwissenheit etabliert wurden.1 Für Hobbes gibt es keine vernünftige Naturordnung (vgl. Lev. 33, dt. 33) und deshalb auch nicht die Unterscheidung zwischen Affekten, die dieser Ordnung entsprechen und solchen, die aus ihr herausfallen. Sowohl für die Affektivität wie für die Rationalität des Menschen entfällt bei Hobbes ein normativer Naturbegriff. Das ist eine bis heute ungewöhnkche Haltung. Denn wir sagen ja immer noch, dass es beispielsweise „natürkch" sei, nach dem Tod eines gekebten Menschen Trauer zu empfinden oder wegen einer Beleidigung in Wut zu geraten, und unterstellen damit, dass es angebracht oder mindestens normal ist, so zu reagieren.2 Auch 1 2

Vgl. dazu etwa Epiktet 1925, Erstes Buch, 11. Abschnitt, 78f. Zur Normativität des Naturbegriffs vgl. Birnbacher 2006.

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wenn heute kaum noch jemand — wie die Stoiker — einen explizit normativen Naturbegriff wird vertreten wollen, und niemand sagen würde, man solle die Natur nachahmen, um das menschliche Fühlen, Denken und Handeln zu regulieren, so gilt doch weiterhin, dass der psychophysische Doppelcharakter der Emotionen und ihr in der Regel spontanes Auftreten dazu führen, dass sie als etwas Natürliches eingestuft werden. Wer traurig ist, weint; das scheint so natürlich wie das Niesen, wenn man Schnupfen hat, man kann schwerlich etwas dagegen tun und es scheint im „natürlichen Gang der Dinge so angelegt". Auch für Hobbes gibt es eine Natürlichkeit bestimmter Affekte, doch hat diese nichts mit natürlichen Normen zu tun, sondern mit der Hobbes'schen Fiktion eines Naturzustandes. Denn es gibt einen wichtigen Affekt, der das menschliche Leben im Naturzustand durch und durch prägt: die Furcht. Im dreizehnten Kapitel des leviathan behauptet Hobbes, dass alle Menschen nach Körper- und Geisteskräften von Natur aus ungefähr gleich beschaffen sind. Alle streben ferner danach, sich selbst zu erhalten. Diese Selbsterhaltung ist nicht die Erhaltung eines wesentlichen Selbst, sondern die Fortsetzung der Bewegung des Lebens. Um sie zu erreichen, braucht es bestimmte Ressourcen, vor allem Nahrung. Weil die Ressourcen nicht unendlich sind, entstehen Konkumn^situationen. Auch der Stärkste kann durch ein Bündnis von Schwachen im Schlaf getötet werden. Deshalb gibt es niemanden, der in dieser Konkurrenz situation ohne Furcht sein kann. Der Naturzustand ist als Kriegszustand aller gegen alle auch der Zustand der Furcht aller vor allen. Es ist diese Furcht vor dem baldigen Tod, die den Naturzustand nach Hobbes auch beendet und in den Staatszustand führt (vgl. Lev. 90, dt. 98). Doch im Staat, in dem die Überlebenswahrscheinlichkeit zwar größer ist als im Naturzustand, regiert nach Hobbes ebenfalls die Furcht. Denn die Macht der Staatsgewalt ergibt sich aus der Furcht vor dem Tod, die sie mit ihrem höchsten Gewaltmonopol, dem Recht, die Todesstrafe zu vollstrecken, in den Untertanen aufrechterhalten muss. Nur dadurch ist sie in der Lage, die Einhaltung der Gesetze zu garantieren und so den Naturzustand zu beenden: „Die Leidenschaft \passion], die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten lässt, ist die Furcht [Fear\. Ja, sie ist — einige edelmütige [generous] Menschen ausgenommen — die einzige Kraft, die die Menschen zu ihrer Einhaltung bringt, wenn ein Vorteil oder Vergnügen durch Gesetzesübertretung in Aussicht steht." (Lev. 206, dt. 228) Die Furcht hat aber ein Doppelgesicht; auch im Staatszustand ist sie nicht nur Instrument der Gesetzesbewahrung, sondern auch ein Grund des Verbrechens: Wer sich vor seinem Mitmenschen fürchtet, könnte geneigt

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sein, ihn zu töten und das für Selbstverteidigung halten, wo er doch tatsächlich Ruhe hätte bewahren und die Staatsgewalt hätte rufen müssen (vgl. Lev. 206, dt. 228£). Doch nicht allein die Furcht ist nach Hobbes eine mögliche Ursache des Verbrechens, sondern auch andere Leidenschaften: Zu den Leidenschaften \passions\, die am häufigsten Ursache von Verbrechen sind, gehört einmal die Prahlerei \Vain-gloiy\ oder ein krankhaftes Uberschätzen des eigenen Wertes \foolish over-rating of their own imrtlj\ [...] Gewöhnlich sind prahlerische Leute zornig [.subject to Anger] — wenn sie nicht dazu noch ängstlich sind — da sie mehr als andere dazu neigen, die gewöhnlichen Freiheiten in einer Unterhaltung als Verachtung auszulegen, und es gibt wenige Verbrechen, die nicht aus Zorn begangen werden können. Welche Verbrechen aus Leidenschaften wie Hass, Lust, Ehrgeiz und Habgier [Hate, Lust, Ambition, and Covetousnesse\ begangen werden können, weiß jeder auf Grund seiner Erfahrung und seines Verstandes genau, so daß darüber nichts gesagt werden muß, außer, daß es sich dabei um Schwächen \infimities\ handelt, die mit der menschlichen Natur und der aller anderen Lebewesen so fest verbunden sind, dass ihre Auswirkungen nur durch außergewöhnliche Vernunftanstrengungen oder eine ständige, strenge Bestrafung verhindert werden können. (Lev. 205f, dt. 227f.)

Die Tatsache, dass Hobbes die Furcht als sowohl den Natur- wie den Staatszustand beherrschend ansieht, dass sie in seinem System sowohl Ursache der Gesetzes einhaltung wie des Gesetzes bruches ist, macht deutlich, welche fundamentale Relevanz die Passion der Furcht bei Hobbes hat. Diese Relevanz ist eine funktionale: Die Furcht treibt die Menschen in den Krieg aller gegen alle und sie treibt sie, wenn sie in diesem Krieg gewisse Erfahrungen gesammelt haben, in den Staat. Im Staat hört aber die Todesfurcht nicht auf; auch er braucht sie für die Erhaltung seiner Rechtsordnung. Diese funktionalen Beobachtungen haben nichts mit einer negativen Bewertung der Passionen im Allgemeinen und auch nicht mit der Furcht im Besonderen zu tun. Die Bewertung der Affekte als „Schwächen" ist eine, die allein vor dem Hintergrund der in einem Staatswesen entstandenen Interessenszusammenhänge zu verstehen ist. An sich betrachtet sind nach Hobbes die menschlichen Leidenschaften gar nicht zu bewerten: Aber keiner von uns klagt [...] die menschliche Natur an. Die Begierden und andere menschlichen Leidenschaften [Desires, and other Passions of man\ sind an sich keine Sünde. Die aus den Leidenschaften entspringenden Handlungen sind es ebenfalls nicht, bis die Menschen ein Gesetz kennen, das sie verbietet: solange keine Gesetze erlassen werden, können sie dieses Gesetz nicht kennen, und es kann kein Gesetz erlassen werden, solange sie sich nicht auf die Person geeinigt haben, die es erlassen soll. (Lev. 89, dt. 97)

Hier zeigt sich Hobbes auf einer Linie mit den modernen Affekttheorien von Descartes und Spinoza, die in Abgrenzung zu den antiken Affektlehren

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und Rhetoriken, wie auch zu den christlichen Gefühlstheorien, das menschliche Emotionsleben weniger bewertend als neutral analysierend thematisieren.3 Der Anfang der oben zitierten Hobbes'schen Bemerkung über die Leidenschaften hat beispielsweise ein Echo im Proömium zum dritten Teil in Spinozas Etbica, wo Spinoza ebenfalls bemerkt, dass er keinen Grund sehe, die menschliche Affektivität als einen irgendwie gearteten „Fehler" (vitiuni) aufzufassen. 4 Hobbes und Spinoza betreiben zunächst eine funktionale Betrachtung des menschlichen Gefühlslebens, bevor sie die Kontexte entwickeln, in denen Bewertungen von affektiven Zuständen aus bestimmten Gründen möglich werden. Die Gefühle werden nicht von vornherein als so und so zu bewertende betrachtet, vor allem werden sie nicht einfach in dem Schema gesehen: Die Vernunft ist gut und die Affekte sind schlecht, auch wenn Hobbes Leidenschaften als mögliche Störungen des Vernunftgebrauchs ansieht. Denn nach Hobbes ist die Vernunft ebenso wie das staatliche Gesetz das Resultat von Konventionen. Die Bewertung von Affekten als disfunktional, als störend für das gesetzmäßige Leben im Staat oder für die Tätigkeit der Vernunft, betrifft also die Schwierigkeit, sie und ihre Handlungsfolgen in bestimmte konventionelle Ordnungszusammenhänge zu integrieren, die als hilfreich für das menschliche Streben nach Selbsterhaltung angesehen werden. Weil alle menschliche Vernunft nach Hobbes auf Konventionen beruht, mit denen sich Menschen aus dem affektiv unliebsamen, das grundlegende Selbsterhaltungsinteresse dauernd behindernden Naturzustand herauszubringen versuchen, gibt es eine Variationsbreite des Vernünftigen wie bei allen Konventionen (wenn auch nicht für die Gesetze des Naturrechts, die Hobbes im 14. Kapitel des Leviathan anführt). Daraus resultiert, dass es innerhalb des konventionellen Gesellschafts- oder Staatszustandes eine große Bandbreite von Bewertungen menschlicher Zustände gibt, die auch für die Bezeichnung und den evaluativen Charakter von Affekten relevant sind. So schreibt Hobbes etwa über Groß- und Kleinmütigkeit (Magnanimity, 'Pusillanimity)·. „Großmut im Gebrauch von Reichtum ist Freigiebigkeit. Kleinmütigkeit in derselben Sache ist Erbärmlichkeit und Geiz oder aber Sparsamkeit, je nachdem, ob es geschätzt oder verachtet wird." (Lev. 43, dt. 43) Hobbes behandelt hier nicht Tugenden und Untugenden, sondern Affekte und ihre Bewertung unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Konventionen. Die Bewertung von Gefühlen spielt, obgleich sie nur in Konventio3 4

Vgl. Moi-eau 2003, 1-12, bes. 5f. Vgl. Spinoza 1980 (lat. zuerst 1677), Bd. 2, 256f.

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nen begründet ist, für ihre Habitualisierung bzw. Unterdrückung und damit für die Tugenden eine wichtige Rolle.5 Sowohl für den Natur- und Kriegszustand wie für den kulturellen Staatszustand, der Menschen eine gewisse affektive Beruhigung erlaubt, gilt nach Hobbes, dass ein höchstes Gut im Sinne der Glückseligkeit (makarios, beatitude) nicht realisierbar, ja nicht einmal denkbar ist Ständigen Erfolg im Erlangen der Dinge, die man von Zeit zu Zeit begehrt [desiretß], das heißt ständiges Wohlergehen [prospering], nennt man Glückseligkeit [Felicity], Ich meine dabei die Glückseligkeit in diesem Leben. Denn solange wir hienieden leben, gibt es so etwas wie beständigen Seelenfrieden perpetuali Tranquillity nicht, da das Leben nichts anderes als Bewegung [Motion] ist und deshalb nie ohne Verlangen und Furcht [Desire norFeare] sein kann, ebensowenig wie ohne Empfindung [Sense], (Lev. 46, dt. 48)

Wieder findet hier eine Zurückweisung stoischen Gedankenguts statt. Ataraxia, Seelenruhe, war das entscheidende Ziel der antiken Affekterziehung, das bis in die Neuzeit weiterwirkte. Vor dem Hintergrund des Hobbes'schen Lebensbegriffes, wonach Leben ständige Bewegung, und Ruhe nichts anderes als den Tod bedeuten kann, ist Seelenruhe als Zustand eines empfindenden Lebewesens nicht denkbar. Denn alle Bewegungen von Lebewesen müssen durch affektive Zustände verursacht werden (s. u.). Glückseligkeit wird von Hobbes deshalb auch, im Unterschied zur Seelenruhe, als dauernder Fortschritt (progressas) von einer Begierde zur nächsten definiert (vgl. De homine, 3, 77). Ein solcher progressas kann nie zu einem anderen Ruhezustand führen als dem des Todes, in dem jedoch nichts mehr empfunden wird. Die Idee, Menschen sei Glückseligkeit im Sinne der Seelenruhe möglich, kommt vor dem Hintergrund der Hobbes'schen Theorie dem Gedanken gleich, Menschen könnten zu unbewegten Bewegern werden:6 Sie könnten ein Leben führen, in dem sie etwas tun, jedoch sich selbst dabei nicht bewegen und Ressourcen verbrauchen müssen und in die aus der Knappheit resultierenden Affekte geraten würden. Vielleicht ist die Phantasie der Glückseligkeit eine solche Imagination des ruhenden, aber doch wirkenden Gottes. Normativ gesehen ist also die Seelenruhe als ein Ziel der normativen Affektenlehre für Hobbes nichts anderes als die Fiktion eines Lebens und Empfindens ohne Bewegung, ein Widerspruch in sich.

5 6

Zum Verhältnis von Affekt und Tugend hinsichtlich eines anderen Beispiels vgl. Kemp 1982, 57-62 und Chwaszcza 1996, 83-107. Vgl. Tuck 1989, 45.

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2. Kausalgenese der Gefühle Hobbes' Begriff des Lebens als ständiger Bewegung macht bereits deutlich, wie zentral für seine Philosophie der Bewegungsbegriff ist.7 Er steht auch im Zentrum seiner Theorie der Leidenschaften {passions) im sechsten Kapitel des leviathan. Hobbes versteht den Menschen als Tier {animal), das, wie alle Tiere, durch %wei Arten von Bewegungen bestimmt ist:8 die vitalen (vitall) und die animalischen {animali). Die ersten sind die rhythmisch wiederkehrenden Bewegungen der Atmung, des Pulses, der Ernährung und Verdauung. Die zweiten sind die unregelmäßigen willentlichen Bewegungen wie Gehen und Sprechen. Eine scharfe Grenze besteht hier nicht, weil die willentliche Nahrungssuche durch die unwillkürlichen Verdauungsbewegungen beeinflusst ist und die Atmung zwar unwillkürlich abläuft, jedoch auch vom Willen beeinflusst werden kann. Die unregelmäßigen willentlichen Bewegungen entstehen als Reaktionen auf äußere Bewegungen, d. h. aufgrund von Sinneswahrnehmungen nach dem Prinzip, dass jeder Druck (conatus, pressure) einen Gegendruck erzeugt (De Corp. 3, 15, dt. III, 15), den Hobbes auch als Widerstand (resistance) bezeichnet (vgl. Lev. 13, dt. 11). Bei einer Sinneswahrnehmung treffen nach Hobbes Korpuskeln auf den menschlichen Körper und erzeugen in ihm eine Bewegung mit einer Orientierung in den Körper hinein. Gegen den daraus entstehenden Druck entwickelt sich im Körper ein Gegendruck aus dem Körper heraus, der zuerst eine verborgene Bewegung im Körperinneren hervorruft und schließlich in einer äußerlich wahrnehmbaren Körperbewegung resultiert. Jede äußerlich sichtbare Körperbewegung hat ihren Anfang also in einer verborgenen Körperbewegung im Leibesinneren, die von Hobbes als Streben (Endeavour) bezeichnet wird (vgl. Lev. 38, dt. 40). Sofern dieses Streben auf ein äußeres Objekt gerichtet gedacht wird — und nicht lediglich als die körperinnere Ursache einer Gesamtbewegung des Leibes — nennt Hobbes sie Trieb (Appetite) oder Verlangen {Desire). Betrachten wir dazu das folgende einfache Beispiel: Wenn in meinem Körper zu wenig Flüssigkeit ist und ich einen Bach sehe, dann entsteht in mir eine Bewegung, die schließlich dazu führt, dass ich zu dem Bach laufe und trinke. 7

8

Vgl. Zur Naturphilosophie von Hobbes allgemein: Brandt 1928; Esfeld 1995; Leijenhorst 2002. Zum Verhältnis von Naturphilosophie und Psychologie bei Hobbes siehe auch Lott 1982, 63-75; Gert 1996, 157-174. Zur Bedeutung von Harvey für diesen Gedanken bei Hobbes vgl. Chwaszcza 1996, 91.

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Diese Bewegung ist eine von vielen Körperbewegungen in meinem Inneren. Dass gerade sie eine äußerliche Bewegung nach sich zieht, hängt von der Stärke ihres conatus ab. Hobbes dachte sich, vor der Entwicklung des galileischen Kräfteparallelogramms, die Relation der Bestrebungen in einem Körper agonal, sodass nicht aus mehreren Bewegungen eine resultierende neue entsteht, sondern sich die „stärkste" Bestrebung in der Realisierung einer Bewegung durchsetzt. 9 Entscheidungskonflikte, die auch als ein affektives Schwanken „von Innen" empfunden werden, sind in dieser Konzeption als ein innerer „Kampf 1 ' zwischen Bestrebungen bzw. Trieben zu deuten. Wenn ich aufgrund des Anblicks des Wassers und meines Durstes zum Bach laufe, dann ist das Bestreben, das durch den Anblick des Wassers entsteht, eben gerade die stärkste von allen Bestrebungen, die gegenwärtig in meinem Körper entstehen.10 Es ist nicht die Bewegung im Inneren des Körpers als solche, die sie zu einem Trieb oder Verlangen macht, sondern ihr Bezug auf einen dem Körper externen Gegenstand, der durch das Zusammenspiel von Druck bzw. conatus und Gegendruck bzw. Gegen-conatus zustande kommt. Hobbes unterschiedet hier nicht zwischen der Orientierung einer Bewegung und der Intentionalität eines affektiven Zustandes oder anders gesagt: Er führt Letzteres auf Ersteres zurück. 11 Hobbes unterscheidet zwischen inneren Bewegungen, die auf einen äußeren Gegenstand hin orientiert sind (in der resultativen äußeren Körperbewegung) und solchen, die von ihm wegführen. Daraus ergibt sich auch eine affektive Differenz : die emotionale Grundunterscheidung zwischen Begehren und Aversion. Werden nicht primär Bewegungen im Körperinneren thematisiert, sondern die Objekte, auf die sie gerichtet sind, so spricht man im Kontext des Hobbes'schen Systems davon, dass etwas geliebt oder gehasst wird (vgl. Lev. 38, dt. 40). Die Bezeichnungen der Elementaraffekte Liebe und Hass stehen also für den Komplex: innere Körperbewegung (Endeavour) — äußere Körperbewegung — Orientierungsobjekt. Immer haben dabei die animalischen Bewegungen eine bestimmte Richtung, Intensität und ein Zielobjekt. Nicht auf Objekte bezogene affektive Zustände wie Stimmungen müssten bei Hobbes wohl von den zirkulären vitalen Bewegungen her rekonstruiert werden, was nicht ganz unplausibel ist, sofern man einer Veränderung im Herzschlag, der Verdau9 10 11

Vgl. dazu Hampe 1999, 82f. Vgl. Schnepf 2002, 60-78. Vgl. Hampe 2007, 52ff.

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ung oder Atmung eine Stimmung „zuordnet", was Hobbes jedoch meines Wissens nirgends tut. Weil auf den Körper ständig Bewegungen oder genauer conatus einwirken, produziert er permanent Gegenbewegungen oder Gegen-conatus. Die interne Komplexität des menschlichen Körpers fuhrt zu einer internen Bewegungskomplexität, der wiederum eine affektive Komplexität „entspricht". Der Änderung des Bewegungszustandes entspricht ein Schwanken in der affektiven Lage: [...] weil die Verfassung (constitution) des menschlichen Körpers sich fortwährend ändert, ist es unmöglich, daß alle Dinge in ihm immer die gleichen Neigungen und Abneigungen verursachen (cause in him the same Appetites, and Aversions). Noch viel weniger können alle Menschen in dem Verlangen (Desire) nach ein und demselben Objekt übereinstimmen. (Vgl. Lev. 39, dt. 40)

Am offensichtlichsten wird diese Überlegung am Beispiel des Verlangens nach Nahrung und der Liebe zu einer bestimmten Speise. Der dem Hunger entsprechende Bewegungszustand in einem Körper führt, wenn es zur Wahrnehmung der entsprechenden Speise kommt, zum Verlangen nach der Speise oder: Die Speise wird in diesem Moment geliebt. Die Einverleibung der Nahrung führt zu einer Änderung des Bewegungszustandes des Körpers, das Verlangen verschwindet und die Speise wird entweder verachtet oder gar gehasst (Ekel). Menschen in unterschiedlichen internen Bewegungszuständen haben entsprechend unterschiedliche Affekte angesichts einer Speise. Äquivalentes wäre zur Geschlechtlichkeit und für die Objekte und Affekte dieses Verlangens zu sagen. Affekte haben bei Hobbes also „Mikrogeschichten" (wie die der Nahrungsaufnahme), aber auch Makrogeschich ten: Manche sind angeboren, andere innerhalb der Lebensgeschichte eines Individuums durch Konditionierungen erworben (vgl. Lev. 29, dt. 29).

3. Moralische Bewertung und Affektivität Ähnlich wie Spinoza deutet auch Hobbes die Begriffe „gut" und „böse" relativ zu den Begehrungen und Abneigungen von Menschen. Etwas wird gut genannt, weil es begehrt wird und nicht umgekehrt begehrt, weil es gut ist.12 Bei Hobbes heißt die entsprechende Stelle: [...] was immer das Objekt des Triebes oder Verlangens [Appetite or Desm] eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung [Hate and Aversion] böse und das seiner Verachtung [Contempi] 12

Vgl. die entsprechende Stelle in Spinozas Ethica. 3p9s.

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verächtlich und belanglos \vile, and inconsiderable^. Denn die Wörter ,gut', ,böse' und ,verächtlich' werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. (Lev. 39, dt. 41)

Weil Personen unterschiedliche Körperzustände durchlaufen, ist für sie Unterschiedliches gut, böse oder belanglos. Zwar streben alle Wesen nach Selbsterhaltung und deshalb scheinen alle Dinge, die Menschen als gut bezeichnen, eine „Stärkung [...] der vitalen Bewegung [corroboration of vitall motior(\, die, die sie böse nennen, eine Störung und Behinderung [,troubling and hindering dieser Bewegungen" (ebd.) mit sich zu bringen. Doch die Gefühle der Lust und des Vergnügens auf der einen und die der Unlust und Belästigung auf der anderen Seite (Pleasure and Delight, Displeasure and Molestation) variieren eben, je nachdem, was für die Selbsterhaltung eines Körpers, das heißt die Fortsetzung seiner vitalen Bewegungen, gerade dringlich ist. Nicht alle Menschen bedürfen zur selben Zeit der Nahrung, des Wassers, der Wärme oder der Kühlung, obwohl diese Dinge irgendwann im Leben eines Menschen einmal gut sind.

4. Affekte als Störungen Hobbes bezeichnet Affekte auch als „Störungen des Geistes" (De homine, Kap. 12), weil sie Überlegungsprozesse behindern können. Doch wie tun sie das? Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Prozesse des Überlegens (ratiocinatio) für Hobbes Rechenvorgänge (computationes) sind (vgl. De Corp. I, 1, 2). Wie weit die Anwendung seines Begriffs der Berechnung eigentlich geht, ist allerdings nicht einfach zu sagen und nach wie vor ein Desiderat der Hobbesforschung. In einem ersten Schritt kann man anachronistisch vielleicht sagen, dass Hobbes hier an so etwas wie die Bildung von Extensionsproportionen im Sinne einer Booleschen Algebra gedacht hat: Die Prädikate unserer Sprache sind Namen für Mengen von Gegenständen. Wenn wir überlegen, so setzen wir diese Mengen zueinander in Beziehung und schauen, wo sie sich berühren, überschneiden oder völlig außerhalb voneinander liegen. Eine solche extensionale Auffassung von Prädikaten ist nicht schwer nachzuvollziehen. Allerdings taugt sie nur insofern für die Erläuterung des Hobbes'schen Verständnisses von rationalem Denken, als man keinen Gedanken darauf verschwendet, welchen ontologischen Status diese Extensionen oder Mengen haben. Auch bei Quine (der eine ähnliche Konzeption vertritt) sind Mengen ja keine physi-

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kaiischen, sondern abstrakte Gegenstände. 13 Doch aufgrund seiner Vorstellung, dass mentale Prozesse auf Korpuskularbewegungen zu beziehen sind, wäre zu fragen, wie Korpuskularbewegungen, die Rechenvorgänge instantiieren können, von solchen unterschieden werden können, die nicht als Vorgänge des Uberlegens zu begreifen sind. Wenn Hobbes Berechnungen im oben genannten Sinne als „Additionen" und „Subtraktionen" in einem weiten Sinne verstehen will, die sich auch und vor allem auf Begriffsumfänge beziehen, dann kann man sich zwar nach dem Modell einer Rechenmaschine, die ja ebenfalls Boolesche Algebren instantiiert, das Denken als Rechnen vorstellen, 14 aber nicht so leicht die affektive Störung eines solchen Rechenvorgangs. Betrachten wir daher zwei Prozesse: Erstens eine syllogistische Überlegung der folgenden Art: (1) Sind Quallen Fische? Was sind Fische? Fische sind durch Kiemen atmende Wirbeltiere, die im Wasser leben. Haben Quallen Kiemen und Wirbel, leben sie im Wasser? Quallen leben im Wasser, doch erhalten Sie ihren Sauerstoff durch Diffusion und haben keine Wirbel. Also sind sie keine Fische. Diese Überlegung, bei der die Begriffsumfänge der Termini „Fische" und „Quallen" verglichen werden, unterscheidet sich von der folgenden: (2) Soll ich lieber diesen Fisch oder jenes Fleisch essen? Eigentlich habe ich eher Appetit auf Fleisch, doch dieses Fleisch sieht fett aus und ich bin zu schwer. Der Fisch sieht gut aus. Fisch soll auch allgemein gesünder sein als Fleisch. Ich will gesund sein und nicht noch schwerer werden, also esse ich Fisch. Auch bei dieser zweiten Überlegung geht es um die Betrachtung von Begriffsumfängen (wie „Fisch" und „gesund"), doch im Unterschied zur ersten Überlegung spielen auch Affekte und Willenszustände eine Rolle: Ich habe Appetit auf Fleisch; ich will gesund bleiben. Dabei sind Bewertungen im Spiel: Wie erscheint mir etwas evaluativ („der Fisch sieht gut aus")? Und was bedeutet dieses „Mir-Erscheinen" vor dem Hintergrund dessen, was ich sonst noch will (z. B. „gesund bleiben")? Der Vergleich dieser beiden Syllogismen macht klar, dass ein deutlicher Unterschied zwischen Überlegung mit Affekten — inklusive Willens13 14

Vgl. Quine 1991 (amerik. zuerst 1981), Kap. 12. Vgl. Hungerland /Vick 1981.

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zuständen — besteht und Überlegung ohne. Die einfachste Charakterisierung in diesem Zusammenhang ist, dass es einmal um eine Überlegung geht, die Tatsachen oder das „Sein" betrifft, das andere Mal um Bewertungen oder ein „Sollen". Für die Bewertungen und das Sollen sind Affekte und Willenszustände relevant (die Hobbes, wie oben deutlich wurde, ja nicht voneinander unterscheidet). Inwiefern können diese Bewertungen oder Affekte jedoch eventuell „Störungen" im Vergleich der Verhältnisse von Begriffsumfángen darstellen? Könnten Sie nicht auch positive Einflüsse sein? Grundsätzlich sind Willensakte bei Hobbes kein Ergebnis vernünftiger Überlegung, sondern Resultat eines „Machtkampfes" von voluntativen Einzelbestrebungen. Unter einem Willen versteht er ja die „Neigung {Appetite), die beim Überlegen (Deliberating) am Schluß" (Lev. 45, dt. 47) steht. Mit Schluss ist hier gemeint: die Neigung, die die let^e vor der und damit die Handlung auslösende ist. Ein reiner Überlegensvorgang wäre daher ein Vergleich von Extensionen, der ohne Neigungen (Appetite) geschieht. Eine praktische Überlegung ist dagegen eine, bei der Bewertungen oder Affekte miteinander konfligieren, eines sich durchsetzt und daraus eine bestimmte Handlung resultiert, wie die, dass ich den Fisch esse. Also stören sich die Affekte in diesem Kampf um „Durchsetzung" im Handeln gegenseitig und nicht die Affekte das rationale Überlegen. Eine Störung eines Überlegensvorganges durch einen Affekt liegt nach Hobbes jedoch dann vor, wenn es zu einer Voreiligkeit im Handeln in dem Sinne kommt, das ein Gut, das als langfristig anzustreben schon anerkannt worden ist, nicht verfolgt wird, weil ein „sich gerade darbietendes Gut" vorgezogen wird „ohne die Übel, welche ihm anhaften, vorherzusehen" (De homine, Kap. 12, 1). Mit unserem Beispiel gesprochen: (3) Was esse ich, diesen Fisch oder dieses Fleisch? Ich mag lieber Fleisch, also esse ich dieses Fleisch. In Überlegung (3) ist die Neigung, Fleisch zu essen, so stark, dass sie die Abneigungen gegen nachteilige Wirkungen dieser Speise für das langfristige Interesse an der Selbsterhaltung überdeckt. (Die Gefahr des Übergewichts und seiner negativen Folgen wird in dieser Überlegung nicht mit vorhergesehen.) Es ist also nicht so, dass ein fehlerhafter Vergleich von Begriffsumfängen durch das Auftreten eines Affektes passiert. Die Störung des Überlegens durch die Affekte meint bei Hobbes vielmehr, dass der auf ein entferntes wichtiges Gut (wie Selbsterhaltung) bezogene Affekt im Handeln nicht berücksichtigt wird, weil ein Affekt, der ein nahes un-

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wichtiges Gut (den angenehmen Geschmack) betrifft, sich im Kampf der Affekte durchsetzt. Wenn aber die langfristige Selbsterhaltung ein höheres Gut ist als der kurzfristige Genuss eines Wohlgeschmacks, weil sie die Voraussetzung des Genusses von schmackhaften Dingen überhaupt ist, dann stört hier der Affekt der Neigung zum Fleisch eine Güterabwägung, jedoch nicht im Sinne eines Extensionsvergleichs von Begriffen. Dass Quallen keine Fische sind ist eine andere Feststellung als die, dass Fleisch nicht gesund ist. Der Kampf der Affekte kann von Hobbes gar nicht als ein Rechnen gedacht werden. Wenn in ihm die Selbsterhaltung „vernachlässigt" wird, ist es nicht zu einem Rechenfehler im Sinne einer falschen Begriffsumfangsbestimmung gekommen, sondern ein auf einen vorhandenen Gegenstand bezogener Affekt hat sich gegenüber einem auf eine entfernte Gefahr bezogenen durchgesetzt. Ich kann durchaus wissen, dass Fleisch nicht zu den gesunden Speisen gehört und es trotzdem essen, weil der Affekt, der auf den Wohlgeschmack bezogen ist, so stark ist. Solche Prozesse scheint Hobbes als im menschlichen Leben verbreitet angesehen zu haben. Sie haben eine unmittelbare Plausibilität, auch wenn es nicht angemessen erscheint, sie als Störungen von rationalen Überlegungen aufzufassen. Die terminologische Unklarheit, die hier durch die Rede von Störungen ins Spiel kommt, ist vielleicht der Wirkungsmacht der Stoa geschuldet, die dieses Bild von den Affekten bis in die Neuzeit hinein verbreitet hat. Phänomenologisch ist die Hobbes'sche Analyse sehr überzeugend, denn das Phänomen des nahen kurzfristig angenehmen Affekts, der sich trotz seiner langfristig schädlichen Folgen, deren Erkenntnis offenbar keinen starken Affekt erzeugt, dürfte allen Menschen bekannt sein. Gewöhnlich wird dieses Thema unter der Uberschrift „Willensschwäche" und nicht als Konflikt zwischen starken und schwachen Affekten behandelt. Strategien, die die Erkenntnis zeitlich entfernter Wirkungen gegenwärtiger Handlungen affektiv stark machen, finden sich aber beispielsweise in der martialischen Anti-Tabak-Werbung der Gesundheitsministerien. Wie solche Strategien unter dem Beurteilungskriterium der Rationalität zu bewerten sind, wäre eine andere Diskussion.

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Literatur Hobbes' Schriften werden nach den Opera Philosophien siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: De Corp. De homine Lev.

zitiert — vollständige Angaben

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Baruch de Spinoza (1632-1677)

Spinoza: Philosophische Therapeutik der Emotionen Ursula Ken^ Die Affektenlehre von Baruch de Spinoza (1632—1677) folgt einem Trend, den man im philosophischen Rationalismus des 17. Jahrhunderts allgemein beobachten kann: Leidenschaften, Gefühle und Stimmungen — kurz: Affekte — werden naturalisiert und entmoralisiert, um im Gegenzug den klugen Umgang mit ihnen zum Thema der Ethik zu machen. Schon Descartes folgt in seinen Vassions de l'âme diesem Trend, wenn er in einem Brief an Picot vom 14. August 1649 klarstellt, er habe die Leidenschaften nicht als Redner oder Moralphilosoph, sondern als Physiker erläutern wollen.1 Dass er die Emotionen als geistig-seelische Ereignisse begreift, tut dem keinen Abbruch, denn Emotionen werden gleichwohl durch die Bewegung der als körperliche Partikel begriffenen Lebensgeister veranlasst, unterstützt und verstärkt. 2 Noch durchschlagender ist diese Tendenz bei Thomas Hobbes, der die Leidenschaften zwar abwertend als „Störungen des Geistes" taxiert, sie aber dennoch mechanistisch als Effekte von Bewegungsvorgängen zu erklären versucht. 3 Welche Implikationen diese Naturalisierung für den klugen Umgang mit Emotionen hat, wird jedoch bei Descartes und Hobbes eher angedeutet als ausgeführt. Anders bei Spinoza. Seine im dritten Buch der Etbica entwickelte Affektenlehre bildet nicht nur die Basis für die metaethische Bestimmung des Guten und Schlechten, 4 sondern der Umgang mit Emotionen ist auch einer der zentralen Gegenstände seiner moralphilosophischen Überlegungen. Und zwar ist er das in doppelter Hinsicht: Zum einen werden im vierten Buch der Ethica etliche praktische Regeln der Vernunft hergeleitet, die festlegen, wie mit der oft unkontrollierbaren Realität eigener wie frem-

1 2 3 4

AT XI, 326. Zur Veränderung des philosophischen Diskurses über die Leidenschaften im 17. Jahrhundert vgl. auch Moreau 2003. AT XI, 349; H 47. Hobbes 1941 (lat. zuerst 1658), 29. So explizit in 4p8. Zur Metaethik Spinozas im Allgemeinen vgl. Schnepf 2008.

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der Emotionen klug umgegangen werden kann.5 Zum anderen entwickelt Spinoza auch eine Skizze einer Art Therapeutik der Emotionen, die zeigt, wie Affekte, zumal jene, unter denen wir leiden und die uns unfrei machen, überwunden resp. in eine zwar ebenfalls emotional gefärbte, aber angenehme und freie Grundstimmung der Zufriedenheit mit sich selber überführt werden können. Frappant an der Durchführung dieses moralphilosophischen Programms ist überdies, dass Prinzipien, die wir heute der Verhalten s therapie zuordnen würden, mit solchen kombiniert werden, die psychoanalytische Einsichten vorwegnehmen. Es fragt sich, wie solches möglich ist. Unter welchen Bedingungen ist ein solcher Umgang mit den eigenen Emotionen überhaupt eine realistische Option? Die im dritten Buch der Ethica entwickelte Emotionstheorie kann als Antwort auf diese Frage begriffen werden. Die darin präsentierte Auffassung menschlicher Emotionen bringt drei Intuitionen zusammen, die wesentliche Voraussetzungen eines therapeutischen Umgangs mit Emotionen darstellen: 1. Emotionen sind Ereignisse, die natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgen und die wir daher nicht direkt, quasi per Willensdekret, steuern können, weswegen wir auch nicht für sie angeklagt werden dürfen. 2. Emotionen involvieren Ideen, d. h., sie sind eine Form des Erkennens, und genau deshalb können zukünftige Emotionen durch die Reflexion auf allgemeine oder besondere Ursachen von Emotionen beeinflusst werden. 3. Hinter den aktuellen Emotionen stehen körperliche und kognitive Dispositionen, die allerdings nicht einfach „gegeben" sind, sondern kulturellen, semantischen, wissensgeschichtlichen oder biografischen Prägungen unterliegen, und die daher im Prinzip auch veränderbar sind. In der Folge soll zunächst etwas genauer ausgeführt werden, wie Spinoza diese drei Intuitionen begründet, bevor ich im zweiten und dritten Abschnitt einzelne Entstehungsprinzipien von Emotionen erörtern werde.

1. Naturalismus, Ideenbegriff, individuelle Prägung Spinozas Affektenlehre greift mehrfach auf Voraussetzungen zurück, die an sich betrachtet wenig mit seiner Emotionstheorie zu tun haben, aber für seine Beschreibung und Erklärung menschlicher Emotionalität gleichwohl entscheidend sind. Es sind dies: 5

Für die Begründung der sogenannten ,dictamines rationes' siehe Bartuschat 1992, 179ff.

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a)

6 7

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Naturalismus. Wenn Spinoza sich im Rahmen einer Ethik mit den menschlichen Emotionen auseinandersetzt, so will er eines dezidiert nicht: Moralisieren. Im Gegenteil, in der Praefatio zum dritten Buch der FJhica grenzt er sich unmissverständlich von all jenen Philosophen (nach Spinoza sind es die meisten) ab, „die die Affekte und Handlungen der Menschen lieber verdammen oder verlachen als begreifen wollen" (3praef, Β 221), was Spinoza zufolge direkt damit zusammenhängt, dass sie die Affekte nicht wie „natürliche Dinge" auffassten, „die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen", sondern wie „Dinge, die außerhalb der Natur liegen." (3praef, Β 119) Demgegenüber hält Spinoza daran fest, dass Emotionen unbesehen ihrer scheinbaren Irrationalität natürliche Ereignisse sind, weswegen er sie auch nach derselben geometrischen Methode traktiert, mit der er zuvor schon die übrigen scheinbar außernatürlichen Entitäten Gott und Geist behandelt hatte. Spinozas Naturalismus steht somit ganz im Dienst der Versachlichung der Diskussion. 6 Es wäre verfehlt, würde dieser Naturalismus einfach mit naturalistischen Ansätzen gleichgesetzt, wie sie im 20. Jahrhundert in der Philosophie des Geistes propagiert wurden. So läuft ζ. B. Spinozas Naturalismus im Unterschied zu jenem des eliminativen Materialismus keineswegs auf eine szientistisch begründete Leugnung der Realität des Mentalen hinaus. Spinozas Naturalismus richtet sich vor allem gegen die Annahme unbegreiflicher, transzendenter Ursachen und ist daher in erster Linie ein Ausdruck seiner radikal-rationalistischen These, dass alles Seiende im Prinzip intelligibel ist.7 Weder wurde daher die Welt von einem transzendenten Schöpfer geschaffen, noch steht hinter unseren geistigen Zuständen ein an sich unerkennbares Subjekt, noch unterliegen die Emotionen, die traditionell der Sphäre der voluntas zugeschrieben wurden, der menschlichen Willkür. Mit seinem Naturalismus verpflichtet sich Spinoza somit zwar auf eine deterministische Erklärung, doch er legt sich damit nicht auf eine physikalistische Ontologie der Emotionen fest.

Vgl. dazu auch ausführlicher Renz 2005, 335ff. Vgl. zu Spinozas Rationalismus auch Della Rocca 2003 sowie die drei klassischen französischen Kommentare von Matheron 1969, Gueroult 1968 und Deleuze 1967.

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b)

Ideenbegriff. Spinozas Naturalismus geht einher mit einer begrifflichen Homogenisierung des Seienden. So unterscheidet er nur zwei uns bekannte Weisen, wie Seiendes existiert: Denken oder Ausdehnung. Einzeldinge sind demnach entweder Ideen oder Körper, wobei es sich hier nicht einfach um zwei Typen von Seiendem handelt, sondern eher um Ausdrucks- oder Manifestationsweisen, wie Seiendes ist. Als solche können Ideen und Körper nicht untereinander kausal interagieren, sondern höchstens ein und dieselbe Realität „ausdrücken". Das ist nicht so unplausibel, wie es prima facie scheinen mag. Können doch ζ. B. mein beschwingter Schritt und meine Freude beide Ausdruck davon sein, dass ich soeben einen Sechser im Lotto gewonnen habe, ohne dass sie ihrerseits kausal interagieren müssten. Im Gegenteil, wenn mentale und körperliche Zustände, wie Spinoza im zweiten Buch der Etbka annimmt, verschiedene Seiten oder Aspekte ein und desselben Dinges oder Ereignisses sind, dann ist sogar ausgeschlossen, dass sie kausal interagieren. 8 Denn nur ontologisch distinkte Dinge können aufeinander einwirken. Für die Konzeption von Affekten ist das in zweierlei Hinsicht entscheidend. Zum einen begreift Spinoza Gefühle weder als rein mentale Phänomene, noch als rein körperliche Zustände, sondern als Vorgänge, die beide Seiten involvieren. 9 Zum anderen führt die erwähnte begriffliche Homogenisierung der Natur zu einer Aufweichung der kategorischen Unterscheidung zwischen Emotionalem und Kognitivem. Das bedeutet nicht, dass Spinoza jegliche Differenz zwischen Gefühlen und Erkenntnissen negiert. Doch wir haben es grundsätzlich bei beiden mit Ideen zu tun. Gefühle wie Erkenntnisse weisen einen intentionalen Gehalt auf, und beide verdanken sich der Tatsache, dass Menschen sich denkenderweise auf Dinge beziehen. Mit Blick auf das Glück, das dem fünften Buch zufolge mit adäquatem Erkennen einhergeht, kann man ferner schließen, dass nach Spinoza nicht nur dem Fühlen, sondern auch dem Erkennen ein qualitativer Erlebnisgehalt

Vgl. dazu 2p7s. Für die detaillierte Interpretation und kritische Diskussion dieses Scholiums vgl. vor allem Della Rocca 1996, 118f. sowie Jarrett 1991. Spinoza greift zu Beginn der Affektenlehre, in 3p2s, ausführlich auf dieses Scholium zurück. Vgl. dazu 3def3, Β 223: „Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen" (Hervorhebung U. R.)

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eigen ist. Gleichwohl unterscheiden sich Emotionen und Kognitionen voneinander, und zwar darin, wie — oder genauer: aufgrund welcher Funktionsprinzipien der Vorstellungs- oder Begriffsbildung — der intentionale Gegenstandsbezug zustande kommt. Und genau vor diesem Hintergrund kann Spinoza auch eine normative Differenz zwischen Erkennen und Fühlen ansetzen: Nur insofern der intentionale Gegenstandsbezug unserer Ideen auf eine rationale und uns durchsichtige Weise zustande kommt, wird er uns die Realität erkennen lassen, und nur insofern können wir uns auch auf unsere Ideen verlassen. c)

10

Individuum und Konstitution. Spinozas Affektenlehre basiert schließlich auf einer weiteren ontologischen Voraussetzung, die für die therapeutische Dimension seiner Ethica enorm wichtig ist: Er nimmt an, dass die Art und Weise, wie Menschen im Einzelfall fühlen, beträchtlich variieren kann. Dies hält er in 3p57 explizit fest, wenn er sagt, dass sich der Affekt eines Individuums in dem Maße vom Affekt anderer Individuen unterscheide, wie sich die Essenz des einen von der Essenz des anderen unterscheidet (B 327). Es kann hier nun nicht im Detail erörtert werden, was mit der Essenz eines Menschen genau gemeint ist. Klar ist jedoch, dass Spinoza, wenn er von Individuen spricht, Dinge vor Augen hat, deren Form durch das Bewegungsgleichgewicht seiner Teile bestimmt ist, respektive, im Falle von Ideen, Ideenkomplexe, die durch das relationale Gefüge zwischen den einzelnen Ideen stabilisiert werden. Diese Form kann sich im Rahmen gewisser natürlicher Grenzen und in der Regel durch externe Störungen ausgelöst durchaus verändern. 10 Das Wesen individueller Menschen ist keineswegs ein für alle Mal festgeschrieben oder gar durch eine Präformation im göttlichen Intellekt vorgegeben, sondern es ist eine von zahlreichen — physiologischen, kulturellen, sprachlichen, wissensgeschichtlichen aber auch biografischen — Faktoren bestimmte Größe. Die Rede vom Wesen von Individuen darf daher nicht zu essenzialistischen oder gar fatalistischen Interpretationen verleiten.

Wie Moreau 1994, 32 klarstellt, ist Spinozas Formbegriff auch im Zusammenhang mit dem Ausschluss jeglicher Metamorphose zu sehen. Zum Formbegriff bei Spinoza siehe ferner auch Zourabichvili 2003, vor allem 26ff.

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Wie jemand fühlt, hängt zwar von seinem Wesen ab, und dieses kann er nicht in quasi existenzialistischer Manier wählen. Doch man kann davon ausgehen, dass sich das Wesen oder die Form von Menschen kontinuierlich verändert und dass sie — in bestimmten Grenzen — durch ihr eigenes Denken und Leben mit dazu beitragen, wer sie später einmal sind. 11 Diese drei Voraussetzungen sind für die allgemeine Stoßrichtung von Spinozas Affektenlehre allesamt entscheidend: Menschliche Gefühle sollen als etwas begriffen werden, das wir nicht willkürlich steuern, auf das wir aber indirekt — sei es durch Manipulation oder Aufklärung, Selbsterkenntnis oder Verhaltenstraining — Einfluss nehmen können. Wie er das in seiner Emotionstheorie im Detail einholt, soll in den nächsten zwei Abschnitten gezeigt werden.

2. Die Primäraffekte oder warum Menschen Gefühle haben Wie es bis ins 18. Jahrhundert oft der Fall war, wird in der Ethica zwischen zwei Gruppen von Emotionen unterschieden: den sogenannten Grundoder Primäraffekten und den daraus abgeleiteten Sekundäraffekten. Diese Unterscheidung wird nur beiläufig erwähnt, und sie wird auch nur damit begründet, dass letztere aus ersteren entspringen (2plls, Β 245). Für die Affektenlehre ist diese Differenz gleichwohl wichtig, denn ihr korrespondiert eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen theoretischen Fragekomplexen. Während die Erörterungen über die Primäraffekte darüber Auskunft geben, warum Menschen überhaupt Emotionen haben bzw. was es heißt, dass sie Emotionen haben, führt die Herleitung der zahlreichen Sekundäraffekte vor, warum Menschen so vielfältige Emotionen haben und warum sie je nach Situation und damit einhergehenden Vorstellungen zu ganz bestimmten Gefühlen tendieren. 12 Spinozas Antwort auf die erste Frage steht und fällt mit der Auslegung jenes Prinzips, das gleichsam zu einem Markenzeichen für Spinozas Affektenlehre geworden ist: dem Prinzip des conatus, demzufolge „jedes

11 Vgl. Renz 2008. 12 Vgl. dazu auch Renz 2007.

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Ding, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren" strebt (3p6).13 Auf diese Annahme, dass alle Dinge oder genauer: alle endlichen Dinge über einen conatus verfügen, rekurriert Spinoza immer wieder, wenn es um die Erklärung menschlicher Emotionen geht. Doch was ist der conatus nach Spinoza genau? In der Literatur lassen sich zwei Interpretationstendenzen unterscheiden, eine biologische oder vitalistische und eine allgemein-ontologische. Erstere bringt Spinozas Conatus-Begriff in einen Zusammenhang mit der stoischen Oikeiosis-Lehre, der zufolge jedes Lebewesen aufgrund einer Zuneigung zu sich selbst danach strebt, sich zu erhalten und eine der Erhaltung förderliche Konstitution zu bewahren. 14 Vor diesem Hintergrund wird der conatus als eine Art angeborener, biologischer Selbsterhaltungs/w¿> begriffen, der Subjekte dazu veranlasst, sich um ihre eigene Erhaltung zu kümmern und die entsprechenden Präferenzen — allen voran jene des Lebens vor dem Tod — zu entwickeln. Die zweite Interpretationstendenz zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass sie Spinozas ConatusBegriff aus dem Kontext der Diskussion über das physikalische Trägheitsprinzip heraus begreift. 15 Sie fasst den conatus als relativ abstraktes ontologisches Grundprinzip auf, das besagt, dass alle Dinge dazu tendieren, in jenen Zuständen zu verharren, in die sie aus irgendwelchen Gründen geraten sind. Es ist nicht so einfach zu entscheiden, welche dieser Lesarten die richtige ist. Man kann davon ausgehen, dass Spinoza beide Diskussionskontexte kannte, und es haben auch beide Lesarten etwas für sich. So behauptet Spinoza einerseits an mehreren Stellen einen absoluten Vorrang bestimmter Zustände vor anderen, z. B. des Lebens vor dem Tod, und ein solcher ist nur sinnvoll, wenn der conatus mindestens auch ein biologisches Selbsterhaltungsstreben impliziert. Auch viele andere moralische Maximen aus dem vierten Buch wären haltlos ohne die Annahme einer solchen Präferenz des Lebens vor dem Tod. Das spricht für die vitalistische Lesart. Auf der anderen Seite sind die Ähnlichkeiten zwischen den Formulierungen, mit denen Spinoza den conatus beschreibt, und dem Trägheitsprinzip frappant, zumal wenn als Vergleichsbasis nicht Descartes' Version dieses 13 14

15

„Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur." (Übersetzung von Jakob Stern, Spinoza 1977, 273) Als Bezugstexte gelten Diogenes Laertius' Ό e vitis (siehe Pollock 1880, 132; Dilthey 1921 (zuerst 1893), 286 und Bittner 2002, 209) sowie Ciceros Definibili (Curley 1988, 114; sowie im Anschluss an ihn Cook 2006, 154). Siehe u. a. Walther 1971, 102; Curley 1988, 107f.; sowie Della Rocca 1996/2, 196.

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Prinzips, sondern die Formulierung von Johannes Clauberg herangezogen wird. 16 So bedient sich der oben zitierte Lehrsatz nicht nur der Wendung „unaquaeque res, quantum in se est", die sich bei Descartes und Clauberg findet, sondern auch des Verbs „perseverare", das Clauberg anstelle von Descartes' „manere" verwendet, und das später auch bei Newton in analogem Zusammenhang auftaucht. 17 Noch wichtiger ist aber, dass Spinoza den conatus im dritten Teil an entscheidender Stelle auch heranzieht, um zu erklären, warum wir uns oft gerade nicht klug verhalten. Weshalb, so fragt sich, strebt der Geist nicht einfach danach, möglichst viele klare und deutliche Ideen zu haben, anstatt dass er, wie Spinoza in 3p9 festhält, in einem bestimmten Zustand verharrt, der genauso von verworrenen wie von klaren und deutlichen Ideen bestimmt ist?18 Oder anders gefragt: Wie ist zu erklären, dass Menschen Affekte, die ihnen nicht zuträglich sind, nicht einfach vermeiden, sondern darin quasi neurotisch gefangen bleiben? Dass solche ambivalenten Gefühlslagen überhaupt auftreten, ist nur plausibel, wenn man den conatus als ontologisches Prinzip auffasst, das sich als solches allgemein auf die Erhaltung von Zuständen bezieht, zugleich aber annimmt, dass dieses ontologische Prinzip neben anderem auch das Selbsterhaltungsstreben von Lebewesen erklärt. Genauso wie bewegte Körper in ihrem Bewegungszustand bleiben, so verharren eben Lebewesen im Zustand des Lebens, wenn sie nicht daran gehindert werden. Allerdings sind Lebewesen noch in unzähligen anderen Zuständen, in denen sie ebenfalls zu verharren streben. Als Körper befinden sie sich in einem bestimmten Bewegungszustand, und als Geister verharren sie in Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten. Und es erstaunt daher auch nicht, dass Lebewesen, obwohl sie stets auf Lebenserhaltung aus sind, längst nicht immer das tun, was ihrer Lebenserhaltung zuträglich ist. Ja, je komplexer Subjekte sind, umso mehr Zuständen unterliegen sie, und umso 16

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„Prima lex naturae: quod unaquaeque res quantum in se est, semper in eodem statu perseveret; sicque quod semel movetur, semper moveri pergat." „Das erste Naturgesetz [lautet]: dass jedes Ding, soviel an ihm liegt, immer im selben Zustand verharrt; und so wie es einmal bewegt wird, sich zu bewegen immer fortfährt." (Clauberg 1968 (zuerst 1691), Opera Omnia I, 102; Übersetzung U. R.) Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund des „perseverare", das im 17. Jahrhundert dem ursprünglich theologischen Ausdruck des „conservare" Konkurrenz machte; vgl. Blumenberg 1996. 3p9, Β 241: „Der Geist strebt, sowohl insofern er klare und deutliche, als auch insofern er verworrene Ideen hat, auf eine unbestimmte Dauer in seinem Sein zu verharren, und seines Strebens ist er sich bewußt."

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vielfältiger werden ihre Beharrungstendenzen sein. Gerade bei so komplexen Wesen wie dem Menschen kommt es daher öfters auch zu ziemlich ambivalenten Bedürfnislagen. Mit der Annahme eines conatus wird somit nicht einfach ein natürlicher Instinkt behauptet, sondern ein Prinzip eingeführt, dessen Funktion darin besteht zu plausibilisieren, warum Dinge, wenn sie einmal in bestimmten Zuständen sind, dazu tendieren, diese Zustände zu erhalten. Der conatus erklärt allerdings nicht, warum Dinge überhaupt in bestimmte Zustände kommen. Das gilt auch für den Zustand des Lebens: Die Annahme eines universalen conatus besagt, dass Dinge, wenn sie leben, dazu neigen, ihr Leben zu erhalten, doch sie erklärt nicht, wie Leben entsteht. Dass sie leben, ist Lebewesen vielmehr immer schon gegeben, und es gehört quasi zu ihrer ontologischen Grundausstattung, dass sie darüber nicht verfügen können. 19 Mit der Behauptung eines conatus allein ist daher die oben aufgeworfene Frage, warum Menschen überhaupt Emotionen haben bzw. was es heißt, dass sie Emotionen haben, noch nicht geklärt. Im Gegenteil, es macht den Anschein, als wären wir von einer Beantwortung dieser Frage weiter weg denn je. An der Stelle ist erstens daraufhinzuweisen, dass beim Menschen noch ein zusätzliches Element zum conatus hinzukommt. Im Unterschied zu den meisten Dingen sind Menschen nämlich nicht nur vom Prinzip des conatus bestimmt, sondern sie haben auch ein Bewusstsein, conscientia, davon. 20 Menschen merken, wonach ihnen ist und wohin es sie drängt. Konkret kommt das in der Ethica darin zum Ausdruck, dass der erste Primäraffekt, die cupiditas oder Begierde, als conatus plus conscientia definiert wird. 21 Menschen haben also nicht nur (zahlreiche) Verharrungs19 20

21

Blumenberg 1996, 188 charakterisiert den conatus daher sehr treffend als ein „Ausschließungsprinzips von Fragen". Vgl. den in Anm. 19 schon zitierten Lehrsatz 3p9. Man könnte hier einwenden, dass 3p9 nicht vom Menschen, sondern vom Geist spricht und es darin nicht um ein menschliches Privileg geht. Wie ich jedoch andernorts gezeigt habe, wird der Terminus mens — anders als der Ausdruck anima — nur dort verwendet, wo entweder vom Menschen die Rede ist oder Seiendem in Analogie zum Menschen Geist zugesprochen wird (vgl. Renz 2006, 117). Vgl. dazu 3p9s, wo es heißt: „Die Begierde ist der Trieb mit dem Bewusstsein davon." (Ubersetzung U. R.) Der lateinische Ausdruck an der Stelle ist nicht conatus, sondern appetitus, was dahingehend missverstanden werden könnte, dass die cupiditas nur ein — quasi epiphänomenales — Bewusstsein der körperlichen Verharrungstendenzen sei. Dagegen ist festzuhalten, dass der Ausdruck appetitus nur eine Spezifikation des conatus ist und die Annahme einer conscientia in Lehrsatz 3p9 nicht bezogen auf den appetitus, sondern den conatus des Geistes hergeleitet wird,

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tendenzen, sondern sie sind überdies intentional darauf bezogen, und genau das ist einer der Ursprünge ihres Fühlens. Zweitens ist an der Stelle darauf hinzuweisen, dass Spinoza Emotionen wesentlich als transitorische Vorgänge begreift, und nicht einfach als Zustände, die sich so oder anders anfühlen. Dies geht zum einen aus 3def3 hervor, wo als Affekte jene Ubergangsphänomene angesprochen werden, durch welche die Wirkungsmacht des Körpers eines Individuums vermehrt oder vermindert wird. 22 Zum anderen bringt Spinoza dies auch bei der Definition von Freude und Trauer zum Ausdruck, welche er neben der Begierde als die einzigen Primäraffekte begreift. Und zwar bestimmt er die Freude, laetitia, als Ubergang des Geistes zu größerer Vollkommenheit und die Trauer, tristitia, als Ubergang desselben zu geringerer Vollkommenheit. 23 Doch warum, so könnte man hier fragen, kommt es überhaupt zu solchen Ubergängen, wenn doch Menschen aufgrund des conatus dazu tendieren, in den Zuständen zu bleiben, in denen sie nun einmal sind? Spinoza geht an keiner Stelle explizit auf diese Frage ein, doch vor dem Hintergrund seiner Ontologie liegt die Antwort auf der Hand: Menschen gehören als sogenannte JModf zu denjenigen Entitäten, deren Existenz von anderem Seienden fundamental abhängig ist. Diese Abhängigkeit kann bestenfalls minimiert, nie aber überwunden werden. Deshalb bleiben Menschen stets externen Einflüssen ausgesetzt, und ihr Selbsterhaltungsstreben ist daher mindestens potenziell zum Scheitern verurteilt. 24

22 23

24

vgl. auch Β 241 f. Zum Terminus conscientia ist ferner anzumerken, dass er im 17. Jahrhundert meist noch Gewissen und nicht Bewusstsein bedeutete. Die Verwendung dieses Ausdrucks in 3p9 ist neutraler und allgemeiner, doch die Assoziation mit dem Gewissen schwingt an vielen Stellen noch mit. Vgl. zum Begriff der conscientia Balibar 1998; für Spinozas Umgang damit Renz 2009 und Balibar 1992. Vgl. dazu die in Anm. 13 zitierte Definition. Siehe 3 p l l s , Β 245, sowie 3AD3, Β 339. Im Anschluss werden auch Lust, titillatici, Heiterkeit, hilaritas, Unlust, dolor, sowie Schwermut, melancholia, als Formen der Freude oder der Trauer bestimmt; sie stellen aber nach Spinoza, obwohl selbst leibseelische Phänomene, Ubergänge zu größerer oder geringerer körperlicher Vollkommenheit dar. Vgl. dazu 4axl, Β 385: „Es gibt kein Einzelding in der Natur, in Bezug auf das es nicht ein anderes gäbe, das mächtiger und stärker ist. Welches auch immer gegeben sein mag, es gibt ein anderes, mächtigeres, von dem es zerstört werden kann." Dieses Axiom ist eine ontologische Reformulierung von Hobbes' Diktum, wonach selbst der Schwächste stark genug sei, den Stärksten zu töten. Vgl. Hob-

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Menschliches Existieren ist also stets für Störung und Zerstörung anfällig, aber auch für Veränderungen in Richtung mehr Lebensfülle und Handlungsfähigkeit. Wenn es nun aber aufgrund von irgendwelchen externen Einflüssen zu einer Veränderung in die eine oder andere Richtung kommt, dann wird sich das im emotionalen Erleben des Subjektes notwendigerweise bemerkbar machen, und zwar je nachdem in Form von Freude oder Traurigkeit. Wir können somit festhalten, dass Spinoza mit seiner Bestimmung der drei Primäraffekte zwei verschiedene Ursprünge menschlicher Emotionalität ausweist: Affekte entspringen einerseits dem Bewusstsein der eigenen Verharrenstendenzen, andererseits der Wahrnehmung der Verminderung und Vermehrung der eigenen potentia agendi. Signifikanterweise führen diesen beiden Bestimmungen ontologische und kognitiv-psychologische Momente zusammen, sie tangieren beide grundlegende Bedingung der Existenz von endlichem Seienden, und sie hängen beide damit zusammen, was menschliche Subjekte von der Kontingenz ihrer Existenz mitbekommen. Als Fazit könnte man daher festhalten, dass Fühlen nach Spinoza sehr viel damit zu tun hat, wie Menschen ihr zwar auf Fortsetzung bedachtes, aber stets bedrohtes Sein erleben.

3. Sekundäraffekte oder die Vielfalt emotionalen Lebens Weitaus der größte Teil von Spinozas Affektenlehre befasst sich mit der Herleitung der Sekundäraffekte. Diese sind sehr zahlreich — Spinoza führt gegen fünfzig verschiedene Affekte an —, und die Liste ist nach oben offen. So schließt Spinoza seine definitorischen Bemühungen in 3p56 explizit damit ab, dass es so viele Arten von Affekten gäbe, wie es Arten von Gegenständen gebe (B 327).25 Die Auswahl der behandelten Phänomene verdankt sich im Grunde genommen nur der Tatsache, dass Spinoza sich hier an der Vorlage von Descartes' Passions de l'âme bzw. deren lateinischer Ubersetzung Passiones Animae abarbeitet, 26 und sie ist daher relativ kontingent. Wie ferner zahlreiche Seitenhiebe zeigen, hält Spinoza diese Vorlage nicht etwa für besonders klug. Allerdings ist der Affektkatalog der Passiones

25

26

bes 1996 (engl, zuerst 1651), 87. Die lateinische Version des Peviathan erschien 1668 in den Operaphilosophica quae latine scripsit ìa Amsterdam. Wer weiß, ob Spinoza, hätte er heute geschrieben, neben Schwelgerei, Trunksucht etc. auch auf Workahoüsmus, Chatsucht oder Messie-Syndrome zu sprechen gekommen wäre. Das satirische Potenzial dazu ginge ihm nicht ab. Auf die Bedeutung von Descartes' Passiones Animae hat Voss 1981 hingewiesen.

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Animae so umfassend angelegt, dass Spinoza an ihm die Tauglichkeit seiner eigenen Annahmen messen kann: Gelingt es ihm, sämtliche der fünfzig in den Passiones Animae unterschiedenen Emotionen aufgrund seiner eigenen Vorgaben herzuleiten, so kann seine Theorie auch in diesem Bereich als gelungen gelten.27 Im Zentrum steht die Einfuhrung von sogenannten genetischen Prinzipien.28 Diese dienen einerseits der Spezifikation von Affekttypen, andererseits ihrer kausalen Erklärung. Es handelt sich also, genau genommen, um Gesetzmäßigkeiten, die zeigen, wie es kommt, dass bestimmte Affektgeschehnisse, die qua Primäraffekte den Charakter von Begierde, Freude oder Traurigkeit haben, als Liebe, Hass, Neid, Mitleid etc. erlebt werden. Konkret sind dabei vor allem folgende Prinzipien zu nennen: a)

27

28

Kausalattnbuierung. Wie schon aus der Definition der drei Primäraffekte hervorging, werden Emotionen meist als werthaft erlebt. Sie lassen uns entweder nach Dingen streben, von denen wir glauben, sie seien wertvoll und uns zuträglich oder aber sie drücken direkt die Verminderung oder Vermehrung der eigenen potentia agendi aus. Allerdings nehmen Menschen solche Veränderungen meist nicht einfach hin, sondern sie suchen nach Ursachen, und zwar vornehmlich solchen, die außerhalb ihrer selbst liegen. Menschen neigen, mit anderen Worten, zur Kausalattribuierung. Aus solchen Kausalattribuierungen entstehen gemäß Spinoza vor allem zwei Sekundäraffekte: Liebe und Hass. So wird Liebe definiert als „Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache", Hass als „Trauer unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache" (B 343). Im Unterschied zur Freude und Trauer involvieren Liebe und Hass somit bestimmte kognitive Prozesse, weswegen sie auch einen viel spezifischeren intentionalen Objektbezug haben. Das jedoch heißt nicht, dass Liebe und Hass eine adäquate Erkenntnis der realen Ursache unserer Freude oder Trauer voraussetzen, sondern es reicht die bloße Vorstellung, etwas sei die Ursache unserer Freude oder Trauer. Kausalattribuierungen gehen daher oft mit den noch zu erörternden imaginativen

Vgl. dazu ausführlicher Renz 2005, 344ff. Im Allgemeinen waren Klassifikationen in den Emotionstheorien im 17. Jahrhundert kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um Differenzen hinsichtlich der Erklärungsprinzipien zu erörtern. Siehe dazu auch Schmitter 2006. Siehe dazu auch Moreau 2003, 4f. sowie derselbe 2006, 184.

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Mechanismen wie Affektassoziation etc. einher. Allerdings wird mindestens bei der Liebe auch nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass sie aus der wahren Erkenntnis der realen Ursache unserer Freude entstehen kann. 29 Das ist für Spinozas Ansatz in zweierlei Hinsicht entscheidend. Zum einen wäre jenes Glück unmöglich, das Spinoza im amor Dei intellectualis anvisiert. Unabhängig davon, was genau Spinoza als intentionalen Gegenstand dieser Liebe begreift, ist klar, dass es sich um ein Gefühl handelt, das einer adäquaten Erkenntnis der Ursache unserer Freude entspringen muss. Ein solches Gefühl überhaupt in Aussicht zu stellen, ist aber nur dann konsistent, wenn es mindestens im Prinzip denkbar ist, dass Liebe einer rationalen Einsicht entspringt. Ferner ist auch wichtig, das als amor Dei intellectualis bezeichnete Gefühl von einer auf Aberglauben und Furcht oder Hoffnung basierenden Verehrung Gottes zu unterscheiden. Die Möglichkeit rational begründeter Liebe hat zum anderen auch sozialphilosophische Implikationen. Wie Spinoza im vierten Teil ausführt, sind vernünftige Menschen einander in höchstem Ausmaß nützlich. 30 Wenn nun aber Liebe stets auf Irrtum basierte, dann wäre ausgeschlossen, dass Vernünftige einander überdies freundschaftlich zugetan sind. Das ist aber etwas, was Spinoza für durchaus möglich und äußerst erstrebenswert hält. Liebe, Zuneigung oder allgemeiner soziale Bindungen können grundsätzlich mehr oder weniger blind sein. b) Affektasso^iation. Viele der von Spinoza erörterten Sekundäraffekte basieren auf einem Mechanismus, der in 3pl4 wie folgt umschrieben wird: „Wenn der Geist einmal von zwei Affekten zugleich affiziert worden ist, wird er später, wenn er von einem von ihnen affiziert wird, auch von dem anderen affiziert werden." (B 249) Damit wird die bereits im zweiten Teil behauptete Annahme von Ideenassoziationen auf Affekte ausgeweitet. Spinoza hielt dort fest, dass Vorstellungen von externen Körpern reaktiviert werden, sobald wir an einen dritten externen Körper denken, der unseren Körper zusammen mit jenen affiziert hat (2p 18, Β 147). Und er ilIm Fall des Hasses wird das später indirekt ausgeschlossen, vgl. etwa 4p45 sowie vor allem 4p64. Vgl. dazu 4p35cl, Β 433.

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lustriert das, indem er die Gedanken eines Soldaten, der Pferdespuren im Sand sieht, mit jenen vergleicht, die ein Bauer beim selben Anblick hat. Der Soldat „wird von dem Gedanken eines Pferdes auf der Stelle in den Gedanken eines Reiters und von diesem in den Gedanken von Krieg usw. verfallen. Ein Bauer dagegen [...] in den Gedanken eines Pfluges, eines Ackers usw." (B 149) Diesen Mechanismus assoziativer Verkettung von Ideen macht sich Spinoza also in der Affektenlehre zunutze, um nicht nur Gedankenabfolgen, sondern auch scheinbar unmotivierte, absurde oder widersprüchlich anmutende Gefühle zu erklären. Vor dem Hintergrund des Beispiels vom Soldaten und vom Bauern ist klar, wie dies gehen soll: Erfasst den Soldaten beim Anblick von Pferdespuren in erster Linie die Furcht, so kommt beim Bauern eher Überdruss auf. Das Beispiel erhellt auch eine der wichtigsten Funktionen der Annahme eines solchen Mechanismus: So dürfte eine wesentliche Funktion darin liegen, individuelle Differenzen in der Wahrnehmung und im Fühlen von Dingen erklärbar zu machen. Darüber hinaus können aber auch widersprüchlich anmutende Gefühle auf Affektassoziationen zurückgeführt werden und so ihres Widersinns entkleidet werden. Dies weist auf einen weiteren Punkt hin: Assoziationen funktionieren, auch wenn das fühlende oder wahrnehmende Subjekt nichts von ihnen weiß. Denn es vollzieht den Schritt von einer Idee zur nächsten, meist ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, dass es damit letztlich nur einer Denkgewohnheit folgt, die zwar notwendigen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die in ihrer konkreten Ausprägung aber von einer letztlich kontingenten Affektgeschichte abhängig ist. Dies kann sich allerdings verändern: Menschen können Einsicht in die Ursachen ihrer Denkgewohnheiten gewinnen und an deren Stelle neue, rationalere Ideenverbindungen schaffen. Spinoza spricht in 5pl0 davon, dass es „in unserer Gewalt" stehe, „die Affektionen des Körpers gemäß einer Ordnung zu ordnen und zu verketten, die dem Verstand gemäß ist." Das gilt allerdings nur unter der Einschränkung, dass wir im Moment des Nachdenkens „nicht von Affekten bedrängt werden" (5pl0, Β 547). Es liegt somit nicht in unserer Macht, unsere eigenen affektiven Reaktionen zu kontrollieren, wir können höchstens indirekt auf sie ein-

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wirken, indem wir das unser Handeln und Erleben steuernde Gedankengefüge mehr oder weniger rational gestalten. Ferner ist auch ausgeschlossen, dass wir alle assoziativen Verknüpfungen auf einmal durch rationale Ideenverbindungen ersetzen. Denn Assoziationen gehen auf einzelne Affektionsereignisse zurück und sie entfalten ihre Macht stets aufgrund der Koinzidenz der in der besonderen Situation zusammenkommenden Faktoren. c)

Affektübertragung aufgrund von Ähnlichkeit. Viele Affekte, bei denen Assoziationen im Spiel sind, können allein aufgrund des Assoziationsgesetzes nicht erklärt werden. Wie kommt es beispielsweise, dass wir jemanden verabscheuen, der uns gar nichts angetan hat und dessen Tun uns auch in keiner Weise beeinträchtigt? Oder wie ist es zu verstehen, dass man Hass auf ganze Bevölkerungsgruppen haben kann, obwohl man nur einzelne Menschen kennt, die dieser Gruppe zugehören? Um solche Phänomene zu erklären, nimmt Spinoza einen weiteren Mechanismus der Affektgenese an, den man am besten als Affektübertragung aufgrund von Ähnlichkeit bezeichnet. Es ist in seiner einfachsten Form in 3p 16 dargestellt: Wir werden ein Ding allein aus dem Grund lieben oder hassen, dass wir es uns als etwas vorstellen, das mit einem Gegenstand, der den Geist gewöhnlich mit Freude oder Trauer affiziert, irgendeine Ähnlichkeit hat, selbst dann, wenn dasjenige, worin das Ding dem Gegenstand ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist. (B 253)

Dieser Mechanismus erklärt, weshalb Affektassoziationen auch in Fällen vorkommen, in denen die involvierten Dinge einander bloß ähnlich sind und wo wir möglicherweise sogar wissen, dass keinerlei kausaler Zusammenhang zwischen dem vorgestellten Gegenstand und dem, was seine Vorstellung in uns auslöst, besteht. Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine Projektion, die auf bloßer Ähnlichkeit beruht. Dabei ist durchaus offen, was uns ähnlich vorkommt. Wie das Adverb „allein", solo, im oben zitierten Lehrsatz klarstellt, kann sogar ausgeschlossen werden, dass es ein inhaltliches Kriterium dafür gibt, wann die Vorstellung einer Ähnlichkeit unsere Haltung gegenüber bestimmten Dingen affektiv beeinflussen wird. Im Gegenteil, mutmaßliche Ähnlichkeit reicht völlig aus, um Affekte zu erzeugen. Auch diese Gesetzmäßigkeit hat einen enormen Erklärungswert. Sie erklärt zum einen jene Affekte, die sich nicht auf einzel-

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ne Individuen, sondern auf Gruppen und Typen von Menschen oder Gegenständen beziehen, wie ζ. B. Xenophobie etc. Zum anderen werden vor diesem Hintergrund auch Emotionen verständlich, die auf abwesende, etwa vergangene oder zukünftige Gegenstände, bezogen sind, wie ζ. B. Vorfreude und Nostalgie. d)

Imitation von Affekten. Das wohl pikanteste Prinzip der Affekterzeugung ist jenes, das Spinoza als imitatio affectuum bezeichnet und das er in 3p27 mit folgenden Worten schildert: „Wenn wir uns ein uns ähnliches Ding, mit dem wir nicht affektiv verbunden gewesen sind, als mit irgendeinem Affekt affiziert vorstellen, werden wir allein dadurch mit einem ähnlichen Affekt affiziert werden." (B 269) Spinoza erklärt mithilfe dieses Lehrsatzes verschiedene Phänomene, in denen es zu Gefühlsansteckung kommt, aber auch Gefühle wie Mitleid oder aemulatio, was entweder mit Wetteifer oder mit Eifersucht übersetzt werden kann. Die Imitation von Affekten stellt in gewisser Weise das Gegenstück zur Übertragung aufgrund von Ähnlichkeit dar. Bei beiden spielt die Vorstellung einer Ähnlichkeit eine entscheidende Rolle, allerdings geht es bei der Übertragung aufgrund von Ähnlichkeit um die affektive Besetzung von an sich irrelevanten Gegenständen, wogegen der Mechanismus der Affektimitation erklärt, weshalb wir mit Menschen, mit denen wir an sich nichts zu tun haben und die wir womöglich nicht einmal persönlich kennen, wetteifern oder Mitleid haben können. Stärker noch als die bisherigen Prinzipien bedeutet die Annahme dieser Gesetzmäßigkeit eine Provokation für das Selbstverständnis vermeintlich rationaler Egoisten. Denn zum einen behauptet Spinoza damit indirekt, dass es zu unserer Natur gehört, sich in Gedanken um das Wohlergehen anderer zu kümmern, sei dies nun in positiver oder negativer Hinsicht. Zum anderen macht er damit indirekt klar, dass sich unsere Präferenzen keineswegs immer rationaler Überlegung verdanken. Wir lieben oft, was andere lieben, ob es uns in unserer Situation nun wirklich gut bekommt oder nicht.

Mithilfe dieser vier Gesetzmäßigkeiten leitet Spinoza einen Großteil unserer Sekundäraffekte her. Dadurch wird das Bild, das seine Affektenlehre vom menschlichen Gefühlsleben zeichnet, um eine wesentliche Komponente be-

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reichert Führte die Erörterung der Primäraffekte die allgemeine Unentrinnbarkeit von Emotionen vor Augen, so erweist sich unter der Perspektive der Erzeugung von Sekundäraffekten manches scheinbar zwingende Gefühl als Zufallsprodukt unserer Vorstellungskraft. Mag es daher absolut gesehen notwendig sein, dass wir Affekten unterliegen und an ihnen leiden — eine unentrinnbare Hölle ist unser Gefühlsleben nicht. Denn es hängt letztlich von individuellen und kulturellen Affektgeschichten ab, welche Emotionen wir haben und — damit verbunden — wie wir uns fühlen. Mögen daher unsere Emotionen aufgrund der mechanistischen Notwendigkeit, mit der sich bestimmte Affekte aus bestimmten Vorstellungen ergeben, auch dem direkten Einfluss unseres Willens entzogen sein, so können wir mindestens jene Ideen bearbeiten, die uns immer wieder in Aufruhr versetzen.

4. Fazit: Von der Naturalisierung zur Therapie Wir glauben oft, unsere Gefühle seien mehr oder weniger begründet oder mindestens irgendwie motiviert. Dies nehmen wir im Alltag sowohl zum Anlass, unsere Gefühle zu rationalisieren, als auch dazu, unter Rekurs auf Gefühle Handlungen zu rechtfertigen. Wir reden von irrationalen Ängsten oder davon, dass wir Grund zur Dankbarkeit haben. Gefühle, so scheint dieser Umgang nahezulegen, gehören zum Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen. Dieser Annahme sucht Spinoza in seiner Ethica den Boden zu entziehen. Zwar akzeptiert er, dass unser Handeln oft von unseren Gefühlen geleitet ist, ja, er attestiert ihnen eine enorme Macht über unser Tun und Lassen. Auch für ihn bildet daher die Auseinandersetzung mit den affektiven Grundlagen menschlichen Handelns und Leidens die entscheidende Basis sämtlicher moralphilosophischer Erwägungen. Der Tendenz, Gefühle zu rationalisieren — sei dies in unseren Alltagsdeutungen oder sei dies in moralphilosophischer Absicht — begegnet er gleichwohl mit Reserve. Wenn gezeigt wird, welchen emotionalen Episoden bestimmte Handlungsdispositionen, Wünsche oder Präferenzen entspringen, so nicht, um Gefühle zu rechtfertigen, sondern zu erklären. Wir meinen, Dinge zu mögen oder Personen zu lieben, weil sie gut seien. Spinoza behauptet, dass wir sie deshalb für gut halten, weil sie uns Freude bereiten. In seiner Darstellung werden somit aus Gründen natürliche Ursachen, womit auch die Möglichkeit der Rationalisierung hinfällig wird. Diese Haltung wurde im ersten Abschnitt als ein auf Versachlichung der Diskussion ausgerichteter Naturalismus charakterisiert. Schon dort wurde

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deutlich, dass Spinozas Naturalismus zwar mit einem Determinismus einhergeht, nicht aber mit einem Materialismus oder gar einem physikalistischen Reduktionismus, der kulturellen Determinanten keinen Raum ließe. Wie bei der Erörterung des Assoziationsgesetzes deutlich wurde, hat Spinoza durchaus eine Vorstellung, wo und wie kulturelle oder semantische Aspekte der Affektdetermination wirksam werden. Die Rekonstruktion des Begriffs conatus zeigte ferner, dass Spinoza auch die existenziellen Dimensionen der Emotionen im Blick hat. Fühlen hat viel damit zu tun, wie Menschen ihr Sein, aber auch Bedrohungen, Beeinträchtigungen und Bekräftigungen desselben erleben. Vor diesem Hintergrund gewinnen sowohl die moralphilosophischen Maximen des vierten als auch die therapeutischen Hellmittel des fünften Teils an Virulenz. Sie sind erstens möglich, weil unser Fühlen zwar notwendig determiniert und als allgemeines Faktum unhintergehbar, aber in seiner konkreten Ausprägung nicht etwa unveränderlich ist. Sie können zweitens wirken, weil sie den Affekten mit Mitteln begegnen, die den Mechanismen ähnlich sind, die diese erzeugt haben: An die Stelle falscher Kausalattribuierung tritt die adäquate Ursachenerkenntnis, an die Stelle imaginativer Assoziationen eine rationale Ordnung von Ideen, an die Stelle des omnipräsenten Konkurrenten im Kampf um die begrenzten Güter der potenziell Vernünftige, mit dem zu verbünden sich auch in emotionaler Hinsicht lohnen kann. Und drittens sind sie triftig, weil sie jene Dimension menschlichen Seins betreffen, welcher die Erfahrung von Not und Glück entspringt.

Literatur Verweise auf die Ethica folgen dem Schema: Die erstgenannte arabische Ziffer verweist auf den jeweiligen Teil, dann folgt ein Kürzel, das die Satzart genauer bestimmt (def=definitio, ax=axioma, p=propositio, praef=praefatio, c=corollarium, s=schoüum, AD=Affectuum Definitiones) gefolgt von der Nennung der Zählung des Satzes. Deutsche Zitate werden, wo nicht anders angegeben, nach der Ausgabe von Wolfgang Bartuschat zitiert. Vereinzelt wird auf die Ubersetzung von Jakob Stern zurückgegriffen. Descartes' Schriften werden nach der französischen Ausgabe seiner Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählter deutscher Ubersetzung zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Β AT Η

- Spinozas Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Bartuschat) — Oeuvres de Descartes (Adam & Tannery) — Descartes, Die Eeidenschaften der Seele (Hammacher)

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Nicolas de Malebranche (1638-1715)

Malebranche: Neigungen und Leidenschaften Tad

Schmält.^

Nicolas Malebranche (1638—1715) war ein französischer Priester und Mitglied der Kongretation der Oranier. Von Pierre Bayle als „der erste Philosoph unserer Zeit" bezeichnet, wurde er 1699 in die Académie des sciences aufgenommen. Im Verlaufe seiner Karriere publizierte er mehrere wichtige Werke zu Fragen der Metaphysik, Theologie und Ethik sowie Studien zur Optik, zu den Bewegungsgesetzen und der Natur der Farben. Er ist bekannt für seine höchst originelle Synthesis der philosophischen Ansätze von Augustinus und Descartes. Diese Synthese führt ihn zu zwei Resultaten, die für die Rezeption seiner Philosophie bestimmend waren: erstens die Lehre, dass wir Körper durch Ideen in Gott erkennen, und zweitens die okkasionistische Schlussfolgerung, dass Gott die einzige reale Ursache sei. Darüber hinaus entwickelte Malebranche aber auch eine einzigartige Psychologie. Den Ausgangspunkt bildet eine Kombination der cartesischen These, wonach der Geist als denkende Substanz vom Körper real verschieden sei, mit der augustinischen Auffassung des menschlichen Willens als einer Art von Liebe, wobei für seine Theorie der Emotionen vor allem der augustinische Einfluss fundamental ist. Nach Malebranche gibt es zwei Typen von Emotionen: einerseits natürliche Neigungen, französisch inclinations', welche der Geist unabhängig von seiner Beziehung zum Körper hat, und andererseits Leidenschaften, passions', denen er aufgrund seiner Verbindung mit dem Körper unterliegt. Während die natürlichen Neigungen unserer Liebe zu Gegenständen entspringen, die eine größere Perfektion aufweisen als der Körper, namentlich zu unserem eigenen Geist, anderen geschaffenen Geistern und Gott, stammen unsere Leidenschaften von unserer Liebe zum Körper, mit dem der Geist verbunden ist. Beide Typen von Emotionen sind nach Malebranche Quellen von Sünde und moralischer Fehlbarkeit. Gleichzeitig betont er aber auch ihre positive Rolle, wenn es darum geht, jenes Glück zu erreichen, das letztlich das Ziel unseres praktischen Handelns ist.

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1. Cartesische und augustinische Psychologie Im Vorwort seines Hauptwerkes De la recherche de la vérité, welches erstmals in den Jahren 1674—75 in zwei Bänden veröffentlicht wurde, stellt Malebranche fest, dass „die Differenz zwischen Geist und Körper erst seit wenigen Jahren mit hinreichender Klarheit bekannt sei." (OCM 1, 20)1 Gegenstand dieser Anspielung ist Descartes' Materiekonzeption, nach der die Natur lediglich in Ausdehnung besteht. Wie Malebranche ausführt, bedeutet dies, dass sekundäre Qualitäten wie Farben, Geschmack und Geruch, welche nicht auf Ausdehnung reduzierbar sind, demnach nur im Geist sein können. Insofern sie jedoch dort und insbesondere in der Wahrnehmung tatsächlich existieren, muss der Geist vom Körper getrennt sein. In dieser Weise, so Malebranche, lege Descartes' Materiebegriff auch den Unterschied von Geist und Körper offen. Malebranche übernimmt neben dem Substanzdualismus noch weitere Grundannahmen seiner Psychologie von Descartes. So ist er etwa wie jener der Auffassung, dass der Geist mit dem Verstand und dem Willen zwei genuin verschiedene Fähigkeiten besitzt. Und auch darin folgt er Descartes, dass er das Urteil — anders als in der scholastischen Tradition, welche es nur dem Verstand zugerechnet hatte, — auch als Resultat eines Willensaktes begreift. Dies war für Malebranche deshalb von Belang, weil er, inspiriert von Descartes' Erörterungen der vierten Meditation, die Auffassung vertritt, dass wir für unsere falschen Urteile verantwortlich sind, denn wir sind ja frei darin, ob wir eventuellen dunklen und vagen Perzeptionen unsere Zustimmung geben wollen oder nicht. Dennoch unterscheidet sich der psychologische Ansatz Malebranches in einigen Punkten von jenem Descartes'. So verdeutlicht er etwa den Unterschied zwischen Verstand und Willen anhand der Unterscheidung zweier körperlicher Fähigkeiten, wie man sie bei Descartes nicht findet. Der Unterschied zwischen den beiden geistigen Fähigkeiten werde „deutlicher und besser erkannt", wenn das Verstehen in Analogie zum unterschiedliche Formen annehmenden Körper als Fähigkeit, Ideen — oder genauer: Modifikationen des Geistes, insofern sie von Ideen in Gott verschieden sind — anzunehmen begriffen werde, während der Wille in seiner Eigenschaft, bestimmte Neigungen zu empfangen, dem Körper, insofern er Bewegungen aufnehme, ähnlich sei (RV 1.1, OCM 1, 41).

1

Die Übersetzungen der Zitate stammen von Ursula Renz.

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Diese Analogie hat ihre Grenzen, auf die Malebranche explizit aufmerksam macht. Wenn der Geist, wie mit Descartes angenommen werden muss, eine unteilbare und unausgedehnte Substanz ist, so kann er keine Eigenschaften haben, die wie jene der Form und der Bewegung räumliche Teilbarkeit voraussetzen. Im Falle des Willens, so hält Malebranche ferner fest, sei die Analogie darüber hinaus dadurch beschränkt, dass der Körper als ausgedehnte Substanz völlig passiv (toute sans action) sei und „über keine Kraft verfüge, seine Bewegungen anzuhalten, zu regeln oder in die eine oder andere Richtung zu lenken." Dagegen kann der Wille in gewissem Sinne als aktive Instanz begriffen werden, „insofern er nämlich die Neigungen oder die von Gott stammenden Eindrücke in verschiedener Weise lenken kann" (OCM 1, 46). Malebranche behauptet nicht nur, dass die Analogie zum Körper kein volles Verständnis der Natur des Geistes erbringen kann, sondern auch dass wir kein Verständnis seiner Tätigkeit haben. Stattdessen haben wir nur ein verwirrtes inneres Gefühl (sentiment interieui), das sein Bestehen anzeigt. So beharrt er in der Réponse à la Dissertation von 1685 darauf, dass der Vergleich von geistigen Tätigkeiten mit körperlichen deren Natur nicht erfasst. Daher weist gerade die Tatsache, dass wir uns von den Tätigkeiten des Geistes nur mittels solcher Vergleiche eine Vorstellung machen können, darauf hin, dass wir keine „klare Idee der Seele" haben (OCM 7, 568). Im Unterschied zur in der zweiten Meditation behaupteten Annahme Descartes', „dass uns die Natur des Geistes besser bekannt sei als jene des Körpers" (AT 7, 23), haben wir Malebranche zufolge kein klares Verständnis der Aktivitäten des Willens, und damit in der Tat auch nicht des Geistes im Allgemeinen. Dieser Unterschied zu Descartes ist auch Gegenstand des elften Eclaircissement zur Kecbercbe, wo Malebranche argumentiert, dass die Thesen der Cartesianer über den Geist selbst zeigten, dass sie nur ein konfuses Verständnis seiner Modifikationen hätten (OCM 3, 163ff). Ein weiterer Unterschied zu Descartes' Psychologie zeigt sich in dem Akzent, den Malebranche auf die Verbindung zwischen Willen und Tiebe setzt. Darin spiegelt sich der Einfluss seines anderen intellektuellen Mentors Augustin. In De Civitate Dei unterscheidet Augustin zwischen zwei Städten, die auf zwei unterschiedlichen Arten der Liebe gegründet seien. Während die Basis der säkularen Stadt, in der das Streben nach individuellem Genuss körperlicher und geistiger Güter dominiert, die Selbstliebe bildet, basiert die himmlische Stadt, welche durch den Wunsch nach einer

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Konformität mit dem göttlichen Willen geprägt ist, auf der Liebe zu Gott.2 Diese Unterscheidung beeinflusst offensichtlich Malebranches Definition des Willens. Er hält in der Kecherche fest, dass „der Geist die Fähigkeit habe, verschiedene Güter zu lieben." Diese Fähigkeit zur Liebe wiederum wird allgemein als „Eindruck oder natürliche Bewegung" definiert, „die uns in Richtung eines unbestimmten Guts drängt." (OCM 1, 46) Diese Liebe zum Guten ist schlicht unser Streben nach Glück. Malebranche nimmt nun an, dass es sich bei dieser Liebe zwar um eine willentliche Angelegenheit handelt, wir aber gleichzeitig unfähig sind, uns ihrer zu erwehren. Daher ist unser Streben nach Glück nicht frei, wir haben nicht die Kraft, ihm zu widerstehen. Hingegen liegt es, wie Malebranche betont, durchaus in unserer Entscheidung und Macht, ob wir unsere Liebe auf einzelne, von Gott verschiedene Güter lenken. Anders als unsere Liebe zum Guten ist unsere Liebe zu Gütern nicht nur Willenssache, sondern wir sind auch in ihr frei. Wie schon deutlich wurde, übernimmt Malebranche Descartes' antischolastische Auffassung, dass der freie Wille ein Bestandteil wahrer Urteile ist. Anders als Descartes betont Malebranche aber gleichzeitig den Unterschied zwischen diesem gleichsam epistemischen Willensakt und dem in unserer Liebe zum Guten involvierten Willen. So behauptet er etwa in der Kecherche, dass uns die Zustimmung zur Wahrheit nicht emotional affiziert, sie tangiert nur die Relationen zwischen Objekten. Dagegen geht uns die Zustimmung zum Guten auch emotional an, denn sie betrifft die Übereinstimmung von Objekten mit uns selbst.3 Diese Unterscheidung scheint prima facie nicht konsistent mit Malebranches Bestimmung des Willens als einer unfreien Liebe zum Guten, da sie einen Akt unterstellt, der auf das Wahre anstatt auf das Gute gerichtet ist. Der scheinbare Widerspruch verschwindet, wenn wir die Zustimmung zur Wahrheit selbst als durch die Liebe zum Guten motiviert begreifen und mithin annehmen, dass diese Zustimmung zum Wahren die Neigung, sich aufs Gute auszurichten, involviert. In der Tat wird das in einer Anmerkung zur soeben zitierten Passage angedeutet, wenn Malebranche sagt, dass „die Geometer nicht die Wahrheit, sondern die Erkenntnis der Wahrheit lieben, was immer auch sonst davon gesagt werden mag." (OCM 1, 53) Nicht die Wahrheit an sich veranlasst also die Geometer, geometrische Propositionen zu betrachten, sondern das Gut, welches 2 3

Augustinus 1928, XIV, 28. Siehe dazu vor allem RV 1.2, OCM 1, 53.

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in der Erkenntnis der Wahrheit besteht, und somit wird auch das Verlangen nach Wahrheit durch die Liebe des Guten hervorgebracht. Das bedeutet allerdings, dass man diesem Verlangen nur dann vollständig gerecht wird, wenn der Verstand uns eine vollkommen evidente Repräsentation eines Objekts präsentiert. Die Liebe zum Guten ist also durchaus zentral für Malebranches psychologische Interpretation der vierten Meditation und insbesondere der dort vertretenen These, dass wir klare und deutliche Perzeptionen zwangsläufig bejahen werden, da „ein großes Licht im Intellekt von einer großen Neigung des Willens begleitet wird." (AT 7, 59) Der als Liebe zum Guten bestimmte Wille ist auch für Malebranches Theorie der Emotionen von zentraler Bedeutung. Er begreift sowohl die Neigungen als auch die Leidenschaften als Ausdruck des menschlichen Willens. Wie er in der Recherche deutlich macht, sind die menschlichen Neigungen und Leidenschaften überhaupt nur deshalb ein Thema, weil der menschliche Verstand bei der Wahrnehmung von Gegenständen vom Willen abhängt (RVIV.l, OCM 2,9). Nicht von ungefähr findet die systematischste Auseinandersetzung mit den menschlichen Emotionen im Rahmen der Recherche statt — derjenigen Schrift, in der Malebranche die Entstehung unserer Irrtümer im Blick auf das Gute und das Wahre mittels einer psychologischen Untersuchung der psychischen Quellen dieser Irrtümer zu verstehen sucht. So sind die ersten drei Bücher dieser Schrift denjenigen Fehlern gewidmet, die den perzeptiven Fähigkeiten — d. h. den Sinnen, der Einbildung und dem reinen Verstand — entspringen; die darauf folgenden zwei Bücher befassen sich mit den Irrtümern, die aus den voluntativen Aspekten des menschlichen Geistes hervorgehen; und das letzte, abschließende Buch entwickelt eine Methode, durch die Irrtümer zu vermeiden sind. Von den mit dem Willen befassten Büchern IV und V befasst sich eines mit den natürlichen Neigungen, über welche der Wille dank der Verbindung des menschlichen Geistes mit Gott verfügt, während das fünfte Buch die Leidenschaften thematisiert, die der Verbindung des Geistes mit dem Körper entspringen. Malebranche nimmt nun an, dass sich die Leidenschaften ähnlich parasitär zu den Neigungen verhalten wie die Sinne und die Einbildung zum Verstand. Genauso wenig wie der Geist Dinge sehen oder sich einbilden kann, ohne dass er über die Fähigkeit des reinen Verstandes verfügt, genauso wenig kann er Leidenschaften ohne natürliche Neigungen haben (RVV.l, OCM 2, 127). Darüber hinaus suggeriert Malebranche oft, dass natürliche Neigungen und Leidenschaften sich in ähnlicher Weise, wie es bei den Akten der Empfindung, Einbildung und des Verstehens der Fall

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ist, nur nach Graden unterscheiden. Empfindungen und Wahrnehmungen affizieren den Geist stark, Einbildungen schon weniger stark, und Verstehensakte sogar kaum (RVI.18, OCM 1, 177). Ebenso sagt Malebranche von den Leidenschaften, sie seien dasselbe wie die natürlichen Neigungen, mit dem Unterschied allerdings, „dass sie wegen der Verbindung des Geistes mit dem Körper lebendiger und stärker" seien (RV V.3, OCM 2, 155£). Allerdings sind Malebranches Aussagen diesbezüglich nicht eindeutig; so sagt er an anderer Stelle auch, dass sich der Verstand fundamental von der Wahrnehmung und der Einbildung unterscheidet, da er nichts mit den körperlichen Bildern zu tun habe (RV III.1, OCM 1, 380f.).4 Während nämlich die der Wahrnehmung und Einbildung entspringenden Irrtümer von unserer fehlenden Einsicht herrühren, dass diese Fähigkeiten uns die Natur der Körper, so wie sie an sich sind, nicht offenbaren können, sind die aus dem Verstand stammenden Irrtümer eine Folge davon, dass die Relation zwischen externen Körpern und unserem eigenen Körper dem Verstand nicht zugänglich ist. Ähnlich entbehren auch die Neigungen jener essenziellen Relation zum eigenen Körper, welche den Leidenschaften eignet. Während daher die den Leidenschaften entspringenden Irrtümer auf eine Unordnung in unserer Liebe zum eigenen Körper zurückgehen, sind die Irrtümer im Blick auf die natürlichen Neigungen eine Folge der Unordnung unserer Liebe zu höheren Dingen.

2. Natürliche Neigungen Das Vorwort der Recherche beginnt mit der Aussage, dass der menschliche Geist eine Mittelposition zwischen Gott und der materiellen Welt einnehme, insofern er nämlich mit einem bestimmten Teil der Materie, dem menschlichen Körper, vereint und von ihm abhängig und zugleich „in einer sehr intimen Weise" mit Gott verbunden sei. Dieses doppelte Verbundensein mit dem Körper einerseits und Gott andererseits ist für das menschliche Streben nach Heil und Glück von entscheidender Bedeutung. Während nämlich die Verbindung mit seinem Körper den Menschen erniedrigt und Ursache seines Elends ist, erlangt der Geist durch seine Verbindung zu Gott „Leben, Licht und völlige Glückseligkeit." (OCM 1, 9) Diese Einheit mit Gott schlägt sich, wie Malebranche im vierten Buch der Recherche zeigt, in den natürlichen Neigungen nieder, d. h. in den natür4

Vgl. Fußnote 13.

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liehen Impulsen unseres Willens, welche letztlich auf Gott gerichtet sind. Dies begründet er mit der These, dass Gottes Wille primär auf seine eigene Selbstliebe ausgerichtet sei. Da Gott letztlich um seines eigenen Ruhmes willen handle, müsse der Wille eines jeden von ihm geschaffenen Geistes über Neigungen verfügen, deren hauptsächliches Ziel die Liebe Gottes als „des Guten im Allgemeinen" sei. (RV IV. 1, OCM 2, 13) Es ist also durch diese natürlichen Neigungen, dass der menschliche Wille mit Gottes Willen vereint wird. Allerdings kann eines der untergeordneten Ziele von Gott durchaus in der Erhaltung seiner Geschöpfe, insofern sie an seiner Güte teilhaben, bestehen. Daher sind wir, genauso wie mit einer natürlichen Liebe zu Gott oder dem Guten im Allgemeinen, mit weiteren natürlichen Neigungen begabt, welche auf diese untergeordneten Ziele der Selbsterhaltung und der Erhaltung anderer Geister ausgerichtet sind. Auf der Basis dieser Argumentation kommt Malebranche zu der Feststellung, dass solche primären untergeordneten Neigungen nicht nur in den unkorrumpierten Seelen von Engeln und von Menschen vor dem Sündenfall vorkommen, sondern auch im Geist „gefallener" Menschen. In all diesen Fällen liebt der Mensch aus freiem Willen sowohl das Gute im Allgemeinen, als auch sich selbst und andere Geister. Was hingegen den Geist „gefallener" Menschen von den anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass ihm Gott als letztes Ziel seiner Willensentscheidungen abhanden gekommen ist. Der Haupteffekt der Sünde besteht also nach Malebranche darin, dass sie den Geist in seiner Entschlossenheit, das wahre Gut zu suchen, schwächt. So kommt es, dass ein sündiger Mensch, wann immer er vor einem partikulären Gut steht, das ihn reizt, eher dazu neigt, diesem nachzugehen, als dass er die anstrengende Auseinandersetzung auf sich nimmt, derer es bedarf, um in Gott den würdigen Gegenstand seiner Liebe zu erkennen. Malebranche zieht daraus den Schluss, dass wir Verantwortung tragen, wenn wir uns entscheiden, partikuläre Güter, die wir nicht als letztes Gut erkennen, um ihrer selbst willen zu lieben. An dieser Lehre von den natürlichen Neigungen sorgte vor allem ein Punkt für Kontroversen: die These, dass die Tendenz zur Selbstliebe der Neigung, das Gute im Allgemeinen und damit letztlich Gott zu lieben, von Natur aus untergeordnet sei. François Lamy, ebenfalls Oratorier und Nachfolger von Malebranche, zog daraus in seiner Schrift Connaissance de soi-même (1697) die quietistische Schlussfolgerung, dass wir durch geistige Übung den Zustand einer von Eigeninteressen völlig freien, reinen Liebe zu Gott erreichen können. Im wohl prominentesten Zeugnis eines solchen Quietismus, den im selben Jahr erschienenen Maximes des saintes des

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französischen Erzbischofs Fénélon, wird sogar die These vertreten, dass eine solche Liebe zu Gott so frei von jeglichem Eigeninteresse sei, dass die Seele sogar die eigene ewige Verdammung gut heißen würde, wenn sie Gottes Wille entspräche — eine These, der Lamy zustimmte. Fénélon und Lamy interpretierten also Augustine Kontrast zwischen Selbstliebe und Gottesliebe dahingehend, dass Gottesliebe mit keinerlei Eigeninteressen kompatibel sei. Malebranche selbst hingegen wehrte sich explizit gegen quiestische Interpretationen seiner Konzeption von Gottesliebe. 5 In seinem erstmals 1697 erschienenen Traité de l'amour de Dieu (1697), deren spätere Ausgaben die Trois lettres et réponse générale au Tamy enthielten, warf er letzterem vor, die Passagen, die dieser zitiert hatte, falsch zu deuten. Er insistierte auf dem Grundsatz, dass „das Verlangen nach Glück oder Freude im Allgemeinen die Basis oder Essenz des Willens" sei (OCM 14, 10). Und er schloss daraus, dass in diesem System, ebenso wie in demjenigen Augustine, „die Liebe zu Gott, selbst in ihrer reinsten Form, in diesem Sinne interessiert sei, dass sie von jenem natürlichen Eindruck hervorgerufen sei, den wir von der Perfektion und dem Glück unseres Seins haben, in einem Wort: der Freude im Allgemeinen oder von angenehmen Wahrnehmungen, die zur wahren Ursache, welche diese hervorruft, in Beziehung steht und uns veranlasst, diese zu lieben." (OCM 14, 23) Die Liebe zu Gott steht daher nicht zur Selbstliebe per se in einem Gegensatz, sondern eher

5

Jean-Christophe Bardout 2000, 111—162 argumentiert demgegenüber, dass in Malebranches Denken eine Verschiebung weg von einer „metaphysischen" hin zu einer „sensiblen" Auffassung von Moralität stattgefunden habe. Während der Zweck von Moralität ursprünglich in abstrakte Begriffe von Perfektion gesetzt werde, bestimme Malebranche diesen Zweck später durch Rekurs auf die Ursache unserer Freude. Die Interpretation von Robinet 1965, 367—412 und 449—480, sowie von Dreyfus 1958, 300—351, begreift er als komplementär. Mir erscheint diese Verschiebung in der Entwicklung von Malebranches Denken weniger dramatisch als Bardout behauptet. Schließlich ist die Auffassung, dass Gott das wahre Gut ist, insofern er die einzige Ursache unserer Freude ist, bereits in der ersten Auflage der Recherche präsent (RV 1.17, OCM 1, 172f.). Und obwohl Malebranche den Willen ursprünglich tatsächlich nicht im Hinblick auf unsere Freude bestimmt, betont er von Anfang an, dass unser Wille wesentlich auf unser Glück ausgerichtet ist. Das geht insbesondere aus seiner von der ersten Auflage der Recherche an vertretenen These hervor, dass wir das Gut im Allgemeinen nicht freiwillig lieben würden, denn „es liegt nicht in der Macht unseres Willens, nicht glücklich sein zu wollen" (RV 1.1, OCM 1, 47).

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zu jener gestörten Selbstliebe, welche geschaffene Güter für wichtiger hält als den Schöpfer, der diese möglich mache.6 Eine weitere Verwicklung von Malebranches Lehre der natürlichen Neigung entsteht durch die Behauptung, dass es unser freier Wille ist, der unseren Geist auf bestimmte Gegenstände lenkt und es mithin nicht in unseren natürlichen Neigungen selbst angelegt ist, welche Gegenstände wir lieben. Das scheint darauf hinauszulaufen, dass unsere Liebe zu konkreten Gegenständen ausschließlich unserem Willen entspringe. Nun ist Malebranche allerdings entschieden der Auffassung, dass unsere natürliche Neigung genau jenen Dingen gilt, die schon vor jeglichem Willensakt als unserem Glück zuträglich repräsentiert werden. So erwähnt er schon in der ersten Auflage des ersten Bandes der Recherche das Beispiel einer Person, die nach einer bestimmten Ehre strebe, und er hält fest, dass diese Person aus natürlicher Neigung und unabhängig von jeglicher freiwilligen Zustimmung auf diese Ehre gerichtet sei (RV 1.1, OCM 1, 48). Und im éclaircissement I, welches seiner Diskussion des Willens in der Recherche gewidmet ist, betont Malebranche, dass Gott uns ursprünglich zu allen partikulären Gütern führe, denn da „Gott uns zu allem, was gut ist, führt, so folgt notwendig, dass er uns auch zu partikulären Gütern führt, wann immer er deren Wahrnehmung oder Empfindung in unserer Seele hervorruft." (OCM 3, 18) Wenn wir also unsere Freiheit erfahren, so nimmt Malebranche in diesem Text an, dann nehmen wir keine „bloße Indifferenz oder Kraft, ohne physisches Motiv etwas zu wollen, wahr." Weil jeder Liebe, die wir für etwas Bestimmtes empfinden, eine Liebe zu Dingen, die wir als gut wahrnehmen, vorangeht, ist es unmöglich, dass unser Wille uns unabhängig macht „von Gottes Kontrolle über uns und über die durch ihn hervorgerufenen physischen Motive, durch die er uns erkennt, leitet und uns freiwillig all das tun lässt, was er will." (OCM 3, 29)7 Die Unterscheidung zwischen Liebe aus natürli6

7

Zugunsten von Lamy muss hier gesagt werden, dass Malebranche in seinen früheren Werken dazu tendierte, Liebe zu Gott und Selbstliebe einander gegenüberzustellen, und dass die Qualifikation der in Opposition zu Gott stehenden Selbstliebe als „gestört" erst nach dem Austausch mit Lamy hinzugefügt wurde. Für eine ausführlichere Diskussion von Malebranches Verhältnis zum Quietismus siehe auch de Montcheuil 1947. Kritik an dieser dezidiert für Malebranche Position ergreifenden Interpretation des Briefwechsels mit Lamy übt dagegen Dreyfus 1958, 302-308 und 318-322. Hier lehnt Malebranche den von Descartes in der vierten Meditation formulierten Gedanken ab, dass ein Fall denkbar sei, in dem unsere Neigung für und jene gegen die Handlung einander vollständig aufwögen und wir etwas mit vollständiger Indifferenz wollen. Siehe AT 7, 57—58.

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cher Neigung und Liebe aus freiem Willen kann daher nicht auf die Tatsache zurückgreifen, dass letztere auf besondere Güter ausgerichtet ist, denn Malebranche macht das auch für erstere geltend. Die hauptsächliche Differenz betrifft eher die Frage, ob Gott oder unser Wille für die Bestimmung der Bewegung verantwortlich ist. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Anliegen der Recherche in der Untersuchung der in den mentalen Fähigkeiten des menschlichen Geistes angelegten Irrtums quellen besteht. Nun können unter Umständen selbst die natürlichen Quellen von Irrtum sein. Malebranche behauptet im vierten Buch der Kecherche, dass die erwähnten drei natürlichen Neigungen der Liebe zum Guten im Allgemeinen, der Selbstliebe sowie der Liebe zu anderen Geistern zwar den Zweck haben, uns zu größerer Vollkommenheit zu führen, doch das tun sie nicht immer, denn natürliche Neigungen können pervertiert werden. So kann uns Malebranche zufolge die Neigung der Liebe zum Guten im Allgemeinen dazu verleiten, dem Neuen und Außergewöhnlichen zu viel Wert beizumessen, sodass wir die unspektakuläre Suche nach unserem wahren Gut vernachlässigen. Die natürliche Neigung zur Selbstliebe kann in Hochmut und Eitelkeit resultieren, was Malebranche am Beispiel jener „falschen Gelehrten" illustriert, welche eher mit ihrer antiquarischen Bildung zu beeindrucken suchen, als dass sie, wie Descartes, dem Vorbild der Naturphilosophen folgen und wahre Einsichten über die Welt zu gewinnen versuchen.8 Zudem, so vermutet Malebranche, war diese Neigung wahrscheinlich ein entscheidender Faktor in Adams Sündenfall, nämlich insofern sie ihn dazu verführte, sich auf die eigene Vollkommenheit zu kaprizieren, statt sich im Lichte der Vollkommenheit Gottes zu verstehen (vgl. RV I.V, O CM 1, 75; Eel. IV, OCM 3, 45-48; sowie Eel. VIII, OCM 3, 74f.). Die dritte der natürlichen Neigungen schließlich, die Liebe zu anderen Geistern, kann dazu führen, dass wir anderen schmeicheln und ihre Fehler loben, nur um ihre Freundschaft zu gewinnen. Die Lösung gegen die Perversion der natürlichen Neigungen ist nach Malebranche in allen drei Fällen dieselbe: Wir müssen unsere Liebe zur Erkenntnis, zu uns selbst und zu anderen Geistern der Liebe zu Gott — und damit dem einzigen Gut, das in uns vollkommenes Glück hervorrufen kann — unterordnen.

8

Wie Lennon 2003 gezeigt hat, war diese Attacke auf die antiquarische Bildung der Anlass für die systematische Kritik, die der französische Gelehrte Pierre-Daniel Huet in den Censuraphilosophiae cartesianae (1689) an den Ansichten Descartes' und der Cartesiane!· übte.

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3. Die Leidenschaften des menschlichen Geistes Gegen Ende des vierten Buchs der Kecherche weist Malebranche erstmals darauf hin, dass es neben den drei hauptsächlichen natürlichen Neigungen noch andere, spezifischere Emotionen wie „Liebe, Hass, Freude sowie sämtliche intellektuellen Leidenschaften" gibt, die sich alle „in allgemeine und besondere sowie einfache und komplexe" unterscheiden lassen (OCM 2, 124). Diese Annahme rein intellektueller Leidenschaften, die mit bestimmten Willensimpulsen identifiziert werden können, hat ein Vorbild bei Descartes. In einem wichtigen Brief an den französischen Botschafter in Schweden, Hector-Pierre Chanut, unterscheidet Descartes zwischen „derjenigen Liebe, die rein intellektuell oder rational ist und derjenigen, die eine Leidenschaft" sei (AT 4, 601). Dabei bestehe die rationale Liebe schlicht darin, „dass unsere Seele, wenn sie ein Gut, sei es nun ab- oder anwesend, wahrnimmt und es als zur ihr selbst passend einschätzt, sich damit willentlich vereinigt, d. h. sie betrachtet sich selbst und das betreffende Gut als ein Ganzes, dessen einer Teil sie selbst, der andere das Gut ist." (AT 4, 601) Rationale Liebe wird in diesem Brief also bestimmt als „willentliche Bewegung", durch welche die Seele sich selbst und ein ihr dienliches Objekt als ein Ganzes begreift. 9 Jene nicht-intellektuelle Liebe hingegen, die eine Leidenschaft ist, beschreibt Descartes weder in diesem Brief noch in den Passions de l'âme als Willensbewegung, sondern vielmehr als eine besondere Art der Sinneswahrnehmung. So vertritt er im Brief an Chanut die Ansicht, dass die sinnliche oder sensitive Liebe schlicht ein konfuser Gedanke sei, ähnlich dem Durst, wo aufgrund der Empfindung, dass der Gaumen trocken sei, die Seele dazu disponiert werde, nach Trinken zu verlangen (AT 4, 602fi). Hier wird also explizit unterschieden zwischen dem konfusen Gedanken und dem voluntativen Verlangen, das zu einer Handlung führt. Auch in den Passions definiert Descartes die Leidenschaften im engeren Sinne als

9

In diesem Brief deutet Descartes auch an, dass sich die willentliche Bewegung eines in rationaler Liebe bestehenden Urteils in Freude verwandle, wenn sie mit dem Wissen über die Verfügbarkeit des dienlichen Objekts einhergehe; wenn dieses Urteil mit dem Wissen über die Abwesenheit des entsprechenden Guts verbunden sei, dann verwandle sich die zugehörige Willensbewegung in Trauer; und wenn sie schließlich mit dem Wissen darum, dass es gut sei, einen bestimmten Gegenstand zu erlangen verbunden sei, dann verwandle sie sich in Verlangen. Freude, Trauer und Verlangen sind demzufolge nur Manifestationen der rationalen Liebe (AT 4, 601 f.).

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non-voluntative „Wahrnehmungen, Empfindungen, oder Emotionen [émotions] der Seele, welche mit ihr in Beziehung gebracht werden und die durch Bewegungen der Lebensgeister verursacht, erhalten oder verstärkt werden". ω (AT 11, 349) Diese Annahme, dass die Bewegungen der Lebensgeister die wahre Ursache unserer Leidenschaften sind, muss Malebranche aufgrund seines Okkasionalismus zurückweisen. Seiner Auffassung nach kann nur Gott die wahre Ursache sämtlicher Veränderungen in der Natur sein, einschließlich der durch Bewegungen der Lebensgeister hervorgerufenen Veränderungen in der Seele. Solche Bewegungen dienen also nur als natürliche Ursache oder Anlass, die bzw. der Gott dazu bringt, mittels seines „allgemeinen Willens" gesetzmäßige Veränderungen zu bewirken (RV VI—2.3, O CM 2, 312).11 Dissens meldet Malebranche aber auch im Blick auf Descartes' Auffassung an, dass die Leidenschaften sinnlich wahrgenommene Empfindungen seien, denen jeglicher voluntative Charakter abgeht. Malebranche zufolge sind die Leidenschaften körperlicher Subjekte genauso wie die natürlichen Neigungen, die der menschliche Geist mit unkörperlichen Wesen teilt, Modifikationen des Willens. So setzt Malebranche im fünften Buch der Recherche innerhalb des Willens einen ähnlichen Gegensatz an wie beim Verstand, wo er zwischen dem reinen, auf der Einheit mit Gott abstellenden Intellekt und der auf der Einheit des Geistes mit dem Körper basierenden Empfindung und Einbildung unterschieden hatte. Genauso ist auch zwischen den natürlichen Neigungen, die der Wille der Einheit mit Gott verdankt, und den Leidenschaften, die er aufgrund seiner Verbindung mit dem Körper hat, zu differenzieren, wobei die Leidenschaften „vom Schöpfer der Natur stammende Eindrücke sind, die uns geneigt machen, unseren Körper sowie alles, was uns für dessen Erhaltung von Nutzen sein kann, zu Heben." (RV V.l, OCM 2, 128)

10

Interessanterweise steht diese in den Fassions de l'âme vertretene Auffassung, wonach das Verlangen eine nicht-voluntative Leidenschaft sei (PA 11.57, AT 11, 374f.), in einem Kontrast zur früheren Ansicht der Principia Philosophiae (PP, I, 32, AT 8, 17), dass Verlangen eher ein Modus des Willens als der Wahrnehmung sei. 11 Es mag den Anschein haben, dass ein Okkasionaüst wie Malebranche nicht denselben Begriff von „Leidenschaft" verwenden kann wie denjenigen, auf dem Descartes insistiert, wenn er darauf insistiert, dass eine Leidenschaft in der Seele ein und dasselbe Ding (une rneme chosè) sei wie die korrespondierende Handlung des Körpers (PA 1.1, AT 11, 328). Für eine Diskussion über dieser Probleme siehe Bardout 1999.

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Für Descartes wäre es ausgeschlossen, die Leidenschaften als Modifikationen des Willens zu begreifen, denn er ging davon aus, dass diese Modifikationen ein Moment freier Handlung einschließen und daher von den passiven Wahrnehmungen einschließlich der Leidenschaften zu unterscheiden sind (PA 1.18-19, AT 11, 342E). Demgegenüber begreift Malebranche Leidenschaften deshalb als Aspekte des Willens, weil sie intentional auf das für den Körper Gute gerichtet sind. Ferner ist er der Auffassung, dass die Passivität der Leidenschaften nicht ausschließt, dass sie WiUensmodifikationen sind, denn, wie wir gesehen haben, sind selbst die natürlichen Neigungen zugleich „in uns und ohne uns", existieren sie doch dank unserer Einheit mit Gott.12 Leidenschaften sind nichts gänzlich anderes, sondern lediglich zusätzliche Bestimmungen unseres Willens und also genauso „in uns aber ohne uns", nur verdanken sie sich der Einheit von Geist und Körper. Malebranche unterscheidet an den menschlichen Leidenschaften sieben verschiedene Elemente:

12

1.

die verworrene oder distinkte Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes als hilfreich oder schädlich für den Körper,

2.

die Bestimmung unserer natürlichen Neigung zu diesem Gegenstand,

3.

eine Empfindung von Liebe, Aversion, Verlangen, Freude oder Traurigkeit, die aus der intellektuellen Wahrnehmung stammt,

4.

eine neue Bestimmung des Flusses der Lebensgeister,

5.

eine spürbare Emotion, die ein Gefühl dafür involviert, wie unsere Seele von diesem neuen Fluss der Lebensgeister bewegt wird,

6.

eine Empfindung von Liebe, Aversion, Verlangen, Freude oder Traurigkeit, die dieser Neuorientierung des Flusses der Lebensgeister entspringt,

7.

eine Empfindung von innerer Wonne, die unsere Seele dazu bewegt, den ausgelösten Emotionen zuzustimmen und im Einklang mit ihnen zu handeln (RV V.3, OCM 2, 142-146).

Der wesentliche Kontrast besteht hier gegenüber den freien Neigungen, die sich unserer freien Zustimmung verdanken. Siehe dazu z. B. Malebranches Bemerkungen im Traité de morale (1684) in OCM 11, 49f. Ob ein Okkasionalist wie Malebranche überhaupt eine Art von menschlicher Aktivität zulassen kann, ist natürlich eine wichtige Frage, die ich in Schmaltz 2005, insb. 48—52 erörtere.

346

Tad Schmaltz

Nicht alle Leidenschaften müssen alle Elemente enthalten. Ζ. B. gibt es den speziellen Fall der Bewunderung, eine unvollständige Leidenschaft, die einzig in der fokussierten Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand an sich besteht. Sie involviert daher keine Neuorientierung des Flusses der Lebensgeister, durch welche der Körper dazu disponiert würde, das zu verfolgen, was als ihm nützlich erschiene oder das zu fliehen, was von ihm als schädlich wahrgenommen würde (RVV.7, O CM 2, 188£). Wie Malebranche ferner bemerkt, gibt es Leidenschaften, die keine Wahrnehmung eines Objekts als schädlich oder nützlich einschließen, und die daher die ersten drei Elemente nicht enthalten (RV V.3, OCM 2, 146). Genau genommen sind die Leidenschaften nur mit dem fünften Element dieser Gruppe, nämlich der spürbaren Emotion, identisch. Die anderen Elemente hingegen sind nur okkasionelle Ursachen oder natürliche Begleitumstände dieser Emotionen. So dient die Wahrnehmung eines Objekts als nützlich oder schädlich (1) als okkasionelle Ursache der Bestimmung der Ausrichtung der natürlichen Neigung der Seele (2), diese wiederum führt nicht nur zur einer Reaktion in Form einer Empfindung (3),13 sondern hat auch die Neuausrichtung des Flusses der Lebensgeister (4) zur Folge. Diese schließlich ist die okkasionelle Ursache der Leidenschaft selbst (5), welche ihrerseits Anlass ist für eine weitere Sinne s emp findung (6), die allerdings nur aufgrund ihrer Stärke von der Sinnes emp findung differiert, welche die Reaktion auf die natürliche Neigung (3) darstellt. Im Falle jener Leidenschaften, denen die ersten drei Elemente fehlen, dient eine konfuse Schmerz- oder Lustempfindung, die sich auf ein Objekt bezieht, als okkasionelle Ursache der Neuausrichtung des Flusses der Lebensgeister (RV V.3, OCM 2,155fi). Ich habe bereits auf Malebranches These hingewiesen, dass auch natürliche Neigungen uns auf Abwege führen können und diese wahrscheinlich auch die Triebfeder von Adams Sündenfall darstellten. Gleichwohl betont er in der Recherche, dass die Leidenschaften eine wichtige Irrtumsquelle bilden, da der Sündenfall es mit sich gebracht habe, dass der 13

Obwohl Malebranche die unter 3 figurierenden Zustände „Empfindungen" nennt, weist er dennoch darauf hin, dass die ersten drei Elemente auch bei einem körperlosen Geist vorkommen können (RV V.3, OCM 2, 148). Malebranche macht ferner trotz der Tatsache, dass er in der Regel oft zwischen intellektueller Wahrnehmung und Empfindung differenziert, geltend, dass diese Zustände von den Empfindungen, welche zu den Leidenschaften gehören (6), nur darin unterschieden seien, dass sie weniger lebendig seien. Für eine Diskussion der Komplikationen, die mit Malebranches Begriff der intellektuellen Wahrnehmung verbunden sind, vgl. auch Schmaltz 1996, Kap. 3.

Malebranche: Neigungen und Leidenschaften

347

menschliche Geist von dem Körper, mit dem er verbunden ist, dominiert wird. Und auch Adam war vor dem Sündenfall angewiesen auf die Leidenschaften, denn es hätte einen Umweg bedeutet, wenn er auf der Basis einer intellektuellen Wahrnehmung der verschiedenen körperlichen Konfigurationen hätte bestimmen müssen, was für seinen Körper nützlich oder schädlich ist (RV I.V, OCM 1, 74 und Eel. VIII, OCM 3, 92). Es lag jedoch nach Malebranche in seiner Macht, die Bewegungen der Lebensgeister in seinem Gehirn anzuhalten, wodurch er verhindern konnte, dass diese Leidenschaften exzessiv von ihm Besitz ergriffen. 14 Es ist die Macht der Kontrolle über den Körper, welche im Sündenfall verloren ging. Infolge der Erbsünde wird daher die menschliche Seele auch durch „Fleischeslust" verleitet, sich zwanghaft mit den körperlichen Gütern zu befassen, auf welche die Leidenschaften uns ausrichten (RV V.4, OCM 2, 164).15 Die Situation unserer „gefallenen Seelen", so nimmt Malebranche an, ist also derart, dass wir ohne die Hilfe der Gnade Gottes unfähig sind, den Lüsten zu widerstehen, welche den Leidenschaften entspringen. Humes späteres Diktum, dass die Vernunft der Sklave der Leidenschaften ist, trifft so gesehen genau auf diese Situation zu. Wir behandeln die Leidenschaften dann als primäre Quelle unseres Wissens darüber, was wahrhaft gut für uns sei. So geben wir z. B. Reichtümern den Vorzug gegenüber der Tugend, und zwar darum, weil der Gedanke an den Besitz von Reichtümern uns spürbar stärker bewegt als der Gedanke an eine tugendhafte Handlung (RV V.7, OCM , 198f.). Und im Allgemeinen kann der negative Effekt der Leidenschaften dahingehend erklärt werden, dass sie „das Herz gewinnen" und uns dazu verführen, ihnen anstatt der Vernunft zu folgen (RV V.8, OCM 2, 204). Auf der anderen Seite, so haben wir im Zusammenhang mit dem Disput mit Lamy gesehen, verwirft Malebranche die Möglichkeit eines interesselosen Handelns, welches von jeglicher Besorgnis um den eigenen Genuss frei sei. Selbst Gnade kann Malebranche zufolge die Wirkungen 14

15

Auffallenderweise charakterisiert Malebranche dieses Vermögen auch als Macht, „das Naturgesetz der Bewegungsübertragung aufzuheben" (Eel. VIII, OCM 3, 97). In den Entretiens sur la métaphysique et la religion von 1688 weist er darauf hin, dass vor dem Sündenfall ein Gesetz bestanden habe, das es dem menschlichen Willen erlaubt habe, die okkasionelle Ursache bestimmter Veränderungen im Gehirn zu sein, welche die Bewegung der Lebensgeister daran gehindert hätten, die für sie charakteristischen Wirkungen hervorzubringen, — ein Gesetz, das nicht mehr in Kraft sei (OCM 12, 102f.). Für eine weitere Erörterung dazu siehe Pellegrin 2006, 155-165. Siehe auch RV 1.5, OCM 1, 75-77; und Eel. VIII, OCM 3, 72-75.

348

Tad Schmaltz

der Leidenschaften nur deshalb aufwiegen, weil sie selbst eine Art der „hoffenden Freude" ist. Es ist diese Freude, die es uns erlaubt, dem Drängen der Leidenschaften zu widerstehen, und die uns dazu motiviert, die Vernunft zu brauchen, um unser wahres Gut zu entdecken (RV 1.5, O CM 1, 76 und Eel. V, OCM 3, 49-51). Selbst dann schlägt Malebranche uns also nicht vor, dass wir unsere Leidenschaften einfach zurückweisen; im Gegenteil, er fordert stattdessen vielmehr, dass wir „der Bewegung unserer Leidenschaften immer folgen" müssten (RV V.4, OCM 2, 161). Diese Forderung scheint seinem Rat zu widersprechen, dass wir den Leidenschaften widerstehen sollen.16 Sein Hauptanliegen ist aber, dass wir die Leidenschaften zwar brauchen und nützen müssen, „um unseren Körper zu erhalten und unser Leben zu verlängern", dass wir aber gleichzeitig ein lebendiges Gespür dafür bewahren müssen, dass unser größtes Gut nicht im Genießen der damit verbundenen Freuden selbst liegt. So können wir also nach Malebranche die Neigung, unseren eigenen Körper zu lieben, anerkennen und sie zugleich jenen Neigungen, aufgrund derer wir höhere Güter und mithin Gott lieben, unterordnen. Übersetzt

von Ursula

Ren%

Literatur Descartes' und Malebranches Schriften werden nach der französischen Ausgabe ihrer Werke, Oeuvres, sowie nach ausgewählten Ausgaben zitiert; die Ubersetzungen zu Malebranche stammen von Ursula Renz — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Descartes: AT PA PP

Œuvres de Descartes (Adam & Tannery) Die Leidenschaften der Seele {Les Vassions de l'âme) Prinzipien der Philosophie (Principia philosophiaè)

Malebranche: Eel. - éclaircissement sur la recherche de la vérité OCM - Œuvres complets de Malebranche RV - De la recherche de la vérité

16

Dafür argumentiert ζ. Β. Hoffman 1991, 193. Dieser Artikel stellt einen hilfreichen Vergleich von Malebranches Zugang zu den Leidenschaften mit den Ansätzen von Descartes und Spinoza an.

Malebranche: Neigungen und Leidenschaften

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Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury (1671-1713)

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung Angelica

Baum und Ursula

Ken^

Um die Jahrhundertwende zum 18. Jahrhundert taucht in der moralphilosophischen Debatte ein neuer Gefühlsbegriff auf, der eine Antwort auf die mit der Aufklärung entstandene Krise metaphysischer und religiöser Orientierung in Aussicht stellt. Zwei Diskurse prägen dabei die Diskussion: Der leitende politisch-geschichtsphilosophische Diskurs tritt für Freiheit und Gerechtigkeit ein und dafür, das Licht der Vernunft in der Menschheit zu verbreiten; ergänzend dazu beschäftigt sich ein moralischer Diskurs mit der Bestimmung des Menschen und der Frage nach dem individuellen guten Leben. Philosophische Gefühlslehren werden vorab im Kontext des zweiten Diskurses entwickelt. Dem Gefühl wird die Funktion einer Integration der Gemütsbewegungen zugeschrieben; dadurch wird es in den Dienst einer Therapeutik der Vernunft gestellt, die von ihrer Entfremdung von den ursprünglichen Motiven handelnder Subjekte geheilt und aus ihrer Ohnmacht befreit werden soll. Anders als in den Affektenlehren des 17. Jahrhunderts zielen also die Gefühlslehren des 18. Jahrhunderts nicht auf die Heilung von unseren Emotionen, sondern durch sie ab, oder genauer: durch das neu bestimmte Vermögen des menschlichen Gefühls oder Selbstgefühls. Antony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, ist für diese Verschiebung der Stichwortgeber. In seinen Schriften wird das Gefühl erstmals als ein einheitliches und eigenständiges Gemütsvermögen entdeckt und beschrieben. Er begreift Gefühle — anders sein Lehrer John Locke — nicht als aus sensations und reflections abgeleitet,1 sondern bestimmt sie als ein mentales Phänomen sui generis. Entscheidend ist dabei, dass er — im Unterschied zu den späteren Moral-Sense-Theorien von Francis Hutcheson und David Hume — nicht von einer Vielzahl von vorab reaktiven Affekten ausgeht, sondern ein einheitliches, aktives Gefühlsvermögen postu-

1

Vgl. dazu Locke 1959 (engl, zuerst 1690), 303f. (Buch II, chap. XX).

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Angelica Baum und Ursula Renz

liert.2 Die Überlegungen, die zu diesem für die philosophische Auseinandersetzung mit Gefühlen folgenreichen Schritt führen, werden allerdings in Shaftesburys Werken nur unsystematisch entwickelt, geschweige denn argumentativ gerechtfertigt. Und auch die Terminologie, mit der er operiert, ist oft vage und in Veränderung begriffen. Eine entscheidende Voraussetzung von Shaftesburys Gefühlstheorie ist ferner, dass er sich von den Moralkonzeptionen christlicher Heilslehren wie auch von einer rationalistischen Auffassung menschlicher Tugend absetzt. Im Unterschied zur Idee des Heils der Seele im Jenseits, welche das Fundament christlicher Moralphilosophie bildet, im Unterschied aber auch zum Gedanken einer Selbstbefreiung des Menschen durch wahre Erkenntnis, betrachtet Shaftesbury die innerseelische Harmonie im Leben selbst als das Ziel philosophischer Selbstverständigungsprozesse. Shaftesbury begreift Philosophie daher nicht einfach als theoretische Erörterung über das gute Leben, sondern als eine kunstvolle Form der Selbsttherapie, als „einen Fall der Heilkunst" (SE 1/1, 43ff.). 3 Dass der Reflexion auf Gefühle im Rahmen solcher Selbsttherapie eine zentrale Rolle zukommt, ist nicht erstaunlich. Denn die innerseelische Harmonie, auf die dieser therapeutische Prozess abzielt, ist genauso wie das Fehlen solcher Harmonie nur im Medium des Fühlens selbst erlebbar. Umgekehrt erklärt das bis zu einem gewissen Grad auch den Mangel an einer eindeutigen Begrifflichkeit, liegt doch das Ziel von Shaftesburys Reflexion auf Gefühle nicht einfach in der theoretischen Durchdringung derselben, sondern in der Herstellung eines innerseelischen Gleichgewichts. Wie in der Folge deutlich gezeigt wird, ist Shaftesburys Gefühlskonzeption gleichwohl nicht bar jeglicher begrifflichen Festlegungen und systematischer Überlegungen.

1. Programm: Von den Affekten zum Gefühl In seinen Miscellaneous Reflections von 1711 formuliert Shaftesbury zwei rhetorische Fragen, in denen das Programm seiner Neukonzeption des menschlichen Gefühls von Anfang an erkennbar ist: „Is there no natural Te2

3

Obwohl Shaftesbury als Erster den Begriff des Moral Sense prägt, ist er daher nicht zu den sogenannten „Moral-Sense-Theoretikern" zu rechnen. Siehe dazu auch Uehlein/Baum/Mudroch 2004, 65. Mit dem Problem des genauen Anspruchs seiner Philosophie befasst sich der ganze erste Teil der Soliloquy, sowie die leider noch nicht in der Standard Edition erschienenen Askemata.

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung

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nour, Tone or Order of the Passions and Affections [in the mind]? No beauty or Deformity in this moral kind?" (SE 1/2, 222) Und später: „[...] if instead of placing WORTH or EXCELLENCE in [...] outward Subjects, we place it, where it is truest, in the Affection or Sentiments, in the governing Part and inward Character?" (SE 1/2, 240) Shaftesbury nimmt offenbar an, dass das Verhältnis unserer Affekte und Leidenschaften untereinander von einer natürlichen Ordnung oder gar Harmonie bestimmt ist und dass dieses Verhältnis seinen Grund in einem inneren Vermögen hat. Bei der näheren Charakterisierung der einzelnen Strebungen wie auch des sie ordnenden Vermögens gerät Shaftesbury jedoch in terminologische Nöte. Die Ausdrücke Affection und Sentiment werden nahezu gleichbedeutend verwendet, und auch die Einheit stiftende Instanz wird mit den Ausdrücken governing Part und inward Character eher umschrieben als bestimmt. Die Situation in anderen Texten ist vergleichbar: Einzelne Gefühlsereignisse werden promisk als Affections oder Passions, seltener als Appetites, Inclinations oder Sentiments bezeichnet. 4 Im Blick auf die die einzelnen Gefühlsereignisse integrierende Gemütsdisposition ist entweder vage von Humour, Temper, natural Temper, Soul oder Heart die Rede oder aber — technischer und innovativer — von reflected Sense, natural Affection, natural Inclination resp. Affection oder Inclination im Singular. 5 Nur in Randglossen kommen auch die Ausdrücke reflex Affection und moral Sense vor (SE II/2, 66 sowie 88). Diese terminologische Suchbewegung korrespondiert der historischen Situation von Shaftesbury. Zwar entbehrt seine Gefühlskonzeption nicht sämtlicher historischer Vorlagen, 6 mit dem Versuch, die menschlichen Gefühle auf ein einheitliches Vermögen zu beziehen, betritt er dennoch philosophisches Neuland. Anders als die von der mechanistischen Naturphilosophie geprägten rationalistischen Affektenlehren des 17. Jahrhunderts, anders aber auch als es die empiristische Psychologie seines Lehrers John Locke nahe legt, sind Gefühle nach Shaftesbury nicht durch Bewegungen verursachte Regungen, sondern werden als ein umfassendes, sinnhaftes Geschehen begriffen. Dem entsprechend bezeichnet der Ausdruck affection bei Shaftesbury nicht einfach den Vorgang des Von-außen-Angestoßen-Werdens, sondern eine Empfindung, die bereits Struktur besitzt 4 5 6

Vgl. dazu v. a. die Inquiry concerning Virtue (fortan kurz Inquiry), ζ. Β. SE ΙΙ/2, 44 sowie 68. Vgl. ζ. Β. die Soliloquy, SE I/l, 280 sowie die Inquiry SE II/2, 68; 98; 152ff.; 181; 198; 204 und 210. Vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt.

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und dadurch Sinn erzeugt. Er wird daher am besten mit „Neigung" oder „Gemüt" übersetzt. Die Einheit des menschlichen Gefühlslebens, die Shaftesbury damit postuliert, kommt für die gesamte innerseelische Harmonie auf. Nicht nur die Affekte und Leidenschaften untereinander, sondern auch Vernunft, Gefühl und Sinnlichkeit stehen in einem geordneten Verhältnis zueinander, wobei das Gemüt als die Einheit stiftende Instanz einen aktiven Anteil an dieser Harmonie hat. Gefühle sind deshalb für Shaftesbury nicht einfach Zustände des Subjekts, in welchen dieses sich rezeptiv-leidend erfährt, sondern Regungen, in denen das Subjekt sich aktiv zu sich selbst verhält. Shaftesbury prägt in diesem Zusammenhang auch den Ausdruck reflex Affection, am besten übersetzt als „reflexive Neigung". 7 Damit bezeichnet er ein von außen induziertes, aber im Gemüt stattfindendes Geschehen. Die reflexive Neigung ist kein bloß passiver Widerhall, sondern ein Geschehen durch das, indem man es an sich erfährt, Sinn erzeugt wird. 8 Dem entsprechend beschränkt sich auch der Vorgang des Fühlens nicht auf das Wahrnehmen oder Empfinden von etwas. Schon der Zustand des Angerührt-Seins oder der Betroffenheit enthält ein kognitives Moment, durch das sich der Fühlende zum Ereignis verhält. Darin sind zwei Voraussetzungen angedeutet: Zum einen liegt dem so bestimmten Vorgang des Fühlens ein mit einem basalen Selbstverhältnis ausgestattetes Subjekt voraus, zum anderen wohnt jedem Fühlen ein Moment von Freiheit inne. Auch wenn wir also keine Macht darüber haben, was uns geschieht, können wir uns nach Shaftesbury trotzdem im Fühlen so oder anders dazu verhalten. Darin unterscheiden sich Shaftesburys Gefühle entscheidend von den Sinnesempfindungen Lockes sowie von den Begierden, Affektionen und Leidenschaften subsumierenden Affekten der Rationalisten des 17. Jahrhunderts. Sein Gefühlsbegriff verweist zwar noch in den Bereich eines Präreflexiven und Arationalen, dennoch ist bei ihm die Idee einer Reflexivität von Gefühlen schon angelegt. Deshalb ist bei Shaftesbury das Ge-

7

8

Dieser Ausdruck bildet die Randglosse zu einem kürzeren Abschnitt, in dem er sich gegen die doppelte Annahme einer vollständigen Passivität des Subjekts sowie einer rein äußeren Verursachung von Gefühlen ausspricht, vgl. SE II/2, 66. Zu den Schwierigkeiten, die mit diesem Ausdruck verbunden sind, siehe Baum 2001, 183 ff. Siehe dazu auch Baum 2001, 14ff.

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Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung

fühl — anders als es etwa bei Hobbes der Fall ist9 — auch kein Widerpart, sondern Komplement der Vernunft. 10 Das Fühlen wird somit als genuin reflexive Seinsweise aufgefasst, die nur zugleich empfindenden und verständigen Lebewesen zukommt. 11

2. Quellen: Aristoteles, Stoa und Cambridge

Platonism

Mit seiner Bestimmung des Gefühls als einem einheitlichen, aktiven und reflexiven Gemütsvermögen setzt sich Shaftesbury mit Nachdruck von den mechanistischen und rationalistischen Vorläufern des 17. Jahrhunderts ab. Gleichwohl entsteht sein Gefühlsbegriff nicht in einem konzeptionellen Vakuum, vielmehr ist er von einer intensiven Auseinandersetzung Shaftesburys mit vornehmlich antiken Quellen geprägt. Zu nennen sind vor allem folgende drei Traditionen: (1) Von zentraler Bedeutung für Shaftesbury ist erstens die aristotelische Frage, wie wir uns zu unseren Gemütsregungen verhalten sollen. Diese Frage ist Ausdruck eines praktischen Interesses: Es geht bei Aristoteles darum, wie Menschen auf ihre eigenen Emotionen — oder im Falle der Rhetorik oder der Politik auch diejenigen anderer Menschen — Einfluss nehmen können, und nicht, wie sich diese theoretisch erfassen lassen. Von diesem genuin praktischen Ansatz haben sich die rationalistischen Gefühlstheoretiker des 17. Jahrhunderts bewusst distanziert.12 Shaftesbury hingegen verortet die Auseinandersetzung mit den Affekten und Neigungen wieder im Bereich der Ethik sowie — im Anschluss an die antike Tragödienlehre — der Ästhetik. Gefühle sind ein zentraler Gegenstand der philosophischen Diskurse über Politeness, Critiàsm und die Frage eines Progress of manners. (2) Shaftesburys Ansatz schließt zweitens aber auch an die Stoa an, dies jedoch in einer Weise, die sich von der Stoa-Rezeption des Neostoizismus des 17. Jahrhunderts deutlich unterscheidet. Shaftesburys Bezugspunkt ist nicht die stoische Taxonomie der Affekte und das da9 10 11 12

Vgl. dazu v. a. Hobbes 1962ff. (lat. zuerst 1658), vol. II, 103ff. sowie deutsch in Hobbes 1994, 29. Mehr dazu in Franke 1981, 131ff. Vgl. auch im Folgenden (Seite 365ff.). Vgl. dazu Moreau 2003, 7 sowie Renz 2005, 335ff. sowie dies, in diesem Band.

Angelica Baum und Ursula Renz

mit verbundene Problem, die (eigenen) Emotionen zu beherrschen. Viel wichtiger ist für ihn die naturphilosophische Dimension der stoischen Affektenlehre sowie insbesondere die stoische Deutung des Herzens als einer Mitte (hegemonikon) des Menschen, welche sämtliche affektiven und vernünftigen Strebungen umfasst. Der Stoa zufolge sind Gefühle habituelle Dispositionen (hexis) in einem zugleich natürlichen und rational geordneten Kosmos, weswegen sie auch eine ursprüngliche Affinität zur Vernunft aufweisen. Von Bedeutung für Shaftesbury ist ferner der Begriff der oikeiosis, der am ehesten mit „Zueignung" zu übersetzen ist. Dieser Begriff beschreibt die Grundverfassung von Lebewesen, dank derer diese sich ihrer selbst inne und mit sich vertraut sind und dank derer sie natürlicherweise genau nach dem streben, was für sie zuträglich ist.13 Die Oikeiosis-Lehre ist daher auch die Basis für die stoische Deutung der Neigungen, welche im Unterschied zu den Affekten, die in der Stoa als Fehlurteile und pathogene Irrtümer gedeutet werden, präreflexive Strebungen oder Weisen des Urteilens darstellen. Es ist diese Annahme eines bejahenden Selbstbezugs sowie die damit verbundene Auffassung, dass Menschen zu einer Integration ihrer Gemütsbewegungen fähig sind, die Shaftesbury von der Stoa übernimmt. Weniger bedeutsam ist für ihn die eigentliche Affektenlehre der Stoa, welche im Zentrum der rationalistischen Stoa-Rezeption des 17. Jahrhunderts gestanden hatte. (3) Eine dritte Inspirationsquelle von Shaftesburys Gefühlsbegriff bildet schließlich die Konzeption des inner Sense, wie sie im 17. Jahrhundert von den Cambridge Platonists unter Rückgriff auf Plotins Lehre von den Keimformen der Natur entwickelt worden ist. Hintergrund dieser Lehre ist die neuplatonische Vorstellung der Einheit der Natur und der Immanenz des Göttlichen. Diese Vorstellung ist vor allem in Plotins Lehre von den Keimformen der Natur dahingehend entwickelt worden, dass die Natur als Entfaltung eines ihr innewohnenden Prinzips bzw. Ausformung eines Geistigen zu begreifen sei. In den lebendigen Formen der Natur zeigen sich damit Vorstellungsbilder eines letztlich So heißt es in der Überlieferung von Chrysipp: „Das erste Zueigene ist jedem Lebewesen seine eigene Verfassung und das Bewußtsein seiner Verfassung. [...] So kommt es, daß es das Schädigende flieht und das Zugehörige liebend verfolgt" (zit. nach Diogenes Laertius 1998, Buch VII, 85). Für eine systematische Darstellung der Oikeiosis-Lehre siehe Forschner 1981, 143—159.

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unfassbaren intellektuellen Urgrundes. Ralph Cudworth, mit dessen philosophischem Hauptwerk The True Intellectual System of the Universe Shaftesbury vertraut war, prägt dafür den Begriff der Viastick Nature, der schöpferischen Natur.14 Damit bezeichnet Cudworth ein unkörperliches energetisches Prinzip, das sämtlichen Lebensvollzügen zugrunde liegen soll — eine Annahme, mit der er vor allem der mechanistischen Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts den Kampf ansagte. Diese plastische Natur zeigt sich allerdings nicht in den Dingen selbst und sie ist weder dem Verstand noch den Empfindungen direkt zugänglich. Hingegen ist sie im Erkennen selbst erfahrbar. Cudworth begreift nämlich Erkenntnis, aber auch Wahrnehmung nicht als Erfahrung von Äußerem, sondern wir verstehen oder erkennen Dinge durch intelligible Formen, die der Geist dank seiner inneren Energie antizipierend begreift.15 Im Erkennen ist daher unsere Seele als ursprünglich schöpferisches Prinzip tätig. Das wiederum ist eine zentrale Voraussetzung für die Ethik Cudworths, in welcher die sich selbst verstehende Seele als hegemonikon verteidigt wird.16 Dahinter steht folgende Intuition: Wer sich selbst umfassend versteht und seine Bedürfnisse wie Fähigkeiten genau kennt, der kann sich selbst eher in eine bestimmte Richtung entwickeln und verfügt mithin gleichsam über eine Kraft zur Selbstformung, „a self-forming and self-framing power".17 Die von Shaftesbury initiierte Neuausrichtung der philosophischen Auseinandersetzung mit Gefühlen verdankt sich maßgeblich der Synthese und produktiven Aneignung dieser drei Vorlagen. Auf ihrer Basis entwickelt Shaftesbury eine Sicht auf das menschliche Gefühlsleben, die — im Unterschied zu den Affektenlehren des 17. Jahrhunderts — von jeglicher Versuchung frei ist, das menschliche Gefühlsleben per se zu pathologisieren oder als erkenntnistheoretisch minderwertig zu begreifen. Im Gegenteil, das Gefühl wird als ein kognitives Organon anerkannt, das für die Selbstverständigung von Individuen — und mithin für ihre ethische Orientierung — unabdingbar ist. 14

15 16 17

Siehe dazu v. a. Cudworth 1977 (engl, zuerst 1678), vol. I, Book I, chap. III, XXXVII, 146-181. Eine ausführlichere Darstellung findet sich auch in Baum 2001, 114ff. Vgl. dazu auch den posthum erschienen Treatise concerning Eternal and Immutable Morality in Cudworth 1979a (engl, zuerst 1731), vol. II/1, 126ff. sowie 185. Siehe dazu Λ Treatise of Free-Willin Cudworth 1979b (engl, zuerst 1838), vol. II/2, 36f. Ebd. 36f.

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3. Der Gefühlsbegriff als Grundlage der Tugendethik Shaftesbury entwickelt die Grundzüge seiner Gefühlslehre erstmals in der Inquiry concerning Virtue von 1699. Die Gesamtheit der emotionalen und affektiven Strebungen wird hier auf ein je nachdem als natural oder reflex Affection umschriebenes Vermögen zurückgeführt, und zwar unabhängig davon, ob sich dabei eher um spontane affektive Regungen oder eher um konstante und eventuell latente Gefühlsdispositionen oder Gemütszustände handelt. Dahinter steckt eine wichtige Grundannahme: All diesen Phänomenen liegt nach Shaftesbury ein Moment des Selbstbezugs zugrunde. Dem entsprechend sind Gefühle ihm zufolge zwar allesamt natürlichen Ursprungs, doch sie lassen sich nicht auf Instinkte wie etwa einen Selbsterhaltungs- oder Fortpflanzungstrieb reduzieren. Diese Annahme erfolgt im Rahmen eines ganz bestimmten ethischen Ansatzes: Shaftesbury verteidigt in der Inquiry weder eine am Begriff des Guten ausgerichtete Tugendkonzeption, noch befasst er sich mit der rationalen Begründung guter Handlungen, noch erörtert er gar bestimmte Handlungen im Hinblick auf ihre guten oder schlechten Folgen. Es geht ihm stattdessen eher um ein genaueres Verständnis der Beweggründe menschlichen Tuns: Es gilt zu klären, was Handlungen veranlasst und weshalb wir bestimmte Handlungsoptionen gegenüber anderen bevorzugen. Es ist klar, dass Emotionen dafür wichtig sind. Nach Shaftesbury besteht allerdings ihre Rolle nicht einfach darin, Auslöser oder „Trigger" bestimmter Verhaltensweisen zu sein, vielmehr geben Gefühle den umfassenden sinnstiftenden Horizont menschlichen Handelns ab. Damit sie solches leisten können, müssen allerdings bestimmte Voraussetzungen gegeben sein: Erstens müssen Gefühle Handlungen nicht nur veranlassen und motivieren können, sondern zugleich die Gründe dafür bereitstellen, so oder anders zu handeln. Doch wie ist das möglich, wenn Gefühle weder auf eine transzendente Idee des Guten bezogen sind, noch aus einer rationalen Einsicht folgen? Shaftesbury löst dieses Problem, indem er zweitens voraussetzt, dass die verschiedenen Emotionen eines Menschen untereinander in einem Zusammenhang stehen, der mehr oder weniger harmonisch sein kann. Das menschliche Gefühlsleben kann somit von einer mehr oder weniger einheitlichen Gemütsverfassung, von mehr oder weniger Zerrissenheit bestimmt sein. Entscheidend ist schließlich eine dritte Voraussetzung: Shaftesbury gesteht Menschen die Möglichkeit zu, sich zu ihren einzelnen Gefühlen — und darüber vermittelt auch zu ihrer individuellen Gemütsverfassung — aktiv verhalten zu können. Dazu nimmt

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er an, dass sämtliche emotionalen Neigungen und Impulse einem einzigen Gemütsvermögen entspringen, das er je nachdem als reflected Sense, natural bzw. reflex Affection oder schlicht als Heart bezeichnet. Für das genauere Verständnis dieser letzten Annahme ist ein kurzer Ausblick auf die begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge von Shaftesburys Terminologie, insbesondere des Ausdrucks reflected Sense, aufschlussreich. Dieser Ausdruck taucht vor allem in der ersten Auflage der Inquity häufig auf, wenn von diesem einheitlichen Gemütsvermögen die Rede ist. Zwei Anregungen kommen in ihm zusammen: Zum einen verrät dieser Ausdruck, welcher die dispositionale Komponente des Gemüts betont, noch deutlich den Einfluss von John Lockes Sensualismus. Shaftesbury nimmt offensichtlich an, dass Gefühle — ähnlich wie Lockes reflections — reflexive Phänomene sind. In einem Punkt ist dieser Ausdruck allerdings irreführend: Es handelt sich bei diesem Gemütsvermögen, das für die Gefühle aufkommt, nicht um ein Wahrnehmungsorgan. Gefühle sind nach Shaftesbury kein Fall von bloßen Empfindungen, sensations, auch nicht von reflektierten Empfindungen. 18 Gefühle verweisen vielmehr auf einen Vorgang, der Aspekte von Reflexion, Wahrnehmung, Urteil und — wie es der in späteren Auflagen geprägte Ausdruck reflex Affection unterstreicht — Neigung umfasst. 19 Der Terminus reflected Sense steht andererseits in einem Zusammenhang mit dem frühneuzeitlichen Begriff des common Sense, dessen Wurzeln seinerseits im stoischen Konzept der notiones bzw. notitiae communes liegen. Als notiones communes werden in der Stoa natürliche Einsichten bezeichnet, die allen Menschen gemeinsam sind und die oft in Existenzaussagen, wie ζ. B. in dem Satz „Es gibt Götter.", formuliert werden. Notiones communes bilden somit quasi das erkenntnistheoretische Komplement der stoischen Oikeiosis-Lehre. Nun wird dieser Begriff schon bei Herbert von Cherbury in De Ventate subjektiv gewendet, derart, dass damit der Grundstein für den modernen Common-Sense-Begriff gelegt wird. An die Stelle von durch Gegenstände definierten, allgemeinen Einsichten treten bestimmte,

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Dies geht sehr klar aus folgender Stelle der Miscellaneous Reflections hervor: „The Affections, of which I am conscious, are either GRIlil·', o r J O Y ; D l i S I R H , or A v i i R SION. For whatever mere Sensation I may experience; if i t amounts to neigther of these, 'tis indifferent, and no way affects me." (SE 1/2, 237) Der Begriff reflex Affection ist allerdings seinerseits anfállig fur rationalistische wie empiristische Missverständnisse. Vgl. Schräder 1984, 11 und 15. Darwall 1995, 185, interpretiert diesen Begriff überzeugend als reflective sensibility.

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meist der Selbsterhaltung dienende Fähigkeiten oder Dispositionen, und zwar konkret solche, die auf Selbsterhaltung bezogen sind.20 Diese Annahme eines ursprünglichen Sinns für das moralisch Wertvolle entwickelt Shaftesbury auf einer gefühlstheoretischen Ebene weiter, wenn er davon ausgeht, dass der Mensch mit einer reflexiven Neigung {reflex Affection) ausgestattet ist. In einem Punkt kommt es allerdings zu einer signifikanten Verschiebung: Anders als in der Stoa gehören Gefühle nicht nur einer natürlichen, sondern gleichzeitig auch einer sozialen und damit moralischen Ordnung an. Anders gesagt: Die Intentionalität von Gefühlen ist nicht bloß Ausdruck einer natürlichen Neigung, die den Dingen qua lex naturae eignet, sondern sie bezieht sich stets auf soziale und moralische Normen, derer sich das Subjekt in seinem Fühlen gewahr wird. Diese Wendung weg von einem rein teleologischen hin zu einem für normativ-moralische Fragen offenen Verständnis der Gefühle ist in einem größeren historischen Zusammenhang zu sehen. Shaftesbury reagiert damit auf drei Tendenzen, welche für die ethische Diskussion um 1700 insgesamt charakteristisch sind. Erstens sucht er den für die moralische Reflexion des 17. Jahrhunderts bestimmenden methodischen Egoismus zu überwinden. Shaftesburys Denken ist einer Idee praktischer Philosophie verpflichtet, die, anders als es sich etwa bei Thomas Hobbes beobachten lässt, nicht in politische Theorie einerseits und individuelle Klugheitsmaximen andererseits zerfällt. Mit der Zurückweisung des methodischen Egoismus geht zweitens eine Ablehnung der naturalistischen Prämissen jenes gefühlstheoretischen Rationalismus einher, wie er etwa von Hobbes, Spinoza oder La Rochefoucauld entwickelt wurde. Shaftesburys reflex.Affection ist zwar durchaus auch Ausdruck natürlicher Neigungen, doch sie bewegt sich deshalb nicht jenseits jeglicher moralischer Kategorien. Im Gegenteil, sie bildet vielmehr die Schnittstelle, welche Natur und Ethik verbindet. Es sind daher konkret stets die Gefühle, welche zwischen den Forderungen der Natur und jenen der Freiheit vermitteln. Drittens entwickelt Shaftesbury mit seinem Gefühlsbegriff eine konzeptuelle Alternative zu einem rein vernunftorientierten Begriff menschlicher Tugend, wie er etwa bei Pierre Bayle vorliegt, einem für Shaftesbury neben John Locke und Ralph Cudworth ebenfalls sehr wichtigen Bezugs20

Cherbury 1966 (lat. zuerst 1624), 49. Zur Rezeption Herbert von Cherburys bei Shaftesbury siehe Grean 1967, v. a. 39f. Den politischen Gehalt führt Shaftesbury in der Schrift Sensus Communis. An Essai on the Freedom of Wit and Humour von 1709 aus SE 1/3.

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung

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punkt unter den Zeitgenossen. Wie Bayle kreist auch Shaftesbury in seinen Werken immer wieder um das Problem einer von Religion unabhängigen Begründung von Tugend. Allerdings unterliegt der Mensch bei Shaftesbury nicht wie bei Bayle einer unüberwindbaren Diskrepanz zwischen Pflicht, Gewissen und vernünftigen Prinzipien einerseits und handlungsleitenden Affekten und Neigungen andererseits. Dadurch vermeidet Shaftesbury jenen pessimistischen Zwiespalt, in den Pierre Bayle vor diesem Hintergrund unweigerlich gerät.21 Muss der Tugendhafte bei Bayle die Leidenschaften überwinden, denen das Böse entspringt, so verortet Shaftesbury die Quelle von Tugend in den Gefühlen, oder genauer: in einer bestimmten Verfasstheit unseres gesamten Gefühlslebens. Insgesamt können wir festhalten, dass mit Shaftesburys Ansatz, demzufolge Gefühle Handlungen nicht nur motivieren, sondern auch über das moralisch Gebotene Aufschluss geben, eine ganz neue Sicht auf Fragen der Moral und ihrer Begründung eröffnet wird. Seine Gefühlskonzeption ist deshalb auch — trotz terminologischer Schwankungen und konzeptueller Vagheit — zu einem wichtigen Bezugspunkt für die praktische Philosophie des 18. Jahrhunderts geworden, und zwar namentlich für die MoralSense-Theoretiker, für Rousseau und — last, but not least — für Kant.

4. Der psychische Ursprung von Gefühlen und die Bedeutung der Antizipation von Ideen Die These, dass Gefühle einer einheitlichen und reflexiv-sensiblen Gemütskraft entspringen, hat für die psychologische Beschreibung von Gefühlen wichtige Implikationen. Entscheidend ist, dass Shaftesbury von Anfang an zwischen Empfindungen und Gefühlen trennt. Während das Vorliegen von Empfindungen stets voraussetzt, dass das Subjekt von außen affiziert worden ist, kommen Gefühle auch unabhängig von einem solchen Affiziertwerden vor. Selbst wo daher Emotionen ursprünglich durch äußere Eindrücke initiiert worden sind, können sie gemäß Shaftesbury nicht mehr nach dem Modell von Empfindungen beschrieben werden. Denn als Fühlender ist das Subjekt nicht nur von Affektionen betroffen, sondern es nimmt diesen gegenüber überdies stets die Position eines

21

Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in den Pensées diverses, Bayle 1966 (franz. zuerst 1683), 86-91.

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Betrachters ein. Im Fühlen empfinden wir nicht einfach, sondern wir reflektieren unser Empfinden. Gefühle sind also komplexere Ereignisse als Empfindungen. Sie sind Äußerungen oder besser: Organisations formen empfindender und empfindend-vernünftiger Lebewesen (Inquiry SE II/2, 54). Diese lassen sich allerdings nicht rein physiologisch erklären, sondern sind nur aus einer phänomenologischen Perspektive vollends zugänglich. Der methodische Ansatz Shaftesburys ist damit zugleich anspruchsvoller und anspruchsloser als jener der Affektenlehren der Rationalisten des 17. Jahrhunderts oder der Empiristen des 18. Jahrhunderts. Ihm geht es nicht darum, sämtliche menschlichen Gefühle möglichst lückenlos in einer Taxonomie zu erfassen und auf einige wenige Konstitutionsprinzipien zurückzuführen, sondern er sucht Gefühle so zu beschreiben, dass sie im Kontext der affektiven Verfasstheit des menschlichen Gemüts verstanden und als Erscheinungsformen des Lebendigen begriffen werden können. Entscheidende Voraussetzung dazu ist ein bestimmter Begriff des Subjekts von Emotionen, welcher dieses weder als rein rezeptives Sinneswesen, noch als körperloses Vernunftwesen auffasst, sondern als Lebewesen, dessen Lebensvollzug sinnliche ebenso wie kognitiv-rationale Vorgänge umfasst. Shaftesbury spricht oft von sensible Creatures, wobei er darunter nicht einfach sinnlich affizierbare Wesen begreift, sondern sinnliche und zugleich verständige, zu rationalem Denken fähige Subjekte, Lebewesen also, die sowohl über Empfindungen und Wahrnehmung als auch über Vernunft und Urteilskraft verfügen (Inquiry SE II/2, 91). Nicht weniger voraussetzungsreich als sein Begriff fühlender Subjektivität ist Shaftesburys Konzeption des Gefühls selbst. Dahinter steht ein Gedanke, den Shaftesbury Cudworth verdankt: dass mentale Prozesse letztlich in der Fähigkeit zur Antizipation von Ideen gründen. Fühlen besteht Shaftesbury zufolge im Kern in einem Prozess der Antizipation. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen rein kognitiven Akt, sondern eher um eine quasi instinktive Vorwegnahme von Vorstellungen in der natürlichen Neigung. Gegenstand dieser Vorwegnahme sind nicht nur äußere Wahrnehmungen oder Empfindungen, sondern auch innere Bilder und Vorstellungen. Nun sind diese Bilder und Vorstellungen meist schon Resultat von früheren Vergegenwärtigungen. Im Prozess der Antizipation stellt sich das Subjekt die Ideen nicht als nur isolierte Momente vor, sondern es reflektiert sie im Lichte ihres Zusammenspiels und verdichtet sie zu inneren Bildern. Shaftesbury begreift diesen Prozess als einen der Einbildungs-

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kraft; die Rede ist von Imagination, anticipating Fang,1 sowie natural Anticipation {inquiry SE II/2, 92; Miscellaneous Reflections IV, SE 1/2, 258—260). In der Annahme einer Fähigkeit zur Antizipation von Ideen laufen daher platonistische und empiristische Intuitionen sowie Annahmen der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie zusammen: Sensible rational Creatures haben zwar keine angeborenen Ideen, doch dank ihrer Fähigkeit zur Antizipation von Ideen sind sie grundsätzlich empfänglich für die Vorstellungen des Guten und Schönen. 22 Diese Fähigkeit zur Antizipation von Ideen ist auch die Basis von Werturteilen oder besser: Wertgefühlen, in Shaftesburys Terminologie des Moral Sense bzw. des Sense of Right and Wrong. Dieser besteht nämlich nicht darin, dass der Wert von Handlungen gleichsam wahrgenommen wird. Gefühle sind keine moralischen Sinnesorgane, kraft derer Menschen die moralische Qualität von Handlungen gleichsam zu sehen vermöchten. Aufschluss über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Handlung gewinnen wir vielmehr erst dadurch, dass wir sie uns vorstellen und im Spiegel unserer natürlichen Neigung betrachten (Inquiry SE II/2, 92). Ethische Werturteile sind somit in Shaftesburys Ansatz letztlich nicht von ästhetischen zu unterscheiden. Bei beiden handelt es sich um einen Akt der Einbildungskraft, beide suchen ihren Gegenstand im Kontext einer vorgestellten Ordnung einzuschätzen, und schließlich bedürfen beide dazu einer inneren Harmonie des Gemüts.

5. Von der Ästhetik der Gefühle zum Criticism·. Das implizite Bildungsprogramm der späteren Philosophie Shaftesburys Obwohl das menschliche Fühlen und Urteilen auf eine natürliche Anlage zurückgehen — Shaftesbury spricht auch von einer natural Affection —, unterliegen sie doch einem Bildungs- respektive Kultivierungsprozess. Worin dieser Prozess besteht und wohin er führt, ist Gegenstand etlicher ästhetischer und moralistischer Erwägungen, wie man sie vor allem in den späteren Werken Shaftesburys an zahlreichen Orten verstreut findet. Den Ausgangspunkt bildet die schon in der Inquiry formulierte Annahme, dass der Mensch in seinen Gefühlen in ein reflexives Verhältnis zu sich tritt. Er ist zugleich Akteur respektive fühlendes Subjekt und Betrachter dieses Prozesses. Dabei sind Fühlen und Schauen nicht etwa zwei gänzlich vonein22

Vgl. zu diesem Punkt ausfuhrlicher Baum 2001, 198-204.

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ander getrennte Vorgänge, sondern was ein Subjekt fühlt, ist seinerseits davon abhängig, wie es sich und die Welt wahrnimmt. 23 Vor diesem Hintergrund erhalten die ästhetischen Kategorien Shaftesburys einen bildungstheoretischen Sinn. Der Grundgedanke ist, dass die Betrachtung von schönen Gegenständen in einer auch moralisch relevanten Weise auf das Subjekt derselben zurückwirkt. Dieser Zusammenhang wird allerdings von Shaftesbury eher umkreist als analysiert. Schon in den Miscellaneous Reflections schreibt er etwa dem Geschmack (Taste) eine zentrale Funktion für die ethische Orientierung zu, wobei sich Geschmack nicht nur im äußeren Benehmen, sondern auch in der moralischen Gesinnung niederschlägt (SE 1/1, 218). Geschmack ist aber selbst keine rein natürliche Instanz. Shaftesbury hält fest: „Wir selbst erschaffen unseren Geschmack.'^ SE 1/1, 225) Damit unterliegt auch unser Sensorium für das, was moralisch richtig oder unrichtig ist, einem Kultivierungs- und Bildungsprozess. Dieser Prozess beschränkt sich nicht auf ein Erlernen sozialer Normen. Im Gegenteil, fast wichtiger ist für Shaftesbury das Moment der Schulung unseres Sinns für Schönheit oder genauer: für Formen, Harmonie, Ordnung und Symmetrie (SE 1/1, 220). In der Inquiiy spricht Shaftesbury in diesem Zusammenhang auch von einem allen gemeinsamen natürlichen Sinn für das Schöne und Erhabene in den Dingen.24 Im Zentrum steht somit ein Vorgang, der sich nicht auf soziale Konditionierung reduzieren lässt, sondern in einer Verfeinerung und Differenzierung dieser natürlichen Anlage besteht. Und genau diese Art der ästhetischen Bildung ist auch für den Umgang mit Gefühlen von Belang; denn derselbe ästhetische Sinn für Form und Ordnung, welcher unserer Wahrnehmung der Schönheit der Dinge zugrunde liegt, kommt auch in unserem Bemühen um eine innere Harmonie und um das eigene emotionale Gleichgewicht zum Tragen. Diese Dimension ästhetischer Bildung wird ausführlich in The Moralists thematisiert, dem dialogisch angelegten Hauptwerk aus dem Jahre 1709. Deutlicher denn je löst sich Shaftesbury in diesem Werk von den teleolo23

24

Dieser Zusammenhang zwischen Selbstgefühl und Wahrnehmung wird im Tetter Concerning Enthusiasm sehr schön sichtbar. Shaftesbury zeigt hier nicht nur, dass religiöser — aber auch atheistischer — Fanatismus emotionale Wurzeln hat, sondern er führt vor, dass wir ihm genau dann verfallen, wenn wir in schlechter Stimmung über religiöse Gegenstände nachdenken. Dann, so Shaftesbury, können wir nämlich nicht mehr sauber zwischen unseren Leidenschaften und Eigenschaften Gottes trennen. Siehe z. B. SE 1/1, 346f. Vgl. dazu die zweite Auflage der Inquiry, Anm. 3 in SE II/2, 69.

Shaftesbury: Emotionen im Spiegel reflexiver Neigung

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gischen Vorgaben der stoischen Naturphilosophie. An die Stelle der Behauptung einer metaphysischen Naturordnung tritt die Annahme, dass im Prozess der Naturerfahrung die innere Ordnung des Subjekts erschlossen wird. Die Betrachtung der Natur dient somit nicht der Naturerforschung, sondern ist eine ästhetische Erfahrung, deren Reflexion dann zu einem Medium von Selbsterkenntnis und Selbstbildung wird. Wie aus dem Naturhymnus, dem zentralen Stück der Moralists, hervorgeht, wird dabei die Natur sowohl als schön wie als erhaben erfahren (SE II/l, 273ff.). 25 Der Betrachter wird dadurch in einen Gemütszustand der Ergriffenheit und Begeisterung versetzt; Shaftesbury spricht auch von Enthusiasmus (SE II/l, 309). Nun mag Enthusiasmus als Erfahrung wertvoll sein, doch er ist kein stabiles Fundament moralischer Einstellungen. Es bedarf darüber hinaus einer Bildung und Kultivierung des ästhetischen Urteils,26 und das wiederum macht eine Reflexion auf die Ursprünge der ästhetischen Erfahrung notwendig. Eine solche wird am Schluss von The Moralists exemplarisch vorgeführt. Dabei wird deutlich, dass das Schöne und Erhabene der Natur seinen Grund in der moralischen Schönheit der eigenen subjektiven Ordnung hat; es ist Ausdruck des „natürlichen Genius" eines Individuums, von allem, was zusammen mit dessen „Empfindungen [...], Entschließungen, Grundsätzen, Entscheidungen, Handlungen" aus dessen „Erzeuger-Geist hergeleitet" wird (SE II/l, 315). Ästhetische Naturerfahrung ist also für Shaftesbury kein Selbstzweck, sondern Anlass zur Entdeckung und Medium der Kultivierung des moralischen Selbst einer Person. Worauf dieser Kultivierungsprozess abzielt, wird in den Askemata, den erst 1900 erschienenen philosophischen Notizbüchern, deutlich. Es geht um die Einübung in eine Haltung, die Shaftesbury auch als Interesselosigkeit charakterisiert.27 Dieser Begriff lässt sich auf drei Weisen deuten. Der Interesselosigkeit zugrunde liegt erstens ein physiologischer Vorgang, nämlich eine Erweiterung des Herzens. Interesselosigkeit liegt zweitens vor, wo ein einzelnes Subjekt in ein Ganzes eingebettet wird und dadurch seine partikularen Anliegen relativiert werden. 25 26 27

Vorbild des Naturhymnus ist der Zeus-Mythos des Kleanthes, wie er schon in Cudworths Intellectual System von 1678 rezipiert wird, vgl. Cudworth 1977, 432ff. Auf die Notwendigkeit von Bildung und Kultivierung weist Shaftesbury mit Nachdruck hin, siehe SE II/l, 310. Die Askemata [Exercises] sind bisher unvollständig ediert. Die kritische und vollständige Ausgabe soll 2009 erscheinen: Standard Edition II/l, 1—2. Angelica Baum hat die Manuskripte eingesehen PRO 30/24/27/10. Wir zitieren nach Rand 1991 (engl, zuerst 1900), 7.

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Shaftesbury spricht von der natürlichen Neigung jener vernünftigen Wesen, die fáhig seien, die Natur zu erkennen und das Gute und Interesse des Ganzen im Auge zu behalten. 28 Drittens meint Interesselosigkeit auch jene Offenheit und Vertiefung des Blicks, welche sich in Zuständen der Unbetroffenheit einstellt. Diese Haltung der Interesselosigkeit ist also nicht zu verwechseln mit moralischer Indifferenz oder gar Gefühlskälte. Im Gegenteil, erst der Interesselose ist frei, Anteil zu nehmen und aus seiner natürlichen Neigung heraus zu handeln. Denn, wie Shaftesbury explizit festhält, „true affection cannot be except where liberty is." 29 Es gehört daher zu den wesentlichen Aufgaben emotional-verständiger Lebewesen, Freiheit und Neigung in Ubereinstimmung zu bringen. Diese Einsicht bringt Shaftesbury allerdings erst im Verlaufe seiner Entwicklung zur vollen Entfaltung. Ging es in den Inquiry erst noch um das bloße Absehen von Eigeninteressen, so steht in den Tagebüchern das Postulat der Universalisierung unserer Neigungen im Zentrum. „What is to have Natural Affection? Not that which is only towards Relations, but towards all Mankind", lauten die ersten Sätze von Shaftesburys Philosophical Regimen.30 An diesem Punkt schließt sich der Kreis von Shaftesburys gefühlstheoretischen Überlegungen. Denn was diese humane Haltung einer Zuneigung und Wärme allen Menschen gegenüber überhaupt als plausible Option erscheinen lässt, ist nichts anderes als eine Gefühlskonzeption, die Emotionen nicht oder mindestens nicht nur als Angelegenheit unmittelbaren affektiven Betroffenseins begreift, sondern annimmt, dass es dem Fühlenden möglich ist, in eine reflexive Distanz zu seinen Affekten zu treten. Das Moment der Reflexivität unseres Fühlens, das Shaftesbury seit der Prägung der Ausdrücke reflected Sense und reflex Affection betont, erweist sich somit auch als wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit einer auf die Universalisierung von Gefühlen ausgerichteten ästhetischen Bildung. Es ist diese schon im Fühlen angelegte Reflexivität, welche jene interesselose Selbstbetrachtung ermöglicht, in der sich Individuen mit sich selbst und der Welt in ein Einvernehmen setzen. Es mag daher paradox erscheinen, doch nach Shaftesbury ist es durchaus möglich, zugleich zu fühlen und selbst unbetroffen, unconcerned, zu sein.31

28 29 30 31

Rand Rand Rand Rand

1991, 1991, 1991, 1991,

6. 3. 1. 3.

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Literatur Shaftesburys Schriften werden nach der heute maßgeblichen Standard Edition zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist SE. Shaftesburys The Philosophkai Regimen wird zitiert nach Rand 1991. Baum, Angelica (2001), Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury, Stuttgart. Bayle, Pierre (1966, franz. zuerst 1683), Pensées diverses, écrites à und docteur de Sorbonne, à l'occasion de la comète qui parût au mois de décembre 1680, Oeuvres Diverses, Bd. III, hrsg. u. eingel. von Elisabeth Labrousse, Hildesheim. Cherbury, Herbert von (1966, lat. zuerst 1624), De Ventate, hrsg. von Günter Gawlick, Stuttgart [Faksimile-Neudruck der Ausgabe von London 1645]. Cudworth, Ralph (1977, engl, zuerst 1678), The True Intellectual System of the Universe, Stuttgart [Faksimile-Neudruck der Erstausgabe London 1678]. — (1979a, engl, zuerst 1731), A Treatise concerning Eternal and Immutable Morality, Collected Works, hrsg. von Bernhard Fabian, vol. II/1, Hildesheim. - (1979b, engl, zuerst 1838), A Treatise of Free-Will, Collected Works, hrsg. von Bernhard Fabian, vol. II/2, Hildesheim. Darwall, Stephen (1995), The British Moralists and the internal,ought' (1640—1740), Cambridge. Diogenes Laertius (1998), Deben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg. Forschner, Maximilian (1981), Die stoische Ethik, Stuttgart. Franke, Ursula (1981), Ein Komplement der Vernunft. Zur Bestimmung des Gefühls im 18. Jahrhundert, in: Ingrid Cramer Ruegenberg (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl, Freiburg, 131-149. Grean, Stanley (1967), Shaftesbmy's Philosophy of Reägion and Ethics. A Study in Enthusiasm, Ohio. Hobbes, Thomas (1962ff., lat. zuerst 1658), Opera Philosophica quae Datine scripsit, hrsg. von William Molesworth, Aalen. Hobbes, Thomas (1994), Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, hrsg. von Günter Gawlick, Hamburg. Locke, John (1959, engl, zuerst 1690),^!» Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Alexander Campell Fraser, New York. Moreau, Pierre-François (2003), Les passions: continuités et tournants, in: Bernard Besnier u. a. (Hg.), Des Passions Antiques et Médiévales, Paris, 1-12. Rand, Benjamin (1991, engl, zuerst 1900), Dhe Dife, Unpublished Detters and Philosophical Regime of Anthony, Earl of Shaftesbury, London. Renz, Ursula (2005), Der mos geometricus als Antirhetorik. Spinozas Gefühlsdarstellung vor dem Hintergrund seiner Gefühlstheorie, in: Paul Michel (Hg.), Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltungen undDesbarkeit von Emotionen, Freiburg, 333—349. Schräder, Wolfgang (1984), Ethik und Anthropohgie in der englischen Aufklärung Hamburg. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of (1981 ff.), Standard Edition: Complete Works, Selected Detters and Posthumous Writings, hrsg., übers, und kommentiert von Wolfram Benda, Gerd Hemmerich, Friedrich A. Uehlein, Wolfgang Lottes, Erwin Wolff u. a. Stuttgart (=SE). Uehlein, Friedrich A./Angelica Baum/Vilem Mudroch (2004), Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, in: Helmut Holzhey/Vilem Mudroch (Hg.), Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Grundriss der Philosophie, begründet von Friedrich Ueberweg, Bd. 1/1, völlig neu bearbeitete Auflage, 51—89.

Francis Hutcheson (1694-1746)

Hutcheson: Leidenschaften und Moral Sense Aaron V. Garrett Als Francis Hutcheson 1730 von Dublin an die Universität Glasgow zurückkehrte, hielt er seine Antrittsvorlesung zum Thema On the Natural Sociability of Mankind, worin er die Auffassung vertrat, dass soziale Leidenschaften, darunter insbesondere Wohlwollen, benevolence, äußerst wichtig für das politische und soziale Leben seien. Damit stellte er sich klar gegen die von Thomas Hobbes in De Cive und Samuel Pufendorf in De jure naturae et gentium libro odo vertretenen Ansätze, die nur die mit dem Eigeninteresse verbundenen Gefühle als Quelle moralischer Motivationen gelten ließen und andere Emotionen von dieser Funktion ausschlossen. Nach Hobbes und Pufendorf sind nur jene Leidenschaften natürliche Leidenschaften, die schon im Naturzustand vorkommen; allerdings begriffen sie den Naturzustand als einen verarmten Zustand (Pufendorf) bzw. als einen ,Strudel' (Hobbes) und sie nahmen ferner beide an, dass er durch die Anerkennung und Etablierung eines Belohnung und Strafe nach sich ziehenden Naturrechts zu überwinden sei. Demgegenüber plädiert Hutcheson dafür, als natürliche Emotionen jene Gefühle anzusehen, die essenziell für unsere beste Natur sind und einen Teil von ihr ausmachen. 1 Damit bezieht er sich auf ein Motiv, das von Hugo Grotius stammt und mit dem Hutcheson durch Richard Cumberland und Shaftesbury vertraut war. Nach Grotius gehört uneigennützige Geselligkeit genauso fundamental zur menschlichen Natur wie egoistische Interessen und — damit verbunden — nutzenorientierte Vergesellschaftung. Wenn daher, so Grotius, der menschliche Hang zur Geselligkeit mit den sozialen Leidenschaften gleichgesetzt wird, dann können diese als Basis der Moral begriffen werden. Auch nach Hutcheson sind wohlwollende Empfindungen der Stoff, aus dem Moralität gemacht ist, und zwar sowohl in ihrer Wahrnehmung durch den moralisch Urteilenden als auch in ihrer Verkörperung durch den Tugendhaften im Rahmen eines perfektionistischen Ansatzes. Unsere Emotionen führen also, wenn sie nur richtig ver1

Siehe dazu Hutcheson 2006, 191-216.

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standen werden, zum Besten unserer Natur, und nicht zum Schlechtesten. Sie bilden einerseits die Grundlage ethischen Urteilens, andererseits sind sie ein Wegweiser zur Vervollkommnung tugendhaften Lebens. 2

1. Affektionen und Leidenschaften Die entscheidende konzeptuelle Grundlage zu seiner Gefühlstheorie hatte Hutcheson schon zwei Jahre zuvor im Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections gelegt, als er noch in Dublin weilte. Zu Beginn dieses Textes bestimmt Hutcheson die menschlichen Affektionen und Leidenschaften als „jene Modifikationen oder Handlungen des Geistes, die auf eine Wahrnehmung eines Objekts oder Ereignisses folgen, in der der Geist im allgemeinen Gut oder Übel erfasst." 3 Und er ergänzt dies etwas später dahingehend, dass unter einer Leidenschaft im Unterschied zu einer bloßen Affektion eine „konfuse von heftigen körperlichen Bewegungen begleitete oder gar hervorgerufene Lust- oder Schmerzempfindung" zu verstehen sei, „welche den Geist so stark und unter Ausschluss aller anderen Dinge in Anspruch nimmt und die Affektion bisweilen in einem solchen Ausmass verlängert oder steigert, dass jede abwägende Überlegung über unser Verhalten verhindert wird." (NCPA 30f.) 4 In diesen kurzen Definitionen sind zahlreiche von Hutchesons Grundannahmen enthalten. Affektionen, so wird deutlich, involvieren einen Geist, resp. die Handlungen eines Geistes, welche auf die Auffassung oder Wahrnehmung von Gegenständen oder Ereignissen folgen, und zwar genauer auf jene Wahrnehmungen, die der Geist als gut oder schlecht be2 3

4

Für den allgemeinen Hintergrund wie auch für eine sorgfältige Erörterung von Hutchesons Position siehe Schmitter 2006. „The Nature of human Actions cannot be sufficiently understood without considering the Affections and Passions; or those Modifications, or Actions of the Mind consequent upon the Apprehension of certain Objects or Events, in which the Mind generally conceives Good or Evil." (NCPA 15; Ubersetzung ins Deutsche von U. R.) „When the Word Passion is imagined to denote any thing different from the Affections, it includes [...] ,a confused Sensation either of Pleasure or Pain, occasioned or attended by some violent bodily Motions, which keeps the Mind much employed upon the present Affair, to the exclusion of every thing else, and prolongs and strengthens the Affection sometimes to such a degree, as to prevent all deliberate Reason about our Conduct.'" Hutcheson verweist hier auf Malebranches Recherche de la Vérité, Buch V, Kap. 3. Ein genaues Zitat lässt sich allerdings nicht auffinden [Anm. v. U. R.].

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greift (im Unterschied zu solchen, die an sich gut oder schlecht sind). Mit anderen Worten: Affektionen sind Modi des Denkens, die auf eine Sinnesempfindung — d. h. entweder auf eine natürliche Erfahrung der fünf Sinne, des moralischen Sinns oder eines anderen Sinns — folgen. Mich erfasst beispielsweise die Affektion des Mitleids im Anschluss an eine komplexe moralische Wahrnehmung einer schlechten Handlung oder das Gefühl von Erhabenheit folgt auf die Betrachtung eines außerordentlichen Gemäldes. Hutchesons Definition von Affektion (affection) ist enger als unsere heutige alltägliche Rede von „Emotion" oder „Gefühl", denn Affektionen folgen immer auf die Wahrnehmung von Gutem oder Üblem. Der Begriff der Leidenschaften {passions) rundet die breitere Kategorie der Emotionen ab, doch seine Definition unterstreicht genauso wie die Definition von affection die Relevanz für kognitive Prozesse bzw. wie sie Affektionen und Überlegung verstärken. Überhaupt differenziert Hutcheson nicht konsistent zwischen Affektionen und Leidenschaften, 5 allerdings kommt in der Differenz zum Ausdruck, dass die Gattung der Emotionen zwei Aspekte umfasst, nämlich einerseits Evaluation (im Falle der Affektionen) und andererseits jene positive wie destruktive Tendenz, unsere Verhaltensweisen und Absichten zu fixieren (im Falle der Leidenschaften). Nach Hutcheson können Leidenschaften unter der Führung des moral sense dazu eingesetzt werden, Reaktionen auf schwierige Situation einzuüben, so insbesondere auf solche Situationen, in denen Leidenschaften ruhigere Affektionen wie allgemeines Wohlwollen oder wohl erwogene Reaktionen verhindern. Das ist eine klassische stoische Technik, und Hutcheson braucht die Unterscheidung zwischen Affektionen und Leidenschaften, um zu erklären, wie sie funktioniert.

2. Historischer Hintergrund Hutchesons Denken über Affektionen und Leidenschaften verdankt sich zahlreichen historischen Einflüssen. Wie viele britische Philosophen seiner Generation war er tief beeindruckt von Nicolas Malebranche. Er war ein leidenschaftlicher Leser Ciceros und der klassischen stoischen Affektenlehren. Zusammen mit James Moor übersetzte er Marc Aurels Meditationes 5

Ich werde diese beiden Ausdrücke ebenfalls austauschbar verwenden, doch ich hoffe, die Bedeutungen werden vom Kontext her klar.

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ins Englische, und er wurde von seinen Zeitgenossen von David Hume bis hin zum Kalvinisten John Witherspoon als Stoiker wahrgenommen. Ferner begriff er Leidenschaften und Affekte nicht nur als einen moralischen Gegenstand, sondern als auf Sinn e s empfindüngen folgend; als weitere wichtige Einflüsse sind daher die Philosophien John Lockes und Shaftesburys zu nennen. Auf letztere möchte ich mich in der Folge konzentrieren. Hutchesons Definitionen stützen sich auf Lockes Ausführungen zum Begriff der Leidenschaft aus dem kurzen Kapitel „Of Modes of Pleasure and Pain" (11.20) in dessen Essay Concerning Human Understanding. § 2. Demnach sind die Dinge nur in Beziehung auf Freude und Schmerz gut oder übel. [...] Freude und Schmerz verstehe ich sowohl körperlich als auch im geistigen Sinne, wie sie gewöhnlich unterschieden werden, obwohl beide in Wahrheit nur verschiedene Verfassungen des Geistes sind, die bald durch körperliche Störungen, bald durch die Gedanken des Geistes veranlasst werden. § 3. Freude und Schmerz und ihre Ursache, das Gute und das Üble, sind die Angeln, in dem sich unsere Leidenschaften drehen. Wenn wir auf uns selber achten und beobachten, wie dieselben in verschiedener Richtung auf uns einwirken, welche Modifikationen oder Stimmungen des Geistes, welche inneren Sensationen (wenn ich es so nennen darf) sie in uns erzeugen, so können wir uns daraus die Ideen unserer Leidenschaften bilden. 6

Wie Locke definiert auch Hutcheson Affektionen und Leidenschaften als mentale Ereignisse, die von körperlichen Zuständen veranlasst oder begleitet sein können, damit aber nur kontingente Verbindungen mit körperlichen Zuständen aufweisen. Das unterscheidet Hutchesons Ansatz von den mechanistisch inspirierten Affektenlehren von Hobbes, Spinoza und Pierre Gassendi, welche davon ausgingen, dass Leidenschaften entweder durch körperliche Bewegungen verursacht werden oder aber parallel zu diesen verlaufen. Anders als diese Philosophen, aber wie Pufendorf, un6

Locke 4 1981, Bd. 1, 271 f. „§ 2. Lhings then are Good or Evil, only in reference to Pleasure or Pain [...] By pleasure and Pain, I must be understood to mean of Body or Mind, as they are commonly distinguished; though in truth, they be only different Constitutions of the Mind, sometimes occasioned by disorder in the Body, sometimes by Lhoughts of the Mind." „§ 3. Pleasure and Pain and that which causes them, Good and Evil, are the hinges on which the Passions turn: and if we reflect on our selves, and observe how these, under various Considerations, operate in us; what Modifications or Tempers of Mind, what internal Sensations, (if I may so call them,) they produce in us, we may thence form to our selves the Ideas of our Passions." (Locke 1973 (zuerst 1690), 229 f.)

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tersuchte Locke die Leidenschaften primär in ihrer Beziehung zu den mentalen Aspekten unserer moralischen Handlungen. Nun ist Lockes Beschreibung der Leidenschaften und Affektionen ausgesprochen dünn im Vergleich zu den ausführlichen Affektkatalogen von Descartes, Spinoza und Malebranche. Das hängt damit zusammen, dass Locke die moralischen Leidenschaften im Verhältnis zu folgendem Naturgesetz (a natural law) begreift: Leidenschaften bewegen uns dazu, Lust zu vermehren und Schmerz zu vermindern. Gewisse Weisen, wie wir das tun, sind gut, andere nicht. Allerdings setzt die ultimative Evaluation darüber, ob eine bestimmte Leidenschaft lobens- oder tadelnswert, gut oder schlecht ist, das Naturrecht {the natural law) voraus. In diesem Punkt stützt sich Locke auf Pufendorf, der eine ausführliche Taxonomie des Naturrechts vorlegte, das alle unsere Verpflichtungen, Aufgaben und Funktionen als dem Glück förderlich erklärte. Im Anschluss daran skizziert Locke eine Wissenschaft der Moral, die ein Set von selbstevidenten moralischen Sätzen festlegt, von denen zu hoffen ist, dass wir motiviert sind, sie zu befolgen. In der Konsequenz werden auch die Leidenschaften primär als mit moralischen Handlungen und Beurteilungen verbundene Motivationen oder Wünsche aufgefasst. Ihre Substanz oder ihr Inhalt entspringt also nicht dem emotionalen Erleben selbst, sondern ist von der Substanz oder dem Inhalt des durch die richtige Vernunft entdeckten Naturrechts abgeleitet, welchem Folge zu leisten uns die Leidenschaften und Wünsche motivieren. Diese auf das Naturrecht zurückgreifende Erklärung der Funktion unserer Emotionen wurde von Shaftesbury heftig kritisiert. Shaftesbury argumentierte, dass genuin soziale Gefühle die Wurzel von tugendhaften wie von politischen Handlungen seien und dass die menschlichen Tugenden und nicht das Naturrecht die Währung der Moral sei,7 — eine Argumentation, die von Hutcheson emphatisch aufgenommen wurde, wie folgende Bemerkung aus seiner Antrittsvorlesung zeigt: Dafür [für die Naturrechtsauffassung moralischer Motivation und Rechtfertigung, A. G.] hatte nicht nur Hobbes, sondern auch Pufendorf seine Strafe bezahlt zugunsten von so distinguierten Männern wie Titius, Barbeyrac, Cumberland, Carmichael, und allen voran dem genialen Grafen von Shaftesbury. 8

7 8

Zur Bedeutung dieser Themen für Shaftesbury siehe Rivers 2000. „F° r it [the natural law theory of motivation and justification, AG] long since, not only Hobbes but Pufendorf himself has paid the penalty at the hands of such distinguished men as Titius, Barbeyrac, Cumberland, Carmichael, and above all the most ingenious Earl of Shaftesbury." (Hutcheson 2006, 198f.; Übersetzung U. R.)

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Shaftesbury identifizierte in seiner Inquiry concerning Virtue Tugend und Interesse und argumentierte, dass die Ubereinstimmung der beiden aus der Erkundung der Natur evident sei: Wenn durch die natürliche Konstitution jeder rationalen Kreatur dieselben Unregelmäßigkeiten des Begehrens, die ihn zum Feinde anderer machen, auch zum Feind seiner selbst machen; und wenn dieselbe Regelmäßigkeit des Begehrens, die ihn dazu bringt, in einem Sinn gut zu sein, ihn auch dazu bringt, im anderen Sinne gut zu sein; dann ist jene Güte, durch die er anderen nützlich ist, ein wirkliches Gut und von Vorteil für ihn selber. Und so können Tugend und Interesse letztlich übereinstimmen. 9

Im Anschluss an diese stoische Theorie und in begründeter Absetzung zu von den Ansätzen Lockes und Pufendorfs wird also Tugend bei Shaftesbury mit dem besonderen Interesse und der Funktion eines Individuums assoziiert und nicht mit der Pflicht, die diesem aus seiner Beziehung zum Naturrecht und dessen Gesetzgeber entspringt. Shaftesbury bestimmt menschliches Interesse nicht wie Locke und Pufendorf aus einem engen hedonistischen Blickwinkel, sondern beschreibt es allgemeiner als das Gedeihen eines Individuums in Beziehung zu und im Zusammenleben mit vielen anderen Individuen. Leidenschaften schließlich sind nach Shaftesbury mit den Tugenden verbunden und implizieren, wenn sie gesund sind, alle Arten von sozialen Relationen. Sie werden nicht unter Rekurs auf ein allgemeines Naturrecht beurteilt, sondern im Hinblick auf das umfassende Glück, das Interesse und die Tugend der moralischen Gemeinschaft. Auf der Basis einer solchen Theorie wird natürlich Verpflichtung ein Problem: Worin ist die Verpflichtung, Versprechen zu halten, verankert? Hume wird diese Frage später mit seinem berühmten Beispiel des klugen Schurken zu einem zentralen Problem machen. 10 Umgekehrt stellt eine solche Theorie Gefühle und Empfindungen ins Zentrum der moralischen wie der sozialen Erfahrung und stattet diese ferner mit einem so reichhaltigen phänomenologischen und handlungsleitenden Inhalt aus, dass Tugend und Interesse auch ohne Rekurs auf ein absolutes Gesetz oder einen externen Standard zusammenfallen können. 9

10

„|I]f by the natural Constitution of any rational Creature, the same Irregularitys of Appetite which make him ill to Others, make him ill also to Himself, and if the same Regularity of Affections, which causes him to be good in one Sense, causes him to be good also in the other, then is that Goodness by which he is thus useful to others, a real Good and Advantage to himself. And thus Virtue and Interest may be found at last to agree." (SE II/2, 46; Übersetzung U. R.) Hume 1975 (zuerst 1777), 281-284.

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Hutcheson übernahm diese Position Shaftesburys weitgehend (obgleich mit einem weniger starken Fokus auf dem Interessensbegriff) und benutzte sie, um Locke in einer viel tiefgreifenderen Weise zu kritisieren, als Shaftesbury dies getan hatte. Der Schlüssel dafür war ein Begriff, in dem sich Einflüsse von Locke mit jenen von Shaftesbury verbanden: der Begriff des moralischen Sinns.

3. Hutchesons Konzeption des moralischen Sinns Der junge Hutcheson schrieb noch in Dublin zwei wichtigere Werke, bevor er triumphierend nach Glasgow zurückkehrte: die Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725) und den schon erwähnten Essay on the Passions with Illustrations on the Moral Sense (1728). Diese beiden Werke verfasste Hutcheson, als er Mitglied jenes Zirkels von jungen und progressiven Shaftesbury-Anhängern war, die Lord Molesworth um sich geschart hatte. Nicht alle teilten die Begeisterung für Shaftesbury, welche im Zirkel von Molesworth vorherrschte. Insbesondere Bernard Mandeville war äußerst kritisch gegenüber dem Zusammenfallen von Tugend und Interesse. Der berühmte Untertitel seiner Bienenfabel, Private Vices, Public Virtues, bringt Mandevilles Kritik auf den Punkt: Es kommt oft vor, dass öffentliches Gut Lastern, negativen Leidenschaften oder käuflichen Wünschen entspringt. Die von Shaftesbury vorgebrachte Koinzidenz von Tugend und Interesse war nicht annähernd so einsichtig, wie dieser behauptet hatte. Hutchesons Inquiiy nimmt auf diese Kontroverse Bezug, wie der Untertitel ankündigt: In which the principles of the late Earl of Shaftesbury are Expkin'd and Defended, against the Author of the E able of the Bees. Hutchesons Antwort auf Mandevilles Herausforderung besteht darin, Lockes Theorie der Wahrnehmung und des Verstandes mit einer um den Begriff eines moralischen Sinns zentrierten Moraltheorie im Sinne Shaftesburys zu kombinieren — kein geringes Kunststück, wenn man weiß, dass Shaftesbury zu jener Zeit als Lockes potentester innativistischer Gegner galt. Hutcheson betonte allerdings die Wichtigkeit der Befriedigung von Interessen in einem viel geringeren Ausmaß als Shaftesbury. Die Inquiry ist unterteilt in zwei einigermaßen autonome Traktate. Der erste erläutert unter dem Titel An Inquiy concerning Beauty, Order, etc. die Relation zwischen der Schönheit und dem menschlichen Sinn für Schönheit, welcher über die Ordnung von Verschiedenem urteilt. In dieser Diskussion taucht erstmals der Begriff des moralischen Sinns auf, den Hutcheson

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dann im zweiten Traktat unter dem Titel An Inquiiy concerning Moral Good and Evil ausführlicher erörtert. Gemäß Hutcheson ist der moralische Sinn, moral sense, einer von vielen internen Sinnen, inklusive des Sinns für Schönheit. Ein Sinn ist definiert als ein bestimmtes Set von Wahrnehmungen bzw. als Wahrnehmungsweise, so ist etwa der Gesichtssinn ein anderer Sinn als der Tastsinn. Diese beiden unterscheiden sich wieder vom Ehrgefühl, hingegen gibt es keinen Vernunftsinn, denn dieser wäre aktiv und nicht passiv, und daher handelt es sich nicht um Wahrnehmung. Daran anknüpfend definiert Hutcheson „moralisch gut" als „unsere Idee einer in Handlungen wahrgenommenen Qualität, welche Zustimmung und Liebe zum Handelnden bewirkt durch jene, die keinen Vorteil von der Handlung haben"; und „moralisch schlecht" als das Gegenteil.11 Wie im Falle der Begriffe affection und passion packt Hutcheson sehr viel in diese Eingangsdefinition hinein. Erstens, und das ist entscheidend, geht er davon aus, dass moralische Wahrnehmung uneigennützig ist; die Betrachter haben keinen Vorteil vom moralischen Gut. Damit entfernt er sich de facto von den hedonistischen und epikureischen Auffassungen über moralische Motivation, und darin unterscheidet er sich auch diametral von Locke und Pufendorf. Denn was diesen Auffassungen zufolge moralische Motivationen sind, kann nach Hutcheson gar nicht im eigentlichen Sinne moralisch sein, weil sie auf die Sanktionen bezogen sind, die mit einem Gesetz verbunden sind. Demgegenüber begreift Hutcheson die Uneigennützigkeit des Urteilens oder Wahrnehmens als allgemeines Charakteristikum jeden Sinns; wahrgenommene Inhalte können grundsätzlich nicht durch Interesse verändert oder beeinflusst werden (BV 95). Ich kann die Wahrnehmung von Rot nicht in eine Wahrnehmung von blau verändern, nur weil ich daran Interesse hätte. Und genauso wenig kann ich nach Hutcheson die Wahrnehmung von etwas Gutem in eine Wahrnehmung von etwas Schlechtem transformieren (was natürlich bestreitbar ist). Zweitens ist wichtig, dass das moralisch Gute als eine charakteristische Qualität repräsentiert wird, die vom moralischen Sinn wahrgenommen wird, so wie Farbe vom Gesichtssinn oder eine bestimmte Klangeigenschaft vom Gehör. Hutcheson wird an einer anderen Stelle behaupten, 11

„The Word Moral Goodness, in this Treatise, denotes our Idea of some Quality apprehended in Actions, which procures Approbation, and Love toward the Actor, from those who receive no Advantage by the Action. Moral Evil denotes our Idea of a contrary Quality, which excites Aversion, and Dislike toward the Actor, even from Persons unconcern'd in its natural Tendency." (BV 84)

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dass das moralisch Gute eine Charaktereigenschaft ist, d. h. eine Qualität, die wir als Teil des Charakters eines moralisch Handelnden auffassen. Die Wahrnehmung dieser Qualität führt auf der Seite des Zuschauers zu einer Leidenschaft oder einem Gefühl, nämlich zu Liebe oder Zustimmung. Schließlich ist festzuhalten, dass moralische Güte eine Qualität ist, die nicht notwendig einen direkten Zugang zu den Gedanken von anderen voraussetzt. Ich nehme eine Handlung, eine Person oder einen Gegenstand wahr, ich reagiere auf die Emotion, das Gefühl oder das Motiv, von dem ich annehme, es habe zur Handlung geführt, und nehme so quasi indirekt eine Qualität wahr. 12 Nimmt man all diese Punkte zusammen, so ergibt allein diese eine Definition eine ziemlich ausgefeilte Theorie der moralischen Wahrnehmung. Sie kombiniert zentrale Einsichten von Lockes Konzeption der Ideen von Qualitäten, eine empiristisch begründete Auffassung moralischer Sensibilität (der zufolge wir Vorstellungen moralischer Qualitäten durch Beobachtung erwerben) und eine — im breiten Sinne verstanden — lockesche Auffassung von Sinneswahrnehmung mit dem gegen Locke gerichteten Moral-Sense-Konzept Shaftesburys. 13 Hutcheson stützt sich auf die lockesche Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten, um die konstitutive Rolle von Affektionen und Empfindungen für das moralische Urteilen zu betonen. Die moralische Qualität der Handlung wird konstituiert durch die Emotionen oder die Leidenschaft des beobachteten Handlungssubjekts und resultiert in einer wohlwollenden Affektion im Beobachter bzw. in Liebe. Nach Hutcheson sind Liebe und Hass die beiden ursprünglichen Gemütszustände, von denen alle anderen abgeleitet sind (BY 102).14 Man sieht hier, 12

13

14

Hume kritisiert das in seinem Brief an Hutcheson vom 17. September 1739: ,,[i]f there be no other Goods but Virtue, tis [sic] impossible there can be any Virtue; because the Mind woud [sic] then want all Motives to begin its Actions upon: And tis [sic] on the Goodness or Badness of the Motives that the Virtue of the Action depends. This proves, that to every virtuous Action there must be a Motive or impelling Passions distinct from the Virtue, & that Virtue can never be the sole Motive to any Action. You do not assent to this, tho' I think there is no Proposition more certain or important", siehe in Greig 1932, I, 35. Humes Kritik, dass bei Hutcheson Tugend, Handlung und Handlungsmotiv kollabieren, ist berechtigt. Für Hume wird das das zentrale Problem sein, das die künstlichen Tugenden darstellen: Diese mögen nützlich sein — doch was macht sie tugendhaft? Oder um die Affiliationen hier genauer zu bestimmen: Der Terminus moral sense stammt zwar von Shaftesbury, doch was der moralische Sinn ist, wird in Analogie zu Lockes Analyse der Sinneserfahrung analysiert. In diesem Punkt war Hutcheson wahrscheinlich von Malebranche beeinflusst.

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dass Hutcheson sich an Shaftesburys Szenario orientiert, wonach das moralisch Gute oder Schlechte einer Handlung nicht durch das Begehren und in Relation zu einem Naturgesetz beurteilt wird, sondern aufgrund der uneigennützigen moralischen Wahrnehmung einer Handlung. Allerdings ist der für Shaftesbury wichtige Akzent auf dem individuellen Interesse verschwunden. Bei Hutcheson hat das Vorliegen von Interessen eine Verminderung der moralischen Qualität zur Folge, und in der Konsequenz auch von Liebe und Wohlwollen gegenüber dem Handelnden seitens des Beobachters. Es ist das Gefühl von Wohlwollen, worin der Unterschied von natürlichen Gütern und Übeln gegenüber moralischen Gütern und Übeln gründet, ein Punkt, der im Zentrum von Hutchesons Kritik am Epikureismus steht. Natürliche Güter und Übel bestehen in reiner Lust und reinem Schmerz und sind eng verbunden mit Interessen und Abneigungen. Nach Hutcheson machen sich die Desire-Interest-Modelle von Locke und Pufendorf genau diese Interessen und Abneigungen als Antrieb zu moralischem Verhalten zunutze. Doch dadurch wird die moralische Anerkennung der Handlung geschwächt, und der moralischen Handlung wird nur wenig mehr Verdienst attestiert als einer Handlung, die unter Drohung ausgeführt wird. Im Resultat ist nicht mehr einsehbar, was moralisch sein soll an einem Verhalten. Das natürliche Gesetz ist zwar moral-konstitutiv, doch es bleibt ein Geheimnis, wie und warum. Es ist natürlich besser für uns alle, über natürliche Güter zu verfügen und natürliche Übel zu vermeiden, doch moralisch sind Güter und Übel nach Hutcheson nur, wenn sie „von wohlwollender Affektion oder der Intention eines absolut Guten für andere" stammen (NCPA 36). In Abgrenzung zu Lockes und Pufendorfs Theorien der Motivation ist für Hutcheson (und Shaftesbury) nicht nur entscheidend, was man begehrt, sondern auch, wie man sich fühlt. Moralisch zu fühlen heißt, aus einem lobenswerten und ungezwungenen affektiven Zustand heraus zu handeln — aus Wohlwollen. Es geschieht also etwas ziemlich Revolutionäres bei Hutcheson: Moralität wird identifiziert mit einem charakteristischen und irreduziblen Wert, der wiederum mit einem bestimmten Gefühl assoziiert wird. Diese Zentrierung der Moralität auf das Wohlwollen hat als weitere, außergewöhnliche Konsequenz die Vereinigung aller moralischen Wahrnehmung und Verpflichtung in einem moralischen Gefühl oder in einer moralischen Affektion, wodurch der moralischen Verpflichtung ein charakteristischer Gehalt zuerkannt wird. Wenn wir eine Handlung als moralisch wahrnehmen, dann deshalb, weil sie Anteil hat an diesem in para-

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digmatischer Weise uneigennützigen Gefühl. Sowohl unser unparteiisches Urteil selbst als auch die uneigennützige moralische Anerkennung manifestieren somit Wohlwollen. An dieser Stelle ist auf einen weiteren Bezugsautor von Hutchesons Ansatz hinzuweisen. Sein Vorgänger in Glasgow, Gershom Carmichael, hatte Pufendorf dafür kritisiert, dass er zwischen Pflichten gegenüber Gott, sich selbst und anderen gegenüber unterschied. Er argumentierte gegen Pufendorf, dass Pflichten gegenüber anderen und gegenüber sich selbst alle in unseren Pflichten und dem Gefühl der Ehrfurcht gegenüber Gott enthalten sind.15 Carmichael entwickelte einen von seinen Vorgängern beträchtlich verschiedenen Ansatz der Leidenschaften, welcher ζ. B. die Freundlichkeit als „Führerin unter den gütigen Emotionen" hervorhob, 16 (während er zugleich davor warnte, dass sie in Frivolität umschlagen könnte). Hutcheson übernimmt Carmichaels Einsicht, stellt sie aber auf den Kopf. Anstatt von oben nach unten von der Ehrfurcht gegenüber Gott zur Ehrfurcht vor anderen zu kommen, gelangt er von unten nach oben: Als Herz aller Pflichten begreift er das Gefühl des Wohlwollens und fasst es zugleich als Paradigma für alle moralischen Gefühle auf.17

15 16 17

Siehe Moore/Silverthorne 2002, 47. Ebd. Da die Theorie auf freiwilliges Wohlwollen fokussiert, welches vom moralischen Sinn unparteiisch anerkannt wird, besteht auch genau die umgekehrte Schwierigkeit in der Erklärung moralischer Verpflichtung wie bei den Naturrechtstheoretikern. Während es Letzteren ein Leichtes ist zu zeigen, dass und wie etwas bindend ist — Strafen und Belohnung werden aufgrund rationaler Entscheidung durch den naturrechtlichen Gesetzgeber verfügt —, hatten sie Schwierigkeiten zu zeigen, warum das moralisch ist. Dies war in der Tat ein Problem, auf das Carmichael mit seiner Betonung des spezifischen Gefühls des Wohlwollens reagierte. Für Hutcheson besteht die Schwierigkeit darin zu erklären, wie freiwilliges Wohlwollen bindend sein kann. Er versucht das Problem zu lösen, indem er argumentiert, dass das Gewissen moralische Empfindungen von Strafe, aber nicht von Belohnung bereitstellt, doch das scheint mit dem Gefühl zu konfligieren, dass wir die moralisch richtige Handlung vollziehen müssen, und es macht Verpflichtung primär zu etwas Negativem und Asymmetrischem (BV 176£). Dieses Problem scheint sich natürlicherweise für eine auf Gefühlen und Leidenschaften basierende Tugendkonzeption zu ergeben, wenn sie mit grundlegenden Naturrechtsbegriffen wie Verpflichtung operiert.

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4. Das System der Gefühle In dem Werk, das auf die Inquiry folgte, dem Essay on the Nature and Conduct of the Passions, versuchte Hutcheson die Moral-Sense-Theorie weiterzuentwickeln, indem er die Verbindung zwischen den Leidenschaften und dem System betonte. Der Systembegriff ist eines der zentralen Konzepte Hutchesons und bezeichnet sowohl ein in sich zusammenhängendes Schema, als auch die Weisen, durch die Individuen in ihren Handlungen zu bestimmten Zwecken zusammengefasst werden (they act as a system), als schließlich auch das Resultat dieser Handlungen {they formed a system). Ein durch Wohlwollen konstituiertes System gilt Hutcheson als reales Ding, so real wie eine Person, der gegenüber wir Verpflichtungen haben. Hutchesons großes postumes Werk, das von seinen Vorlesungen stammt, heißt A System of Moral Philosophy, und der Titel ist durchaus im oben explizierten dreifachen Sinne gemeint — Schema der Moralphilosophie, die moralischen Wege, durch die Handelnde verbunden sind und das Resultat dieser moralischen Verbindungen. 18 Erinnern wir uns nun an die Definition der Affektionen und Leidenschaften als „jene Modifikationen oder Handlungen des Geistes, die auf eine Wahrnehmung eines Objekts oder Ereignisses folgen, in der der Geist im allgemeinen Gut oder Übel erfasst." 19 Die Gegenstände oder Ereignisse müssen nicht individuelle HandlungsSubjekte oder Handlungen sein, sondern können auch in einem größeren System von Handlungen wie z. B. einem Staat bestehen. Isoliert man ein Individuum vom System, dessen Teil es ist, so folgen darauf oft negative Affekte. Wenn ich z. B. meiner Mutter dafür zürne, dass sie mir meine Fernsehprivilegien weggenommen hat, weil ich eine schlechte Note in meiner Matheprüfung bekommen habe, dann ist mein Groll eine Modifikation meines Geistes, die meiner Wahrnehmung der Handlungsweise meiner Mutter als schlecht entspringt. Doch wenn ich fähig wäre einzusehen, dass dieser Akt Teil eines größeren Systems ist, welches in einem Nutzen resultiert, der durch einen unparteiischen Beobachter anerkannt würde, dann würde ich auch einsehen, dass jemand, der nicht so involviert ist, die Handlungsweise meiner Mutter als zuverlässiges Mittel ansähe, um einen guten Erwachse-

18 19

Ich konzentriere mich hier auf Hutchesons frühes Werk, da seine Darstellung der Leidenschaften während seiner Karriere im Wesentlichen dieselbe blieb. Hutcheson lässt auch einen zweiten, körperlichen und konfusen Sinn von Leidenschaft oder Gefühl, im traditionellen Sinne also, zu.

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nen und Bürger aus mir zu machen. Nach Hutchesons Auffassung sind unsere negativen Leidenschaften wie Hass und Groll die Konsequenzen einer beschränkten Sichtweise (bzw. sie sind selbst solche verzerrten und beschränkten Sichtweisen). Ruhige, wohlwollende Leidenschaften hingegen wurzeln in umfassenderen Sichtweisen auf das System. 20 Hutchesons Betonung des Zusammenhangs zwischen umfassenderen Sichtweisen, ruhigen Leidenschaften und dem System ist stoischer Herkunft, genauer: christlich-stoischer Herkunft, insofern nämlich das letzte Ziel nicht im Fehlen jeglicher Leidenschaft, apatheia, besteht, sondern eher in einem Zustand von ruhigem und umfassendem Wohlwollen und von Liebe, die unserer Bewunderung von Gottes (und Christus') Wohlwollen und Liebe für das geschaffene System entspringt (NCPA 32). Sie hängt ferner mit einer weiteren Differenzierung zusammen, nämlich jener zwischen einzelnen liebenswürdigen Handlungen oder partikulärem Wohlwollen gegenüber bestimmten Personen einerseits und universalem Wohlwollen andererseits. Während einzelne wohlwollende Handlungen oder Wohlwollen gegenüber Einzelnen kein wirkliches Verständnis für das System implizieren müssen, setzt das ruhige universale Wohlwollen viel an rationaler Reflexion voraus. Dieses Wohlwollen kann im Prinzip unabhängig von bestimmten Affektionen gefühlt werden, doch in Wesen, wie wir es sind, entspringt es aus besonderen Emotionen. 21 Wohlwollen ist in allen seinen Formen unabhängig von Interessen, denn „tugendhaftes Wohlwollen muss ein letztes Begehren sein, das unabhängig von jeglicher Hinsicht auf das eigene Gut subsistiert." 22 Dieses äußerste moralische Begehren, das allem individuellen Interesse entgegengesetzt ist und mit dem System zusammenhängt, ist die Ursache aller moralischen Affektionen, und sein Fehlen führt zu negativen und destrukti20 Hutchesons Gleichsetzung der Enge einer Sichtweise mit negativen Leidenschaften war wichtig für die Kritik von Bigotterie und Vorurteil, d. h. Engstirnigkeit, was charakteristisch ist für die liberale Prägung seiner gesamten Moralphilosophie. Engstirnig zu sein im Blick auf eine bestimmte Gruppe heißt, sich destruktive Leidenschaften zuzuziehen. Die Tendenz der schottischen Aufklärung und insbesondere von Hutchesons Student Adam Smith, zu betonen, dass gesellige Gefühle sich entwickeln wie die Gesellschaft sich entwickelt, ist eine Erbe Hutchesons. 21 Man kann hier einen der Ursprünge von Adam Smiths Auffassung von der Entstehung des unparteiischen Beobachters aus besonderen Emotionen sehen. Vgl. Christian Strub in diesem Band. 22 „The virtuos Benevolence must be an ultimate Desire, which would subsist without view to private Good." (NCPA 27; Hervorh. i. O.)

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ven Leidenschaften. Je umfassender und wohlwollender unser Begehren, so scheint Hutcheson anzunehmen, umso mehr sind wir in moralischer Weise aktiv; es bringt reale moralische Handlungen hervor, anstatt dass wir von bloß partikulären Leidenschaften bestimmt sind.

5. Die Arten der Leidenschaften nach Hutcheson Hutcheson unterscheidet zwischen fünf Arten von Leidenschaften (NCPA 48): Eine erste Gruppe bilden die Leidenschaften, die direkt dem moralischen Sinn oder dem Sinn für Ehre entspringen. 23 Es sind jenes unmittelbare Verlangen oder jener unmittelbare Abscheu, die der Betrachtung von Gutem oder Schlechtem, respektive von ehrenwerten oder schändlichen Handlungen, Charakteren oder Eigenschaften entspringen. Davon unterscheidet Hutcheson zweitens den abstrakteren Wunsch nach Glück oder Tugend für abwesende oder sogar unbekannte Menschen. Vor dem Hintergrund der Begrifflichkeit des Sinns sind das allerdings seltsame Gefühle, denn sie setzen voraus, dass wir eine abwesende Person oder sogar eine Eigenschaft, die einer solchen abgeht, wahrnehmen können. Sie sind aber auch in sich betrachtet sonderbar, denn es ist schwierig, sich eine sinnvolle Vorstellung von so einem abstrakten Gefühl zu machen. Man kann sich vor diesem Hintergrund ausrechnen, warum Hume und Smith von der Idee abstrakter Gefühle abkamen und stattdessen dazu tendierten, die durchgehende Wirkung der Einbildungskraft in den moralischen Gefühlen bis hin zu den scheinbar abstrakten Affektionen zu betonen. Smiths Idee eines unparteiischen Beobachters sowie die Annahme, dass die Imagination selbst in unseren abstrakten moralischen Urteilen eine Rolle spielt, sind eine Reaktion auf dieses Problem. Eine dritte Gruppe von Gefühlen bilden die moralischen Gefühle für öffentliche Persönlichkeiten. Diese Klasse ergibt sich, wenn man die ersten beiden Arten von Gefühlen kombiniert. Es handelt sich um Gefühle, wie wir sie empfinden, wenn wir uns Tragödien ansehen. Hutcheson ist an diesen Emotionen besonders interessiert, weil sie — anders als die schwachen Gefühle, die wir im Allgemeinen gegenüber abstrakten Personen 23

Beeinflusst von Shaftesbury, diskutiert Hutcheson den Sinn für Ehre, sense of honor oder sense of the honestum, durch das ganze frühe Werk hindurch. Dieser Sinn für Ehre hängt eng mit der öffentlichen Sittlichkeit zusammen. Die Bedeutung von Ehre als einem distinkten Gut, bzw. des Sinns für Ehre als einem distinkten Sinn, nahm im Verlauf des 18. Jahrhunderts zusehends ab.

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empfinden — extrem stark und doch desinteressiert sind. Er bemerkt, dass wir entsetzt sind, wenn eine tugendhafte Persönlichkeit in einer Tragödie furchtbar leidet und ein schlechter Charakter triumphiert, was seiner Auffassung nach auch zeigt, dass das hedonistische einfache Interesse eine unangemessene Erklärung für viele unserer Affekte ist und desinteressierte Leidenschaften genauso heftig und stark sein können wie solche, die Interessen entspringen. Manche Leute sind sogar selbst mehr bewegt durch Kunst und leiden mehr mit bei fiktiven Figuren, als sie es bei ihnen nahestehenden und lieben Menschen oder sogar sich selber gegenüber tun. Und diese Gefühle haben wir nicht nur gegenüber Figuren in Dramen, sondern auch gegenüber historischen Persönlichkeiten und öffentlichen Figuren. Moralische Gefühle gewähren so gesehen auch Zugang zu den Vorstellungen der öffentlichen Moral. Die vierte Art von moralischen Gefühlen sind jene, mit denen wir auf die Beziehungen zwischen Figuren, die wir mögen, und solchen, die wir nicht mögen, reagieren. Hutcheson versucht hier einen Ersatz für die relationalen Aufgaben zu entwickeln, deren Definition das Kerngeschäft des Naturrechtsansatzes ausmacht. Es ist eine Stärke von Pufendorfs Ansatz, dass er nicht nur erklären kann, warum ich verpflichtet bin, meine Kinder anständig zu behandeln, sondern auch, warum ich ein Recht habe, sie zu schelten, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Das leitet Pufendorf ab von der Aufgabe, die in diesem Fall die Eltern haben, sowie dem für die Erfüllung dieser Pflicht notwendigen Recht, wobei die gemeinsame Basis dieser Aufgabe und der Rechte der Eltern das natürliche Recht eines jeden auf Erziehung zur und durch Geselligkeit ist. Eine tugendorientierte Theorie hat im Gegensatz dazu große Schwierigkeiten zu erklären, warum ausgerechnet diese spezifischen Beziehungen bestehen sollen und nicht andere, zumal wenn Tugenden Gefühlen entspringen. Es stellt sich ihnen, mit anderen Worten, folgendes Problem: Wenn die vierte Klasse von Gefühlen „früheren natürlichen Banden oder guten Aufgaben" {prior Ties of Nature or good Offices) (ΝCPA 62) entspringt, was macht ihre Erfüllung zu einer moralischen und nicht bloß natürlichen Angelegenheit? Zur fünften Klasse gehören all jene Leidenschaften, „in denen eine der vorigen Arten [von Leidenschaften] verbunden ist mit eigennützigen Affekten, wenn es unser Interesse betrifft." 24 Hutchesons Ziel war es zu

24

„The Passions of the last Class, are those in which any of the former Kinds [of Passions] are complicated with selfish Passions, when our Interest is concerned." (NCPA 64)

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zeigen, dass diese Leidenschaften Modifikationen moralischer Gefühle sind und nicht umgekehrt. Doch zusammen mit der vierten Klasse machen sie die Stärke von Humes Einwänden gegen Hutchesons Theorie nachvollziehbar. Wenn sich Rollen und Pflichten Interessen oder Nutzenerwägungen verdanken — z. B. die Rolle und die Pflichten des Polizisten dem Interesse einer Gesellschaft am Schutz vor Kriminellen —, tut dann die Tatsache, dass solche Rollen und Pflichten einem Interesse entspringen, in irgendeiner Weise ihrer moralischen Bedeutung Abbruch? In der Tat kann man sich fragen, ob denn durch und durch moralische Motive überhaupt je sauber von interessegeleiteten Konventionen getrennt werden können — eine Schwierigkeit, die Hume in seiner berühmten Erörterung über die Keuschheit illustriert. Für Hutcheson rochen solche Fragen nach Mandelville. In Abhebung von diesem und anders als später Hume wollte Hutcheson jedoch gerade zeigen, dass wir von Natur aus und unabhängig von irgendwelchen Konventionen tugendhaft wären, und es nur die verzerrende Gewalt enger Sichtweisen und Begehren ist, die uns davon abkommen lässt. Hutcheson treibt diese optimistische Auffassung auf die Spitze, wenn er argumentiert, dass wir kein Verlangen hätten, Nero zu schaden, wenn ihm seine Fähigkeit, anderen zu schaden, genommen würde. Damit will Hutcheson die folgende stoische Überlegung untermauern: Wo Tugend uns viel kostet, da sind ihre eigenen Freuden um so erhabener. Sie befördert die Freuden des Gemeinsinns, indem sie uns dazu bringt, das Glück der Allgemeinheit so weit als möglich voranzubringen; und Ehre ist ihr natürlicher und normaler Aufseher. Wenn sie die notwendigen Schmerzen auch nicht eliminieren kann, so ist sie doch die beste Unterstützung. Diese moralischen Freuden affizieren uns in einer intimeren Weise als irgendeine andere [Affektion]: Sie bereiten uns Vergnügen an uns selber und lassen uns Geschmack finden an unserer eigentlichen Natur. Dadurch empfinden wir innere Würde und Wert, und wir scheinen solche Freuden zu empfinden, wie sie oft der GOTTHEIT zugeschrieben werden, wodurch wir unsere eigene Vollkommenheit und jene von allem anderen Seienden genießen. 25

25

„Where Virtue costs us much, its own Pleasures are the more sublime. It directly advances the Pleasures of the publick Sense, by leading us to promote the publick Happiness as far as we can; and Honour is its natural and ordinary Attendant. If it cannot remove the necessary Pains of Life, yet it is the best Support under them. These moral pleasures do some way more nearly affect us than any other: They make us delight in our selves, and relish our very Nature. By these we perceive an internal Dignity and Worth, and seem to have a Pleasure like to that ascribed often to the DEITY, by which we enjoy our own Perfection, and that of every other being." (NCPA 107; Übersetzung U. R.)

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Wir müssen also fähig sein, so zu handeln, dass es unserem eigenen Interesse zuwiderläuft, und das kann im Gegenzug zu einem hehren, öffentlichen moralischen Vergnügen führen, das sich selber Belohnung ist. Unterstützt werden wir dabei durch die den Leidenschaften eigene Tendenz, Affektionen zu verlängern und zu verstärken. Dank dieser Eigenschaft können Leidenschaft dazu eingesetzt werden, um den Einfluss von partikulären Interessen zu bannen und den Geist auf öffentliche Empfindungen zu richten. Wenn wir sehen, wie tugendhafte Handlungen zum Nutzen für das Ganze führen, dann wird uns das dazu bewegen, unsere Aufmerksamkeit auf Ideen der Gottheit zu lenken. Doch wie zuvor schon angemerkt wurde, beansprucht Hutcheson keinen Zusammenhang zwischen Vergnügen und der Erfüllung von Interessen einerseits und dem Grad, in dem Vergnügen oder Interessen unsere Handlungen motivieren sollen, andererseits. Es ist eher so, dass wir das System als ein Ganzes sehen und Wohlwollen ihm gegenüber empfinden und dass das ein Gegengewicht bildet zu unseren kleinmütigen Wünschen. Wenn meine Mutter mich schilt für meine schlechten Noten, dann werde ich mich an diese Schelte erinnern, wenn ich im Garten herumlaufen möchte, anstatt drinnen zu studieren. Und Schritt für Schritt beginne ich über meinen Beitrag zur Gesellschaft nachzudenken und reflektiere auf die Wichtigkeit des ganzen Systems. In dieser Weise können unter der Führung des moralischen Sinns stehende Leidenschaften mit der Affektion kooperieren und unser Verhalten auf größere Güter hinlenken.

6. Fazit Der soeben beschriebene Prozess der Hinlenkung unserer Leidenschaften durch den moralischen Sinn auf größere Güter mündet in moralisches Vergnügen. Das Vergnügen, das Tugend bereitet, kann aber nicht die einzige Motivation sein. Tugend muss vielmehr ihr eigener Lohn sein. Die Affinitäten zu Kant sind an dieser Stelle unübersehbar, und generell treffen wir bei Hutcheson die gleiche Anstrengung wie bei Kant an, die Motivationen menschlichen Handelns mit dem uneigennützigen Charakter der Tugend zu versöhnen. Anders als diejenige Kants, ist die Theorie Hutchesons jedoch sowohl sentimentalistisch als auch rationalistisch. Das wird erreicht, indem beides betont wird, das Kognitive oder Rationale und die handlungsleitenden (oder -festlegenden) Aspekte der Affektionen, sowie die zentrale Rolle beider im moralischen Urteilen und im Guten des Sys-

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tems. In Hutchesons frühem Werk finden wir ferner ein instabiles Gleichgewicht zwischen sorgfältig systematisierten Ideen, die er von Shaftesbury übernimmt, und einem Naturrechtsansatz, auf den Hutcheson reagiert. Selbst wenn Hutchesons Ansatz nicht in allen Punkten überzeugend und der Kontext des Naturrechts, auf den er antwortet, für uns in gewisser Weise befremdlich ist, so waren doch das allgemeine Bild der Moral, das Hutcheson vermittelt, wie auch die besonderen Argumente dafür außerordentlich fruchtbar. Hutchesons Verknüpfung der Gefühle mit dem moralischen Sinn, die Betonung, die er auf den unterscheidenden qualitativen Wert moralischer Gefühle legt, die Verbindung positiver moralischer Gefühle mit Weitblick und von moralischer Schlechtigkeit mit Engstirnigkeit — all dies inspirierte die Arbeiten von Adam Smith, David Hume und vielen anderen. Übersetzt

von Ursula

Ren^.

Literatur Hutchesons und Shaftesburys Schriften werden mithilfe von Siglen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die Ubersetzungen von Hutcheson ins Deutsche stammen von Ursula Renz. Die verwendeten Siglen sind: BV NCPA SE II/2

- Hutcheson, An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue — Hutcheson, An Essay on the Nature and Conduct of the Vassions and Affections — Shaftesbury, An Inquiry Concerning Virtue, or Merit (Standard Edition II, 2)

Greig, John Young Thompson (Hg.) (1932), The Leiters of David Hume, Oxford. Hume, David (1975, zuerst 1777), An Enquiry Concerning the Principle of Morals, in: ders., Enquiries Concerning Human Understanding and the Principles of Morals, hrsg. von Lewis Amherst Selby-Bigge und Peter Nidditch, Oxford. Hutcheson, Francis (2003, zuerst 1728), An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, with Illustrations on the Moral Sense, hrsg. und eingel. von Aaron Garrett, Indianapolis (=NCPA). — (2004, zuerst 1725), An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, hrsg. von Wolfgang Leidhold, Indianapolis (=BV). — (2006), Logic, Metaphysics and the Natural Sociability of Mankind, hrsg. von James Moore und Michael Silverthorne, Indianapolis. Locke, John (1973, zuerst 1690), An Essay concerning Human Understanding, hrsg. von Peter Nidditch, Oxford. Locke, John ( 4 1981), Versuch über den menschlichen Verstand, übers, v. C. Winkler, 2 Bde, Hamburg. Moore, James/Michael Silverthorne (Hg.) (2002), Natural Rights on the Threshold of the Scottisch Enlightenment: The Writings ofGershom Carmichael, Indianapolis.

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Rivers, Isabel (2000), 'Reason, Grace, and Sentiment: Λ Study of the language of Religion and Ethics, Cambridge. Schmitter, Amy M. (2006), 17th and 18th Century Theories of Emotions, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy: URL = http://plato.stanford.edu/entries/emotions-17fhl8th/index.html, letzter Zugriff 6. Januar 2008. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of (1981ff., zuerst 1699), An Inquiry Concerning Virtue, or Merit, Standard Edition II, 2, hrsg., übers, und kommentiert von Wolfram Benda, Gerd Hemmerich, Friedrich A. Uehlein, Wolfgang Lottes, Erwin Wolff u. a., Stuttgart (=SE 11/2).

David Hume (1711-1776)

Hume: Natur und soziale Gestalt der Affekte Christoph Oemmerling und Hi/ge Landweer Unter den Philosophen der Aufklärung gehört David Hume zu denjenigen, die überaus entschieden für eine Ausweitung der experimentellen Methode des Denkens auf die menschlichen Angelegenheiten und Dinge plädieren. Erfahrung lautet der Grundbegriff, der gegen metaphysische Spekulationen über den Menschen und die menschliche Welt aufgeboten wird. Zentrale Bestandteile seiner Erfahrungswissenschaft vom Menschen sind die Analyse der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten und Affekte. Affekte gehören zur Natur des Menschen, wobei viele Affekte ihre konkrete Gestalt erst im Rahmen von sozialen Prozessen entfalten. Die Realisierung seines Programms nimmt Hume in seinem Treatise of Human Nature (1739/1740) mit dem programmatischen Untertitel Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects in Angriff. Angekündigt hatte er das Programm einer empirischen Erforschung der Erkenntnisfähigkeit und Affekte bereits in dem kurzen autobiografischen Tetter to a Physician (1734).1 Eine übersichtliche und geraffte Darstellung seiner Überlegungen zu Gefühlen, die gegenüber den Ausführungen im Traktat (Treatise) allerdings keine nennenswerten Ergänzungen enthält, findet sich in der dritten der Four Dissertations (1757) mit dem Titel Of the Passions.2 Der Frage nach der Rolle der Gefühle, insbesondere der Sympathie, für die Moral schließlich widmet sich nicht nur der Traktat, sondern auch Abschnitte der Schrift An TLnquiry Concerning the Principles of Morals (1751). Die folgenden Überlegungen stützen sich in erster Linie auf Humes Ausführungen im Traktat.

1 2

Vgl. Hume 1932, Bd. 1, 12-18; vgl. auch Hume 1994 (zuerst 1734), 345-350. Hume 1991 (zuerst 1757).

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1. Zur Topografie der Affekte In Buch II seines Traktats über die menschliche Natur geht es Hume um nicht weniger als darum, „die Natur, den Ursprung, die Ursachen und die Wirkungen" der Affekte aufzuzeigen (vgl. Τ II, 5). Dieses Ziel entspricht dem grundsätzlichen Anspruch, sich den menschlichen Dingen und Angelegenheiten mit den Mitteln einer experimentellen, erfahrungsbasierten Methode zu nähern. Humes überaus verzweigte Einteilung der Zustände des menschlichen Geistes und der Affekte umfasst drei Grundunterscheidungen: Er trennt erstens die „primären" bzw. „ursprünglichen" von den „sekundären" bzw. „reflexiven" Eindrücken, zweitens die „heftigen" von den „ruhigen" sowie drittens die „direkten" von den „indirekten" Affekten. 3 Als allgemeiner Begriff für Bewusstseinsinhalte wird der Ausdruck „Perzeption" verwendet. Bereits in Buch I des Traktats werden alle Bewusstseinsinhalte grundsätzlich in zwei Arten eingeteilt: Eindrücke (impressioni) und Vorstellungen (ideas).4 Beide sollen sich durch ihre Stärke sowie ihre Lebendigkeit voneinander unterscheiden (vgl. Τ I, 9). Eindrücke sind intensiver und lebhafter als Vorstellungen, welche als schwächere Kopien der Eindrücke angesehen werden. Hume unterscheidet außerdem zwischen einfachen und komplexen bzw. zusammengesetzten Eindrücken und Vorstellungen. Ein Farbeindruck ist beispielsweise ein einfacher Eindruck, während der Eindruck eines unaufgeräumten Zimmers komplex ist, da er sich in Teile zerlegen lässt. Hume geht zudem von einer genauen Übereinstimmung zwischen einfachen Vorstellungen und einfachen Eindrücken aus. Alle einfachen Vorstellungen stammen von einfachen Eindrücken her, die sie in einem bestimmten Sinne Repräsentieren' (vgl. Τ I, 13). Diese Eindrücke werden im Gedächtnis gespeichert' und können bei Bedarf als Erinnerung ,abgerufen' oder auch mit den Mitteln der Einbildungskraft modifiziert werden. Affekte nun sind Eindrücke einer besonderen Art, was deutlich wird, wenn man sich Humes Unterscheidung zwischen Eindrücken der Sinneswahrnehmung und Eindrücken der Selbstwahrnehmung vergegenwärtigt. Eindrücke der Sinneswahrnehmung entstehen im menschlichen Geist durch den Gebrauch der Sinne, dadurch also, dass wir etwas sehen, hören, riechen oder betasten, aber auch dadurch, dass wir unseren Körper spüren. Man kann an Phänomene denken wie etwa an eine Wahrnehmung, an 3 4

Vgl. Fieser 1992. Vgl. dazu Broughton 2006.

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ein Stechen in der Brust oder ein Ziehen im Arm oder auch an den von Hume angeführten Gichtanfall (vgl. Τ II, 4). Entscheidend für Humes Einordnung dieser Phänomene in eine einzige Kategorie ist der Umstand, dass diesen Zuständen des menschlichen Geistes keine andersartigen Wahrnehmungen oder Perzeptionen vorhergehen, auf deren Grundlage sie sich aufbauen oder entstehen würden. Deshalb handelt es sich um primäre oder unmittelbare Eindrücke. Ihnen liegt nichts im engeren Sinne Geistiges zugrunde, vielmehr sind sie unmittelbar auf etwas in der Welt bezogen. Bei den sekundären Eindrücken bzw. den Eindrücken der Selbstwahrnehmung handelt es sich hingegen um Eindrücke, „die aus irgend einem primären Eindruck hervorgehen, entweder unmittelbar oder durch die Vermittlung der Vorstellung derselben" (Τ II, 3f.). Hume nennt als Beispiele Kummer und Furcht, die nur unter Mitwirkung und auf der Grundlage anderer Eindrücke entstehen. So kann ein Stechen in der Brust als primärer Eindruck das sekundäre Gefühl des Kummers nach sich ziehen. Zu den sekundären Eindrücken bemerkt Hume: Ein Eindruck wirkt zunächst auf die Sinne ein und läßt uns Hitze oder Kälte, Hunger oder Durst, Lust oder Unlust der einen oder anderen Art empfinden. Von diesem Eindruck erzeugt der Geist ein Abbild, welches bleibt, nachdem der Eindruck aufgehört hat; dies Abbild nennen wir eine Vorstellung. Die Vorstellung der Lust oder Unlust ruft aber weiterhin [...] neue Eindrücke — des Verlangens und der Abneigung, der Hoffnung und Furcht — hervor, welche im eigentlichen Sinne Eindrücke der Selbstwahrnehmung [Reflexion] genannt werden können (TI, 17).

Alle Affekte im engeren Sinne sind „sekundäre" („reflexive") Eindrücke, die auf primären Eindrücken oder Vorstellungen basieren oder diese voraussetzen. Anders als Hungergefühle, welche durch physiologische Veränderungen im Organismus oder durch sinnliche Reize, denen ein Organismus ausgesetzt ist, direkt hervorgerufen werden können, kann ein Affekt im engeren Sinne nur ausgebildet werden, wenn ihm ein Eindruck oder eine Vorstellung vorhergeht. Diese Verhältnisse zwischen Eindrücken und Vorstellungen einerseits und Affekten andererseits sind es, die im Traktat eingehend diskutiert werden, wobei insbesondere die Mechanismen erläutert werden, die zur Ausbildung von Affekten und zu ihrem Wechsel führen. Die wichtigste Unterscheidung, die Hume in diesem Zusammenhang trifft, ist jene zwischen direkten und indirekten Affekten. Direkt werden die Affekte genannt, sofern sie unmittelbar von angenehmen bzw. unangenehmen Erlebnissen hervorgerufen werden, und zwar auf der Grundla-

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ge eines von Hume „instinktiv" genannten Vermögens des menschlichen Geistes, das Gute zu ergreifen und das Übel zu meiden. Die Beispiele Humes lauten „Begehren, Abscheu, Schmerz, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewißheit" (vgl. Τ II, 5). Ein Gut erweckt Begehren, ein Übel Abscheu; ein gewisses oder wahrscheinliches Gut erweckt Freude, ein gewisses oder wahrscheinliches Übel führt zu Kummer und Traurigkeit, ein ungewisses Gut oder Übel nährt Hoffnung bzw. Furcht (vgl. Τ II, 178).5 Indirekt sind hingegen Affekte, die auf komplexeren Voraussetzungen basieren; als Beispiele werden unter anderem „Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit" genannt. Die indirekten Affekte verdanken sich komplexen Zusammenhängen zwischen Eindrücken und Vorstellungen (vgl. Τ II, 16). Die Überlegungen, die hinter der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Affekten stehen, sind jenen nicht unähnlich, welche die Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Tugenden motiviert haben, die später in Buch III des Traktats entwickelt wird. 6 Auffällig ist, dass die indirekten Affekte im Unterschied zu den direkten in ihrer Struktur Beziehungen zu anderen Personen und damit Vergesellschaftung voraussetzen. Beide Affektgruppen gehören für Hume genuin zur menschlichen Natur. Direkte und indirekte Affekte greifen auf vielfältige Weise ineinander. Begehren und Abscheu können in Verbindung mit bestimmten Vorstellungen beispielsweise zum indirekten Affekt des Stolzes führen, der wiederum eine Stabilisierung der direkten Affekte nach sich ziehen kann. Diese indirekten Affekte, die immer angenehm oder unangenehm sind, geben aber ihrerseits den direkten Affekten neue Stärke und vergrößern unser Begehren oder unseren Abscheu angesichts des Gegenstandes. So erregt ein schöner Anzug Freude vermöge seiner Schönheit und diese Freude erzeugt die direkten Affekte oder die Eindrücke des Wollens und Begehrens. Stellen wir uns vor, daß diese 5

6

Es gibt allerdings auch direkte Affekte, die nicht in Verbindung mit einem Gut oder Übel entstehen, sondern — wie Hume sagt — „aus einem natürlichen Impuls oder Instinkt, der ganz unerklärlich ist" (Τ II, 178). Er nennt in diesem Zusammenhang so heterogene Phänomene wie den Wunsch nach glücklichen Freunden, nach Bestrafung der Feinde sowie Hunger, Wollust und körperliche Begierden. Hier soll es sich um Affekte handeln, die nicht aus einem Gut oder Übel hervorgehen, sondern die ein solches erst erzeugen. Hume schwankt gelegentlich in seinen Einteilungen. So wk-d der Wunsch nach glücklichen Freunden einmal als direkter Affekt klassifiziert (vgl. Τ II, 178), während in einem anderen Zusammenhang erwogen wird, ob er nicht in Abhängigkeit von den indirekten Leidenschaften der Liebe und des Hasses gesehen werden muss (vgl. Τ II, 100£). Aber das ändert nichts daran, dass die grundsätzliche Unterscheidung von direkten und indirekten Affekten durchaus stimmig ist.

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Kleider uns gehören, so erzeugt jener doppelte Zusammenhang das Gefühl des Stolzes, das ein indirekter Affekt ist, und die Freude, die diesen Affekt begleitet, wendet sich auf die direkten Affekte zurück und verleiht unserem Begehren und Wollen, unserer Freude und Hoffnung einen Zuwachs an Stärke (T II, 178).

Ein in systematischer Hinsicht ebenfalls von Hume diskutiertes Kriterium zur Einteilung der Affekte ist deren Intensität. Hume unterscheidet zwischen ruhigen Affekten wie dem „Gefühl der Schönheit und Häßlichkeit" zum Beispiel einer Handlung oder eines Gegenstandes und den heftigen Affekten wie Liebe, Hass, Stolz oder Niedergedrücktheit (vgl. Τ II, 4ff.). Diese Unterscheidung mag problematisch erscheinen, denn auch ein Gefühl der Schönheit kann von großer Intensität sein, während man Stolz durchaus in milder Form verspüren kann. Außerdem ist fraglich, ob die Schönheit einer Handlung oder eines Gegenstandes im engeren Sinne gefühlt' werden kann. Hume spricht jedoch sehr vieles, was im menschlichen Geist vor sich geht, als Gefühl bzw. Affekt an. Selbst die Vernunft im Sinne des Vermögens, Schlüsse zu ziehen, wird in die Nähe von Affekten gerückt. So erläutert er die Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl mithilfe der Differenzierung von ruhigen und heftigen Affekten: Was wir gewöhnlich unter ^Affekt verstehen, ist eine heftige und spürbare Gefühlserregung im Geiste [...]. Unter Vernunft verstehen wir Gemütsbewegungen, die gleicher Art sind, wie die Affekte, die aber ruhiger wirken und keinen Aufruhr in der Gemütsverfassung hervorrufen. Diese Ruhe verleitet uns zu einem Irrtum über ihr Wesen, d. h. sie läßt uns dieselben als reine logische Leistungen unserer intellektuellen Vermögen erscheinen (Τ II, 176).

Folgt man Humes Wortgebrauch, muss alles dasjenige, was uns in irgendeiner Weise angeht, was uns in irgendeiner Form ,durch den Kopf geht', als Affekt oder Bewegung unseres Gemüts angesehen werden.

2. Indirekte Affekte Hume führt zahlreiche Analysen zu indirekten Affekten durch. 7 Paradigmatisch sind seine Überlegungen zum Stolz. Hume betrachtet den Stolz (pride) in einem engen Zusammenhang mit einem Gefühl, für welches heute der Begriff des Minderwertigkeitsgefühls zur Verfügung steht. Humes 7

Humes Ausführungen über indirekte Affekte betreffen Stolz und Niedergedrücktheit (Τ II, 3ff.) sowie Liebe und Hass (Τ II, 60ff.), Wohlwollen und Zorn (Τ II, 99ff.), Mitleid (Τ II, 103ff.), Schadenfreude und Neid (Τ II, 106ff.), Mischungen dieser Gefühle (Τ II, 116ff.) und abschließend Achtung und Verachtung (Τ II, 126ff.).

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Ausdruck lautet humility, der in geläufigen Übersetzungen ins Deutsche mit dem Begriff „Niedergedrücktheit" wiedergegeben wird. Da Hume humility dem Stolz konträr gegenüberstellt, ist damit wohl eine spezifischere Bedeutung verbunden als diejenige, die mit dem Ausdruck „humility" üblicherweise einhergeht. Die spezifische Form von „Niedergedrücktheit", die Hume beschreibt, hat jedoch stets mit der Erfahrung der Minderwertigkeit der eigenen Person zu tun. Während man die eigene Person im Stolz aufwertet, erfährt man den Wert der eigenen Person in der Niedergedrücktheit im Sinne Humes, im Minderwertigkeitsgefühl also, als gering. Hume differenziert überdies zwischen dem Objekt der Gefühle, welches im Fall von Stolz und Minderwertigkeitsgefühl stets die eigene Person ist, und der Ursache, anlässlich derer sich diese Gefühle einstellen. Alle von der Person positiv bewerteten Eigenschaften und Gegenstände, über welche die Person verfügt, oder auch eigene Leistungen können als Vorstellungen zur Ursache dieses Gefühls werden. Zu Gefühlen gehören allerdings nicht nur Objekte und Ursachen. Zu ihnen gehören ebenfalls Empfindungen. Von Belang ist insbesondere auch die Art und Weise, in der Gefühle leiblich gespürt werden. 8 Eine Besonderheit der Affekte gegenüber anderen Perzeptionen des Geistes bestehe, so bemerkt Hume, „in der Empfindung, die sie uns geben oder in den besonderen Gefühlserregungen, die sie in der Seele hervorrufen, und die eben ihr Sein und Wesen ausmachen" (T II, 16). Hume geht zwar davon aus, dass Affekte komplexe Zustände des Geistes sind, welche unterschiedliche Aspekte wie Ursache, Objekt und Empfindungsqualität (Lust/Unlust) aufweisen, diese Aspekte sind jedoch nicht voneinander abtrennbar, sondern gehören von vornherein zusammen. Sie stellen — wie alles dasjenige, was zu den Inhalten des menschlichen Geistes gehört — ein engmaschig miteinander verknüpftes Netz dar, das nur analytisch in seine einzelnen Bestandteile zerlegt werden kann. Hume nennt die notwendigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn ein bestimmtes Gefühl vorliegt, und nur alle zusammen sind hinreichend für die jeweilige Emotion. Insofern ist seine Theorie, will man sie auf die Etikettierungen beziehen, die in der Gegenwartsdiskussion verwendet werden, weder als „kognitivistisch" noch als „Empfindungs-" oder „Mehrkomponententheorie" zu bezeichnen, da dann einzelne Komponenten isolierbar wären und ihre Beziehung zeitlich oder kausal definierbar sein müsste. 8

Zum Begriff und Phänomen des leiblichen Spürens äußern wir uns ausführlicher in Demmerling/Landweer 2007, 20ff.

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Das ist aber bei den Ingredienzien, die Hume für jedes einzelne Gefühl bestimmt, nicht der Fall: Sie können in einer anderen Kombination vorkommen, weshalb sie analytisch unterscheidbar sind, aber es ist nicht so, dass ein einzelner Bestandteil notwendig einen anderen nach sich zöge. So ist das, was Hume als „Ursache" des Affekts des Stolzes bezeichnet, etwa eine angenehme Eigenschaft oder ein angenehmer Gegenstand, nicht notwendigerweise Auslöser dieses Gefühls, sondern sie bzw. er könnte auch bloße Freude bewirken. Umgekehrt lässt sich allerdings vom Stolz als einheitlichem Phänomen darauf schließen, dass ein angenehmer Gegenstand ihn veranlasst haben muss. Außerdem gehören weitere Situationsbedingungen wie der Objektbezug dazu und, um vorzugreifen, auch der Vergleich mit anderen Personen. Im Rahmen von Humes Analyse des menschlichen Verstandes nehmen Überlegungen zur Frage der Verbindung bzw. Verknüpfung unterschiedlicher Bewusstseinsinhalte bzw. Vorstellungen einen breiten Raum ein (vgl. Τ I, 20ff.). Leitend in seinen Überlegungen ist der Gedanke, dass durch die Verstandestätigkeit als theoretischem Vermögen die Verknüpfung unterschiedlicher Vorstellungen durch Assoziationsprinzipien wie Ähnlichkeit, raumzeitliche Nähe und Kausalität geleistet wird. Hume entwickelt nun die Auffassung, dass nicht nur Vorstellungen, sondern auch Eindrücke durch Assoziation in einen Zusammenhang gerückt werden, der nicht kontingent ist. Anders als bei der Verknüpfung der Vorstellungen fungiert bei derjenigen der Eindrücke aber die Ähnlichkeit als einziges Prinzip. 9 Alle ähnlichen Eindrücke hängen zusammen; sobald einer lebendig wird, folgen gleich die übrigen. Schmerz und Enttäuschung erzeugen Arger, Arger Neid, Neid Bosheit, und Bosheit wieder Schmerz, bis der ganze Kreis durchlaufen ist. Ahnlich wendet sich unsere Stimmung, wenn sie durch Freude gehoben ist, naturgemäß zur Liebe, zur Großmut, zum Mitleid, zu Mut, Stolz und anderen ähnlichen Gemütsbewegungen (Τ II, 12f.).

Schließlich macht Hume in einem weiteren Schritt darauf aufmerksam, dass die Assoziation von Vorstellungen und die Assoziation von Eindrücken sich wechselseitig verstärken. Ein Mensch, der dadurch, daß ein anderer ihm Schaden zugefügt hat, sehr erregt und außer Fassung gebracht ist, findet leicht hundert Gegenstände für Unzufriedenheit, Ungeduld, Furcht und andere unlustvolle Affekten, vor allem dann, wenn er diese Gegenstände an oder in Verbindung mit der Person entdeckt, die Ursache seines ersten Affektes war. Die Faktoren, die den Übergang von Vorstellungen zu Vorstellungen befördern, treffen hier zusammen mit de9

Die folgende Rekonstruktion verdankt Alanen 2006, 186ff. wesentliche Impulse.

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nen, die [in analoger Weise] auf die Affekte wirken; die Vereinigung beider zu einer einzigen Wirkung gibt dem Geist einen doppelten Impuls (T II, 13).

Dieser doppelte Impuls ist im Zusammenhang mit Gefühlen ein ganz entscheidendes Element. 10 Ein Gefühl wie Stolz entsteht, wenn eine Vorstellung, beispielsweise die eines prächtigen Hauses, mit dem Objekt des Gefühls (das als Besitzer des Hauses der Stolze selbst ist) assoziiert wird, und wenn die Vorstellung einiger herausragender Merkmale des Hauses angenehme Eindrücke verschafft, die über die Ähnlichkeitsrelation zu angenehmen Eindrücken bezogen auf den Besitzer des Hauses führen. Die gefühlte Qualität (eine angenehme Empfindung), gehört in ein Netzwerk von anderen Vorstellungen und Eindrücken, mit denen sie von vornherein verknüpft ist. Gefühle sind Bestandteile eines Ganzen von Eindrücken und Vorstellungen, die zusammengehören und durch welche wir uns gemäß den Prinzipien und Mechanismen der Assoziation bewegen. Besonders eindringlich lässt sich das Zusammenspiel der Gefühle sowie der Eindrücke und Vorstellungen, die mit diesen zusammenhängen, am Beispiel der vier von Hume am ausführlichsten untersuchten indirekten Affekte Stolz, Niedergedrücktheit, Liebe und Hass verfolgen. Hume selbst bemerkt, dass diese Affekte ein „Quadrat" bilden und expliziert die vielfältigen Bezüge, in denen sie zueinander stehen: Wir haben vier Affekte, die gewissermaßen ein Quadrat bilden, regelmäßig miteinander verbunden sind und in gleichen Abständen voneinander stehen. Die Affekte des Stolzes und der Niedergedrücktheit, und ebenso die der Liebe und des Hasses, hängen durch die Identität ihres Objektes zusammen; dasselbe liegt für das erste Affektpaar im eigenen Selbst, für das zweite in irgend einer anderen Person. Diese beiden Verbindungen oder Zusammenhänge bilden zwei entgegengesetzte Seiten des Quadrates. Ferner sind Stolz und Liebe angenehme Affekte, Haß und Niedergedrücktheit unangenehme. Die Gleichheit des Gefühls bei Stolz und Liebe einerseits und bei Niedergedrücktheit und Haß andererseits ergibt eine neue Verbindung; und diese beiden Gleichheiten können vorgestellt werden als die beiden anderen Seiten des Quadrates. Zusammengefaßt: Stolz steht mit Niedergedrücktheit, Liebe mit Haß durch ihre Objekte oder Vorstellungen in Zusammenhang, Stolz mit Liebe, Niedergedrücktheit mit Haß durch die Art der Gefühle oder Eindrücke, die sie erregen (T II, 64).11

10

11

Zum doppelten Impuls vgl. auch Τ II, 116: „Um den Übergang der Affekte zu ermöglichen, bedarf es eines doppelten Zusammenhanges, nämlich von Eindrücken und von Vorstellungen: ein einfacher Zusammenhang genügt nicht, um diese Wirkungen hervorzubringen." Zum Zusammenhang der Gefühle und zu ihren Beziehungen untereinander vgl. auch Baier 1982.

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Es gibt Gefühle wie beispielsweise Liebe und Hass, die in dem Sinne einander entgegengesetzt sind, als dass man sie nicht gleichzeitig erleben kann, jedenfalls nicht, sofern sie auf dasselbe Objekt (eine ganz bestimmte andere Person) bezogen oder durch dieselben Ursachen erzeugt (die Vorstellung bestimmter Eigenschaften dieser Person) sein sollen. Andere Relationen zwischen Gefühlen entstehen dadurch, dass sie sich ein Objekt teilen wie Stolz und Niedergedrücktheit oder Liebe und Hass oder eine gemeinsame Qualität aufweisen wie Stolz und Liebe auf der einen und Niedergedrücktheit und Hass auf der anderen Seite. Betrachten wir nun die anderen indirekten Affekte, die Hume nicht als Bestandteile des von ihm so genannten Quadrats nennt, die er aber auch im Zusammenhang mit den vier diskutieren Affekten erläutert. Wohlwollen, Zorn, Mitleid, Schadenfreude, Neid, Achtung und Verachtung — alle diese indirekten Affekte hängen Hume zufolge mit Liebe und Hass, zum Teil auch mit Stolz und Niedergedrücktheit zusammen. Wohlwollen und Zorn können den Affekten Liebe und Hass folgen, da sich Wohlwollen als ein in der Regel mit Liebe verbundener Wunsch nach dem Glück des anderen, Zorn sich in der Regel als mit dem Hass verbundener Wunsch nach dem Unglück des anderen auffassen lässt (vgl. Τ II, 100). Auch im Mitleid, welches ein Bedauern über das Unglück anderer ist, zeigen sich Spuren der Liebe (Τ II, 103), während sich in der Schadenfreude als einer Freude über das Unglück anderer Spuren des Hasses finden (vgl. Τ II, 106). Auch Neid lässt sich im Zusammenhang mit diesem Tableau thematisieren, da Schadenfreude und Neid als ein „entgegengesetztes" Mitleid gelten können, weil diese Emotionen den Gefühlen dessen, über dessen Schaden man sich freut oder den man beneidet, genau entgegengesetzt sind (vgl. Τ II, 110). Hume entwickelt die Auffassung, dass Mitleid, Wohlwollen und Liebe bzw. Schadenfreude, Zorn und Hass in Form einer Kette miteinander verbunden sind (vgl. Τ II, 117). Achtung und Verachtung schließlich sollen auf ganz eigentümliche Weise mit Liebe und Hass zusammenhängen, da Hume die Ächtung als ein Gemisch aus Liebe und Niedergedrücktheit, die Verachtung als ein Gemisch aus Hass und Stolz charakterisiert (vgl. Τ II, 126).12 Wenn wir die Eigenschaften und die Lage anderer betrachten, so können wir dabei von unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgehen. Wir können sie daraufhin ansehen, wie sie für sich genommen sind, oder aber wir können sie mit unseren Lebensverhältnissen und Eigenschaften verglei12

Vgl. dazu auch Demmerling/Landweer 2007, 38ff.

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chen, und schließlich können die beiden Perspektiven miteinander verbunden werden. Hume nimmt nun an, dass die guten Eigenschaften anderer für sich betrachtet Liebe hervorrufen. Im Vergleich mit unserer eigenen Lage und unseren eigenen Verhältnissen können sie zu Minderwertigkeitsgefühlen führen, wenn wir unsere Lage als schlechter und weniger vorteilhaft ansehen. Achtung rufen andere hervor, sofern beide Gesichtspunkte — Liebe wegen der guten Eigenschaften anderer, Niedergedrücktheit wegen des Mangels dieser Eigenschaften bei einem selbst — miteinander kombiniert werden. Achtung wird in diesem Tableau als eine Mischung aus Liebe und Minderwertigkeitsgefühl konzipiert. Wenn schlechte Eigenschaften aus den genannten drei Perspektiven betrachtet werden, so erzeugen sie Hass, Stolz oder Verachtung. Hume geht davon aus, dass Ächtung mit Minderwertigkeitsgefühlen verbunden ist und Verachtung mit Stolz, und dass diese Mischung aus einem stillschweigenden Vergleich der geachteten oder verachteten Person mit uns selbst hervorgeht. Derselbe Mensch könne vermöge seiner Stellung und Begabung entweder Achtung, Liebe oder Verachtung erwecken, je nachdem, ob derjenige, der das Gefühl hat, unter, neben oder über ihm stehe. Das Vergleichen spielt allerdings nicht allein im Zusammenhang mit Achtung und Verachtung eine Rolle, sondern ebenfalls im Kontext der Gefühle der Schadenfreude und des Neides (vgl. Τ II, 110). Auch deren Entstehung hängt eng damit zusammen, dass Lage und Lebenssituation anderer Menschen mit der jeweils eigenen verglichen werden. Vergleichbarkeit ist eine notwendige Bedingung dafür, beispielsweise Neid empfinden zu können. Menschen in ähnlicher Lage werden eher beneidet als solche, die sich in ganz anderen Umständen befinden. — Humes Uberlegungen zur Rolle von Vergleichen machen einmal mehr deutlich, dass Affekte in einen sozialen Raum gehören, der ihnen ihr Gepräge verleiht und zentralen Anteil an ihrer Erzeugung und ihrem Verlauf hat.

3. Gefühlsresonanzen: Zur Rolle von Mitgefühl und Vergleich Nach der Grundunterscheidung zwischen Ursache und Objekt eines Gefühls differenziert Hume weiter die „direkte" Ursache eines Affekts von dessen „sekundärer Ursache" (vgl. Τ II, 47). Die sekundären Ursachen für Affekte sind sozialer Natur, es sind die Uberzeugungen, Meinungen, aber auch die Gefühle anderer Menschen. Gefühle, die jemand hat, werden in einem nicht unerheblichen Ausmaß auch durch die Meinungen und Ge-

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fühle anderer geformt, indem letztere erstere verstärken, abschwächen, in Frage stellen oder aufrufen können. So ist es Hume zufolge beispielsweise für unseren Stolz wichtig, dass auch andere Menschen die Güter und Eigenschaften, die uns zum Stolz veranlassen, schätzen und begehrenswert finden. Ist man stolz auf etwas, was von anderen nicht geschätzt oder begehrt wird, wird das Gefühl gemindert, unter Umständen wird es ganz aufhören. Stolz ist derjenige, der insgesamt einen guten Ruf genießt und bei anderen in gutem Ansehen steht: Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwer wiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes, Tugend, Schönheit und Reichtum, haben wenig Wirkung, wenn die Meinungen und Anschauungen anderer ihnen nicht Vorschub leisten (T II, 47 f.).

Mit der These, dass die Meinungen und Uberzeugungen anderer unsere je eigenen Gefühle beeinflussen, siedelt Hume die Affekte von vornherein in einem sozialen und intersubjektiven Raum an. In der Bewertung von Eigenschaften wie Tugend oder Schönheit folgen wir den Urteilen anderer, aber auch ihren Gefühlen, die sie den genannten Eigenschaften entgegenbringen: Nun ist uns aber nichts natürlicher, als daß wir hinsichtlich dieser Eigenschaften die Meinung anderer uns innerlich aneignen. Dies geschieht sowohl durch Mitgefühl, durch das uns alle fremden Gefühle nahe gebracht werden, als auch durch Überlegung, die uns ein fremdes Urteil als eine Art von Beweis für das, was behauptet wird, ansehen läßt. Fast alle unsere Ansichten werden durch diese beiden Prinzipien, das der Autorität und das des Mitgefühls, beeinflußt (T II, 52).

Gefühlstheoretisch von besonderem Interesse ist die Behauptung, nicht nur die Überzeugungen anderer, sondern vor allem auch deren Gefühle hätten Einfluss auf unsere je eigenen Gefühle. Möglich wird dies auf der Grundlage von sympathy (Mitgefühl). Das Mitgefühl verbindet die Menschen miteinander und ist eng auf den Umstand bezogen, ein wechselseitiges Interesse aneinander zu nehmen und sich als einander ähnliche Wesen wahrzunehmen. Sympathy bereitet den Weg zum Verstehen der Gefühle anderer, indem sie uns — folgt man Hume — im Grunde genommen den Zugang zu deren Gedanken und Gefühlen verschafft. Die Ausdrücke „Mitgefühl" bzw. „Sympathie" werden also in Humes Philosophie nicht nur in der heute maßgeblichen Bedeutung verwendet, der zufolge Mitgefühl einen Beitrag dazu leistet, auf die Gefühle anderer mit eigenen Gefühlen zu antworten und in diesem Sinne mit ihnen zu fühlen. In einer der Bedeutungen, in denen Hume den Begriff „sympathy " gebraucht, führt dieses Prinzip zunächst einmal nur dazu, die Gefühle anderer zu verstehen, indem man sich eine Vorstellung von ihnen macht, um diese in einem

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weiteren Schritt in einen (lebhafteren) Eindruck zu verwandeln (vgl. Τ II, 52). So kann Sympathie als eine Art von Mechanismus bezeichnet werden, der die „leichte Mitteilbarkeit der Gefühle zwischen einem denkenden Wesen und einem anderen" ermöglicht (Τ II, 96). Sie fungiert als ein Instrument der Kommunikation, vermöge dessen Menschen sich ihre Gefühle wechselseitig zu erschließen vermögen. Der Umstand, dass man die Gefühle anderer versteht, hat nun seinerseits einen starken Einfluss auf die je eigenen Gefühle: Die Menschen verhalten sich in ihrem Innern zueinander wie Spiegel. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß sie ihre Gefühlsregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch die Strahlungen der Affekte, Gefühle, Meinungen wiederholt hin- und zurückgeworfen (Τ II, 98f.).

Man muss allerdings nicht notwendigerweise dieselben Gefühle haben wie derjenige, dessen Gefühle man versteht. Die soziale Dynamik, welche durch das Mitgefühl und die sozialen Verbindungen der Menschen entsteht, ist komplexer. Hume bezieht sich mit dem Ausdruck der Sympathie auf die Wirkungen, welche die Gefühle anderer auf die jeweils eigenen Gefühle haben, und er bemerkt lapidar: Affekte hätten keine Macht, „sähen wir bei ihnen gänzlich von den Gedanken und Gefühlen anderer ab" (Τ II, 97). Es kann zwar sein, dass wir die Lust dessen teilen, der sich an seinen Reichtümern erfreut, anlässlich der Freude des anderen an seinen Reichtümern können sich jedoch auch ganz andere Gefühle einstellen, je nach der Lage, in welcher wir uns selbst befinden. Die Lust eines Reichen an seinen Besitztümern muss nicht Lust, sie kann auch Neid erregen; seine Lust kann auch Niedergedrücktheit in uns hervorrufen, wenn wir uns etwa aufgrund eines Mangels an Besitztümern, verglichen mit der beneidenswerten Lage des Reichen, klein und armselig vorkommen. Neben der Sympathie im Sinne der Fähigkeit, die Gefühle anderer zu verstehen, ist es das Prinzip des Vergleichs, welches einen maßgeblichen Einfluss auf unser Gefühlsleben hat. Erst beide Prinzipien zusammen erlauben eine Prognose, welches Gefühl aufgrund der Struktur der Situation wahrscheinlich ist. Das Vergleichsprinzip ist ein fundamentales Prinzip der menschlichen Natur, welches in ganz verschiedenen Zusammenhängen zur Anwendung kommt. Auch unser Sinn für uns selbst, unser Selbstwertgefühl, hängt mit Vergleichen zusammen. 13 Dies ist beim Stolz bereits deutlich geworden. Neben Gegenständen und Handlungen als Ursachen werden ebenfalls die Reaktionen anderer Menschen auf die betreffenden Gegenstände und 13

Vgl. Postema 2006, 378. Zur Rolle von Sympathie und Vergleich siehe James 2005.

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Handlungen wahrgenommen, und es spielt für die eigenen Affekte eine Rolle, wie andere reagieren. Die Gefühle anderer wandern in die eigenen Reaktionen ein und beeinflussen so auch die Selbstwahrnehmung. Nun ist Hume kein ausgemachter Sozialtheoretiker des menschlichen Geistes, dem zufolge das Gesamtgefüge des Geistes sich ausschließlich aus intersubjektiven Beziehungen ergäbe. Die Konstitution des Geistes gründet in der Natur, was von Hume vielfach akzentuiert wird und auch für Gefühle gilt. Dies wird insbesondere in den Passagen des Traktats deutlich, in denen Hume sich mit Gefühlen bei Tieren beschäftigt, etwa mit Stolz und Niedergedrücktheit, Liebe und Hass bei Tieren (vgl. Τ II, 56-59, 133— 135). Verständlicher wird das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Hume den Tieren nicht nur Affekte, sondern auch Vernunft zuschreibt (vgl. Τ I, 237—240) und dass seine Beobachtungen zu Tiergefühlen außerordentlich anthropomorph sind (vgl. Τ II, 57). Die Überlegungen zu Gefühlen bei Tieren sprengen nicht die sozialtheoretische Ausrichtung der Gefuhlstheorie, sie sind vielmehr Humes grundsätzlicher Option für eine im weitesten Sinne ,naturalistische' Sicht der Dinge geschuldet. 14 Der Mensch ist ein Teil der Naturordnung und wie die Tiere durch diese Ordnung bestimmt. Die Bestimmtheit durch die Natur und deren Ordnung drückt sich unter anderem in den jeweiligen affektiven Dispositionen von Menschen, aber auch von anderen Organismen aus, in bestimmten Situationen so und so zu reagieren. Aber dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass Gefühle erst im Rahmen sozialer Beziehungen ihre vollständige Ausbildung erfahren. Denn Affekte können als die innere Organisationsform eines Wesens gelten, welches in seiner Natur durch soziale und kommunikative Beziehungen bestimmt wird. Sympathie und Vergleich müssen für die Gestaltungen der je eigenen Gefühle als maßgebliche Faktoren angesehen werden. Als natürliche Phänomene gehören diese von vornherein in einen sozialen Rahmen und ergeben sich nicht allein auf der Grundlage externer kausaler Einflüsse oder innerpsychischer Mechanismen. Stattdessen erhalten Gefühle als gestalthafte Ganzheiten erst im Rahmen sozialer und intersubjektiver Praktiken ihre endgültigen Konturen. Dies zeigt sich auch in Humes moralphilosophischen Überlegungen, die eng mit seiner Konzeption der Affekte zusammenhängen.

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Smith 1905.

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4. Gefühle, Normen, Moral Humes Analysen zu den Affekten in Buch II des Traktats lassen sich als Beiträge zu einer philosophischen Psychologie betrachten, sie können jedoch auch im Kontext seiner Handlungstheorie gelesen werden, die in Buch III entwickelt wird. Hume erkennt Gefühlen eine besondere Rolle im Zusammenhang mit Fragen der Handlungsmotivation zu. Außerdem hängen moralische Urteile wie beispielsweise jene des Billigens und Tadeins eng mit Gefühlen zusammen, Hume spricht sogar explizit von den Gefühlen der Billigung und des Tadels (vgl. Τ II, 331). Tugendhafte Handlungen werden beispielsweise mit Gefühlen wie Stolz und Liebe gebilligt, während lasterhafte Verhaltensweisen oder Eigenschaften mit Gefühlen wie Hass und Niedergedrücktheit getadelt werden. Hume zufolge unterliegen unsere gefühlsmäßigen Reaktionen auf Umstände, Situationen, Eigenschaften oder Handlungen normativen Kriterien, die letztlich auch das Reich der Moral betreffen. In der Tradition von Shaftesbury und Hutcheson bezeichnet Hume die Quelle dieser Kriterien als „sittlichen Geschmack" (Τ II, 334). Wer Geschmack besitzt, der urteilt und fühlt, wie man urteilen und fühlen sollte.15 Lassen sich die Kriterien dessen, der über Geschmack verfügt, seinerseits noch einmal rechtfertigen? Woher stammen diese Kriterien? Das ist ein Problem, welches sich Hume im Grunde genommen nicht stellt. An keiner Stelle im Traktat — und auch nicht in anderen Schriften — verfolgt er ein Rechtfertigungsprogramm für Normen, die dem Geschmack zugrunde liegen. Geschmack, so könnte man seine Idee erläutern, ist eine Art von impliziter Ubereinkunft innerhalb einer Gruppe. Allen Gruppen gemeinsam ist, dass sie überhaupt einen moralischen Sinn {moral sensé) ausbilden, und dass dieser auf der sozialen Struktur (Vergleich und Sympathie) zumindest aller indirekten Affekte beruht. Ohne diese gesetzmäßigen und deshalb natürlichen Beziehungen zwischen einzelnen Affekten besäße der moralische Sinn keine Verankerung in der menschlichen Natur, und genau diese ist es, die allzu große Abweichungen in der Ausbildung des moral sense verhindert. Anders als andere Philosophen sucht Hume nicht nach einem Beurteilungsprinzip für moralische Handlungen (wie nach ihm etwa Kant) oder nach Rechtfertigungsgründen der Moral (wie vor ihm zum Beispiel Hutcheson), die sich von der konkreten Motivationslage eines Individuums 15 Vgl. zum Folgenden auch Klemme 2007, 120ff.

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loslösen lassen. Gerechtfertigt sind moralische Urteile und Gefühle dann, wenn sie im Rahmen sozialer Beziehungen von anderen als angemessen angesehen werden. Gefühle (und Wünsche) motivieren uns zu unseren Handlungen und benötigen keine im engeren Sinn externen Instanzen zur Prüfung ihrer Richtigkeit oder Angemessenheit. Hume geht schlicht von der Beobachtung bestimmter Regelmäßigkeiten aus. So wie Regen regelmäßig dazu führt, dass die Straße nass wird, so rufen herausragende Besitztümer bei demjenigen, der sie besitzt, regelmäßig Stolz hervor, bei den anderen Bewunderung, Achtung oder Neid. Tugendhafte Handlungen werden regelmäßig gebilligt und mit Wohlwollen betrachtet, lasterhafte Handlungen werden verabscheut und missbilligt. Die Gleichförmigkeit solcher Reaktionen hängt Hume zufolge mit sozialen Bedingungen zusammen. Bereits unsere scheinbar unmittelbaren Eindrücke und Gefühlsreaktionen setzen Werte voraus, die auf der Grundlage der menschlichen Natur in einer sozialen Gemeinschaft erzeugt, stabilisiert und geteilt werden. 16 Man kann beispielsweise Situationen, in denen es angemessen ist, Stolz zu empfinden, von solchen unterscheiden, in denen das Gefühl des Stolzes unangemessen ist. Diese Unterscheidung lässt sich treffen, zunächst einmal ganz unabhängig von der Frage, welche Kriterien der Unterscheidung zugrunde liegen und wie sich diese Kriterien gegebenenfalls begründen lassen. Nehmen wir an, jemand empfindet große Lust beim Essen von Rinderrouladen. Nehmen wir weiter an, er selbst ist in der Lage, ein außerordentlich gutes Rouladengericht zuzubereiten. Die Lust beim Essen der Roulade führt ihn zu angenehmen Empfindungen, die auf ihn selbst bezogen sind, da er das Rouladengericht ja selbst gekocht hat. Er ist stolz darauf, die Rouladen zubereitet zu haben. Sollten Gäste zum Essen anwesend sein, die das Gericht loben, vielleicht sogar begeistert sind, wird dies dazu führen, den Stolz des Kochs zu verstärken. Bereits bei der Beurteilung einfacher Geschmacksempfindungen spielen Werte eine Rolle, die im Rahmen sozialer Kontexte zum Teil erzeugt, zum Teil stabilisiert werden. Ein Negativtest bestätigt dies. Sind andere der Meinung, das Rouladengericht sei kaum genießbar, empfinden sie vielleicht sogar Ekel, würde sich der Stolz des Kochs eigentümlich ausnehmen. Wahrscheinlich würde er in seinem Stolz irritiert werden und sein Gefühl revidieren.

16

Die entscheidende Anregung verdankt unsere Rekonstruktion Jessica Spector 2003.

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Damit Dinge oder Eigenschaften zum Anlass für Stolz werden können, müssen sie auch von anderen geschätzt werden. Welche Dinge und Eigenschaften im Einzelnen geschätzt werden und Stolz auslösen können, hängt von den Werten ab, die innerhalb eines bestimmten sozialen Milieus geteilt werden: Dabei stecken in der Gefühlsreaktion bereits Werte. Wenn jemand Stolz empfindet, weil er gerade durch eine Prüfung gefallen ist, würde dies allerorten auf Unverständnis stoßen; schlimmstenfalls würde diese Emotion als Ausdruck eines psychischen Defekts angesehen. Dass man durch eine Prüfung fällt, ist nichts, was den Stolz rechtfertigt. Es passt nicht in das sozial etablierte System der Werte, die Gefühlsreaktionen angemessen oder unangemessen machen. Stolz als angenehmes Gefühl bezogen auf sich selbst ist nur dann angemessen, wenn die Qualität des Objekts oder Sachverhalts, das bzw. der auf einen bezogen ist, erfreulich ist. Stolz auf etwas, das unerfreulich ist, ist strukturell nicht möglich. Der Umstand, dass alltags sprachlich einfachste Gefühlsregungen als „richtig" bzw. „falsch" bezeichnet werden können, deutet darauf hin, dass zumindest minimale normative Gesichtspunkte im Zusammenhang mit Gefühlsregungen relevant sind, auf deren Basis sich dann auch der „sittliche Geschmack" etabliert. Was für den Stolz gilt, trifft selbstverständlich auch für andere Gefühlsreaktionen zu, eben auch für diejenigen, die, wie die moralischen Reaktionen, mit dem Billigen und Tadeln von Handlungen und Verhaltensweisen einhergehen. Da alle Gefühlsreaktionen, insbesondere auch die Lust und Unlust, die durch die Billigung und Missbilligung von Handlungen entstehen, in ihrer Abhängigkeit von sozialen Umständen erörtert werden, drängt sich die Vermutung auf, Humes Konzept der Moral sei durch und durch relativistisch. Für Hume gibt es allerdings klare Grenzen der geografischen oder auch historischen Relativität der emotionalen Reaktionen von Menschen. Die Beantwortung der Frage nach der Angemessenheit von Gefühlen bedarf zwar eines sozialen Rahmens, die Gefühlsreaktion als solche ist allerdings eine natürliche Reaktion. [W]enn es je etwas gab, das [...] natürlich genannt werden könnte, so sind dies unsere sittlichen Gefühle, denn es hat niemals ein Volk [...] gegeben, das ganz ohne dieselben gewesen wäre [...]. Diese Gefühle wurzeln so tief in unserem Wesen und in unserem Gemüt, daß sie ohne gänzliche Vernichtung des menschlichen Geistes durch Krankheit oder Wahnsinn nicht ausgerottet und zerstört werden können (T II, 216).

Es ist gerade der im weitesten Sinne ,naturalistische' Einschlag der Überlegungen Humes, der ihn zu allgemeinen Annahmen über das Wesen des

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Menschen nötigt. Die Natur sorgt dafür, dass die Menschen weitgehend gleich, auf jeden Fall aber ähnlich sind. Gefühlsreaktionen im Allgemeinen sind ebenso wie moralische Gefühlsreaktionen keine kontingenten Zustände, sondern sie sind wesentlich mit der Unterstellung verbunden, dass andere mit unseren eigenen Reaktionen übereinstimmen, dass sie in Anbetracht einer bestimmten Handlung oder Verhaltensweise in der gleichen Weise wie wir mit denselben Gefühlen wertend Stellung beziehen. Der „moralische Sinn", von dem Hume spricht, kann deshalb als eine Art Sinn für Angemessenheit bezeichnet werden, und er ist — ebenso wie die Emotionen im engeren Sinne — notwendig an einen sozialen Rahmen gebunden, der seine jeweils spezitische inhaltliche Prägung hervorbringt. Aber innerhalb dieses Rahmens unterstellen wir wenigstens im Prinzip ähnliche Urteile, und selbst, wenn sie im Einzelnen strittig sein mögen, so ist eine Auseinandersetzung darüber doch nur möglich auf der Basis geteilter Gemeinsamkeiten — anderenfalls wäre Verständigung und Argumentation prinzipiell sinnlos. Die oft aufgeworfene Frage, ob Hume als Relativist oder als Universalist zu bezeichnen ist, ist eigentlich falsch gestellt, denn es geht Hume nicht um eine Geltung oder Rechtfertigung moralischer Urteile außerhalb der Situation, auf die sie bezogen sind. Er verteidigt weder einen relativistischen noch einen universalistischen Standpunkt in der Moralphilosophie; im Traktat lassen sich aber sowohl Belege dafür finden, dass moralische Urteile abhängig von der sozialen und kulturellen Situation sind, in der sie gefällt werden, als auch dafür, dass kulturelle Differenzen nur auf der Basis der Ähnlichkeit aller Menschen und der Gemeinsamkeit der menschlichen Natur verständlich sein können. Daraus folgt, dass kulturellen Varianten bestimmte Grenzen gesteckt sind. Um den Gedanken einer Ubereinkunft in den Gefühlsreaktionen zu stützen, bemüht Hume ein weiteres Mal den Begriff der Sympathie. Eine Funktion der Sympathie besteht darin, Sachverhalte in einer allgemeinen Perspektive zu betrachten und von eigenen Partikularinteressen abzusehen. Die allgemeine Perspektive ist zwar nicht unbedingt die Perspektive aller, aber doch zumindest die Perspektive vieler, was Hume dadurch zum Ausdruck bringt, dass er die Figur eines „gerechten Betrachters" einführt, der vor allem diejenigen Handlungen billigt, die das „Wohl der Menschheit" befördern (vgl. Τ II, 334). Der Sache nach handelt es sich hierbei um jenen „unparteiischen Beobachter", der in der Moraltheorie von Adam Smith eine zentrale Rolle spielt. Bei Smith17 soll diese Fiktion ermöglichen, 17

Vgl. den Beitrag von Christian Strub in diesem Band.

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moralische Urteile kontextunabhängig zu treffen. Auch bei Hume hat die Figur des „gerechten Betrachters" die Funktion, die mögliche Subjektivität von Urteilen, die auf Gefühlen basieren, abzumildern hin zu der Idee eines gemeinsamen Interesses aller oder doch vieler. Trotz Humes Einsicht in die soziale Relativität von Werten, die damit zusammenhängt, dass Gefühlsreaktionen sich im Rahmen sozialer Praktiken etablieren, ist von vornherein eine gegenläufige Tendenz in seine Überlegungen eingearbeitet, die sich aus der Gleichförmigkeit von Gefühlsreaktionen ergibt und sich der menschlichen Natur verdankt.

Literatur Humes Treatise of Human Nature wird zitiert nach der deutschen Ausgabe Ein Traktat über die menschliche Natur; übersetzt von Theodor Lipps und herausgegeben von Reinhard Brandt — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist T. Alanen, Ulli (2006), The Powers and Mechanisms of the Passions, in: Saul Traiger (Hg.), The Blackwell Guide to Hume's Treatise, Oxford, 179-198. Baier, Annette (1982), Hume's Account of our Absurd Passions, in: The Journal of Philosophy LXXIX, 643-651. Broughton, Janet (2006), Impressions and Ideas, in: Saul Traiger (Hg.), The Blackwell Guide to Hume's Treatise, Oxford 2006, 43-58. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (2007), Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart. Fieser, James (1992), Hume's Classification of the Passions and Its Precursors, in: Hume Studies VIII, 1—17. Hume, David (1985, zuerst 1739/1740), Treatise of Human Nature, hg. von Lewis Amherst Selby-Bigge/Peter H. Nidditch, Oxford. — (1978, engl, zuerst 1739/1740), Ein Traktat über die menschliche Natur, übers, von Theodor Lipps und hg. von Reinhard Brandt, Hamburg (=Ί)· — (1991, zuerst 1757), Four Dissertations and Essays on Suicide and the Immortality of the Soul, Bristol. - (1994, zuerst 1734), A Kind of History of my Life, in: David Fate Norton (Hg.), The Cambridge Companion to Hume, Cambridge, 345—350. - (1932), The Letters of David Hume, 2 Bde, hg. von John Y.T. Greig, Oxford 1932. James, Susan (2005), Sympathy and Comparison: Two Principles of Human Nature, in: Marina Frasca-Spada/P. J. F. Kail (Hg.), Impressions of Hume, Oxford, 107—124. Klemme, Heiner F. (2007), David Hume ^ur Einführung, Hamburg. Norton, David Fate (Hg.) (1994), The Cambridge Companion to Hume, Cambridge. Postema, Gerald J. (2006), Whence Avidity? Hume's Psychology and the Origins of Justice, in: Synthese 152, 371-391. Smith, Norman (1905), The Naturalism of Hume, in: Mind 54, 149-173, 335-347. Spector, Jessica (2003), Value in Fact: Naturalism and Normativity in Hume's Moral Psychology, in: Journal of the History ofPhilosophy 41/2, 145—163. Traiger, Saul (Hg.) (2006), The Blackwell Guide to Hume's Treatise, Oxford.

Adam Smith (1723-1790)

Smith: Sympathie, moralisches Urteil und Inter e s s elo sigkeit Christian Strub Adam Smiths Reflexionen über Gefühle finden sich in seinem Werk Theorie der moralischen Gefühle (Theory of Moral Sentiments).1 Im Folgenden werden drei Themenkomplexe behandelt, die nicht nur für Smiths gefühls ethischen Ansatz, sondern auch für eine allgemeine Theorie der Gefühle zentral sind: Wie verhält sich ein Gefühl zu seiner Beurteilung (1); was heißt es, an Gefühlen anderer Anteil zu nehmen (2)?; nach welchen Kriterien kann man ein Gefühl als der Situation, auf die es Bezug nimmt, angemessen oder unangemessen beurteilen (3)? Auf den smithschen Ansatz bezogen geht es (1) darum, dass er zwischen Sympathie mit und moralischer Beurteilung von einem Gefühl trennen muss; (2) um sein Konzept der Sympathie als Mitgefühl mit jeder Art von Affekten; 2 (3) um sein Konzept des unparteiischen Zuschauers. 3 1

2

3

Die Theory of Moral Sentiments erschien zuerst 1759; in der 6., von Smith selbst noch revidierten Auflage 1790. Uber das Verhältnis der Auflagen zueinander geben erschöpfend Auskunft Raphael und Macfie in der Introduction zu ihrer kritischen Ausgabe von TMS 34—46 und Walther Eckstein in seiner deutschen Ubersetzung 277—281; die Abweichungen der verschiedenen Auflagen voneinander sind sowohl im englischen Text der kritischen Edition als auch bei Eckstein mittels Anmerkungen angegeben. Ich benutze im Folgenden die Ausdrücke „Gefühl" und „Affekt" ohne Bedeutungsdifferenz, weil sie auch in der deutschen Übersetzung so benutzt werden. Dies ist Smiths undifferenziertem Gefühlsvokabular geschuldet. A m häufigsten benutzt er feeling, es folgen passion, a f f e c t , affection, emotion. Die Auswahl sollte für jemanden, der auch nur oberflächlich mit TMS vertraut ist, keine Überraschung sein. Die systematische Verbindung der drei Themenkomplexe habe ich freilich so zu gestalten versucht, dass implizit klar wird, worin sich Smiths Theorie von der ihr ähnlichsten, der seines Lehrers Hutcheson, unterscheidet. Smiths Argumente gegen Hutcheson finden sich in TMS VII.iii.13 und 14. Er stellt Hutchesons Theorie in VII.ii.3.3-14/503-506 und VII.iii.3.411/535-540 dar. Mohr 2005 hat Smiths Theorie aus dieser Perspektive rekonstruiert. — Smith wurde „vielleicht der bedeutendste [Ethiker] seit Aristoteles" genannt (Falke 2006, 38); zumindest, was die Vielfalt der von ihm diskutierten

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Í. Sympathie und moralische Beurteilung (1.) Gegenstand moralischer Billigung und Missbilligung, kurz: moralischer Beurteilung ist eine — über einzelne Situationen hinausgehende — konstante „Gemütsverfassung" und „Art des Verhaltens" (TMS VII.i.2/ 448) eines Menschen, also sein „Charakter". Zu Beginn von TMS erhält man eine andere Antwort: Gegenstand moralischer Beurteilung ist die einzelne emotionale Bezugnahme einer Person 1 auf eine Situation s, in die sie involviert ist. Es widerspricht zunächst dem smithschen Ansatz nicht, Charakter als die typische Summe aller einzelnen emotionalen Bezugnahmen auf verschiedene Situationen zu bestimmen (siehe aber unten (16.)). (2.) Hinsichtlich des Prozesses, an dessen Ende die moralische Beurteilung einer solchen emotionalen Bezugnahme auf Situation s steht, beginnt Smith seinen Text mit einer starken These über das Interesse von Personen an dem, was anderen Personen widerfährt. Jeder Mensch, so Smith, nimmt von Natur aus Anteil am Schicksal anderer. Als Beispiel führt er „das Erbarmen oder das Mitleid" an; an ihm soll klar werden, dass ausnahmslos jeder Mensch — auch „der ärgste Rohling" — an dem, was anderen Menschen widerfährt, Interesse nimmt. Anhand dieses Beispiels beschreibt Smith in I.i. 1.2 und I.i.1.3/2—4 die Prozedur, die notwendig ist, um mit anderen Sympathie zu empfinden (siehe unten Abschnitt 2). Das Schlüsselwort für die Definition der Sympathie taucht in der unthematischen Ersetzung von „pity or compassion" durch „fellow feeling for the misery of others" in I.i.1.3 auf. Zu Beginn von I.i. 1.4 wird die entscheidende Verallgemeinerung vorgenommen, die den ersten Satz des Kapitels legitimiert: Gleichgültig, welches Gefühl in einer Person erregt wird, „stets wird in der Brust eines jeden aufmerksamen Zuschauers [siehe dazu Abschnitt III, C. S.] bei dem Gedanken an die Lage des anderen eine ähnliche Gemütsbewegung entstehen". Allgemein gilt: (S) „Bei allen Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, entsprechen die GemütsbewegunThemen angeht, steht er Aristoteles nicht nach. Die hier behandelten drei Themen sind zwar für die Charakterisierung der smithschen Theorie sicher unverzichtbar (und im Einzelnen auch in der Forschung schon oft behandelt worden), ihre Behandlung gibt aber keinen Eindruck vom Reichtum von TMS insgesamt; hier hilft nur eigene Lektüre. Zur Orientierung können dem deutschen Leser die Überblicksdarstellungen in Ballestrem 2001, 57-94 und Ballestrem/Brühlmeier 2004, 559—561, 568—575 empfohlen werden. Der sehr gute Sammelband von Fricke/Schütt 2005 behandelt die wesentlichen Themen von TMS, setzt aber die eigene Lektüre voraus; vgl. Strub 2007. Uberblicke über die neuere Literatur geben Darwall 1999 und Reitz 2002.

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gen des Zuschauers immer dem Bilde, das dieser sich von den Empfindungen des Leidenden macht, indem er sich in dessen Fall hineindenkt." (Li. 1.4/4) Die Definition von Sympathie ist damit sehr einfach: Sie ist ein „Mitgefühl mit jeder Art von Affekten" (fellow-feeling with any passion whatever) (I.i. 1.5/4). Smith unterscheidet ferner zwischen „vollkommener" und „unvollkommener" Sympathie: Die gleichsam natürliche Sympathie ist „unvollkommen"; „vollkommen" ist sie erst dann, wenn man die „Ursachen" der Affekte, mit denen man sympathisiert, kennt, wenn man weiß, welche Faktoren in der Welt diesen Affekt ausgelöst haben. Die Gesamtheit der Faktoren, die bei einer Person einen Affekt bewirken, nennt Smith „Situation". Deshalb gilt: „Sympathie entspringt also nicht so sehr aus dem Anblick des Affekts, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst" (Li. 1.9 und 10/6f.).4 Nach (S) müsste jede emotionale Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, in die sie (Person 1) involviert ist (im Folgenden: E-l), kausal einen entsprechenden sympathetischen Affekt, ein fellow-feeling bei Person 2 (im Folgenden: E-2) erzeugen — und dies nicht nur im Fall der unvollkommenen Sympathie, bei der man die Ursachen von E-l nicht (genau) kennt, sondern auch bei genauer Ursachenkenntnis. Dies ist freilich doch eine zu „mechanistische" Theorie. 5 Wie würde eine alternative Theorie aussehen? (3.) Wenn die ursprünglichen Affekte desjenigen, der durch ein Ereignis in erster Linie betroffen wird [=E-1], mit den sympathetischen Gemütsbewegungen des Zuschauers [=E-2] in voller Übereinstimmung stehen, dann werden sie notwendig diesem letzteren als richtig und schicklich und als ihren Anlässen angemessen erscheinen; und umgekehrt, wenn dieser sich in den Fall hineinzudenken sucht und dabei findet, daß diese Affekte nicht mit dem übereinstimmen, was er selbst fühlt, dann erscheinen sie ihm notwendig als unrichtig und unschicklich und als den Ursachen unangemessen, die sie hervorrufen. (I.i.3.1/14)

Person 2 muss also herausfinden, ob ihre eigenen Affekte hinsichtlich Situation s die gleichen sind wie die der unmittelbar betroffenen Person 1.

4 5

Haakonssen 1981, 45f. sieht hier die wesentliche Erweiterung gegenüber Hume. Vgl. auch deutlich Rolf 2005, 39. Vgl. Sugden 2005, 73. Smith weist auf Fälle hin, in denen eine solche Kausalität nicht existiert: 1. Es geht nicht um die reale Emotion von Person 1, sondern um die Emotion, die wir als situationstypisch erlernt haben und deshalb bei dieser Person voraussetzen dürfen; ob sie diese wirklich hat oder nicht, ist sekundär (I.i.1.10/7). 2. Wir sympathisieren auch mit Toten, d. h. stellen uns ihr elendes Leben vor (I.i.l.l3/8fi); vgl. Haakonssen 1981, 46.

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Hier kann der Begriff der Sympathie ersetzt werden durch „direkte emotionale Bezugnahme auf dieselbe Situation". Ob der materiale Gehalt dieser emotionalen Bezugnahme E-2 derselbe ist wie der von E-l oder nicht, ist dabei offen. Man kann zwar sagen, dass Person 2 E-2 nicht gehabt hätte, wenn nicht Person 1 E-l (geäußert) hätte; aber keinesfalls hat die Art und Weise, wie Person 1 sich emotional auf eine Situation s bezieht, irgendeinen direkten Einfluss darauf, wie Person 2 sich emotional auf diese Situation bezieht; man muss also eine Unabhängigkeit beider Bezugnahmen ansetzen. Wenn Person 2 feststellt, dass sie die gleiche emotionale Bezugnahme auf Situation s entwickelt wie Person 1 (wenn also E-l = E-2), dann billigt sie die emotionale Bezugnahme von Person 1; wenn sie feststellt, dass sie nicht die gleiche emotionale Bezugnahme entwickelt, dann missbilligt sie diese emotionale Bezugnahme von Person 1. Das einzige Person 2 zur Verfügung stehende Kriterium, um über die Angemessenheit und Unangemessenheit von E-l urteilen zu können, ist ihr eigener Affekt E-2; es gibt keine affekttranszendente Bezugnahme auf eine Situation (vgl. I.i.3.10/19). 6 (4.) Aus der Gegenüberstellung von (2.) und (3.) ergibt sich ein Problem. Nach (3.) muss die Instanz des Billigens und Missbilligens vollständig von der emotionalen Instanz der Sympathie getrennt werden: Es gibt zwei Arten von emotionaler Bezugnahme auf eine Situation s, aus deren Vergleich durch Person 2 deren moralisches Urteil erwächst. Dann ist aber die Eigentümlichkeit des smithschen Ansatzes, wie er in (2.) beschrieben wurde, nämlich von vornherein zwischen zwei verschiedenen Typen von emotionalen Bezugnahmen zu unterscheiden, dem direkten Affekt für eine Situation s (durch Person 1) und dem sympathetischen Affekt für diesen direkten Affekt (durch Person 2), verloren: Es gibt nur noch eine Klasse von emotionalen Bezugnahmen auf Situationen, und zwischen zwei Exemplaren dieser Klasse wird durch Person 2 verglichen; Ergebnis dieses Vergleichs ist das moralische Urteil von Person 2. Umgekehrt ist aus (2.) nicht zu ersehen, wo eine Beurteilung von E-l durch Person 2 herkommen sollte: Entweder stammt sie aus einer Instanz, die unabhängig vom sympathetischen Affekt ist, dann wäre man wieder bei Fall (3.), oder aber sie ist dem sympathetischen Affekt gleichsam implizit — dann müsste aber die Struktur dieses sympathetischen Affekts so beschrieben werden können, dass er sowohl billigend als auch missbilligend sein kann. Nach 6

Dies gegen Haakonssen 1981, 47, der die Situationsbeurteilung für notwendig „open to the public view" hält; vgl. richtig Rühl 2005, 179.

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(2.) scheint es aber, dass Sympathie und Billigung zusammenfallen; Missbilligung kann hier keinen systematischen Ort haben. 7 Smith kann also nicht ausreichend zwischen Sympathie und moralischer Beurteilung (und damit der Differenz zwischen Billigung und Missbilligung im moralischen Urteil) unterscheiden. Die Billigung bzw. Missbilligung darf dem, woraus sie entspringt, also dem sympathetischen Nachvollzug von E-l durch Person 2, weder völlig fremd noch zu nahe sein. Um das Problem zu lösen, soll folgende, erst einmal recht formelhafte These vertreten werden: Die vergleichende Bezugnahme auf E-l und 7

Als erster hat wohl Haakonssen 1981, 51 auf das Problem aufmerksam gemacht; für mich völlig unbefriedigend „löst" er dieses Problem in typisch analytischer Manier durch die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen von „Sympathie". Sehr dezidiert ist hier Rolf 2005, der behauptet, „dass im Gefühl der Sympathie ein Urteil über die Angemessenheit dieser Reaktion enthalten ist" (39): „Mit den Affekten eines anderen zu sympathisieren heißt (!), diese Affekte zu billigen, nicht mit ihnen zu sympathisieren heißt, sie zu missbilligen." (40, vgl. 41: „Billigung, die im Gefühl der Sympathie gegeben ist"). Sugden 2005, 76 hat das Problem genau gesehen: „Für Smith ist die Psychologie des Mitgefühls und der Übereinstimmung von Empfindungen eng mit derjenigen der Billigung und Missbilligung verbunden." Leider spielt er die Brisanz des Problems für den gesamten smithschen Ansatz herunter, wenn er umstandslos davon spricht, dass Smith mit „Sympathie" immer nur eine „partielle Identifikation" mit dem anderen gemeint habe — die dann Luft zum eigenen Urteil lasse: „Wenn Joe in seiner Vorstellung den Platz mit Jane tauscht, nimmt er genügend eigene Charaktereigenschaften mit, um sich fragen zu können, ob seine Gefühle in Janes Situation dieselben wären wie ihre. Missbilligung ist nur möglich, weil die Antwort hierauf negativ sein kann." (77, vgl. 78 Anm. 7) Das Folgende ist der Versuch, eine solche „partielle Identifikation" nicht einfach als Faktum anzunehmen (vgl. Sugden 2005, 79), sondern ihre Notwendigkeit als dem smithschen Sympathiekonzept inhärent zu erweisen. Gelänge dies, ergäben sich weitreichende Konsequenzen für die smithsche Auffassung von Vernunft und Gefühl. Wie Rühl 2005 richtig sieht, ist Smith einerseits abhängig von Humes Konzept der Vernunft als Diener der Affekte: Vernunft kann Affekte explizieren, niemals aber ein eigenständiger Faktor im Kampf der Affekte selbst sein (vgl. Hume, Treatise on lìuman Nature 11,3,3); das Sympathiegefühl ist bei Smith dann ein „Korrekturaffekt", der „die Stelle ein[nimmt], deren Platz bei Piaton, Aristoteles und Stoa die Vernunft einnimmt": „Gemäß seinen humeschen Prämissen kann aber immer nur ein Affekt einen anderen Affekt hemmen. Dieser Affekt ist die Sympathie" (Rühl 2005,176f). Andererseits aber scheint Smith — und das übersieht Haaakonssen 1981, 45—52 völlig, wenn er Smiths Sympathiekonzept nur als Erweiterung des humeschen begreift — Sympathie so auffassen zu wollen, dass sie der Affekt ist, der, wohl als einziger, distanzierende Kraft hat — und damit die Möglichkeit der wohlwollenden Nichtidentifikation mit den Affekten anderer, d. h. der Missbilligung. Insofern ist Sympathie, in klassischer Terminologie gesprochen, ein Zwitter aus Emotion und Vernunft.

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auf dessen sympathetischen Nachvollzug in E-2 darf weder so beschrieben werden, dass das Verglichene %um Objekt, %um Thema des Vergleichenden gemacht wird, noch so, dass eines der beiden Verglichenen, nämlich E-l, das Ergebnis des Vergleichs determiniert. Man kann also nicht mit jemandem sympathisieren und das, womit man sympathisiert, also E-l, auch nicht billigen bzw. missbilligen. Eine moralische Bezugnahme ist eine Bezugnahme, die in eins mit etwas sympathisiert und sich zu dem, womit sie sympathisiert, beurteilend verhält. Das sympathetische Gefühl muss zunächst einmal indifferent gegenüber Billigung und Missbilligung sein — aber so, dass es eines von beiden erzwingt. 8 Die Frage, wie die Differenz zwischen Sympathie und Billigung bzw. Missbilligung zu denken ist, soll durch die Erläuterung des smithschen Sympathiekonzepts beantwortet werden.

2. Sympathie — diesseits von Eigen und Fremd. Nichtinvolviertsein in eine Situation (5.) Der Sympathisierende muss sich, so Smith, bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des [Glückes oder] Unglückes nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann. Er muß die ganze Angelegenheit seines Gefáhrten mit allen ihren noch so unbedeutenden Zwischenfällen gleichsam zu seiner eigenen machen und trachten, jenen in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation, auf welchen sich seine Sympathie gründet, so vollständig als möglich zu gestalten. (I.i.4.6/23) 9 8

9

Lohmann 2005, 91f. spricht treffend vom „impliziten Urteilsgehalt des sympathetischen Billigens" (und man sollte hinzufügen: „IVIissbilligens"). Zum Verhältnis von Gefühl und Urteil vgl. auch gut Falke 2006, 43-48. Diese smithsche Beschreibung der Sympathie schließt einen Ansatz wie den von Darwall 1998 aus, der — dem aktuellen common sense folgend (vgl. Sugden 2005, 70—72) — von einer strikten Trennung zwischen Empathie und Sympathie ausgeht: „Empathy can be consistent with the indifference of pure observation or even the cruelty of sadism. It all depends on why one is interested in the other's perspective. Sympathy, on the other hand, is felt as from the perspective of,onecaring'." (261) Entgegen Darwalls Behauptung 262 geht es weder bei Smith noch bei Hume um „empathy im definierten Sinn, sondern immer nur um „sympathy". Vgl. richtig Rühl 2005, 178: „Sympathie im Sinn von Smith ist demgegenüber immer ein Mitgefühl des Betrachters in Harmonie mit dem ursprünglichen Gefühl des Betroffenen." Das Problem, mit dem ich mich — behauptend, dass es auch Smiths zentrales Problem ist — hier beschäftige, ist nicht, wie bei Darwall, die Frage, was sich kategorial ändern muss, damit aus einer empathischen eine

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Smith warnt uns, was „die ganze Angelegenheit zu seiner eigenen machen" nicht heißen kann: Wenn ich mit dir Beileid empfinde, weil du deinen einzigen Sohn verloren hast, und ich deinen Kummer nachzufühlen trachte, dann überlege ich nicht, was ich, ein Mensch von dieser bestimmten Stellung und diesem bestimmten Beruf, erdulden würde, wenn ich einen Sohn hätte und dieser unglückseligerweise stürbe, sondern ich überlege, was ich erdulden würde, wenn ich wirklich du wäre, und ich tausche nicht nur meine Verhältnisse mit den deinen, sondern ich tausche auch die Person und die Rolle mit dir. Ich empfinde darum meinen Kummer durchaus nur um deinetwillen, nicht im mindesten um meinetwillen. (VII.iii.1.4/528f.)

Dennoch kann Sympathie nicht eine Art Verdoppelung der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, also E-l sein. Am Anfang von TMS macht sich Smith Gedanken über unsere Sympathie mit dem Unglück von Geisteskranken, Kindern und Toten (I.i.1.11—13/7—9). Dies sind für ihn Fälle, in denen klar wird, dass unsere Sympathie mit E-l nur daraus entspringen kann, dass wir unsere eigenen Affekte nicht aufgeben, sondern sie sozusagen in die Person, mit der wir sympathisieren, hineinlegen (I.i.1.13/9). Mit Sympathie kann also nicht die Verdoppelung von E-l in uns selbst gemeint sein; aber der Sympathisierende kann auch nicht Gefühle haben, die daraus erwachsen, dass er sich vorstellt, wie er in der gleichen Situation s, in der der andere sich befindet, mit seinen Affekten gehandelt hätte — dies wäre gleichsam eine rückwirkende Verdoppelung von E-2. (6.) (5.) versuchte eine Bestimmung der Sympathie entlang des Begriffspaars von „eigen" und „fremd" zu geben: Wie viele eigene Affekte dürfen in der Sympathie eine Rolle spielen und wie viele fremde Affekte müssen übernommen werden? 10 Mit Smith sollte man hingegen zu denken versuchen, dass die Begriffe „eigen" und „fremd" gegenüber dem Sympathiekonzept sekundär sind. Man kann mit diesem Begriffspaar allerdings per negationem beschreiben, was Sympathisieren heißt: Es heißt, von sich selbst vollständig absehen und trotzdem die Vielfalt und Komplexität seiner eigenen Affekte ohne Rückhalt ins Spiel bringen. Oder: Sympathisieren heißt, nur den anderen mit der ganzen Vielfalt und Komplexität seiner Affekte in den Mittelpunkt stellen und dies trotzdem so tun, dass klar ist, dass es neben den Affekten des anderen auch die eigenen gibt.

10

sympathische Bezugnahme auf andere Personen wird, sondern, wie sympathische Bezugnahmen so beschrieben werden können, dass sie nicht zu fürsorglich werden. Gleichwohl sind Darwalls Ausführungen systematisch äußerst anregend für die folgenden Überlegungen gewesen. Siehe auch unten Anm. 19. Vgl. Haakonssen 1981, 48f. und Sugden 2005, 77-79.

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(7.) Im Anschluss an (4.) soll das Sympathieproblem nochmals unter dem Begriffspaar von Objekt und Subjekt, Thema und Bezugnahme reformuliert werden. Es ist der Vorteil der Formulierung des Sympathiekonzepts mittels der Thematisierungsrelation, dass in ihr klar zwischen zwei Personen getrennt wird, ohne dass die eine oder die andere verschwände: Person 2 bezieht sich auf ein deutlich von ihr Getrenntes, nämlich E-l; E-l ist ihr Objekt, ihr Thema. Völlig unbefriedigend ist dabei freilich, dass die Thematisierung des Affekts eines anderen zwar vielleicht im Modus eines neuen Affekts von Person 2 vonstatten geht — wie es ja für den sympathetischen Affekt zu fordern ist —, aber nicht klar ist, dass dieser Modus einer des fellow-feeling sein muss. Deshalb ist zu fordern, dass die Bezugnahme auf den Affekt von Person 1 ein intrinsischer Teil des sympathetischen Affekts von Person 2 sein muss — aber so, dass diese Bezugnahme nicht als Thematisierung verstanden werden darf. (8.) Die entscheidende Differenz zwischen einer Person 1, die sich unmittelbar auf eine Situation s bezieht und damit in diese Situation verstrickt, involviert ist und E-l erzeugt, und Person 2, für die dies nicht der Fall ist, wird von Smith schon gleich zu Beginn von TMS eingeführt. Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, dass wir uns vorzustellen versuchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. (I.i.1.2/2)

Smith beginnt I.i.4.6 nochmals mit dem Gebot, sich in den anderen hineinzuversetzen, fährt dann aber in I.i.4.7 mit einem „indessen" fort: „Der Gedanke, daß sie [die nicht in die Situation Involvierten, C. S.] selbst sich in Sicherheit befinden, der Gedanke, daß sie selbst nicht wirklich die Teidenden sind, drängt sich ihnen immer wieder auf." Schließlich heißt es: ,,[D]enn das geheime Bewußtsein davon, daß doch der Wechsel der Situationen, aus dem das Sympathiegefühl entspringt, nur ein eingebildeter ist, muß das Mitgefühl nicht nur dem Grade nach herabsetzen, sondern es auch in seiner Art verändern und ihm eine gan^ andere Beschaffenheit verleihen." (24) Das Dilemma zwischen Ahnlichkeitsbehauptung und kateogrialer Differenz ist hier ganz offensichtlich: Werden beide Gefühle zu ähnlich, kollabieren sie tendenziell in eine Identität, werden sie als kategorial verschieden gedacht, ist nicht zu sehen, wie sie so zusammenhängen sollen, dass aus ihnen eine moralische Beurteilung entstehen kann. (9.) Die Schwierigkeit, aber auch die Raffinesse des smithschen Ansatzes liegt darin, dass er die Eigenschaft der Distanziertheit der Sympathiegefühle nicht als ein pures Faktum beschreibt, das auch von jemand Drit-

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tem zu bemerken wäre, sondern als eine Eigenschaft, die zunächst einmal nur derjenige, der sympathisiert, kennt. Dies ist dann nicht mehr trivial, wenn man den Begriff des Interesses ins Spiel bringt. In Li.4 unterscheidet Smith zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Bezugnahmen auf Gegenstände und Situationen der Welt: [E]rstens, wenn die Gegenstände, welche diese Gefühle hervorrufen, an sich betrachtet werden und ohne Rücksicht auf die Beziehung, in welcher sie zu uns oder zu der Person stehen, deren Empfindungen wir beurteilen, oder zweitens, wenn sie gerade mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren (I.i.4.1/19).

Im ersten Fall geht es um einen „theoretischen" Bezug auf die Welt — nicht um einen emotionslosen, aber einen solchen des ästhetischen Geschmacks und der Urteilsfähigkeit; es geht um die „allgemeinen Objekte der Wissenschaft und des Geschmackes" (Li.4.2/20). Hier ist, wie Smith ausdrücklich betont, keine Sympathie mit anderen Personen, die einen Gegenstand oder eine Situation beurteilen, im Spiel, sondern hier geht es allein um die Angemessenheit des Urteils der anderen Person. Deshalb hat auch die Tatsache, dass es zwischen zwei Personen Diskrepanzen in der theoretisch-ästhetischen Beurteilung gibt, keine Auswirkungen auf die Einschätzung der entsprechenden Person als Person durch die andere Person — oder sollte sie jedenfalls nicht haben (I.i.4.5/22f.). Anders verhält es sich im zweiten Fall, „wenn [die Gegenstände] gerade mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren". In diesem Fall wünschen wir als Betroffene aus ganzem Herzen nicht nur die Sympathie anderer, sondern auch die moralische Billigung unserer E-l durch andere. Dieser Wunsch ist aber trivialerweise nur erklärlich, wenn wir um die Möglichkeit wissen, dass andere Menschen unsere E-l eben auch nicht billigen können (vgl. Li.4.5/23). (10.) Smith erklärt uns die Möglichkeit einer Beurteilung11 von E-l, die nicht einfach billigende Verstärkung der Sympathie (E-2) ist, nicht. Der folgende Gedankenschritt ist also als eine Art „Konjektur" zu betrachten. Der Modus der emotionalen Distanziertheit scheint eine weitergehende Schlussfolgerung zuzulassen. Personen müssen sich bei Bezugnahmen, in denen Situationen „mit Rücksicht darauf betrachtet werden, wie sie den einen oder anderen von uns beiden berühren" (I.i.4.1/19), immer interessengebunden auf etwas richten. Täten sie es nicht, befänden sie sich nicht im Bereich der Moral, sondern in dem der Theorie bzw. Ästhetik. Wenn ein interessegell

Ich lasse das Prädikat „moralisch" für die hier zu besprechende Beurteilung aus gleich einleuchtenden Gründen weg.

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bundener Bezug auf eine Situation s mit Interessen anderer Personen zuammentöfft — und das tut der sympathisierende Bezug E-2 per definitionem, denn er bezieht sich notwendigerweise auf einen anderen interessegebundenen Bezug auf eine Situation s, nämlich E-l — dann sind zwei Interessen im Spiel. Wenn das Interesse von Person 2 wirklich ein ernsthaftes Interesse ist, dann hat Person 2 in eins damit ein Interesse, sich dieses Interesse nicht von dem Interesse von Person 1 durchkreuzen zu lassen, d. h. das Interesse, die Chancen auf Erfüllung des eigenen Interesses durch das Interesse des anderen bestenfalls zu steigern, keinesfalls aber hinzunehmen, dass die Chance der Erfüllung des eigenen Interesses gemindert wird. Die eigenen ernsthaften Interessen sind jemandem immer näher als die Interessen anderer. Genau der Ausdruck dieser prinzipiellen Interessenwahrung geschieht in der Beurteilung von E-l, d. h. dem Billigen oder Missbilligen. Die Beurteilung von E-l ist zunächst einmal nichts anderes als ein Instrument der Stärkung bzw. Verhinderung der Schwächung der Erfüllungschancen der eigenen Interessen. Deswegen fällt sie entweder billigend — nämlich für den Fall, in dem das Eigeninteresse durch das sich in E-l bekundende Interesse bestärkt wird — oder missbilligend — für den entgegengesetzten Fall — aus. Womit erklärt wäre, wie die faktisch notwendige Zusammengehörigkeit, aber die analytisch mögliche Trennung von Sympathie und Beurteilung möglich ist, und auch erklärt wäre, warum es zwei Typen von Beurteilungen, nämlich Billigung und Missbilligung gibt. Die Distanz dessen, der mit der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s, also E-l, sympathisiert, muss wirklich so gedacht werden, dass sie die Bedingung der Möglichkeit für ein billigendes oder missbilligendes Urteil ist. Erst sie lässt den Raum, sich auf eigene Interessen zu besinnen. Interessen hat natürlich auch schon der, der sich direkt emotional auf eine Situation s bezieht, in die er involviert ist; aber er hat keine Möglichkeit, sie mit den Interessen anderer zu vergleichen. Das hat erst derjenige, der sich in Distanz zur Situation s befindet. Und erst aus einem solchen Vergleich erwächst die Notwendigkeit des Urteils.

3. Der moralische Standpunkt: Begehren nach Billigung durch den „unparteiischen Zuschauer" (11.) Personen nehmen bis jetzt nur ihre eigenen Interessen wahr und gleichen sie mit denen anderer Personen ab; Vorbedingung dafür ist wechselseitige Sympathie. Noch kein moralischer Standpunkt, aber wenigstens seine

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über den wechselseitigen Interessenabgleich hinaus notwendige Vorbedingung kommt in dem Moment ins Spiel, in dem man sich der neben der Voraussetzung der allgemein menschlichen Sympathiefähigkeit der zweiten anthropologischen Voraussetzung Smiths zuwendet: dem Bedürfnis — nicht nach Sympathie, sondern — nach Billigung der eigenen emotionalen Bezugnahmen auf Situationen durch andere Menschen. Jemand, der sich bemüht hat, eine Gesellschaft zu unterhalten, wird sich ungemein kränken, wenn er nachher um sich blickt und sieht, daß niemand über seine Scherze lacht als er selbst. Umgekehrt wird ihn die Heiterkeit der Gesellschaft höchst angenehm berühren und er wird diese Ubereinstimmung ihrer Empfindungen mit seinen eigenen als den größten Beifall betrachten. (I.i.2.1 /10)

Wenig später spricht Smith davon, „daß diese Ubereinstimmung der Empfindungen anderer Menschen mit unseren eigenen uns Vergnügen und das Fehlen derselben uns Mißvergnügen bereitet" (I.i.2.2/11). Nach dem bisher Gesagten kann das Begehren nach der Billigung durch andere Menschen nur so verstanden werden, dass diese die gleichen Interessen haben sollen wie man selbst. Nicht, dass in eins mit diesem Begehren direkt schon eine Art Universalismus gesetzt wäre. Das Bedürfnis einer Person, ihre direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situation s von anderen Personen gebilligt zu sehen, heißt zunächst nicht, sie von allen anderen Personen gebilligt zu bekommen — sondern nur von denen, mit denen sie es de facto lebensweltlich zu tun hat. Also führt auch das Begehren nach Billigung nicht zu einem moralischen Standpunkt, sondern nur zu einem Standpunkt, der versucht, die eigenen Interessen dadurch zu festigen und zu stärken, dass man Personen in seinen Umkreis zieht, die genau die gleichen Interessen haben wie man selbst.12 (12.) Es ist allerdings völlig unplausibel, Grenzen für die Gruppe derjenigen anzugeben, mit denen es eine Person in ihrem Leben einmal potenziell zu tun bekommen wird — denn es kann aus prinzipiellen Gründen kein Argument dafür geben, dass es irgendwelche menschlichen Wesen auf der Welt gibt, mit denen sie es nicht zu tun bekommen kann. Deshalb formuliert Smith ein weiteres Postulat — und dies ist das eigentlich entscheidende, um zu einem moralischen Standpunkt zu ge-

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Das Bedürfnis von Personen, in ihren emotionalen Bezugnahmen auf Situation s gebilligt zu werden, wäre am besten wohl durch eine entsprechende Clanmoral zu befriedigen — eine Möglichkeit, die viele Personen durchaus realisieren: Sich nur noch mit den Menschen zu umgeben, die ihnen schmeicheln. Die von Smith so scharf kritisierte mandevillesche Moraltheorie behauptet genau dies, vgl. VII.ii.4.6-14/513-523, VII.iii.1/525-529.

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langen: das Postulat eines generellen Heilmittels für eine partielle Vrustriertheit. Er formuliert dieses Postulat am klarsten in einer Passage, die er für die 6. Auflage von TMS gestrichen hat: Aus der Tatsache, dass eine Person es nicht jedem, mit dem sie es lebensweltlich zu tun hat, recht machen kann, d. h. jedermanns Billigung für ihre emotionalen Bezugnahmen auf Situation s erhalten kann, zieht sie nicht den Schluss, sich zu bemühen, diese anderen davon zu überzeugen, dass ein Interessenabgleich durchaus möglich (und auch für diese anderen wünschenswert) ist. Sie erfindet sich vielmehr eine Instanz, auf deren Billigung sie sich unter ganz bestimmten Umständen verlassen kann, den „unparteiischen Zuschauer": Wenn wir in die Welt eintreten, dann gewöhnen wir uns aus einem natürlichen Verlangen, allen anderen zu gefallen, daran, unser Augenmerk darauf zu lenken, welches Betragen all den Menschen, mit denen wir umgehen, also unseren Eltern, unseren Lehrern, unseren Gefährten angenehm sein dürfte. Wir wenden uns an jeden einzelnen und verfolgen eine Zeitlang den törichten Plan, die Zuneigung und Billigung eines jeden Menschen zu gewinnen. Erfahrung lehrt uns jedoch bald, daß diese allgemeine Billigung für uns durchaus unerreichbar ist. Sobald wir einmal wichtigere Angelegenheiten zu verwalten haben, dann bemerken wir, daß wir immer, wenn wir dem einen gefällig sind, dadurch fast mit Sicherheit einen anderen beleidigen, und daß wir oft, wenn wir uns nach den Launen eines einzelnen richten, dadurch eine große Anzahl von Menschen ärgern. Das gerechteste und billigste Vorgehen muß in vielen Fällen den Interessen [interests] 13 einzelner Personen zuwiderlaufen oder ihren Neigungen in die Quere kommen und diese werden selten genügend Unparteilichkeit besitzen, um die Beweggründe unseres Handelns als sittlich richtig zu empfinden oder um einzusehen, daß unser Vorgehen, so unangenehm es auch für sie gewesen sein mag, doch unserer Situation durchaus angemessen war.

Der Mensch lernt deshalb, sich auf sich selbst zu verlassen, indem er sich vom Urteil anderer mit guten Gründen distanzieren kann: Wir lernen aber bald in unserer eigenen Seele einen Richter zwischen uns und den Menschen unserer Umgebung aufzustellen, um so uns selbst gegen solche parteiischen Urteile verteidigen zu können. Wir stellen uns vor, daß wir unter den Augen eines ganz unparteiischen und gerechten Menschen handeln, der weder zu uns, noch zu denjenigen, deren Interessen durch unser Vorgehen berührt werden, in irgendeiner näheren Beziehung steht, der weder uns noch ihnen Vater, Bruder oder Freund ist, sondern der für uns alle nichts anderes ist, als schlechthin ein Mensch, ein unparteiischer Zuschauer, der unser Verhalten mit derselben Gleichgültigkeit betrachtet, mit welcher wir dasjenige anderer Leute ansehen. Wenn wir uns in die Lage eines solchen Menschen versetzen, und wenn uns dann unsere Handlungen in einem angenehmen Licht erscheinen, wenn wir fühlen, daß ein solcher Zuschauer nicht umhin könnte, alle die Beweggründe gutzuheißen,

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Smiths Gebrauch des Interessenbegriffs mag als schwache Legitimation meiner „Konjektur" von Smiths Überlegungen in (10.) gelten.

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die unser Verhalten bestimmen, dann mögen die Urteile der Welt noch so ungünstig sein, wir müssen doch mit unserem Betragen zufrieden sein und uns trotz des Tadels unserer Gefährten als würdigen und schicklichen Gegenstand der Billigung ansehen. // Wenn uns umgekehrt der Mensch in unserem Innern verurteilt, dann erscheint uns auch der lauteste Beifall der Menschen nur als ein törichtes, unwissendes Lärmen und wir können dann, sofern wir die Rolle dieses unparteiischen Richters übernehmen, nicht umhin, unsere Handlungen mit dergleichen Unzufriedenheit zu betrachten wie er. (Anm. r zu III.2.31, 128ff./297f.)

Der „unparteiische Zuschauer" ist also keine Projektion einer alles akzeptierenden vertrauten Person — einer Person, die umstandslos nicht nur mit jeder emotionalen Bezugnahme einer Person sympathisiert, sondern sie auch noch billigt. Das wäre als Extrapolation einer Frustrationserfahrung kein moralischer, sondern ein nicht nur parteiischer, sondern auch noch regressiver Standpunkt, der das Problem, aus dem die Extrapolation entsteht, nicht produktiv bearbeitet, sondern zum Vorwand für Realitätsflucht macht. Der „unparteiische Zuschauer" muss deshalb eine Figur sein, in welche die imaginierten strukturell gleichen Frustrationserfahrungen anderer und deren Erfindung des „unparteiischen Zuschauers" miteingegangen sind. Dessen (vorgestellte) Billigung bzw. Missbilligung muss deshalb so beschaffen sein, dass sie nicht nur einen selbst, sondern auch andere Personen davon überzeugen kann, ihre Billigungen und Missbilligungen von emotionalen Bezugnahmen nach dem zu richten, was er, der „unparteiische Zuschauer", billigt bzw. missbilligt. Darüber hinaus aber müssen sie auch ihre direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situationen, also ihre E-l, nach der vorgestellten Billigung bzw. Missbilligung des „unparteiischen Zuschauers" richten. Denn wenn diese direkten emotionalen Bezugnahmen auf Situationen so sind, wie man sich vorstellt, dass der „unparteiische Zuschauer" sie billigen würde, ist natürlich die Chance, sie von anderen, die sich ebenfalls den „unparteiischen Zuschauer" imaginieren, gebilligt zu bekommen, entsprechend höher.14 Deshalb muss der „unparteiische Zuschauer" als eine letzte und 14

Vgl. Gibbard 2005, 295f.: „Ich denke, Smith hat recht mit der These, dass Einschätzungen der Angemessenheit und Unangemessenheit einer Emotion direkte Auswirkungen auf eben diese Emotion haben — nicht unausweichlich, aber oft." Diese These ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für eine allgemeine Theorie der Gefühle, besagt sie doch, dass in jeder emotionalen Bezugnahme schon die Möglichkeit der Selbstdistanzierung steckt, die es letztlich ermöglicht, dass das Gefühl sich selbst eine Instanz erschafft, die es auf Angemessenheit hin kritisch befragt. Wir halten also nicht nur die Gefühle anderer für angemessen/unangemessen, weil wir, wenn wir es nicht täten, für den „unparteiischen Zuschauer" nicht mehr billigenswert wären, sondern auch unsere eigenen. Die

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höchste Urteilsinstanz gedacht werden, nach der sich alle diejenigen, mit denen man es jemals zu tun haben wird oder könnte (also tendenziell alle Menschen) freiwillig richten. (13.)Worin unterscheidet sich die Urteilsinstanz des „unparteiischen Zuschauers" von unseren normalen Urteilen des Billigens und Missbilligens? Offensichtlich darin, dass seine Urteile nicht durch persönliche Interessen verirrt sind. Der „unparteiische Zuschauer" ist eine Chiffre für die Einstellung, die jeder vertreten würde, wenn er denn frei von seinen eigenen Interessen eine emotionale Bezugnahme auf Situation s beurteilen würde. Der moralische Standpunkt wäre damit der „allgemeine Standpunkt", ausgedrückt in der Formel: „angenommen, jeder Mensch würde eine direkte emotionale Bezugnahme auf Situation s in unparteiischer, d. h. interesseloser Weise beurteilen". Es ginge um einen Zustand der Welt, in dem alle Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, und sowohl emotionale Bezugnahmen anderer Menschen auf Situation s unparteiisch beurteilen — d. h. zunächst mit deren emotionalen Bezugnahmen sympathisieren und sie dann billigen oder missbilligen —, als auch umgekehrt ihre eigenen emotionalen Bezugnahmen in dieser Weise beurteilt bekommen. In dieser Weise urteilen könnten sie genau dann, wenn sie keine eigenen Interessen hätten, und in dieser Weise beurteilt würden sie von Menschen, die keine Interessen hätten. Das, was alle Menschen begehren, wäre also ein Modus der Interesselosigkeit, in dem ihre Billigung bzw. Missbilligung der emotionalen Bezugnahmen anderer Personen stattfinden soll. Der „unparteiische Zuschauer" wäre dann jemand, der billigt und missbilligt, obwohl er keine eigenen Interessen hat. Eine solche Beurteilung wäre keine Thematisierung der emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf Situation s mehr, sondern deren Nachvoll^ug Billigung unserer Gefühle als angemessen/unangemessen durch andere, unsere Billigung der Gefühle anderer als angemessen/unangemessen und die Billigung unserer eigenen Gefühle müssen von demselben Kriterium abhängen: der Billigung des „unparteiischen Zuschauers". Wenn man Smith diese These unterstellen kann, hätte das allerdings gravierende Konsequenzen für seine gesamte Theorie insofern, als der Modus der Involviertheit in eine Situation vollständig anders beschrieben werden müsste als oben geschehen: Die in eine Situation s involvierte Person ist dann nicht mehr vollständig unfähig zu einem eigenen Urteil; man könnte sich dann durchaus den Fall vorstellen, dass jemand auf eine Situation s emotional so Bezug nimmt, dass er diese Bezugnahme im gleichen Moment missbilligt. Dann ist aber nicht zu sehen, wie die Differenz zwischen dem Urteil der in die Situation involvierten Person 1 und dem Urteil der Person 2, die E-l von Person 1 beurteilt, als kategoriale beschrieben werden kann.

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in einem anderen Modus, nämlich dem der Interesselosigkeit. Person 1 und Person 2 blieben strikt getrennt, und dennoch würde Person 2 keine eigene Bezugnahme entwickeln, sondern die Bezugnahme von Person 1 noch einmal wiederholen — aber in dieser Wiederholung mit einer kategorialen Differenz, nämlich in einem anderen Modus, dem der Interesselosigkeit. (14.) Dass ein solcher „unparteiischer Zuschauer" ein Mensch ist, ist schlichtweg undenkbar. Menschliche Wesen ohne eigene Interessen gibt es nicht. Ein billigendes oder missbilligendes Urteil setzte ja nach dem bisher Gesagten immer die Existenz eines eigenen Interesses voraus. Der „unparteiische Zuschauer" ist deshalb insofern unwirklich, als er mit der direkten emotionalen Bezugnahme von jemandem auf eine Situation s sympathisieren und diese Bezugnahme beurteilen kann, ohne ein eigenes Interesse, aus dem ja erst die Notwendigkeit zu urteilen erwächst (siehe oben (10.)), zu haben. Eine solche Person ist Gott als regulatives Ideal der Moral. das Ideal einer mit allen maximal sympathisierenden Person, die maximal interesselos die emotionalen Bezugnahmen von Personen beurteilt, d. h. billigt oder missbilligt. 15 Dass Menschen das regulative Ideal eines maximal sympathisierenden und maximal interesselosen Zuschauers haben, heißt, dass sie darum wissen, dass ihr eigenes Urteil über die emotionalen Bezugnahmen anderer de facto immer interessegesteuert ist — und deshalb auch verzerrt. Menschen können, zumindest wenn sie moralisch urteilen, den Konnex zwischen billigendem bzw. missbilligendem Urteil und Interesse nicht aufbrechen. Dem menschlichen Urteil ist die Verzerrung intrinsisch; interesselose Urteile von Menschen gibt es nur im theoretisch-ästhetischen Bereich, nicht im moralisch-praktischen (siehe oben (9.)). (15.) Man muss dann aber wenigstens beschreiben können, was dieses regulative Ideal eines maximal sympathisierenden interesselosen Gottes in der Bezugnahme von Personen 2 auf die direkten emotionalen Bezugnahmen von Personen 1 bewirkt. Interesselosigkeit ist ein graduierbarer Begriff; man kann also eine Skala der Interesselosigkeit entwerfen. Die 15

Mit dieser Deutung des „unparteiischen Zuschauers" widerspreche ich meiner in Strub 2005, bes. 37—39 vorgetragenen Deutung. Dort hatte ich Gott als letzten Kandidaten für den „unparteiischen Zuschauer" ausgeschlossen, weil ich ihn nicht paradox denken wollte, also als jemanden, der ohne Interessen urteilt. Jetzt nehme ich das Paradox in Kauf, weil es mir der „Instanzentheorie des unparteiischen Zuschauers'" in TMS adäquater zu sein scheint. In TMS ist ganz eindeutig der höchste „unparteiische Zuschauer" Gott (und das Gewissen ein „Halbgott") (III.2.32-33/194-197).

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Person, die in eine Situation involviert ist, kann sie als involvierte per definitionem nicht billigend oder missbilligend beurteilen; denn da ein Urteil immer ergebnisoffen, d. h. entweder billigend oder missbilligend ist, müsste der Fall vorstellbar sein, dass eine Person emotional auf eine Situation s Bezug nimmt und gleichzeitig genau diese Bezugnahme missbilligt. Diese Vorstellung ist aber absurd. 16 Am interessiertesten ist deshalb eine Person 2, die genau in die Situation, in die Person 1 involviert ist, nicht involviert ist, aber in so gut wie alle anderen Situationen, in die auch Person 1 involviert ist; sie hat zumindest die Möglichkeit, für diese eine Situation s das Interesse von Person 1 mit ihrem eigenen Interesse zu vergleichen. Extreme Interesselosigkeit bestünde darin, in keine einzige lebensweltliche Situation verwickelt zu sein, in die die beurteilte Person 1 verwickelt ist oder sein könnte — was nichts anderes heißt, als prinzipiell niemals in eine lebensweltliche Situation verwickelt zu sein; denn für Menschen, die in lebensweltliche Situationen verwickelt sind, kann es niemals von vornherein ausgeschlossen werden, dass sie in eine lebensweltliche Situation geraten, in die eben auch Person 1 gerät. Daraus wäre für Menschen als moralisches Postulat abzuleiten, so viel Interesselosigkeit wie möglich, d. h. wie nach der entsprechenden Situationsgebundenheit für eine Person machbar, walten zu lassen. Deshalb ist es moralisch unbillig, von den Eltern eines Mordopfers in der moralischen Beurteilung des Mörders dieselbe Interesselosigkeit zu fordern wie von einem professionellen Richter. Und deshalb ist auch die Figur des „unparteiischen Zuschauers" kein Symbol für ein Rollentausch- oder Verallgemeineaingsverfahren (das von jedem vollständig erlernt werden könnte), sondern benennt eine paradigmatische Person.11 (16.) Bis jetzt wurde versucht, das Postulat der Figur des göttlichen „unparteiischen Zuschauers" als regulativen Ideals moralischer Beurteilungen letztlich aus der Frustrationserfahrung einzelner Personen mit ihrer lebensweltlichen Umgebung plausibel zu machen: Der göttliche „unparteiische Zuschauer" ist die Figur, welche die menschliche Sehnsucht, nicht 16 17

Vgl. allerdings Anm. 14. Diese Idee scheint mir hinter Nussbaums Unterscheidung zwischen der „heuristischen" und der „konstitutiven" Lesart des smithschen „unparteiischen Zuschauers" zu stecken (Nussbaum 1990, 344f.), vgl. Griswold 1999, 145f. und Strub 2005, 41 f., Anm. 8. Rühl 2005, 208 mit Anm. 45 sieht genau die kontrafaktische Idealität des „unparteiischen Zuschauers", sieht jedoch kein Problem darin, weiter von Rollentauschverfahren zu sprechen; ein Rollentausch ist jedoch nicht graduierbar und schon gar nicht als regulatives Ideal denkbar.

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unter der partikularistischen Perspektive der anderen zu leiden, wenigstens regulativ ernst nimmt. Smith kennt noch einen anderen, viel direkteren Weg, die partikularistische Perspektive einzelner Personen zu übersteigen: Er ,implementiert' dem Menschen schon im ersten Satz von TMS neben den egoistischen Interessen ein Interesse, das ihn dazu bestimmt, „an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und d[as] ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis [macht], obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein" (Li. 1.1/1). Mir scheint ein solches Postulat philosophisch weniger interessant zu sein als die in (12.) skizzierte Herleitung.18 Allerdings kann mit ihm geklärt werden, wie das Urteil eines tendenziell interesselosen „unparteiischen Zuschauers" material beschaffen ist. Ist ein durch die Interessen des Urteilenden nicht verzerrtes Urteil nicht eines, das die emotionalen Bezugnahmen, über die es urteilt, nur noch verdoppelt? Würde im regulativen Ideal des maximal sympathisierenden Gottes nicht genau die Koinzidenz von Sympathie und Billigung wieder auferstehen, die zu bekämpfen war? Schiere Interesselosigkeit reicht auch für Gott nicht aus; es bedarf eines positiven Interesses am Glück derer, deren emotionale Bezugnahmen auf Situation s beurteilt werden. Andernfalls ist nicht zu sehen, wie — über das recht formale Postulat eines maximal sympathisierenden interesselosen, «fer urteilenden Gottes hinaus — die „Verdoppelungsfalle" nicht doch wieder zuschnappen sollte. In (1.) wurde eine Stelle erwähnt, an der als Gegenstand der moralischen Beurteilung nicht einzelne emotionale Bezugnahmen auf Situation s, sondern der „Charakter" einer Person genannt wird. Dann wäre vielleicht zu sagen, dass auf einer ersten Ebene auch für den maximal sympathisierenden göttlichen Zuschauer Sympathie nicht Billigung erzwingen muss, weil dieser Zuschauer die einzelnen emotionalen Bezugnahmen einer Person immer auf dem Hintergrund ihres gesamten Charakters beurteilen muss: Die wahre Sympathie ist nicht die mit einzelnen emotionalen Bezug18

Es handelt sich nicht um zwei verschiedene mögliche Herleitungen eines und desselben Sachverhalts: Die Entwicklung eines nicht-partikularistischen Standpunkts aus Not ist etwas ganz anderes als seine Realisierung aus Freude. Wenn man daraus einen philosophisch interessanten Punkt machen wollte, müsste man von der Verstärkungsfunktion der Solidarität mit den Gefühlen anderer für beide Seiten ausgehen, die Smith in I.i.2/9-14 einführt: Meine Freude wird verstärkt, wenn ich merke, dass andere sich freuen, und die Freude der anderen wird verstärkt, wenn sie merken, dass ich mich freue. Mir scheint aber, dass dieser Verstärkungseffekt, wenn er denn wirklich existiert, nicht für die Entwicklung eines universellen Standpunktes hinreicht.

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nahmen einer Person auf Einzelsituationen, sondern mit ihr in Hinblick auf das Ganze ihrer vorgestellten glückenden persönlichen Biografie. Und da kann es natürlich durchaus sein, dass hinsichtlich des Gesamtcharakters einer Person bestimmte ihrer einzelnen emotionalen Bezugnahmen missbilligt werden müssen.19 Darüber hinaus wäre es leicht, bei moralischen Beurteilungen einzelner emotionaler Bezugnahmen auf Einzelsituationen die Berücksichtigung des Glücks nicht nur einer einzelnen Person, sondern des Gesamtsystems zu fordern — wie es Smith de facto getan hat (vgl. VII.iii.3.16/544). (17.) Bei Smith selbst findet sich, um dieses Problem bezüglich des Urteils des „unparteiischen Zuschauers" zu lösen, eine andere Redeweise, die mir allerdings systematisch unbefriedigend erscheint: Für ihn gibt es so etwas wie emotional richtige bzw. falsche Bezugnahmen auf Situationen, die von einer Person 1 eingenommen werden können oder nicht. Diese Art von Bezugnahmen nennt Smith „angemessen" bzw. „unangemessen" (I.i.3.6/17f.). Smith erklärt allerdings nicht weiter, was die „suitableness to its object" einer emotionalen Bezugnahme von Person 1 auf eine Situation s, in die sie involviert ist, also eine angemessene E-l, ist. Postuliert Smith einen moralischen Objektivismus dergestalt, dass der „unparteiische Zuschauer" eine Person 1 danach beurteilt, wie jeder Mensch auf diese Situation s emotional Bezug nehmen müsste, wenn er nicht durch partikulare, seiner jeweiligen Biografie geschuldete Interessen an einer unverzerrten Sicht gehindert wäre? Aber wie soll man herausfinden, wie „jeder Mensch" auf eine Situation s emotional Bezug nimmt? Jedenfalls bedürfte es dazu seitens des „unparteiischen Zuschauers" der Sympathie nicht; denn die Sympathie kam ja gerade nicht ohne die ganz partikularen einzelnen Interessen der sympathisierenden Person 2 aus. Ein „jedermann-Verfahr en" ist bei Smith also auszuschließen: Man findet nicht heraus, was die angemessene emotionale Bezugnahme auf eine Situation s ist, wenn man sich überlegt, wie denn jeder Mensch, entkleidete man ihn sozusagen seiner Biografie und damit auch seiner Interessen, emotional auf diese Situation Bezug nehmen würdet Der „unparteiische Zuschauer" ist kein Symbol für ein Verfahren, sondern bleibt eine paradigmatische Person — freilich als für Menschen unerreichbares regulatives Ideal. 19 20

Weiterführend sind hier die abschließenden Überlegungen von Darwall 1998, 274-279. Villiez 2005 spricht deshalb geglückt (74 u. 84) von einem „dichten" Konzept des „unparteiischen Zuschauers" — und davon, dass Smith sich genau damit von traditionellen „Unparteilichkeitsmodellen" abhebe. Vgl. auch Sugden 2005, 81.

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Literatur Smiths Theory of Moral Sentiments wird zitiert nach der heute maßgeblichen Critical Edition — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist TMS. Der Text wird nach der standardisierten Zählung der 6. Auflage von 1790 und in deutscher Übersetzung zitiert. I.ii.3.5 bedeutet: Erster Teil, zweiter Abschnitt, 3. Kapitel, 5. Absatz. Da diese Zählung in Ecksteins Ubersetzung noch fehlt, wird, getrennt durch einen Schrägstrich, die Seitenzahl der deutschen Ubersetzung angegeben. Der englische Originaltext ist mittels der Standardnummerierung leicht zu finden. Ballestrem, Karl Graf (2001), Adam Smithy München. Ballestrem, Karl Graf/Daniel Brühlmeier (2004), Adam Smith, in: Helmut Holzhey/Vilem Mudroch (Hg.), Oer neue Überweg: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Basel, 559-575. Darwall, Stephen (1998), Empathy, Sympathy, Care, in: Philosophical Studies. An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 89, 261—282. Darwall, Stephen (1999), Sympathetic Liberalism: Recent Work on Adam Smith, in: Philosophy and Public Affairs 28, 139-164. Falke, Gustav (2006), Momart oder über das Schöne, Berlin. Fricke, Christel/Hans-Peter Schütt (Hg.) (2005), Adam Smith als Moralphilosoph, Berlin. Gibbard, Allan (2005), Angemessenheit und Mittelmaß - Wie Gefühle und Handlungen aufeinander abgestimmt werden, in: Fricke/Schütt a. a. O., 277—303. Griswold, Charles L. (1999), Adam Smith and the Virtues of Enlightenment, Cambridge. Haakonssen, Knud (1981), The Science of a legislator. The Natural Jurisprudence of David Hume and Adam Smith, Cambridge. Haakonssen, Knud (Hg.) (2006), The Cambridge Companion to Adam Smith, Cambridge. Lohmann, Georg (2005), Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith, in: Fricke/Schütt a. a. O., 88-99. Mohr, Georg (2005), ,Moral Sense' — Zur Geschichte einer Hypothese und ihrer Kritik bei Adam Smith, in: Fricke/Schütt a. a. O., 304-330. Nussbaum, Martha (1990), Steerforth's Arm: Love and the Moral Point of View, in: dies., Love's Knowledge. Essay's on Philosophy and Literature, Oxford, 335-364. Otteson, James R. (2002), Adam Smith's Marketplace of Life, Cambridge. Raphael, David D. (2007), The Impartial Specatator. Adam Smith's Moral Philosophy, Oxford. Reitz, Tilman (2002), Die Ethik der Marktgesellschaft. Moralphilosophie und Sozialtheorie bei Adam Smith, in: Philosophische Rundschau 49, 245—254. Rolf, Bernd (2005), Selbstliebe und Sympathie. Zur Theorie der ethischen Gefühle von Adam Smith, in: Ethik und UntenichtH. 3, 38-45. Rühl, Ulli F. H. (2005), Moralischer Sinn und Sympathie. Der Denkweg der schottischen Aufklärung in der Moral- und Rechtsphilosophie, Paderborn. Smith, Adam (1976, zuerst 1759), Theory of Moral Sentiments, critical edition, hrsg. von David D. Raphael/Alexander L. Macfie, Oxford (=TMS). Smith, Adam (1994, engl, zuerst 1759), Theorie der ethischen Gefühle, nach der Auflage letzter Hand übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Walther Eckstein, Hamburg [Nachdruck der Ausgabe von 1926 mit erneut erweiterter Bibliografie von Günter Gawlick] (=TMS). Strub, Christian (2005), Gastfreundschaft für den freundlichen Fremden. Selbstschätzung im Ausgang von Adam Smiths Konzept des ,unparteiischen Zuschauers', in:

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Christian Strub

Henning Hahn (Hg.), Selbstachtung oder Anerkennung! Beiträge %ur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit, Weimar, 21—48. Strub, Christian (2007), Rezension von: Fricke/Schütt (2005), in: Philosophisches Jahrbuch 114, 453-458. Sugden, Robert (2005), Jenseits von Sympathie und Empathie. Adam Smiths Begriff des Mitgefühls [Orig. 2002], übers, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 13, H. 1, 65-91. Villiez, Carola v. (2005), Sympathische Unparteilichkeit: Adam Smiths moralischer Kontextuaüsmus, in: Fricke/Schütt a. a. O., 64-87.

Jean-Jacques Rousseau (1712—1778)

Rousseau: Die Transformation der Leidenschaften in soziale Gefühle Sidonia Blättler Gefühle führen ins Zentrum von Rousseaus Sozialphilosophie. Deshalb sind seine intensiven Beschreibungen einzelner Gefühle und ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben nicht nur für die Theorie und die Geschichte der Affekte von Interesse. Sie zeigen vielmehr, dass die Auseinandersetzung mit den Gefühlen in den Kernbereich von Sozialphilosophie und politischer Theorie gehört und diesbezüglich das Erbe der antiken Tugendlehre unverzichtbarer Bestandteil auch moderner Theoriebildung ist. Gefühle — Leidenschaften, heftige Affekte, ruhige seelische Gestimmtheiten — bestimmen das Verhältnis zwischen Individuen ebenso wie ihr Selbst- und Weltverhältnis. Die soziale Welt konstituiert Gefühle, und Gefühle bilden den Grund alles Sozialen. Kennzeichen beider ist eine unaufhebbare Ambivalenz. Als Voraussetzung einer humanen Existenz, die mit ihrer intersubjektiven Verfassung und der Ausbildung von Gefühlen anhebt, bilden diese zugleich das Potenzial ihrer gänzlichen Zerstörung. Die zivilisatorische Realität seiner Zeit ist für Rousseau geprägt von destruktiven Leidenschaften und Lastern, die den ohnedies prekären Zusammenhang moderner Gesellschaften gefährden (1). Ein erfülltes soziales und emotionales Leben ist in ihr nicht denkbar, sondern hat seinen Ort in einer rückwärtsgewandten utopischen Idylle (2). Da Emotionalität und Sozialität jenes schwankende Entweder-oder strukturieren, das die Schriften Rousseaus so durchgängig charakterisiert, ist eine gesicherte Norm gelungener Existenz, die das Fundament seines umfassenden Erziehungsprogramms zu bilden vermag, nur in einem Jenseits von Emotionalität und Sozialität zu gewinnen, in einer Sphäre, die Rousseau selbst als Fiktion bezeichnet und die sowohl den Fluchtpunkt der Sehnsucht nach Erlösung als auch deren Unmöglichkeit bezeichnet (3).

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Í. Zivilisation der Leidenschaften und der Laster Bereits seine erste theoretische Schrift, die Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, enthält die sozialdiagnostische Grundintuition, die Rousseau in seinem sozialphilosophischen, politiktheoretischen und literarischen Werk entfalten, klären und systematisieren wird. In der Vorrede zu seinem Theaterstück Narcisse, dessen Veröffentlichung Rousseau zum Anlass nimmt, auf die von seiner preisgekrönten Abhandlung ausgelöste Kontroverse zu reagieren, wiederholt und verschärft er seine Diagnose: Das Fortschreiten der Zivilisation ist gekennzeichnet durch eine Verdichtung und Ausdifferenzierung der Interaktionsverhältnisse, durch Mehrung der Güterproduktion, Steigerung der Handelsbeziehungen, Akkumulation des Wissens und eine Verfeinerung der Künste. Mit der Mehrung der Güter mehren sich die Bedürfnisse, der Bedeutungszuwachs des Handels erzeugt Wettbewerb, die Entfaltung der Wissenschaften und der Künste führt zu Konkurrenz, die soziale Differenzierung erzeugt ein unablässiges Verlangen nach Distinktionsgewinnen, die Funktionalisierung der sozialen Beziehungen spaltet das Individuum in Rollen, die Anonymität der Städte versetzt es in die Unruhe einer unablässigen SelbstdarStellung, die Sein und Schein 2 auseinandertreten lässt. Die Menschen sind gefangen in den Erwartungshaltungen anderer und befinden sich dadurch in einer allseitigen Abhängigkeit. Diese Verstrickung in äußere und innere Abhängigkeiten, für die die Sozialphilosophie den Begriff der „Entfremdung" prägen wird, bedeutet eine fundamentale Verunsicherung der eigenen Existenz. Sie geht einher mit einer Entfesselung von Leidenschaften und Lastern: Argwohn, Ehrgeiz, Eifersucht, Eitelkeit, Furcht, Habgier, Neid, Hass, Stolz. „Unsere Seelen", so lautet das Fazit mit Bezug auf die wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen der Zeit, „sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind." (WK 37) Schon ihre Entstehung, deren Fortschritte die Metropole feiere, sei einzig den Lastern geschuldet: „Die Astronomie entstand aus dem Aberglauben; die Beredsamkeit aus dem Ehrgeiz, dem Hass, der Schmeichelei und der Lüge; die Meßkunde aus dem Geiz; die Naturlehre aus einer eitlen Neugierde; alle, und selbst die Moral, aus dem 1 2 3

Vgl. Spaemann 1992 (zuerst 1980), 44-47. Vgl. Spaemann 1992, 39ff. Vgl. Honneth 1994, 19; Jaeggi 2005. Für Barth 1959 ist der Begriff der Entfremdung die zentrale, den inneren Strukturzusammenhang bildende Kategorie des Rousseau'schen Werks.

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menschlichen Stolz." (WK 45) Die glänzenden Erfolge der Wissenschaften ebenso wie die Verfeinerung der Künste und Sitten breiteten sodann „Blumenkränze" über diese Leidenschaften aus (WK 34), deren Unwesen vom „einförmigen und betrügerischen Schleier der Höflichkeit" verdeckt werde (WK 36; vgl. Ν 153). Wissenschaften, Künste und die Norm der Höflichkeit verbergen aber nicht nur die sie antreibenden Leidenschaften und Laster. Indem sie das „Verlangen, sich zu unterscheiden" (N 154) steigern, vervielfältigen sie vielmehr die Situationen, die Anlass zu heftigen Affekten geben, welche sich durch dauernde Wiederholung zu Dispositionen verfestigen 5 und als Laster habitualisieren. „Der blöden Eitelkeit, der niedrigen Eifersucht und allen übrigen Leidenschaften" (N 160) sei im modernen Stadtleben kaum noch zu entraten. In Ubereinstimmung mit der neuzeitlichen, antiaristotelischen politischen Philosophie begreift auch Rousseau die moderne Gesellschaft als ein soziales und politisches Institutionengefüge, dessen Aufgabe es ist, die friedliche Koexistenz von Individuen zu sichern, die aufgrund der veränderten ökonomischen Verhältnisse primär durch ihr Selbstinteresse bestimmt sind. Anders jedoch als die fortschrittsoptimistischen Autoren seiner Zeit, die von einem positiven Effekt der Tauschbeziehungen ausgehen und eine heimliche Konvergenz der konkurrierenden Interessen unterstellen, betont Rousseau deren destruktive Folgen. Dass die „Künste, der Handel, die Gesetze und die anderen Bande, welche unter den Menschen den Knoten der Gesellschaft durch das persönliche Interesse knüpfen" und „sie in eine wechselseitige Abhängigkeit voneinander bringen" (N 157) ein gemeinsames Interesse hervorbringen und zum Wohl aller beitragen sollen, dies ist für Rousseau eine verderbliche Fiktion. Zum einen verkennt sie die Realität. Sie täuscht über die Unmöglichkeit hinweg, unter Bedingungen der Konkurrenz und Interessenkollisionen „miteinander zu leben, ohne sich gegenseitig zu beschuldigen, beiseite zu drängen, zu täuschen, zu verraten und zu vernichten" (N 157). Zum anderen trägt sie, indem sie ihrerseits sozial wirksam wird, zur Lockerung jener Bande bei, welche nicht durch das Selbstinteresse, sondern „durch Achtung und gegenseitiges Wohlwollen gebildet werden" (N 157, Fußnote). 4

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Ihre verderbliche Wirkung liege vor allem darin, den „Lastern eine angenehme Färbung und ein gewisses ehrenhaftes Aussehen zu geben, was uns hindert, Schrecken davor zu empfinden" (N 153). Zur Unterscheidung von akutem Gefühl und Gefühlsdisposition, zwischen denen Rousseau selbst begrifflich nicht differenziert, die sich aber seinen Beschreibungen entnehmen lässt, vgl. Demmerling/Landweer 2007, 25.

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Inbegriff einer Welt des täuschenden Scheins und der ungezähmten Leidenschaften ist für Rousseau das Theater. In seinem Brief an d'Alembert, in dem er gegen die Errichtung eines Theaters in der Republik Genf anschreibt, bildet die Bühne das urbane Leben hyperbolisch ab. Da das Theater ausschließlich vom Rollenspiel lebt, ist es der Ort des Unauthentischen schlechthin. Auf der Bühne erreicht die „Kunst, sich zu verstellen, einen anderen als den eigenen Charakter anzunehmen und anders zu erscheinen, als man ist" (BA 414), ihren Höhepunkt. Da solche verstellende Selbstdarstellung, nicht anders als im gewöhnlichen Leben, letztlich für Geld und Ruhm geschehe, mache sie Männer zu Betrügern und, schlimmer noch, Frauen zu Prostituierten (BA 425). Dieser „Handel mit sich selbst" (BA 414), auch wenn er sich in der Sprache der Galanterie, der hohen Leidenschaften und der Gelehrsamkeit zur Erscheinung bringe (BA 382), habe stets „etwas Kriecherisches und Gemeines" (BA 414). Wie vom Schein, so lebt das Theater von Affekten. Es inszeniert „ein Gemälde der menschlichen Leidenschaften, dessen Urbild in allen Herzen ist" (BA 350). Um erfolgreich zu sein, müssen sich Stücke an den Bedürfnissen des Publikums orientieren und „seine Neigungen begünstigen". Die „stark gereizten Leidenschaften" dürften, so Rousseaus Vermutung, weit eher in „Laster entarten" (BA 352), denn eine Mäßigung erfahren (BA 350). Das einzige Mittel, die evozierte „Erregung, Verwirrung und Rührung", jene „Aufwallungen von Lust und Freude" (BA 353), zu kontrollieren, wäre die Vernunft (vgl. BA 353). Die aber lässt sich nicht effektvoll dramatisieren. Ein Stoiker auf der Bühne wäre unerträglich langweilig oder lächerlich (vgl. BA 350f.). Gegen die der aristotelischen Poetik entnommene und im Anschluss an Corneille (Discours de la tragédie, 1660) von der zeitgenössischen Theaterkritik viel diskutierte Idee der Katharsis, wonach das Durchleiden von Furcht und Mitleid zu einer Läuterung der Leidenschaften und einer Hinwendung des Willens zur moralischen Pflicht führt, vertritt Rousseau die These einer machtvollen Verschwisterung aller Affekte, der die Vernunft, selbst wenn sie sich in Szene setzen ließe, kaum gewachsen ist. Durch ihre wechselseitige Verwobenheit affiziert jede Leidenschaft weitere Leidenschaften. Zustände der affektiven Erregung führen aus sich heraus nicht zum Wunsch nach einer Kontrolle der Affekte, sondern zu einem Verlangen nach Steigerung und Vervielfältigung. Deshalb wird auch das Durchleben von Qualen angesichts zerstörerischer Leidenschaften nicht in Mäßigung münden, sondern allenfalls das Bedürfnis nach angenehme-

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ren Gefühlszuständen wecken. Leidenschaften lassen sich nicht mit Leidenschaften bekämpfen. 6 Selbst die Inszenierung erhabener Gefühle bietet keinen Ausweg aus der Verstrickung in die Leidenschaften, von denen das Theater im Übrigen ja lebt: Da „alle Leidenschaften untereinander verschwistert sind", so Rousseau, und „eine einzige genügt, um tausend andere zu erregen", ist die Strategie, „eine mit der anderen bekämpfen zu wollen, nur ein Mittel [...], das Herz für alle empfänglicher zu machen" (BA 353). Das Problem ist also nicht, dass das Theater mit Vorliebe verbrecherische Leidenschaften und Laster zur Darstellung bringt, die aufgrund ihrer Bösartigkeit eine verderbliche Wirkung auf die Zuschauer haben könnten. Das Problem liegt vielmehr in der Darstellung von Leidenschaftlichkeit und Emotionalität an sich, die das Publikum in Affektzustände versetzt, es für Gefühle auch im Leben empfänglich macht, den Widerstand gegen die Leidenschaften bricht und eine tugendhafte Disziplinierung der Gefühle verhindert (vgl. BA 385—391).7 Unter den Leidenschaften, die Rousseau thematisiert, kommt der Liebe — sowohl im Brief an d'Alembert wie in seinen anderen Schriften — eine besondere Bedeutung zu. Die Liebe, diese „gefährliche Leidenschaft" (BA 380), die alles „verdunkelt [...], was um sie herum ist" (BA 398), teilt sich in eine „ehrbare" und eine „verbrecherische" (BA 389) 6

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Diese Sicht auf die Leidenschaften bleibt in Rousseaus Werk nicht unwidersprochen. Rousseaus Erziehungskonzept, wie er es im Emil entwickelt, beruht im Gegenteil auf einem — allerdings vom Lehrer strategisch kontrollierten — Einsatz von Leidenschaften: „Uber Leidenschaften gewinnt man nur durch Leidenschaften Macht; durch ihr Regiment muß man ihre Tyrannei bekämpfen" (E 351). Das Konzept einer Lenkung der Affekte durch Leidenschaften ist zudem zentral für die Idee einer Erziehung der Männer durch eine geliebte Frau, die insbesondere Rousseaus Darstellung der Beziehung zwischen Emil und Sophie sowie des Verhältnisses von Julie und St. Preux zugrunde liegt. „Man wird dadurch träge und verzagt, unfähig, gleichermaßen dem Schmerz wie den Leidenschaften zu widerstehen", heißt es beispielsweise in der Vorrede zu Narcisse (Ν 155). Im Zweiten Diskurs (UU 155) unterscheidet Rousseau im Gefühl der Liebe den Aspekt des „Geistig-Seelischen" (Je moral) und den Aspekt des „Physischen" (Je physique). Während das „Physische" ein allgemeines sexuelles Begehren bezeichnet, lenkt und fixiert das „Geistig-Seelische" dieses Begehren auf einen bevorzugten Gegenstand. Diese Differenz konvergiert nicht mit der Unterscheidung zwischen verbrecherischer und ehrbarer Leidenschaft im Brief an d'Alembert, da das allgemeine Begehren an dieser Stelle auf den Mann im Naturzustand bezogen wird, dem jedes Differenzierungsvermögen abgeht und für den deshalb „jede Frau [...] gut ist" (UU 155). Während das natürliche Begehren nicht gewertet wird, weil es einer gesellschaftsfernen und damit wertfreien Sphäre angehört, er-

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und führt in eben dieser Spannung ins „Reich der Frauen" (BA 380), dessen allgemeinstes Kennzeichen in Rousseaus Schriften die Ambivalenz ist. Als eine physische, mit sexuellem Begehren aufgeladene Leidenschaft, entwickelt die Liebe eine affizierende und transgressive Gewalt, welche die Integrität sowohl der personalen Identität wie der sozialen Ordnung nachhaltiger zerstört als jede andere Leidenschaft: „Unter den Leidenschaften, die das Herz des Menschen bewegen", schreibt Rousseau im Zweiten Diskurs, „gibt es eine glühende, ungestüme, die ein Geschlecht dem anderen notwendig macht, eine schreckliche Leidenschaft, die allen Gefahren trotzt, alle Hindernisse überwindet und in ihrer Raserei geeignet erscheint, das Menschengeschlecht zu zerstören" (UU 153). Die leidenschaftliche Liebe entzieht sich der Kontrolle durch Sitte, Gesetz und Vernunft. 9 Sie versklavt Männer wie Frauen, indem sie sie von einem Affekt in den andern (Furcht, Wut, Trauer, Verwirrung, Niedergeschlagenheit, Schmach) treibt. 10 Von ihr erfasst, nehmen sie jede Untat in Kauf. Wer von „dieser zügellosen und brutalen Wut gepeinigt" wird, jede „Scham" und jede „Zurückhaltung" verliert (UU 153), verfällt, wie Julie in ihrem dramatischen Konversionsbrief an St. Preux schreibt, einem Zustand des gänzlichen Selbstverlustes und der Selbsterniedrigung, der auch das Verbrechen nicht ausschließt (NH 370). In einem anderen Licht erscheint die Liebe dagegen im fünften Buch des E mil sowie in der Beschreibung der Gemeinschaft von Ciarens im Briefroman Julie oder Die Neue Héloïse einerseits, in den politischen Schriften, in denen sie als patriotische Liebe zum Gemeinwesen diskutiert wird, anderseits. In diesen Gemeinschaftskonstruktionen bildet die Liescheint die moralische, also gerichtete Liebe vorwiegend in einem negativen Licht. Da sie auf die Werte des „Verdienstes" und der „Schönheit" reagiert, unterstützt sie die Dynamik der sozialen Differenzierung und damit Neid, Eifersucht und andere Laster. Zudem bietet sie den Frauen als Objekten der Liebe ein Mittel der Macht: Das „Geistig-Seelische in der Liebe" sei „ein künstliches Gefühl [...], aus der Gewohnheit der Gesellschaft entstanden und von den Frauen mit viel Geschick und Sorgfalt gepriesen, um ihre Herrschaft zu begründen und das Geschlecht dominant zu machen, das gehorchen sollte." (UU 155) Diese Äußerung steht nun wieder ganz im Einklang mit den Ausführungen über weibliche Laster und weibliche Tugenden im Brief an d'Alembert. 9 „Blendwerk der Leidenschaften, so bezauberst du die Vernunft, betrügst du die Sittsamkeit und veränderst die Natur, ehe man es wahrnimmt. Man vergißt sich einen einzigen Augeblick im Leben [...]: Sogleich zieht uns ein unvermeidlicher Hang fort und bringt uns zu Fall." (NH 367) 10 Vgl. NH III, 18. Brief, 353-381.

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be die entscheidende — wenngleich stets ambivalente — motivationale Ressource des sozialen Zusammenhalts. Verschwistert ist sie hier mit den positiv bewerteten sozialen Gefühlen der gegenseitigen Achtung und Güte.

2. Idylle der sozialen Gefühle Die Gegenwelt zur modernen Stadt bildet die ländliche Gemeinschaft. Theatralisch inszeniert Rousseau diesen Gegensatz von Stadt und Land als einen Gegensatz von Laster und Tugend, Elend und Glück, am Ende des vierten Buches des Emil, wenn er Lehrer und Zögling Abschied von Paris nehmen lässt (vgl. E 364), um sie in eine Provinz fernab des zivilisatorischen Lärms zu führen. Ihre Reise, an deren Ende sie Sophie finden, ist zugleich eine Zeitreise zurück in ein goldenes Zeitalter." Im Haus von Sophies Eltern werden die beiden „fahrenden Ritter" (E 449) vom Hausherrn „wie Telemach und Mentor auf der Insel der Kalypso" empfangen. Durch die Anspielung des Lehrers auf die „Reize der Eucharis" wird Sophie ein erstes Mal in die Szene einbezogen (E 453). Wenig später fühlt sich Emil in „den Garten des Alkinoos" (E 461) versetzt. Die ländliche Idylle ist geprägt von Einfachheit, Maß und Ruhe. Ihre Bewohner sind leidenschaftslos, doch nicht ohne Gefühle. Im Gegenteil: Gefühle sind die eigentliche vitale Antriebskraft dieses zurückgezogenen häuslichen Lebens, in dessen Mittelpunkt die Frau als Liebesobjekt steht. Sophie nimmt den Platz jenes Ideals ein, auf das Emil, nach dem Plan des Erziehers, all ]2 sein Begehren richten soll. Seine Integration in die Gemeinschaft erfolgt

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Die Zeitreise, so Steinbrügge 1992, 77ff., endet im Mikrokosmos der um die Frau zentrierten Familie, die ein vorzivilisatorisches Entwicklungsstadium repräsentieren und als solche den Ausgangspunkt einer alternativen moralischen, sozialen und politischen Entwicklung bilden soll, die Konkurrenz und Entfremdung ausschließt. Zwar sei die Liebe nichts weiter als „Sinnestäuschung, Lüge, Einbildung" (E 354), so der Erzieher Emils. Doch gerade als eine Illusion, die gezielt ins Werk gesetzt werde, erfülle sie die Funktion, den jungen Mann an seine Normen und Werte zu binden und ihnen seine unmittelbaren Triebe zu opfern: „Fragt Euch selbst, ob er mir gehören wird, wenn ich ihm das Mädchen schildere, das ich für ihn bestimmt habe; ob ich imstande bin, ihm die Eigenschaften, die er lieben soll, lieb und teuer zu machen, ob ich alle seine Empfindungen auf das zu lenken verstehe, was er suchen oder vermeiden soll." (E 353) Vgl. Wingrove 2000, 70f£, deren Interpretation den politischen Aspekt der Unterwerfung unter die Autorität

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über ein heterosexuelles Arrangement, das durch Liebe motiviert ist. Ciarens zeigt eine vergleichbare Konstellation. Das Leben auf dem Gut ist durchdrungen vom Geist Julies, der idealen Gattin und Mutter, die zur Erzieherin ihres einstigen Geliebten St. Preux wird. Die Gefühle, die die Idylle beleben, sind durch mindestens drei grundlegende Merkmale bestimmt, die sie von den Leidenschaften unterscheiden und denen sie ihre positive Bewertung als „moralische Gefühle" verdanken. Gefühle unterliegen einer mäßigenden Kontrolle (1), sie sind sozial (2) und sie sind auf ein Ideal hin orientiert (3). (1) „Alle Gefühle, die wir beherrschen, sind erlaubt; alle, die uns beherrschen sind sträflich" (E 490), so fasst der Mentor seine Belehrungen über den richtigen Umgang mit den Affekten zusammen. Daraus ergibt sich sein Ratschlag: „Sei Mensch! Halt dein Herz in den Grenzen, die dir dein Menschtum steckt!" (E 491) Während Leidenschaften durch unkontrollierte Heftigkeit und Grenzenlosigkeit charakterisiert sind, die den Menschen einem wilden irrationalen Treiben unterwerfen und ihn ins Elend stürzen, 14 verschaffen Gefühle einen unaufgeregten Zustand der Lust, den Rousseau mit Adjektiven wie „süß", „köstlich", „ruhig", „zufrieden", „reizvoll", „rührend", „angenehm", „harmonisch", „friedlich", „bewegt", „lebhaft", „zärtlich", „wehmütig" beschreibt. 15 Die mäßigende Instanz kann die Vernunft sein, ein Gefühl von Scheu und Scham (pudeur) oder ein in der öffentlichen Meinung repräsentiertes Ethos. Diese Instanzen verteilen sich im Rahmen des von Rousseau nach Geschlechtern differenzierten Tugenddiskurses unterschiedlich auf Mann und Frau. Während der Mann, klassisch aristotelisch, seine Gefühle durch die Vernunft kontrollieren soll, behauptet Rousseau für die Frauen ein natürliches Gefühl der Zurückhaltung: Gott wollte das Menschengeschlecht in allen Dingen ehren: gab er dem Mann Neigungen ohne Maß, gibt er ihm zur gleichen Zeit das Gesetz, das sie zügelt, damit er frei sei und sich beherrsche! Lieferte er ihn maßlosen Leidenschaften aus, so verbindet er sie mit der Vernunft, um sie zu beherrschen. Lieferte er die Frau unbegrenzten Begierden aus, so verbindet er sie mit der Scham, um sie in Schranken zu halten. (E 387)

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des Erziehers und seiner Gesetze hervorhebt, der das Begehren und das Idealbild der Geliebten für seine Zwecke instrumentalisiert. Zur Verteidigung der Liebesehe als Norm vgl. E 437. Zum Beispiel Β 77. Vgl. zum Beispiel Β 77, 167, 169, 170, 171, 172, 453.

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Ausführlich beschäftigt sich Rousseau mit dem Gefühl der Scham und speziell der „geschlechtlichen Scham" im Brief an d'Alembert.'6 Die Scham erscheint hier als eine komplexe, für die Gattung überlebenswichtige sexualökonomische Funktion. Indem sie das Begehren zwischen den Geschlechtern in ein geordnetes Spiel von Aktivität und Passivität, Angriff und Verteidigung, Eroberung und Unterwerfung lenkt, reguliert sie es so, dass es einerseits nicht erlahmt, anderseits den Mann nicht in die physi1 7 *

sehe Erschöpfung treibt. Weiter schützt sie den Mann vor narzisstischen Verletzungen. Und schließlich trägt sie zur Aufrechterhaltung der männlichen Genealogie bei. Rousseau ist bemüht, die weibliche Scham als ein instinktäquivalentes natürliches Gefühl auszuweisen. Als eine innerliche Disposition der Frauen leistet es, was äußerlich durch die soziale Norm der Häuslichkeit hergestellt wird. Die Scham, die der Frau den Blick und das Wort sowie alles andere, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte, verbietet, macht sie unsichtbar wie das Haus, in dem sie verschwindet. 20 Die Scham darf das Begehren jedoch nicht auslöschen, denn die Frau muss ihre erregenden Reize um ihrer Antriebsfunktion willen durchaus bewahren. Die Scham selbst, die als ein Zeichen von Naivität, Schwäche und widerstrebender Verführbarkeit zur Mäßigung der sexuellen Gier auffordert, ist es, die sie zugleich anstachelt. 21 Der Reiz des Errötens und 16 17 18 19 20

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BA 418-423; vgl. auch E 386f. Vgl. auch E 387. Zum Beispiel BA 419; E 386. E 390. Im Lob auf die Republik Genf werden Scham und Häuslichkeit explizit miteinander verknüpft. Die sittliche Verfassung des vorbildlichen Gemeinwesens beruhe auf dem Grundsatz, „daß es für die Frauen außerhalb eines zurückgezogenen und häuslichen Lebens keine guten Sitten gibt, [...] daß die Würde ihres Geschlechts in seiner Bescheidenheit liegt, daß Scheu und Scham bei ihr nicht von Ehrbarkeit zu trennen sind, daß sie sich bereits von den Männern verführen läßt, wenn sie ihre Blicke sucht, und daß jede Frau sich entehrt, die sich zur Schau stellt" (BA 417f.). Zum Zusammenhang von Scham und Häuslichkeit vgl. Kofman 1986, 25f., die in ihrem Essay vor allem die paranoiden Strukturen in Rousseaus Diskurs über die Scham herausarbeitet. Den Ubergang „von der Forderung nach Zurückhaltung der Frauen zu ihrem Rückzug [...], von ihrer ,Reserviertheit' zu ihrer ,Reservierung/Reservathaltung'" liest Kofman überzeugend als ein Zugeständnis an die von Rousseau bestrittene gegnerische Position, nach der die Norm der Scham lediglich einem kulturellen Vorurteil entspricht. Implizit werde „damit anerkannt, daß im Ubergang von der einen zur anderen Aufforderung eine ganze Prozedur sozialer, männlicher Herrschaft interveniert" (25). Zum Beispiel: „Das Verlangen, das mit Scham bedeckt wird, wird dadurch um so verführerischer, die Scham entflammt es, indem sie es hemmt" (BA 419).

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der hilflosen Verwirrung soll zudem durch eine kulturelle Praxis, die den 22

Schleier der Scham kunstvoll in Szene setzt, intensiviert werden. Bemerkenswert ausführlich beschäftigt sich Rousseau mit Fragen der passenden Kleidung und der von Kindheit an einzuübenden Haltung der Anmut, 23 die beide im Dienst der weiblichen Bestimmung stehen, „zu gefallen und sich zu unterwerfen" (E 386). Das gesellschaftliche Korrelat zur „natürlichen" Scham bildet — ein geordnetes Gemeinwesen vorausgesetzt — die öffentliche Meinung. Als eine soziale Praxis der permanenten Überwachung kontrolliert sie die Leidenschaften auch dann, wenn die „Sprache der Natur" (E 306) — die Vernunft des Mannes und das Schamgefühl der Frau — als Regulativ ausfallt, weil sie vom zivilisatorischen Entfremdungsprozess, der haltlosen Reflexion und einer permanenten Inszenierung des Scheins, zum Verstummen gebracht wird. (2) Im Gegensatz zu den egozentrischen und wechselhaften Leidenschaften, die den sozialen Zusammenhang zerstören, sind die Gefühle, welche die ideale Gemeinschaft prägen, harmonisch, konstant und am Wohl der

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Zur „Ökonomie des Schleiers" vgl. Garbe 1992, 98-103. Zum Beispiel E 395-406. Dem Zwang der öffentlichen Meinung sind primär die Frauen unterworfen. Der Mann, dessen Ideal Rousseau im Emil entwickelt, hat gelernt, die öffentliche Meinung gründlich zu verachten und seine Autonomie eben dadurch zu beweisen, dass er sowohl intellektuell wie emotional unabhängig von ihr ist. „Ein rechtschaffener Mann hängt nur von sich selbst ab und kann der öffentlichen Meinung trotzen. Eine rechtschaffene Frau hat damit nur die Hälfte ihrer Aufgabe gelöst: das, was man über sie denkt, ist nicht weniger wichtig als das, was sie wirklich ist. Daraus folgt, daß ihre Erziehung in dieser Hinsicht das Gegenteil von unserer sein muß. Die öffentliche Meinung ist für die Männer das Grab ihrer Tugend, für die Frauen aber deren Thron." (E 394) Anders verhält es sich in den Schriften, deren Erziehungsprogramm nicht auf ein einzelnes außerordentliches Individuum, sondern auf die Menge zugeschnitten ist. In der Abhandlung über die ^Legierung Polens oder der Abhandlung über die Politische Ökonomie beispielsweise unterstehen Männer wie Frauen der Kontrolle der öffentlichen Meinung (vgl. Blättler 1999, 999-1001). Auch im Brief an d'Alembert, in dem auf die Kontrolle der Frauen besonderes Gewicht gelegt wird, übernimmt die öffentliche Meinung ein „Zensorenamt" (BA 442), dem beide Geschlechter unterliegen: „Wenn unsere Sitten in der Zurückgezogenheit unseren eigenen Gefühlen entspringen, so entspringen sie in der Gesellschaft der Meinung der anderen. Wenn man nicht in sich selbst, sondern in den anderen lebt, dann sind es ihre Urteile, die alles bestimmen" (BA 401).

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Mitmenschen orientiert. Sie leiten sich, so Rousseau, aus einem natürlichen Empfinden her, was sie — gleich der Scham — zu spezifisch weiblichen Gefühlen macht. Durch eine weibliche Sozialisation, die im Schonraum der Privatsphäre die Entwicklung des abstrakten Denkens ebenso hemmt wie die Entfaltung der Leidenschaften, sollen Frauen die sinnliche Erkenntnis eines natürlichen sowohl ästhetischen wie moralischen Geschmacksempfindens [goût) und eine unmittelbare Mitmenschlichkeit bewahren. Frauen fühlen sich intuitiv in ihre Mitmenschen ein und reagieren auf sie mit einer ursprünglichen Güte [bonté). Im Gegensatz zum Mann, der aufgrund von Weltkenntnis und Vernunfteinsicht tugendhaft handelt, handeln Frauen „aus Lust und Liebe" [des goûts) (E 398). Analog zur Unterscheidung zwischen instinkthafter Güte und moralischer Tugend verwendet Rousseau, wenn er von den Tätigkeiten Sophies spricht, konsequent den Ausdruck „Besorgungen" [soins) und nicht das Wort „Arbeit" [travail)}1 das — wie die Tugend — einen Aspekt der Leistung beinhaltet und dem Mann vorbehalten bleibt. Rousseaus Sprachgebrauch lässt sich als ein weiterer Hinweis darauf lesen, dass die Sphäre des Privaten als Sphäre der Frauen jenseits der modernen, auf dem Grundsatz des individuellen Selbstinteresses beruhenden Konkurrenzgesellschaft mit ihren so28 zialen Entfremdungsphänomenen angesiedelt ist. Diese Lesart wird dadurch bestärkt, dass sowohl Sophie als auch — nach ihrer Konversion — Julie Frauengestalten ohne sexuelles Begehren sind. Mehr noch: Mit dem Zeitpunkt ihrer Verheiratung hat Julie überhaupt aufgehört, von sich 25 Vgl. beispielsweise Julies Belehrungen an St. Preux, NH 388ff. 26 Zum spezifisch weiblichen Geschmacksempfinden [goût) als einer Form der sinnlichen Erkenntnis vgl. Steinbrügge 1992, 70ff.; zur ursprünglichen Güte [bonté) als einer vormoralischen und deshalb im Gegensatz zur Tugend [velili) verdienstlosen Disposition, Gutes zu tun, Fetscher 1990 (zuerst 1960), 88ff. 27 Daraufhat Ehrich-Haefeli 1995, 129ff. hingewiesen und dargelegt, dass darin die historisch relativ neue ökonomische Abhängigkeit der Frauen von männlicher Arbeit zum Ausdruck kommt, die Rousseaus Modell eines komplementären Geschlechterverhältnisses zugrunde liegt, in welchem die Tätigkeiten der Frauen auf Fürsorge und Gefälligkeit, die Schaffung einer zärtlich-empfindsamen Geselligkeit und die Entfaltung „angenehmer Talente" (E 406) wie Tanzen, Singen und Zeichnen beschränkt werden. 28 Friederike Küster 2005 versteht Rousseaus Konzept des Privaten als eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Als Sphäre affektiven Gleichklangs, „transparenter, unverzerrter Kommunikation und Interaktion" (21) bilde das Private eine Gegenwelt zu Staat und Gesellschaft, die von Rousseau nach ihrer „Abkoppelung" in die weitere Perspektive einer — von ihr ambivalent bewerteten — „Refamilisierung des Politischen" (24) überführt werde.

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selbst zu sprechen. Solche, von der feministischen Forschung vielfach und differenziert analysierte Selbstlosigkeit der Frauen scheint die Bedingung jener ursprünglichen menschlichen Güte zu sein, die den inneren Zusammenhang der Familie und des idealen Gemeinwesens sichert. Auf dem Landgut von Ciarens entfalten sich die sozialen Gefühle im Rahmen einer geschlossenen, ökonomisch autarken Gemeinschaft, deren selbst erwirtschafteter Reichtum mit den natürlichen Bedürfnissen seiner Mitglieder übereinstimmt. Die Begrenzung sowohl der Produktion wie der Bedürfnisse ermöglicht eine konkurrenzfreie Kooperation, in der das individuelle Interesse in der Orientierung am Gemeinwohl aufgehoben ist. Dieser Harmonie in der Welt der Arbeit und des Konsums entspricht ein offenes und konfliktfreies Miteinander in der Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Norm einer unbedingten Transparenz verhindert das Auseinandertreten von Sein und Schein, wodurch Verstellung und Verdächtigung, Täuschung und Misstrauen aus dem Gemeinwesen verbannt sind. 29 (3) Das auf Prinzipien der Gerechtigkeit und der klugen Organisation beruhende Gemeinwesen hat sein Zentrum in einer unanfechtbaren Autorität, die das Leben der Gemeinschaft reguliert. Wolmar, der Hausherr von Ciarens, der sich selbst zu dem gemacht hat, was er ist, verkörpert die alles durchdringende Vernunft in ihrer sowohl moralischen wie strategischen Dimension. Wie der Lehrer Emils und der Gesetzgeber des Gesellschaftsvertrags ist er in das Geschehen, das er lenkt, emotional nicht involviert. Seine „größte Neigung [...] ist das Beobachten" (NH 386). In ihrer Autonomie sind die lenkenden Autoritäten wie die Gesetze, die sie repräsentieren, zwar gottähnlich, doch wenig angenehm. Von Herrn von Wolmar sagt Julie: Anders als die gewöhnlichen „Gefühlsmenschen" ist er „niemals lustig oder traurig". „Er lacht nie; er ist ernsthaft" (NH 386); „er sucht niemanden und geht niemandem aus dem Wege" (NH 385). Die Welt der Vernunft wäre nicht nur kalt (vgl. NH 389), sondern auch ohne bindende Kraft, würden ihre Gesetze nicht, wie Rousseau am Ende des zweiten Buches des Gesellschaftsvertrags mit Bezug auf die politische Sphäre schreibt, „in die Herzen der Bürger eingegraben" (GV 116) und durch Gefühle be-

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Transparenz, so zeigt Jean Starobinski im fünften Kapitel seiner Rousseau-Studie (ders. 2003 (franz. zuerst 1971), 123—182), das der Analyse der Neuen He'loïse gewidmet ist, ist das bestimmende Merkmal der sozialen Idylle, in der moralisches Gefühl und unmittelbares Glück sinnlicher Empfindung eine Einheit bilden.

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lebt. Die sozialen Gefühle setzen wohlgeordnete private und öffentliche Verhältnisse voraus. Zugleich sind sie, an den Normen des wohlgeordneten Gemeinwesens orientiert, das vitale Moment, das diesen Normen Wirksamkeit verleiht. Die Domestizierung der Leidenschaften zu sozialen 31

Gefühlen durch die Kontrolle der Vernunft oder der öffentlichen Meinung ist deshalb das wichtigste Erziehungsziel in Rousseaus Schriften, die ihr normatives Zentrum im Gedanken der Freiheit — dem inneren Frieden und einer harmonischen Koexistenz — haben. Dass dieses Domestizierungsprogramm sowohl aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse wie aufgrund der Macht der Leidenschaften ein unwahrscheinliches Unterfangen darstellt, betont Rousseau allenthalben. Dramatisiert hat er seine Skepsis in den Frauengestalten Julie und Sophie, die am Ende ihren Leidenschaften erliegen, damit den sozialen Zusammenhang gefährden beziehungsweise ruinieren und deshalb von Rousseau in den Tod geschickt werden.

3. Die Norm der Autarkie und die Erziehung zur emotionalen Selbstübereinstimmung Ciarens und die Welt Sophies beschreiben einen unentfremdeten Zustand des inneren Friedens, der Transparenz und der Harmonie. Als vormoderne Idyllen verwirklichen sie unter Bedingungen der Vergesellschaftung jenes Ideal der Selbstübereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Welt, das Rousseau aus der Konstruktion des fiktiven Naturzustandes im Zweiten Diskurs gewonnen hat. Der Urzustandsbewohner, eine sprachlose solitäre Existenz, die seinesgleichen kaum begegnet und ohne jede Bindung zu ihnen ist, lebt in psychischer Autarkie. Auf sich gestellt, in sich zentriert und sich selbst genug, gehorcht er allein dem Drang nach Selbsterhaltung (amour de soi). Seine Bedürfnisnatur weist, anders als bei Machiavelli oder Hobbes, nicht über die Notwendigkeit der Selbsterhaltung hinaus, sondern ist in ihr begrenzt. Selbst die Sexualität beschränkt sich auf den Zweck der Arterhaltung. Emotionslos, weil ohne zwischenmenschliche Beziehungen und damit frei von ich-bezogenener Reflexion, atme er nur „Ruhe und Freiheit". Selbst „die Ataraxie des Stoikers" errei30 31

Zur Bedeutung einer Vermittlung von Vernunft und Gefühl vgl. Nagl-Docekal 1994, 585f£; Fetscher 1990, 83ff. Dies das Programm, das Nicole Fermons (1997) Analysen untersuchen.

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che nicht „seine tiefe Gleichgültigkeit jedem anderen Objekt gegenüber" (UU 267). Die Ataraxie des Stoikers, wie sie der savoyische Vikar im vierten Buch des Emil ersehnt, 32 unterscheidet sich von der Autarkie des Naturzustandbewohners, der nichts von sich weiß, dadurch, dass sie von einem intensiven Selbstgefühl — Glück — begleitet ist. Vollendetes Glück als eine zustandhafte Lust ist denkbar jedoch nur unter der Voraussetzung vollkommener Selbstgenügsamkeit und deshalb Gott vorbehalten: „Ein wahrhaft glückliches Wesen ist einsam. Gott allein genießt absolutes Glück." (E 222) Zwar ist vollkommenes Glück eine Realität, die jenseits menschlicher Erreichbarkeit liegt. Als solches bezeichnet es ein Ideal. Dieses Ideal jedoch wird von Rousseau als Bildungs- und Kulturaufgabe dem Menschen überantwortet. Sowohl das Erziehungsprogramm des Emil als auch der politische Entwurf des Gesellschaftsvertrags sind darauf hin angelegt. Glück, verstanden als ein lebendig empfundener Zustand der inneren und äußeren Harmonie, bildet nicht nur das Ziel individueller und kollektiver Selbstvervollkommnung, sondern hat bei Rousseau im Menschen auch seinen Ursprung. „Die Quelle von Einheit und Ganzheit", so Charles Taylor, „die Augustin nur in Gott ausmacht, ist nun innerhalb des Selbst zu finden."33 Was Menschen zu menschlichen Wesen macht, ist ihre gegenseitige Abhängigkeit. Das ist ihre Schwäche und zugleich die Bedingung ihrer Fähigkeit, Gefühle auszubilden, die in sich die Möglichkeit glückhafter Erfahrung enthalten: Liebe, Wohltätigkeit und Güte (vgl. E 222). Diese Gefühle der Zuwendung haben ihren Ursprung in einer angeborenen Disposition zur Empathie, die Rousseau in Gestalt des Mitleids {pitie) bereits dem Menschen im Naturzustand zuschreibt. Rousseau betont in diesem Zusammenhang, der Logik seiner Naturzustandskonstruktion folgend, vor allem die negative Sozialität des Mitleids: Eine instinkthafte Abneigung (répugnance), seine Artgenossen leiden zu sehen, begrenzt im Konfliktfall den Antrieb der Selbsterhaltung und ermöglicht so jenes reibungslose Nebeneinander, das das eigentliche Kennzeichen des Naturzustands bildet. Indem Rousseau jedoch auf die „Zärtlichkeit der Mütter für ihre Jungen" selbst im Tierreich und die „Gefahren [...], denen sie trotzen, um sie vor diesen zu beschützen", verweist (UU 143), führt er in die Beschreibung

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„Ich sehne mich nach dem Augenblick, in dem ich [...] ohne Einschränkung und ohne Teilung ich sein werde und nur meiner selbst bedarf, um glücklich zu sein." (E 309) Taylor 1996 (amerik. zuerst 1989), 631.

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ein positives Gefühl ein, das (wie überhaupt jedes Gefühl) seiner Konstruktion des Menschen im Naturzustand, der zwar Objektbeziehungen, aber keine intersubjektiven Beziehungen kennt, widerspricht. Dieser Widerspruch zeigt sich auch in seiner schwankenden Terminologie. Einmal nennt er das Mitleid eine „reine Regung der Natur" {pur mouvement de la nature) (UU 144f.), „die jeder Reflexion vorausliegt", ein andermal eine „Tugend" (vertu) — eine „natürliche" Tugend (UU 142f.). Am Ende seiner Ausführungen schließlich bezeichnet er das Mitleid als ein „natürliches Gefühl", das „uns [...] zur Unterstützung derer" veranlasst, „die wir leiden sehen", und das im Naturzustand funktionsäquivalent „die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend" vertritt (UU 151).34 Als eine angeborene Disposition kann das Mitleid im Zustand der Vergesellschaftung durch die Ausbildung von Einbildungs- und Urteilskraft differenziert und in Tugen35

den habitualisiert werden. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es unter nicht-idealen Bedingungen von Konkurrenz, gesellschaftlicher Anonymität und ungehemmter Reflexion unterdrückt wird, sich auflöst und ab34

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Für eine Rekonstruktion des vielschichtigen Begriffs des Mitleids bei Rousseau vgl. Schiemann 2007, der sowohl die widersprüchlichen Momente des Begriffs wie dessen ambivalente Beurteilung (auch durch Rousseau selbst) herausarbeitet. Die „Großmut, die Milde, die Menschlichkeit" seien nichts anderes, so Rousseau im Zweiten Diskurs, als „das auf die Schwachen, die Schuldigen oder die menschliche Art im allgemeinen angewandte Mitleid". Dasselbe gelte für das „Wohlwollen und selbst die Freundschaft". Auch sie seien „Erzeugnisse eines konstanten, auf einen besonderen Gegenstand fixierten Mideids" (UU 147). Zur Beziehung zwischen den Tugenden der Großmut, Güte und Freundschaft und einer angeborenen Disposition zum Mitleid, die sich im Werk Rousseaus komplexer gestaltet, als die hier zitierte Passage unterstellt, vgl. Fetscher 1990, 75-78; Schiemann 2007, 200; Strong 1994, 42. Zum Beispiel PO 28: „Anscheinend verdunstet und schwächt sich die Menschheitsliebe ab, während sie sich über die ganze Welt ausbreitet [·•·]• In gewissem Maß muß man das Interesse und das Mitleid begrenzen und zusammenpressen, um sie zu aktivieren." Zum Beispiel UU 149: Unter dem Fenster des Philosophen könne man „seinen Mitmenschen [...] ungestraft umbringen; er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet." Oder Ν 156: „Der Geschmack an der Philosophie lockert alle Bande der Achtung und des Wohlwollens, die die Menschen an die Gesellschaft binden [...] [D]adurch, daß der Philosoph über die Menschheit nachdenkt, dadurch, daß er die Menschen beobachtet, lehrt er, sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen, und es ist schwer, Zuneigung für das zu empfinden, was man verachtet. [...] Die Familie und das Vaterland werden für ihn sinnleere Worte; er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph."

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stirbt. Am ehesten findet man es daher noch bei einfachen Menschen und den Frauen. Aufgrund ihrer fehlenden intellektuellen Bildung und ihrer zurückgezogenen Lebensweise sind sie den instinkthaften Empfindungen noch näher. Ihre Mitmenschlichkeit ist nicht eigentlich eine Tugend, sondern verdankt sich unmittelbarer Einfühlung und spontaner Fürsorglich38

keit. Das ist ihre für den sozialen Zusammenhang unverzichtbare Stärke, aber auch ihre Schwäche, wie Rousseau am Beispiel Sophies im Fortsetzungsfragment Emil und Sophie oder Die Einsamen demonstriert: Außerhalb des geschützten Raumes eines geordneten Gemeinwesens und ohne das Regulativ eines lenkenden Wissens, sind sie zum Scheitern verurteilt. Es fehlt ihnen die vernunftvermittelte Moral, die sie, auf sich selbst gestellt, vor Korruption und vor den stets lauernden Leidenschaften schützen könnte. Neben dem Mideid kennt Rousseau ein weiteres Gefühl, das den Menschen als soziales Wesen auszeichnet, eine Grundlage der ethischen Ordnung bildet und ebenfalls in einer angeborenen Disposition wurzelt: 39 das Gewissen (conscience). Eindeutiger als das unmittelbare Wohlwollen geht das Gewissen aus der Selbstliebe hervor. Im Naturzustand wie im Kindesalter antwortet das „Gefühl für Recht und Unrecht", das „dem Menschenherzen eingeboren ist" (E 43), lediglich auf Verletzungen des eigenen Willens, weshalb Rousseau in diesem Zusammenhang noch nicht vom „Gewissen" spricht. Es bedarf einer umfassenden emotionalen wie intellektuellen Erziehung, die den kindlichen Narzissmus überwindet, um das aufgrund seiner Selbstbezüglichkeit und Maßlosigkeit ambivalente Gefühl in jene „unsterbliche und himmlische Stimme" (E 306) zu transformieren, die den Menschen dazu anhält, dem „Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend" (E 303) zu folgen. Obwohl das Gewissen seinen Handlungsimpuls nur entfalten kann als ein leidenschaftliches Begehren des 38

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Vgl. dazu jene Szene im ΈηήΙ, die Sophie in der elenden Hütte armer Leute am Krankenbett des alten Mannes zeigt und die von Emils Ausruf beschlossen wird: „Das ist die Frau." (E 487) Ob das Gewissen ein Gefühl sei, ist in der Rousseau-Forschung umstritten. Ernst Cassirer beispielsweise, der generell gegen eine Einordnung von Rousseaus Moralphilosophie in die Tradition der Gefühlsmoral argumentiert, versteht das Gewissen als eine „Unmittelbarkeit [...] nicht des Gefühls, sondern [...] der Vernunft". Das Gewissen, das den Einzelnen befähigt, die „wahren Prinzipien des Sittlichen [...] intuitiv [zu] erfassen", bezeichnet er als eine „,eingeborene' Erkenntnis" (Cassirer 1995 (zuerst 1932, 62f.)). Für eine Diskussion dieser grundlegenden Frage vgl. Marks 2006, 565—567 und die hier angegebene Literatur. Zur Gewissensbildung als zentralem Thema des Emil vgl. Marks 2006.

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Guten — Liebe —, ist es umgekehrt von den Leidenschaften stets bedroht. Nur „wenn die Leidenschaften schweigen", sei seine Stimme zu vernehmen (WK 60). Als „Stimme der Natur" (E 304) droht es in der künstlichen und verfälschenden Kultur eines lasterhaften Jahrhunderts zu ersticken. Als „Stimme der Vernunft" (E 304) ist es Gegenstand des Wissens und der Erkenntnis und also für Reflexion und Irrtum anfállig. Selbst wenn man die guten Absichten der Menschen, sich von den Prinzipien der Gerechtigkeit lenken zu lassen, voraussetzen könnte, wäre es unter allen nicht-idealen Bedingungen wenig wahrscheinlich, dass sie auch fähig wären, diese richtig zu erkennen und adäquat in die Praxis umzusetzen. Das gilt für den Einzelnen, und erst recht gilt es für ein Kollektiv. Pessimistisch heißt es im Gesellschaftsvertrag in Vorbereitung auf die Einführung des Gesetzgebers, der eben deshalb notwendig wird: „Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber von sich aus erkennt es das Volk nicht immer. Der Gemeinwille hat immer recht, aber das Urteil, das ihn führt, ist nicht immer erleuchtet." (GV 99). Rousseaus praktische Philosophie enthält unterschiedliche Erziehungsprogramme, doch verfolgen sie das gleiche Ziel: die Bildung der Menschen zur Freiheit, die negativ als Unabhängigkeit von fremder innerer wie äußerer Willensbestimmung, positiv als Selbstbestimmung verstanden wird. Vor dem Hintergrund seiner gesellschaftskritischen Diagnose der Selbstentfremdung des modernen Menschen, die ihn der Willkür blinder und widerstreitender Leidenschaften ausliefert, entwirft er einen idealen Zustand, in dem die ruhige Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seine Ubereinstimmung mit den Normen des Gemeinwesens konvergieren, individuelle Lebensform und öffentliche Tugend sich völlig verschränken, die Identifikation mit dem ethischen Ganzen die Entfaltung eines guten Lebens ermöglicht. Unter nicht-idealen Bedingungen der Entzweiung verlangt das Programm ihrer Überwindung die Vereinseitigung: Entweder soll das Individuum, wie Emil im Fragment E mil und Sophie oder Die Einsamen, die Fähigkeit erlangen, am Rande der Gesellschaft seinem eigenen, vom Gewissen geleiteten Willen zu folgen, oder es soll, so sehen es beispielsweise die Erziehungspläne für das Volk in den Betrachtungen über die ^Legierung Polens vor, systematisch dem Willen des Kollektivs unterworfen werden. 41 Die dabei verwendeten Methoden sind denen der Mädchenerziehung im Sophie-Kapitel vergleichbar. Sie ergeben sich aus dem strukturell analogen Erziehungsziel: Wie die Frau ihre Be41

Z u m F o l g e n d e n vgl. B l ä t d e r 1999, 9 9 9 - 1 0 0 1 .

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Stimmung ausschließlich im Mann findet, so der Bürger und/oder Untertan ausschließlich im Gemeinwesen. Der individuelle Wille muss deshalb ausgelöscht und ersetzt werden. Erneut spielen die Leidenschaften, insbesondere die Liebe, eine konstitutive Rolle. Doch anders als im Fall Emils oder der sozialen Idylle, wird die Liebe nun nicht durch Vernunft gemäßigt und in soziale Gefühle transformiert, sondern entfesselt und vom Selbst auf das Vaterland {la patrie), das als „gemeinsame Mutter" (PO 32) 42

imaginiert wird, umgelenkt (vgl. PO 34). Erziehung soll „Patrioten aus Neigung, aus Leidenschaft, aus Notwendigkeit" (P 578) schaffen. Die leidenschaftliche Identifikation des Patrioten macht dann „sein ganzes Sein aus; er sieht nur das Vaterland, lebt nur dem Vaterland; sobald er allein ist, ist er nichts; sobald er kein Vaterland mehr hat, hört er auf zu sein." (P 578) Patriotische Identifikation teilt mit der stoischen Indifferenz die Auslöschung der Ambivalenz, die Vernichtung jener Differenz, die einerseits Beziehungen, Reflexivität und wechselvolle, lebendige Gefühle ermöglicht, anderseits aber stets die Gefahr der Entfremdung und Entzweiung in sich trägt, die den Menschen im Chaos der Leidenschaften versinken lassen.

Literatur Rousseaus Schriften werden nach unterschiedlichen Ausgaben und Übersetzungen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind:

Β BA

E

GV

Ν NH Ρ PÖ uu WK

42

— Bekenntnisse — Brief an Herrn d'Alembert über seinen Artikel „Genf' — Emil oder Über die Erziehung — Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts Vorrede χμ „Narcisse - Julie oder Die neue Héloïse - Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform - Abhandlung über die Politische Ökonomie - Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen - Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat

Vgl. Wingrove 2000, 163-168.

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Immanuel Kant (1724-180)

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle Birgit Recki Kants Theorie der Emotionen — wenn man denn in vereinheitlichendem Zugriff die verschiedenen historischen Phasen und systematischen Stränge seines Nachdenkens so nennen will — ist von Anfang an auf die Bedeutung der Gefühle für ein vernünftiges Selbstverständnis konzentriert. Es ist diese Zuspitzung, die auch eine interne Ausdifferenzierung im zunächst unspezifischen Begriff des Gefühls mit sich bringt. Eine Zeitlang — nachweislich in den Jahren zwischen 1764 und 1766 — ist der vielen nur als rigoroser Rationalist geläufige Kant Moralsensualist gewesen. Schon in dieser Zeit des methodischen Anspruchs an ein allgemeinmenschliches Gefühl fur die Schönheit und die Würde der menschlichen Natur, das er als das moralische Gefühl auszeichnet (GSE), geht es ihm um dessen kognitive und praktische Funktion. Wenn er auch diese im emphatischen Anschluss an die schottischen Aufklärer — Shaftesbury, Hutcheson und Hume — bezogene Position zugunsten einer rationalen Begründung der Moral rasch wieder aufgegeben hat, so bleibt doch in seiner vernunftkritischen Philosophie auch mit der Grundlegung der Moral im guten Willen als der reinen praktischen Vernunft von seiner frühen Orientierung mehr als nur eine Reminiszenz. Die anhaltende Auseinandersetzung mit Status und Funktion des Gefühls bringt Kant zu der Einsicht, dass zur Erörterung der Leistungen und Grenzen der Vernunft auch die des reflektierten Gefühls gehört — ein theoretisches Unternehmen mit doppeltem systematischem Ertrag: Das Gefühl wird nachhaltig befreit vom generellen Verdacht des Irrationalismus, und die Vernunft selber wird begriffen als Ursprung von Gefühlen, der Vernunftbegriff mithin erweitert um die Dimension der Emotionalität. Indem das Gefühl als integrales Moment der Vernunft ausgewiesen wird, wird es zugleich mit Blick auf seine vernünftigen Funktionen spezifiziert: Nicht jede x-beliebige Empfindung von Lust und Unlust, sondern solche Gefühle, deren Ursprung als in Prozessen der Reflexion einsichtig gemacht werden kann, bilden das Thema der Vernunftkritik als Gefühlstheorie. In Kants Theorie findet mit dieser Engführung eine Qualifizierung solcher Gefühle statt, denen kognitive und praktische Funktionen zukommen.

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1. Keine Theorie der Affekte — eine begründete Vernachlässigung Aus demselben Grunde, der Kant dazu bringt, im Zuge seiner Vernunftkritik auch eine Theorie der Gefühle zu entwickeln, sucht man bei ihm nach einer vergleichbar elaborierten Theorie der Affekte vergebens: Es ist das Interesse an der philosophischen Artikulation des vernünftigen Selbstverständnisses, das ihn bei der Theoriebildung die Gewichte verteilen lässt. Dabei erfolgt die Differenzierung der Begriffe vom Emotionalen erst im Zuge der Ausbildung der Vernunftkritik, in der sich auch der Fokus des Interesses auf die reflektierten Gefühle richtet. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)1 bedenkt Kant seit Beginn der 70er Jahre unter dem Genusproximum eines „Gefühls der Lust und Unlust" ebenso die Affekte — als diejenigen Gemütsbewegungen, deren Quelle die sinnliche Natur des Menschen ist —, wie andere „Gefühle", deren Begriff ihm hier noch mit dem später überwiegend spezifisch davon abgesetzten der Empfindung kongruiert. Er unterscheidet hier von den Affekten solche sinnlichen Gefühle, die durch die Einbildungskraft bzw. den Geschmack ausgelöst sind, und das davon abgesetzte „intellektuelle" Gefühl der Lust, das aus Begriffen oder Ideen entspringt. Im beiläufig eingeführten, nicht näher erläuterten Begriff der „Motion" als einer innerlichen Bewegung (des Gemüts) (ApH 232) dürfte die Wirkung aller Gefühle der Lust und Unlust zusammengefasst sein. Der Affekt, so definiert Kant hier, ist „das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt" (ApH 251). Er besteht nämlich in einer „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths [...] aufgehoben wird." (ApH 252) Schon daran wird deutlich: Die Affekte kommen für Kant nur als deficiente Modi des menschlichen Zustandes, ja als Störfaktoren in Betracht. Prägnant wird diese Einschätzung in der Rede von den „Affecten, als Gefühlen der Lust und Unlust, die die Schranken der inneren Freiheit im Menschen überschreiten" (ApH 235) — enthält 1

Kant hat 1772 mit seinen Vorlesungen zur Anthropologie begonnen und diese bis zur Erstellung des Manuskripts 1796 fur die Druckfassung 1798 in regelmäßigen Abständen immer wieder gehalten. Die Anthropologie dokumentiert so, um den Preis einer bisweilen mangelnden Synchronisierung mit den Errungenschaften der vernunftkritischen Analysen, Kants umfassendes Interesse an den menschlichen Leistungen über fast drei Jahrzehnte hinweg.

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle

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doch diese (textchronologisch erste) Bestimmung den entscheidenden Hinweis darauf, wieso sich der Autor einer Vernunftkritik, als deren vornehmstes Ziel sich mit zunehmender Deutlichkeit die Qualifikation der inneren Verbindung von Vernunft und Freiheit erweist, für die Affekte nicht sonderlich interessiert: „Wem der Affect wie ein Raptus anzuwandeln pflegt, der ist, so gutartig jener auch sein mag, doch einem Gestörten ähnlich" (ApH 253). Daraufhin muss es praktisch vor allem darum gehen, mit den Affekten fertig zu werden. Kein Wunder also, dass Kant auch theoretisch mit ihnen schnell fertig ist — und dabei auch keine weitere Vorstellung davon entwickelt, wie wir praktisch mit ihnen fertig werden können. Während andere Gefühle der Lust und Unlust, die aus bloßer Sinnlichkeit (sinnlichen Begierden und ihrer Befriedigung) entspringen, wenigstens der Sublimierung fähig sind,2 ist der Affekt als das Andere der Vernunft der vernünftigen Kontrolle nicht zugänglich. Kant veranschaulicht den Affekt und seine Wirkung in ständiger spezifischer Unterscheidung von der auf Pathos beruhenden Leidenschaft, die er als eine „durch die Vernunft des Subjects schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung" (ApH 251) definiert. Während die Leidenschaft einem Strom vergleichbar ist, „der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt", wirkt der Affekt „wie ein Wasser, was den Damm durchbricht"; die Leidenschaft wirkt wie die Schwindsucht oder Auszehrung, der Affekt dagegen wie ein Schlaganfall; 3 der Affekt ist wie ein Rausch, die Leiden2

Siehe dazu den denkwürdigen Appell: „Junger Mann! versage dir die Befriedigung (der Lustbarkeit, der Schwelgerei, der Liebe u. d. g.), wenn auch nicht in der stoischen Absicht, ihrer gar entbehren zu wollen, sondern in der feinen epikurischen, um einen immer noch wachsenden Genuß im Prospect zu haben. Dieses Kargen mit der Baarschaft deines Lebensgefühls macht dich durch den Aufschub des Genusses wirklich reicher, wenn du auch dem Gebrauch derselben am Ende des Lebens großentheils entsagt haben solltest. Das Bewußtsein, den Genuß in deiner Gewalt zu haben, ist wie alles Idealische fruchtbarer und weiter umfassend als Alles, was den Sinn dadurch befriedigt, daß es hiemit zugleich verzehrt wird und so von der Masse des Ganzen abgeht." (ApH 165). Zur Interpretation der Stelle siehe Recki 2006, 109f. - Im Lob auf die Arbeit nicht allein als Mittel der Disziplinierung, sondern auch als Ursprung eines im Lustaufschub erworbenen „Capitals] von Zufriedenheit" gibt Kant an einer späteren Stelle eine aufschlussreiche Präzisierung (ApH 237). — Es ist als grundsätzliche Reflexion solcher Überlegungen zur vernünftigen Kontrolle der Begierden anzusehen, wenn Kant am Beispiel einer scheinbar unwiderstehlichen „wollüstigen Neigung" die Frage, ob einer sich ihr auch in der Aussicht hingeben würde, unmittelbar nach dem Genuss am Galgen zu enden, zuversichtlich verneint; siehe KpV 30.

3

Kant spricht wörtlich von „Abzehrung" und „Schlagfluß": a. a. O., 252.

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schaft wie ein Wahnsinn (ApH 252f.). Wir sehen an dieser Anordnung der Vergleiche, dass hier zwei vernunftwidrige oder mindestens nichtvernünftige Arten der Handlungsmotivation im Hinblick auf ihre kurzfristige oder nachhaltige, spontane oder habituelle Wirkungsweise unterschieden werden. Auf der Grundlage der Einschätzung, dass der Affekt mit seinem nur „augenblicklichen Abbruch an der Freiheit" (ApH 267) etwas Vorübergehendes sei, mag man dann noch im Hinblick auf die situativ wünschenswerte Wirkung etwa eines reinigenden Gewitters oder einer disziplinierenden Einschüchterung wie Sokrates abwägen, „ob es nicht auch manchmal gut wäre zu zürnen" (ApH 253). Man mag sich sogar im Sinne der naturteleologischen Deutung, die Kant seinen Überlegungen insgesamt zugrundelegt,4 auf die naheliegende Frage bringen lassen, wieso denn die Natur die Anlage zu solchen Anwandlungen in uns gepflanzt habe; und Kant sieht sich hier zu der entwicklungspsychologischen Konzession gehalten, in den gutartigen Affekten handle es sich um ein „einstweiliges Surrogat der Vernunft", durch das ein pathologischer Anreiz zum Guten dort gegeben sei, wo die Vernunft noch nicht „zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen". Man mag hier schließlich Einsatzstellen wahrnehmen für eine systematische Revision. Für Kants Beurteilung spielt all dies keine Rolle, denn da ist entscheidend, dass der Affekt „für sich allein betrachtet, jederzeit unklug" ist (ApH 253). Apodiktisch gilt: „Affecten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemiiths-, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt." Deshalb findet Kant auch, das „Princip der Apathie" als das der „Affectlosigkeit" sei ein „ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule" (ApH 251-253). In dieser Auffassung liegt der Grund dafür, dass wir in Kants Anthropologie zwar einige rationalitätstheoretisch wie moralphilosophisch naheliegende Bemerkungen über die Affekte im Allgemeinen wie im Besonderen finden, 5 aber keine Theene der Affekte. Eine kognitive oder praktische Funktion der Affekte ist schlechterdings nicht absehbar. Hilfreich für das Verständnis dieser Aussparung ist bereits die Vergewisserung, worum es in einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht eigentlich geht: Betrachtet werden die Anlagen des Menschen unter dem Gesichtspunkt dessen, was

4 5

Siehe exemplarisch die Deutung des Schmerzes: A. a. O., 235. So etwa deren Einteilung in die auf die Gegenwart bezogenen Affekte von Freude und Traurigkeit, Zorn, Bangigkeit und Scham, Fröhlichkeit und Wehmut — und die auf die Zukunft bezogenen der Hoffnung und Furcht.

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle

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er im Umgang mit ihnen „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll." (ApH 119) Es ist mit anderen Worten ein von vornherein auf die vernünftige Praxis als Medium der Selbstentfaltung bezogenes Interesse wirksam, 6 und damit auch eine — wenngleich nicht zwangsläufig und nicht immer prägnant als moralisch artikulierte — normative Vorgabe. In einer intern als Grundlegung der menschlichen Freiheit ausgelegten Kritik der Vernunft können die Affekte nur als Faktoren der Heteronomie wirken und verdienen insofern keine extensive Beschäftigung. Kurz und gut: Kant behandelt die Affekte so, wie man es von einem am Primat des Praktischen orientierten Vernunftkritiker nicht anders erwarten konnte.

2. Eine Theorie der Gefühle: Ihre Stationen und Elemente Verfeinerte Empfindungen — die moralsensualistische Episode der sechziger Jahre. Eine Zeitlang ist Kant Moralsensualist gewesen. Im Bewusstsein des Ungenügens einer kogmtivistischen Begründung der Moral auf der Suche nach deren Prinzip, schien ihm der Beitrag der Schottischen Aufklärung vielversprechend. Die vorkritischen Schriften der sechziger Jahre zeigen Kant auf dem Wege zu seiner eigenen Moralbegründung im Spannungsfeld zwischen kognitivistischer Perfektionsethik und Moral-Sense-Theorien7 — unentschieden zwischen dem rationalen, formalen Bezug der Moral auf ein höchstes Prinzip und ihrer materialen Begründung aus einem verfeinerten Gefühl. In der Preisschrift von 1762/48 findet sich die erste markante Stellungnahme, ersichtlich 6

In seiner dritten Kritik macht Kant eine wenig beachtete Implikation seiner bis dahin entwickelten praktischen Philosophie geltend, indem er „die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)" als „die Cultur" bestimmt (KU § 83). Die Stelle dokumentiert nicht nur Kants Festhalten an einem grundlegenden moralneutralen Begriff von Freiheit — sie erweitert den Begriff der praktischen Vernunft auch ausdrücklich um die Dimension der Poiesis. Die selbstverständliche Verknüpfung von Vernunft, Freiheit und Kultur läuft auf einen Begriff der Kultur hinaus, in dem es um all das geht, was der Mensch unter Nutzung seiner besten Kräfte aus sich selbst in seinen vorgefundenen Verhältnissen macht. Kant fügt damit seiner Vernunftkritik ebendie Dimension des Pragmatischen, die der Anthropologie-Vorlesung ihren Titel gegeben hat, als den Bereich kultureller Lebensgestaltung hinzu.

7 8

Siehe Henrich 1963, 404-431. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologe und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Kömgl Akademie der Wissenschaften χμ Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, Akademie-Ausgabe Bd. II.

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im Sinne einer kognitiven Funktion des Gefühls, indem er das Vermögen, „das Gute zu empfinden", als „ein unauflösliches Gefühl" bestimmt. ,,[D]as Urtheil: dieses ist gut" ist für ihn „völlig unerweislich, und eine unmittelbare Wirkung von dem Bewußtsein des Gefühls der Lust mit der Vorstellung des Gegenstandes".9 Auch die erste gefühlstheoretische Schrift, die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 und insbesondere die Bemerkungen, die Kant in sein eigenes Handexemplar dieses ästhetisch-ethischen Erstlings eingetragen hat,10 dokumentieren bei allen wechselhaften Gewichtungen und Inkonsistenzen, dass der „vorkritische" Kant über einen beträchtlichen Zeitraum eine moralsensualistische Konzeption vertreten hat.11 Im Rahmen einer kleinen Phänomenologie der verfeinerten Empfindungen untersucht er hier die Beteiligung von sympathetischen Regungen wie Mitleid und Gefälligkeit sowie der Ehrliebe an der moralischen Orientierung und kommt zu dem abgrenzenden Befund, dass das „allgemeine moralische Gefühl" — die einzige Basis für wahre Grundsätze — nur im „Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur" liege (GSE 217). Noch in der Metaphysik der Sitten, als Kant längst nicht mehr das Prinzip der Moral, sondern nur noch deren Triebfeder im Gefühl zu erkennen vermag, wird er in ähnlicher Weise das Spektrum der an der moralischen Orientierung beteiligten Gefühle umschreiben und hier das Gewissen, die Nächstenliebe und die Selbstachtung samt dem moralischen Gefühl der Achtung unter dem Titel einer ,/Ästhetik der Sitten" fassen (MS 406). Im Jahr 1765 kündigt er zunächst nach seiner ersten essayistischen Annäherung eine eigene Theorie an, in der die unvollendeten „Versuche" von Shaftesbury, Hutcheson und Hume lediglich „Präcision und Ergänzung" erfahren sollen.12 Doch dieses Projekt hält genau so lange, bis ihm in seinen experimentellen Reflexionen auffällt, dass das Gefühl, von dem ein anderer als der empirisch-psychologische Begriff ihm bei aller Behauptung seiner anthropologischen Digmtät — es handle sich im Falle des moralischen Gefühls um ein allgemeinmenschliches — nicht zu Gebote steht, nicht den Charakter der Invariante mitbrachte, den wir vom Prinzip der Moral erwarten müssen.13 9 10 11 12 13

A. a. O., 299; Hervorh. teilw. v. B. R. BEM 199. Siehe die eingehende Darstellung bei Ming-Huei 1994. Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765/66, Akademie-Ausgabe Bd. II, 311. Zu den Stationen in der moralsensualistischen Vorgeschichte der kritischen Ethik siehe Recki 2001, 11-41.

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle

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Eine vernunftkritische Theorie der Gefühle I: Das moralische Gefühl der Achtung. In der kritischen Ethik hält ihn die Frage nach dem Gefühl weiterhin in Bann. Es wird sich zeigen, dass die klare Antwort auf die Grundlegungsfrage, die Exposition eines Rationalismus, der kein Kognitivismus ist, nicht schlechthin die Verabschiedung des Gefühls aus dem Bereich der Vernunft impliziert. Die Anstrengung, die es bedeutet, dem Gefühl in der Moral den Ruch des Heteronomen, des Wechselhaften, Flüchtigen und Unzuverlässigen zu nehmen, führt Kant zu einem Begriff des Gefühls als einer Weise der Reflexion. Das Gefühl verliert damit nicht den Charakter der Emotion und auch nicht den der sinnlichen Empfindung. Deren Ursprung aber wird in der Vernunft verortet: Kant spricht von einem vernunftgewirkten oder auch von einem „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirkte\n\ Gefühl" (GMS 401). Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut sey, so fehlet noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilet habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, daß ich die Handlung thue, so ist es das Moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urtheilen kann der Verstand zwar freylich, allein diesem Urtheile Kraft geben, daß es eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung einer Handlung zu bewegen, werde, dieses einzusehen ist der Stein der Weisen. (MM 1428)

So hatte er 1770 in der Moral Mrongovius ausgeführt. Doch auch noch 1785, in der ersten vernunftkritischen Schrift zur Moral, hat sich daran nichts geändert: Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-afficirten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Causalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß zu bestimmen. (GMS 460)

Es geht an der frühen Stelle unter den Begriffen von bewegender Kraft und Triebfeder wie an der späteren unter dem Begriff einer Kausalität %ur 'Bestimmung der Sinnlichkeit um das Problem, das wir uns angewöhnt haben, als das Motivationsproblem anzusprechen; 14 und es ist, wie an der Überlegung deutlich wird, dass es zum Handeln erst dann verlässlich kommen kann, wenn das Urteil des Verstandes durch das Gefühl ergänzt werde, erst das Motivationsproblem, durch dessen Behandlung der Begriff der praktischen Vernunft vollständig exponiert ist. Denn erst mit der Motiva14

Zum Motivationsproblem bei Kant siehe ausführlicher meinen Beitrag sowie die Beiträge verschiedener anderer Autoren in dem Band Motivationen des Selbst, hrsg. von Anne Tilkorn 2009 [in Vorbereitung].

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tion wird der Übergang von der bloßen Verstandesleistung zum Handeln als dem eigentlich praktischen Vollzug geleistet. Ebenso wird deutlich: Das Motivationsproblem will Kant durch das Postulat eines Gefühls lösen, das uns zum Handeln bewegen müsse. Auch nach der konzeptuellen Uberwindung des Moralsensualismus, den Kant in seiner Suche nach dem Prinzip der Moral im Ungenügen am Kognitivismus der Aufklärungsethik bis Mitte der 60er Jahre ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, sieht er somit noch einen systematischen Ort für das Gefühl in der Moral vor. Das Gefühl taugt zwar nicht als Grundlage der Moral, doch es muss als die bewegende Kraft dafür sorgen, dass wir die im Verstandesurteil als gut eingesehene Handlung auch tun. Schon in der MoralMrongovius hatte es zu Beginn der eingangs zitierten Stelle geheißen: „Das Moralische Gefühl ist eine Fähigkeit, durch ein Moralisches Urtheil afficirt zu werden." In der Grundlegung wird dies ebenso bekräftigt wie die unlösbare Schwierigkeit, die in der Metapher vom Stein der Weisen zum Ausdruck gebracht ist: „Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d. i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe" (GMS 460). Warum muss es der bloße Gedanke sein, der die fragliche, als Triebfeder taugende Empfindung der Lust und Unlust hervorbringt? Weil nur so zu gewährleisten ist, dass die moralische Autonomie, die Vernunftautonomie, nicht durch eine Heteronomie der nichtvernünftigen Sinnlichkeit aufgehoben werde. Wenn daran festgehalten werden soll, dass Vernunft das Prinzip der Moralität ist, dann darf es außer der Vernunft selber keine Antriebe zum moralischen Handeln geben — bewegende Kraft, Triebfeder, Motivation muss ihrerseits aus der Vernunft kommen. Es muss dann überzeugend dargetan werden können, dass die Vernunft selber diese Triebfeder ist. In der Funktion des bloßen Urteils, des bloßen Gedankens sieht Kant dies nicht gewährleistet. Drei Jahre später, in der Kritik der praktischen Vernunft, macht Kant geltend, diesen Stein der Weisen gefunden zu haben. Das Kapitel Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft gibt die Analyse der Achtung fürs Gesetz so, dass daran zweierlei deutlich werden soll: In der Achtung fürs Gesetz haben wir das moralische Gefühl, das als missing link der Motivation zum Handeln gesucht wurde; und in diesem Gefühl erweist sich die „Causalität der ¡Vernunft], die Sinnlichkeit ihren Principien gemäß bestimmen". Die Vernunft motiviert in einem „selbstgewirkten Gefühl". Wir können uns mit anderen Worten das Entstehen und die Verfassung dieses Gefühls a priori begreiflich machen. Wir können uns vorstellen, wie ein bloßer

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Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine E m p f i n d u n g der Lust oder Unlust hervorbringe, durch die er bewegende Kraft z u m Handeln freisetzt. Erst damit ist die Bedingung der Möglichkeit dargetan, den moralischen Gesetzen „Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen" (GMS 389). W i e geht nun Kant m semer Analyse vor? In der Schilderung dieses Gefühls als Triebfeder der reinen praktischen Vernunft ist deutlich eine erste Ebene rein formaler Bestimmung zu unterscheiden, die den Anspruch auf den apriorischen Charakter erhärten soll, u n d auf der Kant den transzendentalen Aktivismus der Vernunfttätigkeit durch das mechanische Modell von Druck und Gegendruck i m Bild der „Wegschaffung eines Gegengewichts" ergänzt. Er macht zunächst rein formal die „negative W i r k u n g " des moralischen Gesetzes auf die Sinnlichkeit geltend: „Denn alle Neigung u n d jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl." (KpV 72f.) Solche Wirkung tut aber das moralische Gesetz durch seinen kategorischen Anspruch, die Neigungen unter eine verallgemeinerungsfähige Maxime zu bringen. Durch diese Beschränkung möglicher Bestimmungsgründe, die den Einfluss des moralischen Gesetzes auf die Maximen des Handelns erschweren können, wird umgekehrt diesem Einfluss freie Bahn verschafft, indem dadurch, daß die Vorstellung des moralischen Gesetzes der Selbstliebe den Einfluß und dem Eigendünkel den Wahn benimmt, das Hinderniß der reinen praktischen Vernunft vermindert und die Vorstellung des Vorzuges ihres objectiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit, mithin das Gewicht des ersteren relativ (in Ansehung eines durch die letztere afficirten Willens) durch die Wegschaffung des Gegengewichts im Urtheile der Vernunft hervorgebracht wird.

(KpV 75f.) „Und so", das heißt im Blick auf eine solche Dialektik reiner Selbstbezüglichkeit der Vernunft, kann Kant die Achtung fürs Gesetz als ein M o m e n t im Bewusstsein des Sittengesetzes bestimmen, und zwar als ein unabdingbares: Sie ist i h m „die Sittlichkeit selbst, subjectiv als Triebfeder betrachtet" (KpV 76). Diese elementaren und abstrakten Bestimmungen bilden die intelligible Struktur der Geschichte. Bliebe es allein dabei — wir hätten freilich Schwierigkeiten bei der Vorstellung, dass es hier wirklich u m ein Gefühl gehen soll. Doch auf einer zweiten Ebene bemüht sich Kant, den Effekt dieses Gefühls auch anschaulich überzeugend zu machen. Dazu dient ihm eine Beschreibung am Leitfaden einer Psychologie der inneren Machtverhältnisse. Im Bewusstsein des moralischen Gesetzes wird „unser pathologisch be-

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stimmbares Selbst", durch das „unsere Natur als sinnlicher Wesen" ihre Ansprüche geltend macht, „gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte" (KpV 74), auf diese Weise in seine Schranken verwiesen: Die permissive Einstellung zu den eigenen Neigungen in der Selbstliebe wird „nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze" eingeschränkt (KpV 73), der selbstgefällige Eigendünkel erfahrt „unendlichen Abbruch" (KpV 74). Indem das moralische Gesetz unsere Neigungen in Schranken weist, bewirkt es ein Gefühl von „Unannehmlichkeit" (KpV 75), von „Schmerz" (KpV 73), also: eine markante „Empfindung der Unlust" (KpV 78). Wir erfahren eine Demütigung „in unserem Selbstbewußtsein" (KpV 74), die sich gleichsam durch ein Gesetz der Anerkennung des Stärkeren zwangsläufig in einem Gefühl der Achtung für ihre Ursache auswirkt. Diese Achtung ist aber insofern zugleich ein „positives Gefühl", als „die Demüthigung auf der sinnlichen Seite, eine Erhebung der moralischen, d. i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellectuellen" ist, an der das Selbst in seiner übersinnlichen Existenz teilhat (KpV 79). Der Kränkung unserer Selbstliebe (vgl. KpV 74) entspricht durch die Beförderung der reinen Vernunfttätigkeit, also dadurch, dass dem Gesetz Eingang in die Maximen verschafft wird, eine Erhebung in der Selbstachtung. Im Gefühl der Achtung beschränkt das Gesetz das pathologisch bestimmbare und entgrenzt das eigentliche Selbst. Aufgrund der Ambivalenz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, in der das Subjekt steht, ist es weder reine Unlust noch reine Lust, was in der Achtung empfunden wird, sondern es ist eine Dynamik der Lust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Unterwerfung ergibt. Das Subjekt fühlt sich im Gedanken an die Größe und den Anspruch des Gesetzes schwach und stark zugleich. Es fühlt sich klein, nichtig, ja nichtswürdig in dem, worin es dessen Anspruch nicht entspricht, und es fühlt sich zugleich groß und mächtig im Blick auf seine eigene Fähigkeit, alle nichtswürdigen Kleinlichkeiten seiner empirischen Privatperson, also alle individuellen Neigungen dem übergeordneten Gesichtspunkt des Gesetzes zu unterwerfen und seiner Rationalität mit der eigenen Vernunft zu entsprechen. Es ist eine Lust durch Unlust — ein Gefühl, dessen Dynamik sich ganz in Analogie zu der später in der dritten Kritik entwickelten Ästhetik des Erhabenen verstehen lässt (siehe unten Seite 474f.).15 Zum besseren Verständnis dieses vernunftgewirkten Gefühls trägt die Überlegung am Ende des ersten Buches bei: Wenn Kant in der Kritischen Be15

Zur Analogie der Lehre vom Gefühl der Achtung mit der Analytik des Erhabenen siehe genauer Recki 2001, 187-220, 279-302.

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leuchtung der Analytik der Grundsätze auf die Berechtigung der Perspektive reflektiert, aus der das Subjekt „im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz" (KpV 98) „transcendentalk Freiheit' des Handelns beansprucht (KpV 96f.), kommt dem Hinweis auf das Schuldbewusstsein angesichts von Handlungen, die es besser unterlassen hätte, die Rolle eines persuasiven Arguments zu. In der Beschreibung „desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen", das sich in der „Reue über eine längst begangene That" als „eine schmerzhafte, durch moralische Gesinnung gewirkte Empfindung" kundgibt (KpV 98), stellt Kant aber nichts anderes vor als die Form der Achtung fürs Gesetz in der retrospektiven Beurteilung. Schon in der Grundlegung hatte er in der Erwähnung der „Selbstverachtung und innern Abscheu" (GMS 426) im Grunde auf diese Modifikation der Achtung im Fall der Abweichung hingewiesen. Wenn man sich also unter der Achtung vor dem Gesetz nichts vorzustellen vermöchte, dann hätte man im schlechten Gewissen — sowohl in der Reflexion auf mögliche wie auf „längst begangene" Handlungen — einen angemessenen lebensweltlichen Anknüpfungspunkt. So erläutert Kant in der Metaphysik der Sitten gänzlich in Analogie zum Gefühl der Achtung, der „Schmerz" von „Gewissensbissen" sei im „Ursprung moralisch", in der Wirkung „physisch" (MS 394) und gibt damit eine Paraphrase dessen, was ihm in der Kritik der praktischen Vernunft ein vernunftgewirktes Gefühl heißt.16 Eine vernunftkritische Theorie der Gefühle II: Eine „sehr merkliche Lust" an der Erkenntnis. In der Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft findet sich eine ebenso singuläre wie überraschende Reflexion: [...] so ist andrerseits die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist. Zwar spüren wir an ehr Yaßlichkeit der Natur und an der Einheit ihrer Abtheilungen in Gattungen und Arten, wodurch allein empirische Begriffe möglich sind, [...] keine merkliche Lust mehr, aber sie ist gewiß ihrer 7.eitgewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählig mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden. (KU 187; Hervorh. v. B. R.)

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In der ILeligionsschrift wird es dann heißen: „Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urtheilskraft, nur würde diese Definition noch einer vorhergehenden Erklärung der darin enthaltenen Begriffe gar sehr bedürfen." (RGV 186)

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Überraschend ist diese Reflexion schon als eine der wenigen, in denen wir Kant bei einer genealogischen Argumentation antreffen. Quer zu seiner methodischen Konzentration auf eine funktional auf den zeitlosen Akt der Erkenntnis bezogenen Analyse macht er hier geltend: Als die systematische Erkenntnis noch in ihren Anfangen stand, da waren ihre Erträge mit einer merklichen Lust, oft sogar Bewunderung, verbunden. Angesichts der lakonischen Kürze der Überlegung dürfen wir produktiv mitdenken: Die Lust, von der hier die Rede ist, ist als Überraschungslust am kairos des kognitiven Erfolgs und Erwerbs zu begreifen. Sie bezieht sich auf gelingende Erkenntnis und ist daher mit der rein sinnlichen Lust am Angenehmen nicht zu verwechseln, sondern der Einteilung in der Anthropologie entsprechend eine intellektuelle, durch Begriffe oder Ideen hervorgerufene Lust. Mit dieser Lust, die kein interesseloses Wohlgefallen sein kann, weil Erkenntnis mit Interesse einhergeht, kann sich aber ferner, wie es die Erwähnung sogar einer Bewunderung (selbst einer solchen, die mit der Gewöhnung nicht abnimmt) anzeigt eine andere Art von Gefallen verbinden, das in die Nähe des interesselosen Wohlgefallens fällt oder mit diesem kongruiert. Es sieht so aus, als hätte dieses eine besonders günstige Voraussetzung gerade darin, dass das Gelingen der Erkenntnis nicht schon habitualisiert ist, wodurch die darauf bezogene Lust nicht mehr besonders bemerkt würde. Deshalb liegt es nahe, hier zu extrapolieren, dass solche Lust immer dann, wenn die Erkenntnis noch neu ist, auch eigens bemerkt werden kann. Aufschlussreich ist die zitierte Überlegung somit nicht allein als Dokument einer genealogischen Perspektive in Kants Vernunftkritik, sondern durch die Möglichkeit der systematischen Verknüpfung von Erkenntnis mit einem eigentümlichen Gefühl der Lust: Darin aber liegt der Hinweis auf eine rein kognitive Funktion des Gefühls — von der die Kritik der reinen Vernunft noch nichts weiß und für deren Aufspüren es offensichtlich der geschärften Aufmerksamkeit auf die bis dahin noch nicht untersuchte Funktion der reflektierenden Urteilskraft bedurfte. Insofern aber diese mit der Entdeckung verbundene Lust zugleich als heuristisches Moment der Orientierung im Erkenntnisprozess gedeutet werden darf, ist mit der kognitiven Funktion des Gefühls seine praktische verbunden. Wir dürfen diese Stelle erstens als grundlegend ansehen für eine Wertschätzung der Gefühle, die mit der Entdeckung von deren Ursprung in der Reflexion der Vernunft nicht länger in Frage gestellt ist; zweitens als exemplarisch für ein Verständnis der kognitiven und der praktischen Funktion von Gefühlen, wie sie im Gefühl der Achtung fürs Gesetz als Form des Selbstbewusstseins und als Motivation, wie sie schließlich in den ästhetischen Gefühlen des Schönen und des Erhabenen als Urteilsformen untersucht werden.

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Eine Vernunft kritische Theorie der Gefühle III: Die ästhetischen Gefühle. In der kritischen Vernunftlehre Kants hat das Gefühl, so wie es moralischen Handlungen inhärent ist, kognitive und praktische Funktion. Es stellt sich aber heraus, dass der Begriff von diesem Gefühl der Achtung noch in einem anderen Sinne als der Erklärung der Motivation zum moralischen Handeln den „Stein der Weisen" darstellt. Die Entwicklung eines Begriffs vom „vernunftgewirkten Gefühl", zu der sich Kant im Interesse der Moralität genötigt sieht, hat nämlich auch direkte Auswirkungen auf seine systematische Wertschätzung derjenigen Gefühle, die in ästhetischer Einstellung wirksam sind. In der gleichen Einschätzung, die er seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre gegen den Begriff eines moralischen Gefühls geltend zu machen wusste, hatte er es in der Kritik der reinen Vernunft auch für ausgeschlossen erklärt, ein allgemeines Vernunftprinzip des Ästhetischen ausweisen zu können. Bis 1787, noch bis zur Arbeit an der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, hatte er an der Auffassung festgehalten, dass die ästhetischen Gefühle, denen er sich noch als vierzigjähriger eleganter Magister ganz im Geiste des Zeitalters und mit erkennbarem Sinn für die Phänomene zugewendet hatte (GSE), im Rahmen einer Kritik der Vernunft nicht theoriefähig wären. Da hatte Kant es als eine „verfehlte Hoffnung" angesehen, „die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben" — weil die Quellen dieser Regeln „bloß empirisch" wären (KrV, 2. Auflage 1787, 50f.; Β 35f. Anni.). Es war also dasselbe Argument vom bloß empirischen Charakter des Gefühls, mit dem Kant das Gefühl als Prinzip moralischen Handelns und als zureichenden Grund für moralisches Urteilen verworfen hatte: Auch der Geschmack schien als Gefühl dazu verurteilt, bloß psychologisch von Interesse zu sein. Mit der Analyse der Achtung fürs Gesetz, in der Kant das moralische Gefühl als emotionale und zugleich vernünftige Triebfeder einsichtigen Handelns zu qualifizieren sucht, liegt das theoretische Szenario schlagartig in einem anderen Licht. Hier hat Kant mit einemmal ein vernunftgewirktes Gefühl, und von hier aus lässt sich trefflich extrapolieren. Wie der erste Teil der Kritik der IJrtheilskraft, die Analytik des Schönen, zeigen wird, heißt dies, dass Kant die Aufnahme des ästhetischen Gefühls in die Vernunftkritik von seiner apriorischen und damit von seiner epistemischen Verfassung abhängig macht: Entscheidend ist hier die Antwort auf die „Frage: ob im Geschmacksurtheile das Gefühl der Lust vor der Beurtheilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe", die Kant im § 9 der Kritik der IJrtheils kraft durch die Analyse eines durch die Reflexion des Urteils

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gewirkten Lustgefühls gibt (KU 216f£). Auf diese Weise ist zu zeigen: Auch im Erleben des Schönen wirken Kräfte, die nicht empirisch erklärbar sind, sondern ihrerseits am Ursprung der Erfahrung wirken. Es sind der Verstand als das Vermögen der Begriffe und die Einbildungskraft als das Vermögen der Anschauungen, die im ästhetischen Urteil als einem freien Spiel der Erkenntniskräfte zusammenwirken, als dessen Effekt das Gefühl der Lust entspringt, das Kant im Begriff des Wohlgefallens abspricht. Kant fasst diese Erkenntniskräfte in ihrem Zusammenwirken unter dem neuen Funktionstitel einer ästhetisch reflektierenden Urteilskraft und greift in der Sache damit auf, was die Zeitgenossen den Geschmack nennen. Es sind aber zwei Gefühle, die Kant nach dem Modell des Gefühls der Achtung im Blick auf ihre apriorischen Bedingungen analysiert: das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen. Das Gefühl des Schönen schildert Kant als ein interesseloses, das heißt durch keinerlei Bedürfnis abgenötigtes, insofern freies Wohlgefallen an einem Gegenstand. Über diesen lässt sich nichts weiter sagen, als dass er unserem Vorstellungsvermögen irgendwie ansprechend entgegenkommt — in einem i r gendwie', das sich prinzipiell nicht in Eigenschaften fixieren lässt, weil das ästhetische Urteil, in dem dieses Gefühl entsteht, kein Erkenntnisurteil und „Schönheit [...] kein Begriff vom Object" ist (KU 290). Schönheit ist kein Prädikat, sondern ein Reflexionsbegriff. Angesichts eines Gegenstandes, oder wie Kant sagt: angesichts einer „Vorstellung der Einbildungskraft", die uns viel zu denken gibt, „ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter [...] Begriff adäquat sein kann", als Effekt also einer Reflexion stellt es sich ein, dieses Gefühl. Kant nennt diese Reflexion ein freies Spiel der Erkenntniskräfte, die im Prinzip unendlich ist, da sie auf kein bestimmtes Ziel aus ist, und es ist ebendieser unbestimmte, spielerische Umgang mit dem Gegenstand, durch den das Lustgefühl ausgelöst wird. Denn wir werden uns in dieser durch keinen Zweck beschränkten spielerischen Einstellung auf den Gegenstand jener Zweckmäßigkeit bewusst, mit der unsere Erkenntniskräfte wie zu jeder Erkenntnis überhaupt, hier aber ohne den Zweck der Erkenntnis zusammenwirken. Im Bewusstsein dieser zweckfreien Zweckmäßigkeit besteht die ästhetische Lust. Kant spricht mit Blick auf den Effekt eines Lustgefühls aus einem Reflexionsprozess ausdrücklich von „Lust [...] durch reflectirte Wahrnehmung" (KU 190f.). Und er spricht, von vielen Lesern unbemerkt, ausdrücklich vom „LebensgefÜhl" des Subjekts (KU 204).

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Die ästhetische Reflexion, das freie Spiel der Erkenntniskräfte, bewirkt ein Gefühl., in welchem dem erlebenden Subjekt die eigene Lebendigkeit bewusst wird. 17 Dieses Lebensgefühl ist zugleich ein Gefühl der Harmonie, zunächst jener internen Harmonie im zweckmäßigen Zusammenspiel unserer Erkenntniskräfte, aber da wir — ohne über dessen Eigenschaften dadurch etwas ausmachen zu können — dieses Erleben im Blick auf den Gegenstand haben, ist es auch ein Gefühl der Harmonie mit den äußeren Bedingungen: Im Blick auf das Schöne, in dem Gefühl, das dieser Blick in uns auszulösen vermag, haben wir unweigerlich die Intuition, dass die Dinge uns entgegenkommen — sie scheinen geradezu wie für die Aufnahme durch uns gemacht. Kant sagt es genauer: Das Schöne, angesichts dessen sich das freie Spiel der Erkenntniskräfte einstellt, dessen Effekt jenes Gefühl der Lust ist, ist so, als hätten wir es selbst zum Zweck der Wahrnehmung gemacht. „Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe". 18 Wir erleben bei ihrem Anblick im Gefühl des Schönen eine Entsprechung: eine Angemessenheit unserer sinnlichen und intellektuellen Verfassung an die Verhältnisse der äußeren Welt. Der wichtigste Ertrag von Kants Analyse des Schönen aber dürfte in einer Spekulation liegen, die er erst am Ende der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft in § 59 anstellt. Das Schöne ist das Symbol des Sittlichguten — mit dieser Einsicht überrascht uns hier am Ende des Buches ausgerechnet der Denker, der mit dem Anspruch aufgetreten ist, mit seiner Analyse des ästhetischen Urteils das Ästhetische als autonom zu bestimmen. Es stellt sich jedoch heraus, dass mit der Formel vom Schönen als dem Symbol der Sittlichkeit das Ästhetische keineswegs auf den Geltungsanspruch der Moral zurückgeführt wird. Das Sittlichgute, das ist für Kant die Freiheit des Willens, sich selbst das Gesetz des Handelns zu geben, und Symbolisierung besteht in nichts anderem als in analogischer Reflexion. Im Schönen, das weder in einem Gegenstand noch in einer Substanz, noch in einer Eigenschaft besteht, sondern in einer lustvollen Reflexionsbewegung, vollziehen wir mit anderen Worten eine analogische Reflexion auf den Charakter der Freiheit — es ist der Charakter der freien Reflexion selbst, durch den sich dieser Bezug auf die Freiheit einstellt. Auf diese Weise wird schließlich die zentrale Vernunftidee, von der Kant in der praktischen Philosophie hatte zugeben müssen, dass von ihr keine Erkenntnis als Erfahrung und damit kein Beweis möglich ist, doch noch zum Thema einer 17 18

Siehe dazu Recki 2002, 195-219. Kant 1914, Refi. 1820a (Akademie-Ausgabe Bd. XVI, Nachlass: Logik), 127.

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Darstellung. Diese Darstellung erfolgt nicht durch irgendein einzelnes Ding oder Bild, sondern durch das Gefühl selbst. Das Schöne ist darin das Symbol des Sittlichguten, dass die an ihm erlebte Freiheit der Gefühlsreflexion auf die Idee der Freiheit verweist.19 Im Prinzip das gleiche ist für das Gefühl des Erhabenen zu behaupten. Im Gefühl des Erhabenen erleben wir nach Kants Analyse keine reine Lust, es ist ein gemischtes Gefühl. Das Erhabene hat nicht wie das Schöne etwas Entgegenkommendes für unsere Vorstellungskraft, es hat vielmehr für unsere Einbildungskraft — und damit aufgrund von beider Zusammenwirken im freien Schematisieren der ästhetischen Reflexion auch für den Verstand — etwas Uberwältigendes. Der Gegenstand ist zu groß, als dass wir ihn in einem Akt der Anschauung darstellen könnten (das Mathematisch-Erhabene), oder er ist von einer so bedrohlichen Ubermacht und Gewalt, dass wir ihm nicht in ruhiger Betrachtung standhalten könnten (das Dynamisch-Erhabene). Kant beschreibt das Gefühl des Erhabenen als den klassischen Fall einer Faszination, als wechselweise Abstoßung und Anziehung, und in diesem Wechselbad der emotiven Regungen, in deren Dialektik gerade besteht das Gefühl. Vermögenstheoretisch rekonstruiert er diese Widerspruchsdynamik als das Scheitern von Einbildungskraft und Verstand, eine Erschütterung, die aber aufgehoben wird in einer Gegenbewegung unseres Gemüts, indem die Vernunft als das Vermögen schließen, das Vermögen also der gedanklichen Totalitätsstiftung, gleichsam einspringt. Anders als im Verhältnis zum Schönen ergibt sich hier keine spielerische Reflexion zwischen Einbildungskraft und Verstand, sondern eine agonale Reflexion zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft, die den unbewältigten Eindruck auf ihre totalisierenden Vorstellungen bezieht. Angesichts einer enormen Größe — etwa des bestirnten Himmels — beziehen wir die Vorstellung der Einbildungskraft auf die Idee des unendlich Großen; angesichts einer gewaltigen Übermacht, die uns unsere eigene physische Zerbrechlichkeit vor Augen führt — etwa des gewaltigen Ozeans im Aufruhr eines Gewitters —, auf die Idee unserer übersinnlichen Freiheit. Wir sind auf diese Weise hin- und hergerissen zwischen Schaudern und Beglückung, oder zwischen Bestürzung und Versicherung, denn wir werden uns gerade angesichts der abgründigen Herausforderung unserer Einbildungskraft, wie Kant sagt, eines „Vermögen [s] zu widerstehen von ganz anderer Art" bewusst (KU 261). Von dieser durch Bedrohung 19

Siehe die eingehenden Interpretationen in Recki 2001, 155-177 und dies. 2008 [in Vorbereitung].

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und Schrecken ausgelösten Widerstandsregung einer Vergegenwärtigung des übersinnlichen Moments unserer Bestimmung sagt Kant ausdrücklich: Wir haben das „Gefühl\ daß wir reine, selbstständige Vernunft haben" (KU 258; Hervorh. v. B. R.). Wir erleben dabei, nur eben angesichts eines sinnlichen Eindrucks und in ästhetischer Distanz, ganz ähnlich vorstellbar wie beim Gefühl der Achtung fürs Gesetz, eine Dynamik der ljust durch Unlust, die sich aufgrund einer Erhöhung durch Erniedrigung ergibt. Wie im Gefühl des Schönen aber wird uns bei aller spezifischen Differenz im Medium dieses Gefühls unsere Freiheit bewusst. Es ist im Prinzip dieselbe Freiheit, auf die uns das Gefühl des Schönen und das Gefühl des Erhabenen aufmerken lässt; doch im einen Fall werden wir uns ihrer bewusst als des praktischen Universalmediums der Erschließung der Welt, im anderen als dessen der agonalen Auseinandersetzung mit der Welt. Wo uns die Dinge wie im Eindruck des Erhabenen anzuzeigen scheinen, dass der Mensch nicht in die Welt passe, da wird uns bewusst, dass er doch das Vermögen hat, sie sich notfalls passend zu machen. Hier, da die Welt einem nicht in ansprechenden Gestalten entgegenzukommen scheint, sondern eher den Eindruck der Feindlichkeit macht, da wir uns der Kehrseite der Harmonie im agonalen Charakter unseres Weltverhältnisses bewusst werden müssen, ist das Subjekt erfüllt von einem „Geistesgefühl", durch dessen formale Verfassung als einer Variante der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft unter Mitwirkung der Vernunftideen ein helleres Licht auf die Analyse des moralischen Gefühls der Achtung fällt.

Anders als es ein gängiges Vorurteil über die kantische Vernunftkritik geltend macht, läuft diese Theorie der reinen Vernunft keineswegs darauf hinaus, den Menschen als ein reines Vernunftwesen zu begreifen. Es geht Kant vielmehr um einen verlässlichen Begriff von den vernünftigen Leistungen, und der lässt sich nur ermitteln in einer Analyse, die zugleich die Grenzen der Vernunft bestimmt, welche in uns selber als nicht allein durch Vernunft bestimmten Wesen liegen. Eine der Pointen dieser Kritik der Vernunft besteht von daher in der Einsicht: Die Vernunft, von deren Leistungen wir hier sprechen, ist die Vernunft eines zugleich sinnlichen und von daher nicht rein vernünftigen Wesens. Im episodischen Hinweis auf eine sehr merkliche hust an der überraschenden Erkenntnis bekräftigt Kant ausdrücklich, was er in der Abgrenzung des menschlichen als eines endlichen Verstandes im Kontrast zu einem göttlichen intellectus archetypus in der Kritik der reinen Vernunft bereits exponiert hatte. Die Theorie der Ge-

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fühle ist insofern gerade mit Blick auf die kritische Absicht, die Grenzen der Vernunft eines endlichen Vernunftwesens zu bestimmen, ein tragendes Lehrstück. Doch es ist die Erörterung des Gefühls insbesondere außerhalb der Erkenntnistheorie, die uns dies klarmachen kann, denn wie weit wir in irgendwelchen abstrakten Gedankenexperimenten auch darin kommen mögen, uns die Funktionen einer reinen Vernunft vorstellen zu können — spätestens das Gefühl muss uns an die Grenze solcher sterilen Spekulation bringen: Fühlen kann nur ein sinnliches und damit körperliches Wesen. Der Begriff des vernunftgewirkten Gefühls, in den beiden Instanzen des moralischen Gefühls der Achtung und des ästhetischen Gefühls eingehend belegt, birgt im Gegenzuge aber auch die vernunfttheoretische Pointe, das Gefühl, das ohne das Element der Sinnlichkeit nicht möglich wäre, als Element der Vernunft, genauer: als deren spezifische Leistung zu fassen.

Literatur Kants Werke werden nach der Akademie-Ausgabe seiner Gesammelten Schriften zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: ApH BEM GMS GSE KpV KrV KU MM MS RGV

- Anthropologie in pragmatischer Hinsicht — Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen " — Grundlegung %ur Metaphysik der Sitten — Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen - Kritik der praktischen Vernunft - Kritik der reinen Vernunft (2. Auflage 1787) - Kritik der Urtheilskraft — Moral Mrongovius — Metaphysik der Sitten — Die Rßligion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Bartuschat, Wolfgang (1984), Kultur als Verbindung von Natur und Sittlichkeit, in: Helmut Brackert/Fritz Wefelmeyer (Hg.), Naturplan und Verfallskritik. Zu Begriff und Geschichte der Kultur, Frankfurt a. M., 69-93. Cassirer, Ernst (1918), Kants Leben und Lehre, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 8, hrsg. von Birgit Recki, Hamburg. Gerhardt, Volker (2002), Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart. Henrich, Dieter (1963), Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: KantStudien 54, 404-431. Kant, Immanuel (1903/1911, zuerst 1785), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. IV, Berlin (=GMS). - (1904/1911, 2 1787), Kritik der reinen Vernunft, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. III, Berlin (=KrV).

Kant: Vernunftgewirkte Gefühle

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— (1905/1912, zuerst 1764), Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin (=GSE). — (1905/1912, zuerst 1765/1766), Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in de Winterhalbenjahre von 1765/66, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin. — (1905/1912), Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. II, Berlin. — (1907/1914, zuerst 1793), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VI, Berlin (=RGV). — (1907/1914, zuerst 1796), Metaphysik der Sitten, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. VI, Berlin (=MS). — (1907/1917, zuerst 1798), Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VII, Berlin (=ApH). — (1908/1913, zuerst 1788), Kritik der praktischen Vernunft, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. V, Berlin (=KpV). — (1908/1913, zuerst 1790), Kritik der Urtheilskraft, Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. V, Berlin (=KU). — (1914), Logik, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. XVI (Nachlass), Berlin. — (1978), Moral Mrongovius, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 27/11, Berlin (=MM). — (1991), Bemerkungen in den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", neu hrsg. u. komment. von Marie Rischmüller, Hamburg (=BEM). Ming-Huei, Lee (1994), Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantischen Ethik, Taiwan. Recki, Birgit (2001), Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. — (2002), „Lebendigkeit" als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant, in: Barbara Naumann/Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin, 195-219. — (2004), Die Idee der Kultur. Uber praktisches Selbstverständnis im Kontext, in: Wolfram Hogrebe/Joachim Bromand (Hg.), Grenzen und Gren^überschreitungen (XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.-27. September 2002 in Bonn, Vorträge und Kolloquien), Bonn, 564 — 573. — (2006), Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze Immanuel Kant, Paderborn. — (2008), Kommentar zu den §§ 55—60, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant— Kiitik der Urtheilskraft (Reihe Klassiker auslegen), Berlin [in Vorbereitung]. Schmucker, Josef (1961), Oie Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan. Tilkorn, Anne (Hg.) (2009), Motivationen des Selbst [in Vorbereitung]. Zammito, John H. (2002), The Genesis of Kant's Critique of Judgment, Chicago.

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Schopenhauer: Emotionen als Willensphänomene Dieter Birnbacher und Oliver Hallich 1. Biografie und Persönlichkeit „In meinem 17ten Jahre [...] wurde ich vom Jammer des I^ebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte." (ΗΝ IV/1, 96) - Diese Notiz Schopenhauers aus dem Handschriftlichen Nachlaß macht deutlich, dass für ihn Emotionen und Affekte nicht nur Gegenstand theoretischer Beschäftigung, sondern Teil seiner unmittelbaren Lebenserfahrung waren. Es sind vor allem das Gefühl des Leidens und die Empfänglichkeit für das Leiden des anderen, die das Movens seiner Philosophie bilden und sich, wenn wir seinem Selbstzeugnis Glauben schenken, erstmals auf einer Europareise kundtaten, die ihm sein Vater zur Belohnung für seine Einwilligung in eine (dann doch abgebrochene) Kaufmannslehre schenkte. Eine solche unmittelbare Betroffenheit über das Elend des Daseins, nicht etwa ein abstraktes Erkenntnisinteresse, ist die Keimzelle des schopenhauerschen Pessimismus. Auch von seiner Persönlichkeit her bietet Schopenhauer das Bild eines stark emotionsbestimmten Menschen. 1 Seine Affekte schien er selbst nur mit Mühe kontrollieren zu können. Die in seiner Ethik als Ziel eines Heilswegs figurierende Emotionslosigkeit und Gelassenheit gegenüber den Übeln und Wirrnissen der Welt waren ihm selbst nicht gegeben. Weit entfernt von stoischer Gelassenheit zog er über seinen Erzfeind Hegel her, wurde ausfallig gegen seinen Verleger Brockhaus, sobald dieser seinen starren Terminvorstellungen nicht aufs Genaueste entsprach, und verschonte in dieser Hinsicht selbst seinen eifrigsten Jünger, Frauenstädt, nicht. Angriffslust und ein Hang zur Cholerik, extremer Stolz, ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und äußerste Empfindlichkeit gegenüber 1

Zur Darstellung der Persönlichkeit Schopenhauers vgl. ζ. B. Spierling 1998, 15— 34; Fleischer 2001, 9—53 und insbesondere die Schopenhauer-Biografie von Rüdiger Safranski 1987.

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Kränkungen — das waren Züge seiner Persönlichkeit, die ihm selbst wiederholt zum Nachteil ausschlugen. Sein Jähzorn trug ihm — als Folge der Tatsache, dass er eine Näherin, als diese ihn störte, etwas energisch, nämlich unter Einsatz körperlicher Gewalt, des Raumes verwiesen hatte — einen Prozess wegen Körperverletzung ein (den er verlor), und die Provokationen und Wutausbrüche gegen Hegel waren seinem akademischen Erfolg vermutlich ebenso abträglich wie seine schroffe Art dem Erfolg bei Frauen, um den er sich zumindest in seiner Jugend bemühte. Es mag sein, dass Schopenhauer, der auch Sexualität primär als Gefährdung innerer Unabhängigkeit und als Demütigung erlebte, eigene Gefühle und Affekte vor allem als bedrohlich empfand. Seine Philosophie mit ihrem dezidierten Bemühen um Rationalität erscheint jedenfalls in manchem auch als Versuch, dieses Ausgeliefertsein an die eigenen Gefühle reflektierend zu bewältigen.

2. Philosophie als expressive Beschreibung Die besondere Nähe von Schopenhauers Philosophie zu den Emotionen zeigt sich nicht nur in seinem hochemotionalen Schreibstil, sondern auch in denjenigen Teilen seines Werks, in denen er über Natur und Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen oder (wie im Schlusskapitel des zweiten Bands von Welt als Wille und Vorstellung) über sein eigenes höchstpersönliches Philosophieren nachdenkt. Die Modelle, die Schopenhauer dabei von seinem eigenen Philosophieren entwirft, lassen sich nicht leicht auf einen einheitlichen Nenner bringen. Aber zumindest eines dieser Modelle ist das einer Philosophie, die nichts anderes sein will als das, was man „expressive Beschreibung" nennen könnte: die Beschreibung der Erfahrungswelt in ihren für das Individuum bedeutsamen Aspekten. „Bedeutsam" heißt dabei: emotional bedeutsam. Die Aufgabe der Philosophie bestehe darin, die Welt nicht zu erklären, sondern in ihren für den Menschen existenziell wichtigen Zügen zu beschreiben. Damit rehabilitiert Schopenhauer die Metaphysik vor dem Hintergrund der kantischen Metaphysikkritik. Er folgt Kant einerseits in der Kritik des rationalistischen Verständnisses von Metaphysik als einer reinen Begriffswissenschaft. Andererseits wirft er ihm vor, fälschlich anzunehmen, dass Metaphysik notwendig a priori sein müsse. Dagegen setzt Schopenhauer seine Konzeption von Metaphysik als Erfahrungswissenschaft — wobei sich dieserart Erfahrungswissenschaft allerdings von wissenschaftli-

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chen Beschreibungen in mehreren Hinsichten unterscheidet: Erstens soll es nicht um einzelne Erfahrungen gehen, sondern um das „Ganze und Allgemeine aller Erfahrung" (W II, 204). Zweitens soll die Philosophie nicht nur die Oberfläche der Erscheinungen nachzeichnen, sondern den inneren Zusammenhang der Erscheinungen aufspüren. Sie soll die Welt als sinnhaftes Ganzes deuten, ihren verborgenen Sinn wie den einer Geheimschrift entziffern: Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgeleg werden können. (W II, 202f.)

Dieses Konzept einer hermeneu tischen Metaphysik legt die Frage nahe, wie die auf diesem Wege gewonnenen Interpretationshypothesen bestätigt oder widerlegt werden können. Offensichtlich bedarf es, soll eine sich als Daseinshermeneutik 2 verstehende Metaphysik den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten können, eines Kriteriums, das bestimmte Deutungshypothesen als wahr ausweist und von anderen, nicht zutreffenden Interpretationshypothesen abgrenzt. Dieses Kriterium ist für Schopenhauer — erstaunlicher-, aber angesichts der Prämissen seiner Philosophie auch konsequenterweise — in letzter Instanz ein Gefühl. Dieses Gefühl richtet sich auf das Leiden der Welt. Es ist das von Schopenhauer so wortreich ausgemalte Entsetzen darüber, dass die Welt so ist, wie sie ist: voll Leid und Elend, ein „Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen" (W II, 667), die zwischen Ewigkeiten des Nichtseins ein sinnloses und von Leiden geprägtes kurzes Dasein verbringen. So schreibt etwa Schopenhauer, die Tatsache, dass die Natur Wesen entstehen und nach einer kurzen Spanne Zeit wieder zu nichts werden lasse, sei etwas so augenscheinlich Absurdes, daß es nimmermehr die wahre Ordnung der Dinge seyn kann, vielmehr bloß eine Hülle, welche diese verbirgt. [...] Ja, das ganze Seyn und Nichtseyn selbst dieser Einzelwesen, in Beziehung auf welches Tod und Leben Gegensätze sind, kann nur ein relatives seyn: die Sprache der Natur, in welcher es uns als ein absolutes gegeben wird, kann also nicht der wahre und letzte Ausdruck der Beschaffenheit der Dinge und der Ordnung der Welt seyn. (W II, 543)

Das „Absurde", von dem hier die Rede ist, ist keine logische, sondern eine moralische Absurdität. 3 Sie wird nicht festgestellt, sondern empfunden. 2 3

Zur schopenhauerschen Konzeption von Metaphysik als Hermeneutik des Daseins vgl. Safranski 1987, 313-332 (Kapitel 15), insbesondere 320. Vgl. hierzu Hauskeller 1998, 21-27.

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Das Leben ist nach Schopenhauer — dies steht für ihn vor jeder philosophischen Reflexion fest — ein moralischer Skandal. Und die Rationalität eines philosophischen Systems bemisst sich ihm zufolge daran, ob sie dem Gefühl des Entsetzens über diesen Skandal gerecht wird. Daher wird die Nichtübereinstimmung mit diesem Gefühl als Argument gegen „optimistische" metaphysische Konzeptionen, vor allem diejenige Leibniz', herangezogen, die den Vorwurf des Zynismus eben deswegen auf sich ziehen, weil sie der primär emotionsbasierten negativen Bewertung der Welt nicht gerecht werden, sie nicht philosophisch bestätigen können und „dem laut schreienden Zeugnis einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz" (W II, 665) aufgestellt werden. Schopenhauer schreibt zur Bekräftigung dessen bewusst expressiv und emotional: Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist [·•·]— dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. (W II, 667)

Es ist diese Ubereinstimmung mit dem moralischen Gefühl des Entsetzens, den Affekten der Empörung und des Zorns über die Übel der Welt, die Schopenhauer in letzter Instanz als Verifikationskriterium seiner daseinshermeneutischen Hypothesen über das Wesen der Welt gilt. Drittens soll die Philosophie das beschriebene Leiden an den Widrigkeiten der Welt auch ausdrücken. Wie die Kunst soll die Philosophie nicht nur belehren, sondern auch ins Herz treffen: Auch darf es dabei, so sehr auch der Kopf oben zu bleiben hat, doch nicht so kaltblütig hergehen, daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert würde. (P II, 9)

Die Philosophie soll die Tragödie, die die Welt nach Schopenhauer darstellt, nicht nur in abstrakten Begriffen benennen, sondern auch lebendig und nachfühlbar machen, gewissermaßen auf die philosophische Bühne bringen. So erklären sich die vielfach ausgesprochen drastischen zur Illustration herangezogenen Beispiele, etwa — im Zusammenhang mit der Grausamkeit gegen Tiere — die Praxis der Vivisektion (P II, 396f.) oder das sadistische Zu-Tode-Peitschen vor dem unbeweglichen Steinkarren (E 162). Die Schockwirkung dieser Beispiele ist beabsichtigt, das über die Kantische Moral in diesem Punkt ausgestoßene „Pfui!" (ebd.) nicht nur echt empfunden, sondern genuiner Teil von Schopenhauers Philosophie. Der Zorn und die Empörung über das, was die Welt und die Menschen dem Einzelnen antun, sind dieser Philosophie wesentlich.

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3. Primat des Affekts über die Vernunft In § 11 der Welt als Wille und Vorstellung — der einzigen Passage seines Werkes, in der Schopenhauer den Gefühlsbegriff explizit zum Gegenstand macht — untersucht Schopenhauer die Verwendung des Ausdrucks „Gefühl". 4 „Gefühl", so Schopenhauer, werde landläufig als kontradiktorischer Gegenbegriff zu „Wissen" verwendet und würde eben daher so höchst Disparates wie z. B. Gefühle der Wollust, moralische Gefühle, körperliche Gefühle und Gefühle der Schande und des Abscheus umfassen: Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht B e g r i f f , nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft sei. übrigens mag es seyn, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift [...]. (W I, 61)

Für diese auch noch moderne Gefühlstheorien beschäftigende semantische Unbestimmtheit des Gefühlsbegriffes offeriert Schopenhauer im Folgenden eine interessante Diagnose: Die Ausdehnung des Gefühlsbegriffs, der — eben weil es sich um einen Begriff handelt und die Vernunft für die Ausbildung von Begriffen zuständig ist — selbst ein Produkt der Vernunft ist, führt Schopenhauer auf einen Fehler der Vernunft zurück, auf eine „Einseitigkeit" (W I, 62), die sich „die Vernunft selbst zu Schulden kommen [läßt], indem sie unter den einen Begriff Gefühl jede Modifikation des Bewußtseyns befaßt, die nur nicht unmittelbar zu ihrer Vorstellungsweise gehört, d. h. nicht abstrakter Begriff ist" (ebd.). Ursache dieser „Einseitigkeit" der Vernunft sei, dass der Vernunft „ihr eigenes Verfahren [...] nicht durch gründliche Selbstkenntniß deutlich geworden" sei (ebd.), d. h. dass es keinen externen Standpunkt gebe, von dem aus die Vernunft als Vermögen der Begriffsbildung auf die Ursachen dieser Begriffsbildung selbst reflektieren könne. Schopenhauer kritisiert also die gängige Verwendung des Gefühlsbegriffs mit dem — Nietzsches genealogische Kritik des Intellekts vorwegnehmenden — Argument, dass die Vernunft als das für die Begriffsbildung zuständige Vermögen keine Letztinstanz ist, sondern ihrerseits auf die einer bestimmten Begriffsbildung zugrunde liegenden Motive befragt werden kann und muss. Schon die Verwendung des

4

Vgl. hierzu Ruffmg 2001, 59f.

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Ausdrucks „Gefühl" für alles nicht der Vernunft Zugehörige ist eine Selbsttäuschung der ihrer selbst nicht bewussten Vernunft. Damit ist eine Aufwertung des emotionalen Moments des menschlichen Weltzugangs vorbereitet, die dann im zweiten Buch der Welt als Wille und Vorstellung explizit vollzogen wird. Hier wird dem Wissen gegenüber der affektiven Dynamik des Willens eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Dem Willen wird der Primat über die Vernunft zugesprochen, die ihrerseits nur eine „Objektivation" des Willens sei: Die Erkenntniß überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als eine bloße mechané, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes. Ursprünglich also zum Dienste des Willens, zur Vollbringung seiner Zwecke bestimmt, bleibt sie ihm auch fast durchgängig gänzlich dienstbar. (W I, 181)

In radikaler Abweichung von der rationalistischen wie auch von der kantischen Philosophie vertritt Schopenhauer eine Art „Funktionalismus der Vernunft", nach dem die Vernunft nichts anderes ist als eine Funktion des auf seine Selbsterhaltung abzielenden metaphysischen Willens. 5 Während in der jüngeren Emotionstheorie im Anschluss an Kenny vor allem die Rationalität der Gefühle und die Möglichkeit, Gefühle als vernünftig oder unvernünftig zu beurteilen, im Zentrum der Auseinandersetzung steht, betont Schopenhauer umgekehrt die emotionale Prägung des Kognitiven: Statt dass Vernunft als Korrektiv der Gefühle gilt, steuert das Affektive unsere Kognitionen — Affekte und Wille verhalten sich, so Schopenhauer in einem einprägsamen Bild, zur Vernunft wie „der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt." (W II, 233) Dies hat zur Folge, dass für Schopenhauer auch die scheinbar nüchternsten kognitiven Tätigkeiten emotional imprägniert sind. Objektivität — die Befreiung des Kognitiven vom Emotionalen — ist nach Schopenhauer eine seltene Ausnahme von der Regel. Von dieser Außerkraftsetzung des Emotionalen ist sowohl in der Ästhetik als auch in der Ethik die Rede. In der Ästhetik deutet Schopenhauer die kontemplative Betrachtung des Kunstobjekts als Stillstellung des Wüllens: Das betrachtende Subjekt ist kurzzeitig „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß." (W I, 210f.) Die durchgängige Hemmung des Willens durch den Intellekt ist hingegen „die ganz exceptionelle [...], die man als Genie bezeichnet" (W II, 247). In der Ethik ist für 5

Zum Funktionalismus der Vernunft bei Schopenhauer vgl. Schnädelbach 1992, 24.

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Schopenhauer die Abgeklärtheit des von seinen Emotionen befreiten Asketen und Heiligen die letzte Stufe des Heilswegs zur Willensverneinung. Auch sie ist eine nur wenigen vorbehaltene Ausnahmeerscheinung.

4. Emotionen als Willensphänomene Bezeichnend für Schopenhauers Gefühlstheorie ist die Beschreibung der Gefühle als Ií7///(?».rphanomene. Lapidar definiert Schopenhauer „Affekte und Leidenschaften" als „Affektionen des [...] Willens" (E 11). Allerdings legt Schopenhauer dabei einen ungewöhnlich weiten Willensbegriff zugrunde. „Wille" fungiert als ein Sammelbegriff für alle psychischen Phänomene, die entweder Willensregungen als Anteile haben oder mit Willensregungen direkt oder indirekt verbunden sind. Zu den ersteren rechnet Schopenhauer neben den eigentlichen Willensregungen und Willensakten Strebungen, Begehrungen und Handlungen; zu den letzteren Wünsche, Hoffnungen und Ängste, aber auch das Erleiden von Schmerz und Gefühle von Lust und Unlust. Die von Schopenhauer in demselben Zusammenhang genannten Emotionen Liebe, Freude, Zorn, Hass und Trauer lassen sich dabei zwanglos der ersten Kategorie zurechnen. Sie sind in der Regel mit (positiven und negativen) Strebungen und Verhaltensimpulsen verbunden, augenfällig insbesondere bei heftigen Emotionen, bei denen das Subjekt in Gefahr steht, die Kontrolle über sein Verhalten zu verlieren. Schopenhauer reserviert den Terminus „Affekt" im Allgemeinen für diese heftigeren Emotionen, auch wenn er gelegentlich Affekte und Emotionen gleichsetzt. Wenn er von „Affekten" spricht, meint er in der Regel ausgeprägt „heftige und stürmische" emotionale Zustände, während Emotionen wie Freude und Trauer durchaus „sanft und leise" sein können (E 11). „Affekte" in diesem Sinn sind regelmäßig mit entsprechend heftigen Willensregungen verknüpft. Aber auch bei den „calm passions", wie Hume sie genannt hat, legt Schopenhauer auf den Hinweis Wert, dass sie im Allgemeinen zumindest mit Wünschen einhergehen, die Schopenhauer ebenfalls unter seinen weiten Willensbegriff subsumiert. Auch Wünsche sind für Schopenhauer Willensphänomene, nämlich „Bewegungen des entweder gehemmten, oder losgelassenen, befriedigten, oder unbefriedigten [...] Willens" (E 11). Schopenhauer lässt keinen Zweifel daran, dass der Willensbegriff, von dem er ausgeht, wenn er Emotionen, Begehrungen und Lust- und Unlustempfindungen als „Willensphänomene" bezeichnet, vom üblichen Sprach-

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gebrauch abweicht — mag er auch zu Recht darauf hinweisen, dass bereits Augustinus einen ähnlich weiten Willensbegriff verwendet und ebenfalls Emotionen wie Freude und Trauer als Willensphänomene bezeichnet hat (E 11; W II, 225f.). Das zeigt sich u. a. daran, dass er das Wollen im umgangssprachlichen Sinn als „eigentlichen Willensakt" von den übrigen Willensphänomenen absetzt (W II, 225f.) und an anderer Stelle präzisiert, dass „alle anderen Erregungen des Willens", die nicht in diesem eigentlichen Sinn als Willensakte bezeichnet werden können, „Vorbereitungen" zu Willensakten sind (W II, 421). Die Frage stellt sich dennoch, warum Schopenhauer mit diesem extrem weit gefassten Willensbegriff riskiert, dass die Konturen der darunter subsumierten Phänomene verschwimmen. Müsste eine angemessene Emotionstheorie nicht gerade im Gegenteil bemüht sein, die Besonderheiten der Emotionen herauszuarbeiten und diejenigen Merkmale benennen, die Emotionen von Empfindungen, Strebungen, Einstellungen, Motiven usw. unterscheiden? Schopenhauer hat mehrere Gründe, Emotionen mit so vielen anderen Phänomenen zusammen unter dem umbrella term „Wille" zu fassen und damit die volitiven und motivationalen Aspekte von Emotionen gegenüber den übrigen (kognitiven, sensorischen, somatischen, expressiven) Aspekten hervorzuheben. Erstens möchte er die leicht als selbstverständlich geltende, aber bei näherem Zusehen erklärungsbedürftige Tatsache erklären, dass Emotionen, gleichgültig ob heftig oder ruhig, Willensregungen darin verwandt sind, dass sie bestimmte positive oder negative Einstellungen gegenüber einem wie immer gearteten Gegenstand beinhalten. Emotionen sind Prooder Con-attitudes, sie bewerten ihren Gegenstand mit positivem oder negativem Vorzeichen. Ähnlich wie Willensakte haben sie unterschiedliche Valenzen. Positiv getönte Emotionen wie Freude oder Dankbarkeit bewegen sich auf ihren Gegenstand zu, negativ getönte wie Arger oder Angst von ihm weg. Auch wenn Freude und Dankbarkeit keine Begierden sind, haben sie die Hinwendung zu ihrem Objekt mit der Begierde gemeinsam, so wie Arger und Ängste die Abwendung von ihrem Objekt mit der Abscheu gemeinsam haben. Wenn Schopenhauer von „Wille" oder „Wollen" spricht, lässt sich dies also am treffendsten mit „Bewertung" übersetzen. In der Tat: Für alle psychischen Phänomene, die Schopenhauer dem „Willen" zuschlägt, ist ein Moment von Bewertung charakteristisch. Zweitens haben starke und schwache Emotionen, gefühlshafte Einstellungen, Begierden, Abneigungen und Tust- und Unlustempfindungen nach Schopenhauer eine gemeinsame Quelle: ein unbewusstes Agens, das

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Schopenhauer ebenfalls „Wille" nennt, aber von dem als die Gesamtheit der wertenden psychischen Phänomene verstandenen Willen sorgfältig unterschieden werden muss (was Schopenhauer nur stellenweise tut). Soweit „Wille" diese Quelle meint, ist er mit „Trieb" oder „psychische Energie" zu übersetzen. In diesem Sinn entspricht „Wille" Spinozas conatus und Freuds Es. Dieser „Wille" ist nur begrenzt steuerbar. Er manifestiert sich nicht nur im bewussten Wollen und der rationalen Handlungsplanung, sondern gerade auch in Gefühlen, Lust- und Unlustempfindungen und spontanen Verhaltensweisen, also in psychischen Phänomenen, die wir nicht oder nur teilweise in der Hand haben. Zwar ist auch immer dann, wenn wir etwas wollen, dieser „Wille" beteiligt. Aber er zeigt sich auch in vielem, was uns schlicht widerfährt, unter anderem in unseren für uns selbst gelegentlich befremdlichen Emotionen. Der unbewusste „Wille" /will' dann etwas, was wir unserem Selbstverständnis nach nicht wollen. Nicht wir wollen, sondern es ,wiir in uns. Er verfolgt ,Absichten', die nicht die unseren sind, etwa infolge eines im Unbewussten liegenden Verdrängungsmechanismus, der verhindert, dass diese ,Absichten' ins Bewusstsein treten: Der Intellekt bleibt von den eigentlichen Entscheidungen und geheimen Beschlüssen des eigenen Willens so sehr ausgeschlossen, daß er sie bisweilen, wie die eines Fremden, nur durch Belauschen und Ueberraschen erfahren kann, und ihn auf der That seiner Aeußerungen ertappen muß, um nur hinter seine wahren Absichten zu kommen. [...] Oft wissen wir nicht, was wir wünschen, oder was wir fürchten. Wir können Jahre lang einen Wunsch hegen, ohne ihn uns einzuge stehn oder auch nur zum klaren Bewußtseyn kommen zu lassen. (W II, 234f.)

Diesen unbewusst wirkenden „Willen" meint Schopenhauer, wenn er das Wesen der Emotionen (aber auch das Wesen von Lust- und Unlustempfindungen) so charakterisiert, dass sie „als ein dem Willen Gemäßes, oder ihm Widerwärtiges, unmittelbar ins Selbstbewußtsein treten." (E 12) Die Valenz der Emotion bestimmt sich dabei danach, ob der zugrunde liegende Trieb befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, ungehemmt fließen kann (Schopenhauer sagt: „losgelassen" wird) oder gehemmt wird. Fließt er ungehemmt, äußert sich das in einer positiven, wird er gehemmt, in einer negativen Qualität der Empfindung, des Strebens oder der Emotion. Nicht erst Freud, sondern bereits Schopenhauer geht von einem hydraulischen' Modell der Triebenergie aus: Der Trieb bewegt sich in einem „beständigen Ebben und Fluten" (E 12). Sein ungehindertes Fließen ist die Quelle von Lust, seine Hemmung die Quelle von Unlust — wobei, wie Schopenhauer richtig sieht, Lust oder Unlust sich gelegentlich auch mi-

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sehen können, etwa dann, wenn „wir einen wichtigen, entscheidenden Brief erwarten und er ausbleibt" (Ρ II, 627). Ein dritter Grund für Schopenhauer, Emotionen als Willensphänomene einzustufen, liegt darin, dass er den für seine Philosophie grundlegenden Kontrast zwischen dem Erkennen und dem Wollen und seinen Erscheinungsformen so scharf wie möglich herausarbeiten möchte, ohne diesen Kontrast durch genauere Differenzierungen innerhalb der Willensphänomene zu schwächen. Dieser Kontrast ist eng verbunden mit der ethisch-soteriologischen Zwecksetzung seiner Philosophie. Ahnlich wie Spinoza setzt sich Schopenhauer das Ziel, den Menschen nicht nur über die Bestimmungsfaktoren seines Daseins ins Licht zu setzen, sondern ihm auch den Weg zur Uberwindung der dadurch bedingten Unfreiheiten und Nöte zu weisen. Das Ziel ist nicht nur Wissen, sondern auch — oder sogar in erster Linie — Erlösung.6 Wie Spinoza sieht auch Schopenhauer diese Erlösung allein in der Erkenntnis, wobei allerdings Erkenntnis für Schopenhauer die Uberwindung nicht nur der negativen (passiven) Affekte, sondern die Befreiung von sämtlichen Erscheinungsformen des Willens verlangt, eine ,Selbstverneinung des Willens'. Das geeignete Mittel, zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen, ist — unter anderem — die Befreiung von allen Emotionen — nicht nur von den heftigen, sondern auch von den schwachen. Denn schlechthin alle Emotionen und emotionalen Einstellungen wirken sich Schopenhauer zufolge verzerrend auf unsere Wahrnehmung der realen Verhältnisse aus. Wahre Objektivität ist nur unter der Bedingung erreichbar, dass es gelingt, jede werthafte Besetzung von unserer Wahrnehmungswelt abzuziehen. Da die Verzerrung der Realität durch die Emotionen unbewusst stattfindet, wirkt sie sich nicht nur darauf aus, wie wir die Dinge beurteilen, sondern bereits darauf, wie wir sie erleben·. Um einzusehn, daß eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich ist, wann wir dieselben ohne allen persönlichen Antheil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten, vergegenwärtige man sich, wie sehr jeder Affekt, oder Leidenschaft, die Erkenntniß trübt und verfälscht, ja, jede Neigung oder Abneigung, nicht etwan bloß das Urtheil, nein, schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt. Man erinnere sich, wie, wann wir durch einen glücklichen Erfolg erfreut sind, die ganze Welt sofort eine heitere Farbe und eine lachende Gestalt annimmt; hingegen düster und trübe aussieht, wann Kummer uns drückt. [...] Nur wann der Wille, mit seinen Interessen, das Bewußtsein geräumt hat und der Intellekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen ange6

Zu Schopenhauers Erlösungslehre vgl. insbesondere Malter 1991, 335^-48.

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spornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor. (W II, 426f.)

Eine Konsequenz von Schopenhauers Einordnung der Emotionen in die Gesamtheit der Willensphänomene ist, dass es nicht immer leicht ist, diejenigen seiner Lehrmeinungen zu isolieren, die spezifisch Emotionen zum Gegenstand haben und bei denen nicht zugleich auch andere psychische Phänomene (Strebungen, Motive, Lust- und Unlustempfindungen) mitgemeint sind. Klar ist, dass Schopenhauer in den Affekten im engeren Sinne, d. h. in den mit physischen Erregungszuständen einhergehenden Emotionen, die prägnantesten und eindeutigsten Ausprägungen derjenigen Merkmale sieht, die er allen Willensphänomenen zuschreibt In den Affekten zeige sich das Wesen des (unbewussten) Willens am unverwechselbarsten. Der Affekt lüftet den Schleier, den ansonsten Vernunft und Besonnenheit über die menschlichen Motive werfen und sie damit den Blicken anderer, aber auch den Blicken des Individuums selbst, entziehen (P II, 616). Nur im Affektausbruch tritt die letztlich auch dem besonnenen und rationalen Verhalten zugrunde liegende Triebdynamik hervor, weshalb sie, wie Schopenhauer meint, auch ohne Mühe „Glauben" findet (ebd.) und für echt gehalten wird (wobei er offensichtlich übersieht, dass schauspielerisch begabte Hysteriker Leidenschaften auch vortäuschen können). Nur in der Leidenschaft spricht sich das wahre Wesen des Menschen aus, der kein anderer als der „innerste Kern alles Lebenden" ist (P II, 616). Genau deshalb seien die Leidenschaften „das Hauptthema der Dichter und das Paradepferd der Schauspieler" (P II, 617). Wie ist dieser „innerste Kern alles Lebenden", der in den (heftigen) Emotionen zutage tritt, näherhin bestimmt? Hierzu lassen sich vier für Schopenhauers Anthropologie charakteristische Thesen unterscheiden: 1. Die Allgegenwärtigkeit des Emotionalen. Emotionale oder emotional getönte Zustände haben in unserem tagtäglichen Erleben den Primat: Bewertende, billigende oder missbilligende, appetitive oder aversive, annehmende oder ablehnende Akte und Einstellungen dominieren alle anderen und insbesondere die wertmäßig neutralen und rein erkennenden Zugänge zur Welt. Gefühlshaft gestimmt sind wir (nahezu) immer; erkennend verhalten wir uns nur zeitweilig: Der Intellekt ermüdet; der Wille ist unermüdlich. - Nach anhaltender Kopfarbeit fühlt man die Ermüdung des Gehirnes, wie die des Armes, nach anhaltender Körperarbeit. Alles Erkennen ist mit Anstrengung verknüpft: Wollen hingegen ist unser selbsteigenes Wesen, dessen Aeußerungen ohne alle Mühe und völlig von

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selbst vor sich gehen. Daher, wenn unser Wille stark aufgeregt ist, wie in allen Affekten, also im Zorn, Furcht, Begierde, Betrübniß u. s. w., und man fordert uns jetzt zum Erkennen, etwan in der Absicht der Berichtigung der Motive jener Affekte, auf; so bezeugt die Gewalt, die wir uns dazu anthun müssen, den Uebergang aus der ursprünglichen, natürlichen und selbsteigenen, in die abgeleitete, mittelbare und erzwungene Thätigkeit. (W II, 236)

Das — um es mit Freud zu sagen — „Unbehagen in der Kultur" mit ihrem Zwang zur Triebregulierung ist fur Schopenhauer das wichtigste Indiz dafür, dass unser ,eigentliches' Wesen dasselbe ist wie das der höheren Tiere, in denen sich der Trieb unzensiert und unverstellt auslebt. Im Unterschied zum Menschen, der seine Motive fortwährend hinter einer Oberfläche der Verstellung verstecken muss, ist das Tier „wahr und aufrichtig, indem es sich unverhohlen giebt als Das, was es ist, und sich äußert, wie es sich fühlt" (Ρ II, 617). 2. Das Uberwiegen negativer Emotionen. Kurz und kaufmännisch gesagt: Emotionen lohnen letztlich den Aufwand nicht, da die negativen am Ende stets überwiegen. Zwar sei „unser praktisches, reales Leben [...] wenn nicht die Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es bewegen", so Schopenhauer, werde „es bald schmerzlich" (Ρ I, 360). Sobald der Wille (und damit die gesamte Emotionalität) den Intellekt dominiert, dominiert auch die mit unerfüllten Wünschen und Strebungen einhergehende Frustration und Unruhe. Das Bewusstsein wird beherrscht von „Wünschen, Affekten, Leidenschaften, Sorgen" (W II, 421), wobei Schopenhauer, was die Wünsche betrifft, durchweg voraussetzt, dass sie so weit über die real verfügbaren Befriedigungsmöglichkeiten hinausschießen, dass sie überwiegend enttäuscht werden oder zumindest die Freude über ihre Erfüllung das Leiden an ihrer temporären Unerfulltheit nicht aufwiegt. Auch die Affekte und Leidenschaften schätzt er so ein, dass diese ganz überwiegend negativ getönt sind und Kummer, Sorgen und Ängste die Glücksgefühle weit überwiegen. Insofern ist für den Hypochonder Schopenhauer „Geistesruhe" — die serene Gelassenheit jenseits der Erschütterung durch Emotionen — nicht nur „ein großer Bestandteil des Glücks", sondern „eigentlich sogar die Bedingung und das Wesentliche desselben" (Ρ I, 525). 3. Emotionen beinhalten körperliche Prozesse. Für alle Erscheinungsformen des unbewussten „Willens" gilt für Schopenhauer nicht nur, dass sie mit bestimmten leiblichen Veränderungen einhergehen. Er geht sogar noch weiter und sieht den Körper als eine Erscheinungsform des „Willens". Berechtigt sieht er sich zu dieser engen Kopplung von Körper und „Wille"

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aufgrund der zumal bei den heftigen Emotionen unübersehbaren Korrelation von psychischen und physischen Abläufen. Dass „der Willensakt und die Aktion des Leibes [...] Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben" sind (W I, 143) und der Körper nichts anderes ist „als mein sichtbar gewordener Wille" (W I, 128), sieht Schopenhauer u. a. dadurch bestätigt, dass alle starken Affekte den Körper „und dessen inneres Getriebe erschüttern" und „den Gang seiner vitalen Funktionen stören" (W I, 121). Freude und Zorn beschleunigen den Blutfluss und die Atmung (P II, 176), wobei die physischen Wirkungen zugleich ihrerseits die heftigere Emotion — zumindest die damit verbundene psychische Seite der Erregung — verstärken können: Zorn macht „schreien, stark auftreten und heftig gestikulieren: eben diese körperlichen Aeußerungen aber vermehren ihrerseits den Zorn, oder fachen ihn, beim geringsten Anlaß, an" (P II, 618). 4. Emotionen dienen der biologisch sinnvollen Verhaltenssteuerung. Trotz seines Bekenntnisses zum transzendentalen Idealismus treten insbesondere beim späteren Schopenhauer naturalistische Ansätze zur Erklärung der Willensphänomene in den Vordergrund. Während der idealistische Schopenhauer dazu neigt, die mit Emotionen einhergehenden Vorgänge im menschlichen Körper als Aus drucks formen desselben unbewussten Willens zu deuten, der sich in den entsprechenden Bewusstseinsprozessen manifestiert, neigt der naturalistische Schopenhauer dazu, die psychischen Erscheinungsweisen der Emotionen als Ausdrucksformen körperlicher Prozesse zu deuten (die er dann mit dem Willen identifiziert) und diesen eine biologische Rolle zuzuschreiben: Der Mensch ist zu dem, was er ist, durch einen evolutionären Ausleseprozess geworden, in dem verschiedene Organismen um knappe Uberlebensund Fortpflanzungschancen konkurrieren.7 Die psychische Ausstattung des Menschen ist für ihn — wie für die moderne Evolutionstheorie — im Wesentlichen ein Mittel der blinden Natur (die Schopenhauer ebenfalls „Wille" nennt) zur Gewährleistung der Erhaltung und Fortpflanzung ihrer Wesen. Emotionen unterstützen die Organismen in ihrem ziellosen Streben nach Selbsterhaltung vermöge ihrer motivierenden Funktion: Sie sichern die Selbsterhaltung und die Fortpflanzung der Gattung, indem sie das Individuum auch unter schwierigsten Bedingungen zur Nahrungs- und Partnersuche anreizen und es instinktiv den Geschlechtspartner finden lassen, der das Uberleben der Gattung am ehesten sicherstellt. Was sich für das einzelne Individuum als roman7

V g l . h i e r z u z. B. Spierling 1984, 1 9 - 2 3 .

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tische Liebe darstellt, ist aus dieser Sicht letztlich nichts anderes als eine List der Natur zur Uberwindung des ansonsten grenzenlosen Egoismus des Menschen zur Hervorbringung von Nachkommenschaft. So erklärt Schopenhauer in seinem Essay Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe die besondere Macht und Unwiderstehlichkeit des erotischen Rausches sowie die überragende Bedeutung und den Ernst, die die Menschen (insbesondere in Schopenhauers Zeit) Liebe und Sexualität zuschreiben, damit, dass es aus der Sicht der Natur um das Allerwichtigste geht: um das Uberleben der Gattung. Während die Natur dem Individuum vorspiegelt, es gehe in der Liebe um die Schönheit des oder der Geliebten, geht es der Natur allein um die in der romantischen Liebe charakteristischerweise ausgeblendete physische Vereinigung: Daß es [•·•], so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehen ist auf die Erzeugung eines Indivduums von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwan die Gegenliebe, sondern der Besitz, d. h. der physische Genuß, das Wesentliche ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten; vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem Besitz, d. i. dem physischen Genuß, vorlieb. (W II, 612).

5. Emotionen — eine Quelle von Illusionen Damit ist das Thema der durch starke Emotionen wie die Verliebtheit bedingten Selbsttäuschung angeschlagen, dem Schopenhauer in seiner Anthropologie breiten Raum gibt: Da die menschliche Emotionalität von Natur (bzw. dem ,Weltwillen') aus primär biologische Funktionen zu übernehmen hat, kommt es bei ihr primär auf die Zuverlässigkeit an, mit der sie ihre verhaltenssteuernden Funktionen erfüllt und nicht auf die Adäquatheit der mit diesen Emotionen einhergehenden oder durch sie bedingten Vorstellungen. Solange diese Vorstellungen nicht ihrerseits das Uberleben und die Fortpflanzung beeinträchtigen, gibt es ,aus Sicht der Natur' keinen Anlass, emotional bedingte Illusionen zu korrigieren, mögen diese auch noch so widervernünftig sein. Beispiele für Illusionen dieser Art sind für Schopenhauer die mit der romantischen Liebe verbundenen Idealisierungen des geliebten Partners, aber auch die Religionen, die den Einzelnen über die Zumutungen des Lebens hinwegtrösten und ihn die Geborgenheit und Sicherheit seiner Kindheit wiederfinden lassen. Weil sie in emotionalen Bedürfnissen wurzeln, ist es für Schopenhauer nicht weiter überraschend, wie sehr die Menschen an

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diesen Illusionen hängen.8 Diese Emotionen sind stammesgeschichtlich sehr viel älter als die Vernunft und funktionieren bereits deshalb sehr viel zuverlässiger — was sich u. a. an der für ein animal rationale immer wieder erstaunlichen Hartnäckigkeit zeigt, mit der viele ihre Illusionen gegen die Stimme der Vernunft verteidigen. Schopenhauer geht aber auch hier noch einen Schritt in Richtung Freud weiter: Der Verteidigung der Illusionen bedarf es zumeist gar nicht, da unser psychischer Apparat (der auf der Ebene des Unbewussten agierende „Wille") dafür sorgt, dass Vernunftgründe, die unseren affektiv bedingten Vorurteilen gefährlich werden können, gar nicht erst ins Bewusstsein gelangen: Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein. Manche Irrthümer halten wir unser Leben hindurch fest, und hüten uns, jemals ihren Grund zu prüfen, bloß aus einer uns selber unbewußten Furcht, die Entdeckung machen zu können, daß wir so lange und so oft das Falsche geglaubt und behauptet haben. — So wird denn täglich unser Intellekt durch die Gaukeleien der Neigung bethört und bestochen. (W II, 244)

Interessanterweise wendet Schopenhauer diese „tiefenpsychologische" Diagnose auch auf die Philosophie selbst an. Aus der Sichtweise des durchgängigen Primats des Affektiven über das Kognitive erweisen sich viele der sogenannten „großen Themen der abendländischen Metaphysik" als Scheinprobleme, die nur deswegen als Probleme gelten, weil sich das Interesse gegen die bessere Einsicht sträubt und Fragen offenhält, die, ginge es ausschließlich um die Sache, längst erledigt wären. Die Freiheit des Willens, die Möglichkeit von Unsterblichkeit, die Existenz eines dem Menschen objektiv vorgegebenen Sittengesetzes, die Existenz eines persönlichen Gottes und der mögliche Sinn der Geschichte wären seit langem keine Probleme mehr, gäbe es nicht den tiefemp fun denen, hochemotionalen und mehr oder weniger unausrottbaren Wunsch nach Freiheit, Unsterblichkeit, Sittengesetz, Gott und Sinn in der Geschichte. Alle diese Hypothesen kommen wichtigen menschlichen Bedürfnissen entgegen. Ob sie mehr als Wunschdenken und Lebenslügen sind, ist eine andere Frage.

6. Emotionen in der Moral Schopenhauers Ethik, wie er sie vor allem in der Preisschrift über die Grundlage der Moral entwickelt hat, steht in der Tradition der angelsächsischen Gefühlsethiken, insbesondere derjenigen Humes. Ähnlich wie Hume, der 8

Zur Rolle der Illusionen bei Schopenhauer vgl. auch Birnbacher 1996, 45—48.

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seine Gefühlsethik mit dem Argument begründet, dass der Handlungsbezug moralischer Äußerungen nur durch ein Gefühl, nicht aber durch die in Bezug auf Handlungen indifferente Vernunft erklärt werden könne, plädiert auch Schopenhauer dafür, dass das Phänomen moralischen Handelns nur durch den Hinweis auf ein Gefühl, nicht durch den Hinweis auf eine abstrakte Einsicht, wie etwa die Ubereinstimmung einer Handlung mit dem Sittengesetz, verständlich gemacht werden kann. Mit dieser These grenzt er sich im Eingangsteil der Preisschrift von Kant ab, dessen Ethik er einen „Mangel an realen Gehalt" (E 143) vorwirft: Kants Ethik des Kategorischen Imperativs könne nicht erklären, wieso wir überhaupt zu moralischem Handeln motiviert sein könnten. Als ein „apriorische [r] Kartenhäuserbau" (ebd.) schwebe sie „in der Luft, als ein Spinnengewebe der subtilsten, inhaltsleersten Begriffe, ist auf nichts basirt, kann daher nichts tragen und nichts bewegen" (ebd.). Das Gefühl, das es nach Schopenhauer allein ermöglicht, diesem Vorwurf einer blutleeren und abstrakten Ethik aus dem Wege zu gehen, ist das Mitleid. Wenn Schopenhauer dabei vom Mitleid als einer Grundlage der Moral spricht, ist mit dem Ausdruck „Grundlage" nicht eine Rechtfertigungsgrundlage, sondern eine Erklärungsgrundlage moralischen Handelns gemeint. Es geht Schopenhauer, der das Ziel philosophischer Ethik nicht in der Begründung eines Sollens, sondern darin sieht, „die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen" (E 195), primär darum, mit dem Hinweis auf das Mitleid die va.ota\psychologische Frage nach der Motivationsgrundlage moralischen Handelns zu beantworten. Die Frage, welche Handlungen als moralische einzustufen sind, wird dabei mit Hinweis auf den obersten Grundsatz der Moral — Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva („Schädige niemanden, vielmehr hilf allen, soviel du kannst") — beantwortet, über den sich „alle Ethiker eigentlich einig" (E 137) seien. Er wird also von Schopenhauer mit dem schlichten Hinweis auf den moralischen common sense, der seinerseits nicht weiter hinterfragt wird, begründet. Neben der Funktion, moralisches Handeln zu erklären, kommt dem Mitleid in Schopenhauers Ethik aber auch noch eine zweite Funktion zu, da Schopenhauer es auch zum Kriterium von Handlungen mit moralischem Wert erklärt: Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen. (E 208f.)

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Die Argumentation, auf der diese These beruht, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Handlungen, die dem obersten Grundsatz der Moral entsprechen, also Handlungen der NichtSchädigung bzw. des Wohltuns, haben moralischen Wert. Motivationsgrundlage, und zwar einzige Motivationsgrundlage für solche Handlungen, ist, wie Schopenhauer nachgewiesen zu haben glaubt, das Mitleid. Wenn also jede Handlung, der wir moralischen Wert zusprechen, auf Mitleid basiert, dann gilt — per Kontraposition —, dass eine Handlung, die nicht aus Mitleid entspringt, keinen moralischen Wert hat, und insofern kann Mitleid auch zum Kriterium einer Handlung von moralischem Wert erklärt werden, wobei „Kriterium" hier bedeutet: notwendige (nicht hinreichende) Bedingung. Obwohl Schopenhauer Mitleid als „ganz unmittelbare, ja instinktartige Theilnahme am fremden Leiden" (E 227) charakterisiert, handelt es sich für ihn durchaus nicht um einen bloß unwillkürlichen Affekt. Wenn Schopenhauer von der Möglichkeit spricht, „Mitleid mit der kommenden Generation" (P II, 319) zu empfinden, oder als Beispiel für eine mitleidsmotivierte Handlung den für sein Vaterland in den Tod gehenden Soldaten nennt (E 273), so wird deutlich, dass die Wirksamkeit des Mitleids nicht an unmittelbar vorhandenes Leiden und die unmittelbare affektive Bezugnahme auf das Leiden des anderen gekoppelt ist. Daher kann Schopenhauer nicht nur Handlungen der Menschenliebe, sondern auch solche der Gerechtigkeit — die ja im Allgemeinen gerade nicht unmittelbar emotional motiviert sind, sondern vielmehr auf einer Fähigkeit zur Distanzierung von unmittelbaren Affekten wie persönlichen Loyalitäten und der Bevorzugung Nahestehender beruhen — auf das Mitleid zurückführen. Mitleid ist also für Schopenhauer im Sinne der Rücksichtnahme auf die Leidensfähigkeit existierender und potenzieller Lebewesen ein Dispositionsbegriff: Jedoch ist keineswegs erforderlich, daß in jedem einzelnen Fall das Mideid wirklich erregt werde; wo es auch oft zu spät käme: sondern aus der Ein für alle Mal erlangten Kenntniß von dem Leiden, welches jede ungerechte Handlung nothwendig über Andere bringt, [...] geht in edlen Gemüthern die Maxime neminem laede hervor [...]. (E 214)

Mit dieser Bestimmung des Mitleidsbegriffes nähert sich Schopenhauer einer negativ-utilitaristischen Ethik an, die den Wert einer moralischen Handlung in ihrer unparteilich bemessenen Auswirkung auf das Leiden der davon Betroffenen sieht. Wie genau ist dieses Mitleidsphänomen zu beschreiben? Schopenhauer versteht Mitleid als Identifikation des Mitleidenden mit dem Bemit-

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leideten, genauer: mit dessen Leiden. Auf die Frage, wie es möglich sei, dass das Leiden des anderen unmittelbar mein Motiv werde, antwortet er: Offenbar nur dadurch, daß jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: also dadurch, daß ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mit leide, sein Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, d. h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. (E 208)

Mitleid soll also ausdrücklich nicht verstanden werden als Leiden des Bemitleidenden, sondern als Übernahme der Leiden des anderen. Damit sieht sich Schopenhauer vor das Problem gestellt, wie angesichts der Tatsache, dass „ich nun aber doch nicht in der Haut des anderen stecke" (E 208), dieser Identifikationsvorgang beschrieben werden kann. Die Antwort hierauf lautet, dass die angenommene Identifikation nur durch eine Erkenntnis vollzogen werden kann. Diese Erkenntnis, die den Mitleidsvorgang überhaupt erst verständlich und plausibel macht, kann nach Schopenhauer nur als Erkenntnis einer metaphysischen Wesensidentität alles Seienden verstanden werden. Der Mitleidende erkennt, dass der Unterschied zwischen ihm und dem anderen ein scheinbarer ist. Als das ,Ansich' seiner eigenen und der fremden Erscheinung erkennt er beider Identität als Objektivationen ein- und desselben metaphysischen Prinzips, des Willens. Die konsistente Beschreibung des Mitleidsphänomens selbst ist also letztlich an die Willensmetaphysik zurückgebunden. Dies gilt für die Rolle des Mitleids im Kontext der Willensmetaphysik, aber auch für die nur scheinbar metaphysikfreie Argumentation der 1844 entstandenen Preisschrifl über die Grundlage der Moral, der Schopenhauer eine „Zugabe" hinzufügt, die eine metaphysische Auslegung des Mitleidsphänomens enthält und in der es heißt: Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an, und ist es Ein und das selbe Wesen, welches in allem Lebenden sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufhebt, nicht die irrige: vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies seyn. [...] Jene erstere Ansicht ist es, welche wir als dem Phänomen des Mitleids zum Grunde liegend, ja, dieses als den realen Ausdruck derselben gefunden haben. Sie wäre demnach die metaphysische Basis der Ethik, und bestände darin, daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wiedererkenne. (E 270)

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Nur diese willensmetaphysische Fundierung macht letztlich das Mitleidsphänomen verständlich. Im Rahmen der Willensmetaphysik allerdings erweist sich Mideid als bloße Vorstufe zur Willensverneinung. Gerechtigkeit und Menschenliebe — also jene Handlungsweisen, deren Motivationsgrundlage nach Schopenhauer das Mitleid ist — werden als „Beförderungsmittel der Verneinung des Willens zum Leben" (W II, 696), die „zur Resignation hinleiten" (ebd.) angesehen. Die moralischen Tugenden sind bei Schopenhauer „nicht der letzte Zweck, sondern nur eine Stufe zu demselben" (W II, 698), nämlich der Erlösung von allem Wollen, ohne dass allerdings ganz klar würde, wieso das Durchschauen des Individuationsprinzips, also das Erkennen der Scheinhaftigkeit von Raum und Zeit, über die mitleidsbasierte Teilnahme am Leiden des anderen hinaus zu jener Indifferenz führen sollte, die für Schopenhauer das Signum des Heiligen darstellt. Der philosophische Heilige bleibt, nachdem er das Wollen überwunden hat, nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetrübter Spiegel der Welt übrig. Ihn kann nichts mehr ängstigen, nichts mehr bewegen [...]. Er blickt nun ruhig und lächelnd zurück auf die Gaukelbilder dieser Welt, die einst auch sein Gemüth zu bewegen und zu peinigen vermochten [...]. Das Leben und seine Gestalten schweben nur noch vor ihm, wie eine flüchtige Erscheinung [...]. (W I, 462)

Anders als für den moralischen Menschen ist für den Heiligen kennzeichnend, dass er sich auch auf die Leiden des anderen nur noch anschauendkontemplativ bezieht. Sofern er überhaupt Handlungen ausführt, sind es solche, die zur Mortifikation des eigenen Willens beitragen. Den Leiden der anderen gegenüber ist er indifferent. Ziel- und Fluchtpunkt des von Schopenhauer im Hauptwerk geschilderten Heilswegs ist nicht das moralische Handeln, nicht das Gefühl des Mitleidens mit dem anderen, sondern die völlige Emotionslosigkeit.

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Literatur Schopenhauers Schriften und der handschriftliche Nachlass werden zitiert nach der von Arthur Hübscher besorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: E ΗΝ Ρ W

Oie beiden Grundprobleme der Ethik Der handschriftliche Nachlaß Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Die Welt als Wille und Vorstellung

Schriften

Birnbacher, Dieter (1996), Schopenhauer als Ideologiekritiker, in: ders. (Hg.), Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart (Beiträge zur Philosophie Schopenhauers 1), Würzburg, 45-58. Fleischer, Margot (2001), Schopenhauer, Freiburg. Hauskeller, Michael (1998), Vom Jammer des Eebens. Einführung in Schopenhauers Ethik, München. Malter, Rudolf (1991), Arthur Schopenhauer. Trans^endentalphilosophie und Metaphysik des Willens, Stuttgart. Ruffing, Margit (2001), Philosophische Erkenntnis bei Schopenhauer, in: SchopenhauerJahrbuch 82, 51-63. Safranski, Rüdiger (1987), Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München. Schnädelbach, Herbert (1992), Zur Rehabilitierung des animai rationale, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vortrage und Abhandlungen 2, Frankfurt a. M., 13—37. Schopenhauer, Arthur (1966—1975), Oer handschriftliche Nachlaß, 5 Bde, hrsg. von Arthur Hübscher, Frankfurt a. M. (= HN). - ( 7 1988, zuerst 1841), Die beiden Grundprobleme der Ethik. Behandelt in zwei akademischen Preisschriften: 1. Preisschrift über die Freiheit des Willens, 2. Preisschrift über die Grundlage der Moral, Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim, 149 ff. (= E). - (71988, zuerst 1819/1844), Die Welt als Wille und Vorstellung, Sämtliche Werke, Bd. 2 und 3, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim (= W). - ( 7 1988, zuerst 1851), Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, Sämtliche Werke, Bd. 5 und 6, hrsg. von Arthur Hübscher, Mannheim (= P). Spierling, Volker (1984), Die Drehwende der Moderne. Schopenhauer zwischen Skeptizismus und Dogmatismus, in: ders. (Hg.), Materialien Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung", Frankfurt a. M., 19—23. Spierling, Volker (1998), Arthur Schopenhauer. Eine Einführung in Eeben und Werk, Leipzig.

Sören Kierkegaard (1813-1855)

Kierkegaard: Die existenzielle Bedeutung von Emotionen Romano Pocai Kierkegaard, der Pionier der modernen Wissenschaften von der Seele und Begründer der Existenzphilosophie, hat selbst keine allgemeine Theorie der Emotionen vorgelegt. Es sind vielmehr einzelne Affekte und Stimmungen, denen er sich in den wenigen Jahren, die zwischen seinen philosophischen Anfangen und seinem systematisch bedeutendsten Werk Oie Krankheit ΐζΗηι Tode liegen, intensiv zugewandt hat: Schwermut, Angst und Verzweiflung. Den Horizont und Zusammenhang dieser Trias messen seine wichtigsten Schriften so aus, dass in ihnen jeweils eines der Phänomene im Vordergrund steht: Schwermut im Erstling Entweder—Oder von 1843, Angst ein Jahr später in der Schrift, die diesen Begriff thematisiert, Verzweiflung schließlich im Hauptwerk von 1849. Allerdings thematisiert Kierkegaard die Phänomene nicht um ihrer selbst willen, sondern umwillen und im Rahmen einer Theorie der grundlegenden Existenzstrukturen, auf die das Gelingen ebenso wie das Scheitern des menschlichen Lebensvollzugs zurückgeht. Den Emotionen kommt dabei in inhaltlicher und in methodischer Hinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Kierkegaard hebt mit dem Negativen an, dem Scheitern, das sich in Schwermut, Angst und Verzweiflung ausprägt, um auf diese Weise zugleich die Möglichkeitsbedingungen für das Uberwinden des Scheiterns zu erschließen. 1 Kierkegaards Beitrag zu einer Theorie der Emotionen kann somit nur angemessen bestimmt werden, wenn man diesen übergreifenden konzeptuellen Rahmen möglichst genau rekonstruiert. Affekttheoretisch relevant ist außerdem eine weitere methodische Besonderheit dieses Denkens. Kierkegaard bringt sein philosophisches Projekt so in Gang, dass er sich zunächst um eine möglichst phänomengerechte Darstellung der vorherrschenden Welt- und Selb s ter fahrung seiner Zeit bemüht. Zu diesem Zwecke hebt er — in den sogenannten „Di1

Deshalb ist Kierkegaards Denken zu Recht als „negativistisch" bestimmt worden. Vgl. Theunissen 1991.

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apsalmata ad se ipsum" — mit der individuellen, tagebuchartig in der Form von Aphorismus und Fragment gehaltenen Selbstaussprache eines von der Romantik geprägten Künstler-Subjekts an. Indem Kierkegaard bei der Binnenperspektive eines Schwermütigen ansetzt, die er im Modus einer literarischen Selbstbeschreibung präsentiert, entspricht er einem zentralen Merkmal seines Gegenstandes. Literarische Beschreibungen sind nämlich dort unverzichtbar, wo es gilt, die existenzielle Dimension von Emotionen zu thematisieren, die sich als individuelle dem Maßstab einer Sprache alltäglicher Kommunikation immer auch entzieht.2 Nun ist der Weg nach Entweder—Oder ein Weg der Systematisierung. Kierkegaard entwickelt in Der Begriff Angst und vor allem in Die Krankheit Tode das zentrale Theoriestück seiner Philosophie, die Bestimmung der menschlichen Existenz als einer „Synthese" gegenstrebiger Momente, die es je zu vollziehen gilt. Der Ausgangspunkt seiner Denkbewegung gibt dabei zugleich den internen Maßstab vor, um zu klären, inwieweit es Kierkegaard tatsächlich gelingt, die phänomenale Basis seines Ansatzes systematisch einzuholen.

1. Erfahrung des Nihilismus Schon einer oberflächlichen Lektüre der Oiapsalmata entgeht nicht, dass der Horizont und das leitende Thema, das sich durch all ihre Äußerungen und Reflexionen hindurchzieht, die schwermütige Erfahrung von Sinnlosigkeit, des Nihilismus, ist. Der dezidiert literarischen Darstellung zum Trotz ist es möglich, die Konstellation der wichtigsten Phänomene, die der fiktive Verfasser A selbst unter den Titeln der Sinnlosigkeit, Leere und Schwermut versammelt, in systematischer Absicht zu rekonstruieren. Die für das thematische Feld des Nihilismus basale Erfahrung ist das Erleiden der Sinnlosigkeit im Modus einer Schwermut, der ein Moment von Angst mitgegeben ist. Meine Seele ist so schwer, daß kein Gedanke mehr sie zu tragen vermag, kein Flügelschlag mehr sie aufheben kann in den Äther. Bewegt sie sich, so streicht sie lediglich dicht über den Boden hin, gleich dem tiefen Flug der Vögel, wenn ein Gewitter in der Luft ist. Uber meinem Wesen brütet eine Beklommenheit, eine Angst, welche ein Erdbeben ahnt. (31)

Die Angst bringt das Leiden an der Schwere zum Ausdruck und lässt sie so unmittelbar als etwas, das nicht sein soll, erscheinen. Es ist wichtig, von der schwermütigen Erfahrung der Leere ihren negativen Fluchtpunkt zu 2

Vgl. Pocai 2000, 155ff.

Kierkegaard: Die existentielle Bedeutung von I Emotionen

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unterscheiden, ein totalisiertes Erleiden der Sinnlosigkeit, dem jeglicher Widerstand abhanden gekommen ist: das Phänomen einer reflexiv gewordenen Langeweile, die Grenzgestalt eines ,leidlosen' Leidens (vgl. 40). Im Unterschied zur eigentlichen Schwermut ist die vollendete Langeweile als „Grauen", als das potenzierte Leiden eines Lebens beschrieben, das „den Tod stirbt", dem also der Charakter des Lebendigen, der vitale Impuls, abgeht, selbst derjenige eines unwillkürlichen körperlichen Schmerzes. Es herrscht die vollkommene Untätigkeit eines existenziellen Stillstands vor, jenseits jeder Perspektive einer Uberwindung der Sinnlosigkeit. Der „grauenhaften" Langeweile fehlt die Bewegung, die im Leiden des Prometheus, dem von A verwendeten Beispiel, noch vorliegt: die ewige Wiederkehr des Gleichen. Dem Grauen dieser Wiederkehr des Schmerzes wohnt immerhin noch ein, wenn auch irrealer, Fluchtpunkt seiner Uberwindung inne. Dieser geht jedoch endgültig verloren, sobald die Zeitlichkeit der Existenz ganz von der leeren Gegenwart des Stillstands durchherrscht ist. Die Affektgestalt eines nihilistischen „Grauens" lässt sich präziser als bislang geschehen bestimmen, wenn man darauf achtet, dass beide Phänomene dieselbe Grunderfahrung aufweisen, den Verlust des Möglichkeitscharakters der Existenz. „Meine Seele hat die Möglichkeit verloren. Sollt' ich mir etwas wünschen, ich würde mir nicht Reichtum wünschen oder Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit, das Auge, welches ewig jung und ewig glühend überall die Möglichkeit erblickt" (45). Während jedoch die Schwermut das Schwinden des Möglichkeitscharakters bezeugt, artikuliert die totalisierte Langeweile dessen vollständigen Verlust. Die vollendete Sinnlosigkeit erscheint damit als das Resultat derjenigen Bewegung, die der klassische Verzweiflungsbegriff desperatio zum Ausdruck bringt: der Bewegung eines Verlustes von Hoffnung, deren Ausgangspunkt in der Schwermut liegt. In dieses genealogische Grundgerüst lassen sich nun Phänomene eintragen, die der Schwermut so entspringen, dass sie versuchen, ihren negativen Fluchtpunkt, die drohende Verzweiflung, abzuwehren. Die genealogisch erste Form ist der Versuch, die Erfahrung der Sinnlosigkeit durch Affirmation zu transzendieren. Dem Verlust der Sinnperspektive wird die Möglichkeit abgewonnen, ungebunden und in diesem Sinne absolut zu leben. Das berühmte „Entweder-Oder" A's affirmiert zynisch eine grundlegende Sinnlosigkeit allen Handelns und Unterlassens, Wollens und Wünschens, der nicht zu entkommen sei. „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust

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beides" (41): Diese Struktur einer ausweglosen Nichtigkeit, die A am Verhältnis zur Welt (über deren Narrheit lachen oder weinen), zum anderen (einem Mädchen trauen oder nicht) und zu sich selbst, an der Frage des Suizids (sich aufhängen oder nicht) durchbuchstabiert, erweist sich ihm als „aller Lebensweisheit Inbegriff" (42). Damit ist eine Existenzweise gegeben, deren einzige Devise „anything goes" lautet: Sobald alle Handlungen als gleich sinnlos erachtet werden, gibt es kein Kriterium mehr, die eine vor der anderen auszuzeichnen. Erlaubt ist demnach, was je gefällt. Als zynisch reflektierter Hedonismus scheitert dieser affirmative Nihilismus3, weil er von seinem Erfahrungsgrund je aufs Neue wieder eingeholt wird. Die im Hedonismus selbst lauernde Schwermut erfährt A mit aller Macht. A sieht jedoch eine weitere Möglichkeit, die Schwermut durch Affirmation zu transzendieren. Sie besteht darin, das Leiden selbst zu bejahen und in den Grund einer sinnerfüllten Existenz zu verwandeln. „Mein Leid ist meine Ritterburg": So lautet das Motto der Existenzmöglichkeit, die A in seinen „Papieren" nicht nur beschreibt, sondern auch tatsächlich vollzieht, die des romantischen Dichterphilosophen. Die intendierte Grundstimmung A's ist die einer „geliebten", narzisstischen Schwermut, die „Ja" zum Leiden sagt, um dem Erleiden zu entgehen. Dieser Uberwindungsversuch des Nihilismus besteht darin, die Unmöglichkeit einer sinnerfüllten, innerweltlich fundierten Existenz zum Ausgangspunkt für den Entwurf einer eigenen, künstlerisch gestalteten Gegen-Welt zu nehmen (vgl. 45 f). Das Leiden in und an der Lebenswelt stellt den Erfahrungsgrund bereit, aus dem der Künstler seine Werke schafft, um ihn auf diesem Wege zu transzendieren. Dies geschieht mittels einer reinigenden Idealisierung der Wirklichkeit. „Alles, was erlebt ist, tauche ich unter in die Taufe des Vergessens zum ewigen Leben der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige ist vergessen und getilgt" (45). Eine Wirklichkeit, aus deren Negativität der Künstler seine Werke zu formen vorgibt, wird jedoch durch ihre bloße Idealisierung abgedrängt und nicht etwa verarbeitet. Damit wiederholt sich das Scheitern von A's Strategie der Affirmation auf der reflektierteren Ebene einer idealistisch bestimmten Kunstpraxis. Neben im Wesentlichen deskriptiv ausgerichteten Textstücken enthalten die Diapsalmata aber auch primär deutende Passagen, in denen sich die Tiefendimension der nihilistischen Erfahrung meldet, ihre strukturalen Grundlagen. Es lassen sich dabei zwei unterschiedliche Begründungsper3

Mit Nietzsche könnte man auch von einem „aktiven Nihilismus" sprechen. Zum Verhältnis Kierkegaard-Nietzsche vgl. Fink-Eitel 1994, 299 ff.

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spektiven freilegen. Eine erste, dominierende, begreift die Erfahrung der Sinnlosigkeit als Ausdruck der Faktizität des Gesetztseins. „Niemand kehrt von den Toten zurück, niemand ist in die Welt eingegangen außer mit Weinen, niemand fragt einen, ob man hinein will, niemand, ob man hinaus will" (27). Von einem unverfügbaren Grund bestimmt zu sein, ist für A eine Quelle des Leidens. Das zukunftsgerichtete Leben wird nicht als aktiver Vollzug, sondern als passives Getriebensein erfahren, das in der Dasshaftigkeit dieses Lebens gründet — einer „Folgerichtigkeit, die hinter mir liegt" (25). Die Deutung, wonach das Leiden an Sinnlosigkeit auf die zur condition humaine gehörige Ohnmacht des Gesetztseins zurückgeht, reicht jedoch an die harte Materialität konkreter innerweltlicher Sinnverluste nicht heran und erweist sich deshalb als unzureichend. Weitaus angemessener scheint es hingegen zu sein, umgekehrt diese nihilistischen Welterfahrungen als Grund für das Leiden am Gesetztsein zu begreifen. Denn nachvollziehbar ist es, dass derjenige die Unverfügbarkeit über das „Dass" seines Lebens als etwas Negativwertiges wahrnimmt, der sein Leben in der Welt als sinnlos erfahren hat. Es ist diese geschichtlich-gesellschaftliche Perspektive, die sich in den Oiapsalmata, wenn auch zaghafter und weniger durchdacht, als ein zweiter Deutungsansatz antreffen lässt: A nimmt eine umfassende Nivellierung menschlicher Existenzmöglichkeiten wahr, die der Logik der kapitalistischen Ökonomie folgt, dergemäß Qualitäten quantifiziert, also ihres Eigenwertes beraubt, und qualitative Differenzen eingeebnet werden (vgl. 36). Dieser Prozess einer einebnenden Sinnentleerung wird jedoch mehrheitlich gar nicht als ein solcher wahrgenommen. Deshalb steigert sich die Erfahrung der Sinnentleerung zur Sinn-, weil Ausweglosigkeit. Sofern ihr das ökonomische Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, kommt in A's Erfahrung der Sinnlosigkeit ein reaktiver Nihilismus zum Ausdruck. 4 Thematisch wird damit also gerade nicht die Ohnmacht gegenüber dem uneinholbaren Grund unserer Existenz, sondern diejenige, die den innerweltlichen Lebensvollzug betrifft: die Faktizität einer Geworfenheit in eine je gegebene Welt.

4

Zur Frage nach einer gesellschaftskritischen Dimension der Diapsalmata vgl. Pulmer 1982.

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2. Analyse der Schwermut Im Horizont seiner allgemeinen Theorie „ästhetischer" als hedonistisch bestimmter Existenzweisen 5 begreift B, der fiktive Verfasser des zweiten Teils von Entweder—Oder, den Nihilismus als strukturellen Fluchtpunkt des Hedonismus. Eine ästhetisch-hedonistische Existenzweise trägt den Nihilismus strukturell bereits in sich, weil ihre Erfüllung bloß punktuell und diskontinuierlich ist, ihr Dauerzustand, die umfangreichen Phasen zwischen den Tustmomenten, aber als sinnentleert wahrgenommen wird. Am Beispiel des römischen Kaisers Nero weist Β überzeugend nach, dass ein konsequent gelebter Hedonismus, auch und gerade derjenige, der über schier unbegrenzte Machtbedingungen verfügt, sich selbst aufhebt. Denn die Teere dringt zuletzt in die Tustmomente selber ein und zerstört damit das Sinnresiduum des Hedonisten. Am Endpunkt seiner Analyse ästhetischer Existenz, sobald sich Β mit der spezifischen Tebensform A's auseinandersetzt, modifiziert er jedoch seine Theorie des Ästhetischen. Denn basal für A's Existenz sei eine gedankliche Antizipation der Sinnlosigkeit. B's Grundbestimmung für die Existenz A's ist die einer „Verzweiflung in Gedanken". Damit kehrt Β das für seine Theorie der ästhetischen Existenz allgemeingültige Verhältnis von Hedonismus und Nihilismus um: Der Hedonismus samt seiner nihilistischen Konsequenzen erweist sich als bloße Folge eines basaleren Nihilismus. „Dein Gedanke ist voraus geeilt, Du hast durchschaut, daß alles eitel ist, aber du bist nicht weitergekommen. Gelegentlich tauchst Du darin unter, und indem Du Dich für einen einzelnen Augenblick dem Genießen hingibst, nimmst Du es gleichzeitig in Dein Bewußtsein auf, daß es eitel ist" (207). Das eigentliche Defizit von B's Analyse der Existenzweise A's betrifft nicht das Verhältnis von Nihilismus und Hedonismus, sondern die Bestimmung des Nihilismus. Β fehlinterpretiert A's Verzweiflung als reines Produkt des Denkens. Die Verzweiflung, die er A zuschreibt, ist eine ,Verzweiflung', ein totalisierter Zweifel. Pointiert fasst Β die Differenz zwischen einer bloß gedanklichen und einer erfahrungsgesättigten Verzweiflung: „Zweifel ist des Gedankens Verzweiflung, Verzweiflung ist der Persönlichkeit Zweifel" (225). Im Rahmen seines Ansatzes vermag Β alle Leidensäußerungen A's — von der grundlegenden Schwermut bis zur vollendeten desperatio — nur un5

Vgl. dazu im Einzelnen Greve 1990.

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angemessen, lediglich als Sekundärphänomene zu begreifen, hinter denen die basale Aktivität eines allumfassenden Zweifels steht. Auf diese Weise bekommt er weder die geschichtliche Ebene der konkreten innerweltlichen Lebensbedingungen noch die diesen entsprechende strukturale Ebene einer mundanen Faktizität in den Blick. B's Deutung greift einzig A's Orientierung an der Unverfügbarkeit des „Dass-Grundes" der Existenz (Ernst Bloch), an der Faktizität des Gesetztseins, auf, indem er sie in ein Gesetztsein als Geist verwandelt. Β entwickelt diesen zentralen Gedanken im Rahmen seiner Phänomenologie des Hedonismus. Die entscheidende These seiner Analyse lautet, dass die schwermütigen Attacken, denen sich der Hedonist hartnäckig ausgesetzt sieht, in letzter Konsequenz auf eine Abdrängung der Bestimmung des Menschen als bzw. zum „Geist" zurückgehen. Den Geistbegriff verwendet Β in praktischer Absicht, zur Kennzeichnung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen „ethischen" Existenz, die dem Menschen aufgegeben sei. Β setzt dabei die Geist-Bestimmung des Menschen nicht einfach positiv voraus. Der Geist meldet sich in der Unmittelbarkeit ästhetischen Existierens nicht als Geist — denn er ist das Andere der Unmittelbarkeit und setzt damit deren Überschreitung voraus —, sondern als Angst (vgl. 198f). Diese Geistesangst wird unter ästhetisch-hedonistischen Vorzeichen je aufs Neue verdrängt und dabei in Schwermut verwandelt. Ex negativo, in Gestalt einer perennierenden Schwermut, erfährt der Hedonist seine Bestimmung zum Geist (vgl. 201). Kierkegaard greift dabei auf die theologische Tradition der Acedia zurück und bestimmt die Schwermut unumwunden als „die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen" (201).6 Β legt nun diese geistphilosophische Analyse des Hedonismus seiner Deutung der Existenzweise A's zugrunde. Auch dessen reflektierte „Verzweiflung in Gedanken" erscheint in der Tiefe als Versuch einer Abdrängung der Geist-Bestimmung. Die bleibende Schwermut indiziere jedoch das Scheitern dieses Versuches und die auf Dauer gestellte Krise der Existenz A's. B's Analyse erreicht ihren Kulminationspunkt in der These, A möge in einem eigentlichen, nicht mehr nur gedanklichen, sondern existenziellen Sinne verzweifeln — die Verzweiflung „wählen" — und auf diesem Wege zu sich selbst, zur Realisierung der eigenen Geistbestimmung gelangen — sich selbst „wählen", sich „in seiner ewigen Giltigkeit" (224).7 Dieser Gedanke 6 7

Zur Tradition der Acedia vgl. Theunissen 1996. Zur Analyse der Selbstwahl vgl. Greve 1990, 81 ff.

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ist durchgängig defizitär. Ein solcher Ratschlag kann nur erteilt werden, wenn man von der grundlegenden Verzweiflung abstrahiert, die sich in den Diapsalmata artikuliert. Evidentermaßen lässt sich zwar in Gedanken, also in einem uneigentlichen Sinne, aktiv verzweifeln, d.h. grundlegend an der Möglichkeit einer sinnerfüllten Existenz zweifeln, nicht aber willentlich der Verlust von Sinn erleiden. Indem er die Verzweiflung nurmehr als eine Sache des angemessenen voluntativen Selbstverhältnisses begreift, abstrahiert Β von den objektiven nihilistischen Verhältnissen, die A immerhin noch zur Sprache bringt. Während sich Kierkegaard von diesen Verzerrungen des Verzweiflungsphänomens nie ganz befreien wird, lässt er im direkten Anschluss an Entweder—Oder die Konzeption einer „Selbstwahl" fallen, wonach die Bestimmung des Menschen vermittelt über ein konsequentes Verzweifeln selbstmächtig realisiert werden könne. 8

3. Der Schwindel der Freiheit In Oer Begriff Angst greift Kierkegaard den Gedanken, wonach das Phänomen der Angst die Erfahrung einer grundlegenden Freiheit und Geistbestimmtheit bereitstellt, so auf, dass er dabei die Anthropologie aus dem zweiten Teil von Entweder—Oder revidiert: Er bestimmt diese Freiheitserfahrung als das unvordenkliche Geschehen einer Menschwerdung des Menschen, die immer schon hinter uns liegt. Der Mensch ist im Ursprung ein geist-, weil freiheitsbestimmtes Wesen, er wird dies nicht erst im Vollzug einer „Wahl" des Selbst. Damit sind gegenüber Entweder—Oder II an sich auch die konzeptuellen Grundlagen dafür geschaffen, den Zusammenhang nihilistischer Erfahrungen aus den Diapsalmata angemessener zu rekonstruieren und auf den Begriff zu bringen, d. h. zunächst einmal: jenseits jeder vermeintlichen Unmittelbarkeit zu verorten. Dennoch reicht die Ängstabhandlung an die Selbstbeschreibungen und rudimentären Deutungen A's nicht heran, da ihr Horizont frühzeitig auf das Selbst- und Gottesverhältnis des Menschen eingeengt wird. Die für A's Negativitätserfahrungen basale Dimension einer mundanen Faktizität bleibt unberücksichtigt. 8

Auch wenn Β die Selbstwahl ausdrücklich von einer puren Selbstsetzung abgrenzen möchte, gerät er dennoch in das Fahrwasser dieser Konzeption, indem er den fiktiven Zustand einer vorgeisthaften Unmittelbarkeit des Menschen unterstellt (vgl. 227).

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Der berühmte, mit dem Buch gleichnamige § 5 von Der Begriff Angst ist sicherlich neben dem systematischen Trommelwirbel am Anfang von Die Krankheit %um Tode das anspruchsvollste Textstück des Kierkegaardschen Oeuvres. An anderer Stelle habe ich bereits eine genauere Analyse vorgelegt.9 In diesem Kontext konzentriere ich mich auf die affekttheoretisch wichtigsten Passagen: auf die Bestimmung der Unschuld als Angst und auf die Konzeption des sogenannten „qualitativen Sprungs" aus der Unschuld in die Schuld. Kierkegaard bestimmt die Unschuld, den Zustand des Menschen vor der eigentlichen Menschwerdung, dem Sündenfall im biblischen Sinne, wesentlich als Angst. 10 Nur scheinbar knüpft er an das gewöhnliche Verständnis von Genesis 3 an, wonach dieser Zustand ein solcher von „Friede und Ruhe" sei, einer unmittelbaren Einheit von Seele und Leib, des emotionalen und des vitalen Lebens. In möglichst großer Annäherung an die Binnenperspektive der sogenannten Unschuld wird die gängige Bibelauslegung und damit grundsätzlich jede Konzeption eines positiv vorgegebenen Zustandes von Unschuld bzw. Unmittelbarkeit subvertiert, als scheinhaft entlarvt. In diesem Zustand ist Friede und Ruhe; aber da ist zu gleicher Zeit noch etwas Anderes, welches nicht Unfriede und Streit ist; denn es ist ja nichts da, damit zu streiten. Was ist es denn? Nichts. Aber welche Wirkung hat Nichts? Es gebiert Angst. Das ist die tiefe Heimlichkeit der Unschuld: sie ist zugleich Angst. Träumend spiegelt der Geist seine eigene Wirklichkeit hin, aber diese Wirklichkeit ist Nichts, aber dieses Nichts sieht die Unschuld fort und fort außerhalb ihrer. (39f.)

Die Unschuld ist kein selbstgenügsamer, sondern erweist sich als ein Zwischen-Zustand. Sie ist schon immer nicht mehr, was sie niemals war: pure, animalische Einheit von Körper und Seele, und sie ist noch nicht, was zu realisieren ihr aufgegeben ist: geistbestimmte Existenz. Der Geist ist noch nicht verwirklicht, sondern bloß „träumend", und die manifeste Zwietracht von Körper und Seele, ihr „Unfriede und Streit" in Form ihrer Entgegensetzung und Extremierung, steht ihr allererst noch bevor. Es gibt also ,am Anfang', so Kierkegaards Pointe, gar keine reine, ungetrübte Unschuld. Unser Ursprung ist vielmehr ein Zwischenzustand, eine Bewegung, die auf den Übergang in eine schuldbestimmte Existenz zielt. Die Erfahrung und damit auch das eigentliche Sein dieses „Zwischen" ist Angst. 9 10

Vgl. Pocai 1999, 95ff. Ich greife im Folgenden auf die Analysen dieses Aufsatzes zurück. Er grenzt die Angst als eine zunächst ungerichtete Stimmung von dem eindeutig gegenstandsbezogenen Furchtaffekt ab (vgl. 40).

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Kierkegaards Darstellung konstruiert die Binnenperspektive eines „unvordenklichen" Ursprungs, um dessen gewöhnliche Verklärungen zu unterwandern. Dabei affirmiert er jedoch nicht einfach diese Binnenperspektive, sondern stellt sie kritisch dar. Von einer expliziten Selbsterfahrung der vermeintlichen Unschuld als Angst kann nämlich keine Rede sein: Der fiktive Ur-Mensch befindet sich nicht nur noch ,diesseits von Gut und Böse', auch weiß er nicht um sich selbst als Angst. Die Angst ist nicht nur in ontologischer, sondern auch in bewusstseins- bzw. erkenntnistheoretischer Hinsicht „die tiefe Heimlichkeit der Unschuld": Sie ist ihr Wesen, um das sie zugleich nicht weiß. Vielmehr verkennt die Unschuld als ein rein äußerliches „Nichts", was in Wahrheit die eigene Bestimmung ist. In diesem Verkennen liegt jedoch zugleich ein erstes vorreflexives, ahnendes Innewerden dieser Bestimmung. Dass der Geist vor seiner Selbstsetzung seine eigene Wirklichkeit „hinspiegelt", meint eben nicht nur: er verkennt sie, indem er sie nach außen projiziert, sondern auch: er antizipiert seine eigene Realisation, er projektiert sich selbst. Und auch darin, dass die Unschuld ihre eigene Bestimmung bzw. deren Realisation als eine äußere, fremde Instanz auslegt, liegt ein Wahrheitsmoment. Denn der Geist ist nicht einfach nur die Bestimmung des Individuums, er ist zugleich die übersubjektive Bestimmung des Menschen, eine Dimension mithin, welche die Differenz von Welt und Selbst umgreift. 11 Hierin allein liegt der Ansatzpunkt dafür, dass man die Angst der Unschuld als Einheit von Weltangst und ,selbstischer' Freiheitsangst begreifen kann. 12 Die Binnenperspektive des Sichängstens angesichts eines Nichts, der radikalen Fremdheit dessen, was eigentlich zu uns gehört: der Welt, in der wir leben, fließt in den Traum des Geistes mit ein, der damit auch ein Alptraum ist. Das Nichts der Angst wird so zum Vorschein radikaler Weltfremdheit. Daran ließe sich die Perspektive festmachen, wonach Kierkegaards Subversion von Unschuld und Unmittelbarkeit nicht zuletzt von der Intention motiviert ist, die eigene Zeit auf den Begriff zu bringen. Die Negativität der Moderne, so könnte man ansetzen, eröffnet allererst den Blick auf ein ursprüngliches „Nichts". Eine solche Perspektive ist aber gänzlich im Rücken Kierkegaards angesiedelt: Er selbst lässt sie unergriffen, indem er die Fremdheitserfahrung gerade nicht als Erfahrung von Welt gelten 11

12

Als wahrhaft übersubjektive Bestimmung gedacht, kann die Dimension des Geistes nicht — wie dies explizit am Anfang von KT geschieht — mit der des Selbst gleichgesetzt werden: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst" (KT 8). Dies ist die These von Schulz 1979, 347ff.

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lässt, sondern in diejenige der individuellen Freiheit auflöst. Angst ist für Kierkegaard im Wesentlichen „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit" (40). Sie gilt ihm als unrealisierte, aber gleichwohl wirkliche Freiheit: Sie ist Freiheit als reines Vermögen noch vor jeder Realisation und damit auch schon „Möglichkeit zu jeder Konkretion" (61). „Möglichkeit" bedeutet also in dieser Wesensbestimmung der Angst zum einen reines „Vermögen", „Können", „Macht", zum anderen den Spielraum der realisierbaren Handlungsmöglichkeiten, in Kierkegaards Worten: die „selbstische Unendlichkeit des Möglichen" (61). Kierkegaard begreift jenen Traum des Geistes so, als sei er nichts als der utopische Traum, das Wunschbild des Selbst. Wenden wir uns dem zweiten zentralen Gedankengang der anthropologischen Grundlegung in Der Begriff Angst zu, der entscheidenden Annäherung Kierkegaards an den sogenannten „qualitativen Sprung" aus der Unschuld in die Schuld einer geist-, d. h. freiheitsbestimmten Existenz und damit in den Zustand, der allererst die conditio humana ausmacht. Während dabei der Zustand nach dem Sprung eindeutig als Schuld bestimmt werden muss, steht die Schuld am Sprung aufgrund der Zweideutigkeit der Angst, zugleich lustvolles Trachten und ohnmächtiges Erleiden zu sein, gerade infrage (vgl. 41), also wegen der ambivalenten Struktur, die Kierkegaard in der Bestimmung, Angst sei „eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie" (40), zum Ausdruck bringt. Die entscheidende Klärung der Problematik erfolgt im Rahmen der Deutung eines bekannten Phänomens von ambivalenter Angst: der Höhenangst. Kierkegaard stellt einerseits den Schuldcharakter heraus, der in der Aktivität des „Springens", der Realisation von Freiheit im Vollzug einer konkreten Handlung besteht, indem er die ,unschuldige' Höhenangst als Freiheitsangst deutet, das heißt aber als Verhältnis des Menschen zu seinem Freiheitsvermögen. Denn als Grund des angsthaften „Schwindels" erscheint letztlich die Abgründigkeit der Freiheit selbst, keine äußere Macht. Aber andererseits verschafft er hier der Erfahrung von Ohnmacht Geltung: Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigene Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen. [...] Den gleichen Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet, sieht sie, daß sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann. (60f.)

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Es ist wichtig zu beachten, dass Kierkegaard den Sprung zwischen zwei Augenblicken veranschlagt, dem des Zusammensinkens und dem des Sichwiederaufrichtens. Der Sprung kann also nicht damit gleichgesetzt werden, dass die Freiheit „die Endlichkeit packt sich daran zu halten". Eine solche Deutung ist deshalb ausgeschlossen, weil der Akt, sich an der Endlichkeit festzuhalten, ein Moment des Geschehens vor dem Sprung darstellt, einen Pol des „Schwindels" ausmacht, in dem die Freiheit zusammensinkt: Die Freiheit blickt sympathetisch in ihre eigene Möglichkeit, die Unendlichkeit ihrer Realisationsmöglichkeiten, vor der sie sich antipathetisch, im Ergreifen der Endlichkeit, zurückzieht. Der „Schwindel", in dem die Freiheit zuletzt zusammensinkt, ist somit ein potenzierter „Schwindel", ein „Schwindel" zweiter Ordnung: Er kennzeichnet die Rotationsbewegung zwischen dem „Schwindel" erster Ordnung, also der Wahrnehmung des unendlichen Möglichkeitsspielraums sowie der Möglichkeit, Freiheit zu realisieren, und dem antipathetischen Zurückweichen zur Endlichkeit der leibseelischen Bestimmtheit. Das Gesamtgeschehen ist somit dasjenige der Angst als einer potentiell unendlichen Umschlagsbewegung zwischen „sympathetischer Antipathie" und „antipathetischer Sympathie". Die Pointe, auf die Kierkegaard hinausmöchte, scheint mir die zu sein, dass gerade die Unendlichkeit der Rotationsbewegung auf eine entscheidende Asymmetrie der beiden Momente verweist. Es ist nämlich nur auf eine Weise möglich, der Kreisbewegung zu entgehen: indem man dem sympathetischen Moment nachgeht und Freiheit im Vollzug einer konkreten Handlung, welcher, spielt dabei keine Rolle, aktualisiert. Es ist gerade nicht möglich, sich vor dem Sprung dauerhaft an der Endlichkeit festzuhalten, ohne immer wieder mit dem Horizont der Freiheit und damit mit der Möglichkeit ihres Vollzuges konfrontiert zu werden. Es ist diese Asymmetrie, mit der Kierkegaard ein Moment von Unschuld, Ohnmacht am Sprung zugesteht: Weit entfernt davon, zwar nicht nur, aber eben auch Friede und Ruhe zu sein, ist die Unschuld an dieser Stelle nichts weiter als die heillose Rotationsbewegung einer in sich, wie es heißt, „gefesselten Freiheit", purer Zwang. Die Aktualisierung der Freiheit ist somit ein Akt der Befreiung von diesem Zwang. 13 Kierkegaard zeichnet im weiteren Verlauf des Buches eine Geschichte der Angst nach, die von der Unfreiheit schuldhafter Selbstverfehlung zur Freiheit eines „in kraft des Glaubens" gelingenden Existenzvollzugs ver13

Zur näheren Bestimmung des Zustandes nach dem Sprung als Schuld vgl. Pocai 1999, 101.

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läuft. Wir können dem hier im Einzelnen nicht mehr nachgehen. Nur thesenartig soll die Konsequenz aufgezeigt werden, die aus Kierkegaards grundsätzlicher Perspektive auf die Angst als Phänomen der Selbstbeziehung für seine Deutung moderner Sinnlosigkeitserfahrungen folgt. Das umfangreiche vierte Kapitel des Buches ist der eigenen Zeit gewidmet. Grundlegend und vorherrschend zugleich sei eine „Angst vor dem Guten", die Kierkegaard auch „das Dämonische" nennt. ,,[D]as Dämonische ist vielleicht noch nie so weit verbreitet gewesen wie in unsern Zeiten, nur daß es heutzutage sich besonders in den geistigen Bereichen zeigt" (141). Die dämonische Angst bildet den negativen Höhepunkt einer unfreien Existenz, denn sie richtet sich — im Unterschied zur „Angst vor dem Bösen" 14 — explizit gegen das im Grunde Gesollte, die eigene Bestimmung (vgl. 127). Die existenzielle Defizienz geht, wie schon in Entweder—Oder, auf eine Aktivität des Individuums zurück und erweist sich als selbstverschuldet, auch wenn sich diese Aktivität keinem eigenmächtigen, sondern einem von Gott eingesetzten Existenzvollzug entgegenstellt. Damit wird Kierkegaard jedoch der Phänomenologie des Nihilismus aus Entweder—Oder I auch in Der Begriff Angst nicht gerecht. Die umfangreiche Analyse des Dämonischen versammelt zwar unter der Bestimmung des „Langweiligen" die wichtigsten Merkmale, mit denen die Oiapsalmata am Phänomen einer „grauenhaften" Langeweile das potenzierte Leiden an der Sinnlosigkeit zum Ausdruck gebracht haben (vgl. EO I, 40): Kierkegaard bestimmt das „Langweilige" als „Untötbarkeit", als „Zusammenhang im Nichts" (138)15 und spricht von „der grauenhaften Ode und Inhaltsleere" des Dämonischen (ebd.). Die entscheidenden Bestimmungen der ursprünglichen Erfahrung werden zitiert, aber gerade nicht als Merkmale eines Leidensphänomens. Das Leiden fällt vielmehr der Dämonisierung zum Opfer: Die der „Angst vor dem Guten" eigentümliche Leere lässt sich entweder ethisch verurteilen — oder metaphysisch belächeln. Sobald die Leere nur noch als der Gedanke des Leeren und also nicht mehr als grauenhafte Leere wahrgenommen wird, kann sie als eine substanzlose Trivialität erscheinen, die uns bestenfalls zum Lachen anregt (vgl. 138). Vom Negativen abstrahiert auch der affirmative Zielpunkt des Buches, die Gestalt einer „Angst als das kraft des Glaubens Erlösende". Als „Mög14 15

Die Anfangsgestalt der Angst nach dem Sprung richtet sich als „Angst vor dem Bösen" gegen die Unfreiheit. Dieser der eigentlichen Kontinuität entgegengesetzte nihilistische Zusammenhang drängt sich, so Kierkegaard weiter, „der Vorstellung" auf, „wenn man einen Menschen sieht, der aussieht, als sei er vor langer Zeit gestorben und begraben" (138).

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lichkeit der Freiheit" und „kraft des Glaubens" — als Selbstverhältnis, das sich zugleich zu Gott verhält — sei die Angst „bildend" — führe sie den Menschen zur Verwirklichung seiner Bestimmung —, „indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle Täuschungen an ihnen entdeckt" (161) — also von Welt befreit. Nur in prinzipieller Gegenstellung zur Welt vermag der Einzelne seine Bestimmung zu realisieren. Die Unwahrheit dieses Ansatzes tritt jedoch am Endpunkt von Der Begriff Angst deutlich genug zum Vorschein. Denn die Absage an „alle Endlichkeiten" zugunsten einer Freiheit zu sich und zu Gott schlägt zuletzt in die Affirmation der Verhältnisse um. Der vermeintliche Bildungsprozess „Angst" besteht nämlich darin, angesichts einer unendlich steigerbaren Möglichkeit des Negativen „Ja" zur gegebenen Wirklichkeit zu sagen. Wer solcherart „aus der Schule der Möglichkeit hervorgeht", so die erstaunliche Wendung, „er wird die Wirklichkeit preisen, und sogar wenn sie schwer auf ihm lastet, wird er daran denken, daß sie gleichwohl weit leichter ist als es die Möglichkeit gewesen" (162f). An dieser Stelle rächt sich die strukturelle Abwertung des Mundanen. Sie verführt Kierkegaard dazu, die Macht der herrschenden Verhältnisse zu unterschätzen.

4. Theorie der Verzweiflung Grundlegend für Kierkegaards Analyse der Verzweiflung in Oie Krankheit %um Tode ist die konzeptuelle Differenz zwischen dem ersten, struktur alen, und dem zweiten, genealogischen Gang. 16 Während der erste Durchgang mit der These steht und fällt, die er zugleich begründet: dass der Mensch eine „Synthese" entgegengesetzter und gegenstrebiger Momente — „von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit" (8) — ist und zu sein hat, steckt die anfängliche Definition von Verzweiflung als „Krankheit im Selbst" (8), als Phänomen eines voluntativ bestimmten Selbstverhältnisses, den Horizont der genealogischen Analyse ab. Angeleitet von seiner Grundthese nimmt der erste Durchgang augenfällige Existenzformen radikaler Vereinseitigung in den Blick, die bei aller zum Teil gegensätzlichen Ausrichtung doch darin übereinstimmen, dass sie auf jeweils einen der beiden Grundpole der menschlichen Existenz festgelegt sind, die sich in ihrer Quintessenz als Differenz zwischen einem 16

Meine Deutung von KT ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Theunissen 1993.

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zukunftsbestimmten „Können" und einem vergangenheitsbestimmten „Müssen" fassen lassen. Während ζ. B. der Lebensvollzug des Spießers auf den Horizont des jeweils Vorliegenden eingeschränkt ist, zielt der Phantast umgekehrt ganz auf die offenen Möglichkeiten des Existierens. Somit verabsolutiert dieser das „Können", jener das „Müssen"; beiden gemeinsam ist, dass sie von dem je anderen Moment abstrahieren — und damit von dem Ganzen der Existenzstruktur. Bezogen auf den ersten Durchgang besitzt die These von einer „negativistischen" Methode Kierkegaards 17 ihre volle Uberzeugungskraft. Denn der Gedanke, dass der Mensch eine (von Gott) gesetzte „Synthese" ist, leitet zwar die Analyse des ersten Durchgangs an, aber er begründet sie nicht. Vielmehr ist es umgekehrt die Analyse der Existenzformen abstrakter Einseitigkeit, welche die Synthese erschließt, und zwar als die strukturale Möglichkeitsbedingung dieser Formen einerseits, als die eigentliche Aufgabe des Existierens: die gegenstrebigen Momente zusammenzuhalten, andererseits. Die im ersten Durchgang analysierten Existenzformen erscheinen primär im Lichte dieser Grundthese, weniger in dem des Verzweiflungsphänomens. Dass die als Formen von Vereinseitigung begriffenen Existenzweisen allesamt angemessen als „Verzweiflung" zu bezeichnen sind, lässt sich phänomenologisch gerade nicht begründen. 18 Gleichwohl besitzt der erste Durchgang ein kaum zu unterschätzendes affekttheoretisches Potential. Denn Kierkegaards Analyse thematisiert an zentraler Stelle, unter dem Titel einer „Verzweiflung der Notwendigkeit", das Verzweiflungsphänomen schlechthin, ebenjenen Verlust von Möglichkeit, auf den der klassische Verzweiflungsbegriff zielt. Die Synthesentheorie stellt dabei den konzeptuellen Rahmen bereit, um „Verzweiflung" als Ausdruck eines reaktiven Nihilismus begreifen zu können, deckt doch der Begriff der „Notwendigkeit" die Dimension einer mundanen Faktizität ab. Im Gegensatz dazu ist der zweite, auf den ersten Blick konkretere Durchgang von einem phänomenverzerrenden Verzweiflungsbegriff durchherrscht, den der Vorspann des Hauptteils umreißt: Verzweiflung wird als eine „Krankheit im Geist, im Selbst" bestimmt, deren Grund im

17 18

Vgl. Theunissen 1991. Hier macht sich das Uberbordende des Verzweiflungsbegriffs von KT bemerkbar, das der problematischen These von der „Allgemeinheit dieser Krankheit" geschuldet ist (vgl.18-24).

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Willen des Einzelnen liegt, sei es, dass man „verzweifelt nicht man selbst sein" will, sei es, dass man „verzweifelt man selbst sein" will (8). Der gesamte zweite Durchgang ist von diesem Dualismus bestimmt, prozessualisiert er doch das Verhältnis der beiden Formen, indem er es als Weg von der „Schwachheit" zum „Trotz" reformuliert. Die pejorativen Begriffe indizieren in wünschenswerter Klarheit, dass Kierkegaard Verzweiflung als defizitäre Form willentlichen Handelns begreift und dem Verzweifelten die volle Verantwortung für das Verzweifeltsein zuschreibt. Damit überformt er die basale Erfahrung, die phänomenale Basis und den wesentlichen Charakter der Verzweiflung: das Erleiden, den Verlust von Hoffnung, den der klassische Begriff der desperatio indiziert. Den Fluchtpunkt dieser Uberformung bildet die sündentheologische Deutung der Verzweiflung im zweiten Abschnitt der Schrift. „Sünde", so heißt es dort, „ist [...] die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz" (75). Einen phänomenologisch angemessenen, zunächst einmal unverzerrten Begriff von Verzweiflung stellt neben der Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit" der Schlussabschnitt des ersten Kapitels unter dem Titel „Verzweiflung ist: ,die Krankheit zum Tode'" bereit. Kierkegaard erläutert die in der Uberschrift gesetzte These durch zwei Bestimmungen: Erstens grenzt er die Verzweiflung sowohl von körperlichen Krankheiten mit tödlichem Ausgang als auch von einem christlichen Existenzverständnis ab, in dem der Tod „nicht das Tetzte", sondern „selber ein Durchgang zum Leben" ist (13). In der Verzweiflung hingegen fungiert der Tod als definitiver lebensimmanenter Horizont, als Sterben in Permanenz. Zweitens bestimmt Kierkegaard die darin liegende „Qual" (13), indem er Verzweiflung als „die Hoffnungslosigkeit, noch nicht einmal sterben zu können" (14), definiert, mithin als desperatio. Die fehlende Perspektive einer Erlösung vom Leiden erscheint als der Kern des Phänomens. In ihrer Einheit bringen die beiden Bestimmungen den „qualvollen Widerspruch" zum Ausdruck, der die Verzweiflung ausmacht: „ewig zu sterben, zu sterben und doch nicht zu sterben, den Tod zu sterben. Denn sterben bedeutet, daß es vorüber ist, aber den Tod sterben bedeutet das Sterben zu erleben; und läßt sich dies einen einzigen Augenblick erleben, so heißt das, es damit auf ewig erleben" (14). Kierkegaard bezieht sich hiermit auf einen zentralen Aphorismus der Oiapsalmata zurück, der die quälende Leere eines existenziellen Stillstands zum Ausdruck bringt, dem selbst die monotone ewige Wiederkehr eines identischen Leidens als unerreichbarer Wunsch erscheint, und der in einem „Ich sterbe den Tod" (EO I, 40) kulminiert. Der Rückgriff auf die Oiapsalmata, dieses nicht ge-

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kennzeichnete Selbstzitat, ist ein phänomenologisch-systematischer Höhepunkt von Die Krankheit ΐζΗηι Tode, denn hier gelingt tatsächlich, was die Schrift durchgängig zu leisten bloß beansprucht: Die Erfahrung der Verzweiflung wird auf den Begriff gebracht. Unter dem Titel „Die Verzweiflung der Notwendigkeit ist, der Möglichkeit zu ermangeln" fuhrt Kierkegaard in der Sache den Ansatz bei einer Phänomenologie der Verzweiflung als desperatio fort. Die „Möglichkeit", um deren Verlust es hier geht, ist dabei nicht einfach mit dem der Notwendigkeit entgegengesetzten Pol der Synthese gleichzusetzen. Die praktischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen werden in einer ganz bestimmten Bedeutung aufgerufen, als Synonym für „das Rettende". Verzweiflung als desperatio erscheint als Verlust des Rettenden (vgl. 35f). Wiederum bezieht sich Kierkegaard in der Sache auf die Oiapsalmata zurück, auf einen Aphorismus, in dem der schwermütige A die Beschreibung seines Zustandes der Mattheit und Desillusioniertheit in der Wendung: „Meine Seele hat die Möglichkeit verloren" kulminieren lässt (EO I, 45). Der Fortschritt von Oie Krankheit Tode gegenüber Entweder—Oder I springt ins Auge: Während dort bei aller Nähe zur Erfahrung der Schwermut die Rede von einem Verlust „der Möglichkeit" jenseits des Horizonts hedonistischen Strebens unbestimmt bleibt, gewinnt sie hier in phänomenologischer und konzeptueller Hinsicht Profil, wird der Verlust doch als die grundlegende Dimension der Verzweiflungserfahrung aufgewiesen. Der gleichzeitigen Präzision und Weite, die dem Möglichkeitsbegriff in seiner Bedeutung als „das Eine, was rettet" (35) zukommt, ist es zu verdanken, dass die Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit" als Keimzelle einer angemessenen Genealogie der Verzweiflung gelesen werden kann, derzufolge Verzweiflung als ein mehrphasiger Prozess zu verstehen ist, der von einem basalen Erleiden über den Verlust des Vertrauens in das Menschenmögliche hin zum Verlust oder Scheitern des Glaubens an einen Gott, bei dem alles möglich ist, zum vollendeten Untergang verläuft. Die entscheidende Passage lautet: Denk dir einen Menschen, welcher mit dem ganzen Schauder einer erschreckten Einbildungskraft sich das eine oder andre Grauenhafte vorgestellt hat als unbedingt nicht auszuhalten. Nun widerfährt es ihm, eben dies Grauenvolle widerfährt ihm. Menschlich gesprochen ist sein Untergang das Gewisseste von allem [...]. Mithin ist Rettung menschlich gesprochen das Allerunmöglichste; aber alles ist möglich bei Gott! Dies ist der Kampf des Glaubens, welcher, wenn man so will, verrückt für Möglichkeit kämpft. Denn Möglichkeit ist das Eine, was rettet. (35)

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Verzweiflung wird so als eine Bewegung begreifbar, die als konkrete Widerfahrnis anhebt und in vollendete Hoffnungslosigkeit einmündet. Dazwischen liegt der Kampf des Verzweifelnden um die Möglichkeit einer Rettung. Diese Lesart muss allerdings als subversiv bezeichnet werden, denn sie unterläuft Kierkegaards eigenes Verständnis von der Prozessualität der Verzweiflung, das in der Alternative zum Ausdruck kommt, ob der Verzweifelnde verzweifeln oder glauben will. Kierkegaard begreift den Prozess der Verzweiflung als Kampf im Verzweifelnden zwischen Verzweiflung und Glauben, also nicht als Kampf des Verzweifelnden gegen die Verzweiflung. Dementsprechend bestimmt er den Prozess, der nicht beim Glauben anlangt, nicht als Versuch einer Eigenrettung, sondern als ein Verzweifeln-Wollen, nicht als Kampf gegen das Grauen, den Untergang, sondern als „bequemen Weg" (35). Dass Verzweiflung ein Prozess ist, ist der Wahrheitsgehalt des genealogischen Ansatzes von Oie Krankheit ΐζΗηι Tode. Ein angemessenes Verständnis davon, wie sie dies im Einzelnen ist, liefert er allerdings gerade nicht. Nicht zuletzt das Weiterwirken der Oiapsalmata schärft jedoch den Blick auf das genealogische Potential des synthesentheoretischen Durchgangs, demzufolge die „Verzweiflung der Notwendigkeit" als Prozess zu begreifen ist, der mit der Erfahrung des Sinnverlustes anhebt und in vollendete Hoffnungslosigkeit einmündet. Die Kryptogenealogie der Oiapsalmata wird damit ihrerseits im Grundriss bestätigt und begrifflich präzisiert. Diese Perspektive lässt sich zum Abschluss bringen, indem man einerseits die Widerstandsphänomene aus Entweder—Oder I mit den begrifflichen Mitteln von Die Krankheit %um Tode genauer bestimmt. Dies erlauben die Analysen der „Verzweiflung der Möglichkeit" und der — dieser entsprechenden — Gestalten des „Trotzes" aus dem zweiten Durchgang. Andererseits lässt sich jene Kryptogenealogie durch die Überlegungen zum „Determinismus" bzw. „Fatalismus" aus der Analyse der „Verzweiflung der Notwendigkeit" ergänzen. An aktueller Stelle müssen wir uns auf einen knappen thesenartigen Ausblick beschränken. Das Phänomen eines „handelnden" Trotzes fuhrt das plastische Bild näher aus und präzisiert es begrifflich, mit dem Kierkegaard die Verzweiflung der Möglichkeit charakterisiert: dass die Möglichkeit „die Notwendigkeit über den Haufen [läuft]" (32). Der Trotz ist der Versuch des Individuums, absolut eigenmächtig zu leben: Es will „über sich selbst verfügen, [...] sich selbst erschaffen", „konstruieren" (68). Dieser Wunsch ist gegeben in dem, was Kierkegaard „die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst" oder

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auch die „unendliche Form des negativen Selbsts" (ebd.) nennt. Damit ist die Möglichkeit einer reinen Selbstbeziehung negativer Freiheit bezeichnet, die den Einzelnen aus allen Bindungen löst bzw. zu lösen scheint. Es ist nur unschwer zu erkennen, dass Kierkegaard hiermit die Haltung des nihilistischen „Entweder-Oder" A's („Heirate, du wirst es bereuen, heirate nicht, du wirst es auch bereuen" usw.) auf den Begriff bringt. Umgekehrt jedoch erschließt sich allererst von den Oiapsalmata her der „handelnde" Trotz als erste Widerstandsform gegen das Verzweifeln. Mit dem Umschlag des „handelnden" in den „leidenden" Trotz wird das Teiden selbst zum Triebgrund des Trotzes. Das Individuum erfáhrt, dass es sein Leiden, den „Grundschaden", aus eigener Kraft nicht beheben kann (vgl. 70), lehnt jedoch jede fremde Hilfe ab — sei diese menschlicher oder göttlicher Natur — und affirmiert die Grenze seiner Macht, indem es mit aller Unbedingtheit an diesem Leiden festhält (vgl. 711). Kierkegaard begreift im Horizont seiner expliziten Genealogie das Phänomen eines „leidenden" Trotzes als potenzierte Affirmation von Verzweiflung und reformuliert auf diese Weise seine Theorie des „Dämonischen" aus Der Begriff Angst (vgl. 72—74). Aus der Perspektive unserer, an der Phänomenkonstellation von Entweder—Oder I und der Synthesentheorie von Die Krankheit Tode orientierten Genealogie des Widerstandes erscheint das Phänomen dagegen als Versuch, dem Leiden, auf das der „handelnde", aktiv-nihilistische Trotz zurückgeworfen wird, nicht durch Verdrängung, sondern durch Affirmation zu entgehen, also indem der Verzweifelnde das Gesetztsein als Leidendsein auslegt. Aber auch dieser reflektiertere Versuch einer Eigenrettung scheitert, weil die fragile Freiheit eines Widerstandes durch Affirmation der Kontingenz innerweltlichen Leidens ausgesetzt bleibt. Der „leidende" Trotz stellt den Endpunkt des Widerstandes gegen die desperatio dar. Mit dessen Scheitern und dem Verlust aller Hoffnung auf Rettung erfüllt sich der Verzweiflungsprozess, und zwar in einer Existenzform, die der Faktizität der herrschenden Verhältnisse zur Gänze erliegt, im „Determinismus" bzw. „Fatalismus", den Kierkegaard selbst als konkrete Ausgestaltung der „Verzweiflung der Notwendigkeit" bestimmt (vgl. 37). Das Bestehende erscheint dem Fatalisten als unaufhebbarer Zwangszusammenhang, den man als solchen immer schon erlitten hat und innerhalb dessen kein gelingendes Leben mehr möglich ist. Als Fatalist, der das Grauen der Leere, des existenziellen Stillstands, reflektiert und damit abgestützt, gleichsam noch einmal stillgestellt, hat, versucht der Verzweifelte nur noch zu überleben. Die Stimmung der Gleichgültigkeit einer „grauenhaft langweiligen" Langeweile ist der Ort, an dem sich der Uberlebensimpuls ansiedelt — und ständig in Frage

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gestellt bleibt. Denn ob diese Mimesis an die vermeintliche Notwendigkeit der herrschenden Verhältnisse die Minimal-Existenz bloßen Uberlebens sichert, bleibt eine offene Frage.

5. Zwischen Freiheit und Ausgeliefertheit Kierkegaards Perspektive auf die existenzielle Bedeutung von Emotionen — und allein darauf kommt es ihm in affekttheoretischer Hinsicht an — bewegt sich im Spannungsfeld zweier grundlegender Erfahrungen: der Freiheitserfahrung und der Erfahrung einer basalen Ausgeliefertheit an Welt. Dabei orientiert sich Kierkegaard jedoch einseitig an der Freiheitserfahrung: Emotionen sind für ihn im wesentlichen Phänomene der Willensfreiheit, ambivalente voluntantive Selbstverhältnisse. Demgegenüber marginalisiert er ihren basalen Leidenscharakter und dessen Grund, die innerweltliche Ohnmacht des Menschen. Diese Phänomenverzerrung kommt vor allem dadurch zustande, dass Kierkegaard die Differenz zwischen den Emotionen selbst und den Modi des Sich-Verhaltens zu ihnen einebnet. Die zunehmende Radikalität, mit der er die Erfahrung einer basalen Ausgeliefertheit an Welt abdrängt, verweist auf den eigentümlichen Sachverhalt, dass seine moderne existenzphilosophische Perspektive gleichwohl der traditionellen sündentheologischen Deutung von Emotionen verhaftet bleibt. Die Prägung seines Freiheitsbegriffs vom christlichen Bewusstsein der Sünde lässt eine differenzierte und ausgewogene Sicht auf die beiden grundlegenden Pole eines affektiven Verstehens nicht zu. Die Ablösung vom sündentheologischen Diskurs in der Nachfolge Kierkegaards hat allererst das abgedrängte emotionstheoretische Potential seines Ansatzes freigesetzt. Auch wenn in Heideggers Analyse der Angst aus Sein und Zeit wiederum die Freiheitserfahrung im Vordergrund steht, geht sein genuiner Entwurf einer Theorie der Befindlichkeit in entscheidender Hinsicht über Kierkegaard hinaus: Indem Heidegger Stimmungen als präreflexive „Erschlossenheit" unseres Welt- und Selbstverhältnisses begreift19, vermag er gerade auch jene Dimension einer mundanen Faktizität zu denken, auf die Kierkegaard zielte, als er noch A war.

19

V g l . P o c a i 1996.

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Literatur Kierkegaards Schriften werden zitiert nach der von Emanuel Hirsch übersetzten und gemeinsam mit Hayo Gerdes besorgten Ausgabe seiner Gesammelten Werke — vollständige Angaben siehe unten. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Seitenzahlangabe, im Zweifelsfall werden zusätzlich die Siglen verwendet. Die verwendeten Siglen sind: BA EO I EO II KT

— Der Begriff Angst — Entweder—Oder, Erster Teil — Entweder—Oder, Zweiter Teil - Die Krankheit %um Tode

Fink-Eitel, Hinrich (1994), Die Philosophie und die Wilden, Hamburg. Greve, Wilfried (1990), Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt a. M. Kierkegaard, Sören ( 2 1982, dän. zuerst 1849), Die Kmnkheit ^um Tode, übers, von Emanuel Hirsch, Gütersloh (= KT). — ( 2 1985, dän. zuerst 1843), Entweder—Oder, übers, von Emanuel Hirsch, Erster Teil, Bd. 1, Gütersloh (= EO I). — (1980, dän. zuerst 1843), Entweder—Oder, übers, von Emanuel Hirsch, Zweiter Teil, Bd. 2, Gütersloh (= EO II). — ( 3 1991, dän. zuerst 1844), Der Begriff Angst, übers, von Emanuel Hirsch, Gütersloh (=BA). Pocai, Romano (1996), Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken χιvischen 1927 und 1933, Freiburg/München. — (1999), Der Schwindel der Freiheit. Zum Verhältnis von Kierkegaards Angsttheorie zu Schellings Freiheitsschrift, in: István M. Fehér/Wilhelm G.Jacobs (Hg.), 7.eit und Freiheit, Budapest. — (2000), Philosophische Deutung literarischer Beschreibungen von Gefühlen, in: Studia philosophica 59, 155-173. Pulmer, Karin (1982), Die dementierie Alternative, Frankfurt a. M. Schulz, Walter (1979), Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard, in: Michael Theunissen/Wilfried Greve (Hg.), Materialien %ur Thilosophie Sören Kierkegaards, Frankfurt a. M. Theunissen, Michael (1991), Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt a. M. — (1993), Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. — (1996), Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin/New York.

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900)

Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte Werner Stegmaier Nietzsche teilt nicht mehr die traditionelle Scheu der Philosophen vor den Affekten. Seine Neubewertung oder, in seiner Sprache, „Umwertung" der Affekte greift tief. Ihm wird eben das fragwürdig, woran die philosophische Tradition im Kern nahezu ungebrochen festgehalten hatte: die Herrschaft der Vernunft, die eine Herrschaft über die Affekte war und damit das Ideal eines von Affekten ungetrübten ,reinen' Wissens, Handelns und Lebens. Stattdessen erkennt er an, dass menschliches wie tierisches Leben weitgehend von Affekten lebt und versucht darum den Gedanken, dass auch die Vernunft, die Moral, die Religion und die Kunst sich ihnen verdanken. Er redet darum nicht einer Enthemmung der Affekte das Wort, sondern im Gegenteil einem furchtlosen und souveränen Umgang mit ihnen, der ihre Wirkung noch steigern kann. Das Thema ist in seinem Werk ständig gegenwärtig, ohne dass es ihm nötig schien, eine eigene Abhandlung darüber zu verfassen. Er hat die Affekte auch nicht definiert. 1880 notiert er: Wenn man noch so genau den Bewegungen siedenden Wassers mit den Augen folgt, man begreift damit das Motiv des Siedens um nichts mehr. So auch bei Handlungen, wenn man das heftig bewegte Netz von Vorstellungen sich klar macht, welche uns dabei überhaupt bewußt werden. Es sind alles Wirkungen, welche auf ein verborgenes Feuer rathen lassen: aber es ist lächerlich, es definiren zu wollen.

(N 1880, 6[305], 9.276)

Hat man einem „noch so complicirten Trieb" aber einmal einen Namen gegeben (wie den des Affekts), so gilt er „als Einheit und tyrannisirt alle Denkenden, die nach seiner Definition suchen." (N 1881, 11 [115], 9.482) Alle Begriffe, schreibt Nietzsche dann in der Genealoge der Moral, „in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat." (GM II, 13) Im Willen zu Definitionen auch von so schwer Fassbarem wie einem Affekt scheint Nietzsches stärkster Antipode Kant zu sein, der den Affekt in unnachahmlicher Nüchternheit bestimmt hatte als eine „Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths (animus sui compos) aufgehoben wird", als das, was „im Subject die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob

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man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt", so „einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst" bewirkt und „die Herrschaft der Vernunft ausschließt".1 Der Sache nach versteht Nietzsche den Affekt auch so. Er stimmt auch darin mit Kant überein, dass Affekte als „einstweiliges Surrogat der Vernunft" zur augenblicklichen Handlungsanleitung lebensnotwendig und, soweit sie die „moralischen Triebfedern zum Guten" beleben, selbst auch gut sind,2 ferner darin, dass der Verstand in der empirischen Erkenntnis auf Vorstellungen der Sinnlichkeit angewiesen ist, die ihn „affizieren", wörtlich ,anmachen', und schließlich darin, dass das Schöne und das Erhabene Verstand und Vernunft zur lustvollen Entdeckung dessen anregen, was ihnen als Vermögen der Regeln und Prinzipien verschlossen bleibt. So hatte schon Kant den Weg zu Nietzsches Umwertung der Affekte gebahnt.3 Nietzsche setzte seine Aufklärung in einer Aufklärung der Aufklärung fort — mit einer Umwertung auch der Vernunft. 4

1. Das Feld und der Gang von Nietzsches Umwertung der Affekte Nietzsches Umwertung der Affekte 5 setzt bei der Musikästhetik an. Nachdem die griechisch-christliche Tradition Europa nachhaltig auf argwöhnische Distanz zu den Affekten gebracht hatte, blieb, neben der Religion, 1 2 3 4 5

Kant 1968 (zuerst 1798), 251f., 267 (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Vom Begehrungsvermögen, § 73). Ebd., 253. Zum Orientierungssinn der Affekte und ihrer neurobiologischen Basis vgl. Stegmaier 200, 255-257. Vgl. Simon 2004 und Stegmaier 2004. Das Wort „Affect", „Affekt" ist, eingeschlossen verbale und adjektivische Formen und Zusammensetzungen, in Nietzsches Schriften vielhundertfach belegt; der Begriff spielt in seinem Denken eine maßgebliche Rolle. Dennoch erhielt er weder im Nietzsche-Handbuch (Ottmann 2000) noch im Nietzsche-Wörterbuch (van Tongeren/Schank/Siemens 2004) ein eigenes Stichwort; im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 89—100 (Lanz 1971) werden Nietzsches Umwertung von J. Lanz nur wenige periphere Zeilen gewidmet. Auch die Nietzsche-Forschung hat sich Nietzsches Affektenlehre bisher nicht eigens angenommen. Marco Brusottis monumentale Monografie Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Hebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra (Brusotti 1997) führt „Affekt" nicht im Sachregister; Marco Vozza 2006 handelt vor allem von Heideggers Nietzsche-Rezeption.

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nur die Musik, um ihre Wirkung legitim zu genießen. Zu Nietzsches Zeit war Richard Wagner gekommen, die Musik auf unerhörte Weise sinnlich und erotisch zu machen und mit ihr zugleich, wie vormals die christliche Religion, vom Rausch der Sinne zu erlösen. Zum Letzteren hatte er die Rechtfertigung in Schopenhauers Metaphysik der Musik als Erlösung vom Willen zum Dasein gefunden. Die Begegnung mit Schopenhauers Philosophie und mit Wagner in Person wurden zu Nietzsches stärksten Erfahrungen in seinen philosophischen Anfängen. Dennoch hielt er es schon früh für einen Irrtum, in der Musik Affekte zu suchen. Es sei nicht, wie man nun gerne glaube, der Affekt, der die Musik mache: „Der kunstohnmächtige Mensch", schrieb Nietzsche in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, „träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen." (GT19, 1.123f.) In seinen vorbereitenden Notaten wird er noch deutlicher: 6 „Der 6

Nietzsches nachgelassene Notate werden gerne und oft als Zeugnisse seines eigentlichen Denkens angesehen. Martin Heidegger etwa, der nach Nietzsches wesentlichen „Lehren" und deren „systematischer" Einheit fragte und sich dabei auf Elisabeth Förster-Nietzsches und Peter Gasts Kompilation Oer Wille %ur Macht stützte, erklärte die von Nietzsche selbst veröffentlichten Schriften für bloßen „Vordergrund" und die nachgelassenen Notate für seine „eigentliche Philosophie" (Heidegger 1961, Bd. 1, 17). Aber wie zu erwarten, hat Nietzsche seine Notate für sich, nicht für ein Publikum notiert, und dies u m so mehr, je weniger ersieh vom Publikum verstanden sah („Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? . . . Aber ich notire mich, für mich." Ν 1887, 9[188], 12.450) und vom Publikum verstanden werden wollte („Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden." F W 381). Man wird mit den Notaten darum sehr behutsam umgehen müssen (vgl. Stegmaier 2007, bes. 90—94). Nietzsche hat in seinen Notaten zum einen seine veröffentlichten Werke vorbereitet, indem er Gedanken und Gedankenreihen zunächst erprobte. Insoweit sind sie hilfreich zum Verständnis seiner Werke; vor allem lassen sich dort Kontexte und Hintergründe seiner Gedanken, die er später tilgte, oft noch besser erkennen. Nietzsche veröffentlichte seine Notate jedoch kaum so, wie er sie notiert hatte, sondern transformierte und seügierte die Gedanken bis zuletzt, oft noch im Druckmanuskript. Nur die veröffentlichte Gestalt seiner Gedanken ist jedoch von ihm autorisiert. Nietzsche hat zahlreiche Gedanken und Gedankenreihen aber auch ganz oder weitgehend seinen Notaten vorbehalten, sei es, weil sie ihm nicht ausgereift schienen, sei es, weil ihm das Publikum nicht reif für sie erschien. Sie können als experimentelle Gedankenfolgen — Nietzsche spricht in einem Notât (und wiederum nur hier) von seiner Philosophie als einer „Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe" (N 1888, 16[32], 13.492) — sehr aufschlussreich sein, aber nicht als seine „Lehre" gelten. Wir werden die Notate im Folgenden einerseits zur Erläuterung der veröf-

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Ton wird sofort als Affektsprache verstanden. Die rein musikalische Wirkung ist sogleich depotenzirt zu einer Affektwirkung." (N 1871, 9[126], 7.321) 7 Für Nietzsche ist „rein musikalisch" die „absolute" Musik, die in ihren „höchsten Offenbarungen", etwa in Beethovens späten Streichquartetten, hervortritt und „die 'Koheit jeder Bildlichkeit und jedes zur Analogie herbeigezogenen Affektes [...] völlig beschäm[t]" (N 1871, 12[1], 1.366).8 Nietzsche steht hier selbst noch in argwöhnischer Distanz zu den Affekten. Im Zuge seiner Lösung von Schopenhauer und Wagner geht er eben diesem Argwohn nach und gibt die Distanz auf. Er studiert Eugen Dührings Oer Werth des l^ebenß und notiert sich dazu: „Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich." (N 1875, 9[1], 8.138). Im menschlichen Leben werden wie im tierischen alle Vorstellungen affektiv als angenehm und unangenehm, zuträglich und abträglich, anregend und gefährlich bewertet, und so werden auch in schwer übersehbaren Situationen vor allen bewussten und reflektierten Entscheidungsprozessen augenblickliche Handlungsentscheidungen möglich. Auch Menschen könnten anders nicht überleben; auch ihre Affekte überlassen bewussten Reflexionen nur einen Bruchteil der Entscheidungen und Unterscheidungen. Affekte greifen auch und gerade moralischen Entscheidungen und Unterscheidungen vor, moralische Scheidungen setzen weitgehend nur die affektiven fort. Darum ist die Distanz zu den Affekten, welche die Moral im Namen der Vernunft behauptet, eine Selbsttäuschung: „die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines Affectes", die als „der Gipfel des Moralischen" gilt, entspringt ihrerseits einem Affekt, einem, der augenblicklich stolz macht (MA I, 138). Darum hat die christliche Moral, so sehr sie die Affekte bekämpft hat, sie klugerweise auch bestärkt — indem sie Gegenaffekte herausforderte, „sich in ihrer äussersten Stärke und Pracht zu offenbaren: als Hiebe zu Gott, Furcht vor Gott, als fanatischen Glauben an Gott, als blindestes Hoffen auf Gott." (M 58) Wissenschaftliche Redlichkeit zwingt darum zu einer „übermoralischen" (JGB 257) Bejahung der Affekte. Nietzsche notierte für sich dazu:

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fentlichten Werke heranziehen und ihnen dort, wo Nietzsche in ihnen besondere Wege geht, besondere Abschnitte widmen. Vgl. Ν 1871, 9[137], 7.325: „Die Wortmusik soll zunächst auf die Affekte des Zuhörers wirken, als deklamirtes Wort: die Musik ist auf den Nichtmusiker berechnet, der ihr nur mit Affekten beikommt." Vgl. Brüse, 1984; Böning 1986 und Landerer/Schuster 2002. Dühring 1865.

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Das schönste leiblich mächtigste Raubthier hat die stärksten Affekte: sein Haß und seine Gier in dieser Stärke werden für seine Gesundheit nöthig sein, und wenn befriedigt, diese so prachtvoll entwickeln. Selbst zum Erkennen brauche ich alle meine Triebe, die guten wie die bösen und wäre schnell am Ende, wenn ich nicht gegen die Dinge feindlich mißtrauisch grausam tückisch rachsüchtig und mich verstellend usw. sein wollte. Alle großen Menschen waren durch die Stärke ihrer Affekte groß. Auch die Gesundheit taugt nichts, wenn sie nicht großen Affekten gewachsen ist, ja sie nöthig hat. Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung. Gewiß sind sie oft Anlaß, daß man zu Grunde geht — aber dies ist kein Argument gegen ihre nützlichen Wirkungen im Großen. (N 1881, 11 [73], 9.469f.)

Das Ideal einer reinen Vernunft und einer auf sie gestützten autonomen Moral wird so von Grund auf fragwürdig. Nietzsche empfiehlt ihre Kritik am „Leitfaden des Leibes", 10 also eben dessen, dem die Affekte zugeschrieben werden. Alles, was am Leib einfach scheint, ist höchst „complicirt", 11 und man muss, in einer Aufklärung der Aufklärung, den komplizierten Hintergründen nachgehen, die die scheinbare Einfachheit des Erkennens und moralischen Handelns ermöglichen. Nietzsche nimmt dazu die Perspektive der „Physio-Psychologie" ein, um dort, wo „die Gewalt der moralischen Vorurtheile" die affektiven Prozesse des Seelenlebens der Beobachtung entzieht, sie zu „errathen". Die geltende Moral zu hinterfragen — „wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität" -, ist schwer gerade für einen moralischen Menschen, wie Nietzsche es selbst war: „Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ,das Herz' gegen sich". Und wer „gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte" nimmt, „als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, — der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit." (JGB 23) Dem physiopsychologischen Blick auf die Affekte eröffnet sich, dass Moralen, die die Affekte beherrschen sollen, ihrerseits ganz unterschiedlichen und charakteristischen Affekten (oder was wir so nennen) entspringen können: 10 11

Vgl. Ν 1885, 36 [35], 11.565, u. ö. Vgl. Ν 1872/73, 19[118], 7.457: „Der Mensch kommt erst ganz langsam dahinter, wie unendlich complicirt die Welt ist. Zuerst denkt er sie sich ganz einfach, d. h. so oberflächlich als er selbst ist. / Er geht von sich aus, von dem allerspätesten Resultat der Natur, und denkt sich die Kräfte, die Urkräfte so, wie das ist, was in sein Bewußtsein kommt."

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Werner Stegmaier Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie ,es giebt in uns einen kategorischen Imperativ', kann man immer noch fragen: was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: ,was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, — und bei euch soll es nicht anders stehn, als bei mir!' — kurz, die Moralen sind auch nur eine Zeichensprache der Affekte. (JGB 187)

Affekte äußern sich für uns charakteristisch, in Zeichen, und zu diesen Zeichen gehören für den physiopsychologischen Blick auch die Moralen. Für den ärztlich-therapeutischen Blick sind sie Rezepte gegen eben die Affekte, denen sie entspringen. Nietzsche hat unter diesem Gesichtspunkt selbst eine kleine Typologie und Geschichte der Affektenlehre geschrieben: Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres ,Glückes', wie es heisst, — was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und unvernünftig — weil sie sich an ,Alle' wenden, weil sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf —, allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem ,nach der anderen Welt': Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht ,Wissenschaft', geschweige denn ,Weisheit', sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, — sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes Nichtmehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen — denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass ; zuletzt selbst jene entgegenkommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia

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m o r u m in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es ,wenig Gefahr mehr hat'. Auch Dies zum Kapitel ,Moral als Furchtsamkeit'. (J GB 198)

Wird Moral als Ausdruck von Affekten verstanden, wird sie aus einer Gegeninstanz zu den Affekten zu ihrer Unterinstanz, und ,Affekt' wird aus einem Gegenbegriff zur Moral zu ihrem Oberbegriff. Das gilt auch für die Vernunft, die Instanz der Moral seit Sokrates. Versucht man einmal zu denken, so Nietzsche, „dass nichts Anderes als real,gegeben' ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen ,Realität' hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe", dann wird auch das Denken als bloßes „Verhalten dieser Triebe zu einander" denkbar (JGB 36); es wird dann, wie die Moral, zu einem bloßen „Regulativ". 12 So gesehen, hatte die europäische Tradition einen moralischen Begriff des Denkens und einen intellektuellen Begriff der Moral, die beide die „,Realität'" nicht erreichen. Das hatte, so Nietzsche, unfreiwillig schon Spinoza deutlich gemacht, als er lehrte, die Affekte, wenn sie schon nicht zu tilgen seien, intellektuell so zu durchdringen, dass sie unschädlich werden („Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben"), um auf diesem Weg zu einem reinen „intelligere" zu kommen: Indessen: was ist diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als [ein] Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses Verhalten der Triebe einander ist. (FW 333)

Doch auch die Rede von Affekten, das ist Nietzsche völlig deutlich und er notiert es mehrfach für sich, erreicht nicht die „,Realität'", sie „bleibt eine Bilderrede" (N 1881, 11 [128], 9.487). Jede Rede von Ursachen, also auch die Rede von Affekten als Ursachen der Moral und der Vernunft, ist eine „Construktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt". Wir haben es auch hier nur mit einem Glauben, einem „Glaube[n\ an Effekte"', zu tun (N 1883/84, 24[20], 10.657). Wir legen sie uns als Ur12

Vgl. Ν 1880, 7 [154], 9.348: „Moral als ein Regulativ im Verhalten der Triebe zu einander".

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sachen zurecht, um mit unseren Analysen irgendwo Halt machen zu können, um überhaupt mit ihnen zu Ende zu kommen. Aber Affekte sind ihrerseits etwas undurchschaubar „Complicirtes", das nur einfach scheint, weil es „mit Einem Wort bezeichnet wird" (N 1880, 5[45], 9.191).13 Wenn Affekte ins Bewusstsein treten, werden sie sogleich als Einheit, Kraft, Trieb Jnterpretirf (N 1883/84, 24[20], 10.657), ohne dass wir je bewusst beobachten könnten, was sich da vor unserem Bewusstsein abgespielt hat. Damit schließt Nietzsche den oben zitierten Aphorismus: Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft; ich meine aber, diese Triebe, die hier mit einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu thun —: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja, vielleicht giebt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Yleroenthum, aber gewiss nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das bewusste Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die Verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden. (FW 333)"

Auch Affekte und ihre Einheit und Selbständigkeit bleiben vorläufig nur unterstellt, Nietzsches Rede von ihnen ist lediglich kritisch gegen die dogmatische Rede von der Vernunft und der Moral gerichtet, die Einheit und Selbständigkeit für sie behauptet. Nietzsches Rede von Affekten ist weniger eine I^ehre von Affekten als eine Kritik dogmatischer Lehren von der Beherrschung der Affekte. 15 Wie ,Affekt' ist auch ,Wille zur Macht' nur ein vorläufiger Name für eine Einheit, die keine Einheit ist, jedenfalls keine immer gleiche. Nietzsche gebraucht für die Affekte, nachdem er ihn eingeführt hatte, auch den Namen vom Willen zur Macht. 16 In den berühmten Aphorismus Nr. 36 13 Vgl. Ν 1881, 11 [115], 9.482 (s. o.), ferner Ν 1885, 34[46], 11.434: „Die wahre Welt der Ursachen ist uns verborgen·, sie ist unsäglich complicirter. Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem vereinfachender Apparat." und Ν 1887, 5[56], 12.205: „Alles, was als ,Einheit' ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizkt: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit." 14 Vgl. auch schon FW 11 und 110 und Ν 1885, 34[249], 11.505; 38[1], 11.595. 15 Vgl. Stegmaier 1995. 16 Die Wendung „Wille zur Macht" taucht zuerst in Ν 1876/77, 23[63], 8.425, im Zusammenhang mit den Affekten („Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen."), im veröffentlichten Werk in Za II, Von der Selbst-Ueberwindung, 4.146, als Gegensatz

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aus Jenseits von Gut und Böse, den er in seinen Notizen mit dem dogmatisch und metaphysisch anmutenden Satz „Diese Welt ist der Wille ^ur Macht — und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht — und nichts außerdem!" (N 1885, 38[12], 11.611), in der veröffentlichten Fassung aber mit einer bloßen Hypothese enden ließ („Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet — sie wäre eben ,Wille zur Macht' und nichts ausserdem."), hat er zudem die Rede von den Affekten eingefügt, die er zunächst nicht enthielt. Auch „die sogenannte mechanistische (oder ,materielle') Welt", formulierte er zuletzt, könnte „vom gleichen Realitäts-Range" sein, „welchen unser Affekt selbst hat". Sie wäre dann „als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt —), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind", kurz, „als eine Vorform des Lebens" zu verstehen. Und da es (im Sinne von Ockhams ,Rasiermesser') methodisch geboten sei, mit möglichst wenig Prinzipien auszukommen, müsse man „die Hypothese wagen", dass alles Geschehen aus dem Wirken von „Willen" resultiere, die ihrerseits wie Affekte wirken — sich augenblicklich durchsetzen wollen und das meist unbewusst tun. Das hieße, dass „überall, wo ,Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt" - oder Affekt auf Affekt (JGB 36). Die Stärke eines Willens, eines Affekts, zeigt sich aber erst in der Auseinandersetzung mit anderen Willen oder Affekten, sie steht nie fest, und darum sind diese Willen ihrerseits nichts Festes, Gegebenes, sondern Willen „zur Macht", die sich wohl stets durchzusetzen suchen, jedoch immer nur bedingt durchsetzen können}1 Auch zum Wollen hatte Nietzsche schon, gegen Schopenhauer gewandt, vorausgeschickt, dass es „etwas Complicirtes" sei, „Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist": [I]n jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem ,weg' und ,hin' selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir ,Arme und Beine' in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir ,wollen', sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar

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zum „Willen zur Wahrheit" der „Weisesten" auf — „auch wenn ihr v o m Guten und Bösen redet und von den Werthschätzungen." Vgl. Stegmaier 1992, 304-311.

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Werner Stegmaier vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; — und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ,Wollen' abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt und zwar jener Affekt des Commando's. (JGB 19)

Danach ist der Affekt zuletzt das „Commando", der „Befehl", das Sichdurchsetzen-, Ubermächtigen-Wollen und „was ,Freiheit des Willens' genannt wird, ist wesentlich der Uberlegenheits-Affekt" (JGB 19): Der „Affekt des Befehls" ist „das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft" (FW 347). Als Affekt kann der Wille mehr oder weniger frei sein, und er ist um so freier, je stärker er ist, je leichter er sich durchsetzen kann. Das wiederum kann er um so mehr, je weniger er von anderen abhängt, nur auf andere reagiert. Nietzsche unterscheidet darum in der Genealogie der Moral „aktive" von „reaktiven Affekten" (GM II, II) 18 und entwickelt mit dieser Unterscheidung seine Moralkritik weiter. Affekt wird damit erneut als Oberbegriff herausgestellt — alle Moral bedarf der Affekte, um zu wirken. Doch die eine Moral sucht die Affekte „reaktiv" einzudämmen oder zu tilgen und bringt sich, weil sie sich dadurch an sie bindet, um so mehr unter ihre Herrschaft; ihren Typus nennt Nietzsche provozierend „Sklavenmoral". Die andere aber lässt die Affekte wirken und sucht sie noch zu steigern — und dadurch zu beherrschen; diesen Typus nennt Nietzsche, ohne dabei noch auf gesellschaftliche Stände abzuheben, die „Herrenmoral"; sie ist Herrin der Affekte im souveränen Umgang mit ihnen.19 Das heißt für Nietzsche: Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits —. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf Pferde, oft wie auf Esel: — man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. 0GB 284)

Im Denken von Affekten aus wird so zuletzt auch eine neue und realistischere Konzeption von ,„Objektivität'" möglich, letztere nicht als interesselose Anschauung' verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein ,reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss' angesetzt hat, hüten wir uns vor 18 Deleuze 1985 (zuerst 1962) hat die Unterscheidung von aktiven und reaktiven Kräften seiner gesamten Nietzsche-Interpretation zugrunde gelegt. 19 Vgl. Stegmaier 1994, 21f., 120f.

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den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ,reine Vernunft', ,absolute Geistigkeit', ,Erkenntniss an sich': — hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ,Erkennen'; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff dieser Sache, unsre ,Objektivität' sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt castrimi ... (GM III, 12)

2. Experimentelle Erweiterungen der Umwertung in Nietzsches Notaten In seinen Notaten hat Nietzsche die Genealogie des Moralischen, Religiösen und Ästhetischen aus den Affekten versuchsweise noch weitergetrieben. Erst auf der Ebene der Affekte, setzt er dort ein, seien zeitgemäße wissenschaftliche Erklärungen des Moralischen zu erwarten: „Moral ist eine vorwissenschaftliche Form, sich mit der Erklärung unserer Affekte u n d Zustände abzufinden. Moral verhält sich zu einer einstmaligen Pathologie der Gemeingefühle, wie Alchemie zu Chemie." (N 1882, 3[1]373, 10.98) Affekte aber sind für uns, die wir auf sie in unserer gesamten Orientierung angewiesen sind, nicht wieder aus Ursachen jenseits der Affekte zu erklären. Ursachen von Affekten sind die Anlässe, die sie auslösen: „Man spricht von den Ursachen der Affekte und meint ihre Gelegenheiten." (ebd., 3[1]408, 10.103) W i r dürfen auch nicht vorauszusetzen, dass wir über unsere Affekte verfügen und die Affekte in diesem Sinn unsere Affekte sind: „Im Affekt enthüllt sich nicht der Mensch, sondern sein Affekt." (ebd., 3[1]415, 10.103) Ein Mensch ist, w e n n m a n ihn von den A f fekten aus zu Ende denkt, seinerseits eine Einheit nur i m Sinn eines mehr oder weniger ausgeglichenen Zusammenspiels von Affekten oder als ein „Affekt-System" (N 1883, 7[121], 10.283). Ein solches System zeichnet sich dadurch aus, dass es ,außen' u n d ,innen' unterscheiden kann; es kann mithilfe ,innerer' Verteilungsmechanismen Kräfte akkumulieren, u m mit ihnen gesammelt ,nach außen' zu agieren, und sich mithilfe von Ausgleichsmechanismen Spielräume schaffen, u m auf Anregungen , ν ο η außen' zu reagieren oder nicht; es gewinnt auf beiden Seiten Freiheiten in der Kommunikation mit anderen Affekt-Systemen: „Der Mensch eine

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Atomgruppe vollständig in seinen Bewegungen abhängig von allen KräfteVertheilungen und -Veränderungen des Alls — und andererseits wie jedes Atom unberechenbar, ein An-und-für-sich. / Bewußt werden wir uns nur als eines Haufens von Affekten: und selbst die Sinneswahrnehmungen und Gedanken gehören unter diese Offenbarungen der Affekte." (N 1882/83, 4[126], 10.150) Folgt man diesem Gedanken, sind es, soweit wir überhaupt davon sprechen können, die Affekte selbst, die Systeme bilden, Systeme, mit denen das Bewusstsein sich dann eben so weit identifiziert, wie es dieses System, in dem es selbst nur ein auslegender Affekt ist, zu beherrschen glaubt. Die Affekte strukturieren sich, so Nietzsche, indem sie erfolgreiche Handlungen gegenüber nicht erfolgreichen bestärken, und seligieren so auch einander: die Affekte zu nicht erfolgreichen Handlungen werden im Folgenden zurückgehalten, kommen weniger zum Zug. So ergeben sich mit der Zeit feste Strukturen, über die ,wir' nicht verfügen, sondern die ,uns' ausmachen. Was ,wir' als fest an uns erfahren, ist das „feste Gehäuse", zu dem sich ,unsere' Affekte strukturiert haben, und die festen Absichten, die wir zu hegen meinen, sind die, die in diesem Gehäuse zu Hause sind: Unsre Handlungen fonnen uns unr. in jeder Handlung werden gewisse Kräfte geübt, andre nicht geübt, zeitweilig also vernachlässigt: ein Affekt bejaht sich immer auf Unkosten der anderen Affekte, denen er Kraft wegnimmt. Die Handlungen, die wir am meisten thun, sind schließlich wie ein festes Gehäuse um uns: sie nehmen ohne Weiteres die Kraft in Anspruch, es würde anderen Absichten schwer werden, sich durchzusetzen. — Eben so formt ein regelmäßiges Unterlassen den Menschen um: man wird es endlich Jedem ansehn, ob er sich jedes Tags ein paarmal überwunden hat oder immer hat gehn lassen. — Dies ist die erste Folge jeder Handlung, sie baut an uns f o r t - natürlich auch leiblich. (N 1883, 7 [120], 10.282f.)

Die Annahme von Affekt-Systemen, die in ständigem Austausch miteinander sind und sich darin ständig verändern, lässt dann auch einen Wandel der Moralen denken: Vollkommen abgesehen von allen Mitmenschen giebt es eine fortwährende Veränderung im Werthe des Menschen, ein Besser- oder Schlechterwerden: 1) weil jede Handlung an seinem Affekt-Systeme baut 2) weil die mit jeder Handlung verbundene Taxation an ihm baut und wieder die Ursache der späteren Handlungen wird. (N 1883, 7 [121], 10.283)

Was man „Seele" nennt oder mit metaphysischen und theologischen Hypotheken lange so genannt hat, ist auf diese Weise besser „als Vielheit der Affekte, mit Einem Intellekte, mit unsicheren Grenzen" zu verstehen (N 1884, 25 [96], 11.33) und der „Intellekt" selbst als „eine Art Magen aller

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Affekte (welche ernährt werden wollen.)" (N 1884, 25 [185], 11.64).20 Es ist, so Nietzsche, weiterhin weniger verführerisch, die „Einheit", „in der Denken Wollen und Fühlen und alle Affekte zusammengefaßt sind", als „Seele" statt als „Bewusstsein" zu bezeichnen: 21 „ersichtlich ist der Intellekt nur ein Werkzeug, aber in wessen Händen? Sicherlich der Affekte: und diese sind eine Vielheit, hinter der es nicht nöthig ist eine Einheit anzusetzen: es genügt sie als eine Regentschaft zu fassen." (N 1885, 40[38], 11.647) Denn das Denken ist, notierte Nietzsche im Vorgriff auf JGB 187, „ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten" (N 1885/86, 1 [28], 12.17): „Die Gedanken sind Zeichen von einem Spiel und Kampf der Affekte: sie hängen immer mit ihren verborgenen Wurzeln zusammen" (N 1885/86, 1[75], 12.29). Was aber die Logik betrifft, wie sie seit Aristoteles bearbeitet wird, so sieht sie entschlossen von allen Affekten ab: „Hier wird ein Denken erdichtet, wo ein Gedanke als Ursache eines anderen Gedankens gesetzt wird; alle Affekte, alles Fühlen und Wollen wird hinweg gedacht." So ist diese Logik das „Muster einer vollständigen Fiction" (Ν 1885, 34[249], 11.505).22 Im Blick auf die Affekte und Affekt-Systeme, ohne die auch das menschliche Leben sich nicht erhalten könnte, wird schließlich das „Subjekt" fragwürdig, auf das die Philosophie der Moderne so sehr gesetzt hat und das allem Erkennen ,zugrunde liegen' sollte. Nietzsche hat, durch die Aporie aller Subjekt- und Erkenntnistheorien belehrt (in der Erkenntnis seiner selbst muss sich das Subjekt selbst schon voraussetzen), das Erkennen in ein Interpretieren zurückgenommen. Aber auch dann stellt sich noch die Frage, „wer" denn interpretiert. Seine Antwort ist — wieder ein Affekt: „Man darf nicht fragen: ,wer interpretirt denn?' sondern das Inter20

Schon Augustinus, Confessiones X, 14, hat die memoria, das ,Innere' des Menschen, in das er alles ,verinnerlicht', um es dann bei passenden Anlässen wieder zu ,erinnern', mit dem Magen oder Bauch (venter) verglichen, der alles, was in ihn eingeht, auf seine Weise verdaue: Das Erinnern (recordari) gebe es wie eine Art Wiederkäuen [ruminati) wieder. An derselben Stelle unterscheidet Augustinus auch die Affekte, die er perturbationes, „Aufwühlungen", nennt, in Begierde, Freude, Furcht und Trauer — und auch sie hole man aus jenem Magen hervor (de memoria proferii), auch von ihnen habe man schon ,verdaute' Begriffe. 21 Vgl. JGB 12: „Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, ,die Seele' selbst [...] los zu werden [...]. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie ,sterbliche Seele' und ,Seele als Subjekts-Vielheit' und ,Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte' wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben." 22 Vgl. Stegmaier 2000.

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pretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ,Sein', sondern als ein Pro^eß, ein Werden) als ein Affekt." (N 1885/86, 2[151], 12.140) Das Interpretieren ist als bloßer „Prozeß", als bloßes „Werden" die Funktion eines Affekt-Systems, das, worin sich ein Affekt-System äußert. Wir können nicht anders als alles, was uns begegnet, augenblicklich so zu interpretieren, dass wir etwas ,damit anfangen' können, und in jeden Akt und Augenblick dieses Interpretierens gehen alle bisherigen Interpretationserfahrungen als Vorentscheidungen ein. In einem weiteren Notât zum Problem formuliert Nietzsche darum als Antwort auf die Frage „Wer legt aus? - Unsere Affekte." (N 1885/86, 2[190], 12.161) Zu semen letzten Publikationsplänen notiert er: „An Stelle der ,Erkenntnißtheorie' eine Perspektiven-ljehre der Affekte (wozu eine Hierarchie der Affekte gehört)" (N 1887, 9[8], 12.342), „Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht" (N 1887, 10[57], 12.490). Er wollte zuletzt seine ganze „Psychologie" als „Affektenlehre" oder „Morphologie des Willens zur Macht" fassen unter der Leitthese, dass „der Wille zur Macht die primitive AffektForm ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind" (N 1888, 13[2], 13.214, u. 14[121], 13.300). Aber dazu kam es nicht mehr. Nietzsche gibt darum nicht schon Freiheit und Verantwortung bloßen Affekten anheim, im Gegenteil: Freiheit und Voraussetzung wachsen beim Rückgang auf die Affekte. Je mehr man wissen oder doch vermuten kann, wie sehr man auf Affekte angewiesen und durch sie gebunden ist, um so mehr ist man herausgefordert, verantwortlich mit ihnen umzugehen, um so mehr wächst die Verantwortung für das eigene Handeln. Die Freiheit zu dieser Verantwortung oder, wie Nietzsche sagt, die „Verantwortlichkeit" 23 ist jedoch ihrerseits nicht schon vorauszusetzen; man kann im Blick auf die Affekte ebenso eine „Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes" wie eine „Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes" begründen — und beide sogar unter Berufung auf den „Stifter des Christenthums" (MA II, WS 81). Die „Härte der eigensten Verantwortlichkeit" (MA II, Vorrede [1886] 4) muss man sich in jeder Situation neu erwerben — mit den einen Affekten gegen die anderen Affekte. Das kann mehr oder weniger gelingen. Die Verantwortlichkeit, diese „seltene Freiheit" als „Macht über sich und das Geschick", ist darum nicht selbstver23

Vgl. schon Ν 1870/71, 7[144], 7.196 und 7[149], 7.197; im veröffentlichten Werk MA I, 39 und 107.

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ständlich, sondern, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral schreibt, ein „ausserordentliches Privilegium". „Souverain", allen Herausforderungen gerecht wird sie, wenn sie ihrerseits „zum Instinkt geworden [ist], zum dominirenden Instinkt", also einem — Nietzsche gebraucht den Begriff hier nicht — zuverlässig leitenden Affekt. Der im Umgang mit seinen Affekten „souveraine Mensch" aber wird das, was ihm zuverlässig sagt, was er zu tun hat, was ihn aus eigener Verantwortung entschieden das Richtige tun lässt, in moralischer Sprache „sein Gewissen" nennen (GM II, 2).

3. Ideal eines dionysischen Zustands des Affekt-Systems Im veröffentlichten Werk hat Nietzsche den Sinn des Affekts für das menschliche Leben zuletzt noch einmal im Rückgriff auf seine alte Unterscheidung des „Apollinischen" und „Dionysischen" gedeutet — nun jedoch ohne die schopenhauer-wagnersche „Artisten-Metaphysik" (GT, Vorrede [1886] 2): Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? — Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (— ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig — Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses residuum des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist Das der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen. (GD, Streifzüge 10)

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Im Sehen ist das Affekt-System nur teilweise erregt. Gesteigert wird aber auch das Sehen zum „apollinischen Rausch", in dem es die „Kraft der Vision" zum Schaffen von Gestalten gewinnt, wie sie die Bildende Kunst und die erzählende Literatur hervorbringen. Ihre Gestalten bleiben stehen, das Auge kann sich an sie halten, und sie halten es ihrerseits fest, fesseln, faszinieren es. Sie halten es in jenem belebten und lustvollen Zustand, in dem nach Kant die Erkenntnisvermögen in anregende Einstimmung miteinander kommen und das Sehen schöpferisch wird. „Rausch", wie Nietzsche den Zustand nennt, verbindet sich in seiner Sprache mit „Uberreichtum", „Überfülle" und „Überfließen": Wer aus Überfülle an Kräften überfließt, muss von ihnen abgeben, anderen davon mitteilen (und seine Überfülle an „Weisheit" bringt Zarathustra zu seinem „Untergang" unter die Menschen). Im „apollinischen Rausch" ist die Mitteilung noch gebändigt, noch begrenzt auf das Unterscheiden und Festhalten von Gestalten. Im „dionysischen" Rausch werden auch diese Grenzen noch übersprungen. In ihm entstehen Gestalten in Bewegung, aus dem „Darstellen" und „Nachbilden" in der Bildenden Kunst wird ein „Transfiguriren" und „Verwandeln" in der Darstellenden Kunst, der Mimik, der Schauspielerei und vor allem der Musik. Hier wird gerade die Wandlungsfähigkeit, das Aufnehmen auch der leisesten Anregungen wesentlich. Die beweglichste und bewegendste Kunst aber, die Musik, ist nicht mehr dem Sehen, sondern dem Hören zugänglich. Nietzsche nimmt darum das Hören und Anstimmen von Musik als Bild für den „dionysischen Menschen", von dem er zuerst in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik gesprochen hatte (GT 7 und 8). Der dionysische Mensch, so Nietzsches apollinische Vision, folgt seinen Affekten und beherrscht seine Affekte mit tänzerischer Geschmeidigkeit, er geht in der Musik auf, er lebt sie.24 In der griechischen Antike gab die Musik die Kraft, „die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern — und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, — das war das Recept dieser Heilkunst." Mit Musik „nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte: — alle orgastischen Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal ent24

Zur „Musik des Lebens" (FW 372) und zur „Musik des Vergessens" (FW 367) vgl. Stegmaier 2004a.

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laden und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse." (FW 84) Diese dionysische Dimension ist dem europäischen Menschen, aus dem inzwischen, wie Nietzsche sich notiert, „ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos" geworden ist (N 1887/88, 11 [31], 13.17), verloren. Auch die zeitgenössische Musik der Wagner, Brahms und Bizet, die Nietzsche hoch schätzte, gibt gegenüber der „Musik" der griechischen Tragödie, die Dionysos feierte, den Gott des rauschhaft immer neu zugrundegehenden und wiedererstehenden Lebens, nur noch ein blasses Bild. Sie ist vergleichsweise affektarm geworden, redet kaum mehr „zu unsern Muskeln" (GD, Streifzüge 10), nötigt den Hörer ruhig zu sitzen und lässt ihn nicht mehr tanzen. In Vorstufen zur Göthen-Dämmerung hatte Nietzsche notiert: „Musik ist gleichsam nur eine Abstraktion jenes weit volleren Ausdrucks der Affekt-Entladung [...]. Im dionysischen Rausch ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust eingerechnet; sie fehlt nicht im apollinischen" (14.425, Ν 1888, 14[46], 13.240).25 Auch hier spinnt Nietzsche den Gedanken in seinen Notaten noch weiter. Die Kunst derart gesteigerter Affekt-Systeme mit einem „Uberreichtthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen", notiert er, ist eine Kunst für ebenfalls gesteigerte Affekt-Systeme, „sie redet immer nur zu Künsdern". 26 Ein Austausch, eine Kommunikation unter solchen Systemen ist „der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Ubertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, — er ist die Quelle der Sprachen." Denn das „Sichhineinleben in andere Seelen ist urspr nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: [...] Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden . . . " (N 1888, 14[119], 13.296f.) Stärker als der Affekt des Schmerzes ist nach Nietzsche, wie er schon seinen Zarathustra künden lässt,27 der Affekt der Lust. Am stärksten aber

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Vgl. Ν 1888, 14[117], 13.295: „das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast wunderlich coordinirt [...]) / Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen". Vgl. FW, Vorrede (1887) 4: „Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst — eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!" Za III, Das andere Tanzlied 3, 4.286: „Lust - tiefer noch als Herzeleid".

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ist, so denkt er seine Affektenlehre zu Ende, die Liebe. Sie nennt er jedoch nicht mehr nur „Affekt", sondern, wo sie zum künsderischen Rausch wird, das „größte Stimulans zum Leben": Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die ,Liebe' ist dieser Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas Andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint — ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe ... Hier macht Mensch und Thier keinen Unterschied; noch weniger, Geist, Güte, Rechtschaffenheit ... Man wird fein genarrt, wenn man fein ist, man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligen-Liebe ,erlöster Seelen', bleibt in der Wurzel Eins: als ein Fieber, das Gründe hat, sich zu transfiguriren, ein Rausch, der gut thut, über sich zu lügen ... Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfigurirt, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener ... Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens, — Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt... Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie thut mehr als bloß imaginiren, sie verschiebt selbst die Werthe. Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werthe verschiebt... Der Liebende ist mehr werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rhythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist reicher als je, mächtiger ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend weil er an die Liebe glaubt: und andrerseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten und selbst zur Kunst thut sich ihm die Thüre auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig?... L'art pour l'art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperiren... Den ganzen Rest schuf die Liebe... (N 1888, 14 [120], 13.299f.).

Nietzsche: Umwertung (auch) der Affekte

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Literatur Nietzsches Schriften und der handschriftliche Nachlass werden zitiert nach der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA] mit Siglen und Aphorismen-Nummern der Werke und ggf. von Band und Seite der KSA. Der Nachlass (N) wird mit Montinaris Datierung und Nummerierung sowie stets mit Band und Seite der KSA zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: FW GD GM GT JGB M MA Ν Za

— Die fröhliche Wissenschaft - Die Göthen-Dämmerung - Zur Genealogie der Moral - Die Geburt der Tragödie —Jenseits von Gut und Böse — Menschliches, Allzumenschliches (mit MA II, VMS = Vermischte Meinungen und Sprüche und MA II, WS = Der Wanderer und sein Schatten) — Nachlass — Also sprach Zarathustra

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Werner Stegmaier

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William James (1842-1910)

James: Von der Physiologie zur Phänomenologie Jan Slaby Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1841—1910) spielt eine wichtige Rolle sowohl für das philosophische Nachdenken über Emotionen als auch für die naturwissenschaftliche Erforschung der menschlichen Affektivität im 20. Jahrhundert. Dabei hat sich eine Deutung seiner Ansichten etabliert, die denkbar einfach ist und an der sich die Geister scheiden. Dieser Deutung 2ufolge vertritt James eine physiologisch basierte Empfindungstheorie, nach der Emotionen nichts anderes sind als die Empfindungen automatisierter Körperzustandsveränderungen, die durch das reflexhafte und als solches noch unbewusste Wahrnehmen äußerer Stimuli ausgelöst werden. Vor allem aus dem Bereich phänomenologischer oder analytischer Ansätze einer Philosophie der Emotionen, die den Weltbezug (Intentionalität) der menschlichen Gefühle betonen und ihren kognitiven Charakter in den Mittelpunkt stellen, ist diese James zugeschriebene Sichtweise eine willkommene Zielscheibe kritischer Angriffe: Die physiologistische Empfindungstheorie verfehle ausgerechnet die entscheidende Charakteristik zumindest der menschlichen Gefühle, bei denen es sich um Erfahrungen von oder gar Urteile über bedeutsame Begebenheiten in der Welt handele. 1 Aus einer ganz anderen Richtung kommt hingegen klare Zustimmung für das von James Vorgetragene: Vertreter der jungen Disziplin der affektiven Neurowissenschaften, allen voran die medienwirksamen Wortführer Antonio Damasio und Joseph LeDoux, feiern James retrospektiv als Wegbereiter ihrer eigenen physiologischen Gefühlstheorien. 2 Neurowissenschaftlich orientierte naturalistische Philosophen wie Jesse Prinz knüpfen ebenfalls in konstruktiver Weise an die Standard-james-Lesart an. Bei näherer Betrachtung dessen, was James tatsächlich über Gefühle und ihr Verhältnis zum Denken und zur Kognition geschrieben hat, zeigt sich, dass die Standard-Lesart der Komplexität und dem philosophischen 1 2

Vgl. Solomon 1993 (zuerst 1976); Nussbaum 2001. Damasio 1994; LeDoux 1996.

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Gehalt der James'schen Theorie nicht gerecht wird. Zieht man zudem auch spätere Schriften von James zu Rate, in denen er seine umfassendere pragmatistische Philosophie entwickelt, wird klar, dass wir es hier mit einer Emotionstheorie zu tun haben, die bereits wichtige Einsichten der Phänomenologie und auch einige aktuell in der Philosophie der Emotionen verhandelte Themen und Thesen vorwegnimmt. Der Vorwurf, James vertrete eine reine Empfindungstheorie, lässt sich im Lichte dieser Neubetrachtung nicht aufrechterhalten. Statt dessen wird unmittelbar die Anschlussfähigkeit seiner zentralen Gedanken an aktuelle Diskussionskontexte deutlich: Fühlen und Denken sind eng verwoben — Gefühle, vor allem die eher unauffälligen, die den stets präsenten Hintergrund bewusster Erfahrung bilden, sind entscheidend an der Strukturierung und Vorauswahl des kognitiven Weltbezugs beteiligt —, Gefühle fundieren zudem in wichtiger Weise die Einstellungen, Uberzeugungen und Wertungen einer Person. Dies ist ein interessanteres und vor allem anschlussfähigeres Bild der James'schen Gefühlstheorie. Der vorliegende Text gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst soll anhand einer Betrachtung des bahnbrechenden Mind-Artikels What Is Λη Emotion? von 1884 die klassische James-Lesart rekonstruiert und in ihrer (beschränkten) Berechtigung ausgewiesen werden (Abschnitt 1). Anschließend erfolgt eine kurze Betrachtung der Wirkung dieser einfachen Sichtweise auf die Philosophie der Emotionen sowie die affektive Neurowissenschaft — die Kritiker und Verfechter der James'schen Theorie kommen hier gleichermaßen zu Wort (Abschnitt 2). Schließlich wird der verkürzten Standard-Deutung eine alternative Lesart der James'schen Gefühlstheorie gegenübergestellt. James erscheint nun als ein phänomenologisch orientierter, sich dem kruden Gegensatz Gefühl/Kognition entziehender und insgesamt philosophisch weitaus ergiebigerer Autor als es nach Maßgabe der Standard-Deutung der Fall ist. Die alternative Lesart wird durch Textbelege gestützt und als an aktuelle Debatten anschlussfähig erwiesen (Abschnitt 3).

1. James über Gefühle — die Standard-Lesart James, ein kosmopolitischer Intellektueller aus gutem Hause und Bruder des Schriftstellers Henry James (1843—1916), hatte an der Harvard Medical School Medizin studiert und dort anschießend Anatomie und Physiologie unterrichtet, ehe er 1876 eine Assistenzprofessur in Psychologie und ab

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1881 auch eine Assistenzprofessur in Philosophie übernahm. Ab 1985 war er schließlich full professor ofphilosophy — und das, obwohl er weder Psychologie noch Philosophie jemals offiziell studiert hatte. James verblieb seine gesamte akademische Karriere über an der Harvard University. Allerdings führten ihn viele Reisen nach Europa; zudem pflegte er intensive Korrespondenzen mit zahlreichen Größen in Wissenschaft, Philosophie und Literatur seiner Zeit (u. a. Emerson, Peirce, Twain, Santayana, Mach, Dewey, H. G. Wells, Bergson, Freud). Philosophische Bekanntheit erlangte er vor allem als Vertreter des amerikanischen Pragmatismus. James' Beschäftigung mit den Emotionen fallt in den Bereich seiner psychologischen Untersuchungen, deren Ergebnisse ausführlich in dem zweibändigen Werk The Principles of Psychology (1890) niedergelegt sind. Die erste und am meisten beachtete Phase, in der sich James mit den Emotionen befasst hat, sind die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts. Allerdings finden sich auch in späteren Phasen seines Schaffens immer wieder detaillierte Bemerkungen zu Gefühlsphänomenen 3 — unter anderem auch solche, die für eine Gesamteinschätzung seiner Gefühlstheorie von zentraler Bedeutung sind William James' Emotionstheorie erscheint in ihrer ersten und berühmtesten Fassung in dem 1884 in Mind publizierten Aufsatz What Is An Emotion? und bildet in erweiterter aber inhaltlich nahezu identischer Form das 15. Kapitel von The Principles of Psychology (Band 2). Auf den ersten Blick handelt es sich um eine klassische Instanz dessen, was in der Philosophie der Gefühle als eine Empfindungsstheorie bezeichnet wird: Konstitutives Element einer Emotion sei ein spezifischer Typus von Empfindung, also das Quale, die Art und Weise, wie sich die Emotion anfühlt. James versucht diese These mit einem hypothetischen Gedankenexperiment zu plausibilisieren. Stellten wir uns eine starke Emotion vor und versuchten dann, uns alle Empfindungen der mit der Emotion einhergehenden körperlichen Symptome wegzudenken, so bliebe von der Emotion nichts übrig — „no ,mind-stuff out of which the emotion can be constituted' — lediglich ein kalter und neutraler Zustand intellektueller Wahrnehmung (E 193). Noch bemerkenswerter als die Tatsache, dass James die Essenz von Emotionen in ihrer spezifischen gefühlten Qualität erblickt, ist die Art und Weise, wie James die Entstehung dieser Gefühle erklärt. Er dreht dazu die gewöhnliche Auffassung emotionaler Episoden an entscheidender

3

So etwa in The Sentiment of Rationality (1879) und in The Varieties of Religious Experience (1902). Einige wichtige Hinweise lassen sich auch dem Spätwerk Pragmatism (1907) entnehmen. Vgl. auch unten, Abschnitt 3.

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Stelle um: Es sei nicht so, dass wir nach einem Verlust zunächst Trauer empfänden und dann, als Ausdruck dieser Trauer, zu weinen begännen; und ebenso wenig erzeuge das Auftauchen eines Bären zunächst Furcht, welche dann wiederum zum Auslöser oder Motivator unserer Flucht werde. Stattdessen löse der Stimulus — also in diesen Fällen der Verlust sowie das Auftauchen des gefährlichen Bären — unmittelbar, ohne bewusste kognitive Vermittlung die körperlichen Reaktionen (Weinen bzw. Flucht) aus. Und diese Reaktionen würden erst dann, gleichsam als letzter Schritt in der Kausalkette, in Form der charakteristischen Gefühlszustände Trauer und Furcht wahrgenommen. So kommt James zu seinen so bekannten wie paradoxen Behauptungen: „We feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble [...]." (E 190) Aufgrund ihrer Wichtigkeit und Zentralität für die James'sche Theorie sei die Schlüsselpassage in ihrer Gesamtheit zitiert: Our natural way of thinking about these coarser emotions is that the mental perception of some fact excites the mental affection called the emotion, and that this latter state of mind gives rise to the bodily expression. My theory, on the contrary, is that the bodily changes follow directly the perception of the exciting fact, and that our feeling of the same changes as they occur is the emotion. Common-sense says, we lose our fortune, are sorry and weep; we meet a bear, are frightened and run; we are insulted by a rival, are angry and strike. The hypothesis here to be defended says that this order of sequence is incorrect, that the one mental state is not immediately induced by the other, that the bodily manifestations must first be interposed between, and that the more rational statement is that we feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we tremble, and not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry, angry, or fearful, as the case may be. (PP 449 f.)

Ein Problem dieser Theorie besteht darin, wie bestimmte Stimuli unmittelbar charakteristische körperliche Reaktionen auslösen können; wie sie, ohne von der fühlenden Person bewusst gedanklich verarbeitet zu werden, gleichwohl die entsprechenden emotionalen Reaktionen einleiten können sollen. James ist in dieser Hinsicht ein Anhänger Darwins und verweist auf die Evolutionstheorie: Organismen seien mit zahlreichen adaptiven Prädispositionen zu bestimmten Reaktionen auf wiederkehrende und überlebensrelevante Umweltfaktoren ausgestattet. Es ließen sich viele Beispiele geben für Fälle, bei denen bestimmte typische Gegenstände oder Situationen unweigerlich gewisse mentale und körperliche Reaktionen hervorrufen, und zwar noch bevor irgendein bewusster Denkoder Urteilsakt sich auf sie bezieht (vgl. E 190). An die Stelle einer bewussten Auffassung der Stimuli tritt also laut James eine Art automatische

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Verschaltung, welche sich unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten als adaptiv betrachten lässt. Den nahe liegenden Einwand, dass sich so aber nur emotionale Reaktionen auf evolutionsgeschichtlich stabile biologische Stimuli erklären lassen, versucht James dadurch zu entkräften, dass er die Einstellungen, welche die anderen Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft der fühlenden Person gegenüber einnehmen, als eine Art „Superstimulus" ins Spiel bringt. Da für einen Menschen nichts wichtiger sei als die Art und Weise, wie er von seinen Mitmenschen eingeschätzt und daraufhin in die soziale Gemeinschaft integriert werde, sei zu vermuten, dass bei den kulturell geprägten und mit verschiedenen sozialen Umgebungen variierenden Stimuli solche zwischenmenschlichen Anerkennungs- und Ablehnungsaussichten im Hintergrund stünden (vgl. E 195). James weist auf eine wichtige Implikation seiner Theorie hin: Ein willentliches Herbeiführen der charakteristischen Manifestationen einer Emotion müsste die Emotion selbst auslösen. Ebenso müsste umgekehrt gelten: „Refuse to express a passion, and it dies." (E 197). So gibt James den folgenden Ratschlag hinsichtlich der Affektkontrolle: Um unliebsame emotionale Tendenzen in uns zu beseitigen, sollten wir entschlossen und zunächst im Zustand kühlen Blutes willentlich die äußeren Manifestationen der gegenteiligen Emotionen, die wir in uns kultivieren möchten, hervorrufen (ibid.) — ein Ratschlag, der in mancherlei Variationen Eingang in zahlreiche populäre Manifeste zur psychologischen Lebenshilfe gefunden hat. Als Fazit seiner Erwägungen weist James darauf hin, dass wir anhand der Emotionen deutlicher als je zuvor erkennen könnten, wie sehr unser mentales Leben mit unserem Körper verwoben sei (E 201); entsprechend sei ein enger Zusammenhang von komplexeren Emotionen wie Entzücken, Liebe, Ehrgeiz, Entrüstung und Stolz — verstanden als Gefühle — mit groben körperlichen Empfindungen wie Freude und Schmerz zu konstatieren (ibid.). Die vermeintlich rein intellektuellen Emotionen, also solche, die mit keinerlei körperlichen Reaktionen einhergehen und daher ein Gegenbeispiel zu seiner Theorie darzustellen scheinen, versucht James durch eine Trennung des rein kognitiven Urteils, dass etwas richtig oder gelungen sei, von den dieses Urteil möglicherweise begleitenden Gefühlen in seine Theorie zu integrieren (E 201fi). Die begleitenden Gefühle hätten körperliche Manifestationen und passten also in den Rahmen seiner Theorie, bei den Urteilen hingegen handele es sich überhaupt nicht um Emotionen, sie

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fallen folglich aus dem Gegenstandsbereich der Theorie heraus. Der Preis für diese Auffassung scheint die aus heutiger Sicht nicht mehr selbstverständliche klare Trennung zwischen Emotion und Kognition zu sein. Doch dieser oberflächliche Eindruck, der bei der Lektüre von What Is Λη Emotion? mitunter entstehen kann, täuscht — in Wahrheit ging auch James von einer engen und sogar konstitutiven Verschränkung von Fühlen und Denken, Empfinden und Erkennen aus, wobei sich diese Sichtweise allerdings erst in seinen späteren Schriften deutlicher herauskristallisiert (vgl. unten, Abschnitt 3). Der physiologische Ablauf eines emotionalen Prozesses sieht nach James schließlich wie folgt aus: Ein Objekt affiziert ein Sinnesorgan und wird vom entsprechenden kortikalen System registriert, jedoch ohne dass dieser Vorgang bereits mit Bewusstsein einhergeht. In Sekundenbruchteilen laufen anschließend Nervenimpulse durch ihre charakteristischen Kanäle, wodurch sich die Zustände von Haut, Muskulatur und inneren Organen auf jeweils typische Weise verändern. Diese körperlichen Veränderungen, die, wie schon der externe Stimulus, in bestimmten Arealen des Kortex registriert werden, werden schließlich ,im Bewusstsein' mit der Wahrnehmung des jeweiligen Objekts verbunden. So wird aus einem lediglich neutral aufgefassten Objekt {an object-simply-apprehended) ein emotional empfundenes Objekt {an object-emotionally-felt, vgl. E 203).

2. Die Rezeption der James-Lange-Theorie in Philosophie und Neurowissenschaft Von der James'schen Emotionstheorie ist in der Literatur häufig unter dem Titel „James-Lange-Theorie" die Rede. Der dänische Arzt und Psychologe Carl Georg Lange (1834-1900) hatte in etwa zur gleichen Zeit und unabhängig von James eine ganz ähnliche Emotionstheorie entwickelt, in der er sogar — anders als der in diesem Punkt vorsichtigere James — Emotionen direkt mit vasko-muskulären Veränderungen identifizierte. In The Principles of Psychology zitiert James bereits ausgiebig und weitgehend zustimmend aus Langes Abhandlung Über Gemütsbewegungen (1887). In der

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empirischen Affektforschung und der Philosophie der Gefühle im 20. Jahrhundert gab die james-Lange-Theorie zunächst eine dankbare Zielscheibe für Kritik ab. Ein erster einflussreicher Kritiker war der USPhysiologe Walter Cannon (1871—1945), der neben einem umfassenden Katalog von Gegenerwägungen auch eine Alternativtheorie konzipierte, die das berühmte Schema der James-Lange-Theorie auf den Kopf stellte: Laut Cannon kommt zuerst die emotionale Reaktion auf ein auslösendes Objekt und erst anschließend die physiologische und verhaltensmäßige Reaktion. 4 Allerdings konnte sich Cannons Modell weder in der Psychologie noch anderswo nachhaltig durchsetzen. Mehr Erfolg beschieden war den amerikanischen Psychologen Stanley Schachter und Jerome Singer, die in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein denkbar einfaches Experiment ausführten: Sie injizierten Versuchspersonen Adrenalin und setzten dann verschiedene Gruppen ihrer Probanden unterschiedlichen emotionsrelevanten Stimuli aus. Das Ergebnis: Bei gleicher physiologischer Erregung resultierten ganz unterschiedliche emotionale Zustände — je nach Art der auslösenden Stimuli. Das veranlasste Schachter und Singer zur Formulierung einer Zwei-Komponenten-Theorie: Neben der physiologischen Erregung bestünden Emotionen aus einer kognitiven Einschätzung der auslösenden Situation. 5 Damit wurde ihre Theorie zur Vorläuferin der kognitiven bzw. Appraisal-Theorien, dem bis zum heutigen Tage in Philosophie und Psychologie dominierenden Ansatz. Sowohl bei Schachter und Singer als auch bei den (später sogenannten) Kognitivisten liegt damit das zentrale Versäumnis von William James in einem Verkennen der kognitiven Funktion von Emotionen. Dies ist vor allem in der Philosophie oft betont worden. Dabei erwies sich insbesondere ein Argument als sehr einschlägig: Während die menschlichen Gefühle offenkundig ein äußerst facettenreiches und heterogenes Spektrum bilden und sich zahllose unterschiedliche Gefühlstypen sprachlich präzise unterscheiden lassen, scheint es nahezu unmöglich, derart viele subtile Unterscheidungen auch im Bereich der Empfindungen von Körperzustandsveränderungen vorzunehmen. Das körperliche Empfinden ist weitaus diffuser und unspezifischer als das Alphabet der sprachlich unterscheidbaren Emotionstypen. Dies ist das sogenannte Individuierungsproblem, das lange als die maßgebende gegen James und Lange sprechende Erwägung galt. Meist wird es von Philosophen gleich in Ver4 5

Vgl. Cannon 1972. Schachter/Singer 1962.

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bin dung mit der favorisierten Alternativauffassung ins Spiel gebracht: Nur eine Theorie der Emotionen, die den intentionalen Gehalt der affektiven Zustände in den Mittelpunkt rückt, könne das Individuierungsproblem lösen. Vor allem die kognitiven Theorien, welche Emotionen als Bewertungen von bedeutsamen Situationen beschreiben, leisten dies — der jeweilige Bezug auf eine aus Sicht des Fühlenden irgendwie relevante Situation wird zum maßgebenden Unterscheidungskriterium unterschiedlicher Emotionstypen. Bei James und Lange hingegen wird die Intentionalität stiefmütterlich behandelt — das jedenfalls legt die Standard-Lesart nahe. Die Kognitivisten beschreiben folglich die zahlreichen verschiedenen Weisen eines evaluativen Weltbezugs in der emotionalen Erfahrung: So erschließt Furcht eine Gefahr, Trauer einen Verlust, Arger ein fremdverschuldetes vermeidbares Übel, Scham einen von anderen wahrgenommenen ,Defekt' der eigenen Person nach Maßgabe anerkannter normativer Standards, Stolz eine Leistung oder einen Vorzug der eigenen Person im Lichte der Anerkennung durch relevante Andere etc. Wie es bei oberflächlicher Lektüre scheint, blendet James diese zentrale Dimension des menschlichen Gefühlslebens komplett aus und behauptet stattdessen, das einzige wirkliche ,Objekt' der emotionalen Erfahrung sei der eigene Körper und das Spektrum seiner physiologischen Veränderungen. Kognitivisten wie Robert Solomon und Martha Nussbaum haben James aus diesen Gründen zu ihrem Lieblingsgegner erklärt und wiederholt auf die eben beschriebene Weise kritisiert. Doch James hat nicht nur Opponenten unter den zeitgenössischen Emotionsforschern. Der Neurophysiologe Antonio Damasio 6 , der mit seinem publizistischen Engagement großen Anteil an der Popularisierung der Emotionsforschung in den letzten Jahren hat, entwirft eine Theorie, die in Grundzügen exakt dem James'schen Schema entspricht. Für Damasio sind Emotionen selbst nichts anderes als Körperzustandsveränderungen. Wenn diese Körperzustandsveränderungen zudem bewusst registriert werden, entstehe ein Gefühl. Damasio betont mehrfach die Wichtigkeit von James' Theorie als Vorläufer der eigenen Konzeption. Dies knüpft nahezu eins zu eins an die von James in schönen Worten vorgetragene Idee an, wonach der Körper als das sounding board, als das Klangbrett für verschiedene äußere und innere Affektionen fungiere (E 202). Durch bestimmte Stimuli werde dieser Klang-Körper gleichsam zum Schwingen gebracht, und die subjektive Wahrnehmung dieser Schwingungen seien die Gefühle. Nach Ansicht von 6

Damasio 1994 und 1999.

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Damasio und ebenso auch Joseph LeDoux 7 bestätige die moderne affektive Neurowissenschaft dieses Prozessmodell, wenngleich in einer weitaus komplexeren Weise als es James damals vorschwebte. Auch aus Reihen der Philosophie der Emotionen, deren Vertreter Damasio gerne für seine Vernachlässigung der emotionalen Intentionalität kritisieren, ist zuletzt wieder vermehrt Anerkennung für die ursprüngliche Einsicht von James zu hören. Am deutlichsten knüpft Jesse Prinz an die James-Lange-Theorie an, wenn er seine sogenannte embodied appraisal theory entwickelt. 8 Dabei ist Prinz explizit bestrebt, sowohl an James zentraler Einsicht festzuhalten, als auch andererseits die vermeintlich zentrale Schwäche der Theorie zu eliminieren. Dies sagt schon der Titel embodied appraisal theory. Es ist der Versuch, eine körperbasierte aber gleichwohl hinreichend kognitivistische Gefühlstheorie zu formulieren, welche in dieser Hinsicht direkt an die in der gegenwärtigen Emotionspsychologie führenden sogenannten FJnschät^ungstheorien9 anknüpft. Prinz beschreibt Emotionen als evolutionär entstandene körperliche Mechanismen, die von gewissen für den Organismus relevanten Umweltbegebenheiten ausgelöst werden und die, ganz so wie bei James und Lange, in Form von körperlichen Empfindungen bewusst wahrgenommen würden. Gleichzeitig kombiniert er dies mit einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentationen. Im Rahmen dieser Theorie könnten die James'schen Körperempfindungen zugleich als intentionale Zustände mit einem evaluativen repräsentationalen Gehalt aufgefasst werden, wodurch die Einschätzungskomponente der Emotionen ihren angemessen Ort in der Theorie erhielte. Entscheidend für Prinz ist ein kausal-evolutionäres Verständnis von Information: Wenn ein bestimmter Stimulus beständig als Ursache eines mentalen Zustande auftrete und wenn sich die Existenz dieses mentalen Zustande überdies als evolutionäre Adaptation im Hinblick auf besagten Stimulus erklären lasse, dann könne dieser mentale Zustand als Repräsentation des Stimulus gelten. Genau so verhalte es sich mit den emotionalen Mechanismen und ihren Empfindungen, wie ja schon James wusste: Emotionale Mechanismen sind evolutionäre Adaptationen, die als prototypische Reaktionen auf bestimmte überlebensrelevante Stimulusklassen gleichsam maßgeschneidert sind. Mit Prinz' repräsentationaler Theorie im Hintergrund lässt sich dann von jenen vermeintlich rein körperbezogenen 7 8 9

LeDoux 1996. Prinz 2004. Vgl. z. B. Scherer 1984, Reisenzein 2000.

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Empfindungen sagen, dass sie sich bewertend auf die sie auslösenden Objekte oder Situationen beziehen. Wie es scheint, ist damit der zentrale Vorwurf der kognitivistischen Kritiker entkräftet, ohne dass die Jamesche Grundeinsicht hätte aufgegeben werden müssen. Prinz und Damasio gründen ihre positiven Einschätzungen von James' Theorie in etwa auf dieselbe recht oberflächliche Lesart, die von den philosophischen Kognitivisten kritisiert wird. Insofern herrscht in diesen Kreisen ein vager Konsens bezüglich des Gehalts der James'schen Theorie und gestritten wird lediglich über den Wahrheitsgehalt dieser Auffassung. Es gibt jedoch eine ganz andere Lesart, welche weder eine so dankbare Zielscheibe für kogmtivistische Kritik abgibt, noch eine umstandslose Integration in neurobiologische oder philosophisch-naturalistische Emotionstheorien ermöglicht. Vielmehr erscheint James darin als Verfechter einer komplexen philosophischen Theorie des menschlichen Weltbezugs, für den die Emotionen eine zentrale Rolle spielen.

3. Der andere James — eine philosophische Theorie des affektiven Weltbezugs Ein erstes Versäumnis vieler Kritiker von James' Emotionstheorie liegt darin, dass übersehen wird, welche Rolle das Emotionsverständnis im Rahmen einer umfassenden philosophischen Konzeption spielt. Gelegentlich entsteht gar der Eindruck, als erschiene James seinen Kritikern überhaupt nicht als ein philosophisch orientierter Autor, sondern lediglich als ein Psychophysiologe mit den in diesem Feld beschränkten Mitteln des späten 19. Jahrhunderts. Dieser Eindruck kann vor allem dann entstehen, wenn ausschließlich die beiden klassischen Emotionstexte von 1884 und 1890 und nicht ebenso die späteren philosophischen Schriften betrachtet werden. In den beiden frühen Texten geht es in der Tat vornehmlich um die physiologischen Abläufe, allerdings sind auch hier bereits darüber hinausgehende Aspekte zu erkennen. Im Folgenden soll die in den späteren Schriften verstreut sichtbar werdende umfassende philosophische Emotionstheorie von James in den Grundzügen rekonstruiert werden. Von dort

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wird dann auch ein verändertes Licht auf die klassischen Emotionstexte fallen, sodass eine alternative Lesart plausibel erscheint.10 Schon in What Is Λη Emotion? und in dem Emotionskapitel von The Principles of Psychology wird deutlich, dass James seine Ansichten über Gefühle in den Kontext eines praktischen Verständnisses der Weltorientierung von Lebewesen einbettet. Wenn es dort in Anlehnung an den Darwinismus heißt, dass „peculiarly conformed pieces of the world's furniture will fatally call forth most particular mental and bodily reactions, in advance of, and often in direct opposition to, the verdict of our deliberate reason concerning them" (E 190), dann vertritt James hier die These des Primats eines vorreflektiven praktischen Weltbezugs auf evolutionärer Grundlage. Er redet von „most particular mental and bodily reactions" und meint damit ein breites Spektrum automatisierter Reaktionen, sowohl mentaler als auch behavioraler Art. Die Emotionen werden als Paradebeispiele solcher in der Ökonomie des Organismus effektiven, einen unmittelbaren Weltbezug herstellenden Mechanismen thematisiert. Dieses Verständnis arbeitet James im Zuge der Entwicklung seiner pragmatistischen Philosophie weiter aus. Was von Vertretern der Standard-Interpretation nicht hinreichend betont wird, ist allein schon diese Einbettung der Emotionsthematik in den Kontext einer evolutionär basierten Theorie der praktischen Weltorientierung. Bereits von dieser Überlegung aus können sich erste Zweifel melden an der Angemessenheit der üblichen Kritik, wonach bei James wie bei anderen Empfindungstheoretikern die affektive Intentionalität, also der wertende Weltbezug der Gefühle, nicht oder nicht hinreichend thematisiert werde. Nur wenn man eine strikt mentalistische Konzeption der Intentionalität ansetzt, wonach der intentionale Weltbezug alkin eine Angelegenheit von Bewusstseinszuständen im engen Sinne ist, trifft diese Deutung zu. Sieht man hingegen das Ausmaß, in dem sich James bereits früh von einem solchen cartesianischen Mentalismus emanzipiert, entstehen Zweifel an dieser Lesart. Könnte es nicht sein, dass für James wie für andere Pragmatisten und später auch für Heidegger die primäre Vollzugsform der Intentionalität ein praktischer Umgang mit der Welt und nicht ein distanziertes Vorstellen oder Orteilen über die Welt ist? Und wäre es nicht möglich, dass auch die Emotionen ihren intentionalen Gehalt aufgrund ihrer Rolle

10

Im Folgenden orientiere ich mich zum Teil an Überlegungen, die Matthew Ratcliffe entwickelt und publiziert hat (vgl. Ratcliffe 2005a und 2008). Ich danke Ratcüffe fur erhellende Gespräche über James' Emotionsverständnis.

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in diesem praktischen, handlungsorientierten Geschehen und nicht aufgrund der in ihnen liegenden Vorstellungs- oder Urteilskomponenten erhalten? Um diese Fragen zu beantworten, ist es sinnvoll, James' Ansichten zum Verhältnis von Kognition und Emotion bzw. von Denken und Fühlen näher zu betrachten. An manchen Stellen von What Is An Emotion? entsteht der Eindruck, als ginge James wie die Tradition und wie viele seiner Zeitgenossen von einem strikten Gegensatz zwischen Fühlen und Denken aus. Beispielsweise bei seiner Betrachtung der ruhigeren Gefühle, etwa der ästhetischen, als eines vermeintlichen Gegenbeispiels zu seiner Emotionstheorie: Auf die Frage, ob die zahlreichen ,sanfteren', also ohne spürbare körperliche Aufwallung ablaufenden Gefühle nicht gegen seine Auffassung von der Körperlichkeit aller Gefühle sprächen, unterscheidet James klar zwischen solchen Fällen, bei denen es sich lediglich um schwache Gefühle (mit entsprechend geringfügigen Körperzustandsveränderungen) handelt, und solchen Fällen, bei denen es sich überhaupt nicht mehr um Gefühle, sondern um kognitive Zustände handelt — etwa um Werturteile, welche distanziert und ohne affektive Anteilnahme gefällt werden. Im Zusammenhang mit diesen Erläuterungen stehen einige Bemerkungen, die so interpretiert werden könnten, als halte James an der klassischen Kognition-Emotion-Trennung fest: In every art, in every science, there is the keen perception of certain relations being right or not, and there is the emotional flush and thrill consequent thereupon. And these are two things, not one. In the former of them it is that experts and masters are at home. The latter accompaniments are bodily commotions that they may hardly feel, but that may be experienced in their fullness by Crétins and Philistines in whom the critical judgment is at its lowest ebb. (E 202f.)

Die kognitive Einschätzung und der emotional flush and thrill seien zwei unterschiedliche Dinge, und nicht etwa dasselbe. Allerdings relativiert James seine Ansicht im Zuge derselben Diskussion bereits wieder durch das Zugeständnis, dass Gefühle weit häufiger im Spiel seien als gemeinhin angenommen. Das bodily sounding board schwinge oftmals auch dann, wenn es bei oberflächlicher Introspektion scheine, als läge lediglich ein gefühlsneutrales Urteil vor (vgl. E 202). Zudem diskutiert James die Zustände einer nicht affektiven, rein intellektuellen Wertung, wie sie etwa bei einem abgebrühten Kunstkritiker auftreten, in einer despektierlichen Weise, was zumindest als ein implizites Parteiergreifen für die affektbasierten Einschätzungen gegenüber den distanziert-intellektuellen gelesen werden kann: „A sentimental layman would feel, and ought to feel, horrified, on

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being admitted into such a critic's mind, to see how cold, how thin, how void of human significance, are the motives of favor and disfavor that there prevail." (E 202) Außerdem zeigt das Beispiel des expert critic, dass es nach James einer langen Gewöhnung und gleichsam einer Art Abstumpfung bedarf, ehe in Geschmacks fragen rein kognitiv und intellektuell geurteilt werden kann. Damit ist klar, dass James den Gefühlen eine zentrale Rolle im gewöhnlichen, nicht-routinierten Bewerten zuweist. Insofern dürfte auch die Deutung der James'schen Emotionen als reine Empfindungen ohne wertende Funktion als zu einseitig erwiesen sein. Später vollzieht James dann explizit den Schritt, der sich in den früheren Texten nur andeutete. In seinem Aufsatz The Will to Relieve bezeichnet er die Gefühle als entscheidende Faktoren beim Entscheiden und beim Erlangen von Uberzeugungen: Our passional nature not only lawfully may, but must, decide an option between propositions, whenever it is a genuine option that cannot by its nature be decided on intellectual grounds; for to say, under such circumstances, ,Do not decide, but leave the question open', is itself a passional decision, - just like deciding yes or no, - and is attended with the same risk of losing the truth. (WB 11)

Auch wenn es James hier vornehmlich um solche Fälle geht, bei welchen ein zunächst erfolgendes rationales Erwägen aller Optionen und aller Gründe kein Ergebnis bringt, weist sein Befund darüber hinaus auf eine allgemeine kognitive Funktion der Emotionen. Ähnlich wie später Damasio, de Sousa 11 und viele Vertreter kognitivistischer Theorien sieht James Emotionen als wichtige Bewertungs- und Entscheidungshilfen, ohne die zentrale kognitive Prozesse nicht so ablaufen würden, wie sie es de facto tun. Das belegt vollends die folgende Passage aus The Marieties of Religious Experience (1902), in der James ein anschauliches Gedankenexperiment aus den frühen Emotionstexten wieder aufgreift: Conceive yourself, [...], suddenly stripped of all the emotion with which your world now inspires you, and try to imagine it as it exists, purely by itself, without your favorable or unfavorable, hopeful or apprehensive comment. It will be almost impossible for you to realize such a condition of negativity and deadness. No one portion of the universe would then have importance beyond another; and the whole collection of things and series of its events would be without significance, character, expression, or perspective. Whatever of value, interest, or meaning our respective worlds may appear endued with are thus pure gifts of the spectator's mind. (RE 150)

11

De Sousa 1987.

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I an Slaby

Offenkundig ist der affektfreie Zustand hier ein höchst pathologischer und folglich keineswegs der Normalzustand. Nun betrachtet James die Gefühle als eine Art kontinuierlichen evaluativen Hintergrund des Weltbezugs. Eine gefühlsfrei betrachtete Welt erscheint als bedeutungsentleerte Wüste ohne Relevanz und ohne Anregungen für mögliche Aktivitäten. Wie sehr er damit in die Nähe zu dem rückt, was einige seiner schärfsten kognitivistischen Kritiker später als vermeintliche Gegenposition verteidigen, zeigt die folgende Passage aus Robert Solomons Buch The Passions: I will analyze the emotions as constitutive structures of our world. Through our passions, we constitute our (subjective) world, render it meaningful and with it our lives and Selves. The passions are not occurences but activities; they are not ,inside' our minds but rather structures we place in our world. My anger [...] is my projection into the world, my silent indictment of someone who has wronged me, my judgment of the offensive state of the world. 12

Natürlich steckt in Solomons komplexer und kontroverser Auffassung mehr als nur die These, dass Emotionen unserer Welt ihren Wert, ihre Bedeutsamkeit und damit ihre Handlungsrelevanz verleihen — so etwa die kontraintuitive Behauptung einer aktivischen Natur der Emotionen —; auffällig bleibt jedoch die überraschende Parallele zu James in einem zentralen Aspekt. Was oftmals als diametraler Gegensatz emotionstheoretischer Positionen aufgefasst wurde, liegt also gar nicht so weit auseinander. 13 Nun wird auch die Bedeutung der von James in What Is An Timotionì eher beiläufig geäußerten Vermutung evident, wonach das „bodily sounding board" viel häufiger und vielleicht sogar nahezu kontinuierlich aktiv sei und nicht lediglich dann, wenn ein besonders emotionsrelevantes Objekt wahrgenommen werde. Offenkundig geht James von einer beständigen affektiven Tönung der Erfahrung aus, ganz ähnlich wie sie nahezu zeitgleich von Husserl und einige Jahrzehnte später von Heidegger beschrieben wird. 14 12 13

14

Solomon 1993 (zuerst 1976), 108. Ratcliffe folgert: „So it seems as though James and Solomon have been talking about the Morning Star and the Evening Star; a unitary phenomenon has been miscast as two quite different things" (Ratcliffe 2005b, 59). Dies sieht auch Ratcliffe so, wenn er James' Sichtweise folgendermaßen zusammenfasst: „Indeed, given his depiction of depression as a crippling absence of world-orienting affect, it seems that bodily feelings provide a near constant background field, whose absence or diminuition constitutes a dramatic deficit in our world experience. Feelings are integral to the structure of all experience, rather than an occasional accompaniment to the perception of certain objects or situa-

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Weit entfernt von einem ,intentionalitätsverarmten' und damit inadäquaten Emotionsverständnis bietet James die Ansätze zu einer Theorie, welche die essenzielle Verstocktheit von affektiven und kognitiven Faktoren beim intentionalen Weltbezug betont. Vermutlich sind es nur einige unglückliche Formulierungen in den frühen Texten und der Umstand, dass die Intentionalitätsthematik für James nicht explizit auf der philosophischen Agenda stand, die für einen falschen Eindruck gesorgt haben. Nimmt man noch James' praktisches Verständnis des Weltbezugs hinzu, das bereits an die Uberwindung der strikten Subjekt-Objekt-Entgegensetzung durch Heidegger erinnert, erscheint James mit einem Mal sogar als ein auch hinsichtlich der Intentionalität äußerst kreativer und anschlussfähiger Autor. Das praktische Verständnis des Weltbezugs beschränkt sich dabei nicht auf die Betonung des Primats des Handlungsvermögens, sondern auch auf die Art und Weise, wie James die Welt versteht, auf die Personen sich in ihren praktischen Vollzügen beziehen. James versteht die Welt nicht, wie in der philosophischen Tradition üblich, als dem erkennenden Subjekt statisch vorgegeben, sondern als etwas, das zum Teil erst in der Interaktion mit dem Subjekt entsteht — das sich auf die Welt beziehende Subjekt konstituiert insofern erst seine Welt. Diese Abkehr von den gängigen Korrespondenztheorien der Erkenntnis und Hinwendung zu einer interaktionistischen Konstitutionstheorie spielt für James' Pragmatismus eine zentrale Rolle. Die Emotionen sind an der Weltkonstitution entscheidend beteiligt: „|T]he practically real world for each one of us, the effective world of the individual, is the compound world, the physical facts and emotional values in indistinguishable combination. Withdraw or pervert either factor of this complex resultant, and the kind of experience we call pathological ensues." (RE 151) Hier kommt sowohl die enge Verschränkung von emotionalen und kognitiven Prozessen zum Ausdruck als auch die unentwirrbare Verwobenheit von Faktoren, die traditionell als ,subjektive' und ,objektive' betrachtet wurden. In diesem fortschrittlichen Bild können auch die Emotionen nicht länger als strikt ,subjektive Zustände' ihren objektiven ,Auslösern' entgegengesetzt werden. Stattdessen ist ihre Rolle in der Erfahrung so grundlegend, dass sie jeder Subjektiv-objektiv-Unterscheidung noch tions." (Ratcliffe 2005a, 189f.) James' eindrucksvolle und durchaus „phänomenologisch" zu nennende Beschreibung der Depression findet sich in The Varieties of Religious Experience, Lectures VI und VII.

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I an Slaby

vorausliegt. Insofern bestehen in der Tat auffallige Parallelen zu dem, was Heidegger in Sein und Zeit unter dem Titel „Befindlichkeit" abhandelt, und auch zu weiteren Aspekten von Heideggers anti-cartesianischer Philosophie. Die Befindlichkeit, die nach Heidegger „die Weltoffenheit des Daseins" bzw. dessen „Angänglichkeit" für Seiendes konstituiere 15 , eröffnet die jeweilige Signatur der konkreten Situation, in welcher sich die fühlende Person aktuell „befindet". Der Situationsbezug ist stets hinsichtlich der Bedeutsamkeit der vorliegenden Umstände gegliedert — was eine Situation ist, ist von vornherein nur als ein Gefüge von spezifischen, für die in ihr stehende Person bedeutsamen Umständen verständlich. Die Emotionen (bzw. Stimmungen), kraft ihres Charakters als allgemeine Sensitivität für Bedeutsamkeit, ermöglichen der fühlenden Person die adäquate Erschließung von Situationen. Entsprechend ziehen Ausfälle oder Veränderungen der Emotionalität weitreichende Einbußen in der Fähigkeit, die Bedeutsamkeit der vorliegenden Umstände zu erfassen, nach sich. Was hingegen nicht möglich ist, ist eine nachträgliche Aufspaltung und Aufteilung der Erfahrungsgehalte in objektive und subjektive Faktoren — insbesondere die Gefühle, in denen Person und Situation gleichsam verschmolzen sind, lehren, dass ein solches Unterfangen hoffnungslos ist. Ebenfalls durchaus auf der Linie der Phänomenologie liegt eine weitere von James' Ansichten, die sich direkt aus dem Bisherigen ergibt: Die Emotionen seien aufgrund ihrer bedeutsamkeitserschließenden und -konstituierenden Funktion auch an zahlreichen vermeintlich ,höheren' kognitiven und konzeptuellen Leistungen entscheidend beteiligt. James appliziert diese Annahme konsequent auf das philosophische Denken selbst. Auch der Philosoph erschließe sich die Welt, die er zu verstehen trachtet, vor dem Hintergrund seiner die Erfahrung vorstrukturierenden Affektivität. Er tritt keineswegs neutral und nüchtern an die Welt heran — dies ist dem Philosophen, wie allen anderen Menschen mit einem intakten Gefühlsleben, unmöglich. So spricht James vom Sentiment of Rationality (so der Titel seines Textes von 1879). Dabei sei es, wie beim affektiven Weltbezug insgesamt, nicht so, dass die emotionale Disponiertheit des Denkers lediglich die Tendenzen und Geneigtheiten zu bestimmten Ideen und Denksystemen gegenüber möglichen Alternativen auspräge. Vielmehr reiche die affektive Prägung bis direkt in die Gehalte des jeweils Gedachten hinein — in 15

Heidegger 1927, 137. Heidegger spricht in seinen Erläuterungen der Befindlichkeit meist von Stimmungen. Es ist aber offenkundig, dass er auch Emotionen als Erscheinungsformen der Befindlichkeit betrachtet. Das geht ζ. B. aus seiner Furcht-Analyse hervor (vgl. ders. 1927, § 30).

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Form einer gefühlten Harmonie und spürbaren Kohärenz des jeweils philosophisch Vertretenen. Im Kontext dieser meta-philosophischen Uberlegungen findet sich die folgende Bekundung, die sich nahezu wie ein Fazit der James'schen Überlegungen zur Rolle der Gefühle liest: „Pretend what we may, the whole man within us is at work when we form our philosophical opinions — Intellect, will, taste, and passion cooperate just as they do in practical affairs." (WB S92) So wie die Weltorientierung des Menschen insgesamt von einem affektiven Grundton getragen sei, werde auch eine philosophische Position von einem starken Gefühl „der Sicherheit, des Friedens und der Ruhe" stabilisiert (WB 63, Ubers, d. Verf.). Das erkläre auch die oftmals eigenartig emphatische und nicht selten emotional aufgeladene Weise, in der Philosophen Gedanken und Positionen ablehnen, die den eigenen Uberzeugungen widersprechen — ein Gedanke, den James in der Schrift Pragmatism (1907) einige Jahre später im Kontext einer Diskussion des Temperaments zum Ausdruck bringt. Ein Philosoph vertraue bei der Entwicklung und Ausarbeitung seiner jeweiligen Position auf sein Temperament— was durchaus mit seiner affektiv-emotionalen Disponiertheit gleichgesetzt werden kann — und suche oder entwickle die dazu passende philosophische Position. Anderen Denkern, die seine eigenen Ansichten nicht teilen, begegne er mit Gefühlen des Befremdens — sie scheinen ihm inkompetent und gedanklich nicht auf der Höhe (vgl. Ρ 8). Wenn sich die Welt-konstituierenden Einflüsse der Gefühle selbst in einer (vermeintlich) so rationalen und begrifflichen Sphäre wie der Philosophie nachhaltig bemerkbar machen, dann dürfte außer Zweifel stehen, dass für James das begriffliche Denken, das Erlangen von Uberzeugungen und die Festlegung auf Einstellungen aller Art in wichtiger Weise von Gefühlen abhängen. Von einer reinen, die Intentionalität ausklammernden Empfindungstheorie der Emotionen kann keine Rede sein. Die StandardKritik an James ist folglich unberechtigt. Im Gegenteil erweist sich nun ein zentraler Aspekt der James'schen Gefühlstheorie als große Stärke dieser Position: die Körperlichkeit der Gefühle. In diesem Punkt ,schwächein' viele kognitivistische Theorien, weil sie dem körperlichen Empfinden keine angemessene Rolle im emotionalen Geschehen zuweisen. James hingegen gründet seine Theorie geradezu auf den körperlichen Empfindungen. Auch das in seinen späteren Schriften zu den Gefühlen Geäußerte steht nach wie vor im Kontext der Idee, dass gewisse Umweltbegebenheiten körperliche Veränderungen auslösen, welche von der fühlenden Person in Form von charakteristischen

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Empfindungen wahrgenommen werden. Sobald sich zeigen lässt, dass es just diese körperlichen Empfindungen sind, die zugleich auch den affektiven Weltbezug herstellen, dann ist eine Theorie gewonnen, die sowohl unseren Alltagsintuitionen bezüglich der Körperlichkeit des Affektiven, als auch den wichtigen theoretischen Erwägungen zur Intentionalität der Gefühle genüge tut. Dass sich dies in der Tat zeigen lässt, hat der kurze Streifzug durch James' spätere Schriften dokumentiert. Damit erweist sich seine Theorie als höchst anschlussfähig an aktuelle Debatten zur Natur des Affektiven, in denen das Verhältnis von Intentionalität und Körperlichkeit der Gefühle zunehmend als ein äußerst enges bestimmt wird. 16

Literatur James' Schriften werden nach den amerikanischen Ausgaben seiner Werke zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: E Ρ PP RE WB

What Is An Emotion? Pragmatism The Principles of Psychology The Τ rarieties of Religious Experience The Will to Believe and Other Essays in Popular

Philosophy

Cannon, Walter Bradford (1927), The James-Lange Theory of Emotion: A Critical Eexamination and an Alternative Theory, in: American journal of Psychology 39, 106— 124. Damasio, Antonio R. (1994), Descartes'Error, New York. Damasio, Antonio R. (1999), The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, San Diego. Heidegger, Martin (1927), Sein und Zeit, Tübingen. James, William (1879), The Sentiment of Rationality, in: Mind 4, 317-346. - (1884), What Is An Emotion?, in: Mind9, 188-205 (= E). - (1890), The Principles of Psychology, Volume II, New York (= PP). - (1902), The Τ rarieties of'Religious Experience, New York (= RE). - (1956, zuerst 1897), The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy, New York (= WB). - (1981, zuerst 1907), Pragmatism, Indianapolis (= P). Landweer, Hilge (2004), Phänomenologie und die Grenzen des Kognitivismus. Gefühle in der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (3), 467-486. LeDoux, Joseph (1996), The Emotional Brain: The Mysterious Underpinnings of our Emotional Ei fe, New York.

16

Vgl. Landweer 2004; Ratcliffe 2005b und 2008; Slaby 2007 und 2008; sowie Slaby/Stephan 2008, die allesamt für eine angemessene Integration des gespürten und spürbaren Körpers (bzw. Leibes) in die emotionale Erfahrung plädieren.

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Nussbaum, Martha C. (2001), Upheavals of Thought, Cambridge. Prinz, Jesse (2004), Gut Reactions: A Perceptual Theory of Emotion, New York. Ratcliffe, Matthew (2005a), William James on Emotion and Intentionality, in: International Journal of Philosophical St//dies\?>, 179—202. — (2005b), The Feeling of Being, in: Journal of Consciousness Studies 12, (8-10), 43—60. - (2008), Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry, and the Sense of Reality, Oxford. Reisenzein, Rainer (2000), Einschätzungstheoretische Ansätze in der Emotionspsychologie, in: Jürgen H. Otto/Harald A. Euler/Heinz Mandl (Hg.), Handbuch der Emotionspsychologie, Weinheim, 117-138. Schachter, Stanley/J. Singer (1962), Cognitive, Social and Physiological Determinants of Emotional State, in: Psychological Review 63, 379—399. Scherer, Klaus (1984), On the Nature and Function of Emotion: A Component Process Approach, in: Klaus R. Scherer/Paul Ekman (Hg.), Approaches to Emotion, Hillsdale, 293-318. Slaby, Jan (2007), Affective Intentionality and the Feeling Body, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences: (OnlineFirst, 14.12.2007): URL = http://www.springerlink.com/content/63141102u80r8451/fulltext.pdf (letzter Zugriff: 24.04.2008). Slaby, Jan (2008), Gefühl und Weltbe^itg. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neoexistentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn. Slaby, Jan/Achim Stephan (2008), Affective Intentionality and Self-Consciousness, in: Consciousness ¿~ Cognition (im Erscheinen bei Elsevier). Solomon, Robert C. (1993, zuerst 1976), The Passions, New York. Sousa, Ronald de (1987), The Rationality of Emotion, Cambridge/MA

Alfred North Whitehead (1861-1947)

Whitehead: Kritik der Gefühle Maria-Sibylla Lotter 1. Whiteheads Metaphysik der Gefühle Alfred North Whitehead hat sein metaphysisches Hauptwerk Process and Reality als eine „Kritik der reinen Gefühle" 1 (PR 113) bezeichnet. Dem verbreiteten Bild vom ErfahrungsSubjekt, das vor seinen Emotionen existiert und ihr Urheber ist, stellt er eine Beschreibung der Subjektivität entgegen, die aus Emotionen entsteht, und zwar Emotionen, die in der Welt selbst verankert sind: „The basis of experience is emotional. Stated more generally, the basic fact is the rise of an affective tone originating from things whose relevance is given." (AI 176) Nicht das Subjekt macht seine Erfahrungen und fügt ihnen Emotionen hinzu, sondern Erfahrungen entstehen aus Emotionen und bilden ein Subjekt. Für die moderne Subjektivitäts- und Moralphilosophie ist dies eine fremdartige Perspektive, und ihr Abstand zu den scheinbar notwendigen Voraussetzungen unserer moralischen Existenz wie dem der Erfahrung und den Gefühlen zugrunde liegenden erkennenden und handelnden Subjekt ist mitunter als ein Mangel betrachtet und darauf zurückgeführt worden, dass Whitehead als Mathematiker und Physiker im Grunde mehr an natürlichen Prozessen interessiert gewesen sei.2 Whiteheads ungewöhnliche Beschreibung von Erfahrungsprozessen ist jedoch nicht subjektivitätstheoretischer Naivität geschuldet, sondern seinem Verständnis von Philosophie: In seinen Augen ist es nicht die Aufgabe der Philosophie, unser gewöhnliches (oder das in der Philosophie verbreitete) Verständnis von uns und der Welt zu rechtfertigen oder ihm zusätzliche Beweisgründe unterzulegen, indem gezeigt wird, dass wir (angeblich) aus logischen, erkenntnistheoretischen, moralischen oder welchen Gründen auch immer so und so denken müssen oder sollten, sondern zu untersuchen, wie ein solches 1 2

Die Ausdrücke „Gefühle" und „Emotionen" werden im Folgenden synonym verwendet. Vgl. Rapp 1990.

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Maria-Sibylla 1 .otter

Verständnis zustande kommt, welchen Bereich der Wirklichkeit es erhellt, welchen es verstellt, und es in einen weiteren Rahmen einzubetten, in dem sein Verhältnis zu anderen Prozessen deutlich wird. Bevor ich Whiteheads Darstellung der Rolle der Emotionalität für die Erfahrung rekonstruiere, werde ich daher zunächst die methodischen Grundentscheidungen dieses vor dem Hintergrund der Gegenwartsphilosophie so fremdartig wirkenden Ansatzes erläutern.3 Anschließend wird an einigen Beispielen untersucht, wie sich Whiteheads Gefühlstheorie auf die Wahrnehmung klassischer moralischer Probleme auswirkt.

2. Philosophische Abenteuer Nach Ansicht der sprachkritischen philosophischen Tradition, die sich zu Whiteheads Zeit gerade entwickelte, unterscheidet sich das Vorgehen der Philosophie grundlegend von dem der Naturwissenschaften: Diese analysieren nicht nur bestehende Meinungen und Theorien über die Natur, sondern verfügen darüber hinaus über empirische Daten, die anderen Quellen entstammen und geeignet sind, in Widerspruch zu den Vormeinungen und Theorien zu treten. Die Naturwissenschaften können uns daher mit genuin Neuem konfrontieren — sie lehren uns, die Wirklichkeit auf eine ganz andere Weise zu betrachten als gewohnt. Die Philosophie hingegen verfügt nach diesem Bild nicht über eine solche externe Kontrollinstanz. Ihre Aufgabe liegt darin, gegebene Meinungen anhand des Sprachgebrauchs zu analysieren und evtl. Widersprüche und Inkohärenzen zwischen unterschiedlichen Auffassungen zu klären. Whitehead führte diese Haltung auf eine „Fallacy of the Perfect Dictionary" (MT 173) zurück, auf den Glauben, es gäbe einen bestimmten, gegen begriffliche Neuerungen abgeschlossenen Bereich der Alltags spräche, über den die Philosophie nicht hinausgehen dürfe. Demnach wäre die Philosophie nicht befugt, die Kate-

3

Hier konzentriere ich mich weitgehend auf Whiteheads Spätphilosophie, d. i. sein Denken seit den Gifford Lectures von 1927—1928, die zwei Jahre später unter dem Titel Process and Reality veröffentlicht wurden. Während das Hauptwerk Process and Reality die Terminologie eines eigens konstruierten Kategoriensystems (und eine weitere spezielle erkenntnistheoretische Terminologie) verwendet, stellen die beiden anschließenden Bücher Adventures of Ideas (zuerst 1933) und Modes of Thought (zuerst 1938) weniger starke Ansprüche an den Leser, vermitteln allerdings auch nur kursorisch Einblick in das System.

Whitehead: Kritik der Gefühle

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gorisierung der Wirklichkeit, die in unserer Alltags spräche angelegt ist, infrage zu stellen. Whitehead empfand dieses Verständnis von Philosophie als einen unfruchtbaren Konservativismus, der die Möglichkeit der Erweiterung unseres Horizonts dem Sicherheitsbedürfnis opfert: The critical school confines itself to verbal analysis within the limits of the dictionary. The speculative school appeals to direct insight, and endeavours to indicate its meanings by further appeal to situations which promote such specific insights. It then enlarges the dictionary. The divergence between the schools is the quarrel between safety and adventure. (MT 173)

In diesem Punkt trifft sich Whiteheads Auffassung von der Aufgabe der Philosophie mit vielen Ansätzen, die zum amerikanischen Pragmatismus gerechnet werden: 4 Wie John Dewey und William James verstand Whitehead die Aufgabe der Philosophie praktisch; sie sollte dazu beitragen, begriffliche Hindernisse abzutragen, die den Austausch zwischen ver-schiedenen Erfahrungsbereichen wie denen des Alltagslebens und denen der Einzelwissenschaften behindern. 5 Und wie die Wissenschaften hat sie eine experimentelle und empirische Seite, nur dass ihre Daten nicht durch eigene Messungen gewonnen werden. Ihre empirischen Daten sind die vielen verschiedenen Begrifflichkeiten, die sie vorfindet: die sogenannten Meinungen des gesunden Menschenverstandes, der philosophischen und religiösen Tradition, sowie die Theorien und Ergebnisse der vielen Einzelwissenschaften. Philosophie muss daher nach Whitehead konstruktiv und spekulativ sein; ihre Aufgabe liegt darin, durch Konstruktion neuer Begrifflichkeiten eine neue Sicht der Erfahrungswirklichkeit zu erzeugen. Philosophische Begriffe übernehmen bei Whitehead die Funktion von Arbeitshypothesen. 6 Es geht darum, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die Phänomene oder Zusammenhänge sichtbar macht, die mit der gewohnten Begrifflichkeit nicht genügend erfasst werden können. Whitehead war davon überzeugt, dass diese Aufgabe letztlich nur durch die Konstruktion metaphysischer Schemata geleistet werden kann, da das Denken auf niedrigeren Ebenen der Abstraktion zu wenig Anleitung hat, um Distanz zu den geläufigen Vorurteilen partikularer Kontexte zu gewinnen. Unser Denken bewegt sich in alltäglichen, aber auch in vielen ästhetischen und wissenschaftlichen Bereichen in den Bahnen meta4 5 6

Zur Methode vgl. insbesondere das Kapitel I aus Process and Reality sowie das Kapitel XV aus Adventures of Ideas. Vgl. Dewey 1958 (zuerst 1925). Vgl. AI 222.

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physischer Kategorien, die festlegen, was wir beispielsweise unter einem Einzelwesen, unter Leib und Geist, einer Wahrnehmung, einem Gefühl oder einem Gedanken zu verstehen haben. Um solche Denkbahnen als Einengungen des Denkens wahrnehmen zu können, muss man sie im Lichte hypothetischer Alternativen betrachten können. Dabei geht es fur Whitehead nicht in erster Linie um die Frage, welche Beschreibung „zutrifft"; eine abstrakte, konventionelle und langweilige Beschreibung kann ebenso auf unsere Erfahrung „zutreffen" wie eine, die als „Köder" zur Entwicklung neuartiger Erfahrungen dienen kann. Wahrheit bzw. Anwendbarkeit von Ideen auf Erfahrung ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung philosophisch relevanter Begriffe. Der Wert philosophischer Begriffe ist nach Whitehead vor allem daran zu bemessen, wie viel Neuland des Denkens und Fühlens sie uns erschließen.

3. Die Kritik der Gefühle Whitehead entwirft in Process and Reality eine Ontologie und Erkenntnistheorie, mit der er sowohl natürliche Prozesse als auch die Phänomene der Subjektivität beschreiben kann. Die methodischen und begrifflichen Entscheidungen des eigens dafür konstruierten Kategoriensystems hat er leider nur sporadisch erläutert. Im Gegenzug zu einem verbreiteten Bild von der Rolle der Emotionen in der Erfahrung, wonach die Erfahrung mit einfachen, klaren und deutlichen Sinnesdaten beginnt, die dann vom Subjekt zu Vorstellungen von komplexen Gegenständen verbunden, beurteilt und bewertet werden und schließlich subjektive Emotionen auslösen, betont Whitehead die leitende Funktion von Emotionen auf allen Ebenen der Erfahrung. Offenkundig übernimmt der Begriff Gefühl (feeling) hier nicht die Rolle, die er in der Alltags spräche spielt, sondern dient als grundlegender Terminus zur Beschreibung aller Elemente und Faktoren von Erfahrungsprozessen, die gleichzeitig als Modell für die Binnenstruktur natürlicher Prozesse dienen. Whitehead assoziiert den Ausdruck „Kritik der Gefühle" mit der philosophischen Position Kants (PR 113), beansprucht jedoch tiefer zu gehen als dieser, nämlich die VoraussetvQingen von dessen Kritiken — insbesondere die Voraussetzungen der sinnlichen Anschauung — zu untersuchen. Tatsächlich bedeutet Kritik in seinem Zusammenhang Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie mit dem Ziel einer Rekonstruktion der Metaphysik. Whitehead will zeigen, das die Transzendentalphilosophie nicht auf

Whitehead: Kritik der Gefühle

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einer sicheren und unhinterfragbaren erkenntnistheoretischen Basis aufbaut, von wo aus sie die Möglichkeiten und Grenzen von Metaphysik bestimmen kann, sondern vielmehr auf durchaus fragwürdigen methodischen Vorentscheidungen und metaphysischen Annahmen. Gleichzeitig bedeutet sein Ansatz aber auch einen Bruch mit einem modernen Verständnis von Kritik, das vor allem darauf zielt, Grenzen zwischen dem Bereich dessen, was auf argumentativem Wege geklärt werden kann, und einem Bereich des bloß Spekulativen zu ziehen. Für Whitehead gibt es keinen guten Grund, metaphysische Fragen abzuweisen, weil sie nicht endgültig entscheidbar sind. Er plädiert dafür, auf Gewissheitsansprüche zu verzichten und sich mit dem hypothetischen Charakter aller Erkenntnis — auch der metaphysischen — anzufreunden. Das bedeutet keine Rückkehr zu einer sogenannten „dogmatischen" Metaphysik, sondern zu einer Metaphysik, die ihre eigenen Voraussetzungen methodisch mitreflektiert und keine Gewissheitsansprüche erhebt. Whitehead verbindet mit der spekulativen Metaphysik vor allem das intellektuelle Bedürfnis, Zusammenhang in unser Denken und unsere Erfahrung zu bringen, die zwischen der Alltags er fahrung, den wissenschaftlichen Theorien, sowie religiöser und ästhetischer Erfahrung vielfach aufgespalten sind. Wie Leibniz geht er von der Annahme aus, dass Denkweisen, denen viele Menschen anhängen, zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten müssen. Die Frage kann daher nicht lauten, ob eine Denkweise als solche wahr oder falsch ist, sondern für welchen Bereich sie gilt und wo die Grenzen ihrer Anwendung liegen. Die Analyse vorherrschender Meinungen zielt darauf, Missverständnisse hinsichtlich der Reichweite und des Abstraktionsgrades gegebener Auffassungen aufzude-cken und zu korrigieren. Sie erfordert eine Rekonstruktion des Grades an Konkretion und Abstraktion sowohl der Gefühle als auch der Theorien über sie. So rekonstruiert Whitehead mit seiner „Kritik der reinen Gefühle", auf welchen Abstraktionen eine verbreitete Auffassung vom Aufbau unserer Erfahrung basiert, die den Ausgangspunkt der modernen Erkenntnistheorie von Locke bis Kant bildet. Es sind vor allem drei Annahmen, die Whitehead an der modernen Erkenntnistheorie als ballades of Misplaced Concretenes, als Verwechslungen von Abstraktionen mit wirklichen, konkreten ErfahrungsSituationen kritisiert: Erstens die Vorstellung, Erfahrung begänne mit etwas Einfachem, Klarem und Deutlichem, nämlich deutlich unterscheidbaren Erfahrungselementen wie rot oder sauer, die als solche universalen Charakter haben. Zweitens die Vorstellung, dass diese einfachen

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Gegebenheiten auf eine zunächst emotional neutrale Weise erfasst würden (zu der dann erst später emotionale Reaktionen des Subjekts hinzukommen), als sei die Wahrnehmung ein bloßes Abspiegeln von einzelnen Universalien. 7 Und drittens das Verständnis des Wahrnehmungssubjekts als eines Hypokeimenons, eines der Erfahrung immer schon zugrunde Kegenden Wesens, das schon unabhängig von seiner Erfahrung über eine feste Ausstattung an intellektuellen und moralischen Fähigkeiten verfügt, die dann in der Erfahrung lediglich zur Anwendung kommt. Im Gegenzug zu den drei genannten Kritikpunkten möchte Whitehead mit seinen eigenen Kategorien vor allem auf folgende Aspekte der Erfahrung aufmerksam machen: Arstens, dass ein Erfahrungsprozess nicht mit der klaren und deutlichen Unterscheidung von Universalien beginnt, sondern mit undeutlichen und komplexen Emotionen, die zunächst in keiner Weise der Kontrolle eines Subjekts unterliegen. Zweitens, dass es sich nicht um eine emotionsneutrale Erfassung handelt, sondern um einen ursprünglich emotionalen Vorgang, aus dem sich dann durch komplexe innere Prozesse der Erfahrungsanalyse und -transformation so etwas wie Bewusstsein von einzelnen Gegebenheiten entwickelt. Und drittens versteht Whitehead das Erfahrungssubjekt nicht als ein Wesen außerhalb und unabhängig von seiner jeweiligen Erfahrung. Es ist nichts anderes als seine jeweilige Erfahrung, gedacht als ein Prozess, in dem viele Emotionen zusammenkommen und dabei eine je einzigartige momentane Erfahrungseinheit bilden, die weiter in die Zukunft wirkt. Gefühle sind bei Whitehead nicht nur — als primitive physical feelings — die ursprünglichen Elemente der Erfahrung; sie spielen auch eine wegweisende und orientierende Rolle auf weiteren Erfahrungsstufen bis hin zum emotional gestalteten Bewusstsein. Als unerlässliche „affektive Tönung" aller Erfahrungselemente übernehmen sie die Rolle des ständigen Begleiters, die Kant und Locke dem Selbstbewusstsein zugeschrieben hatten. In Whiteheads Metaphysik treten also Subjektivität und Bewusstsein, die in den modernen Erkenntnislehren mit Ausnahme der Leibniz'schen nahezu synonym waren, weit auseinander. Gefühle sind notwendige Voraussetzungen von Bewusstsein, aber Bewusstsein ist keine Voraussetzung des

7

Whitehead hat hier vor allem neuzeitliche Autoren wie Locke und Hume im Sinne; allerdings scheint sich heute die von ihm vertretene Vorstellung, dass den bewussten und komplexen Emotionen primitive, nichtkognitive Formen von Emotionen zugrunde liegen, sogar bei Vertretern einer kognitivistischen Theorie der Emotionen durchgesetzt zu haben; vgl. Solomon 2003, 2.

Whitehead: Kritik der Gefühle

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Fühlens, sondern ein Sonderfall: „Consciousness is the crown of experience, only occasionally attained, not its necessary base." (PR 267) Whiteheads Analyse der Rolle von Stimmungen und Gefühlen in der Erfahrung geht — nicht ganz unähnlich der nahezu gleichzeitig entwickelten Existentialontologie Martin Heideggers — von der Überlegung aus, dass der Erfahrungsbegriff des modernen Empirismus nicht weniger als der sogenannte Rationalismus viel zu abstrakt ist, um konkrete Erfahrung zu beschreiben. Erfahrung ist nach Whitehead gar nicht zu begreifen, wenn wir unter Gefühlen primär komplexe Gefühle wie Scham oder Missgunst verstehen, die kognitive Einschätzungen von Situationen und Werturteilen voraussetzen, und gegenüber denen Sinneswahrnehmung und primäre Formen des Begreifens viel primitivere Erfahrungsweisen darzustellen scheinen. Damit werde die Erfahrung auf den Kopf gestellt: Wir nehmen die Welt ursprünglich weder durch reine Sinnesempfindungen, noch durch Vernunftschemata wahr, sondern durch basale Formen der Emotionalität, auf denen dann alle weiteren Formen aufbauen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der „Stimmung", die uns ursprünglich die Welt erschließt: „Ein reines Anschauen, und dränge es in die innersten Adern des Seins eines Vorhandenen, vermöchte nie so etwas zu entdecken wie Bedrohliches." 8 Und ebenso wie Heidegger versteht Whitehead die basale Emotionalität nicht als einen „Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt" 9 . Es ist umgekehrt: „[The] basic fact is the rise of an affective tone originating from things whose relevance is given." (AI 176) Wenn Whitehead sagt, die Emotion ginge ursprünglich nicht von uns, sondern von den Dingen aus, so ist dies durchaus wörtlich gemeint. Whitehead versteht die Gefühle nicht als rein geistige, mit unserer menschlichen Natur verbundene innerpsychische Funktionen. Primary physical feelings sind mehr von den Dingen bewirkt als selbstgestaltet. Whitehead bezieht sich hier vor allem auf unbewusste Emotionen. Phänomenal können wir uns dies wohl am ehesten am Beispiel einer Emotion vor Augen führen, bei der nicht wie im Falle von Scham oder Empörung ein Werturteil und somit die geistige Reflexion die entscheidende Rolle zu spielen scheint, sondern ein körperlicher Vorgang, der uns mit der Außenwelt verbindet. Ein typischer Fall ist die Angst, die bei einem Erdbeben entstehen kann, noch bevor die Person überhaupt auf die Idee kommt, dass ihr 8 9

Heidegger 1958 (zuerst 1927), 138. Heidegger 1958, 137.

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Zustand Ursachen hat, und dass diese Ursache ein Erdbeben ist. So kommt es beispielsweise in Erdbebengebieten vor, dass jemand nachts mit einem wachsenden Angstgefühl erwacht, das immer unerträglicher wird, bis ihm erst Minuten später durch leichte Erschütterungen deutlich wird, dass es sich um ein Erdbeben handelt. Für Whitehead stellen solche Emotionen keinen Sonderfall dar, sondern sind eher typisch für das, was die Masse unserer emotionalen Erfahrung ausmacht. Dass sie als Sonderfálle erscheinen, liegt nur daran, dass sie selten die alles überflutende Aufdringlichkeit annehmen, die typisch für die Angst vor einem Erdbeben ist und die schließlich dazu führt, dass wir eine sehr deutliche Vorstellung von der Angst selbst entwickeln. Nun sind wir gewohnt, ein Erdbeben als ein „physikalisches" Ereignis anzusehen, das keinerlei Ähnlichkeit mit einem „mentalen" Ereignis wie einem Gefühl der Angst aufweist. Das wirft die Frage auf, wie sich die Qualität unserer Angst zu den physikalischen Qualitäten des Erdbebens verhält, und wie überhaupt die Beziehung von Ereignissen wie meinem Angstzustand zu physikalischen Vorgängen zu verstehen ist.

4. Wirklichkeit als Prozess des Fühlens Schon in seinen früheren Schriften 10 hatte Whitehead den Anspruch erhoben, die Common-Sense-Auffassung von der Natur in einen Zusammenhang mit jener der Naturwissenschaften zu bringen, d. h. die Röte des Feuers in Relation zu den Molekülen und Elektronen der Naturwissenschaften zu beschreiben und dadurch die Aufteilung der Natur in einen objektiven Bereich, der der mathematisch verfahrenden Physik zugänglich ist, und einen „nur" subjektiven Bereich, der durch die menschlichen Sinne, Emotionen und Wertungen entsteht, zu überwinden. Whitehead versucht dieses Problem auch noch in Process and ~Reality mit dem hochkomplexen metaphysischen Kategoriensystem zu lösen, das im Unterschied zu den naturphilosophischen Schriften wesentlich auf einer Subjektivitätstheorie aufbaut. Seine komplexe Mikroweit der „Fühlungen" und „Erfassungen" bewegt sich ungefähr auf derselben spekulativen Abstraktionsebene wie die Leibniz'sche Monadologie; sie ist ihr auch insofern ähnlich, als mit ihr die gesamte Natur einschließlich des Menschen im Ausgang von Innenperspektiven der Erfahrung beschrieben werden kann. Letzte Einheilt)

Vgl. Whitehead 1919, 1920 und 1922.

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ten sind sogenannte actual occasions oder Elementarereignisse, die Whitehead als Prozesse des Fühlens beschreibt Dabei ist zu berücksichtigen, dass seine Verwendung der Ausdrücke emotion (Emotion) und feeling (Gefühl) nicht ganz dem deutschen Sprachgebrauch entspricht. Während wir den Ausdruck „Emotion" eher für den komplexen Prozess verwenden, der auf verschiedenen physischen und psychischen Ebenen ablaufen kann, steht der Ausdruck Gefühl mehr für die subjektiven Aspekte dieses Vorgangs: wie sich eine solche Emotion für jemanden anfühlt. Whitehead hingegen verwendet den Begriff feeling synonym zu positive prehension. Neben den feelings gibt es auch negative prehensions, durch die etwas von der Wahrnehmung ausgeschlossen wird. Feelings haben in seiner Metaphysik sowohl eine objektive als auch eine subjektive Seite. D. h. ich kann denselben Vorgang sowohl als Einwirkung eines Ereignisses auf mich, als auch als meine Wahrnehmung von etwas beschreiben, so wie ich die Angst gleichzeitig als einen physischen Erregungszustand und als eine spezielle Gefühlsqualität, die ich wahrnehme, beschreiben kann. Whitehead kehrt hier unsere gewohnte Vorstellung vom Subjekt und seinen Erfahrungen auf viel radikalere Weise um, als dies bei Heidegger geschieht, der in seiner Konzentration auf die Perspektive des jeweiligen Daseins immer noch stark in den Bahnen der modernen Subjektivitätsphilosophie verharrt. Er bestreitet nicht nur, dass es ein vor seinen Gefühlen existierendes Subjekt gibt, das dann Wahrnehmungen „hat", die in Kombination mit verschiedenen Urteilen Emotionen auslösen. Tatsächlich entsteht das Subjekt bei Whitehead erst aus den Gefühlen seiner unmittelbaren sozialen Umgebung, in dem es diese symbolisch transformiert: „My process of being myself is my origination from my possession of the world." (PR 81) Subjekt sein bedeutet also nicht, etwas der Erfahrung zugrunde liegendes zu sein — ein Mjpokeimenon bzw. eine Substan^. Zwar hängt mein je gegenwärtiges Erfahren kausal mit meiner Vergangenheit als Person zusammen, aber daraus folgt nicht, dass die gewohnten Weisen der Person, auf ihre Umwelt zu reagieren, stets andere kausale Einflüsse dominieren. Subjektivität wird weder durch allgemein-menschliche Fähigkeiten, noch durch die wirkliche historische Personalität vorentschieden. Ein je gegenwärtiges Ereignis ist Subjekt, insofern es als Ganzes auf seine Teile zu-

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rückwirkt und dabei eine Möglichkeit ^u sein realisiert, die nicht in den Teilen als solchen enthalten war. 11 Whiteheads Subjekt ist damit keine bloße Addition von feelings, sondern ein komplexer Prozess ihrer Synthese und Transformation. Dabei unterscheidet er zwischen einem physischen und einem mentalen Pol des Ereignisses. Mit „physisch" ist nicht das Körperliche im Unterschied zum Geistigen gemeint, sondern das faktisch Vorgegebene schlechthin. Der physische Pol bezeichnet die Wirksamkeit der Vergangenheit in dem je gegenwärtigen Ereignis, das stets an ein früheres Geschehen anschließt und durch dieses in seinen Möglichkeiten weitgehend, aber nie vollständig, vorentschieden ist. Unter dem mentalen Pol hingegen versteht Whitehead den Bezug des Ereignisses zu Möglichkeiten des Seins, die nicht in der unmittelbaren Vergangenheit vorgegeben sind. Als Ich-hier-jetzt-Ereignisse sind Subjekte nie rein selbstbezogen. Indem sie einen bestimmten Charakter annehmen, entwerfen sie stets eine bestimmte Zukunft.

5. Die Kultivierung der Emotionen Whiteheads Metaphysik kann als eine Naturalisierung der Subjektivität verstanden werden, geht jedoch auch auf ethische, religionsphilosophische und kulturtheoretische Quellen zurück. Einige Kritiker haben moniert, Whiteheads Ansatz würde zu wenig von dem enthalten, was wir mit Subjektivität verbinden — Moralität, freier Wille, Autonomie, Distanzierungsfáhigkeit etc.12 Tatsächlich weist die Person in Whiteheads Metaphysik nur eine relativ schwache Identität über die Zeit auf, und sie stellt auch nur eine Grundlage des Subjekts — des momentanen Zusammenwachsens iconcres11

Hier steht Whiteheads Subjektbegriff in der Tradition von Lockes Substanzkritik und den Ansätzen von William James und Ernst Mach um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert: „Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen) [.. J Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt ... Aus den Empfindungen baut sich das Subjekt auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfindungen reagiert ... Genügt uns die Kenntnis des Zusammenhangs der Elemente (Empfindungen) nicht, und fragen wir, ,wer hat diesen Zusammenhang der Empfindungen, wer empfindet?', so unterliegen wir der alten Gewohnheit, jedes Element (jede Empfindung) einem unanalysierten Komplex zuzuordnen [...]." (Mach 1991 (zuerst 1886), 19ff.)

12

Vgl. Bennett 1973; Gentry 1944; Pols 1967; Rapp 1990.

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cencè) von Emotionen — dar, dessen Erfahrung auch von weiteren sozialen Faktoren geprägt wird. Zudem werden die moralischen Vermögen, die wir uns zuzuschreiben gewohnt sind, unter whiteheadschen Gesichtspunkten nicht als selbstverständliche Grundausstattung menschlicher Subjekte thematisiert. Der Spielraum an Autonomie, der einem individuellen Erfahrungsereignis zur Verfügung steht, ist für jedes Ereignis anders. Die Rolle, die in der auf Augustinus zurückgehenden Tradition der freie Wille übernimmt — das Richten der Aufmerksamkeit auf einen Gedanken oder eine Wahrnehmung — übernehmen bei Whitehead die Emotionen selbst. Mit Blick auf die internen Prozesse der Reflexion und Transformation der Gefühle spricht Whitehead gleichwohl vom mbject-mperject als Träger von moralischer Verantwortung: [Since] the subject is what it is in virtue of its feelings, it is only by means of its feelings that the subject objectively conditions the creativity transcendent beyond itself. In our own relatively high grad of human existence, this doctrine of feelings and their subject is best illustrated by our notion of moral responsibility. The subject is responsible for the consequences of its existence because they flow from its feelings. (PR 222)

Wie kann jedoch ein Subjekt für einen Prozess verantwortlich sein, in dem es als bestimmtes Wesen überhaupt erst entsteht? Es repräsentiert sozusagen nach außen das Gelingen oder Misslingen eines Prozesses, dessen subjektives Ziel darauf ausgerichtet ist, die verschiedenen Gefühle so zu integrieren, dass eine intensive, aber zugleich reichhaltige und differenzierte Erfahrung möglich ist: „The subjective aim, whereby there is origination of conceptual feeling, is an intensity of feeling (a) in the immediate subject, and (b) in the relevant future." (PR 277) Whitehead formuliert diese Aufgabe auch als eine der möglichst differenzierten Erfassung der Umgebung, indem die anfänglichen Emotionen {primary physical feelings) hinsichtlich ihrer Qualitäten und Werte (der in den subjective forms implizierten eternal objects) analysiert (conceptual valuation), in Beziehung gesetzt und evtl. transformiert werden (category of transmutation). Jede einzelne Erfahrung, so Whitehead, ordnet die erfahrene Umgebung gemäß ihrer Wichtigkeit: Feeling is the agent which reduces the universe to its perspective for fact [...] we are aware of grading the effectiveness of things about us in proportion to their interest. In this way, we put aside, and we direct attention, and we perform necessary functions without bestowing the emphasis of conscious attention. (MT lOf.)

Der Prozess des Fühlens hat die Aufgabe, Werte zu erfassen und sie in eine Proportion zu setzen, die es erlaubt, das Wichtigere vom Unwichtigen zu unterscheiden und entsprechend zu handeln. Dies kann durch

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Elimination aller Bestimmungen geschehen, welche der Konzentration auf die Qualitäten und Werte gewisser momentan dominanter Emotionen im Wege stehen. So wird der leichte Schmerz, den die Gegenstände in den Wahrnehmungsorganen auslösen, vom Bewusstsein ausgeschlossen, das das visuelle Bild eines einfachen Gegenstandes vorstellt, der durch bestimmte Sinnesqualitäten charakterisiert ist. Durch die Einengung der Aufmerksamkeit steigert sich die Erfahrungsintensität. Reichhaltiger hingegen wird sie dadurch, dass verschiedene Bestimmungen in Kontrast zueinander gesetzt werden. So muss ich zwar vom Schmerz in den Augen absehen, um mich auf den visuellen Gegenstand zu konzentrieren, kann jedoch die Schmerzempfindung evtl. durch meditative Praktiken ins Bewusstsein zurückrufen. Auch auf der Ebene des Empfindens finden Prozesse der Verfeinerung und Differenzierung durch Kontrastbildung statt, wie bei einem Weintrinker, der einen noch ungewohnten Wein erst nur als trocken empfindet und nach einer Weile viel mehr Nuancen differenzieren kann. Auf der Fähigkeit zur intensiven, aber auch zur differenzierten Wahrnehmung basiert das moralische Leben. Whitehead hat sich zu moralischen Fragen kaum direkt geäußert, aber sein Kategoriensystem ist auf sie in derselben Weise anwendbar wie auf erkenntnistheoretische Probleme. Normative Fragen des guten oder schlechten Lebens und Handelns müssen sich im whiteheadschen Rahmen jeweils auf einen Kontext und die in diesem Kontext überhaupt möglichen Ideale beziehen. Ihre subjektive Dimension kann einerseits als Problem der emotionalen Sensibilität in der Analyse erlebter Emotionen, andererseits als Problem ihrer Kultivierung erörtert werden. Dabei geht Whitehead nicht von einer an und für sich bestehenden Ordnung der relativen Wichtigkeit von Werten aus, sondern bezieht sie auf das, was einem Wesen überhaupt emotional und kognitiv erfassbar ist — er nennt dies sein subjektives Ziel. Dieses fällt nicht mit dem zusammen, was das momentane Ereignis tatsächlich realisiert, sondern stellt ein Ideal dar, das über die Wirklichkeit hinausreicht — das jeweilige Optimum an kultivierter Erfahrung, das unter gegebenen Bedingungen für es realisierbar ist. Hier ist der Einfluss der individualistischen Religionsphilosophie von Williams James deutlich spürbar, der den Grad an Autonomie und Kreativität für jedes Individuum anders ansetzt: „There are higher and lower limits of possibility set to each personal life." 13

13 James 1982 (zuerst 1902), 239.

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In subjektiver Hinsicht geht Whitehead nicht von einem speziell moralischen Vermögen aus, sondern fragt eher nach den Voraussetzungen dafür, konkrete Situationen so wahrzunehmen, dass sie moralische Probleme aufwerfen. Wie Spinoza verzichtet er ganz auf die Annahme eines Vermögens der Willensfreiheit und führt stattdessen eine Begrifflichkeit ein, die geeignet ist, die moralisch relevanten Dimensionen des Gefühlslebens zu erfassen: Das Entstehen von Emotionen, der Zwang, der von ihnen auf das je gegenwärtige Subjekt ausgeübt wird, die Möglichkeiten des Subjekts, darauf zu reagieren, und die Folgelasten der entsprechenden Strategien. Gutes und schlechtes Handeln ergibt sich aus der Wahrnehmung von Emotionen bzw. von Prozessen der Integration von Emotionen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die negative Prehension, die Ausblendung von Gefühlen aus der bewussten Erfahrung bis hin zur totalen emotionalen Betäubung. Negative Prehensionen haben in allen Erfahrungsprozessen eine unerlässliche Funktion der Vorselektion, denn würde die gesamte Umgebung in allen Details wahrgenommen werden, hätte man keine Erfahrung, sondern nur eine triviale Vielheit ohne Ordnung und ohne Möglichkeit, die Aufmerksamkeit zu fixieren. Wenn umgekehrt zu viel negativ erfasst wird, entsteht das umgekehrte Problem einer zwar geordneten, aber engen Erfahrung, die nur einen extrem einseitigen Zugang zu Tatsachen und Werten erlaubt. Das Problem der Kultivierung der Gefühle liegt vor allem darin, Konflikte nicht durch negative Prehensionen, sondern durch Kontrastbildung zu lösen, sodass auf den höheren und bewussteren Erfahrungsebenen nicht nur einzelne dominante Themen, sondern verschiedene Erfahrungselemente in ihrer relativen moralischen und ästhetischen Bedeutung erfasst werden können. Betrachten wir beispielsweise drei Personen, die U-Bahn fahren und einen Sitz ergattert haben, während andere stehen müssen. Einer davon nimmt das gar nicht wahr. Ein anderer, der zufällig aufschaut, stellt fest, dass vor ihm eine Frau mit zwei sehr vollen Einkaufstüten steht.14 Dass die Frau sehr müde ist und sich in der schaukelnden Bahn sehr anstrengen muss, damit die Taschen nicht umfallen, bemerkt er jedoch nicht. Für den dritten Passagier ist ihre schwierige Situation jedoch auffällig, sogar so sehr, dass er etwas spürt, das ihn veranlasst aufzublicken. Dass die ersten beiden Personen nichts tun und die dritte ihren Platz anbietet, ergibt sich nicht aus einem unabhängig von der konkreten Wahrnehmungs situation 14

Es handelt sich hier um eine veränderte Version eines Beispiels von Blum 1994, 3 Iff.

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gut oder schlecht eingestellten Willen, sondern folgt aus ihren Wahrnehmungen. Die ersten beiden haben nichts wahrgenommen, während für die dritte die missliche Lage der Frau so auffällig war, dass sie sich direkt auf ihr eigenes Verhalten auswirkte. Das erfordert eine bestimmte Art des „Fühlens"; es geht nicht nur um die Erfassung situativer Gegebenheiten wie: Frau, ca. 35 Jahre alt, Einkaufstaschen; diese Details hatte auch die zweite Person wahrgenommen, ohne dass sie ihr „etwas sagten". Sie hatte offenbar die Qualität des Unbehagens, das von der Frau ausging, negativ erfasst und die Wahrnehmung so transformiert, dass lediglich gewisse emotional neutrale Sinnes daten (in Whiteheads Terminologie der Modus der presentational immediacy) zu Bewusstsein kommen. Deshalb kann sich die Frage, ob es „richtig", „gut" oder angebracht wäre, den eigenen Platz anzubieten, in dieser Situation gar nicht stellen — eine Frage, welche die allermeisten Moralphilosophien zu beantworten suchen. Solche Beispiele zeigen, dass zum Verständnis auch der moralischen Dimension von Handlungen und Unterlassungen die Fähigkeit berücksichtigt werden muss, affiziert zu werden und die eigenen Emotionen differenziert wahrzunehmen. Es geht daher aus whiteheads eher Perspektive an dem eigentlichen moralischen Problem vorbei, die Frage, ob ein Wesen oder eine Handlung gut oder böse ist, auf den sogenannten Willen der Person zurückzubeziehen; das Problem fängt nicht erst mit dem bewussten Wollen an, sondern viel früher mit der Kultivierung bzw. Integration der Emotionen,15 Für Whitehead liegt das Schlechte oder Böse nicht in dem Haben von Emotionen oder Gefühlen, die „an sich" schlecht wären, sondern in der Ausblendung von Wertvollem, wenn es nämlich nicht gelingt, konfligierende Emotionen so weit zu transformieren, dass sie beide wahrgenommen und in ihrer relativen Wichtigkeit differenziert erfasst werden können. Nun wäre es nicht ganz angebracht, auf die mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit der U-Bahnfahrer den starken Begriff des Bösen anzuwenden. Was Whitehead meint 16 , lässt sich vielleicht am besten am Beispiel von Unterlassungen verständlich machen, denen ein Konflikt von Normen zugrunde liegt, der schlecht gelöst wird, nämlich indem eine Emotion, die wichtige normative Ansprüche vermittelt, aufgrund ihres Konfliktes mit einer anderen momentan dominanten Emotion ausgeblendet 15 16

Vgl. Lachmann 1994, 136. Whitehead verwendet den Begriff des Bösen allerdings nicht einheitlich. Zu den verschiedenen Aspekten vgl. Hauskeller 1994, 150f.

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wird. Im Unterschied zu dem obigen Beispiel, wo eine bestimmte Emotion, die man empfängt, schon in einem frühen Stadium des Erfahrungsprozesses „negativ prehendiert" wird, liegt das Böse in der relativen Gewichtung und Bewertung von Anliegen, die durchaus bewusst wahrgenommen, aber in ihrem Wertgehalt nicht adäquat repräsentiert werden. Erinnern wir uns an die berühmten Experimente des Psychologen Stanley Milgram in den sechziger Jahren. Am Beispiel von Menschen, die durch eine wissenschaftliche Autorität angewiesen werden, anderen schmerzhafte bis lebensgefährliche Stromstöße zu versetzen, die angeblich für wissenschaftliche Forschungen erforderlich seien, hatte dieser gezeigt, dass das Verhalten von Personen in bestimmten sozialen Kontexten nicht dem entspricht, was sie selbst aus einer reflektierten Beobachterperspektive für richtig halten würden. Die Werte der Kooperation und der Einlösung von Verpflichtungen werden von uns zweifellos für weniger wichtig gehalten als das Tabu, andere Menschen zu quälen oder gar lebensgefährlich zu verletzen. Aus einer Beobachterperspektive ist der Normenkonflikt also leicht zu lösen. In der Situation dominierten jedoch offenbar der emotionale Einfluss, der mit der Autorität des Versuchsleiters und den von ihm repräsentierten wissenschaftlichen Werten verbunden war, sowie die sozialen Normen der Kooperativität und Pflichterfüllung über das von den Teilnehmern durchaus wahrgenommene und auch emotional mitempfundene Leiden der Opfer. Der höhere und wichtigere normative Anspruch kam also durchaus zu Bewusstsein, wurde aber in der Situation aufgrund des dominanten Einflusses nicht als höherer und wichtigerer Anspruch geltend gemacht. 17 Fassen wir zusammen: Moralische Fragen erscheinen im Whiteheadschen Rahmen nicht primär als Fragen nach der allgemeinen Geltung von Normen bzw. ihren Begründungen, sondern als Fragen der emotionalen Sensibilität und der emotionalen Kultiviertheit, relativ zu den Möglichkeiten eines bestimmten sozialen Umfeldes. Das moralische Ziel liegt vor allem darin, Emotionen nicht andere Emotionen einfach verdrängen zu lassen, sondern sie mit Blick auf ihre eternal objects, ihre jeweiligen idealen Gegenstände (Werte, Qualitäten) zu analysieren, damit sie in Beziehung gesetzt und in ihrer relativen Bedeutung bewertet werden können. Wer davon überzeugt ist, dass es in der Moral wesentlich um die Geltung unpersönli17

Bezeichnenderweise hing das Verhalten der Versuchspersonen auch stark von der relativen Nähe und Ferne zum Versuchsleiter und zum Opfer ab.

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cher Regeln oder Pflichten ginge, wird hiermit wenig anfangen können. Wenn wir hingegen unsere Erfahrung im Lichte der whiteheadschen Kategorien interpretieren, dann kommt es in der Ethik weniger auf die intellektuelle Einsicht in das Gute oder seine Begründung an, sondern auf die deutliche Erfassung, Aneignung und relative Gewichtung der Emotionen im Lichte der Wertordnung, die durch das jeweilige subjektive Ziel ausgedrückt wird.

Literatur Whiteheads Schriften werden, mit Ausnahme von Process and Reality, nach den amerikanischen Ausgaben zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: AI PR MT

Adventures of Ideas Process and Reality Mocks of Thought

Bennett, John B. (1973), A Whiteheadian Theory of the Agent Self, in: Philosophy Today, XVII. Blum, Lawrence (1994), Moral Perception and Ρarticulant)·, Cambridge. Dewey, John (1958, zuerst 1925), Experience and Nature, New York. Gentry, George (1944), The Subject in Whiteheads Philosophy, in: Philosophy of Science XI. Hauskeller, Michael (1994), Alfred North Whitehead %ur Einführung, Hamburg. Heidegger, Martin (1958, zuerst 1927), Sein und Zeit, Tübingen. James, William (1982, zuerst 1902), The Varieties of Religious Experience, New York. Lachmann, Rolf (1994), Ethik und Identität, Freiburg. Mach, Ernst (1991, zuerst 1886), Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen %um Psychischen, Darmstadt. Pols, Edward (1967), Whiteheads Metaphysics. Critical Examination of Process and Reality, Illinois. Rapp, Friedrich (1990), Das Subjekt in Whiteheads kosmologischer Metaphysik, in: Helmut Holzhey/Alois Rust/Reiner Wiehl (Hg.), Natur, Subjektivität, Gott. Zur Pro^essphilosophie A. N. Whiteheads, Frankfurt a. M, 143—168. Solomon, Robert C. (2003), What is a „Cognitive Theory of the Emotions", in: Anthony Hatzimoysis (Hg.), Philosophy and the Emotions, Cambridge, 1—18. Whitehead, Alfred North (1978, amerik. zuerst 1929), Process and Reality. Entwurf einer Kosmologie, Gifford Lectures (1927-28), New York (= PR). — (1961, zuerst 1933\ Adventures of Ideas, New York (= AI). - (1966, zuerst 1938), Modes of Thought, New York (=MT).

Max Scheler (1874-1928)

Scheler: Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann Kevin Mulligan Schelers Anatomie des Herzens ist, neben derjenigen seines Zeitgenossen Shand, die gründlichste, die das zwanzigste Jahrhundert vorzuweisen hat. Sie ist aufs Engste mit einer Ontologie, einer Metaphysik, einer Erkenntnis· und Wahrnehmungslehre, einer Wert- und Normenlehre, einer Analyse des Strebens, Uberlegens, Wählens und Handelns, einer Sozialphilosophie und einer Anthropologie verwachsen. Aufgrund der deskriptiven Klarheit und Vielfalt, die sie über weite Strecken, wenn auch nicht durchwegs, auszeichnet, kann sie aber auch unabhängig von diesen Verbindungen betrachtet werden. Zu den Hauptkapiteln von Schelers Anatomie des Emotionalen gehören analysierende Beschreibungen von Ächtung, Angst, Appetit, Aufmerksamkeit, Bedauern, Befriedigung, Demut, Ehrfurcht, Eigenliebe, Einsfühlung, Ekel, Erbarmen, Freude, Fremdliebe, Fühlen, Furcht, Gegenliebe, Genuss, [das] Glauben an, Glück, Hass, Heiterkeit, Hochmut, Interesse, Interesse nehmen, Kitzelempfindungen, Leid, Lust, Menschenliebe, Mitgefühl, Nachfühlen, Ressentiment, Reue, Rührung, Scham, Schamgefühl, Schmerz, Schuldgefühl, Selbstliebe, Sehnen, Seligkeit, Sorge, Staunen, Stolz, Sympathie, Traurigkeit, Überraschung, Unglück, Verachtung, Verlegenheit, Verwunderung, Verzweiflung, Vorfühlen, Vorziehen, Widerhass, Wollust und Zorn. Es gibt eine bekannte Auffassung, wonach Gefühle psychologische oder geistige Episoden sind, an denen sich zwei Seiten unterscheiden lassen, eine affektive und eine intellektuelle oder wahrnehmungs-, erinnerungs- oder erwartungsmäßige, wobei die affektive Seite die intellektuelle oder wahrnehmungsmäßige voraussetzt. Dieser Auffassung zufolge ist z. B. Sams Bewunderung für Marias Tat eine affektiv gefärbte Wahrnehmung ihrer Tat oder ein affektiv gefärbtes Urteil darüber. Was er bewundert ist das, was seine Wahrnehmung vor- oder sein Urteil darstellt. Ungefähr diese Auffassung von Gefühl findet man bei Brentano und vielen

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seiner Erben (Husserl, Meinong, Stumpf), in der analytischen Philosophie des Geistes und in der Psychologie. (Diese Auffassung wird manchmal die „kognitive" Gefühlstheorie genannt.) Eine Variante dieser Auffassung betrachtet nicht nur Episoden als Gefühle, sondern auch oder vor allem die Dispositionen zu solchen Episoden. Meistens wird überdies angenommen, dass Gefühle, (vielleicht) zusammen mit Gefühlsempfindungen und Stimmungen, das emotionale Leben ausmachen. Diese Auffassung lehnt Scheler ab. Er gliedert das „emotionale Leben" (GW 2, 267, 332) in zwei Kategorien: die erste umfasst Liebe, Hass, Fühlen und eine bestimmten Art von Vorziehen, die zweite die Gefühle. Dabei hängt, was zur zweiten Kategorie gehört, auf verschiedene Arten und Weisen von dem ab, was zur ersten Kategorie gehört. Die fundamentale Scheidung zwischen diesen zwei Kategorien bildet die Grundlage für Schelers Philosophie der Person, des Geistes, des Ethos und der Gesinnung, sowie seiner Analyse des Verhältnisses zwischen theoretischer und praktischer Rationalität. Die erste dieser Kategorien zeichnet sich gegenüber der zweiten dadurch aus, dass sie eine innige und vielfältige Beziehung zur Erkenntnis hat. Schelers Vorliebe für Pascals „Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point" kann in die Irre führen. Wer heute über Gründe und Rechtfertigungen philosophiert, meint nicht immer, dass jemandes Erkenntnisse die besten oder alleinigen Gründe seines Glaubens, Begehrens, Handelns oder Bewunderns bilden. Dies ist aber die Meinung Schelers und anderer Phänomenologen. Auch wer diese Meinung teilt, wird selten glauben, es gäbe eine spezifische affektive Art, Werte zu erkennen. Genau dies jedoch glaubt Scheler. Für ihn stellen sowohl das Fühlen als auch das apriorische Vorziehen einen kognitiven Zugang zu den Werten und zu den Werteigenschaften von Gegenständen und Sachverhalten dar. Gefühle aber sind nie Werterkenntnisse und auch keine Wertwahrnehmungen. Im Folgenden soll Schelers Auffassung des Werterkennens, des Zusammenhangs zwischen Liebe und Erkenntnis, der Gefühle und der Gefühlswahrnehmung erläutert werden. Der Zusammenhang zwischen Erkenntnis und dem Herzen ist auch der Schlüssel zum Verständnis von Schelers ausführlichsten Detailanalysen — von Scham, Ehrfurcht, Leid, Ressentiment, Sympathie und Reue — worauf hier nicht eingegangen wird.1 1

Zur Scham: GW 10, 65-154. Vgl. dazu Bollnow 1947, 83ff.; Rutishauser 1969; Landweer 1999. Zur Ehrfurcht: GW 3, 26-32. Vgl. dazu Bollnow 1947. Zum Leid: GW 6, 36-72. Vgl. dazu Diederichs 1930. Zum Ressentiment: GW 3, 3 3 148. Vgl. dazu Ranulf 1938. Zur Sympathie: GW 7. Vgl. dazu Michalski 1997.

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Í. Werterkenntnisse versus Gefühle Das Werterkennen (GW 2, 105, 178) oder die Werterfahrung (GW 2, 329) ist entweder eine Art von Fühlen oder eine Art von Vorziehen. Im ersten Fall werden Wertqualitäten und Werte gefühlt. Ein solches Fühlen ist kein Wahrnehmen, kein Urteilen, kein begriffliches Erfassen, sondern ein prälogisches Erfassen, das in verschiedenen Graden von Adäquatheit vorkommen kann (GW 2, 182, 87). Das Fühlen eines Wertes ist aber auch nicht zu verwechseln mit dem Fühlen eines Gefühls. Da es sich nicht um Urteilen handelt, ist Täuschung im Wertfühlen kein Irrtum (GW 2, 88). Das apriorische Vorziehen bezieht sich demgegenüber auf die Beziehungen zwischen Werten und Wertqualitäten. Diese stehen zueinander in inneren Beziehungen des Höher- und Niedrigerseins, so wie Farben und Farbqualitäten in inneren Beziehungen der Helligkeit stehen. Im apriorischen Vorziehen erkennen wir das Höhersein eines Wertes in Bezug zu einem anderen. Im empirischen Vorziehen ziehen wir ein Gut einem anderen vor. Ein apriorisches Vorziehen „umspannt immer zugleich ganze (unbestimmt große) Güterkomplexe" (GW 2, 105; vgl. GW 2, 265f., GW 1, 384f., GW 10, 366). So wie es eine Täuschung im Fühlen geben kann, kann es sie auch im Vorziehen geben (GW 2, 105). Heute wird das Vorziehen meistens als eine Beziehung zwischen Personen einerseits und Handlungen, Sachverhalten oder Ergebnissen von Handlungen (outcomes) andererseits aufgefasst. Schelers apriorisches und empirisches Vorziehen dagegen sind Beziehungen zwischen Personen und Gegenständen. Das Wählen zwischen einem Tun und einem anderen Tun sei überhaupt kein Vorziehen (GW 2, 105; GW 7, 156), das apriorische Vorziehen sei kein Wählen (GW 2, 265, 57, 62; GW 7, 156). Das Fühlen von Werten ist im Vorziehen, respektive Nachsetzen, fundiert (GW 2, 106f.; Scheler behauptet aber auch das Gegenteil — vgl. GW 2, 265). Zum Fühlen und Vorziehen sagt Scheler: „Alles Verhalten Zur Reue: GW 5, 27-60. Zu Schelers Gefuhlslehre vgl. Rutishauser 1969. Viele Erben von Brentano haben Gefühlsanalysen vorgelegt, Nicht-Phänomenologen wie Stumpf, Marty, Meinong, Ehrenfels, Stephan Witasek, Robert Saxinger, Ernst Schwarz, Nicolai Hartmann und Karl Duncker und Phänomenologen wie Husserl, Pfänder, Reinach, Ingarden, Else Voigtländer, Moritz Geiger, Edith Stein, Dietrich von Hildebrand, José Ortega y Gasset, Kurt Stavenhagen, Aurel Kolnai, Otto Friedrich Bollnow, Kurt Reizler. Die Analysen der Phänomenologen sind oft stark von Scheler beeinflusst. Für eine ausgezeichnete Ubersicht und Bewertung der phänomenologischen Emotionsanalysen einschließlich der schelerschen Lehre vgl. Vendrell Ferran 2008.

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zur Welt überhaupt [...] ist [...] primär ein emotionales und »«-/nehmendes Verhalten" (GW 2, 206). Das Wertfühlen und das apriorische Wertvorziehen sind keine Urteile, sondern anschauliche Zugänge zu einer Vielfalt von material verschiedenen sittlichen und nicht-sittlichen Wertqualitäten sog. thick values— wie ζ. Β. angenehm, vornehm, großmütig, gerecht usw.: [E]in Kind spürt der Mutter Güte und Sorge, ohne irgendwie die Idee des Guten erfaßt zu haben und mit zu erfassen — sei es auch so vag wie immer. Und wie häufig fühlen wir an einem Menschen, der unser Feind ist, eine schöne sittliche Qualität, während wir in der Bedeutungssphäre bei unserer alten negativen Beurteilung seiner bleiben — so daß die Erscheinung jener schönen Qualität, ohne unsere intellektuelle Uberzeugung über ihn zu ändern, vorüberflieht. (GW 2, 176)

Wie verhalten sich nun das Fühlen eines Wertes und die intentionale Beziehung zum Träger des Wertes zueinander, das Fühlen der Eleganz einer Geste zum Erfassen der Geste? Scheler schreibt: Wir kennen ein Stadium der Werterfassung, wo uns der Wert einer Sache bereits klar und evident gegeben ist, ohne daß uns die Träger dieses Wertes gegeben sind. So ist uns ζ. B. ein Mensch peinlich und abstoßend oder angenehm und sympathisch, ohne daß wir noch anzugeben vermögen, woran dies liegt. (GW 2, 40; vgl. 41).

Dass wir oft nicht angeben können, welche Eigenschaften etwas zum Träger einer Wertqualität macht, ist unstrittig. Oft hängt dies damit zusammen, dass solche Eigenschaften nicht wahrnehmungsmäßig unterscheidbar sind und gedanküch nicht von uns erfasst werden. Daraus können wir aber höchstens schließen, dass uns der Träger einer gefühlten Wertqualität nicht so „voll" gegeben ist wie die Wertqualität selbst oder dass der Träger nur gedanklich, inadäquat oder indirekt erfasst wird. Manchmal scheint jedoch Scheler eine stärkere These zu vertreten: „Oft habe ich [...] nur den Wert einer Sache gegenwärtig, ohne daß die begriffliche Bedeutung oder ein Bildinhalt ihrer da ist" (GW 10, 284; v g l GW 2, 265,176; GW 3, 298f.). Zu den Trägern von Werteigenschaften gehören auch Gefühle. Schelers These der Priorität der Wertgegebenheit erlaubt ihm, eine bekannte Tatsache zu erklären: Es ist nicht möglich, die eigenen Gefühle zu beobachten, zu beachten oder zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen, ohne sie zu modifizieren. Dies ist oft behauptet worden. 2 Scheler meint: ,,[W]ir [können] nicht im selben Sinne ein Gefühl,beobachten' wie etwa ein Erinnerungsbild oder ein Phantasiebild", weil wir zuallererst den 2

Vgl. Wittgenstein 1971, II, ix.

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Wert des Gefühls fühlen (GW 2, 206; vgl. 205). Es ist, als ob unser Bewusstsein des Wertes/Unwertes eines Gefühls uns erblinden ließe. Allerdings wird das sinnliche Gefühl am wenigsten durch Zuwendung der Aufmerksamkeit geschädigt (GW 2, 337f.). Diese Priorität des Wertfühlens erklärt die zuvor erwähnte Unfähigkeit, die Züge eines Wertträgers zu beschreiben (GW 2, 204f.).3 Wie wir weiter unten sehen werden, sollen Gefühle durch das Fühlen von Werten motiviert werden. Um aber das Verhältnis zwischen dem Wertbewusstsein und dem Wollen oder Handeln zu verstehen, hilft das Wertfühlen nicht. Den Wert zukünftiger Sachverhalte kann man nicht fühlen, sondern nur vorfühlen. Wird die Lust an einer Speise zu einem Ziel, dann nur, weil ein Wert (z. B. das Angenehme der Lust) oder ein Unwert (z. B. die Sündigkeit der Lust) vorgefühlt wird (GW 2, 56f.; vgl. GW 10, 166; GW 2, 148f.). Das Vorfühlen eines Wertes gehört zur selben Familie wie das Wieder-Hören, das Wieder-Sehen und das Wieder-Fühlen in der Erinnerung oder wie das Nachfühlen von Werten; hier wird vergegenwärtigt, „ohne daß das so Gegenwärtige Wirklichkeitscharakter als Gegenwärtiges hat" (GW 10, 284). Liebe und Hass spielen eine zentrale Rolle beim Werterfassen, obwohl sie keine Arten von Erkenntnis sind. Dank Liebe und Hass erfährt das dem Fühlen und dem apriorischen Vorziehen einer Person zugängliche Wertreich „eine Erweiterung resp. Verengung" (GW 2, 266). Während der Hass „die Augen des kognitiven Vorziehens und Fühlens [...] stumpf und blind" macht (GW 7, 157), gehört es zur „entdeckerischen" Rolle der Liebe, dass in ihr „noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen" (GW 2, 267). Die Liebe erweitert aber nicht nur den Bereich zugänglicher Werte, sondern ist auch die Voraussetzung apriorischen Vorziehens (GW 7,156). Wie aber kann man entdecken ohne zu erkennen? Wie können Werte sich in der Liebe „erschließen" ohne ein Erkennen? Die Beredsamkeit, mit der Scheler diese Rollen der Liebe besingt, variiert umgekehrt proportional zur Klarheit seiner Antwort auf solche Fragen. Wie verhalten sich Fühlen und apriorisches Vorziehen zu den Gefühlen? Gefühle sind Antworten, Reaktionen auf die Werte und Unwerte von Gegenständen und Sachverhalten, auf die Werte/Unwerte, die uns im Fühlen und im Vorziehen gegeben sind oder auf die Inhalte von Täuschungen im Fühlen und im Vorziehen. Gefühle sind unsere Reaktionen 3

V g l . W i t t g e n s t e i n 1 9 8 4 , 1 , § 919.

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auf diese (vermeintlichen) Erkenntnisse. Wenn Sam Marias Tat bewundert, dann ist seine Bewunderung eine Reaktion auf einen von ihm (vermeintlich) verspürten Wert ihrer Tat oder auf ein von ihm gefälltes Werturteil. Von diesen zwei Möglichkeiten ist die erste die fundamentalere. Das fühlende Wertauffassen ist unabhängig von Gefühlen und von ihrem Ausdruck (GW 2, 182f.), nicht jedoch umgekehrt.

2. Die Taxonomie des emotionalen Lebens Scheler klassifiziert die von ihm beschriebene emotionale Vielfalt mithilfe einer komplexen Unterteilung, die nur zum Teil der natürlichen Sprache folgt. Er unterscheidet zuerst Affekte, Dränge, Emotionen, Fühlen, Funktionsgefühle, Gefühle, Gesinnungen, Leidenschaften und Triebe voneinander. Dann unterteilt er nach den Kategorien Akte, Antwortsreaktionen, Bewegungen, Empfindungen, Funktionen, Verhaltensweisen, Haltungen, Reaktionen, Regungen, Tendenzen, Zustände und schließlich nach der materialen Vierteilung sinnlich, leiblich (vital), seelisch (psychisch) und geistig, die seine Philosophie des Geistes, der Seele, des Leibes und der Sinnlichkeit wiederspiegelt. Kombinationen dieser Begriffe ergeben Termini wie sinnliche Gefühlszustände, Gefiihlsempfindungen, affektive Verhaltungsweise, seelische Liebesgesinnung, Liebeshaltung, Liebesregung. Nach Scheler ist das Fühlen von Werten eine Funktion, das apriorische Vorziehen und Nachsetzen hingegen sind Akte; auch Lieben, Hassen und Wollen sind Akte. Die Begriffe der Gesinnungen und des Ethos werden mithilfe dieser Kategorien erklärt: „In jeder Seele herrscht im ganzen und in jedem Augenblick eine personale Grundrichtung des Liebens und des Hassens, des Wertvorziehens und -nachsetzens: Sie ist ihre Grundgesinnung" (GW 10, 264). Die Gesinnung einer Person umfasst „alles ethische Werterkennen, auch Vorziehen, Lieben und Hassen und das Wollen" (GW 2, 566). Gesinnungen weisen Qualitäten auf: Sie können wohlwollend, liebevoll, rachsüchtig, misstrauisch oder vertrauensvoll sein (GW 2, 129; vgl. 148fi). Eine Gesinnung ist nicht der Charakter einer Person. Ein Charakter ist eine Disposition, die nur durch Schlüsse erkannt werden kann. Eine Gesinnung hingegen ist keine Disposition, sondern etwas Dauerhaftes, das anschaulich gegeben ist (GW 2, 133). Variationen des Wertfühlens, des Vorziehens, des Liebens und Hassens sind Variationen eines Ethos (GW 2, 303). Funktionen sind sinnlich, seelisch oder vital, aber nicht geistig, Akte hingegen sind geistig, aber nicht seelisch, vital oder

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sinnlich — an diesen Bestimmungen hält Scheler oft, aber keineswegs immer fest, wie wir sehen werden. Schelers Taxonomie des emotionalen Lebens dreht sich um die Vielfalt des Fühlens. Man kann vieles fühlen und es auf sehr verschiedene Art und Weise fühlen, man kann sogar, wie wir gesehen haben, vorfühlen und nachfühlen. Wir gehen also am besten von der Vielfalt des Fühlens aus, um Schelers Taxonomie zu verstehen. Das Fühlen ist entweder ein Wertfühlen oder ein Fühlen von Gefühlszuständen oder ein Fühlen „von gegenständlichen Stimmungs-Charakteren", wie Trauer in einer Landschaft, „in denen zwar emotionale qualitative Charaktere vorliegen, die auch als Gefühlsqualitäten gegeben sein können, aber darum doch nie und nimmer als ,Gefühle', d. h. ichbezüglich erlebt sind". Gemäß Scheler sind alle drei Arten des Fühlens intentional, nur die erste hat jedoch eine „kognitive Funktion" (GW 2, 263). Weshalb die zweite und dritte Art des Fühlens nicht kognitiv sein sollen, erklärt er nicht. Das Fühlen eines sinnlichen Schmerzes oder einer sinnlichen Lust kann in seinen Funktionalqualitäten oder Modi variieren: Man kann einen Schmerz erleiden, ertragen, dulden, genießen. Sinnliche Schmerzen und Lust können sogar vorhanden sein, wenn sie kaum oder überhaupt nicht gefühlt werden (GW 2, 261f.; GW 6, 37). Sie werden Gefühlsempfindungen (manchmal auch Empfindungsgefühle, sinnliche Gefühle oder Gefühls^ustände, vgl. GW 2, 334) genannt und schließen alle Arten von Schmerz, Gefühlen der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit (von Speisen, Getränken, Berührungen), Kitzelempfindungen (GW 2, 334; GW 10, 106) und die Gefühlsempfindungen der geschlechtlichen Wollust (GW 7, 177) ein. Gefühlszustände können nicht von „den zugehörigen Empfindungsinhalten in der Aufmerksamkeit" losgelöst sein und sind nicht „objektlos", da es nie zweifelhaft sein kann, „welche Gruppe von solchen Inhalten zu [ihnen] gehört", weisen aber trotzdem keine Intentionalität auf. Sie sind nicht einfach Zustände, sondern sind als Zustände von Teilen eines Leibes gegeben und so nur indirekt auf das Ich bezogen (GW 2, 335fi). Sie sind als ausgedehnt und lokalisiert gegeben (GW 2, 122, 261, 335; GW 3, 230; GW 6, 39). Das Wertfühlen ist entweder sinnlich, vital oder geistig. Sinnliches Fühlen von Angenehmem, Unangenehmem und vielleicht auch von Nützlichem (GW 2, 112; vgl. dagegen GW 7, 170) weist die Modi des Genießens und Erleidens auf. Sinnliches Fühlen und seine Modi sind nicht zu verwechseln mit den Gefühlsempfindungen.

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Vitales Fühlen von vitalen Werten ist ein Fühlen von Edlem (Tüchtigem) und von Gemeinem (Schlechtem), und offenbar auch von den dazugehörigen konsekutiven Werten des Wohles und des Unwohles (GW 2, 123). Die Vitalgefiihle sind entweder Leibgefühle oder Lebensgefühle. Zu den l^ebensgefühlen gehören Behaglichkeit, Unbehaglichkeit, Mattigkeit, Frische, Gesundheits- und Krankheitsgefühle, Alters- und Todesgefühl. Sie werden auch als Modi des Lebensgefühls bezeichnet. Unklar bleibt, ob diese Gefühle Modi des vitalen Wertfühlens sind. Dass ich mich matt oder krank fühle, ist ein l^eibgefühl. Leibgefühle sind Zustände, Lebensgefühle sind Funktionen (GW 2, 334f.) und Zustände (GW 2, 124). Scheler scheint der Meinung zu sein, Funktionen seien sowohl im Lebensgefühl als auch im Leibgefühl am Werk. In einem Leibgefühl wird ein Zustand durch die Funktion des nicht-kognitiven Fühlens erfasst. In einem Lebensgefühl soll ein vitaler Wert wie der Unwert der Mattigkeit durch die kognitive Funktion des vitalen Fühlens erkannt werden. Eine ähnliche Rolle spielt das vitale Vorfühlen: Der ganze Sinn und die ganze Bedeutung [der einfachsten Erscheinungen von Angst, Furcht, Ekel, Scham, Appetit, Aversion, vitaler Sympathie und vitalem Abgestoßensein gegenüber Tieren und Menschen, das Schwindelgefühl] besteht ja eben darin, daß sie den Wert von Kommendem, nicht den Wert von Vorhandenem anzeigen, und daß sie in gewissem Sinne sowohl räumliche als zeitliche Ferngefühle sind, im Gegensatz zu den räumlichen und zeitlichen Kontaktgefühlen, welche die sinnlichen Gefühle darstellen. (GW 2, 343f.)

Manchmal wird von einem Gefühl behauptet, es sei ein Vorgefühl: Der Ekel ζ. B. soll ein „Vorgefühl für Schädigungen" (GW 10, 84) sein. Heißt das, dass Ekel ein Vorfühlen von Schädigungen einschließt, so wie Furcht und Angst ein Vorfühlen von Gefahren (mit einer Vorstellung der gefährdenden Dinge und Vorgänge im ersten Fall und ohne diese Vorstellung im zweiten Fall (GW 10, 88; vgl. GW 6, 202-210)), oder dass die vitale Scham als Vorgefühl ein „Vorgefühl eines Kommenden" einschließt (GW 10, 115)? Bei Letzterem ist unklar, wie sich ein solches Vorfühlen zur Anzeichen- oder Signalfunktion von Gefühlen verhält. Das Anzeigen ist keine intentionale Beziehung, aber „die Fungierbarkeit eines Gefühlszustandes als ,Anzeichen von etwas' (ζ. B. bei den Arten des Schmerzes) ist hierbei immer schon durch ein intentionales Fühlen vermittelt — beruht also nicht auf bloßer assoziativer Verbindung, die nur objektiv zweckmäßig wäre" (GW 2, 269). Ist das hier erwähnte Fühlen das Fühlen eines Gefühls, das als Anzeichen fungiert, oder das Vorfühlen eines Wertes? Sinnliche Gefühle — ζ. B. die verschiedenen Arten von Schmerzen — können kein Vorfühlen von Werten einschließen. Indem sie gefühlt werden, wer-

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den sie einfach zu „Anzeichen für leb en s fördernde und lebenshemmende Vorgänge innerhalb des Organismus aufgrund von Erfahrungsassoziation" (GW 2, 343). Die Lebensgefühle dagegen indizieren die vitale Wertbedeutung von Ereignissen und Vorgängen, indem sie ein Wertvorfühlen einschließen (GW 2, 343; GW 6, 36f., 332; GW 15, 202-205). Das Vorfühlen, das zu einigen Gefühlen gehört, hat eine wichtige Steuerungsfunktion. Die Korrelate von Appetit und Ekel sind Wertqualitäten wie „einladend", „anziehend", „ekelhaft", „abstoßend". Im vitalen Fühlen und Vorfühlen sind diese Qualitäten gegeben. Appetit und Ekel variieren unabhängig vom Drang des Hungerns und bestimmen die Impulse des Essens und des Widerstehens. Sie entscheiden, zu welchen sinnlichen Gefühlszuständen es kommt und zu welchen nicht (GW 2, 252f.; GW 10, 84, 107).4 Wie Appetit zu Hunger verhält sich die vitale Liebe zu den Triebimpulsen der Libido (GW 10, 107), die Geschlechtsliebe oder Liebesleidenschaft zum Geschlechts- und Fortpflanzungstrieb (GW 10, 118f.) und das geschlechtliche Schamgefühl zum Geschlechtstrieb (GW 10, 85). Das geistige Fühlen ist ein Fühlen von geistigen Werten des Schönen und Hässlichen, des Rechten und Unrechten und der Erkenntnis (GW 2, 124f.). Das geistige Wertfühlen ist eine Funktion (GW 2, 124), einige geistige Gefühle hingegen sind zuständlich und erscheinen als Ich-Zustände (GW 2, 125; GW 10, 106). Zu den geistigen Gefühlen gehören geistige Wehmut, Freude und Trauer (im Unterschied zum vitalen Froh- und Unfrohsein). Scheler scheint der Meinung zu sein, man freue sich geistig, weil man geistige Werte fühle, doch als geistige Antwortsreaktionen" nennt er Gefallen, Missfallen, Billigen, Missbilligen, Achtung, Missachtung, geistige Sympathie und Vergeltungsstreben (im Unterschied zum vitalen Racheimpuls), nicht aber geistige Freude und Trauer (GW 2, 125). Zusätzlich zu den sinnlichen, vitalen und geistigen Gefühlen gibt es auch seelische Gefühle, z. B. seelische Trauer oder Wehmut (GW 6, 39; GW 2, 344f.). Wie sich seelische Gefühle zu geistigen Gefühlen verhalten, z. B. seelische Wehmut zu geistiger Wehmut, bleibt unklar. 5 Schelers langer Liste der Arten des Fühlens kann wohl deshalb kein seelisches Wertfuhlen hinzugefügt werden, weil in seiner Wertlehre keine seelischen Werte vorkommen.

4 5

Vgl. Katz 1932. Vgl. dazu Ehrl 2001, 79f.

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Die Werte des Heiligen und des Unheiligen, deren Träger Personen sind, werden nach Scheler nicht gefühlt (GW 2, 125f.). Aber im Verhältnis zwischen geistiger Liebe und Hass einerseits und diesen Personenwerten andererseits ortet er den Ursprung von geistigen Gefühlen wie Seligkeit und Verzweiflung (GW 2, 126), die er auch als „Heilsgefühle" (GW 6, 39) bezeichnet. Zu den Heilsgefühlen gehören auch Geborgenheit, Gewissensqual, Friede, Reue (GW 6, 39). Seligkeit, Verzweiflung, gewisse Formen der Heiterkeit (serenitas animi) sowie Seelenfrieden sind laut Scheler niemals zuständlich (GW 2, 344), obwohl sie verharren und dauern (GW 2, 109), also Zustände sind (GW 2, 126). Vermutlich ist Scheler der Ansicht, dass sie keine Ich-Zustände seien (GW 2, 344). In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von den zuvor erwähnten geistigen Gefühlen der geistigen Freude und Trauer. Sie unterscheiden sich aber noch in einer zweiten Hinsicht. Geistige Freude und Trauer kommen über das Wertfühlen zustande. Diejenigen geistigen Gefühle, die Scheler auch Heilsgefühle nennt, verhalten sich jedoch ganz anders zum Werterkennen. Man kann nicht „im selben Sinne ,über etwas' verzweifelt [...] wie über etwas unfroh [...] und unglücklich" sein: „Erst da ist Seligkeit im prägnanten Sinne gegeben, wo uns kein besonderer Sach- und Wertverhalt außer uns oder in uns zu dieser Seligkeitserfülltheit fühlbar motiviert [...]" (GW 2, 345). Handelt es sich hier um eine Ausnahme zur These, dass es kein Gefühl ohne (vermeintliche) Werterkenntnis gebe? Vielleicht nicht. Seligkeit und Verzweiflung können sich aus Erlebnissen ergeben, die durch Werterkenntnisse motiviert sind. „Sind sie aber einmal da, so lösen sie sich von dieser Motivkette eigenartig los und erfüllen gleichsam vom Kern der Person her das Ganze unserer Existenz und unserer ,Welt'" (GW 2, 345). Von einer solchen Seligkeit könnte man sagen, dass sie ihren Ursprung in einer Motivation hat, ohne motiviert zu sein. Scheler stellt aber auch die Seligkeit und die Verzweiflung als Zustände dar, die ihren Ursprung in geistiger Liebe und geistigem Hass haben. Das Verhältnis von Liebe und Hass zu den für sie zentralen Werten ist jedoch kein Werterfassen. Wie auch immer Seligkeit und Verzweiflung zustande kommen, sie sind die am wenigsten reaktiven Gefühle (besser: Emotionen, vgl. GW 2, 339).6 In einem engeren Sinne des Wortes „Gefühl" sind Hiebe und Hass keine Gefühle. Sie gehören also nicht zu den sinnlichen, vitalen, seelischen

6

Scheler nennt diese Phänomene nicht „Stimmungen". Dieses Wort verwendet er für nicht-geistige Gefühle, bei denen unklar ist, was sie verursacht hat (GW 2, 262; für Schelers Analysen der Angst und auch der Sorge vgl. GW 9, 254—342).

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oder geistigen Gefühlen, auch nicht zu den Heilsgefühlen. Scheler verwendet aber das Wort „Gefühl" manchmal auch in einem weiteren Sinn und spricht dann von Liebe als einem Gefühl. (Manchmal drückt das Wort „Gefühl" den Oberbegriff für alles Emotionale aus, was vielleicht damit zusammenhängt, dass Scheler eher „emotional" und „das Emotionale" als „Emotion" (vgl. aber GW 2, 358) verwendet). Die geistigen Akte des Liebens und Hassens sind „am weitesten von allem Zuständlichen entfernt" (GW 2, 266). Hier können wir nicht, wie im Falle der geistigen Heilsgefühle, sagen, es handle sich um Zustände, die keine IchZustände sind. Lieben und Hassen sind keine Antwortsreaktionen (GW 2, 266) auf gefühlte Werte: Liebe nicht, weil sie wertentdeckend ist und eine „Intention auf [...] noch mögliche höhere Werte, als diejenigen sind, die bereits da und ergeben sind" hat (GW 7, 156); Hass nicht, weil er „ein Hinblicken auf möglichen niedrigeren Wert" (GW 7, 156) darstellt. Wer liebt oder hasst, fühlt Werte/Unwerte der geliebten oder gehassten Person, aber Lieben und Hassen sind nicht Reaktionen auf diese Werte/Unwerte. Sie sind spontane Akte (GW 2, 266), Bewegungen (GW 7, 155). Die Intention auf höhere Werte, die der Liebe wesentlich ist, weist eine eigenartige Unbestimmtheit auf. Die Liebe ergreift ihren Gegenstand auf einer Stufe des Seins, „auf der sein Sosein sowohl seinem existentialen Sein, als seinem Wertsein nach noch unbestimmt ist"; diese Stufe des Seins „ist eben die nach dem Gegensatz Wertsein — existentiales Sein noch indifferente Schicht des Seins [...]" (GW 5, 307). Die Liebe ist unabhängig vom Streben (GW 15, 289), obwohl die Bewegungsnatur, die zum Streben gehört, auch zur Liebe gehört, die eine Bewegung auf einen positiven Wert hin ist (GW 7, 146) oder eine Bewegung, die vom Geliebten ausgeht („Locken" siehe GW 7, 147). Scheler sagt aber auch, dass die Liebe „ruht" und „wächst" (GW 6 ,84). Den Hass nennt Scheler „eine Reaktion gegen ein irgendwie falsches Lieben". Hier liegt kein Widerspruch vor. Wer hasst, muss schon geliebt haben. So mag man zwar eine einmal geliebte Person hassen oder eine Person, die einen Unwert aufweist, wobei der entsprechende Wert schon geliebt wurde (GW 10, 368f.). Der Hass ist aber nicht eine Reaktion auf gefühlte Unwerte der gehassten Person, sondern eher eine Bewegung in Richtung auf noch niedrigere mögliche Unwerte dieser Person. Die drei Vormen der Uebe sind die vitale Liebe (Leidenschaftsliebe), die seelische Liebe eines Ich-Individuums und die geistige Liebe der Person; sie sind alle Bewegungen in Richtung auf mögliche höhere Werte. Die vi-

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tale Liebe ζ. Β. ist eine „Bewegung in der Richtung der Werterhöhung vom Gemeinen zum Edlen" (GW 7, 179). Die drei Formen der Liebe entsprechen den drei Akttypen: vitale Akte, psychische bzw. Ichakte und geistige bzw. Personenakte (GW 7, 170). Mutterliebe, kindliche Liebe, Heimatliebe, Vaterlandsliebe, Geschlechtsliebe sind Arten der Uebe, die „als besondere Qualitäten der Gemütsbewegung selbst für uns fühlbar" sind, „ohne daß wir auf die wechselnden Objekte [...] hinzusehen brauchen" (GW 7, 172). Sie weisen verschiedene qualia auf. Unakzeptable Wortbildungen wie „Staatenliebe", „Kunstliebe" sowie die Aquivozität von „Vaterliebe" zeigen, dass wir es hier mit Arten der Liebe zu tun haben, die sich nicht phänomenal unterscheiden lassen (GW 7, 172f.). Die Formen und Arten der Liebe gehen verschiedene Verbindungen mit Verhaltungsweisen und Mitgefühlserlebnissen ein: Güte, Wohlwollen, Neigung, Zuneigung, Liebenswürdigkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, Dankbarkeit u. a. (GW 7, 174f.). Schelers Unterscheidung zwischen vitalen, psychischen und geistigen Akten in seiner Lehre von den Formen der Liebe scheint seiner Aktlehre zu widersprechen, der zufolge alle Akte geistig sind (GW 2, 388), also weder psychisch noch vital noch sinnlich. Zu diesen (geistigen) Akten gehören Vorstellen, Wahrnehmen, Erinnern, Erwarten, Vorziehen, Wollen, Nichtwollen, Lieben, Hassen, Urteilen (GW 2, 390), Ideendenken, Anschauung, Reue, Ehrfurcht und geistige Verwunderung (GW 9, 32) — was das Urteilen betrifft, hat Scheler seine Meinung geändert (siehe GW 3, 234f.). Auch das Wertfühlen wird, obwohl meistens als Funktion erklärt, manchmal als geistig beschrieben (GW 2, 390, 149). Auf jeden Fall ist sich Scheler bewusst, dass seine Annahme einer geistigen Liebe und eines geistigen Hasses sowie die These, dass das Vorziehen geistig sei, mit vier einflussreichen Traditionen bricht: Einmal mit der Tradition, wonach der Geist ausschließlich intellektuell sei; zweitens mit der Ansicht, der Geist sei nur intellektuell und volitiv, das Affektive aber gänzlich psychisch oder vital; drittens mit der Auffassung, dass das Geistige weniger wertvoll sei als das Psychische oder das Vitale und schließlich mit der Assimilation von Geistigem und Psychischem im Begriff des „Mentalen" (GW 2, 388; vgl. Mulligan 2006). Scheler behauptet oft, Akte seien punktuell und zeitlich nicht ausgedehnt (GW 10, 297; vgl. dagegen GW 2, 462). In jedem Akt variiert die ganze Person, im „Begriffe der ,Variation' als dem puren ,Anderswerden' liegt aber noch nichts von einer das Anderswerden ermöglichenden Zeit" (GW 2, 384; vgl. aber GW 10, 297). „Akte entspringen

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aus der Person in die Zeit hinein" (GW 2, 387). Einige der von Scheler (und Adolf Reinach 7 ) erwähnten Beispiele für punktuelle Akte, z. B. Wahrnehmen und Urteilen, sind in dem Sinne punktuell, dass sie mittels Verben zugeschrieben werden, die keine Verlaufsform zulassen. Wie aber soll man die These verstehen, dass Lieben ein punktueller Akt sei, wenn im erlebten Werte des „Liebesaktes" und im Werte der geliebten Person — wie Scheler doch selber sagt — „das Phänomen der Dauer und darum auch der ,Fortdauer' dieser Werte und dieses Aktes eingeschlossen" liegen soll (GW 2, 109)? Sich vielleicht der Dunkelheit seiner Auffassung der Liebe als Akt bewusst, sagt Scheler einmal, Liebe sei „die Tendenz oder je nachdem der Actus [...], der jedes Ding in die Richtung der ihm eigentümlichen Wertvollkommenheit zu führen suche — und führe, wo nicht Hemmungen sich einstellen" (GW 10, 355). Eine solche Tendenz kann keine Disposition sein oder einschließen 8 , da Scheler — wie wir im Fall der Gesinnungen gesehen haben — geistige Dispositionen ablehnt. Er könnte also nicht mit Ehrenfels einverstanden sein, wenn dieser gegen die brentanistische Auffassung der Liebe einwendet: „Liebe und Hass bedeuten nach dem Sprachgebrauch meistenteils nicht aktuelle psychische Phänomene, sondern Dispositionen hierzu" 9 . Er könnte auch nicht mit Wittgensteins Behauptung, Liebe könne keine kurze Dauer haben, einverstanden sein. Scheler meint, man könne sich durchaus einen Dante vorstellen, der sich in seine Beatrice verliebt und sie dann nur drei Minuten lang liebt, bis er umgebracht wird. Eine Gesinnung kann nur einen Augenblick währen, aber sie dauert (GW 2, 132). 10 Wie verhalten sich Liebe und Hass (vital, seelisch oder geistig), sinnliche Gefühle, vitale Gefühle und geistige Gefühle (Heilsgefühle oder keine Heilsgefühle) zueinander? Scheler spricht in diesem Zusammenhang wie Dilthey und Krueger gerne von einer Schichtung bzw. von tieferen und weniger tiefen Schichten des emotionalen Lebens. Liebe und Hass liegen tiefer als Seligkeit und Verzweiflung, diese liegen tiefer als seelische Gefühle, welche wiederum tiefer liegen als vitale Gefühle, die ihrerseits tiefer liegen als sinnliche Gefühle. Was tiefer liegt, kann das, 7 8 9 10

Reinach 1989, 100, 102-105. Zur Kategorie der vitalen Tendenzen vgl. GW 2, 414; GW 7, 185. Ehrenfels 1982, 229; vgl. Wittgenstein 1984, 246; ders. 1982, 90-92 Zur Idee, dass man Liebe erproben, dass sie sich bewähren kann und dass man so zwischen wahrer (echter) und falscher (unechter) Liebe unterscheiden kann vgl. Scheler GW 9, 213£; Wittgenstein 1967, § 504.

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was weniger tief liegt, erklären. Hass zum Beispiel kann bestimmte seelische Gefühle erklären. Ist die Behauptung, die Liebe liege tiefer als die Gefühle, in denen sie sich äußert, nicht bloß ein Bild?11 Zweifelsohne. Kann man ohne das Bild auskommen? Wenn es eine Schichtung des emotionalen Lebens gibt, dann muss man zuerst erklären, was es heißt, zu verschiedenen Schichten zu gehören. Scheler betrachtet deswegen das Phänomen der Koexistenz von positiven und negativen Emotionen zum selben Zeitpunkt. Nichts ist leichter vorstellbar als jemand, der gleichzeitig verzweifelt ist, jemanden (geistig) bewundert, (seelisch) unglücklich über eine Nachricht, aber (vital) froh ist und dabei noch (ein wenig) an Schmerzen in seinem linken Fuß leidet. Seine positiven Gefühle vermischen sich nicht, noch verschmelzen seine negativen Gefühle miteinander. Ein paar negative (oder positive) Gefühle, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht vermischen, gehören verschiedenen Schichten an. Ein paar negative (oder positive) Gefühle, die sich zu einem Zeitpunkt zu einem Gefühl vermischen — man ist traurig und wehmütig — gehören zur selben Schicht (GW 2, 333f.). Ahnlich argumentiert Scheler auch für drei verschiedene Stufen der Liebe: Wir vermögen einen Menschen ζ. B. tief zu lieben, ohne daß er uns doch eine leidenschaftliche Zuneigung' einflößte, ja es kann uns gleichzeitig seine ganze vitale Erscheinung aufs Äußerste zurückstoßen. Ebenso kommt es vor, daß jemand eine starke Liebesleidenschaft [...] fur einen anderen hegt, ohne daß darum auch seine seelische Existenz, seine Art zu fühlen, seine geistigen Interessen [...] Liebe einflößte ( G W 7, 171).

Jede Gefühlsschicht ist entweder tiefer oder peripherer als eine andere Schicht. Was heißt das? Scheler erläutert dieses Verhältnis, indem er die Beziehungen der Gefühle zum Wollen heranzieht. Kein Gefühl ist dem Wollen in der Weise direkt unterworfen, wie ζ. B. Handbewegungen direkt dem Wollen unterworfen sein können. Aber Gefühle lassen sich mithilfe der Relation, mehr oder weniger indirekt dem Wollen unterworfen zu sein, ordnen. Die sinnlichen Gefühle sind am leichtesten lenkbar, während die Heilsgefühle der Seligkeit und der Verzweiflung „jeglicher Willensherrschaft entzogen" sind; die vitalen Gefühle sind schwieriger zu kontrollieren als die sinnlichen Gefühle, aber leichter zu lenken als seelische Gefühle (GW 2, 338f.). Es gibt nicht nur mehr oder weniger tiefere Gefühlsschichten, sondern auch mehr oder weniger tiefe Befriedigungen, die mit dem mehr oder weniger vollen Fühlen von mehr oder weniger hohen Werten korrelieren 11

Vgl. Wittgenstein 1984, II, § 115.

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sollen. Diese Befriedigungen haben mit Lust nichts zu tun, obwohl Lust aus ihnen folgen kann (GW 2, 113, 336). Eine solche Befriedigung „ist von dem Erfüllungserlebnis z. B. bei der Realisierung des Gewünschten oder bei dem Eintreten eines Erwarteten noch verschieden, wie sehr dies auch Spezialfälle davon sind" (GW 2, 113; vgl. 356). Die Akte der Liebe und des Hasses und die verschiedenen Gefühlsfamilien sind nicht zu verwechseln mit Affekten (GW 10, 373; zum Affektverlauf vgl. GW 4, 290), Leidenschaften (GW 10, 373; vgl. GW 2, 342), Trieben oder Instinkten. Zu den emotionalen Verhaltungsweisen gehören Antwortsreaktionen und spontane Akte (GW 2, 118) wie Liebe und Hass (GW 10, 369; GW 2, 264). Zu den Antwortsreaktionen zählen triebhafte wie Mut, Angst, Racheimpulse und Zorn (GW 2, 124) sowie die gefühlsmäßigen — vitales Sichfreuen und Sichbetrüben (GW 2, 124), seelische (und geistige?) Gefühle wie Freude über etwas, geistiges (und seelisches) Gefallen und Missfallen, Achtung und Missachtung, Vergeltungsstreben, geistige Sympathie, Billigung und Missbilligung (GW 2, 125). Billigung und Missbilligung sind Akte, in denen die Identität der Werte einer Werterkenntnis und eines auf die Realität von Werten gerichteten Eigen- oder Fremdwollens „zur unmittelbar anschaulichen Identifizierung kommt" (GW 2, 149). Glaube, Unglaube, Ehrfurcht, Anbetung und analoge Haltungen sind Antwortsreaktionen auf die Werte des Heiligen (GW 2, 126). Antwortsreaktionen sind weder Akte (mit der Ausnahme von Billigung und Missbilligung) noch Funktionen. Wenn Gefühle Antworten auf (vermeintlich) gefühlte Werte sind, kann man zwischen berechtigten und unberechtigten Gefühlen unterscheiden, denn „Wertqualitäten fordern von sich aus gewisse Qualitäten [...] emotionaler Antwortsreaktionen'" (GW 2, 264). Es gibt z. B. berechtigten und unberechtigten Enthusiasmus, (unberechtigte Entrüstung (GW 2, 182) und (unberechtigte Ruhmliebe (GW 2, 555). Allerdings gibt es nach Scheler keine (unberechtigte Liebe, da die Liebe für ihn keine Reaktion auf Werte ist (GW 7,151f.; vgl. dagegen GW 2, 544; GW 10, 367f.). Eine der wichtigsten Thesen Schelers zur Struktur des emotionalen Lebens betrifft eine Abhängigkeit zwischen der Gesinnung einer Person — Wertfuhlen, apriorisches Vorziehen, Liebe, Hass, Wollen — und ihren episodischen Gefühlen und Affekten. Aus dieser Abhängigkeit folgert er eine kognitive These: Die zuständlichen (wertblinden) Gefühle — die einfachsten dieser Vorgänge — sind in ihrem Auftreten und Vergehen ebensowohl von den Liebes- und Haßakten, als meist auch von den Akten des Strebens und Wollens abhängig, nicht aber

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ebenso unmittelbar und direkt von den Vorstellungen und ihren Gegenständen. Sie zeigen stets an, welches Verhältnis zwischen den in Liebes- und Haßakten intendierten Wert- und Unwertqualitäten und der (nur innerseelischen oder realen) Verwirklichung dieser Werte durch das Streben und seine Arten je besteht (GW 10, 370f.; vgl. GW 2, 357).

3. Gefühlserkenntnisse Wie weiß man, wie einem oder einem anderen zumute ist? Wie weiß Sam, dass Maria leidet, dass sie Schmerzen hat oder dass sie liebt? Wie weiß Sam, dass er leidet, Schmerzen hat oder liebt? Scheler stellt und beantwortet solche Fragen im Rahmen seiner Lehre der Gefühlswahrnehmung. Diese zeichnet sich durch fünf Eigentümlichkeiten aus, die mit fünf bekannten Voraussetzungen brechen: Erstens genießt die Selbstwahrnehmung keinen privilegierten Status gegenüber der Fremdwahrnehmung. Zweitens nimmt Scheler eine innere Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Drittens gibt es eine direkte Gefühlswahrnehmung. Viertens wird der epistemische Zugang zu Schmerzen, Leiden und Liebe unterschiedlich behandelt. Schließlich hat die Lehre zudem eine soziologische Dimension. Wie erkennt Sam, dass Maria leidet? Falls Marias Leiden ein seelisches Gefühl ist, gehört es zu den Erlebnissen, die sich automatisch ausdrücken. Zwischen den Qualitäten von seelischen Erlebnissen und den Qualitäten von Ausdrucksphänomenen, die immer in einem Ausdrucksfeld vorkommen, gibt es innere, symbolische Beziehungen. Diese symbolischen Beziehungen sind also nicht äußere Beziehungen des Anzeigens. Ausdrucksphänomene sind nicht Anzeichen oder, wie man später sagen wird, „Symptome" (GW 7, 21 f.; vgl. GW 8, 279) von inneren Zuständen. Zu den Ausdrucksphänomenen gehört auch das Verhalten: ,,[E]s gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar ,ausdrückt'" (GW 9, 17). Wenn Sam solche symbolischen Beziehungen versteht, also nicht aufgrund von Anzeichen auf Marias Leiden schließt, wird er die Qualität ihres Leidens nachfühlen können. Was heißt also „nachfühlen" — dieses schwer übersetzbare deutsche Wort? Betrachten wir zuerst eine nicht unplausible These Schelers zur Rolle von Nachfühlen und Nachstreben in den von Reinach so genannten „sozialen Akten" des Versprechens, Befehlens und Fragens sowie in der Kundgabe von Wünschen. Nach Reinach sind soziale Akte „vernehmungsbedürftig"; ohne das, was Austin später uptake nennt, kommen sie nicht zustande. Worin aber besteht dieses Vernehmen? Handelt es sich

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dabei bloß um ein Wortverständnis? Durch eine Äußerung der Form „Ich befehle dir, . . . " gebe ich unmittelbar meinen Willen kund. Kundgabe ist aber nicht einfach Ausdruckgeben, denn Befehlen ist ein willkürlicher Akt. Wer befiehlt, will den Willen des anderen bewegen, sein Streben bestimmen: Und nicht ein Akt gegenständlicher Auffassung meines Wünschens, Strebens ist es, der dieses Bewegen und Bestimmen des fremden Wollens vermittelt, sondern ein unmittelbares ,Nachfühlen' und ,Nachstreben', das sich unmittelbar auf das Wortverständnis der Kundgabe aufbaut. (GW 2, 179)

Das Steuern von anderen im Zusammenhang von willkürlichen Wunschäußerungen und sozialen Akten kommt also durch Nachfühlen und Nachstreben zustande. Scheler führt das Nachfühlen eines Gefühls mit einem Vergleich ein: „Die Gegebenheit eines fremden Gefühls ist hier ganz analog der Gegebenheit, die z. B. eine Landschaft hat, die wir im Erinnerungsbewußtsein subjektiv ,sehen', [...] [D]as Vergangene ist nur ,vergegenwärtigt'" (GW 7, 20). Das Nachfühlen gehört zur selben Familie wie Nacherleben und Nachleben. Es gehört „zur Sphäre des erkennenden Verhaltens" und ist eine Art Fühlen (GW 7, 20). Scheler spricht in diesem Zusammenhang auch von Erfassen, Auffassen, innerer Wahrnehmung, Verstehen, „nachfühlendem Verstehen" (GW 7, 19—23) und von einem „erkennenden, verstehenden Nachfühlen" (GW 7, 63). Wenn Sam Marias Leiden nachfühlt, ist das nachgefühlte Gefühl intentional gerichtet auf einen Unwertverhalt (GW 7, 68). Unklar bleibt, ob Sam Marias Wertfühlen auch nachfühlt. Was Sam nachfühlt, ist die Qualität von Marias Leiden. Die Qualität von Marias Leiden ist aber nicht mit ihrem Leiden identisch (obwohl Scheler manchmal seine eigene Unterscheidung vergisst). Worin unterscheidet sich das Leiden von der Qualität des Leidens? Will Scheler nur darauf hinweisen, dass „x drückt y aus" „es gibt einen y der χ ausdrückt" nicht impliziert, dass Marias Gesicht selbst dann Leiden ausdrücken kann, wenn sie nicht leidet? Seine Unterscheidung reicht noch weiter und geht dahin, dass Nachfühlen höchstens die Qualität, nicht aber die Kealität eines Gefühls erschließt. (So können wir ja ζ. B. die Qualitäten der Leiden und Freuden von Romanpersonen nachfühlen.) Erst das Mitgefühl soll Sam die Realität von Marias Leiden erschließen (GW 7, 107). Widerspricht dies aber nicht Schelers wichtiger Einsicht, dass Mitgefühl eine Wahrnehmung des Mitgefühlten voraussetzt? Nein, denn Scheler unterscheidet ein Mitgefühl, das auf „einzelne reale Gefühle und Wertnehmungen der Mit-Wesen gerichtet ist" von einem Mitgefühl, das auf „echte Washeit von Werten und Gefühlen" gerichtet ist (GW 7, 69). „Erst die im Mitgefühl erfolgende

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Erfassung der Gleichwertigkeit des Menschen als Menschen" hat zur Folge, dass Maria und ihre Leiden Realität und nicht bloß „schattenhaftes Dasein" haben (GW 7, 70f.; vgl. 107, 20, 229).12 Wie erkennt Sam, dass Mana liebt? Marias Liebe ist ein geistiger „Akt" oder eine geistige Tendenz, nicht ein seelisches Gefühl. Sie kann also laut Scheler von Sam nicht nachgefühlt werden, obwohl er die seelischen Gefühle, die Marias Liebe begleiten, nachfühlen kann. Nur Gegenstände können demnach wahrgenommen und nachgefühlt werden, das Geistige hingegen ist nicht gegenstandsfähig. Scheler, der ständig das Geistige beschreibt, ist offenbar der Meinung, das Geistige könne nicht gegeben werden; davon gibt es kein knowledge by acquaintance (Russell). Sams Zugang zum Sosein der Liebe Marias und des Gegenstandes dieser Liebe besteht ausschließlich im Verstehen. Sein Zugang zum Dasein ihrer Liebe besteht ausschließlich im Midieben (GW 7, 219£, GW 2, 386). Warum die unterschiedliche Behandlung von seelischen Gefühlen und Liebe? Seelische Gefühle drücken sich spontan aus. Auch wenn ihr Ausdruck kontrolliert — vielleicht unterdrückt — wird, wird etwas ausgedrückt. Geistige Akte wie Liebe und Wollen können verschwiegen werden. Es liegt im „freien Ermessen" einer Person „sich vernehmbar zu machen und sich zu erkennen zu geben - oder nicht" (GW 7, 220; vgl. 110). Dieses Schweigen ist nach Scheler nicht zu verwechseln mit dem Unterdrücken von Ausdrücken. Doch auch hier, wie im Falle von seelischen Gefühlen, wird zwischen Dasein und Sosein unterschieden (GW 5, 331£; vgl. GW 10, 186).13 Beim Verstehen der inneren, symbolischen Beziehungen zwischen den Qualitäten seelischer Erlebnisse und den Qualitäten von Ausdrucksphänomenen, Beziehungen, die für die direkte Wahrnehmung von seelischen Erlebnissen konstitutiv sind, gibt es eine größere oder geringere „(In)adäquatheit von Erlebnis und Ausdruck". Es gibt eine automatische bedingte oder willkürliche „Trennung" des „symbolischen Zusammenhangs", die wahrgenommen werden kann (GW 7, 254; vgl. 233). So kann ich z. B. wahrnehmen, dass jemand zu fühlen nur vorgibt, was er gar nicht fühlt, daß er das mir bekannte Band zwischen seinem Erleben und dessen natürlichem' Ausdruck zerreißt und eine andere Ausdrucksbewegung an die Stelle setzt, wo sein Erleben ein bestimmtes Aus-

12 13

Diese These hat weitreichende Konsequenzen für Schelers These, dass Mitgefühl das Fühlen voraussetzt (GW 7, 17-159); vgl. Michalski 1997; Mulligan 2008a. Vgl. Wittgenstein 1984, II, § 568; I, § 928.

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drucksphänomen fordert. So vermag ich sein Lügen [...] »«mittelbar [...] selbst wahrzunehmen (GW 7, 255).

Scheler könnte Wittgenstein zustimmen, wenn dieser schreibt: „Ich kann den echten Blick der Liebe erkennen, ihn vom verstellten unterscheiden"14 — allerdings nur, wenn es sich dabei um vitale, nicht um geistige Liebe handelt (vgl. aber GW 2, 133). Scheler meint auch, wie Wittgenstein, dass ein Bericht wie „Ich merkte, er war verstimmt." ein Bericht über ein Benehmen und einen Seelenzustand sei, aber „nicht im Nebeneinander, sondern vom einen durch das andere"15: „Sicher ist es wohl, daß wir im Lächeln die Freude, in den Tränen das Leid [...] des anderen, in seinem Erröten seine Scham [...] direkt zu haben vermeinen (GW 7, 254; vgl. 21)." Wie weiß Sam, dass Maria Schmerlen bat? Er kann ihre in ihrem linken Fuß lokalisierte Schmerzen nicht nachfühlen, wohl aber ihr Leiden daran. Ihre Gefühlsempfindungen kann er höchstens „reproduzieren" (GW 7, 249; vgl. 59; GW 2, 111; GW 2, 247). Wie weiß Sam, dass er leidet? Seine Selbstwahrnehmung der eigenen leiblichen und seelischen Gefühle kommt auf dieselbe Art und Weise zustande wie seine innere Wahrnehmung von Marias Leiden: „Ein Eigenerlebnis kommt zu gesonderter Wahrnehmung erst in dem Maße, als es sich in Bewegungsintentionen und (zum mindesten) in Ausdruckstendenzen entlädt" (GW 7 245; vgl. 246). Jeder kann „das Erleben der Mitmenschen genau so unmittelbar (und mittelbar) erfassen [...] wie sein eigenes" (GW 7, 250). Scheler könnte Wittgenstein zustimmen, wenn dieser schreibt, die Sicherheit der ersten und die Unsicherheit der dritten Person seien nur scheinbar.16 Wie weiß Sam, dass er Schmerlen hat? Wie wir oben gesehen haben, kann Sam seine Schmerzen fühlen, aber ein solches Fühlen hat nach Scheler keine kognitive Funktion. Vielleicht kann Sam die Qualität des eigenen Schmerzes nachfühlen. Es ist unklar, ob Sam wissen kann, dass er Schmerzen hat, wenn man ihm das nicht erzählt. Aufgrund des Fühlens seiner Schmerzen kann er diese jedoch sprachlich äußern oder kundgeben. Wie weiß Sam, dass er liebt? Er verhält sich zu seiner Liebe — seiner Selbst- oder Fremdliebe — genauso, wie er sich zu Marias Selbst- oder Fremdliebe verhält. Er versteht die eigene Liebe, indem er mitliebt (GW 7, 168f., 220; GW 2, 470; vgl. dagegen GW 2, 483). Dieses geistige Mitlieben

14 15 16

Wittgenstein 1982, 472, III § 937; vgl. auch Wittgenstein 1971, II, xi, 365-367. Wittgenstein 1971, II, v, 285. Wittgenstein 1982, 473, III § 951.

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kann kein reaktives Mitgefühl sein, da man nach Scheler nicht mit sich mitfühlen kann (GW 7, 153; vgl. dagegen GW 9, 272). Glücklicherweise ist Sam nicht ganz auf sich selbst angewiesen. Indem Maria mit Sams Liebe mitliebt, kann sie ihm zu einem Verständnis seiner Liebe verhelfen (GW 2, 483, 327). Viele Philosophen meinen, man müsse sich ein für allemal für eine der folgenden Ansichten über die Fremdwahrnehmung entscheiden: Entweder ist die Fremdwahrnehmung eine Art Einfühlung oder eine Art Schluss oder eine direkte Wahrnehmung oder eine Simulation. Diese Voraussetzung teilt Scheler nicht, und zwar deswegen, weil eine Philosophie der Fremdwahrnehmung, die nicht zu einer Sozialphilosophie gehört, zu einer einseitigen Diät und damit zu Vereinfachungen verurteilt ist. Laut Scheler funktioniert die direkte Wahrnehmung von seelischen Gefühlen durch das Nachfühlen auf der soziologischen Ebene der Gemeinschaft, in der grundloses Vertrauen herrscht. Es gibt aber auch eine Fremdwahrnehmung, die nicht ohne Schlüsse und Analogien auskommt. Eine solche Fremdwahrnehmung ist vor allem auf der soziologischen Ebene der Gesellschaft anzutreffen, in der grundloses Misstrauen an der Tagesordnung ist. Schließlich ist die Lipps'sche Theorie der Fremdwahrnehmung als Einfühlung auf der soziologischen Ebene der Masse, die durch Gefühlsansteckung zusammengehalten wird, „annähernd richtig" (GW 7, 216). Das Nachfühlen ist nicht zu verwechseln mit dem vorgestellten Nachfühlen und Gefühle sind nicht zu verwechseln mit vorgestellten Gefühlen: „Denn ein nie erlebtes seelisches Gefühl kann ich mir gefühlsmäßig vor die Seele führen, kann ein nie faktisch so Gefühltes (phantasiemäßig) durchfühlen" (GW 2, 336f.). Scheler ist also mit Husserl und Meinong einverstanden, die für die Kategorie der Fantasiegefühle plädierten. Es gibt „eine Phantastik des Fühlens selbst, die nicht erst in der Phantastik des Vorstellungslebens als Lebens in ,Bildern' erwacht, sondern ursprünglich ist und jenes häufig erst führt. Das ist z. B. gegeben, wo wir spielend noch nie tatsächlich erlebte Gefühle ,durchfühlen' und kombinieren" (GW 3, 266). Diese Unterscheidung zwischen Gefühlen und ihren fantasiemäßigen Gegenstücken, den „als-ob-Gefühlen", spielt eine wichtige Rolle in Schelers nie ausgearbeiteter Lehre der Gefühlsillusionen und wirft Fragen nach der Stabilität vieler seiner Unterscheidungen auf. An einer Stelle behauptet er, wie wir gesehen haben, dass die Qualitäten der Leiden und Freuden von Romanpersonen nachgefühlt werden können (GW 7, 107). An anderer Stelle sagt er aber auch, dass ein fantasiemäßiges Durchfühlen zum Verständnis eines Romans gehört (GW 2, 337). Doch wenn ernstes Nach-

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fühlen eine kognitive Funktion haben soll, muss es sich von fantasiemäßigem Durchfühlen unterscheiden. Scheler behauptet, dass es in der emotionalen Sphäre echte Analogien zu Vorstellung, Erinnerung und Erwartung gebe (GW 2, 336). Im Gegensatz zu Vorstellungen sind Erinnerungen aber Erkenntnisse. Scheler meint, ich könne mich „heiteren Sinnes" „großer Schmerzen und tiefer Trauer ,erinnern', indem ich diese Gefühle ,vorstellig' fühle" (GW 3, 266). Unklar bleibt dabei, wie aus einer Fantasie eine Erkenntnis werden soll. Solange die kognitive Natur des ernsten Nachfühlens unklar bleibt, bleibt auch unklar, was man von Schelers Einwand gegen die Einfühlungstheorie von Lipps halten soll, demzufolge die Einfühlung keine Kenntnisnahme der seelischen Fremdgefühle sei (GW 7, 235—238). Unklar bleibt auch die Beziehung zwischen der Theorie des Nachfühlens und (älteren und gegenwärtigen) Theorien der Fremdwahrnehmung, die Simulation und make-believe-Gefühle miteinbeziehen. Ahnlich unklar ist das Verhältnis zwischen dem oben erwähnten Wertvorfühlen und der Fantasie. Scheler verwendet oft die Kategorie der Gefühlsillusionen (GW 10, 401; GW 7, 153), die er mithilfe der Kategorie des vorstelligen Fühlens beschreibt. Wir unterscheiden, wie er schreibt, ,wirkliche' Freundschaft von ,eingebildeter', ,echte' Gefühle von ,unechten', [...]; ferner die wahren und wirklichen Motive unseres Tuns von den eingebildeten Motiven, die um ihres moralischen Wertvorzuges wir zu haben bloß wähnen. Wirklichkeit wie Echtheit bewähren sich eben erst im Standhalten gegen Versuche, die, vom bewußten Wollen und der willkürlichen Aufmerksamkeit ausgehend, das Erlebnis auszuschalten oder es umzuändern versuchen [...] [H]andelt ein Mensch zum Beispiel nicht auch freundlich gegen einen, den er zu lieben behauptet, so werden wir im gemeinen Leben zunächst die ,Wirklichkeit' und ,Echtheit' dieses Gefühls bestreiten. Es ist durchaus festzuhalten daran, dass es neben den realen Gefühlen, [...] auch Gefühlsphantasien gibt, neben den realen Wollungen auch Scheinwollungen, die man wirklich gar nicht will, neben den wirklichen Motiven auch Scheinmotive. (GW 9, 213f.)

Auch wenn das vorstellige Fühlen für die Gefühlsillusionen notwendig ist, kann es nicht hinreichend sein. Scheler deutet an, dass Gefühlsillusionen Fantasiegefühle sind, die man für wirkliche Gefühle hält: „So halten wir in der Sentimentalität' bloß vorstellig gefühlte Gefühle für wirkliche und reale" (GW 3, 247).17 Scheler baut seine Analyse der Illusion (im Gegensatz zu seiner Analyse der Täuschung und des Irrtums) nicht weiter aus und es bleibt unklar, wie die Analyse der emotionalen Illusionen als vorstellig gefühlte 17

Vgl. Mulligan 2008.

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Gefühle, die für wirkliche gehalten werden, sich zur Theorie der Werttäuschungen verhalten soll. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es neben Gefühlserkenntnissen, Gefühls täuschungen und Gefühlsillusionen auch Wertfühlen und Werttäuschungen. Doch worin besteht eine Werttäuschung? Aus Schelers Lehre von Täuschung geht hervor, dass dem Wert-Getäuschten — ζ. B. für den Ressentimentmenschen, der das Wertvolle für wertlos hält — das Wertvolle nicht verloren ist; die positiven Werte sind überdeckt von den Täuschungswerten, durch die sie nur schwach, gleichsam ,transparent' hindurchscheinen. Diese Transparenz' der wahren, objektiven Werte durch die Scheinwerte hindurch, welche die Ressentimentsillusion ihnen entgegensetzt, dieses dunkle Bewußtsein, in einer unechten Scheinwelt zu leben, ohne Macht, durch sie hindurchzudringen und zu sehen, was ist, bleibt ein unaufhebbares Bestandstück des ganzen Erlebniszusammenhangs. (GW 3, 51)

Auf die Frage aber, wie Illusionen sich zu Täuschungen verhalten, gibt Scheler keine Antwort. Schelers Lehre der Gefühlserkenntnisse, die einen Teil seiner Lehre der Erkenntnis vom Eigen- und Fremdpsychischen darstellt, lässt sich mithilfe einer zusammenfassenden Bemerkung Wittgensteins zusammenfassen: „Wenn man aber sagt: ,Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen', so sage ich: ,Wie soll ir wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen'." 18 Wenn „meint" hier soviel wie „urteilt" bedeutet, oder wenn „meint" durch „leidet" ersetzt wird, ergibt sich daraus je eine schelersche These, da ja Leiden und Urteilen keine geistigen Akte sein sollen. Das Meinen selber ist nach Scheler ein geistiger Akt und somit nicht gegenstandsfähig. Sams Zugang zu Marias Meinen, dass p, besteht in seinem Mitvollziehen ihres Meinens, in seinem Mitmeinen oder Miterfassen des Sachverhalts, dass ρ (GW 3, 179; vgl. GW 2, 471; GW 10, 404). Was psychisch ist, muss hingegen ein öffentlicher und reidentifizierbarer Gegenstand sein — dies meinen sowohl Wittgenstein als auch Scheler (GW 7, 217; GW 10, 387, 393). Laut Scheler gibt es allerdings private Entitäten, und zwar sinnliche Gefühle, die keine psychischen Phänomene sind.

18

Wittgenstein 1971, § 504.

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4. Beurteilung Schelers Gefühlsanalysen zeichnen sich, wie seine sonstige Philosophie, durch eine merkwürdige Kombination aus scharfen (ein Lieblingswort Schelers), einleuchtenden Unterscheidungen und Argumenten einerseits und aus Schlamperei und ungehemmten Spekulationen andererseits aus. In seinen Schriften offenbart sich die kommende Katastrophe der Phänomenologie, aber auch und noch viel mehr, was sie in ihren brillanten, realistischen Anfängen war. Diese Kombination ist oft bemerkt worden. Stumpf, der Altmeister der Gefühlspsychologie, meint zu Schelers Ausführungen über Sympathie, sie seien zwar „in vielen Punkten sachlich wohlbegründet", aber zum Teil „für eine naturwissenschaftlich orientierte Erkenntnistheorie unannehmbar", erinnerten an Plotin und gehörten den „der Psychologie abgewandten romantisch-mystischen Kreisen der heutigen Philosophie" 19 an.20

Literatur Schelers Schriften werden nach der Ausgabe seiner Gesammelten Werke zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendete Sigle ist: GW. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Angabe des Bandes und der Seitenzahlen. Bollnow, Otto Friedrich (1947), Die Ehrfurcht, Frankfurt a. M. Diederichs, Nicolaas (1930), Vom leiden und Dulden, Berlin. Ehrenfels, Christian von (1982), Werttheorie, Philosophische Schriften 1, hrsg. von R. Fabian, München. Ehrl, Gerhard (2001), Schelers Werlphilosophie im Kontext seines offenen Systems, Neuried. Katz, David (1932), Hunger und Appetit. Untersuchungen %ur medizinischen Psychologie, Leipzig. Landweer, Hilge (1999), Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen %ur Sozialität eines Gefühls, Tübingen. Michalski, Mark (1997), Fremdwahrnehmung und Mitsein. Zur Grundlegung der So^alphilosophie im Denken Max Schelers und Martin Heideggers, Bonn. Mulligan, Kevin (2006), Geist (and Gemüt) vs Life - Max Scheler and Robert Musil, in: R. Calcaterra (Hg.), Le Ragioni del Conoscere e dell'Agire. Scritti in onore di Rosaria Egidi, Milano, 366-378. — (2008), Was sind und was sollen die unechten Gefühle?, in: Ursula Amrein (Hg.), Das Authentische. Zur Konstruktion von Wahrheit in der säkularen Welt, Zürich. - (2008a) Selbstliebe, Sympathie usw., in: Kevin Mulligan/A. Westerhoff (Hg.), Robert Musil - Ironie, Satire und falsche Gefühle, Paderborn.

19 20

Stumpf 1939,1, 371; vgl. 199. Mein Dank geht an Ingrid Vendrell Ferran, Anita Konzelmann, Reinhild Mulligan und Ursula Renz für Hilfe und Kritik.

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Ranulf, Svend (1938), Moral Indignation and Middle Class Psychology. Sociological Study, Copenhagen. Reinach, Adolf (1989), Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden, hrsg. von Karl Schuhmann/Barry Smith, München. Rutishauser, Bruno (1969), Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Untersuchung seiner Analyse von Scham und Schamgefühl, Bern. Scheler, Max (1954—1985; 1985ff.), Gesammelte Werke, hrsg. von Maria Scheler und Manfred S. Frings, 15 Bde, Bern, dann Bonn (=GW). Shand, Alexander (1914), The Foundations of Character, London. Stumpf, Carl (1939), Erkenntnislehre, 2 Bde, Leipzig. Vendrell Ferran, Ingrid (2008), Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin. Wittgenstein, Ludwig (1967), Zettel, hrsg. von E. Anscombe, Oxford. — (1971), Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. — (1982), Wittgenstein'sTectures, Cambridge 1932-1935, hrsg. von A. Ambrose, Oxford. — (1984), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Frankfurt a. M.

Ludwig Wittgenstein (1889-1951)

Wittgenstein: Das Sprachspiel der Emotionen Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher Ludwig Wittgenstein nimmt innerhalb der Debatte um die Emotionen eine Sonderstellung ein. Sein Interesse scheint ausschließlich von Kritik bestimmt zu sein: Kritik zum einen im Kant'schen Sinn, insofern er nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt, unter denen Emotionen Gegenstand von vernünftiger Reflexion sein können. Seine Antwort enthält zum anderen eine Kritik im Sinne eines destruktiven Wegräumens aller Theorien über Emotionen, die aus dem Rahmen fallen, der von diesen Bedingungen gezogen wird. Mit dieser scharfen Argumentation gibt Wittgenstein der philosophischen Diskussion über Emotionen eine dramatische Wende: Allen Theorien, die Methoden der unmittelbaren Erfassung von inneren Zuständen, Ereignissen und Vorstellungen einsetzen, wird durchweg die Grundlage entzogen. Ein sinnvolles Sprechen über wirkliche, d. h. vom sprechenden Subjekt erfahrene, gefühlte Emotionen ist, wenn sein Argument stichhaltig ist, nicht möglich. Damit scheint er der Debatte über Emotionen keinen Raum mehr zu lassen. Aber wie weit reicht sein Argument? Worüber redet man, wenn man über eigene Emotionen spricht? Und worüber, wenn man sich auf die Emotionen anderer bezieht? Wer diese Fragen nur als Provokationen versteht — und sich darin mit großen Teilen der Wittgensteinforschung einig weiß —, übersieht die konstruktiven Anstrengungen, die sich in den Philosophischen Untersuchungen und in den Reflexionen der letzten Lebensjahre in großer Zahl finden. In diesen entwirft Wittgenstein das Konzept eines Sprachspiels über Empfindungen, das gewiss nicht hinter seine Kritik zurückfällt, aber doch einen Weg zeigt, wie über Emotionen sinnvoll gesprochen werden kann. Eine Beschäftigung mit Fragen der Emotionen findet sich erst im späteren Werk Wittgensteins. Während er in seiner ersten Philosophie, im Tractatus, psychischen Phänomenen keinen Platz einräumt, beginnt er sich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Philosophie der Psychologie zuzuwenden. Seine Reflexionen zu diesen Problemen lassen sich in zwei Phasen gliedern. In seinen Überlegungen bis 1939, die in dem von ihm

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vorbereiteten Manuskript von Teil I der Philosophischen Untersuchungen angeordnet sind, wendet er sich kritisch gegen die mentalistische Annahme von direkt erfassbaren innerpsychischen Phänomenen. Mit dem „Privatsprachenargument" entwickelt er eine scharfe Kritik an der Vorstellung, Empfindungen könnten vom fühlenden Subjekt in innerer Erfahrung erkannt und mithilfe von Begriffen beschrieben werden. In den letzen Lebensjahren nimmt er das Problem der Uberwindung des Innen-AußenDualismus wieder auf, nun aber in stärker konstruktiver Absicht. Seine Überlegungen aus den Jahren 1947 bis 1949 befassen sich mit Problemen psychologischer Begriffe und ihrer Verwendung in der Sprache. Sie wurden postum unter dem Titel Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie und Letzte Schnflen über die Philosophie der Psychologie veröffentlicht. Immer wieder verweist Wittgenstein dort auf William James, einen der Begründer des Pragmatismus. In unserer Darstellung von Wittgensteins Reflexionen zu philosophischen Problemen der Emotionen folgen wir der Entwicklung seines Denkens. Nach einer kurzen Einführung in die Methode seines Philosophierens werden wir seine Argumentation gegen die Möglichkeit einer privaten Sprache darstellen. Es scheint sich dabei zwar nur um ein einfaches Argument zu handeln; tatsächlich aber ist es eine komplexe Folge verschiedenster Überlegungen, deren Richtung und Reichweite in der Philosophiegeschichte außerordentlich umstritten ist. Die in diesem Kontext gestellten Fragen des Regelfolgens, des philosophischen Skeptizismus, des Leib-Seele-Dualismus usw. werden wir nicht einmal streifen können. Unsere Darstellung wird sich weitgehend auf die Kritik der Introspektion beschränken, die für Wittgensteins Konzept der Emotion bedeutsam ist. Der zweite Teil unserer Ausführungen wird sich mit seinen letzten Schriften befassen. Auch hier ist eine Vorbemerkung angebracht: Wittgensteins Überlegungen haben keinen systematischen Charakter; sie sind in der Reihenfolge veröffentlicht, die sich in seinen Notizbüchern vorfindet, und das heißt, mit vielen Überschneidungen und Wiederholungen, ohne Zentrum, von dem aus die Notizen organisiert sind. Hier sind wir darauf verwiesen, selbständig eine gedankliche Ordnung und Abfolge der Reflexionen herzustellen.

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1. Wittgensteins Methode: Die übersichtliche Darstellung Um Wittgensteins philosophische Konzeption von Emotionen verständlich zu machen, muss zunächst sein methodologisches Vorgehen erläutert werden, das sich von jenem der Emotionstheorien stark unterscheidet. In den Jahren 1930/31 entwickelt Wittgenstein eine philosophische Methode, die von Goethes Morphologie beeinflusst ist. Es geht in dieser nicht um eine Suche nach Ursprüngen und kausalen Verbindungen, sondern um die Beschreibung des Gegebenen. Nichts soll hinter den Phänomenen vermutet werden; Goethe ist der Meinung, „daß alles was sey sich auch andeuten und zeigen müsse". 1 Mit der morphologischen Methode will Goethe eine Wissenschaft begründen, die zu den Naturwissenschaften gehört, aber keinen erklärenden, sondern darstellenden Charakter hat. Goethe will nicht verallgemeinern und Theorien aufstellen, sondern den einzelnen Fall als Glied einer Kette von aneinandergereihten Phänomenen beschreiben. 2 Auch Wittgensteins philosophische Methode zielt darauf, Tatbestände zu beschreiben und übersichtlich darzustellen. Grundgedanke seiner Konzeption der „übersichtlichen Darstellung" ist, dass mit deren Hilfe „Zwischenglieder" der Sprachgebräuche gefunden werden sollen, so dass es möglich wird, die Vielfalt der Sprache zu erfassen und gleichzeitig ihre innere Ordnung zu überblicken (GB 45f.). Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. — Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. — Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die Zusammenhänge sehen'. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern. (PU § 122)

Gegenstand von Wittgensteins Untersuchungen ist die menschliche Sprache und ihre Grammatik, nicht die Wirklichkeit psychologischer Erscheinungen selbst. Ähnlichkeiten und Unterschiede der psychologischen Begriffe sollen herausgearbeitet werden (PU § 655); mithilfe einer übersichtlichen Darstellung sollen jene philosophischen Probleme gelöst werden, die durch Verwirrungen des Sprachgebrauchs zustande kommen. Von der „Oberflächengrammatik" wird eine Gleichheit der Begriffsverwendungen vorgetäuscht. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Begriffen sind hingegen in der „Tiefengrammatik" zu erkennen. So verwenden wir die Ausdrücke „ich glaube", „ich weiß" und „ich sehe" auf die gleiche Weise, ohne uns der Unterschiede hinsichtlich ihrer Funktion im 1 2

Siehe Goethe 1993, § 2.70.1, 205. Vgl. ebd., § 1.295, 46.

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menschlichen Leben und ihres Verflochtenseins mit kulturellen, sozialen und individuellen Umständen bewusst zu sein (PU § 664; BPP I, § 494), obwohl es sich um jeweils verschiedene Sprachspiele handelt. Das Charakteristische psychologischer Ausdrücke ist, dass sie auf vollkommen andere Weise gebraucht werden als wissenschaftliche Begriffe. Im Gegensatz zu beispielsweise physikalischen und chemischen Begriffen, die eigens für den wissenschaftlichen Gebrauch konstruiert werden, entspringen Ausdrücke wie „fühlen", „denken", „glauben" oder „wissen" einem alltäglichen Handeln und Sprechen. Sie sind daher viel stärker in den Kontext menschlicher Praxis eingebunden als wissenschaftliche Begriffe (BPP II, § 62). Wittgenstein geht es nicht um die Angabe allgemeiner Strukturen der Sprache und ihrer Verwendung, sondern um eine möglichst genaue Darstellung der unterschiedlichen Begriffe und ihrer Gebrauchsweisen. Die Beschreibung der Sprache mithilfe von übersichtlichen Darstellungen macht die Ähnlichkeiten, die zwischen einzelnen Sprachspielen bestehen, erkennbar; Wittgenstein nennt sie „Familienähnlichkeiten". Mit diesem Konzept gibt er den Gedanken auf, dass Begriffe durch eine klar begrenzte Menge genau bestimmbarer Merkmale definiert werden können. An die Stelle von Wesensmerkmalen setzt Wittgenstein die Vorstellung von Ähnlichkeiten, die zwischen verschiedenen Erscheinungsformen des gleichen Sprachspiels bestehen. Die Ähnlichkeiten innerhalb derselben Familie können von Fall zu Fall unterschiedlich sein; in den meisten Fällen gibt es kein einzelnes Merkmal, das die Ähnlichkeiten zwischen allen Mitgliedern derselben Familie bestimmt: ,Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ,Familienähnlichkeiten'; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. — Und ich werde sagen: die Spiele bilden eine Familie. (PU § 67)

Mithilfe der übersichtlichen Darstellung will Wittgenstein die Probleme lösen, die durch das „Anrennen an die Grenze der Sprache" (PU § 119), also durch eine philosophische Anstrengung, entstehen, die nach Lösungen außerhalb menschlicher Erkenntnismöglichkeiten sucht. Mit einem Bild ausgedrückt, will er mit seiner philosophischen Methode der „Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen" (PU § 309). Durch sein behutsames philosophisches Vorgehen vermeidet er, eine neue Theorie der Emotionen aufzustellen, vielmehr gibt er Beschreibungen davon, wie diese in die Sprache aufgenommen und in dieser verwendet werden. Sein Vorhaben ist durchaus nicht anspruchslos; dies drückt sich in seiner

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Bemerkung aus, dass durch die Anwendung seiner Methode „eine ganze Wolke von Philosophie [...] zu einem Tröpfchen Sprachlehre" kondensiert (PU II, 565).

2. Wittgensteins Kritik: Das Privatsprachenargument Wittgensteins Beschreibungsprogramm entsteht nicht durch freiwilligen Verzicht auf die Kraft erklärender Theorien, sondern aus der theoretischen Einsicht, dass innerpsychische Ereignisse nicht durch direkte Introspektion kognitiv erfasst und sprachlich benannt werden können. Diese Überlegung entwickelt er in den Philosophischen Untersuchungen in einer begriffslogisch geführten Argumentation, im „Privatsprachenargument". Mit diesem Argument weist er die Annahme zurück, dass es möglich sei, die Realität psychischen Geschehens unabhängig von der Sprache und von äußeren Ausdrucksformen oder Verhaltensweisen zu erkennen. Wenn eine solche Realität prinzipiell unerkennbar bleibt, ist es sinnlos, deren unabhängige Existenz zu postulieren. Mehr noch: Es ist systematisch irreführend, weiterhin an diesem Gedanken festzuhalten. Oie private Sprache. Was Wittgenstein als „Privatsprache" bezeichnet, ist eine fiktive Sprachauffassung, die es in der von ihm beschriebenen Form wohl nie gegeben hat. Zu den definierenden Merkmalen einer solchen Sprache gehört nach seinen Angaben, dass sie nur von einer Person verwendet werden kann. Es ist also nicht einmal vorstellbar, dass ein anderer als ihr Benutzer sie verstehen könnte. Mit dieser Definition wird ausgeschlossen, dass sich die Privatsprache auf objektiv beobachtbare Gegenstände bezieht; sie bezeichnet Objekte, die nur einer „unmittelbaren Erkenntnis", einer Art „innerem Sinn" oder „innerer Erfahrung" zugänglich, die also selbst privat sind. Wenn das Subjekt beispielsweise seine Aufmerksamkeit auf einen Sinneseindruck richtet und diesen mit Bedeutung belegt, ist es die einzige Person, die diesen Akt einsehen kann. „Das Wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, daß Jeder sein eigenes Exemplar besitzt, sondern daß keiner weiß, ob der andere auch dies hat, oder etwas anderes." (PU § 272) In der Privatsprache können nur solche Erfahrungen sprachlich ausgedrückt werden, die ausschließlich dem Sprecher selbst zugänglich sind. „Inwiefern sind meine Empfindungen privat? — Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der andere kann es nur vermuten." (PU § 246)

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So exzentrisch die Konzeption der Privatsprache auch klingen mag, enthält sie doch die grundsätzliche Annahme, die jede Geistphilosophie (im Sinne Wittgensteins) macht: Das Subjekt und nur dieses selbst kann sich bei seinem Empfinden, Denken und seinen bewussten Akten beobachten und diese aus der unmittelbaren Anschauung beurteilen. Einer Sprachregel kommen nach dieser Auffassung zwei Funktionen zu: Sie bringt regelhafte Handlungen hervor und übt während dieser Tätigkeit zugleich eine richterliche Funktion aus, die über richtig und falsch der Regelanwendung entscheidet. Auch diese Beurteilung geschieht im Innenraum des Geistes. Im Zentrum von Wittgensteins Diskussion steht also eine besondere Auffassung des Zusammenspiels von Sprachregel und Subjekt: Wenn die Regel fähig sein soll, innere Zustände und Vorgänge wie Empfindungen und Denken anzuleiten und zu beurteilen, befindet sie sich selbst im inneren Raum des Subjekts, in dessen Privatheit, wo sich diese abspielen. Sie bildet eine subjektive Repräsentation der für die Sprachgemeinschaft verbindlichen Regel. Ihre Anwendung geschieht selbst als ein privater Vorgang. In diesem Sinne verstanden, bedeutet „Regelfolgen", dass man sich auf eine Instanz beruft, die selbst nicht mehr Teil des Sprachspielgeschehens ist, eine Behauptung, die auch weit weniger extreme philosophische Konzepte erheben. Von der Kritik an der Privatsprache würde also, wenn sie ihr Ziel erreichte und die Unmöglichkeit privater Akte generell nachweisen würde, das Konzept der Regel als einer privaten Repräsentation gleich in zweierlei Hinsicht getroffen werden: Zum einen würde sich zeigen, dass der Anwendungsbereich von Regeln nicht über das Sprachspiel hinaus ausgedehnt werden, dass es also keine Sprache über private Gegenstände geben kann. Zum zweiten würde diese Kritik die Konzeption der Regel als mentale Repräsentation treffen, denn diese ist ja nichts anderes als ein privates Objekt und ihre Anwendung ein innerer Vorgang. Wittgensteins argumentatives Vorgehen. Verfolgen wir Wittgensteins Vorgehen bei seiner Kritik der Privatsprache in seinen einzelnen Schritten. Als erstes ist zu prüfen, ob es möglich ist, außerhalb von Sprachspielen befindliche Entitäten zu erfassen. Nehmen wir an, es gebe solche privaten Objekte, wir könnten selbst ein solches in unserem Inneren spüren und würden jetzt versuchen, dieses sprachlich zu erfassen, indem wir es mit einem Namen versehen.

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„Stellen wir uns diesen Fall vor: Ich will über das Wiederkehren einer gewissen Empfindung ein Tagebuch führen. Dazu assoziiere ich sie mit dem Zeichen ,E' und schreibe in einen Kalender zu jedem Tag, an dem ich die Empfindung habe, dieses Zeichen." Nur ich allein habe Zugang zu dieser Empfindung, das Zeichen „E" bezeichnet einen eigenartigen Gegenstand. Die Definition von „E" hat privaten Charakter: „Ich will zuerst bemerken, daß sich eine Definition des Zeichens nicht aussprechen läßt. — Aber ich kann sie doch mir selbst als eine Art hinweisende Definition geben! — Wie? kann ich auf die Empfindung zeigen? — Nicht im gewöhnlichen Sinne. Aber ich spreche, oder schreibe das Zeichen, und dabei konzentriere ich meine Aufmerksamkeit auf die Empfindung — zeige also gleichsam im Inneren auf sie [•·•]• Dadurch präge ich mir die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung ein." Bewirkt dieser Vorgang, daß ich mich in Zukunft „richtig an die Verbindung erinnere"? „Aber in unserem Fall habe ich ja kein Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von ,richtig' nicht geredet werden kann." (PU § 258)

In meiner inneren Erfahrung sind das Richtige und alles, was ich nur für richtig halte, nicht voneinander unterscheidbar. „Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen." (PU § 202) Der Fehler meines Vorgehens liegt darin, dass sich dieses ausschließlich in meinem Inneren, also außerhalb von Sprachspielen abspielt und in diesen selbst nicht erscheint. Man macht sich eine falsche Vorstellung von Empfindungen, wenn man sie für Gegenstände der inneren Erfahrung eines isolierten Subjekts hält. Wittgensteins Kritik der üblichen Auffassungen über die Empfindungssprache öffnet zugleich einen Weg, auf dem ein Sprechen über Empfindungen entworfen werden kann. In den Paragraphen über die Empfindungsausdrücke zeigt er, wie mithilfe von Kriterien über Gefühle gesprochen werden kann. Die Frage, wie Empfindungen selbst in Worte gefasst werden können, tritt hier noch nicht auf. In den Philosophischen Untersuchungen geht es Wittgenstein um eine Kritik der Behauptung, diese könnten direkt erfasst werden. Wenn man eine solche Möglichkeit annimmt, konstruiert man eine Grammatik, die Empfindungen in einen Raum außerhalb von Sprachspielen auslagert: in das Innere der Psyche, das nur der empfindenden Person selbst zugänglich ist. Was Wittgensteins Leser begreifen soll, ist die Falschheit der Vorstellung, die wir uns normalerweise von dem Verhältnis zwischen Innen und Außen machen. In seinem Denken nach 1939 richtet Wittgenstein seine Bemühungen darauf, große Gebiete des Subjektiven, insbesondere der Empfindungen und mentalen Vorgänge, in das Innere von Sprachspielen zu holen. Es geht

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ihm keineswegs darum, diese aus der Philosophie auszuschließen, sondern er will ihre Beiträge mithilfe ihrer Rolle in Sprachspielen begründen. Das Innen und das Außen. Das Besondere an den Sprachspielen über Empfindungen ist, dass äußere, von allen Teilnehmern einsehbare Merkmale auf innere Vorgänge oder Zustände bezogen werden. An objektiv erkennbaren Merkmalen %eigt sich das Innere von Personen; Wittgenstein nennt sie „Kriterien". Die Mitspieler sehen die im Sprachspiel auftretenden Kriterien als den zeigenden Teil eines inneren Geschehens an. Was sich hingegen im Inneren der Personen tatsächlich abspielt, lässt sich weder im Sprachspiel noch von den Personen selbst sprachlich erfassen und kennzeichnen. Es ist für die Bedeutungsfunktion der Sprache ohne Belang. Offen bleibt die Frage, ob es nicht doch auf irgendeine und sei es auch auf eine diffuse Weise, in das Sprachspiel eintritt. Mit der Formulierung „was sich im Inneren tatsächlich abspielt" wird auf die Vorstellung eines Inneren hingewiesen, dem ein autonomer Status und eine dinghafte Form der Existenz zugeschrieben wird. Nach Wittgensteins Argument ist das Innere des Subjekts jedoch ausschließlich im Inneren von Sprachspielen, also nicht in einer besonderen Seinsweise erfassbar. Mithilfe von Kriterien können spezielle Sprachspiele über Empfindungen, über innere Zustände und Vorgänge ausgebildet werden, die das Sprechen über diese strukturieren, erkennbar und beschreibbar machen. Kriterien bilden die öffentliche Seite von inneren Akten. Alle Versuche, diese zu strukturieren und zu gestalten, setzen bei diesen an und gehen nicht über sie hinaus. Die Sprachspiele über das Innere von Personen funktionieren nicht nach dem Modell des hinweisenden Ternens und der Bezeichnung von Gegenständen. „Aber Du wirst doch zugeben, daß ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen." — Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! — „Und doch gelangst Du immer wieder zu dem Ergebnis, die Empfindung selbst sei ein Nichts." — Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts! Das Ergebnis war nur, daß ein Nichts die gleichen Dienste täte wie ein Etwas, worüber sich nichts aussagen läßt. Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will." (PU § 304)

An diesem Zitat erkennt man, wie vorsichtig Wittgenstein vorgeht: Er hat nicht die Absicht, ein Modell des Psychischen zu konstruieren, sondern er will zeigen, dass, wenn man eine falsche Grammatik, jene der Denotation von Gegenständen, auf psychische Ereignisse anwendet, diese selbst für irrelevant erklären muss. Involviert in diesem Gedanken ist, dass Empfindungen tatsächlich nicht irrelevant sind; dies gilt aber nur unter der Vor-

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aussetzung, dass man die richtige Grammatik einsetzt. Wie diese beschaffen ist, stellt Wittgenstein erst in den Überlegungen seiner letzten Lebensjahre genauer dar. Neuartig am Konzept der Sprachspiele über Empfindungen ist, dass eine Klasse äußerer Merkmale, „Kriterien", auf innere Vorgänge oder Zustände bezogen wird. Das Innere wird im Äußeren, in besonderen Sprachspielen, gleichsam aufgeführt. Es entsteht dabei ein in seinem Darstellungsaspekt eingeschränktes Sprachspiel: Es gibt darin nichts wie ein Ding, das vorgezeigt oder auf das Bezug genommen wird. Die Aufführung ist ein Sich-Zeigen anhand von Kriterien. Die Sprachgemeinschaft nimmt das Sprachspiel der Kriterien für die äußere Seite eines inneren Geschehens.

3. Überlegungen zur Philosophie der Psychologie Wittgenstein und William ]ames. Bei Wittgensteins Überlegungen zur Philosophie der Psychologie in seiner letzten Lebensphase spielt die Lektüre der Schriften von William James eine wichtige Rolle. 3 Mit James' The Varieties of Religious experience und den Principles of Psychology hat er sich während seines ganzen wissenschaftlichen Lebens auseinandergesetzt. Nachdem sich Wittgenstein ab 1929 erneut der Philosophie zugewandt hat, beschäftigt er sich mit den Principles und entwirft in Auseinandersetzung mit diesen seine philosophischen Gedanken über Empfindungen und Emotionen. Allerdings zitiert er James meistens in kritischer Absicht. Eine genaue Lektüre der James'schen Schriften offenbart eine Reihe von Gemeinsamkeiten; sie zeigt, dass Wittgenstein in diesen nicht nur Anregungen zur Auseinandersetzung findet, sondern dass er Konzepte, Begriffe und Gedanken von James in seine eigene Philosophie aufnimmt. Von James übernimmt Wittgenstein den Gedanken, dass Emotionen mit ihrem Körperausdruck verknüpft sind.

3

Der James'sche Einfluss auf die Philosophie Wittgensteins wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass Wittgenstein ihn in den BPP neunmal erwähnt. Vgl. Goodman 2002, 3ff. Dieser Einfluss wird gerne übersehen. So behauptet Joachim Schulte zum Beispiel: „Doch so zahlreich die Anspielungen auf James auch sind, meines Erachtens hatte James keinen ,Einfluß' auf Wittgenstein im eigentlichen Sinne des Wortes; er regte ihn an, lieferte ihm Beispiele und gefiel Wittgenstein wohl nicht zuletzt wegen seines eher erzählenden, untheoretischen Stils der Darstellung." (Vgl. Schulte 1987, 19)

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William James identifiziert die Emotion mit einem Gefühl der Körperveränderungen, das unmittelbar auf ein wahrgenommenes Objekt eintritt. Hierbei dreht er die übliche Auffassung von der Reihenfolge der Geschehnisse bei einem emotionalen Vorgang um und behauptet, dass die Emotion nicht auf das Objekt und darauf eine Reaktion wie Weinen oder Lachen, sondern dass der emotionale Ausdruck unmittelbar auf das Objekt erfolgt. Demnach lachen wir nicht, weil wir uns freuen, sondern wir freuen uns, weil wir lachen. Die Emotion ist gemäß dieser Theorie an die Existenz von Empfindungen und deren Körperausdrücke gebunden. Körperempfindungen werden als notwendige Bedingung für das Entstehen einer Emotion aufgefasst. Zentrales Moment der James'schen Theorie ist der Körperausdruck der Empfindung, der unmittelbar auf ein Objekt eintritt und die Emotion ausmacht. 4 Das körperliche Emotionsverhalten bezeichnet James als „instinktive Reaktion", die aller Erfahrung vorangeht. Instinktive Reaktionen können aufgrund ihrer Ursprünglichkeit nicht willentlich hervorgerufen werden. 5 Vielmehr sind sie als Funktionen des Nervensystems Voraussetzung dafür, dass ein selbstbestimmtes und absichtliches Handeln überhaupt möglich ist. Erst nach dem wiederholten Erleben einer instinktiven Reaktion kann dieses Verhalten auch willentlich hervorgerufen werden. Körperliches Verhalten ist daher eine Bedingung der Möglichkeit von bewussten, mentalen Willensakten. 6 Das James'sche Verständnis der Emotion als etwas, das durch Körperempfindungen und deren Ausdruck verursacht wird, veranlasst Wittgenstein zu einer ausführlichen Unterscheidung zwischen Empfindungen und Emotionen (BPP II, § 148). Im Gegensatz zu Empfindungen haben Emotionen einen zeitlichen Verlauf, aber keinen Ort. Zwar kann jemand sagen, wann und wie lange er traurig war, aber er kann keine Körperstelle für die Trauer angeben, während eine Schmerzempfindung durchaus lokalisierbar ist. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist, dass, während Empfindungen Informationen über die Außenwelt liefern, wie beispielsweise ein Geschmackserlebnis uns über das Vorhandensein einer schmackhaften Mahlzeit in Kenntnis setzt, Emotionen keine Hinweise auf diese geben. So kann ich zwar im Dunkeln von einer Tastempfindung auf einen Gegenstand schließen, nicht aber durch meine Angst. Eine Empfindung 4 5 6

Vgl. PP II, 442ff. Vgl. ebd., 383f. Vgl. ebd., 486ff.

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hat kein Objekt, auf das sie sich bezieht. Eine Emotion hingegen richtet sich auf ein Objekt, das nicht mit einer Ursache zu verwechseln ist. Im Gegensatz zu Empfindungen beeinflussen Emotionen das Denken. Das Charakteristischste an Emotionen ist, dass es spezifische Weisen gibt, sie auszudrücken. Diese Eigenschaft haben sie mit der Schmerzempfindung gemeinsam ( BPP I, § 836; BPP II, §§ 148, 153). Der Ausdruck der Emotion. In seinen Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie richtet sich Wittgenstein explizit gegen drei Emotionstheorien: Gegen die Annahmen der mentalistischen, behavioristischen und physiologischen Interpretation von Emotionen 7 führt er diese auf „primitive Reaktionen" zurück. Als solche erfahren sie durch den Gebrauch in der Sprache eine Verfeinerung. Die emotionale Körperreaktion ist nach seiner Auffassung Voraussetzung dafür, dass ein differenziertes sprachliches Emotionsverhalten überhaupt entstehen kann. Eine entscheidende Differenzierung ist die zwischen sprachlichen Äußerungen in der ersten und in der dritten Person Präsens. Bei emotionalen Begriffen in der dritten Person handelt es sich um eine Mitteilung oder eine Beschreibung des emotionalen Verhaltens anderer Menschen. In der ersten Person hingegen wird (jedenfalls im einfachen, un theoretischen Wortgebrauch) die Emotion selbst ausgedrückt; es wird also keine Beschreibung des eigenen Zustandes gegeben, sondern der sprachliche Ausdruck ist so etwas wie ein unvermittelter Ausruf. Die Worte: „Ich bin traurig" resultieren nicht aus einer Beobachtung des eigenen Verhaltens oder vermeintlich innerer Zustände, sondern sind eine unmittelbare Reaktion auf ein Objekt. Die Beschreibung des Verhaltens oder, wie Wittgenstein in diesem Fall sagt, des „Benehmens" wird im Kontext eines anderen Sprachspiels als der emotionale Ausdruck in der ersten Person gebildet (PU II, 498). Eine der Folgen der unterschiedlichen Sprachspiele ist, dass die Beschreibung der Emotionen eines anderen in der dritten Person bezweifelt wird, während ich unmöglich mein eigenes emotionales Empfinden anzweifeln kann. Während es sich in der dritten Person um verifizierbare psychologische Ausdrücke handelt, kann in der ersten Person von einem Wissen über Emotionen nicht die Rede sein, insofern es sich nicht um verifizierbare Gegenstände handelt (LS II, 92). Mit 7

In der folgenden Darstellung sprechen wir der besseren Lesbarkeit des Textes wegen (bis auf eine ausdrücklich gekennzeichnete Ausnahme) nur von „Emotionen" und „emotionalem Ausdruck" und fassen darunter auch „Schmerzempfindungen" und deren Ausdruck.

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dieser Unterscheidung richtet sich Wittgenstein einerseits gegen den mentalistischen Erklärungsansatz, andererseits gegen die behavioristische Theoretisierung von Emotionen. Gegen die mentalistische Emotionstheorie. Bei emotionalen Ausdrücken in der ersten Person handelt es sich um unmittelbare, reaktive Handlungen, denen eine Gewissheit des Körpers zugrunde liegt. Ich muss mir selbst nicht beweisen, dass ich Kummer empfinde — über meine Gefühle kann ich nicht im Zweifel sein. Beim Sprachspiel psychologischer Begriffe greift die Grammatik des Sprachspiels des Wissens mit ihrer Möglichkeit des rationalen Infragestellens nicht (PU § 571). Anders als beim Sprachspiel der Wissenschaften geht es beim Sprachspiel der Emotionen nicht um einen Gegenstand im Inneren, der beschrieben werden kann. Der Ausdruck der Emotionen bezieht sich nicht direkt auf seelische Zustände, sondern auf das Sprachspielgeschehen. Er ist nicht wie eine Fassade, hinter der geistige Kräfte wirken (LS I, § 978). Wittgenstein betrachtet psychologische Begriffe nicht bezogen auf psychologische Erscheinungen oder Gegenstände, sondern als Ausdrücke für Handlungen, die in der Sprache geschehen, als Ausdrücke des Sehens, Denkens, Fühlens, Glaubens und Wollens (BPP I, § 287). Von den Emotionen kann man nur kontextabhängige Aus drucks formen und bestimmte Weisen des Benehmens erfassen. Eine Untersuchung kontextinvarianter psychischer Zustände hält Wittgenstein für unmöglich. Sein Ansatz ist ein „grammatischer" und „logischer" (LS I, § 256), kein phänomenologischer. Mit dem Versuch einer Introspektion würde man nicht psychologische Phänomene erkennen, sondern nur etwas über denjenigen aussagen, der die Introspektion vornimmt (BPP I, § 212, 446). Das innere Empfinden ist nicht verborgen, sondern zeigt sich an bestimmten körperlichen Ausdrucks- und Verhaltensweisen, die in interner Beziehung zu ihm stehen (PU II, 562). Verborgene innere Vorgänge haben immer eine körperliche Seite, durch die sie sich offenbaren. Das Innere wird am Äußeren sichtbar. Daher kann Wittgenstein sagen: „Der Mensch ist das beste Bild der menschlichen Seele" (BPP I, § 281). Emotionen sind am menschlichen Körper, insbesondere am Gesicht, exemplifiziert. Wittgenstein leugnet nicht „seelische" Vorgänge, sondern nur deren Existenz unabhängig von menschlichem Verhalten und dessen Kontext. Auch bei Beschreibungen des emotionalen Ausdrucks in der dritten Person handelt es sich nicht um ein epistemisches Wissen über die inneren Vorgänge selbst, sondern auch bei diesen gibt es einen Aspekt des di-

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rekten Verstehens, das im unmittelbaren Wahrnehmen emotionaler Zustände besteht und das die Uberzeugung einschließt, dass der andere eine Seele hat. Wittgenstein negiert zwar das Innere als Ursache von Emotionen, doch deutet er das menschliche Verhalten und Sprechen in der Weise, dass Menschen an eine Innerlichkeit ihres Gegenübers glauben. Dies ist keine rationale Hypothese, die durch Beweise be- oder entkräftet werden könnte, sondern der Glauben an eine Seele im anderen. Wittgenstein meint damit eine grundlegende Einstellung dem anderen gegenüber, die nicht rational begründet werden kann (LS I, § 324). An unserem Handeln und Sprechen lässt sich erkennen, dass wir uns der Seele anderer Menschen gewiss sind. Mit den Sprachspielen über Emotionen und Empfindungen entwickelt sich gleichzeitig eine Einstellung zur fremden Seele und damit zum anderen (LS I, § 947). Gegen die behavioHstische Umotionstheorie. Wittgensteins Argumentation gegen den Behaviorismus richtet sich gegen die Annahme, psychologische Phänomene seien ausschließlich mit Rekurs auf menschliche Verhaltensweisen zu erklären (PU § 304). Nach behavioristischer Annahme werden die Aussagen über emotionale Zustände sowohl in der ersten als auch in der dritten Person als Beschreibungen aufgefasst. Dies trifft nach Wittgenstein auf die Äußerungen in der ersten Person nicht zu. Der Ausdruck „ich fürchte mich" resultiert nicht aus dem Beobachten meines Verhaltens. Ich beobachte mich nicht, wie ich andere beobachte, um meine Gefühle zu kennen. Ich habe sie. Ich schließe nicht von meinen Ausdrücken und Handlungen auf meine Emotionen, da ich mich zu mir selber nicht beobachtend verhalte (LS II, 20ff.). Daher ist die Möglichkeit des Verifizierens psychologischer Ausdrücke in der ersten Person nicht gegeben. Ich kann meine emotionalen Ausdrücke nicht anzweifeln oder vor mir selbst begründen (LS II, 24). Mit dieser Konzeption wird deutlich, dass Wittgenstein keine behavioristische Auffassung vertritt. Nach Überzeugung des Behaviorismus besteht eine kausale Beziehung zwischen dem Reiz und der emotionalen Reaktion, also eine gesetzesmäßige Relation zwischen physischen Gegenständen. So nimmt Rudolf Carnap an, dass sich psychologische Begriffe auf eindeutige, spezifizierte physische Bewegungen beziehen, die bei der Wahrnehmung durch einen interpretierenden, rationalen Vorgang als Fremdpsychisches erkannt werden.8 Für Wittgenstein ist jedoch die Emotion weder ein innerer 8

Vgl. Carnap 2004, 17ff.; Hark 2004, 129.

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noch ein äußerer Gegenstand. Sie ist kein durch Bezug auf Inneres oder Außeres aufweisbares Objekt. Vielmehr ist sie auf äußerst komplexe Weise im menschlichen Leben eingebettet und weist eine vollkommen andere Regelstruktur als physikalische Gegenstände auf — eine Emotion ist „kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts" (PU § 304). Gegen die kausalistische Annahme stellt Wittgenstein seine Konzeption des emotionalen Verhaltens als „Muster", das von einer Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen in je spezifischen Kontexten gebildet wird (s. u. den Abschnitt „Muster und Lebensformen"). Muster sind im Unterschied zu Kausalverhältnissen durch Beweglichkeit und Vielfältigkeit des emotionalen Ausdrucks gekennzeichnet (BPP II, §§ 627, 672). Sie sind die Bedingung für unmittelbares Verstehen des emotionalen Verhaltens. Auch die Annahme, beim Erkennen von Fremdpsychischem finde, wie Carnap annimmt, eine Interpretation statt, weist Wittgenstein zurück. Bei der Beschreibung von emotionalen Ausdrucksweisen eines anderen, also bei Aussagen in der dritten Person, wird nicht dessen Verhalten interpretiert, sondern seine Gefühlen werden anhand äußerer Kriterien erfasst, in einer unmittelbaren Wahrnehmung seiner Gefühlsäußerungen (BPP II, § 170). Kriterien sind allerdings keine notwendigen Bedingungen für das Vorhandensein von Emotionen. Eine rote Gesichtsfarbe mag ein sicheres Kriterium für Fieber sein, aber Lachen ist nicht notwendiges Kriterium für Freude (BPP I, § 292); in bestimmten Fällen kann es ein Zeichen für Unsicherheit oder Zynismus sein. Kriterien haben auch nicht die Funktion von Symptomen oder Indizien, die etwas beweisen oder Zweifel an der Aufrichtigkeit von emotionalem Verhalten eines anderen begründen können (BPP I, § 137). Jeder Mensch drückt Freude, Trauer und Zorn auf seine Weise aus. Die Unbestimmtheit des emotionalen Ausdrucks, der aus der Individualität und Verschiedenheit der Menschen und ihrem kulturellen Hintergrund resultiert (PU II, 576), ist unaufhebbar. Gegen eine physiologische Emotionstheorie. Auch die physiologische Theorie, wie sie James vertritt, lehnt Wittgenstein ab. Für ihn ist die Emotion nicht mit ihrem körperlichen Ausdruck gleichzusetzen. Der physiologische Ausdruck geht mit der Emotion einher, ist jedoch nicht dessen Ursache. Weder verweist der emotionale Ausdruck auf einen inneren Prozess noch auf einen physiologischen Ursprung: „Ist, die Mundwinkel hinunterziehen, so unangenehm, so traurig, und sie hinaufziehen, so angenehm? W a s ist es, was so schrecklich an der Furcht ist? Das Zittern, der schnelle Atem, das Gefühl in den Gesichtsmuskeln? — W e n n

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du sagst: „Diese Furcht, diese Ungewißheit ist schrecklich!" — könntest du fortsetzen: „Wenn nur dieses Gefühl im Magen nicht wäre!" (BPP I, § 728)

Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Emotion und der Stellung der Mundwinkel oder anderen körperlichen Anzeichen. Zwar gehen Emotionen mit bestimmten Körperausdrücken einher, doch sind diese nicht eine notwendige Bedingung für Emotionen. Zwar lässt die menschliche Sprache oft einen physiologischen Ursprung vermuten, wenn wir von einem Denken „im K o p f , Liebeskummer „im Herzen" und Wut „im Bauch" sprechen, aber diese Wortverwendungen sind lediglich Ausdruck des Wunsches nach Erklärung (BPP I, §§ 347ff.). Wittgenstein gibt zu, dass Emotionen zwar in einigen Fällen durch körperliches Verhalten beeinflusst werden können, doch lehnt er eine Kausalverknüpfung von Körperempfindungen und Emotionen ab. Oftmals empfinden wir emotional, ohne uns des Ausdruckes bewusst zu sein (BPP I, § 925). Auch die Imitation von Emotionsausdrücken allein ruft nicht die nachgeahmte Emotion hervor. Würde emotionales Empfinden durch Beeinflussung des Körperausdrucks unserem Willen unterliegen, wäre wohl kaum jemand mehr traurig. Der emotionale Ausdruck deutet weniger auf einen somatischen Ursprung als vielmehr auf ein Objekt hin: „Der Ausdruck ,Diese Angst ist schrecklich!' ist ähnlich einem Aufstöhnen, einem Schrei. Gefragt,Warum schreist du?' — würden wir aber nicht auf den Magen, die Brust, etc. zeigen, wie im Falle des Schmerzes; sondern vielleicht auf das, was uns Angst macht." (BPP I, § 729) Der Bezug auf ein Objekt ist für Wittgenstein hauptsächliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Emotionen und Empfindungen. Er ist aber nicht deren Ursache: Durch das Hervorheben der Rolle des Objekts für eine Emotion bei gleichzeitiger Negation einer kausalen Verursachung durch dieses Objekt richtet sich Wittgenstein gegen ein physiologisches Kausalverständnis von Emotionen (BPP I, § 800). Die primitive Reaktion. Im Gegensatz zur Mitteilung ist der Ausdruck einer Emotion einem Schrei vergleichbar, der sich einem Menschen infolge eines starken Schmerzes „entringt" (LS I, § 549). Er ist eine Reaktion auf ein Objekt, die unmittelbar und ohne Absicht geschieht. Im Sprachspiel der Emotionen machen Intentionen und Willensakte keinen Sinn. Emotionen sind unabhängig vom Wollen und Beabsichtigen (BPP I, § 840). Das Sprachspiel der Emotionen folgt anderen Regeln als Sprachspiele, in denen Wille, Absichten oder Befehle ausgedrückt werden. Ein emotionaler Ausdruck ist eine Handlung, in die man „sich findet", ohne dass diese geplant werden könnte (BPP I, § 874).

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Den Ausdruck und das Verständnis einer Emotion oder eines Schmerzes nennt Wittgenstein „primitiv" (LS I, § 45). Mit dem Verweis auf die primitive Natur emotionaler Ausdrücke unterstreicht er den ursprünglichen und vorsprachlichen Charakter emotionalen Benehmens. „Primitive Reaktionen" sind der Ausgangspunkt des Sprachspiels über Emotionen. „Was aber will hier das Wort ,primitiv' sagen? Doch wohl, daß die Verhaltungsweise vorsprachlich ist: daß ein Sprachspiel auf ihr beruht, daß sie das Prototyp einer Denkweise ist und nicht das Ergebnis des Denkens." (Z § 541) Eine primitive Reaktion ist in zwei Hinsichten ein unmittelbares Geschehen: als emotionale Verhaltensweise desjenigen, der Emotionen hat, und als deren Verstehen durch eine andere Person. Im Kindesalter wird der primitive Ausdruck durch einen sprachlichen ersetzt. Die Funktion dieses neu erlernten Schmerzbenehmens ist keine deskriptive, sondern eine expressive: Der verbale ersetzt den primitiven Ausdruck und beschreibt ihn nicht (PU § 244). Wittgenstein spricht von einer „Verfeinerung" des primitiven Benehmens durch die Sprache (VB 493). Im Zuge des Spracherwerbs erfahrt das primitive Verhalten einen „Ausbau" (Z § 545), sodass auch unabhängig von der jeweiligen Situation differenziert über eigene und fremde Emotionen gesprochen werden kann. Der primitive Ausdruck kann eine Geste, ein bestimmter Gesichtsausdruck, aber auch ein Wort sein (PU II, 559). Wichtig an der wittgensteinschen Konzeption der primitiven Reaktionen als Fundament von Sprachspielen über Emotionen ist nicht so sehr deren nonverbaler Charakter, sondern in erster Linie die Tatsache, dass sie unmittelbare körperliche Reaktionen sind. Auch das Verstehen emotionalen Verhaltens geschieht unmittelbar, ohne interpretierende oder andere erkenntnismäßige Vorgänge. Wir deuten das emotionale Verhalten anderer nicht, sondern sehen unmittelbar, dass jemand Freude, Leid oder Zorn empfindet (BPP II, § 570). Mit seinem Begriff der primitiven Reaktion stellt sich Wittgenstein nicht zuletzt gegen die Sichtweise, dass emotionales Verhalten durch Analogieschlüsse verstanden wird. 9 Wittgensteins Konzeption des Sprachspiels der Emotionen liegen zwei Hauptgedanken zugrunde: erstens die logische Feststellung, dass die primitive Reaktion als letzte Instanz keiner Rechtfertigung bedarf (PU II, 529f.), und zweitens die anthropologische Feststellung, dass diese der

9

Säätelä 2002, 51 f.

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„instinktiven" menschlichen Natur entspringt. 10 Instinktive oder primitive Reaktionen sind die Voraussetzung für das Entstehen von Sprache über Emotionen. Die „animalische" Natur des Menschen ist es, die bestimmte Sprachspiele ermöglicht: Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen. (UG § 475)

Die Vernunft spielt erst in dem Moment eine Rolle, in dem einfache primitive Sprachspiele bereits existieren. Sprache beginnt mit körperlichen Handlungen; erst danach entwickeln sich die spezifischen Leistungen des menschlichen Denkens, wie Begründen und Bezweifeln (BPP II, § 689). Rationales Abwägen hat zwar seinen Ursprung im instinktiven Verhalten (BPP II, § 632), kann aber auf dieser Stufe selbst nicht gerechtfertigt werden (ÜG § 359). Mit dem Begriff des Instinktes deutet Wittgenstein eine menschliche Handlungsweise, die vollkommen sicher geschieht, ohne einer rational deutenden Beschreibung zugänglich zu sein. Jeglicher Versuch, instinktives Verhalten zu erklären, mündet in irreführenden Annahmen. Im instinktiven Handeln zeigt sich eine menschliche Sicherheit, die nicht in einer rekonstruierbaren Regelhaftigkeit verankert ist: „Es wäre doch sehr wohl denkbar, daß Einer sich genau in einer Stadt auskennt, d. h., von jedem Ort der Stadt zu jedem andern mit Sicherheit den kürzesten Weg fände, — und dennoch ganz außer Stande wäre, einen Plan der Stadt zu zeichnen. Dass er, sobald er es versucht, nur gänzlich Falsches hervorbringt. (Unser Begriff vom ,Instinkt')." (BPP I, § 556)

„Primitive Reaktionen" bedürfen keiner Rechtfertigung (PU II, 529f.). Hier ist das Ende der Untersuchung erreicht. Das primitive Sprachspiel ist als letzte und unbegründbare Instanz dem Handeln vorgegeben (BPP II, § 543). Muster und l^ebensformen. Mit der Verfeinerung des Emotionsverhaltens verändert sich die Verwendung der entsprechenden Begriffe und damit auch deren Bedeutungen (LS I, § 899). Nach Wittgenstein ist die Bedeutung eines Wortes die Art und Weise, wie es gebraucht wird (PU § 43). Mit der Einführung neuer, feinerer Sprachspiele verändert sich auch die Bedeutung der emotionalen Ausdrücke. Auf diese Weise erfährt das Emotionsverhalten insgesamt eine Differenzierung und einen Bedeutungswandel. In den Sprachgebräuchen wird das emotionale Verhalten zu bestimmten 10

Hertzberg 1992, 25f.

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„Mustern" geordnet, die innerhalb eines bestimmten Kontextes auftreten. Die Muster stellen eine Art Bild her, das aus Gesten, Verhaltensweisen, Körperhaltungen, Gesichts- und Sprachausdrücken zusammengefügt wird. Jedes Muster steht für eine bestimmte Emotion; jede Emotion kann sich in einer Fülle unterschiedlicher Muster zeigen. Der Ausdruck einer Emotion ist variabel und kann sich in unterschiedliche Muster anderer dazu passender emotionaler Ausdrücke einfügen. Es gibt keine festgelegten Kombinationen von Ausdrücken, Handlungen und Gesten, die ein Handlungsmuster ausmachen. Beweglichkeit und Unregelmäßigkeit sind charakteristisch für Emotionsbegriffe (LS I, § 211).11 Die Muster der Sprache über Emotionen sind in menschliche Handlungszusammenhänge eingebettet; sie gehören als „Lebensmuster" zu einer „Lebensform". Auf den einfachen Sprachspielen bauen die komplizierteren auf, beispielsweise Sprachspiele, in denen Täuschung und Zweifel entstehen. Auf der Ebene des instinktiven Sprachhandelns, der untersten Stufe des Sprachgebrauchs, handeln die Sprecher jedoch mit Gewissheit. Dem cartesianischen Zweifel setzt Wittgenstein eine körperliche Gewissheit entgegen, die sich in der Handlungspraxis herstellt. Erst auf dieser Grundlage sind Täuschung und Zweifel möglich. Wittgenstein beschreibt die Gewissheit als einen Glauben, der durch Beweise weder gestützt noch entkräftet werden kann. Mit seinen Handlungen tritt das Kind in ein Sprachspiel ein und erwirbt hier seinen Glauben an die Tätigkeit seiner Sinne, seines Körpers, an die Existenz von anderen und von sich selbst (LS I, § 873). Gewissheit und Glauben gehören für Wittgenstein in den Zusammenhang eines „Weltbilds" oder „Hintergrunds". Darunter versteht er ein Gewebe aus Uberzeugungen, selbstverständlichen Annahmen und Glaubenssätzen, die eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Sprachspielen jeglicher Art sind. Das „Weltbild" besteht weder aus einem begründbaren Wissen noch aus gegebenen Wahrheiten; es kann je nach Kultur und Zeitalter unterschiedlich gebildet werden kann. In ihren Gewissheiten stimmen die Menschen überein — eine Ubereinstimmung, die aus ihrer jeweiligen „Lebensform" entsteht (PU § 241). In eine „Lebensform" wächst der Mensch seit seiner frühesten Kindheit gleichsam hinein und nimmt sie an, ohne sie zu hinterfragen. Zu den Gewissheiten der Lebensform gehören

11

Michel ter Hark verweist darauf, dass die Idee der Beweglichkeit und Variabilität, die in dem wittgensteinschen Begriff des „Musters" mitgedacht wird, von Darwin beeinflusst worden ist. Vgl. Hark 2004, 125ff.

Wittgenstein: Das Sprachspiel der 1 emotionen

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Annahmen, die wir niemals bezweifeln, wie jene, dass ich einen Körper habe, dass ich auf dem Planeten Erde lebe, dass ich so und so alt bin und so und so heiße. Sie sind ein unbegründbares „Hinzunehmendes" (PU II, 572). Freilich sind sie keine feststehenden Wahrheiten, sondern können in manchen Fällen, in denen sich grundlegend neue Situationen ergeben haben (ζ. B. durch technologische Innovationen wie Raumfahrt, Einführung des Fernsehens, Gentechnologie), durch andere ersetzt werden. Insofern sie den Sprachspielen vorausliegen und Teil der menschlichen „Lebensform" sind, bezeichnet Wittgenstein sie als etwas „Animalisches" (ÜG § 358f.). Gesellschaftliche und kulturelle Differenzen sind zwar auf dieser Stufe nicht ausgeschlossen — einen „Nullpunkt" menschlicher Entwicklung nimmt Wittgenstein nicht an —, aber sie haben einen, in diesem Sinne eingeschränkten, universalen Charakter. Sie gehören zur „Naturgeschichte" der Menschen (PU § 25). Mit der Annahme, dass es ein allgemeines Fundament der Praxis gibt, lässt sich von Wittgenstein her die Möglichkeit eines zwischenmenschlichen Verstehens unabhängig von Erziehung, Gesellschaft und Kultur entwerfen.

4. Schluss Wittgensteins Überlegungen zur Emotion und ihrem Ausdruck liegen außerhalb des Bereichs wissenschaftlicher und philosophischer Theorien über diesen Gegenstand. Gemäß seiner Methode der „übersichtlichen Darstellung" beschreibt er die Grammatik und den Gebrauch der Sprache über Emotionen. Mit dem Argument gegen die Privatsprache weist er drei Merkmale zurück, die gewöhnlich als konstitutiv für das Sprechen über Inneres und damit über Emotionen angesehen werden: die Gegenständlichkeit des Inneren, eine eigene Sprache für dessen Beschreibung und die Möglichkeit, das Innere direkt zu erkennen. Hingegen hält er eine Beschäftigung mit den Emotionen in der geregelten Praxis eines Sprachspiels nicht nur für möglich, sondern gibt auch genau an, wie dies möglich ist: Er konstruiert das Modell eines Sprachspiels über Emotionen, das ausgehend von „primitiven Reaktionen" die Erfassung von „Mustern" des emotionalen Verhaltens beschreibt.

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Gunter Gebauer und Anna Stuhldreher

Literatur Wittgensteins und James' Schriften werden unter Angabe von Siglen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Wittgenstein: BPP — Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie GB — Bemerkungen über Fräsers „The Golden Bough " LS - Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie PU - Philosophische Untersuchungen ÜG - Ober Gewissheit VB — Vermischte Bemerkungen Ζ — Zettel James: PP

- The Principles of

Psycholog

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Martin Heidegger (1889-1976) Otto Friedrich Bollnow (1903-1991)

Heidegger und Bollnow: Theorie der Befindlichkeit und ihre Kritik Barbara Merker In der Geschichte der Philosophie sind Emotionen, Affekte, Gefühle zumeist im Kontext allgemeiner philosophischer Annahmen über die Seele und ihre Beziehung zum Körper und zur Welt betrachtet worden. Auch die Theorie der Befindlichkeit, die Martin Heidegger 1927 in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit entwickelt, ist in solche philosophische Uberlegungen eingebettet. Allerdings setzt sich Heidegger in drei Hinsichten von der philosophischen Tradition ab. Förstern besteht Sein und Zeit zum größten Teil in einer Kritik der Tradition der Ontologie, Psychologie und Erkenntnistheorie und im Entwurf einer Alternative dazu. Zweitens behandelt Heidegger neben den Emotionen bzw. Affekten auch Stimmungen als eine Weise der Befindlichkeit und macht zudem auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Stimmungen und Emotionen 1 aufmerksam. Und drittens interessiert er sich nicht für die Mannigfaltigkeit von Stimmungen und Emotionen. Die Befindlichkeit hat zum einen eine methodische Funktion bei seiner Suche nach dem Sein des Daseins als Sorge, zum anderen ist sie als Moment dieser Sorgestruktur relevant. Mit Blick auf diese beiden Interessen hält er die Analyse von nur einer Stimmung, der Angst, und einer Emotion, der Furcht, für hinreichend. Im Folgenden möchte ich zunächst Heideggers Theorie der Befindlichkeit in ihrer Gabelung in Stimmungen und Emotionen darstellen. Anschließend wende ich mich den Untersuchungen von Otto Friedrich Bollnow zu, der in Anlehnung an Heidegger, doch auf der Basis seiner eigenen methodischen Alternative, die Vielfalt der Stimmungen untersucht und gegen Heidegger die existenzielle Bedeutung auch der positiven Stimmungen betont.

1

Heidegger selbst verwendet statt des heute gebräuchlicheren Ausdrucks „Emotion" in der Regel den Ausdruck „Affekt"; an einer Stelle allerdings schreibt er der Emotion der Furcht einen „Stimmungs- und Affektcharakter" zu (SuZ 341).

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1. Heideggers Theorie der Befindlichkeit Heideggers Konzeption der Befindlichkeit hat eine doppelte Funktion. Zum einen finden wir sie im Kontext seiner Entfaltung der Struktur des Seins des Daseins. Er möchte zeigen, wie wir uns, gegen die Dominanz eines unpersönlichen, instrumenteilen und verdinglichenden Selbstverständnisses 2 , im Alltag und in der Philosophie angemessen verstehen sollten. Ein erster Höhepunkt seiner Ausführungen dazu besteht in der Explikation unseres Seins als Sorge. Dass wir Sorgende sind, bedeutet für ihn, dass es uns in unserem Sein immer um unser Sein geht. Der Ausdruck „Sorge" ist eine Art Kürzel für einen komplexen Strukturbegriff, den Heidegger im § 41 als „Siclrvorweg-schon-sein-in 3 (der Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)" und „Mitsein" (mit Anderen) entfaltet. Das Moment des Sich-vorweg bezeichnet er auch als Entwurf oder Existen^ialität oder Worum-wilkn. Gemeint ist damit vor allem, dass wir existieren, indem wir in der Gegenwart immer schon zukünftige Möglichkeiten unseres Seins erschlossen haben. In diesem Sinne sind wir Möglich-sein und Sein-können. Das Moment des Schon-seins bezeichnet er auch als Geworfenbeit oder Eakti^ität. Gemeint ist damit unter anderem, dass wir uns faktisch und ungefragt immer schon in der Welt der Gegenwart befinden, von der und deren Möglichkeiten aus wir die Möglichkeiten unseres Seins entwerfen müssen. In diesem Sinne sind wir notwendig Möglich-sein. Die Momente des Seins-bei (innerweltlich Seiendem) und Mit-seins (mit Anderen) werden als Verfallenheit charakterisiert. Heidegger bevorzugt die Metapher der Verfallenheit gegenüber dem durch Franz Brentano und Edmund Husserl wieder in die philosophische Diskussion eingebrachten Begriff der Intentionalität, weil sie anschaulich sowohl die innere zeitliche Bewegtheit des Daseins zum Ausdruck bringt als auch ei2

Eine solche Selbstverdinglichung des Menschen versucht Heidegger nicht nur dem alltäglichen Leben und der Philosophie nachzuweisen. In alten Mythen, wie sie in Piatons Phaidros und Politela dargestellt werden, im Neuplatonismus, in der Gnosis und in den Dogmen des Christentums sieht er in verdinglichter Gestalt, nämlich als Geschehen in Raum und Zeit, eine Bewegung des Abfalls vom und der Rückkehr zum Ursprung dargestellt, die ursprünglich und eigentlich ein inneres Geschehen des Daseins ist. Auch der zeitgenössischen Kulturphilosophie und Kulturkritik (Klages, Spengler, Ziegler, Dilthey, Jaspers, Scheler, Cassirer) liegt ihm zufolge ein verdinglichtes Verständnis des Daseins zugrunde. Näher untersucht habe ich dies in Merker 1989 und 2002; zur „Grundttäuschung" auch Merker 1988, 74ff.

3

Das „Sich" impliziert dabei selbst immer schon die gesamte Sorgestruktur.

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ne folgenschwere asymmetrische Gerichtetheit oder Einseitigkeit der Intentionalität: Es ist konstitutiv für unsere „natürliche Einstellung", dass wir „zunächst und zumeist" nicht bei uns selber, sondern bei innerweltlich Seiendem sind. Das alltägliche instrumentelle Selbstverständnis und das verdinglichende Selbstverständnis des Menschen in der Tradition der Philosophie haben ihm zufolge beide ihren Ursprung in dieser „Verfallenheit". Die Struktur der Einheit von Gemrfenheit, Entwurf und Verfallenheit ist ebenso wie die Welt als Garthe durch zwei gleichursprüngliche Weisen des In-Seins erschlossen: zum einen durch die Befindlichkeit, die im Folgenden das Thema sein wird; zum anderen durch das Verstehen.4 Damit meint Heidegger nicht nur im engeren Sinne den Zugang zu mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, sondern die praktische Fähigkeit des Umgangs mit Zuhandenem aller Art zur Verwirklichung von Zwecken. Als Verstehende und Gestimmte haben wir immer schon die Welt als ein Ganzes von Bedeutungen und Bedeutendem erschlossen, bevor wir an Einzelnes in ihr verfallen, indem wir bestimmtes Zeug besorgen, zum Beispiel einen Nagel in die Wand schlagen, oder uns in bestimmten Emotionen befinden, zum Beispiel den sich nähernden Tiger fürchten. Heideggers Versuch, die existen^alen Grundbestimmungen des Daseins von den kategorialen Bestimmungen des innerweltlich Seienden abzugrenzen, betrifft die modalen Bestimmungen des Möglich-, Wirklich- und Notwendigseins ebenso wie die lokalen und temporalen Bestimmungen. „Da-sein" bezeichnet sozusagen nur die existenzielle, persönliche, leibgebundene Perspektive des Menschen, 5 die in der existenzialen Analytik zum Thema wird. Um diesen Einsichten in die Besonderheit des Menschen als Dasein auch sprachlich gerecht zu werden, entwickelt Heidegger eine neuartige Terminologie. Er unterscheidet die Seinsweisen der Zuhandenheit (des Zeugs), der Vorhandenheit (der Dinge), der Existenz (des Daseins und Mitseins) sowie der diesen korrespondierenden Weisen des Zugangs dazu: die Umsicht und Vorsicht, die Durchsicht und die Rück- und Nachsicht. Im Unterschied zur philosophischen Tradition, die sich nur für das allgemeine Wesen des Menschen interessiert hat, betont Heidegger auch noch

4 5

Als dritte Weise des In-seins unterscheidet Heidegger noch die Rede, die als Artikulation des Verstehens und Befindens diese beiden bestimmt. „Dasein" ist ein Seiendes — nach Heidegger „wir je selbst" —, für das es wesentlich und konstitutiv ist, in einer solchen existenziellen Perspektive zu existieren, eben „da" zu sein (SuZ 41, 196).

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die ]emeinigkeit dieses Wesens und damit die prinzipielle Unvertretbarkeit und Unaustauschbarkeit beim Existieren. Die Befindlichkeit ist also, neben dem Verstehen, %um einen ein „fundamentales Existenzial" und konstitutives Moment der Sorgestruktur. Zum anderen hat ein bestimmter Modus der Befindlichkeit, nämlich die Stimmung der Angst, eine zentrale methodische Funktion. An ihr nämlich kann, wie Heidegger glaubt, die komplexe Struktur des Seins des Daseins als Sorge, die er zunächst sukzessiv und getrennt in ihren einzelnen Momenten untersucht hat, auf einen Schlag vereinfacht und vereinheitlicht zugänglich werden. Konturen gewinnt die Stimmung der Angst als eigentlicher Modus der Befindlichkeit noch dadurch, dass er sie zur Emotion der Furcht als einem un eigentlichen Modus der Befindlichkeit (SuZ 189, 341) in vergleichende Beziehung setzt. Andere Stimmungen und Emotionen erwähnt er nur beiläufig, da sie keine genuine Funktion im Rahmen seiner existenzial-ontologischen Untersuchungen haben.6 Heideggers auf den ersten Blick nicht gerade erhellenden Beispiele für Stimmungen sind „der ungestörte Gleichmut" und der „gehemmte Mißmut" des alltäglichen Besorgens; weiter „Verstimmungen", in denen das Dasein „ihm selbst gegenüber blind" wird, „die besorgte Welt" sich „verschleiert" und die „Umsicht des Besorgens" das Dasein „mißleitet"; und schließlich die „oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit", in der „das Dasein ihm selbst überdrüssig wird" und das Sein als „Last offenbar geworden" ist, nämlich eine Stimmung der „Gleichgültigkeit", die „mit einer sichüberstürzenden Geschäftigkeit zusammengehen kann", 6

Eine Untersuchung der Vielfalt von Phänomenen der Befindlichkeit gehört für ihn nur zu einer noch fehlenden „Psychologie der Stimmungen" und sei im Wesentlichen von Aristoteles bereits geleistet worden. Er weist darauf hin, dass aufgrund seiner ausschließlich fundamentalontologischen Interessen „die verschiedenen Modi der Befindlichkeit und ihre Fundierungszusammenhänge nicht interpretiert werden" können. Außerdem erwähnt er Stationen in der Geschichte der Philosophie der Affekte von Aristoteles über die Stoa, die patristische und scholastische Theologie, Augustin und Pascal bis hin zu Scheler. Heidegger behauptet von der ontologischen Interpretation der Affekte, dass sie seit Aristoteles keinen nennenswerten Schritt vorangekommen sei. Kritisch betrachtet er die zeitgenössische Einordnung von Affekten und Gefühlen in die, neben Vorstellen und Wollen, dritte Klasse psychischer Phänomene und ihr Herabsinken zu bloßen „Begleitphänomenen". Ausdrücklich lobt er dagegen Aristoteles' Untersuchung der Affekte im zweiten Buch der Rhetorik und die darin enthaltene Charakterisierung des Redners als einer Person, die ein Verständnis der Stimmungen entwickelt haben muss, um Stimmungen und Meinungen bei dem Auditorium zu wecken und zu lenken (SuZ 138ff.).

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welche „an nichts hängt und zu nichts drängt und sich dem überläßt, was je der Tag bringt, und dabei in gewisser Weise doch alles mitnimmt", ein „Dahinleben, das alles ,sein läßt', wie es ist".7 Eine solche „Gleichgültigkeit" möchte er vom „Gleichmut" scharf trennen ebenso wie vom ruhigen Verweilen bei als Stimmung der reinen theoretischen Einstellung. Weitere Stimmungen, die er erwähnt, aber nicht weiter erläutert, sind Uberdruß, Traurigkeit, Schwermut, Verzweiflung, „niederdrückende Bangigkeit" und — als einzig positive Stimmung — die Heiterkeit (SuZ § 29, 345). Außerdem unterscheidet er dazugehörige Weisen des Ubergangs von einer Stimmung zur anderen: das „Hinübergleiten", das „Ausgleiten", das „Verdorben werden" und das „Umschlagen". Indirekt lässt sich dem noch entnehmen, dass Stimmungen entweder unbezogen aufeinander sich sukzessive ablösen oder, wie die Verstimmungen, auf ihre Vorgänger reaktiv bezogen sind. Im § 68 erwähnt er als Beispiele für Emotionen noch Hoffnung, Freude, Begeisterung.8 Wesentlich ist nach Heidegger, dass unser Verstehen immer schon gestimmt ist und die Befindlichkeit immer schon verstehend und damit Bedeutungszusammenhänge erschließend. Konstitutiv für die Befindlichkeit (wie für das Verstehen) ist ihr universal erschließender Charakter. Unsere Stimmungen betreffen unbestimmt alles. Dabei ist das „gestimmte Sichbefinden" eine Seinsweise, in der Selbst und Welt, Innen und Außen gar nicht explizit unterschieden sind. Zu dem befindlichen Erschließen gehören weiter eigene „Evidenzen und Gewißheiten", die denen des theoretisch-reflexiven Erkennens nicht nur nicht unterlegen und nicht durch sie ersetzbar, sondern sogar vorausgesetzt für diese sind. Das, was die Befindlichkeit erschließt, hat Heidegger in drei Charakterisierungen der Befindlichkeit zusammengefasst: erstens erschließt die Befindlichkeit „das Dasein in seiner Gewogenheit und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr"; sqveitens ist sie eine Weise der ,¿leichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil 7 8

Vgl. die kritischen Einzelanalysen von Pocai 1996, 27ff. Die sprachliche Formulierung macht nicht immer klar, ob es sich um eine Stimmung oder um eine Emotion handelt. Begeisterung und Traurigkeit ζ. B. können intentional auf bestimmtes Einzelnes bezogen sein, aber auch auf das unbestimmt Allgemeine der Welt als Ganzer. Das gibt auch einen Hinweis auf die permanente Möglichkeit eines Umschlags von Stimmungen in Emotionen und umgekehrt. Die Stimmung, die Heidegger „gehemmter Missmut" nennt und die neben dem „ungestörten Gleichmut" eine Stimmung des alltäglichen Besorgens ist (SuZ 134), lässt sich ζ. B. so deuten, dass der Arger über die Störung bei einer Tätigkeit zu einer sich auf alles beziehenden Stimmung erweitert wird.

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diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist"; und drittens erschließt sie unsere „Angewiesenheit auf die Welt, aus der her Angehendes begegnen kann" (SuZ 136ff). Gemeinsam ist der ersten und dritten Charakterisierung der Befindlichkeit die Betonung der Passivität, Abhängigkeit und Ohnmacht als der einen Seite des Daseins — neben der Aktivität des verstehenden Entwurfs als der komplementären Seite. Strukturierend für alle Weisen der Befindlichkeit und alle anderen Weisen der Erschlossenheit ist nun ein Wesenszug, der in der Tradition der Psychologie als „Enge des Bewußtseins" bezeichnet worden ist. Diese besteht unter anderem darin, dass nicht alles, was erschlossen wird, auch mit gleicher Ausdrücklichkeit und Aufmerksamkeit erschlossen werden kann. Auf die dadurch erforderlichen Beschränkungen und Verlagerungen der Aufmerksamkeit hat auch die traditionelle Bewusstseinstheorie hingewiesen, vor allem Husserl mit seiner Unterscheidung von Horizont-Intentionalität und attentionaler Intentionalität. In diesem Sinne wurde zum Beispiel behauptet, dass Bewusstsein der Welt und Selbstbewusstsein zwar immer zusammen auftreten, aber niemals gleichzeitig gleichermaßen thematisch sein können. Vielmehr sind wir in der natürlichen Einstellung des Bewusstseins thematisch, ausdrücklich, aufmerksam auf Dinge der Welt gerichtet, während das Bewusstsein selbst unthematisch im Hintergrund bleibt; in der reflexiven Einstellung dagegen sind wir thematisch, ausdrücklich, aufmerksam auf das Bewusstsein bezogen, während die Welt horizonthaft im Hintergrund bleibt. Und weiter können wir innerhalb der natürlichen Einstellung nur selektiv auf bestimmte räumliche Dinge oder Ereignisse und innerhalb der reflexiven Einstellung nur selektiv auf bestimmte Bewusstseinszustände ausdrücklich und aufmerksam gerichtet sein. Das jeweils andere bleibt dabei wohl mitbewusst, aber unthematisch und unausdrücklich im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Die Schwierigkeiten, Horizonte in ihrer Weite als solche thematisch zu machen, und die von Heidegger immer wieder angeführte Gefahr ihrer Verdinglichung gehen auf die natürliche „Enge des Bewußtseins" und die „Verfallenheit" zurück. 9 Zwar hat Heidegger die in solchen Theorien zugrundegelegte Dominanz theoretischer Intentionalität und Reflexion kritisiert, wohl aber sich den Gedanken zu eigen gemacht, dass wir nicht allem gleichzeitig mit gleicher Ausdrücklichkeit zugewendet sein können. Vor allem drei unterschiedliche Arten der existenziellen Beschränkung und Verlagerung der Ausdrück9

Vgl. dazu Merker 1988, 75ff.

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lichkeit sind für Heideggers Suche nach dem Sein des Daseins von Belang: erstens die ,natürliche' Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das innerweltlich Seiende; ^weitem die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom innerweltlich Seienden weg auf den Horizont der Welt; und drittens die Verlagerung der Ausdrücklichkeit vom innerweltlich Seienden oder der Welt weg und hin zum Selbst im engeren Sinne — zur Geworfenheit, zum Entwurf oder zur Verfallenheit. Der ,Rest' des Erschlossenen bleibt dabei jeweils unausdrücklich im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Strukturierend für Heideggers Theorie der Befindlichkeit ist dieser Gedanke „wechselnder Ausdrücklichkeit" (SuZ 141), insofern von ihm auf dieser Basis zum einen eine interne Gliederung der Befindlichkeit in Stimmungen und Emotionen und der innere Zusammenhang des so Gegliederten aufgewiesen wird. Zum anderen ist eine solche Verlagerung der Aufmerksamkeit auch konstitutiv für eine Einteilung der Stimmungen in positive „gehobene" und negative „bedrückte" Stimmungen. Stimmungen erschließen Heidegger zufolge zwar immer schon das Ganze der Sorgestruktur und konstituieren die „Weltoffenheit" (SuZ 137) des Daseins; aber sie erschließen primär die Passivität des Daseins, seine Angewiesenheit auf die Welt und seine Geworfenheit oder Fakti^ität dass es ist und zu sein hat. Darin sieht Heidegger die „Last" des Daseins, die es nicht ablegen oder weitergeben kann, weil es selber diese Last ist, die es unvermeidlich zu übernehmen hat. Das gilt selbst dann, wenn es diese Last durch einen Akt der Selbsttötung endgültig loszuwerden versucht. Diesen Lastcharakter der Geworfenheit, die das Dasein als „gestimmtes Sichbefinden" immer schon „primär" erschlossen hat, erschließt es nun entweder nur unausdrücklich — in der Weise der „Abkehr", des „Abdrängens" und „Ausweichens" — oder es erschließt ihn ausdrücklich — in der Weise des „sich vor die Geworfenheit Bringens", als sich an ihr „Kehren" und ihr „Nachgehen" (SuZ 134). Die gehobenen Stimmungen wie Heiterkeit, Fröhlichkeit, Zufriedenheit, die Heidegger fast völlig ignoriert 10 , lassen sich so verstehen, dass sie sich nicht ausdrücklich an dem Lastcharakter des Daseins kehren, sondern sich vielmehr im Gegenzug von ihm ab- und der Welt zukehren. Nur in den gedrückten Stimmungen wird die Geworfenheit „ausdrücklich" und als Last erschlossen.

10

Im § 68, wo er auch die positive Stimmung der Heiterkeit erwähnt und die Begeisterung, sofern diese nicht als Emotion verstanden wird, verweist er darauf, dass „gehobene, besser hebende Stimmung" eine ontologisch negative Stimmung zur Voraussetzung hat.

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In seinen allgemeinen Ausführungen zur Befindlichkeit im § 29 geht es Heidegger aber nicht nur um das Wesen der Stimmungen, sondern auch um deren Verhältnis den Emotionen. Die Befindlichkeit in Form der Stimmungen erschließt zwar immer schon das ganze In-der-Welt-sein, aber sie erschließt ausdrücklich jeweils nur bestimmte Momente darin. In Form der positiven Stimmungen erschließt sie ausdrücklich die Welt und (vielleicht auch), sozusagen optimistisch unternehmungslustig, den aktiven Entwurfscharakter des Daseins, in Form der negativen Stimmungen das passive Moment seiner Faktizität und Geworfenheit als Last. Die Stimmungen erschließen zugleich die Angewiesenheit des Daseins auf die Welt als Voraussetzung dafür, dass innerweltlich Seiendes in der Verfallenheit begegnen und uns etwas angehen kann.11 Wichtig für ein Verständnis des systematischen Zusammenhangs von Stimmungen und Emotionen in der Theorie der Befindlichkeit ist nun der Umstand, dass Emotionen als die zweite Form der Befindlichkeit eine Weise der ausdrücklichen Verfallenheit an das innerweltlich Seiende darstellen. Heideggers Behauptung, dass die Befindlichkeit als eine Weise des In-Seins immer schon die gesamte Sorgestruktur als In-der-Welt-sein und verfallendes Sein bei innerweltlich Seiendem und Mitsein mit Anderen erschlossen hat, erfordert also aus systematischen Gründen ihre Gabelung in Stimmungen, die das In-der-Welt-sein als Ganzes mit unterschiedlichen Akzentuierungen erschließen, und „verfallende" Emotionen, in denen ausdrücklich das innerweltlich Seiende begegnet. Die Befindlichkeit betrachtet Heidegger weiter als Voraussetzung dafür, dass wir uns von solchem innerweltlich Seienden überhaupt „betreffen" lassen und „Sinn" für es haben, dass wir uns überhaupt etwas „uns angehen lassen", dass unsere Sinne durch etwas „gerührt" und wir von etwas „berührt" werden. „Affektion" hat für ihn insofern immer einen doppelten Sinn. Als Beispiele für existenziell relevante Eigenschaften des innerweltlich Seienden, die nur durch Emotionen zugänglich werden, erwähnt er nicht nur die Bedrohlichkeit, die durch Furcht zugänglich wird, sondern auch die „Undienlichkeit" und „Widerständigkeit", von denen nicht gesagt wird, welches die ihnen korrespondierenden Emotionen sind, die sie zugänglich machen sollen (SuZ 137).12 Solche Seinsweisen des Zu11 12

Zur „Angänglichkeit" als „affektive Disposition" vgl. Tugendhat 1979, 205. Auf den ersten Blick erscheint es so, dass die ,Eigenschaften' der Undienlichkeit und Widerständigkeit durch Störungen bei der Realisierung unserer Zwecke zugänglich werden. Aber Heideggers Hinweise darauf, dass unser Verstehen und Auslegen, alle Weisen des Besorgens immer schon befindliche sind, deuten dar-

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handenen kann jedenfalls nur ein Wesen entdecken, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Sie drücken sozusagen die existenzielle Relevanz des innerweltlich Seienden aus: in welcher störenden oder auch fördernden Beziehung es zum Dasein steht. Die Befindlichkeit insgesamt ist ein Ausdruck der Bedeutung, die etwas für das „jemeinige" Dasein hat. Stimmungen, behauptet Heidegger, haben „je schon das In-der-Weltsein als Ganzes erschlossen und machen ein Sich-richten-auf... allererst möglich" (SuZ 137). Eine solche bedingende, fundierende Funktion der Stimmungen lässt sich auf mehrfache Weise verstehen: Einmal kann damit gemeint sein, dass Stimmungen Voraussetzungen dafür sind, dass uns überhaupt etwas innerweltlich Seiendes in den Sinn kommen, dass es uns etwas bedeuten, dass uns an ihm etwas liegen und es uns etwas angehen kann. Es kann weiter bedeuten, dass es von den konkreten Stimmungen, die jeweils das Ganze des In-der-Welt-seins erschließen, abhängt, was uns als innerweltlich Seiendes überhaupt in den Sinn kommen und somit begegnen kann. Bestimmte Stimmungen zum Beispiel machen uns „blind" für bestimmtes innerweltlich Seiendes. Und schließlich könnte es auch bedeuten, dass die Weise wie, in welchen Eigenschaften uns innerweltlich Seiendes betrifft, von unseren Stimmungen nicht unabhängig ist. Auf diese Weisen ließe sich Heideggers Behauptung interpretieren, dass unsere emotionale „Angänglichkeit" durch Stimmungen „vorgezeichnet" sei (SuZ 137). Konkret würde dies bedeuten, dass zum Beispiel in bestimmten düsteren Stimmungen freudige Emotionen und die durch sie erschließbaren positiven Eigenschaften des innerweltlich Seienden ganz und gar unmöglich wären. An zwei Beispielen — an der Emotion der Furcht und an der eminenten Stimmung der Angst — verdeutlicht Heidegger die allgemeine Struktur der Befindlichkeit, die selber wiederum ein Moment der formalen Sorgestruktur darstellt. Die Struktur der Befindlichkeit ist dreigliedrig. Sie besteht erstens in der je spezifischen Weise der Befindlichkeit, in dem Worin, zweitens in dem Wovofö und drittens in dem Worum. Diese allgemeine

13

auf hin, dass Undienliches und Widerständiges uns nur deswegen „betroffen" machen und „stören" können, weil wir uns immer schon in bestimmten Befindlichkeiten befinden. Schon unsere Zwecksetzungen finden auf dem Boden unserer jeweiligen Befindlichkeiten statt. Da Heidegger nur Furcht und Angst ausführlich behandelt, wird nicht deutlich, dass das „Wovor" zwar eine sinnvolle Frage an diese beiden, aber nicht an die Emotionen der Freude, Hoffnung, des Neides oder an die Stimmung der Heiterkeit ist. Insofern müsste das „Wovor" noch um das „ W o r a u f und „Worüber" ergänzt werden.

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Struktur der Befindlichkeit wird aber in den Stimmungen und in den Emotionen auf zwei unterschiedliche Weisen konkretisiert. Die Stimmungen erschließen das In-der-Welt-sein als Ganzes, wobei die positiven Stimmungen ausdrücklich die Welt, die negativen Stimmungen ausdrücklich die Last der Geworfenheit erschließen. Die Emotionen als eine Weise des Verfallenseins entdecken dagegen ausdrücklich das innerweltlich Seiende14, verdecken aber die Momente der S orge struktur, die das Verfallensein an das innerweltlich Seiende ermöglichen; diese bleiben, obgleich immer miterschlossen, nur unausdrücklich und unthematisch im Hintergrund der Aufmerksamkeit.

2. Die Emotion der Furcht Heidegger beginnt seine Untersuchung der beiden Weisen der Befindlichkeit im § 30 mit der Emotion der Furcht. Emotionen sind für ihn die Weisen der Befindlichkeit, die Innerweltliches erschließen. Von anderen, auch gegenwärtigen Emotionstheorien unterscheiden sich seine Ausführungen positiv durch mehrere Behauptungen oder Implikationen: erstens dadurch, dass er Emotionen als eigenständige Phänomene betrachtet, die nicht auf andere existenzielle Phänomene wie Wünsche, Uberzeugungen, Werturteile, Lust oder Unlust oder Kombinationen von diesen reduziert werden können;15 zweitens durch seine Aufmerksamkeit auf verschiedene 14

15

Unberücksichtigt lässt Heidegger dabei anscheinend die Möglichkeit von MetaEmotionen, in denen Emotionen sich auf eigene oder fremde Emotionen beziehen, und die Möglichkeit, dass sich Emotionen auf andere Seinsweisen des Daseins beziehen. Nussbaum 2004 und Solomon 2004 etwa reduzieren Emotionen auf evaluative Urteile, Searle 1987 (amerik. zuerst 1983) oder Green 1992 auf ein WunschÜberzeugungspaar. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive werden Emotionen, zum Beispiel bei LeDoux 2001 (amerik. zuerst 1996) oder Damasio 1999, häufig mit bestimmten zerebralen oder viszeralen Erregungszuständen gleichgesetzt (dazu SuZ 190). Die frühen Empiristen reduzieren Emotionen auf nicht-intentionale (Lust-/Unlust-) Empfindungen, für Goldie 2004 handelt es sich um intentionale Gefühle. Andere wiederum vertreten, wie de Sousa 1997, eine Komponententheorie, der zufolge, in unterschiedlichen Kombinationen, mehrere Komponenten eine Emotion konstituieren. Die Theorien unterscheiden sich basal auch dadurch, ob sie Emotionen, wie bei Goldie, aus der Perspektive des persönlichen emotionalen Erlebens beschreiben, oder, wie bei Damasio und LeDoux oder den Komponententheoretikern, aus einer externen oder intern-extern gemischten Perspektive. Eine gute Übersicht bietet Green 1992.

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Arten sozialer Emotionen; drittens durch seine penible Analyse des „Wovor" der Furcht; viertens durch seine Charakterisierung des Fürchtens; und fünftens durch die Betonung des zumeist ignorierten „Worum" der Emotionen. Wie an allen Modi der Befindlichkeit lassen sich an der Emotion der Furcht drei Aspekte unterscheiden: das Wovor, das Worin und das Worum. Das Wovor der Furcht ist etwas „innerweltlich Begegnendes von der Seinsart des Zuhandenen, Vorhandenen oder Mitdaseins" (SuZ 140): etwas Furchtbares. Heidegger orientiert sich hier implizit an der Auffassung, dass jede Emotion mit einer emotionsangemessenen Eigenschaft des Objektes, auf das die Emotion gerichtet ist, in einem Sinnzusammenhang steht: die Freude mit dem Erfreulichen, der Neid mit dem Beneidenswerten, die Furcht mit dem Furchtbaren. 16 Diese Auffassung lässt sich auch auf die Ausdrücke ausweiten, die verwendet werden können, um Ausdrücke wie „Erfreuliches", „Beneidenswertes", „Furchtbares" zu erläutern. Genau dies versucht Heidegger am Beispiel des Furchtbaren als dessen, wovor man sich fürchtet, wenn man sich fürchtet. Erhellend an dieser Analyse des Furchtbaren ist zunächst die Unterscheidung des Bedrohlichen von dem bloß Abträglichen. Zwar ist alles Bedrohliche auch abträglich, aber nicht alles Abträgliche ist auch bedrohlich. Ein Tiger, der im Dschungel oder hinter Gittern sitzt, ist zwar abträglich, aber bedrohlich, also existenziell relevant, wird er erst, wenn er, aus dem Dschungel oder dem geöffneten Käfig kommend, sich meinem Schreibtisch nähert und auch bereits in dessen Nähe ist. Weiter macht Heidegger aufmerksam auf einen Sachverhalt, der in den gängigen Emotionstheorien ebenfalls unterbelichtet bleibt, nämlich darauf, dass das Bedrohliche nicht kontextfrei erscheint, sondern aus einer bestimmten „Gegend" kommt, die deswegen sozusagen mitgefürchtet wird. Sie ist nicht „geheuer" (SuZ 140). Und schließlich verweist er auf die für die Furcht konstitutive Ungewissheit des Eintreffens des Furchtbaren: ob der Tiger mich verletzt und tötet oder ob ich noch einmal davonkomme. Wenn das Abträgliche droht und es uns treffen kann oder nicht, wird es zum Furchtbaren. Entdeckt wird dieses aber erst durch das Sich-fürchten. Das Fürchten selbst ist eine Weise, in der das Dasein sich befindet. Heidegger erläutert sie als das „sich-angehen-lassende Freigeben des so 16

Zu dieser Theorie des „formalen Objekts" vgl. Kenny 1963, 189ff; de Sousa 1997, 204ff; interne Differenzierungen nimmt Goldie 2002, 11 ff. vor; zu „emotion-proper properties" siehe Goldie 2004, 94.

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charakterisierten Bedrohlichen" (SuZ 141). Darin, dass wir das Bedrohliche uns etwas angehen lassen, unterscheidet sich das Fürchten von einem zum Beispiel nur theoretischen, unbetroffenen Konstatieren des Bedrohlichen. Mit dem Freigeben des Bedrohlichen ist das Sich-nähern-können gemeint, das die existenziale Räumlichkeit des Daseins voraussetzt. Das Worum der Furcht ist das Dasein selber. Heidegger betont hier, dass eine Voraussetzung des Fürchtens die Sorge des Daseins ist, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht. Insofern erschließt die Furcht nicht nur als eine Weise der Verfallenheit das innerweltliche Wovor des Fürchtens, sondern, obgleich unausdrücklich und „vorwiegend in privativer Weise", „gleichursprünglich" auch das Dasein selber als Gefährdetes und Bedrohtes. Heidegger gehört zu den wenigen Philosophen, die auch eine bestimmte soziale Form der Emotionen thematisiert haben. Er hat dabei fruchtbare Differenzierungen eingeführt, wenn auch leider, im Unterschied zum Beispiel zu Max Scheler, nicht alle ausgeführt. 17 Bezogen auf den konkreten Fall des Fürchtens unterscheidet er das Fürchten für jemanden als eine Weise der Mitbefindlichkeit von dem Sich-mitfürchten und dem Miteinanderfürchten (SuZ 141£). Leider überlässt Heidegger die Interpretation dieser letzten beiden sozialen Weisen des Fürchtens der Leserin. 18 Der Ausgangspunkt seiner Diskussion ist die Beobachtung, dass das Worum der Furcht nicht zwingend nur das sich jeweils fürchtende Dasein selber sein muss, sondern durchaus auch ein anderes Dasein (Mitdasein) sein kann. Wenn ich nicht um mich selber, sondern für einen anderen fürchte, ist dies aber erstaunlicherweise kompatibel damit, dass ich mich nicht fürchte, dass ich ihm die Furcht nicht abnehmen kann und dass auch er sich selbst nicht fürchtet — im Gegenteil fürchten wir oft gerade deshalb für jemanden, weil er sich selbst nicht fürchtet und „tollkühn dem Drohenden sich entgegenstürzt" (SuZ 141f.). In seinen anschließenden Überlegungen revidiert Heidegger diese Auffassung scheinbar, wenn er behauptet, dass genau besehen das Fürchten für jemanden doch auch ein Sich-fürchten ist. Allerdings ist dies nur in einem abgeleiteten Sinne der Fall. Wer sich für jemanden fürchtet, fürchtet, dass etwas Furchtbares dessen Wohl bedroht. Von dieser Bedrohung ist der Fürchtende zwar selber

17 18

Scheler 1976 (zuerst 1913). Schelers Unterscheidung von Miteinanderfühlen und Anteilnahme an den Gefühlen des anderen in Sympathie, Mitleid oder Mitfreude bilden hier anscheinend den hilfreichen Hintergrund, Scheler 1976, 17ff.; vgl. Krebs 2007.

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nicht direkt betroffen, wohl aber indirekt mitbetroffen, falls sein eigenes Wohl von dem Wohl des Anderen berührt wird. Wovor er sich fürchtet, ist dann zum Beispiel, dass der Andere ihm „entrissen" werden könnte; und das Worum seiner Furcht wäre in diesem Fall das zum Sein des Daseins hinzugehörende Mitsein mit dem Anderen.

3. Die Stimmung der Angst Heideggers Analyse der Furcht als Beispiel für die emotionale Seite der Befindlichkeit dient der abgrenzenden Konturierung der Stimmung der Angst, hat aber keine eigenständige methodische Funktion. Das unterscheidet sie von der Angst. Nachdem er in den ersten fünf Kapiteln von Sein und Zeit die Grundbestimmungen des Daseins einzeln eingeführt und erläutert hat, sucht er im sechsten Kapitel nach einem „einheitlichen phänomenologischen Blick" auf die „phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung" des Daseins und zwar nach einer „Weise des Erschließens, in der das Dasein sich vor sich selbst bringt", und zwar so, dass es sich „vereinfacht" zugänglich wird (SuZ 182). Die Stimmung der Angst hält er für geeignet, diese Funktion zu erfüllen und ausgehend von ihr die Sorgestruktur zu gewinnen, die die bislang einzeln entfalteten Grundbestimmungen des Daseins in einen einheitlichen Zusammenhang bringt. Diese Auszeichnung der Angst vor anderen Stimmungen basiert %um einen auf Heideggers phänomenologischer Methodologie, zu der die Forderung gehört, philosophische Einsichten stets an vorphilosophische zu binden. Die phänomenologische Interpretation [muss] dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen. Sie geht in diesem Erschließen nur mit, um den phänomenalen Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu heben (SuZ 139f.).

Verhindern möchte er so die Fehler der traditionellen Methode psychologischer Reflexion, die eine verdinglichende und „künstliche Selbsterfassung des Daseins" zur Folge hat (SuZ 182). Da das Dasein in der Angst „ihm selbst in ausgezeichneter Weise erschlossen ist", ist sie besonders geeignet für die methodische „Möglichkeit, im interpretierenden Mit- und Nachgehen innerhalb eines befindlichen Verstehens zum Sein des Daseins vorzudringen (SuZ 185)".

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Zum anderen spielt die „Grundbefindlichkeit" 19 der Angst als „Stimmung der Unheimlichkeit" eine Rolle, insofern sie die „Möglichkeit eines ausgezeichneten Erschließens" bietet, „weil sie vereinzelt" (SuZ 187). Als Sich-Angstigende machen wir, im Gegensatz zur Furcht und anderen Emotionen, die Erfahrung, dass das einzelne innerweltlich Seiende und die öffentlichen Bedeutsamkeiten — Normen, Regeln, Rituale, Moden, Prioritäten, Institutionen, Zuhandenheiten — ihre „Vertrautheit" und persönliche Bedeutung für uns verloren haben. Eine solche Situation des „Unzuhause", in der uns nichts Innerweltliches mehr betrifft und ergreift, uns nichts mehr etwas sagt und bedeutet, uns nichts mehr etwas angeht und berührt, nennt Heidegger „Vereinzelung". Vereinzelung ist die erlebte Diskrepanz von öffentlicher Bedeutsamkeit und existenzieller Gleichgültigkeit. Es ist das Thema der späteren Analysen des eigentlichen Verstehens und der eigentlichen Rede, dass das in der angstvollen Vereinzelung liegende „Freisein" von den öffentlichen Bedeutungen im Sinne ihrer persönlichen, existenziellen Unbedeutsamkeit als Chance für die „Freiheit" des eigentlichen Entwerfens von Existenzmöglichkeiten begriffen werden kann. Aufgrund der Passivität und Ohnmacht der Befindlichkeit ist es aber fraglich, ob die auf die Angst folgende Aktivität der Selbstentwürfe das Problem der existenziellen Irrelevanz lösen kann — zum Beispiel durch eine partielle Veränderung der Welt, durch die Bemühung um ihre persönliche Zu- und Aneignung oder durch das Ausschöpfen übersehener Möglichkeiten. Heidegger interessiert sich aber nicht für dieses existenzielle Grundund Grenzproblem und seine Lösung, sondern für die methodische Möglichkeit, das in der eigentlichen Stimmung der Angst existenziell Erschlossene existenzial auf den Begriff der Sorge zu bringen. Weil „das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende", die „Welt" und das „Mitdasein Anderer" dem Ängstigenden „nichts mehr zu bieten" vermögen, kann er sich nicht mehr verfallend „aus der ,Welt' und der öffentlichen Ausgelegtheit" verstehen (SuZ 187). Diese „völlige Unbedeutsamkeit" von Innerweltlichem und Welt ermöglicht es aber, dasjenige existenziell ausdrücklich zu erschließen, was eigentlich und primär bedeutsam ist, aufgrund der Verfallenheit an die öffentlichen Bedeutsamkeiten aber in 19

Die Formulierungen Heideggers implizieren, dass es mehrere solcher ausgezeichneten Stimmungen gibt; er begründet nicht, warum er unter ihnen speziell die Angst auswählt. An anderen Stellen scheint er die Grundstimmung der Langeweile zu bevorzugen (GM 89f£, 117f£, 235-248; KPM 251; W M 11 Off.). Zur Deutung der Langeweile vgl. auch Ferreira 2002, 188ff.

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den Hintergrund der Aufmerksamkeit gedrängt wird: dass es uns letztlich um unser Sein selbst geht, dass wir sind und zu sein haben. Diese existenzielle Situation, in die der existenziale Interpret sich hineinversetzt und in der das Worin, Wovor und Worum der Angst als eigentlichem In-derWelt-sein(-können) zusammenfallen, gibt ihm die Möglichkeit, das in der Angst implizit verstandene Sein des Daseins als In-der-Welt-sein und Sorge explizit zu machen. 20 Die eigentliche Angst ist also geeignet zur Gewinnung der formalen S orge struktur, sie gehört als einzige konkrete Befindlichkeit aber auch zum Wesen des Menschen und durchzieht als „Grundstimmung" der metaphysischen Heimatlosigkeit und Fremdheit in der Welt, mit der er unauflöslich verbunden ist, latent immer schon alle Seinsweisen des Daseins. Dass wir nicht immer nur aufmerksam auf uns selbst bezogen sind, sondern uns in der natürlichen Einstellung, zum Beispiel in der Emotion der Furcht, „zunächst und zumeist" auch ausdrücklich und verfallend auf das innerweltlich Seiende beziehen, interpretiert Heidegger daher nicht nur als eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, wie sie für endliche Wesen aufgrund der „Enge des Bewußtseins" nun einmal notwendig ist, sondern als „Flüchten", „Ausweichen", „Abblenden" der in der Angst latent immer schon erschlossenen „Unheimlichkeit" (SuZ 188f.).21 Entgegen seinen Beteuerungen, die verschiedenen Seinsweisen des Daseins nicht zu bewerten, charakterisiert Heidegger die „verfallene" Emotion der Furcht als „uneigentlich", die selbstbezügliche, individuierende Stimmung der Angst dagegen als „eigentlich",22 mit der Suggestion, dass Eigentlichkeit die bessere Seinsweise ist.23 Was aber ist „Eigentlichkeit"? Seine Beispiele legen nahe, dass ausschließlich ausdrückliche Weisen der Selbstbezüg20 21

22

23

Vgl. Merker 2001, 122f. Mit dieser „ V e r d r ä n g u n g " der Angst soll es auch zusammenhängen, dass die Angst als Grundbefindlichkeit zwar immer „da", doch zumeist „latent", „verborgen" bleibt, nur „selten" als „Angstphänomen" manifest wird, zumeist „existenziell unverstanden" bleibt und „noch seltener" existenzial-ontologisch interpretiert wird (SuZ 190). Da die Angst eine „Grundbefindlichkeit" ist und als solche allen Stimmungen und Emotionen zugrunde liegt, und da Heidegger nur den speziellen Fundierungszusammenhang von Angst und Furcht hervorhebt, ist es unklar, ob er nur die Furcht oder auch alle andere Emotionen als „an die ,Welt' verfallene, uneigentliche und ihr selbst verborgene Angst" charakterisiert (SuZ 190). Ausgeschlossen ist allerdings, aufgrund der Unabsichtlichkeit, Unverfügbarkeit und Passivität sowohl der Stimmungen als auch der Emotionen, dass es sich um eine moralische Bewertung von Seinsweisen handelt, fur die wir verantwortlich sind.

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lichkeit eigentlich sind, alle verfallenen (emotionalen, besorgenden) Weisen des Seins bei bedeutsamem innerweltlich Seienden dagegen uneigentlich. Dass er kein Beispiel für eine eigentliche „Verfallenheit" und „durchschnittliche Alltäglichkeit", für ein eigentliches „Mitsein" und für eine eigentliche Emotion angibt,24 könnte aber auch darauf zurückzuführen sein, dass für sein Interesse an der Gewinnung der Sorgestruktur die ausdrücklich selbstbezüglichen Seinsweisen methodisch geeigneter sind. Insofern lässt sich über die Möglichkeit eigentlicher Weisen der Verfallenheit nur selbständig weiterdenken.

4. Bollnows Heidegger-Kritik In seinem 1941 erschienen Buch Das Wesen der Stimmungen hat Otto Friedrich Bollnow Heideggers „existenzial-apriorische Anthropologie" (WS 183) und vor allem seine Theorie der Befindlichkeit einer ausführlichen Kritik unterzogen. Diese Kritik bezieht sich nicht auf die inhaltlichen Analysen der Emotion der Furcht und der Stimmung der Angst und auch nicht auf die Unterscheidung von Emotionen — Bollnow nennt sie „Gefühle" — und Stimmungen. Bollnows Kritik gilt vielmehr der von Heidegger skizzierten und praktizierten Methode. Diese begeht in seinen Augen nämlich einen ähnlichen Fehler wie die traditionelle Anthropologie, die das Wesen des Menschen in der Vernunft erblickte, sowie die zeitgenössische Anthropologie, die jeweils eine einzige Bestimmung des Menschen — als Bündel von Trieben, als soziales Wesen, als lachendes Wesen, als Mängelwesen usw. — zu seinem Wesen erklärt hat. Gegen solche dogmatischen Reduktionen und Einseitigkeiten wendet sich Bollnow mit seiner methodischen Alternative. Er wählt ein Verfahren, das nicht als „metaphysische Voraussetzung", sondern als „hypothetischer Leitfaden" verstanden werden soll. Er möchte den Menschen und das menschliche lieben wie einen Text behandeln, der nur verständlich wird, wenn man ihn als ein „Sinnganzes" betrachtet, in dem alles, was dazugehört, „einsehbar" für das Ganze etwas bedeutet. Dazu gehört die Hypothese, dass jede Untersuchung einzelner Eigenschaften des Menschen das Verständnis seines Wesens verwandelt und nicht nur eine inhaltliche Ergänzung und Erweiterung eines bereits entdeckten formalen Wesens ist. 24

Tugendhat gehört zu den wenigen, die die Alternative uneigentlicher und eigentlicher Verfallenheit überhaupt erwägen (ders. 1970, 315£).

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Weiter ist er sich mit Heidegger zwar einig in der methodischen Kritik der Psychologie. Auch er betont die Gefahr der UnZuverlässigkeit und Vorurteilsbelastetheit absichtlicher Selbstbeobachtung und Reflexion. Aber im Unterschied zu Heidegger vertraut er auch nicht auf ein „Hineinversetzen" in solche und ein auf den Begriff bringen solcher „ausgezeichneten" Existenzweisen wie der Angst. Seine Alternative dazu besteht in dem Rekurs auf Texte von Dichtern und Denkern, in denen Stimmungen unbefangen durch die Absicht, eine Theorie der Stimmungen zu entwickeln, dargestellt werden (WS 19ff.). Mit dieser Konzeption einer empirisch umfangreichen Methode philosophischer Anthropologie sieht sich Bollnow im Gegensatz sowohl zur Methode der Existenzerhellung von Jaspers als auch zur existenzialen Analytik Heideggers, die beide die Möglichkeit einer solchen Anthropologie mit entgegengesetzten Argumenten bestreiten. Dem einen ist sie begrifflich bereits zu fest, dem anderen begrifflich zu unbestimmt. Bollnow wiederum kritisiert als ungerechtfertigt Heideggers Auffassung, der zufolge wie alle Wissenschaften so auch die Anthropologie einer (fundamental) ontologischen Begründung bedürfe. Und er kritisiert vor allem das Verfahren, am Beispiel einer einzigen Stimmung, der Angst, das Wesen der Stimmungen und zugleich das formale Wesen des Menschen zu erkennen. Die Annahme einer solchen formalen Grundstruktur des menschlichen Daseins, die von möglichen inhaltlichen Füllungen unberührt bleibt, hält er für empirisch nicht haltbar. Seine Aufgabe sieht er dagegen darin zu zeigen, dass jede Stimmung zur Wesensbestimmung des Menschen etwas Neues hinzufügt.

5. Existenzphilosophie und Angst Bollnow honoriert die existenzphilosophische Entdeckung der Bedeutung der Stimmungen für den Menschen und insbesondere der Bedeutung der Angst als einer „entscheidenden Grenz situation". Zuvor wurde Angst lange als eine dem menschlichen Wesen äußerliche und fremde Stimmung verstanden. Sie galt als (auch ethischer) Mangel, der durch wissenschaftliche Erforschung ihrer Ursachen und möglicher Therapien und durch die daran orientierte Praxis von Erziehern und Ärzten überwunden werden müsse. Demgegenüber habe die Existenzphilosophie erkannt, dass Angst ein „sinnvolles und notwendiges Glied in der Gesamtorganisation des Menschen" sei und für diesen auch eine „positive" Wirkung habe, indem

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sie nicht nur die gegenständliche Unbestimmtheit der Welt, sondern das „Nichts" der Unheimlichkeit und Ungeborgenheit erschließe, von allen vertrauten Bedeutungen und Bezügen loslöse und damit eine notwendige Bedingung der Freiheit sei (WS 71). Bollnow möchte nun zeigen, dass die Einsichten in das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zur Welt, die von der Angst aus gewonnen werden können, einseitig sind. Erst ein Vergleich von Einsichten, die an vielen Stimmungen gewonnen worden sind, bietet ihm zufolge eine hinreichende Grundlage für eine stets vorläufige philosophische Anthropologie, die er mit seinem Buch vorbereiten möchte. Er sieht in Heidegger selber eine Widersprüchlichkeit, insofern dieser einerseits betont, dass von jeder Stimmung aus die formale Grundstruktur des Daseins erkannt werden könne, andererseits aber die Angst vor anderen Stimmungen auszeichnet, insofern nur sie voll entfalte, was in anderen Stimmungen verdeckt sei. Auch über eine solche Alternative lässt sich nach Bollnow nicht apriori entscheiden (WS 68). Die Absicht seines Buches besteht also darin, zum einen die Vielfalt der positiven und negativen Stimmungen zu untersuchen, zum anderen auf genuine Einsichten und Konsequenzen der gehobenen Stimmungen aufmerksam zu machen.

6. Die Vielfalt der Stimmungen Wie viele romantische, neohegelianische und lebensphilosophische Autoren, wie eine Reihe zeitgenössischer Psychologen25 und wie Heidegger so bedient sich auch Bollnow eines Schichtenmodells der Seele. 25

Zu ihnen gehören Palagyi, Ewald, Höffding, Schneider, Reichardt, Odebrecht, Lersch, Schröder und viele andere. Sie alle diskutieren, zum Teil mit Berufung auf Klages, Scheler, Krüger die seelischen Leistungen des Menschen im Gegensatz zu dessen höherstufigen geistigen Leistungen oder als Fundierung für sie. Sie unterscheiden zwischen leiblichen Gefühlen, die auch Teil von Emotionen sein können, und Gefühlen, die Emotionen sind, sowie verschiedenen Arten von „gehobenen" und „gedrückten" Grundstimmungen, Stimmungen und Verstimmungen, die sie „Lebensgefühle", „Vitalgefühle" nennen. Im Hintergrund vieler dieser Überlegungen steht Carl Gustav Carus' Werk Psyche von 1846, das in Anlehnung an Hegels Anthropologie basale Weisen des Bewusstwerdens des unbewussten Organismus beschreibt und eine Geschichte der Freude und Trauer, der Liebe und des Hasses verfasst. Die Bedeutung der Stimmungen und Gefühle ist insbesondere auch von Psychiatern zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht worden; Heideggers Theorie der Befindlichkeit hat auf den Psychiater Binswanger u. a. Einfluss gehabt. Hans Lipps hat 1941 die Verlegenheit, das Schamgefühl, Stimmun-

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Auf der untersten Stufe siedelt er die Stimmungen an als „Lebensgefühle" und einfachste und ursprünglichste Form, in der das Leben seiner selbst in bestimmter Färbung, Wertung und Stellungnahme inne wird. Alle höheren Leistungen des Geistes, auch die Emotionen, sind in den Stimmungen verwurzelt und von ihrem selektiven und evaluativen Charakter beeinflusst, wenn auch nicht gänzlich bestimmt. Wie Heidegger betont auch Bollnow, dass Menschen immer schon gestimmt sind und dass Stimmungen in ihrer Passivität dem menschlichen Wesen nicht äußerlich, sondern notwendig und konstitutiv für es sind. Weiter unterscheidet er „Grundstimmungen" oder „Lebensstimmungen" (Schwermut, Heiterkeit, Verdrossenheit), die aufgrund von Naturanlagen oder Lebensschicksalen einen beharrlichen „Untergrund" bilden oder sich immer wieder durchsetzen, von wechselnden Stimmungen, die durch jene gefärbt sind. Beide unterscheidet er von den rein leiblichen Gefühlen (Hunger, Durst, Müdigkeit), in denen wir unseres Leibzustandes gewahr werden und die auch, wie die Emotionen, auf die Stimmung zurückwirken. Und er kritisiert die „Stimmungsmache" ebenso wie, als „Kitsch", die „unfruchtbare" Instrumentalisierung, die Stimmungen erfahren, wenn sie absichtlich gesucht und genossen werden und so ihren angemessenen Ort im „Untergrund" verlassen und zum Vordergrund werden (WS 151 ff.). Neben diesem Schichtenmodell sind musikalische, klimatische und räumliche Charakterisierungen weitere Versuche, sich sprachlich einem seelischen Bereich zu nähern, für den unsere „verfallene" Sprache nicht besonders geeignet ist. In dem Ausdruck „Stimmung" sieht Bollnow „eine gleichnishafte Übertragung eines musikalischen Begriffs auf die menschliche Seele". Ein Instrument bezeichnen wir als gestimmt, wenn es auf ein anderes oder auf eine bestimmte Norm abgestimmt ist, sodass es nur in einem solchen gestimmten Zustand seine Leistung erbringen kann. In diesem Sinne sprechen wir auch davon, dass wir „in Stimmung" zu etwas sind. Ebenso gehört zur Stimmung eine „Übereinstimmung" des ganzen Menschen, der in seinen seelischen Zuständen, in seinem Verhältnis zur Welt und in dem Stil und Rhythmus seiner leiblichen Ausdrucksweisen gleichmäßig auf einen einheitlichen Ton gestimmt ist. Weiter werden Stimmungen mit demselben Vokabular charakterisiert, mit dem wir auch das Wetter, das Klima und die Atmosphäre beschreiben, die die Stimmungen mit beeinflussen. Sie sind heiter, sonnig, hell oder düster, dunkel und gen, Platzangst, Pedanterie, Geiz, Eifersucht, Hass sowie den Spieler und Abenteurer untersucht.

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umwölkt. Und schließlich werden Stimmungen in den räumlichen Kategorien „oben" und „unten" beschrieben, die den von Heidegger betonten Lastcharakter augenfällig machen. Positive Stimmungen sind hoch und gehoben, negative sind gesenkt, gedrückt, flach, niedergebeugt, tief. Dem korrespondiert der leibliche Ausdruck der Stimmungen: der gehobene Kopf mit dem weiten Blick oder die gebückte Haltung mit gesenktem Kopf und eingeengter, nach unten gewandter Sicht. Bollnows Versuch einer Klassifikation der Vielfalt der Stimmungen ist dreiteilig. Zunächst basiert diese auf der polaren Einteilung der Stimmungen in gehobene und gedrückte, wobei zwischen den extremen Polen Rausch und Angst/Verzweiflung oder, etwas weniger extrem, Fröhlichkeit und Traurigkeit, „zwischen denen das menschliche Leben in regelmäßigerem oder unregelmäßigerem Wechsel schwankt" (WS 49), nicht nur Gradunterschiede, sondern auch verschiedene Stimmungsarten anzusiedeln seien. Zwischen diesen beiden Gruppen der gehobenen und gedrückten Stimmungen sieht er dann noch eine „mittlere" Lage der Stimmungen, in der die Erregungen der einen wie der anderen Seite sich gelegt haben. In diese Gruppe, die sich auch den gehobenen oder gedrückten Stimmungen zuneigen kann, zählt er die Stimmungen der ausgeglichenen Ruhe, der Sicherheit in der gegenwärtigen Lebenslage oder der Gelassenheit, die die Dinge an sich herankommen lässt und sie „in ihrer Mitte" sieht (WS 50). Weitere Klassifikationsgesichtspunkte innerhalb dieser Trias sind: die „Tiefe" oder „Oberfläche" der seelischen Schichten, die von den Stimmungen betroffen sind — zum Beispiel Formen der gezwungenen Lustigkeit oder Albernheit und Ausgelassenheit, „die den Menschen nur an der Oberfläche befriedigen und darum meist auch einen faden Nachgeschmack hinterlassen" (WS 44) - , die Lautstärke, Intensität und Dauer, mit denen sie verbunden sind — die extremen Zustände sind intensiv, aber in der Regel transitorisch —, und die Altersspezifität der Stimmungen — Ausgelassenheit und Albernheit sieht er eher bei der Jugend, mürrische Verdrossenheit oder heitere Gelassenheit eher bei Alteren. Im Einzelnen untersucht Bollnow die gedrückten Stimmungen der Angst, Verzweiflung und Langeweile26 als besondere Formen, sowie Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit, Verzagtheit, Melancholie, Depression, 26

Die Langeweile nimmt für Bollnow, wie die Extreme der Angst und Verzweiflung, eine Sonderstellung innerhalb der gedrückten Stimmungen ein, weil sie „als eine quälende Gleichgültigkeit den Menschen durchzieht und alle Anteilnahme an den Menschen und den Dingen erstarren läßt, so daß der Mensch wie abgestorben erscheint" (WS 48).

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Wehmut, Resignation, Schicksalsergebenheit, Verärgerung, Gereiztheit, Feindseligkeit, Besorgtheit, Trübsinn, Schwermut, Missmut, Verbitterung, Verkümmerung, mürrische Verdrossenheit und verschiedene Formen des Unglücks. Besonders gelegen aber ist ihm an den gehobenen Stimmungen·, religiöse, heroische oder erotische Formen ekstatischen Rausches als extremer Gegenpol zur Angst, Heiterkeit, Frohsinn, Fröhlichkeit, Leichtsinn, Lustigkeit, Ausgelassenheit, Albernheit, Ubermut, Liebe und verschiedene Formen des Glücks. Ein Grund für Bollnows Betonung dieser gehobenen Stimmungen und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben und Wesen ist seine Kritik an Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit menschlicher Existenz. Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Verfallenheit und Uneigentlichkeit interpretiert er Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit als ausschließlich bezogen auf die „ausgezeichneten" und allein wesensgemäßen Zustände der Angst, des Rufes des Gewissens und des Vorlaufens zum Tode. Demgegenüber möchte Bollnow zeigen, dass erstens die gehobenen Stimmungen gleichermaßen wesentlich für den Menschen sind; dass sie zweitens genuine Einsichten verschaffen, die ohne sie nicht gewonnen werden könnten; und dass sie drittens praktische Konsequenzen haben, die wertvoll sind und ihre eigene Wichtigkeit im menschlichen Leben haben. Nur einige Aspekte dieser Thesen möchte ich abschließend noch kurz skizzieren. In den gedrückten Stimmungen, die Einsichten in die prekäre Lage der sozusagen metaphysischen Heimatlosigkeit des Menschen vermitteln, verschließen wir uns vor der Umwelt und den Mitmenschen. Eine solche Distanz und soziale Isolierung findet ihren leiblichen Ausdruck in gebückter, zusammengekauerter Haltung. Emotionale Konsequenzen sind die Neigung zu Hass, Neid, kleinlicher Gesinnung, fehlende Freude an der Arbeit und die Unfähigkeit zur emotionalen Teilnahme an den Mitmenschen. Praktische Konsequenzen der Bedürftigkeit sind die Unmöglichkeit der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und kreativer Tätigkeit, eine egoistische Dauerbeschäftigung mit sich selbst und das ungehemmte Hervorbrechen primitiver elementarer Eigenschaften. Man wird und wirkt abweisend. Eine positive Funktion der gedrückten Stimmungen, neben ihrer Einsicht in die metaphysische Heimatlosigkeit des Menschen, liegt in ihrer kritischen und korrigierenden Haltung zu der in gehobenen Stimmungen zugänglichen Realität und überschwenglichen Kreativität. Die gehobenen Stimmungen dagegen wirken mit an einer Veränderung des emotionalen Lebens, der Einsichten, der Praxis, des Gemein-

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schaftsbewusstseins, Realitätsbewusstseins und Zeitbewusstseins 27 . Sie sind die Zeichen eines unterschiedlich umfassenden „vitalen Wohlbefindens" und einer „allgemeinen Steigerung des Lebensgefühls" (WS 90). In ihnen öffnen wir uns der Welt und den Mitmenschen. Im Gegensatz zur distanzierenden und isolierenden Angst erleben wir, zugespitzt in ihrem anderen Extrem, den verschiedenen Formen des Rausches und der Ekstase, eine Einheit oder doch Nähe mit dem, was uns umgibt. Leiblichen Ausdruck finden solche weltzugewandten Stimmungen in aufrechter, geöffneter Haltung, erhobenem Kopf und offenem Blick. Sie erlauben uns Einsichten, die uns in den gedrückten Stimmungen verborgen bleiben, und ein schnelleres Begreifen umfassender Zusammenhänge. Sie machen sensibel für die Schönheiten der Welt und die Besonderheit der Dinge und Menschen. Sie verdrängen oder eliminieren negative Emotionen wie Hass oder Neid, aber auch die Furcht vor dem Tod. Sie sind Bedingungen für Geselligkeit und die Formierung von Gemeinschaften und gemeinsamer Arbeit. Sie erlauben fruchtbare, berührende und anteilnehmende Beziehungen zu unseren Mitmenschen, drängen zur Mitteilung und ziehen andere Menschen an. Sie geben ein Kraft- und Machtgefühl, das praktisch zur Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und zu freudvoll gelingender (kreativer) Arbeit führt. Und sie sind eine Basis für das Vertrauen in eine grundsätzlich fördernde und tragende Realität. Nur dank der Vielfalt der Stimmungen, so Bollnows Fazit, können wir unser menschliches Wesen voll entfalten und zugleich Zugang zum Reichtum der Wirklichkeit finden.

Literatur Heideggers und Bollnows Schriften werden unter Verwendung von Siglen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Die verwendeten Siglen sind: Heidegger: GM KPM SuZ WM

— Grundbegriffe der Metaphysik - Kant und das Problem der Metaphysik - Sein und Zeit - Wegmarken

Bollnow: WS

— Όas Wesen der Stimmungen

27

Dem veränderten Zeitbewusstsein in den gehobenen Stimmungen hat Bollnow fast die Hälfte seines Buches gewidmet.

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-Paul Sartre (1905-1980)

Sartre: Emotionen als Urteile Jean-Pierre Wils Jean-Paul Sartres im Jahre 1939 erschienene Abhandlung Esquisse d'une théorie des émotions gehört zu den (zu Unrecht) weitgehend vergessenen Texten der Philosophiegeschichte des vorigen Jahrhunderts. Die „Skizze" könnte man als eine Übung feinster philosophischer Phänomenologie betrachten, die sich programmgemäß von einem naiven psychologischen Empirismus fernhält und trotz aller Distanz zur (damaligen) Psychoanalyse sich gleichwohl in deren Nähe wagt. Sartre richtet sich aber ganz und gar auf den Entwurf einer „Idee" bzw. eines Konzeptes von Emotionen, das ihre gültige Struktur, ihre Erscheinungsweise zu beschreiben versucht. In die unmittelbare Umgebung dieses Theorieentwurfs gehören Werke wie Ea transcendance de l'Ego (1936), E'imaginaire (1940) und der Roman Ea nausée (1938). Die „Skizze" gehört zu jenen Texten, die man als Teil einer Vorgeschichte der neueren Forschung über Emotionen betrachten sollte. Genauso wie Sartres frühe Beiträge zu einer Theorie des Bewusstseins heute in ihrer Tragweite häufig unterschätzt werden, hat auch seine Theorie der Emotionen dieses Schicksal ereilt. Beide — Bewusstseins- und Emotionstheorie — gehören systematisch und phänomenologisch jedoch eng zusammen, sodass das Verschwinden beider aus dem aktuellen philosophischen Diskurs kein Zufall ist.1

1. Skizze der „Skizze" Ganz im Geiste der Phänomenologie bemüht sich Sartre in der Einleitung, die er der genaueren Darlegung seiner Theorie als allgemeine Positionsbestimmung voranstellt, um eine scharfe Trennung von der Psycholo-

1

Diese Aussage gilt mit einer großen Einschränkung. Manfred Frank hat sich unermüdlich um die Einbindung Sartres in die neuere Bewusstseinsdiskussion bemüht.

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gie. Deren Kennzeichnung geschieht in wenigen rudimentären Zügen: Die Psychologie, so Sartre, befasst sich nur mit Fakten und unterlässt es, ihren Gegenstand — in diesem Falle also die Emotionen — überhaupt zu konzeptualisieren. Sie besitzt keinen Begriff der Emotionen, weil sie keinen Begriff vom Menschen besitzt. Ein solcher Begriff aber lässt sich nur gewinnen, wenn man zu einem gewissen „Apriori" bereit ist: Eine Emotion lässt sich demnach nur verstehen als Teil des Menschen überhaupt, als Äußerung einer konstitutiven Struktur, die jeder besonderen Emotion gleichsam transzendental zugrunde liegt. Mit Blick auf Heidegger geht Sartre davon aus, dass wir das „Dasein", die „menschliche Wirklichkeit" in ihrer Wesenheit zunächst erfassen müssen, weil die Emotionen nicht zufällige Ereignisse sind, die man von außen beobachten kann, sondern Elemente, Erscheinungsweisen dieser Wirklichkeit als solcher. Infolgedessen will die Skizze untersuchen, „unter welchen Bedingungen eine Emotion möglich ist". Sie will nicht auf naive Weise darauf vertrauen, bereits zu wissen, was eine Emotion sei, sondern sich mit der Frage konfrontieren, „ob nicht die Struktur der menschlichen Wirklichkeit die Emotionen ermöglicht und wie sie diese ermöglicht" (E 11/259).2

2. Entdeckung der Phänomenologie Diese erklärtermaßen transzendentale Annäherung wird sich der von Sartre damals gerade entdeckten Phänomenologie Husserls bedienen. Die Anleihen bei Husserl sind jedoch weniger methodischer Natur als vielmehr motivischer Art. Sartre will zunächst in einer möglichst deskriptiven Analyse zu bestimmten Strukturmerkmalen aller Emotionen durchdringen, um sodann zu einer allgemeinen Theorie zu gelangen. In diesem Zusammenhang sollten die körperlichen Reaktionen, die Verhaltensweisen und die eigentümlichen Bewusstseinszustände, die mit Emotionen zusammenhängen, beschrieben werden. Das Richtmaß dieser Beschreibung stellt jedoch der „Prozess der Emotionen selber" dar. Deren Realität ,sui generis' gilt es zu erfassen. Und damit wir uns nicht in einer zufälligen Kollektion verschiedenster Emotionen verzetteln, sollte die neue Theorie sich „die Er2

Die Zitate aus der „Abhandlung" weichen in meiner Übersetzung teils nicht unerheblich ab von der von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener besorgten deutschen Ubersetzung der frühen Essays Jean-Paul Sartres. In den Klammern hinter der Sigle steht daher zunächst die Seitenzahl des französischen Originals, dahinter die Seitenzahl der deutschen Ubersetzung von Aumüller u. a.

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fahrung von Essenzen und Werten", „die Essenz der Emotion" (E 12/261) zum Gegenstand ihrer Erforschung machen. Mit einer nahezu emphatischen Dankbarkeit gegenüber Edmund Husserl bedient Sartre sich im Folgenden der „phänomenologischen Reduktion", die darin besteht, die Mannigfaltigkeit der realen Emotionen „einzuklammern" und sich auf deren Essenz zu richten — auf „die transzendentale Essenz der Emotion als eines geordneten Bewusstseinstypus" (E 13/262). Die Analyse geht demnach von der menschlichen Wirklichkeit als meiner Wirklichkeit aus. Sie lässt sich als eine „Hermeneutik der Existenz" begreifen, die sich nicht scheut, zu einer Art transzendentaler Anthropologie durchzustoßen. Die Weise, wie die Emotionen sich in ihrem Prozess sxigen, ihre Erscheinungsweise oder ihr Phänomencharakter also, steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Weder die empirische Registrierung noch eine Theorie normativen Typus kann demnach Gültigkeit beanspruchen, sondern nur die genaue Analyse der Emotionen als Modi der menschlichen Existenz als solcher. Dabei wird Sartre sich im Laufe der Analyse immer wieder mit der Frage des menschlichen Bewusstseins befassen, denn die Emotion wird sich gewissermaßen als ein privilegierter Zugang zu diesem Bewusstsein erweisen. Bewusstsein und Emotion klären sich gewissermaßen gegenseitig über ihren besonderen Status auf. Solchermaßen wird der Phänomenologe die Emotion über das Bewußtsein und über den Menschen befragen; er wird die Emotion nicht bloß fragen, was sie ist, sondern auch was sie uns über ein Wesen lehrt, zu dessen Eigenschaften es gehört, einer Emotion fáhig zu sein. Und umgekehrt wird er das Bewußtsein, die menschliche Wirklichkeit über die Emotion befragen: Wie muss ein Bewusstsein verfasst sein, damit die Emotion möglich ist oder gar, damit die Emotion notwendig ist? (E 15/264)

Sartre interessiert sich demnach zunächst weniger für einzelne Emotionen als vielmehr für die Beschaffenheit von Emotionen als solchen, weil sie uns über die Beschaffenheit der menschlichen Wirklichkeit in ihrer synthetischen Ganzheit aufklären. Wer die Emotion versteht, versteht auch das Ganze, weshalb es sinnvoll oder gar notwendig erscheint, „die Bedeutung der Emotion [la signification de l'émotion] zu untersuchen" (E 16/265). Die „Skizze" lässt sich deshalb mit Fug und Recht als eine kleine Hermeneutik der Emotion bezeichnen, denn sie versucht zu verstehen, was es heißt, sich im Zustand einer Emotion zu befinden. Emotionen lassen sich aber gerade nicht als Teile der Wirklichkeit in dieser Wirklichkeit beobachten. Die Wirklichkeit des Menschen darf nicht als Behälter heterogener Erfahrungen verstanden werden, der sich eines zentrierten Bewusstseins bedient, damit diese Erfahrungen nicht diffun-

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dieren und ihr Subjekt gleichsam auseinanderfallt. Emotion und Bewusstsein sind — zumindest in gewisser Hinsicht — vielmehr eins. Die Emotion bedeutet auf ihre Weise [à sa manière] das Ganze des Bewußtseins oder, wenn wir uns auf das Niveau der Existenz begeben, der menschlichen Wirklichkeit [la réalité-humaine]. Sie ist nicht zufällig, denn die menschliche Wirklichkeit ist nicht eine Summe von Fakten; in einer bestimmten Hinsicht bringt sie die menschliche synthetische Totalität in ihrer Vollständigkeit zum Ausdruck. Und darunter sollten wir nicht verstehen, daß sie die Folge [l'effet] der menschlichen Wirklichkeit darstellt. Sie ist die menschliche Wirklichkeit selbst, die sich realisiert in der Gestalt der Emotion. Es ist nicht länger möglich, die Emotion wie eine psycho-physische Störung aufzufassen. Sie hat ihre eigene Essenz, ihre eigenen Strukturen, ihre Weisen des Erscheinens, ihre Bedeutung. [...] Im Gegenteil — es ist der Mensch, der seine Emotion akzeptiert und infolgedessen ist die Emotion eine geordnete Form der menschlichen Existenz. (E 16f./266)

Bereits hier stoßen wir auf markante Kennzeichen der Emotion: Sie betrifft das Ganze des Bewusstseins und ist nicht bloß ein Element des Empfindens, auf das sich das Bewusstsein gleichsam separat richten kann. Von daher kann man sagen, die Emotion okkupiere bis zu einem gewissen Grad das Bewusstsein, sie fülle es aus. Im Prozess der Emotion hat sich die Wirklichkeit in eine Emotion-Wirklichkeit verwandelt. Darüber hinaus gehört die Emotion (und mit ihr das Selbstgefühl, das im Zustand der Emotion besonders erfahrbar wird) zu den qualitativen Äußerungen des Bewusstseins und der Wirklichkeitserfassung. Sie lässt sich nicht abqualifizieren als das Geringere des Bewusstseins, als die Eintrübung seiner Realität. Solche Kennzeichnungen verstellen vielmehr den Zugang zu der Bedeutung des Phänomens. Zu sagen, die Emotion sei ein physischer, ein körperlicher Zustand, wäre angesichts ihres Bewusstseinscharakters eine leere Aussage. Natürlich ist die Emotion auch ein Körperzustand, aber was es bedeutet, Freude zu empfinden oder zu verstehen, wie die Welt sich im Zustand der Scham oder des Ekels verwandelt, lässt sich nur erfassen, wenn wir die Emotion als Zustand des Bewusstseins, als bedeutungsvolle Bezogenheit auf die Welt auffassen. Für Sartre ist die Emotion interessant als „die Erscheinung, insofern sie bezeichnet [le phénomène en tant qu'il signifie]" (E 18/268). Man kann sich bereits hier fragen, ob Sartre sich nicht allzu schnell von der Psychologie verabschiedet hat und nicht im Kleide der Phänomenologie zu einer Variante der Psychologie zurückkehrt, die lediglich Empiriedistanz angesichts ihrer positivistischen Schwestern zu behaupten vermag. Immerhin nennt er selbst seine Skizze „ein Experiment mit der phänomenologischen Psychologie" (E 18/268). Aber man sollte nicht unter-

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schätzen, wie sehr eine solche Annäherung dazu beiträgt, die Innenwelt der Emotionen zu beschreiben. „Wir werden den Versuch unternehmen, uns auf das Feld der Bedeutung zu begeben und die Emotion als eine Erscheinung [phénomène] zu behandeln." (E 19/268) Was sich dann zeigt, eröffnet eine neue Perspektive — die Emotion ist kein verworrener Zustand, keine bloße Störung des Bewusstseins, sondern eine Bewusstseins- und Weltqualität. Sie hat uns etwas Wichtiges zu sagen. Sartre wird nicht müde, dies zu betonen. Die Emotion „hat einen Sinn, sie bedeutet etwas" (E 22/270). Aber wie sieht die „Skizze" (nach dieser Einleitung) nun aus? Was fügt Sartre einer herkömmlichen Theorie hinzu? Die „Skizze" behandelt die psychologischen Theorien, von denen sie sich absetzt, nur im Vorübergehen. Von einer „Skizze" sollte man auch keine ausführliche Darlegung und Kritik erwarten dürfen. Wie bereits in der „Einleitung" angedeutet, wehrt Sartre sich vor allem gegen die Auffassung, Emotionen seien im ansonsten geordneten Ablauf der Existenz vor allem als Störfaktoren aufzufassen. Wenn aber die Emotion eine hauptsächlich physische Störung ist, die mental abgewehrt werden soll, lässt sich kaum mehr erklären, weshalb Menschen Emotionen als durchaus organisierte Formen ihrer Existenz erfahren können. Emotionen verfügen über eine Art eigener Logik, das Verhalten, das sie auslösen, kann nicht von vorneherein als irrational oder widervernünftig bezeichnet werden. Sartre leugnet nun keineswegs, dass manche psychologische Theorie (Köhler, Lewin) den Aspekt des Verhaltens oder des Handelns, der mit einer Emotion verbunden ist, gewürdigt hat. Emotionen erfüllen demzufolge eine funktionale Rolle, indem sie angesichts einer Realität, die die betreffende Person auf eine bestimmte Art nicht bewältigen kann, gewissermaßen als funktionale Äquivalente auftreten: Wut oder Selbstzerknirschung können Ersatzhandlungen, Surrogate sein, weil die Primaranforderung angesichts einer bestimmten Situation nicht bewältigt werden kann. Als Ersatz für eine fehlende andersartige Bewältigung der Situation sucht demzufolge die Person Zuflucht zu einer Emotion. Uberraschenderweise scheint Sartre diese Deutung von Emotionen keineswegs abzulehnen und am Ende seiner Skizze wird er in seiner Verwendung des Konzepts der „Magie" diese Auffassung sogar weitgehend bestätigen. Was ihn hier lediglich zu stören scheint, ist der Sachverhalt, dass die psychologischen Theorien, die lediglich gestreift werden, sich nicht um eine adäquate Erklärung dieses Verhaltens bemühen. Ihnen fehlt offenbar ein zentrales Element — eine Theorie des Bewussteins.

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Zweierlei Fragen drängen sich bereits hier auf. Wenn man die funktionale Rolle der Emotionen (ihr Charakter als eigentümliches Ersatzverhalten angesichts einer spezifischen Realitätsbewältigung) und die Erklärung dieser Rolle unterscheidet, wird man sich fragen müssen, ob die Funktionalisierung zutreffend und ob die Erklärung hinreichend ist. Nebenbei bemerkt — angesichts des ausgeprägten Interesses von Sartre an bewusstseinsphilosophischen Sachverhalten in den dreißiger und vierziger Jahren kann man sich während der Lektüre der „Skizze" des Eindrucks nicht immer erwehren, dass die Theorie der Emotionen immer wieder als Illustration der Bewusstseinstheorie fungiert. Diese Beobachtung könnte den doch auffällig einseitigen Funktionalismus und den fehlenden Versuch, eine gehaltvollere Theorie der Emotionen zu konstruieren, in Sartres „Skizze" erklären. Auch in jenem Abschnitt, in dem Sartre sich der psychoanalytischen Theorie zuwendet, geht er von einem solchen Funktionalismus aus. Die „Bedeutung" (signification) der Emotion läge, so mutmaßt er, in einer „funktionalen Ordnung" (ordre fonctionnel) (E 33/282). Aber auch hier, beim schnellen Streifzug durch die Psychoanalyse, laufen alle Überlegungen auf die Hervorhebung des Stellenwertes des Bewusstseins zu. Sartre widerspricht der Annahme, Emotionen seien Abwehr- oder Zensurmechanismen, mit denen das Bewusstsein sich vor der Enthüllung des wahren Gehaltes der Situation schützt. Das „Bedeutete" wird vom Bewusstsein, dem „Bedeutenden" verdrängt, so lautet ihm zufolge die psychoanalytische Interpretation. Gegen diese Aufspaltung wird aber entschiedener Widerstand geleistet. Die Emotion sollte als integraler Bestandteil des Bewusstseins oder — besser — als Bewusstseinsphänomen an sich verstanden werden. Zu behaupten, die Emotion habe eine Bewusstseinsstruktur, hat zwar nicht zur Folge, dass ihre Bedeutung komplett offengelegt werden kann, aber zeitigt die für Sartre schwerwiegende Konsequenz, die Emotion nicht von außen als Spielball eines Wechselspiels zwischen Bewusstsein und Unbewusstem zu betrachten, sondern als intrinsischen Zustand des Bewusstseins als solchen. „Das Bewusstsein ist selbst ein Sachverhalt, eine Bezeichnung/Bedeutung [Ja signification] und das Bezeichnete/das Bedeutete [le signifié], wenn das cogito möglich sein soll." (E 36/286) Das Bewusstsein ist nicht ein Gefäß, worin sich Emotionen befinden, die sich gegebenenfalls als Puffer gegen eine verdrängte Bedeutung einsetzen lassen, sondern das Bewusstsein macht sich selber zu einem Emotion-Bewusstsein.

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3. Die Analyse des Bewusstseins Die Prominenz, mit der das Bewusstsein immer wieder auf den Plan tritt, nötigt uns spätestens jetzt, kurz bei Sartres frühem Bewusstseinskonzept stehen zu bleiben. Wenn das Bewusstsein in der Tat die „Seinsdimension des Subjekts" (BS 6) ist, dann müsste seine Erläuterung auch einen wesentlichen Aufschluss über eine andere „Seinsdimension des Subjekts" geben, nämlich über dessen Emotionen. Sartre geht in all seinen Schriften über das Bewusstsein davon aus, dass dieses primär kein wie immer geartetes Zentrum darstellt, keinen Kern des Subjekts, keine Positioniertheit, mittels derer die Welt (und das Selbst) gleichsam in reflexive Äugenschau genommen wird. Es ist weder ein Inneres noch ein Element der Welt neben anderen Weltgegebenheiten. Beide — sowohl die klassische Reflexionstheorie als auch eine naturalistische Rekonstruktion, die das Bewusstsein als ein In-der-Welt-Gegebenes auffasst — müssen es verfehlen. In seiner kleinen Eloge auf Husserls Entdeckung der „Intentionalität" wird dies unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. „Das Bewusstsein hat kein ,Drinnen'; ist nichts als das Draußen seiner selbst |le dehors d'ellemême], und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein [ce refus d'être substance], konstituieren es als ein Bewußtsein." (PH 35) Intentionalität heißt nicht nur, dass das Bewusstsein gerichtet ist. Das ist es natürlich auch. Intentionalität heißt primär ebenso wenig, dass das Bewusstsein über eine Subjekt-Objekt-Struktur verfügt. In einer bestimmten (und späteren) reflexiven Gestalt lässt sich eine solche Struktur selbstverständlich feststellen. Aber auch hierin liegt nicht der Kern der Behauptung, Bewusstsein sei wesentlich Intentionalität. Zur Umschreibung dieser Intentionalität kann man besser einen (für Sartre) äquivalenten Begriff verwenden, den Begriff der Transzendenz Das Bewusstsein ist immer schon über sich hinaus. Alle Theorien, die das Bewusstsein ausgehend von einer wie immer grundgelegten Egologie rekonstruieren, gehen demzufolge am Wesentlichen vorbei. Gegen diese Auffassung steht die Aussage, „dass das Ego weder formal noch material im Bewusstsein ist: es ist außerhalb, in der Welt, es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer." (TE 39) Das Bewusstsein ist weder das Haus eines Ego, das in ihm wohnt, noch ist es ein Sein in der Welt neben anderem Seienden. Sartre formuliert hier präzise, wenn er sagt, es sei ein Sein der Welt. Es ist ein bestimmter Zustand der Welt, kein Zustand in der Welt. Wenn jedoch das Bewusstsein ein Zustand der Welt ist, dann ist es immer schon früher da als die sekundäre Reflexion und erst recht früher als die Selbstreflexion. Das Bewusst-

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sein ist nicht nur eine besondere Art von Wissen, von Selbst-Wissen; es ist keine sublime Art der Selbsterfassung noch vor der Welterfassung. Es ist vielmehr schon immer bei der Welt. Das folgende Zitat macht Sartres Sichtweise unmissverständlich deutlich und weist auf die Verbindung mit seiner „Theorie der Emotionen" hin. Für Husserl und die Phänomenologen jedoch beschränkt sich das Bewußtsein, das wir von den Dingen gewinnen, keineswegs auf deren Erkenntnis. Die Erkenntnis oder reine Vorstellung' \représentatioi¡\ ist nur eine der möglichen Formen meines Bewußtseins ,νοη' diesem Baum; ich kann ihn auch lieben, fürchten, hassen, und diese Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst, die man ,Intentionalität' nennt, findet sich in der Furcht, dem Hass und der Liebe wieder. Einen Anderen hassen ist ebenfalls eine Art und Weise, zu ihm hin zu zerbersten, sich plötzlich einem Fremden gegenüber zu finden, bei dem man zunächst die objektive Qualität ,hassenswert' erlebt und erleidet. Da sieht man, wie mit einem Mal jene berüchtigten ,subjektiven' Reaktionen, Hass, Liebe, Furcht, Sympathie, die in einer übelriechenden Lauge des Geistes trieben, sich davon losreißen; sie sind lediglich Weisen, die Welt zu entdecken. Es sind die Dinge, die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen. Es ist eine Eigentümlichkeit jener japanischen Maske, furchterregend zu sein, eine unerschöpfliche, unreduzierbare Eigentümlichkeit, die ihre Natur selbst konstituiert — und nicht die Summe unserer subjektiven Reaktionen auf ein Stück geschnitztes Holz. Husserl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt. (PH 36)

In diesem Zusammenhang könnte man getrost von einem Versuch sprechen, das Bewusstsein zu exterritorialisieren. Es lässt sich als ein bestimmter Welt-Zustand bezeichnen, als eine Art Selbsterhellung oder — vielleicht besser — als Erhellt-Sein der Dinge. Seine reflexiven Strukturen und erst Recht seine selbstreflexiven Momente sind gewissermaßen sekundär. Das Bewusstsein ist weder ein Beobachtungsposten, von dem aus wir die Welt in Augenschau nehmen, noch ein Hort der Innerlichkeit, der uns jederzeit als Rückzugsmöglichkeit von dieser Welt zur Verfügung steht. Und es ist ebenso wenig das Theater, auf dem sich das Spiel der Emotionen ereignet. Letztere — die Emotionen — sind vielmehr eine bestimmte Weise der Existen^ des Bewusstseins. In der unmittelbaren Umgebung des Zitats kündigt Sartre an, mit Husserls neuer Sichtweise auf die Intentionalität ließe sich auch eine ganz neue Abhandlung über die Leidenschaften {un nouveau traité des passions) entwickeln. Die Abhandlung über die Emotionen kann als eine (kleine) Ausarbeitung dieser Ankündigung gelten. An dieser Stelle können wir uns jedoch nicht näher mit der Beziehung zwischen Sartres Bewusstseinstheorie und seiner Emotionentheorie befassen. Seine Weigerung, die Emotionen gleichsam vom Bewusstsein zu separieren und sie als einen getrennten Seinsbereich zu betrachten, hat aber sowohl für eine (gehalt-

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volle) Theorie des Bewusstseins als auch für ein phänomennahes Verständnis der Emotionen eine weitreichende Bedeutung. Sie hat die Bewusstseinstheorien aus der Sackgasse der Reflexionstheorien befreit 3 und den Emotionen gleichsam als substanziellen Weltzuständen ihre Würde zurückgegeben. „Das nicht-thetische Bewußtsein ist genau die Seinsweise, die bestimmtes Seiendes \êtres\ hat, das man Vergnügen, Zorn, Schmerz usw. nennt." (BS 37) Wenn Emotionen eine ihnen eigene Bedeutung besitzen und eine Modifikation der Welt, eine Einfärbung der Welt hervorbringen, lässt sich auch behaupten, dass sie eine Interpretation darstellen, eine Art Hermeneutik der Dinge. Emotionen verleihen den Dingen eine Bedeutung und erlangen im gleichen Vorgang von diesen Dingen ihre Bedeutung. Die Art, wie diese Dinge dem Bewusstsein gegenwärtig sind, verdanken sie der Emotionen-Existenz, der emotionalen Ausprägung dieses Bewusstseins. Aber gleichzeitig hätten die Emotionen keinen Anhalt in der Welt, wenn sie nicht bereits von den Dingen ihren Gehalt erhalten hätten. Bevor Sartre einen Ausblick auf eine solche alternative Theorie der Emotionen gibt, wird dieses (überaus komplexe) Programm noch einmal unmissverständlich umrissen: Eine Theorie der Emotion, die davon ausgeht, daß die Sachverhalte der Emotion einen bezeichnenden Charakter besitzen, muss diese Bedeutung im Bewußtsein selber suchen. Oder anders ausgedrückt: Es ist das Bewußtsein, das sich zu Emotion-Bewußtsein macht aufgrund der Erfordernisse einer inneren Bedeutung [signification interne] (E 37/287).

Aber wie sieht nun diese alternative Theorie aus? Sartre deutet in der Skizze zunächst nur an, wie das Emotion-Bewusstsein verfasst ist. Jedenfalls ist es kein Bewusstsein, das mit einem reflexiven oder gar selbstreflexiven Kern oder Pol ausgestattet wäre. Egologische Elemente oder Ich-Zentrierungen hegen ihm fern. Es ist weder fokussiert, noch auf ein wie immer geartetes Selbst bezogen. Es ist in jeder Hinsicht Teil der Welt. Das Emotion-Bewußtsein [la conscience emotionelle] ist primär irreflexiv [d'abord irréfléchie] und kann auf diesem Niveau lediglich auf eine nichtpositionale Weise [sur le mode non-positionnel] Bewußtsein-von-sich sein. Das Emotion-Bewußtsein ist vor allem Bewußtsein von der Welt. (E 38f./288f.)

Genauso wenig wie hier ein von der Welt gelöstes Bewusstsein vorhanden ist, kann auch von einer Emotion gesprochen werden, die nicht Teil der Welt wäre. Ohne ihr „Objekt" wäre die Emotion gewissermaßen nichts. Emotionen ziehen sich nicht in sich zurück, nachdem sie sich gleichsam 3

Vgl. Frank 1988, 1991 und 2002.

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an einem Objekt, an einem Sachverhalt oder an einer Situation entzündet haben. Entgegen der Ansicht, dass Emotionen lediglich in Korrelationen mit Objekten treten, sodass sie auch ohne diese beschrieben werden könnten, beharrt Sartre darauf, dass diese Auffassung lediglich das Ergebnis einer mangelhaften phänomenologischen Beschreibung darstellt. Für ihn ist vielmehr klar, „daß die Emotion in jedem Moment zum Objekt zurückkehrt und sich von ihm nährt". Diese schöne Metapher legt nahe, dass die Emotion ohne ihre ganz und gar weltliche bzw. objektbezogene Ausfüllung ein leeres Gebilde wäre, gleichsam ein Gerippe ohne Gehalt und Empfindung. Die Emotion fügt deshalb auch der Welt nichts Neues hinzu. Sie kann nicht als die Einfárbung einer ansonsten neutralen Welt oder eines gleichsam kalten Objektes verstanden werden. Im Gegenteil — sie ist ihrerseits eine Weise, die Welt verstehen. Denn — das Subjekt der Emotion, das emotionalisierte Subjekt, und das emotionalisierende Objekt „sind in einer unverbrüchlichen Synthese vereint. Die Emotion ist eine bestimmte Weise, die Welt zu verstehen [une certaine manière d'appréhendre le monde]." (E 39/289)

4. Handlung und Emotion: Der Weg in die Magie Im Folgenden konzentriert sich Sartre auf eine bestimmte Modifikation des Bewusstseins — auf seine handelnde Anwesenheit in der Welt. Die Emotion ist nämlich kein Zustand, den man ohne seine praktische Bewandtnis begreifen kann. Sartre zufolge ist die Emotion so etwas wie die Kehrseite unserer Handlungen. Die Emotion, so könnte man formulieren, ist Ausdruck der Qualität unserer Handlungen, Ausdruck ihres Gelingens und Misslingens. So ruft eine Handlung, die misslingt, beispielsweise Wut hervor. Zwischen der Handlung, die uns enttäuscht, und unserer emotionalen Reaktion, die in der Wut oder in der Verzweiflung sich Gehör verschafft, ist allerdings keine reflexive Zwischenphase geschaltet. Die Emotion hat nicht erst den Umweg über eine Reflexion nehmen müssen, um uns mit der Qualität des Misslingens zu konfrontieren. Sie ist die Handlung im Modus ihres Misslingens (oder Gelingens). Und ebenso wie im Falle des Bewusstseins die Analyse der Emotion uns mit einer besonderen Form dieses Bewusstseins konfrontierte — mit seiner primären Irreflexivität —, konfrontiert sie uns im Falle der Handlung erneut mit einer spezifischen Verfasstheit vieler Handlungen: Zahllose Handlungen erreichen kaum das Niveau der Reflexion, sie spielen sich in einem vorreflexiven Milieu ab. Es

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sind die Emotionen, die bereits lange, bevor wir uns unserer Handlungen bewusst werden, als Elemente eines vorreflexiven Bewusstseins die Qualität unserer Handlungen gleichsam präsentieren. Emotionen lassen sich demnach verstehen als die Atmosphäre unserer Handlungen, eben als ein spezifisch getöntes Milieu, als die qualitative Umgebung, in der sich diese Handlungen ereignen. Erst spät (und manchmal nie) findet der Ubergang zur reflexiven oder thetischen Vergegenwärtigung statt. Letztere stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Offenbar findet also bereits auf der vorreflexiven, auf der emotionalen Ebene unserer Handlungen eine Orientierung in der Welt statt. Die Emotionen berichten gewissermaßen über den Stand der Dinge. Ihre Meldungen gelten einem Bewusstsein, das noch kein Bewusstsein seiner selbst ist und noch nicht als Ich-Zentrale wirksam geworden ist. Es gilt demnach zu verstehen, wie die Handlung als spontanes, irreflexives Bewußtsein so etwas wie eine existentielle Schicht [une certaine couche existentielle] in der Welt konstituiert und daß man sich seiner selbst als eines Handelnden nicht bewußt sein muß, um handeln zu können — ganz im Gegenteil. Zusammengefasst: ein irreflexives Verhalten ist kein unbewußtes Verhalten, sondern ein nicht-thetisches Bewußtsein seiner selbst, und seine Art und Weise, sich seiner selbst thetisch bewußt zu sein, besteht in seiner Selbst-Transzendenz [de se transcender] und im Sich-Ergreifen in der Welt als Eigenschaft der Dinge [qualité des choses] (E 42/292£).

Allerdings ist immer noch nicht deutlich, wie sich die Sphäre der Reflexion zu der Sphäre des irreflexiven Bewusstseins und somit auch zu der Sphäre der Emotionen verhält. Es könnte beispielsweise sein, dass wir es mit einer Steigerung oder Intensivierung, mit einem wachsenden Selbstbewusstsein als Folge der ebenso wachsenden Reflexivität zu tun haben: Die Emotion wäre dann nur eine Vorstufe der Reflexion. Aus allem bisher Gesagten geht aber deutlich hervor, dass die Authentizität der Emotion auf diese Art und Weise verletzt wäre. Aber worin hegt dann der originäre Beitrag der Emotion? Wir haben gerade gesehen, dass Sartre im Zusammenhang mit den Emotionen von „Handlungen" spricht. Allerdings verwendet er in jenem Zusammenhang einen Handlungsbegriff, der in signifikanter Weise abweicht von unserem Alltagsverständnis: Handlungen fassen wir normalerweise als wissentlich-willentliche Tätigkeiten auf, die meistens (obzwar nicht immer, wie im Falle der moralischen Handlungen im strikten Sinne) eine Zweck-Mittel-Relation aufweisen. Im Zusammenhang mit den Emotionen hatte Sartre bisher Handlungen jedoch als eine Weise vorreflexiver, praktischer Anwesenheit in der Welt aufgefasst. Im Folgenden fuhrt er eine Differenzierung ein, die diesem Unterschied Rechnung trägt: Es gibt

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die „normalen und angepassten/passenden Handlungen" (l'action normale et adapté), die uns in einer „schwierigen" Welt mittels der Wahl angemessener Mittel zu einem Ziel führen (E 42/292f.). In dieser Welt voller Bedürfnisse, Wünsche und Handlungen müssen wir uns zurechtfinden. Auch an dieser Stelle weist Sartre darauf hin, dass das Prädikat „schwierig" nicht unbedingt eine reflexive Stellungnahme impliziert. „Schwierig" ist die Welt als „noematisches Korrelat der Aktivitäten, die wir begonnen haben oder planen" (E 43/293). Allerdings hat diese Schwierigkeit der Welt zur Folge, dass unsere Handlungen in ihr oftmals scheitern. Wir empfinden dann eine gewisse Ausweglosigkeit. Wenn unsere Handlungen jedoch an der Schwierigkeitsklippe der Welt scheitern bzw. zu stranden drohen, können wir eine Art Ersatzhandlung initiieren: Wir modifizieren die Welt. Niklas Luhmann würde hier von einer „Reduktion von Komplexität" 4 sprechen. Und nun heißt es bei Sartre: „Wir können uns nun ein Bild von einer Emotion machen. Sie ist eine Transformation der Welt." (E 43/294) Wenn unsere „normalen und angepassten Handlungen" in der Welt nicht zum Erfolg führen, könnte dieser Erfolg sich dennoch einstellen, indem wir die Welt-Komplexität reduzieren. Wir tun dann, als ob unsere Handlungen in der Welt nicht aus lauter Zweck-Mittel-Relationen bestehen bzw. als ob kein Determinismus in ihr vorherrscht, sondern sie sich unseren Bedürfnissen gleichsam hingibt. Wir erleben die Welt, als wäre sie zugänglich für „Magie". Wir tun so, als ließe sich die Welt anders verstehen — nicht nur als zweckorientierter Handlungszusammenhang, sondern als ein uns entgegenkommender, uns sich anschmiegender Erfahrungshorizont. Wenn die Welt sich nicht ändern lässt, ändert sich das Bewusstsein. „Das Bewußtsein transformiert sich, damit das Objekt transformiert werden kann." (E 43/294) Erneut sei darauf hingewiesen, dass dieser Vorgang alles andere als reflexiv ist. Und ebenso wenig lässt er sich als ein bloßes Spiel begreifen. Er ist Sartre zufolge geradezu notwendig. In der Emotion kompensieren wir, so könnte man es formulieren, die relative Unzugänglichkeit der Welt für unsere Handlungsabsichten und schaffen einen neuen Bewandtniszusammenhang, ein neues Erleben. Erneut mit Niklas Luhmann könnte man hier von einem Rückgang des „Handelns" in die Sphäre des „Erlebens" sprechen.5 Diese Interpretation des Wesens der Emotion als Magie hat jedoch etwas Doppeldeutiges. Auch wenn der Weg von der Handlungskompetenz 4

Luhmann 1979, 37.

5

Luhmann 1979, 3 I f f .

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in die Erlebniskompetenz der Emotion nicht unbedingt als Regression gedeutet werden muss, so haftet dieser Interpretation doch eine seltsame Resignation an: Mangels erfolgreichen Wirkens in der Welt transformieren wir letztere in einen Bewandtniszusammenhang, der zumindest unserem emotionalen Erleben zugänglich ist. Das emotionale Verhalten versucht aus eigener Kraft und ohne daß das Objekt in seiner realen Struktur verändert wird, diesem Objekt eine andere Eigenschaft zu verleihen, eine geringere Existenz (oder eine größere Existenz usw.). Mit einem Wort — in der Emotion verändert der durch das Bewußtsein angeleitete Körper seine Bezüge zur Welt, damit die Welt ihre Eigenschaften ändert. (E 44/295)

Nun braucht man keineswegs zu bestreiten, dass Emotionen eine bestimmte Art des Sich-Einrichtens in der Welt bedeuten können. In der Tat kann die Emotion ein Handeln, das sich nicht realisieren lässt, kompensieren. Dieses Phänomen ist allzu bekannt. Aber allzu leichtfertig macht Sartre aus der Emotion überhaupt ein sekundäres Etwas. Dabei wäre der magische Aspekt der Interpretation — auch wenn man vielleicht eine bessere und weniger missverständliche Formulierung hätte wählen sollen — durchaus dazu angetan, die Welt der Emotion als eine Welt sui generis zu beschreiben. Man wundert sich geradezu, dass ein solch genauer Beobachter wie Sartre an der Möglichkeit vorbeigegangen ist, die Welt der Emotion als eine authentische Welt der Orientierung zu beschreiben, die der Handlungswelt nicht nur nach-, sondern oftmals auch vorgelagert ist bzw. einen substanziellen Bestandteil von ihr ausmacht. Stattdessen haftet dieser Welt bei ihm etwas Erfolgloses an. Ganz anders dagegen fasst Richard Wollheim die Rolle der Emotionen zusammen: Die Rolle der Emotionen besteht genau darin, den [...] Menschen Orientierung und eine Einstellung %ur Welt zu verschaffen. Wenn die Uberzeugungen uns eine Karte unserer Welt bilden und unsere Wünsche bestimmen, wohin die Reise gehen soll, dann wird diese Welt durch Emotionen bunt — lebhaft oder düster, je nachdem. 6

Die Orientierung, die Sartre den Emotionen zubilligen würde, wäre eher eine negative: Sie fuhren (kurzfristig) aus den Sackgassen der normalen Handlungswelt heraus, indem sie das Feld der Auseinandersetzung perschieben. Am Beispiel der passiven Angst beschreibt Sartre die Ohnmacht, die durch ein angreifendes wildes Tier ausgelöst wird, als „Fluchtverhalten". Weil die angegriffene Person der Gefahr nicht entkommen kann, hat sie diese „geleugnet". Die Angst (und ihre körperliche Folge) haben die reale Welt der Gefahr, der „nicht auf normalen Wegen und durch deterministi6

Wollheim 2001, 31; vgl. Solomon 1993, 180ff.

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sehe Verknüpfüngen" (E 45/296) ausgewichen werden konnte, gleichsam aufgehoben in eine Welt außerhalb der realen Welt. Aber auch diese Strategie der Emotion ist letztlich wirkungslos: Die Ohnmacht führt die Wirkungslosigkeit schroff vor Augen. Das angreifende Tier lässt sich bestimmt nicht durch sie beeindrucken. „Hier liegen die Grenzen meines magischen Einwirkens auf die Welt: ich kann sie [die Gefahr] als Objekt meines Bewußtseins aufheben, aber ich kann das nur, wenn ich das Bewußtsein seinerseits aufhebe." (E 45f./297)

5. Die Stellung des Körpers und die Emotion als Ersatzhandlung Aber auch an anderer Stelle wird in dieser Abhandlung deutlich, wie sehr Sartre die Emotion als eine Kompensation auffasst. Am Beispiel der Freude unterscheidet er das „Gefühl" von der „Emotion": Die Freude als Gefühl (la joie-sentimenì) repräsentiert einen „Gleichgewichtszustand", während die Freude als Emotion (Ja joie-émotion) als ein Unruhezustand beschrieben wird. Im Falle der Freude-Emotion ist das Objekt nicht in Reichweite, wenn man so will, weshalb die Welt in der Emotion so hergerichtet wird, als wäre das Objekt in Reichweite. Die Freude als Emotion will „zum Erschaffen einer magischen Welt beitragen, indem sie unseren Körper als ein Mittel der Beschwörung benutzt" (E 50/302). Allerdings wird dieser Als-ob-Charakter nicht gewusst. Immer wieder betont Sartre, dass wir die Emotion glauben·. Wir sind überzeugt. Die Emotion ist nämlich ein intensiver körperlicher Zustand. Die körperliche Erschütterung liefert gleichsam den Beweis, dass wir die Emotion ernst nehmen. Sie garantiert deren Echtheit. ,,[D]ie Emotion erscheint als ein Körper, der außer Fassung [bouleversé] ist und ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt." (E 53/305) Insofern lässt sich dann auch behaupten, dass die Emotion nicht ein Teil unserer körperlichen Verfasstheit ist, sondern ein bestimmter Modus leiblichen Existierens. Aus diesem Grund fällt es auch so schwer, der (akuten) Emotion etwas entgegenzusetzen. Sie okkupiert unser Körper-Bewusstsein. Wesentlich zum Verständnis der Emotion ist deshalb ein genaues Verstehen des Körpers. In dem nun folgenden Zitat wird auf durchaus eindrucksvolle Art und Weise gezeigt, welche zentrale Rolle der Körper hier spielt, auch wenn Sartre nun wiederum die kompensatorische Funktion der Magie hervorhebt. Um ausgehend vom Bewußtsein ein deutliches Bild von dem emotionalen Prozeß zu erlangen, sollten wir uns an den doppelten Charakter des Körpers erinnern,

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der einerseits ein Objekt in der Welt darstellt und andererseits das unmittelbar Erlebte des Bewußtseins. Dann können wir das Wesentliche erfassen: Die Emotion ist ein Phänomen der Uberzeugung/des Glaubens [croyance]. Das Bewußtsein begnügt sich nicht damit, affektive Bedeutungen in die Welt zu projektieren, die es umgibt: Es erlebt die neue Welt, die es gerade erschaffen hat. Es erlebt die Welt unmittelbar, es interessiert sich für die Welt, es erleidet die Eigenschaften, die die Verhaltensweisen bereits angedeutet haben. Das bedeutet, daß das Bewußtsein, weil alle Auswege versperrt sind, sich ganz und gar in die magische Welt der Emotion stürzt und sich solchermaßen degradiert: Es ist ein neues Bewußtsein angesichts einer neuen Welt, die es mit dem Intimsten/dem Innersten, was es hat, erschafft, mit jener abstandslosen Selbstgegenwart, mit der es die Welt wahrnimmt. Das Bewußtsein, das emotionalisiert/erregt ist, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bewußtsein, das einschläft. Dieses wie auch jenes wirft sich in eine neue Welt und verändert den Körper als eine synthetische Ganzheit solchermaßen, daß es die neue Welt mittels des Körpers erleben und verstehen kann. Anders ausgedrückt — das Bewusstsein wechselt den Körper [change de corps] oder, wenn man so will, der Körper im Sinne einer Aussicht auf die Welt, die dem Bewußtsein unmittelbar inhärent ist, stellt sich auf die Ebene der Verhaltensweisen. (E 53f./305f.)

Zentral in diesem Textabschnitt ist natürlich die phänomenologisch höchst adäquate Auffassung, dass der Körper nicht nur als ein Gegenstand in der Welt der übrigen Gegenstände aufgefasst werden darf, sondern (als Leib) als „das unmittelbar Erlebte des Bewußtseins". Der Körper ist die Einheit von Bewusstsein und Welt, erst recht (aber nicht nur) auf der vorreflexiven Ebene. Mangels einer Differenz zwischen Bewusstsein und Emotion, aber auch mangels einer Differenz zwischen Bewusstsein und Körper im unmittelbaren Erleben schließen sich in der Emotion das Bewusstsein und die Welt zusammen. Denn als „Objekt in der Welt" ist der Körper gleichzeitig „das unmittelbar Erlebte des Bewußteins". Wie in der jeweiligen Emotion die Welt gleichsam als Totalität bewohnt ^srìtà, wie jene sich in einer neuen — und im Moment der Emotion — gleichsam alternativlosen Welt einrichtet, kann man dieser wunderbaren Passage entnehmen. In Sartres frühem Roman Oer Ekel finden sich zahlreiche Stellen, die diese Theorie veranschaulichen. Immer wieder wird die Totalität des Ekels beschrieben und die Unfähigkeit, zwischen der Welt der Dinge und dem Bewusstsein zu unterscheiden. Zunächst sei die berühmte Stelle zitiert, wo der Protagonist einen Kieselstein in die Hände nimmt und sich ekelt. Obwohl die Objekte der Welt eine Funktion haben — beispielsweise ihre Nützlichkeit — verwandelt sich im Ekel die Grenze zwischen ihnen und der Person, die den Ekel erlebt. Der Ekel ist geradezu ein Zustand, eine

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Emotion, in der die Kontaktaufnahme mit den Dingen zwingendaufdringlich geschieht. Die Gegenstände, das dürfte einen nicht berühren, denn das lebt ja nicht. Man bedient sich ihrer, man stellt sie wieder an ihren Platz, man lebt mitten unter ihnen: Sie sind nützlich, mehr nicht. Aber mich, mich berühren sie, das ist unerträglich. Ich habe Angst, mit ihnen in Kontakt zu kommen, als wären sie lebendige Tiere. Jetzt begreife ich; ich entsinne mich besser an das, was ich neulich am Strand gefühlt habe, als ich diesen Kiesel in der Hand hielt. Das war eine Art süßliche LJbelkeit. Wie unangenehm das doch war! Und das ging von diesem Kiesel aus, ich bin sicher, das ging von dem Kiesel in meine Hände über. Ja, das ist es, genau das ist es: eine Art Ekel in den Händen. (N 23)

Der Ekel ist nicht bloß im Magen, er ist in den „Händen", was so viel heißt wie - er ist in den Dingen, er ist in der Welt, denn die Hände sind das vorzüglichste Mittel, die Dinge der Welt zu halten. Zwischen Emotion und Gegenstand lässt sich nicht mehr sinnvoll unterscheiden. Der Ekel ist gewissermaßen externalisiert, er überflutet die Welt. Eine ebenso interessante Passage findet man wenig später. Beim Anblick des Cousins Adolphe, der die Wirtin des Cafés vertritt, wenn diese abwesend ist, heißt es: Sein Hemd aus blauer Baumwolle hebt sich fröhlich von der schokoladenfarbenen Wand ab. Auch das verursacht den Ekel. Oder vielmehr: das ist der Ekel. Der Ekel ist nicht in mir: ich spüre ihn dahinten auf der Wand, auf den Hosenträgern, überall um mich herum. Er ist eins mit dem Café, und ich bin in ihm. (N 36)

Und genauso wie der Ekel das Totale, das Umfassende ist, worin die erlebende Person als separate Entität verschwindet, können auch die anderen Emotionen als Weisen eines totalen Welterlebens verstanden werden. Auf dem Hintergrund dieser zwei Beispiele ist man aber um so mehr überrascht, dass Sartre ein seltsam anmutendes, zwiespältiges Verhältnis zu den Emotionen zeigt. Denn einerseits werden sie als eine eigenständige und umfassende Welt für sich gedeutet. Andererseits kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Welt der Emotionen doch eine sekundäre Welt darstellt, eine Welt, in der die Person ihre Souveränität weitgehend eingebüßt hat. Und trotz aller Emphase, mit der die Existenz eines irreflexiven Bewusstseins geradezu beschworen wird, scheint ihm im entscheidenden Moment, nämlich anlässlich der Beschreibung und Analyse einer seiner exponiertesten Äußerungen — anlässlich der Emotion — die Anerkennung versagt zu bleiben. In der Emotion, so hieß es gerade, scheine das Bewusstsein „einzuschlafen". Und Sartre fügt hinzu: „Aus diesem Grund ist der Ursprung der Emotion eine spontane und erlebte Degradierung des Bewußtseins angesichts der Welt [une dégradation spontanée et vécue de la conscience en face du monde]" (E 54/306).

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Gerade der Schluss der Abhandlung unterstreicht diesen nun eigentümlich schwachen Charakter eines Bewusstseins, das sich angesichts der Ubermacht der normalen Welt in die Ersatzwelt der Emotion zurückgezogen hat. Offenbar liegt Sartre mehr daran, den Status der Irreflexivität dieses Bewusstseins hervorzuheben, als dass er um eine ausgewogenere Analyse und Wertung der Emotion bemüht wäre. Geradezu drastisch werden gegen Schluss seiner Analyse die Metaphern, die zur Charakterisierung des Emotion-Bewusstseins benutzt werden. Das Bewußtsein ist das Opfer seiner eigenen Falle. Und genau deshalb, weil es das neue Aussehen der Welt erlebt, indem es daran glaubt, ist es verstrickt in seinen eigenen Glauben wie in einen Traum oder in eine Hysterie. Das EmotionBewußtsein ist ein gefangenes Bewußtsein, aber das sollte man nicht so verstehen, als wäre da etwas außerhalb, das das Bewußtsein gefangen hält. Es ist der Gefangene seiner selbst [captive d'elle-même]. (E 54f./307)

Wie bereits erwähnt — nicht die Beschreibung einer Bewusstseinsstellung der Emotion bzw. die Darlegung der eigentümlichen Verfasstheit des Emotion-Bewusstseins als eines totalen Welterlebens, das sich von unserem gewohnten Handeln und seiner reflexiven Welteinstellung unterscheidet, ist problematisch, als vielmehr die Herabstufung der Emotion zu einer Ersatzhandlung. Offenbar ist die Emotion ein Zustand, der nach Befreiung schreit: Die magische Welt zeichnet sich ab, nimmt Form an, legt sich um das Bewußtsein und umschlingt es: Es fehlt ihm der Wille, zu entkommen, es kann den Versuch unternehmen, zu fliehen, aber zu fliehen hieße, ihm eine noch stärkere magische Realität zu geben. Und selbst diese charakteristische Befangenheit erfährt das Bewußtsein nicht als solche, es bezieht diese auf die Objekte, es sind die Objekte, die gefangen halten, fesseln, sie haben sich seiner bemächtigt. Die Befreiung muß von einer reinigenden Reflexion kommen [une réflexion purifiante] oder von einem totalen Verschwinden der emotionalisierenden Situation. (E 55/308)

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Literatur Sartres frühe Essays werden teilweise zitiert nach der von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener besorgten deutschen Ubersetzung, die unter dem Titel Die Transzendenz des Ego erschien — vollständige Angaben siehe unten. Alle Nachweise erfolgen am Ort durch Angabe von Sigle, Seitenzahl des französischen Originals gefolgt von der Seitenzahl der o. g. Ubersetzung. Die verwendeten Siglen sind: BS E Ν PH TE

— Bewusstsein und Selbsterkenntnis — Esquisse d'une théorie des émotions/ Skizze einer Theorie der Emotionen - Der Ekel - Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität - Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung

Frank, Manfred (1988), Subjekt, Person, Individuum, in: ders. (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt a. M., 7-28. — (Hg.) (1991), Selbstbewusstseinstheorien von Fichte bis Sarire, Frankfurt a. M. - (2002), Selbstgefühl Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (1979), Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M., 25-100. Sartre, Jean-Paul (1973, franz. zuerst 1948), Bewusstsein und Selbsterkenntnis, Reinbek bei Hamburg (= BS). - (1981, franz. zuerst 1938), Der Ekel, Reinbek bei Hamburg (= N). - (1982), Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essay's 1931—1939, übers, von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener, Reinbek bei Hamburg. — (1982, franz. zuerst 1936/1937), Die Transzendenz des Ego. Skizze einer phänomenologischen Beschreibung, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essay's 1931-1939, Reinbek bei Hamburg, 39-96 (= TE). — (1982, franz. zuerst 1939), Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939, Reinbek bei Hamburg, 33-38 (= PH). - (1960, zuerst 1939), Esquisse d'une théorie des émotions, Paris (= E). — (1982, franz. zuerst 1939), Skizze einer Theorie der Emotionen, in: ders., Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essay's 1931—1939, Reinbek bei Hamburg, 255—322 (=E). Solomon, Robert C.(1993), The Passions. Emotions and the Meaning of T i f i , New York. Wollheim, Richard (2001, amerik. zuerst 1999), Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle, München.

Susanne Κ. Langer (1895-1985)

Langer: Philosophie des Fühlens Rolf Lachmann 1. Der philosophische Ansatz Susanne K. Langers philosophisches Werk kann in seinen wesentlichen Konturen durch folgende drei Positionen charakterisiert werden: Es entwickelt eine symboltheoretische Konzeption, die nicht nur die hochentwickelten Formen menschlichen Denkens und Wissens umfasst, sondern die gesamte Sphäre menschlichen Fühlens und Verstehens mit einbezieht; es entwickelt eine Auffassung des Menschen, die auch die biologischen Grundlagen und die lebendige Natur seiner Existenz bedenkt; es beinhaltet eine philosophische Herangehensweise, die die Ideale der größtmöglichen begrifflichen Klarheit und der Phänomenangemessenheit zu verbinden sucht. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts und einem intensiven Gespür für die vernachlässigten Dimensionen des scheinbar Irrationalen, des Nicht-Diskursiven und der Kunst entwickelt Langer in mehreren Etappen eine Konzeption des menschlichen Geistes, in deren Mittelpunkt der Begriff des Fühlens steht. Seine Zentralstellung zeigt sich darin, dass er im Titel zweier ihrer wichtigsten Werke verwendet wird, im Titel ihres Hauptwerks zur Philosophie der Kunst feeling and Form (1953) und im Titel ihres Spätwerks Mind: An Essa}1 on Human Feeling (1967—1982), das einen neuen Zugang zu den Wissenschaften vom Menschen eröffnen soll. Vorausgegangen war als ihr erstes einflussreiches Werk Philosophie auf neuem Wege (1942), das ein symboltheoretisches Verständnis des menschlichen Denkens entwickelt. Ausgehend von den Konzeptionen Alfred North Whiteheads, Ernst Cassirers, Charles Sanders Peirce's, den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie und Sigmund Freuds Theorie der Traumdeutung sucht Langer zu belegen, dass die geistige Verarbeitung bereits in der Wahrnehmung beginnt. In den daran anknüpfenden sprachlichen aber auch nichtsprachlichen Symbolisierungsformen der Bilder, Rituale, Magie, Mythen, Märchen, Gesten und der Kunst werden Erfahrungen verarbeitet und Verständnisse artikuliert. Der gesamte Umfang

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menschlicher Verstehensformen kann als — durch unterschiedliche kulturelle Artefakte vermittelte — Symbolisierung interpretiert werden. Langers naturalistische Position, nach der menschliches Denken und Fühlen in natürlichen Prozessen entsteht, führt sie allerdings nicht zur Annahme eines bloß graduellen Unterschieds zwischen Tier und Mensch. Nur wenige Tierarten erreichen die Schwelle der Symbolisierungs Fähigkeit, eine echte Sprachkompetenz wird von keiner Art erreicht. Diese Fähigkeiten sind so zentral und die Differenz zu den Lebewesen, die sie nicht haben, so gravierend, dass sie zur Bestimmung der besonderen Natur des Menschen herangezogen werden kann. Der Symbolgebrauch transformiert seine gesamte Natur. Insbesondere führt er dazu, dass ein neues, spezifisch menschliches Bedürfnis entsteht, ein „Bedürfnis der Symbolisierung". Der Mensch ist für Bedeutungen hoch empfänglich und ständig auf der Suche nach Symbolen. In dem Scheitern, Erfahrungen durch ihre Symbolisierung zu verarbeiten, werden wir in den Grundlagen unserer Existenz erschüttert. In Anlehnung an William James' Begriff des „Bewusstseinsstroms" charakterisiert sie die geistige Situation des Menschen als permanenten, sogar noch bis in unsere Träume reichenden „Symbolstrom" (PS 50). „Die Bildung von Symbolen ist eine ebenso ursprüngliche Tätigkeit des Menschen wie Essen, Schauen oder Sichbewegen. Sie ist der fundamentale, niemals stillstehende Prozeß des Geistes." (PNW 49) Wichtig für das Verständnis von Langers Philosophie ist die von ihr eingeführte Unterscheidung zwischen der „diskursiven" und der „präsentativen Symbolisierung". Die Grundbedeutung des Begriffs „diskursiv" ist die des Auseinanderziehens und Zerlegens eines komplexen Sachverhalts, so wie dies für die sprachliche Symbolisierung charakteristisch ist. Die Grundbedeutung des Begriffs „präsentativ" ist die der sinnlichen Anschaulichkeit, der wahrnehmbaren und konkreten Präsentation, so wie sie etwa in Bildern stattfindet. Der Unterschied zwischen der diskursiven und der präsentativen Symbolisierung beruht darauf, dass die einzelnen Elemente der (ideal-)sprachlichen Artikulation definierte Symbole sind, die eine konventionell festgelegte Bedeutung haben. Da die sinnliche Manifestation eines definierten Symbols für die Bedeutung des Symbols ohne Belang ist, besteht keine interne Verbindung zwischen der sinnlichen Realisierung und ihrer Bedeutung. Dies unterscheidet die diskursive Artikulation von präsentativen Artikulationen. Die Elemente dieser Artikulationen (z. B. Färb- und Formeigenschaften) haben keine feststehenden Eigenbedeutungen. Es gibt kein Vokabular von Bildele-

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menten: Ein schwunghafter Bogen, der in dem einen Bild eine Welle bedeutet, bedeutet in einem anderen Bild vielleicht ein Blatt. Was der Bogen im Einzelfall bedeutet, hängt von seiner Situiertheit im Gesamtzusammenhang aller anderen Formelemente ab. Weil die Artikulation nicht auf konventionellen Bedeutungen basiert, ist sie von dem sinnlichen Material, in dem sie realisiert ist, nicht ablösbar. 1 Präsentative Symbole, zu denen neben Bildern auch Rituale, Mythen und Kunstwerke zählen, sind anschauungsnahe Symbolisierungen. Sie dominieren die Anfangsphase unseres Verstehens und bilden die Anfänge jeder Erkenntniserweiterung. Bevor wir einen Sachverhalt klar verstehen, d. h. auf der Grundlage einer Analyse seiner wesentlichen Eigenschaften, Faktoren und Beziehungen eine diskursiv paraphrasierbare Artikulation geben können, verwenden wir eine anschauungsnahe Artikulation, um dem anfänglich vage verstandenen Zusammenhang überhaupt eine erste symbolische Artikulation zu geben. Mit diesem Ansatz gelingt es Langer, eine von herkömmlichen Verständnissen abweichende Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität bzw. Emotionalität zu ziehen. Während etwa für den Logischen Empirismus alles, was nicht logisch oder empirisch verifiziert werden kann, als sinn- und bedeutungslos gilt, sieht Langer den Umfang menschlichen Verstehens und Erkennens durch die Reichweite der Symbolisierung definiert. Dabei gewinnen manche Artikulationen den Anschein von Irrationalität nur deswegen, weil sie sich ihrer Definition in diskursiven Symbolisierungen entziehen (PS 90—91). Dennoch handelt es sich bei Bildern, Ritualen, Mythen, Kunstwerken oder Gesten um genuine Formen des Verstehens, weil durch sie Gefühle, Haltungen oder subjektive Erfahrungen objektiviert, angeschaut und vorgestellt werden.

1

Langer hat diese in PNW eingeführte Unterscheidung, die weithin rezipiert worden ist (vgl. etwa Lorenzer 1970; Gaube 1978; Fellmann 1991), möglicherweise wegen ihrer begrenzten Reichweite (vgl. dazu Lachmann 2000, 62—78) anschließend nicht mehr verwendet. Aufgegriffen und zum Ausgangspunkt genauerer Analysen wurde sie (in kunstphilosophischer Absicht) von Nelson Goodman 1995 (zuerst 1968).

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2. Formen und Formbarkeit des Fühlens Dieser Ansatz bildet die Grundlage einer durch eingehende Studien der einzelnen Kunstformen entwickelten Philosophie der Kunst. 2 Nach Langers Auffassung findet in der Kunst nicht lediglich ein Ausdruck eigener Gefühle statt. Vielmehr werden in Kunstwerken Gefühlsdynamiken anschaulich objektiviert. Kunstwerke fungieren daher als Symbolisierungen und stellen genuine Formen menschlichen Verstehens dar. „Kunst ist die Erzeugung von Formen, die menschliches Fühlen symbolisieren." (FF 40) Da künstlerischer Ausdruck auch Aspekte der organischen Grundlagen des Fühlens objektiviert, bezeichnet Langer den Ausdrucksbereich der Kunst als Aspekte des „inneren Lebens - des physischen wie geistigen" (PNW 225). Der Grundgedanke ist, dass genau das, was einerseits als Nachteil und Irrationalität der präsentativen Symbole angesehen werden kann, nämlich ihre diskursiv nicht eindeutige Definier-, Analysier- und Ubersetzbarkeit, andererseits ihre besondere Leistungsfähigkeit ausmacht: Wir hören nämlich in der Artikulation etwa eines Musikstücks die dynamische Interaktion der einzelnen Elemente. Das, was einzelne Töne oder melodische Elemente bedeuten, ist nicht stabil, sondern entsteht und verändert sich durch die wechselseitige Bestimmung der Elemente im Gesamtgefüge aller anderen Elemente. Die Formbeziehungen werden nicht äußerlich und additiv gebildet, sondern im dynamischen Wechselspiel. Genau diese Eigenschaft macht diese Symbolisierungsform nach Langer so geeignet, die wechselvolle Dynamik unseres Fühlens ausdrücken. Diese Auffassung kann durch folgende Hinweise verdeutlicht und erklärt werden: Zunächst erleben wir auch unser Fühlen als ein fließendes und dynamisches Phänomen. Zugleich weist jedes Fühlen — auch wenn wir es als chaotisch, unaussprechlich oder irrational empfinden — Strukturen, Formen oder Muster auf, die sich insbesondere in seinem Verlauf zeigen. So wie etwa eine anfängliche Unruhe und Spannung, die in eine dramatische Eskalation übergeht, schließlich umschlägt und in einer ausgleichenden Beruhigung enden mag, hat jedes Gefühl eine spezifische Verlaufsform. Diese Formen sind sprachlich zwar nur schwer artikulierbar, sie haben aber eine typische Charakteristik. Schließlich basiert nach Langers

2

Bereits in P N W wird der symboltheoretische Ansatz für die Musik ausgedeutet und es ist auch diese Kunstform, in der Langers Ansatz sehr stark rezipiert wurde, vgl. etwa Kivy 1989; Budd 1992; Epperson 1967. Die voll entfaltete Philosophie der Kunst enthält Langers Schrift Feeling and Vorm.

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Auffassung jeder symbolisch vermittelte Verstehensakt auf dem spontanen Erkennen von Formentsprechungen. Wir haben ein außerordentlich direktes Gespür für formale Analogien, durch die wir eine Form in einer anderen entdecken und sie dadurch auch verstehen. Vermittels dieses Erkennens von Formentsprechungen verstehen wir die artikulierten musikalischen Muster spontan als Ausdruck von Gefühlen. Dies unterstellt, wird deutlich, wieso man davon sprechen kann, dass die Musik in großer anschaulicher Genauigkeit Fließen, Rhythmik, Entwicklung, Anwachsen, Umschlagen und Ausklingen unseres inneren Lebens artikuliert. Dabei sind es nicht einzelne Gefühle, etwa der Traurigkeit oder der Freude, die in Kunstwerken symbolisiert werden, sondern ihre Formen und Dynamiken, die auch in unterschiedlichen Gefühlen identisch sein können. Langer bezeichnet den Gegenstand der Kunstwerke daher auch als die „Morphologie des Gefühls" (PNW 234). Allerdings ist mit dieser Position keine einfache Abbildtheorie verbunden. In präsentativen Symbolen gewinnt das, was durch sie ausgedrückt wird, eine distinkte Erkennbarkeit, die es vorher und unabhängig davon nicht hat. Ein Symbol hebt Aspekte hervor und bringt sie zur klaren Anschaulichkeit, die unabhängig von diesem Symbol kaum besteht. Zur Bezeichnung dieser Funktion von Symbolen spricht Langer von der „formulativen Funktion" (PA 149). Symbole haben aber nicht allein diesen verständnisbegründenden Wert. Sie haben auch eine praktische Bedeutung. Diese haben sie bereits in einem ganz elementaren Sinne deswegen, weil jede Symbolisierung eine Aktivität ist, die etwas Erfahrenes oder Gefühltes im Lichte einer anderen Form versteht und dadurch immer einen einseitigen, selektiven und konstruierenden Charakter hat. Uber diesen elementaren kognitiven Gestaltungssinn hinaus organisieren die Symbole unser Verstehen und Fühlen. Sie prägen unsere Existenz bis in unsere Phantasien und unser Gefühlsleben hinein. Neben der formulativen Funktion haben Symbolisierungen daher stets auch einen formbildenden und „formativen Einfluß" (PS 88). Dadurch wird unser Erleben strukturiert und unter Umständen auch neu gestaltet. Aufgrund dieser tiefgreifenden Wirkungen der Symbolisierung gibt es den Menschen als ein geistiges und kulturelles Wesen. Langer weist auf die anthropologische Notwendigkeit dieser Funktion der Symbolisierung hin. Ohne eine Formgebung unseres Lebens bleibe es haltlos und inkohärent (FF 400).3 3

Vgl. dazu Reimer 1993.

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3. Kunst als Phänomenologie des Fühlens Langer geht nun einen Schritt weiter und beginnt auf der Grundlage dieser Kunstauffassung — sie spricht auch von der Kunst als einer „Phänomenologie des Fühlens" (FF 57) — eingehende Studien mit dem Ziel, einen neuen Zugang für die Wissenschaften vom Menschen zu entwickeln. Dies erscheint umso mehr plausibel, als in den Kunstwerken auch die Muster der organischen Grundlagen des Fühlens artikuliert werden. Bereits in ihrer Ästhetik spricht sie strukturelle Eigenschaften der organischen Dynamiken an, so zum Beispiel in ihrer Erörterung der Musik. In der Musik entsteht das artikulierte Fühlen aus dem kontinuierlichen Auf- und Abbau von Spannungen, durch die Einheiten gebildet werden. Die Einheiten haben einen Anfang, wachsen in Richtung eines höchsten Intensitätspunktes, lösen sich dann auf und münden in einen ausklingenden Verbrauch. Mit ihrem Ausklang bauen sie neue Ausgangsspannungen auf und bereiten damit den Boden für das Entstehen neuer Einheiten. Die Einheiten sind daher keine singulären und isolierten Vorkommnisse, sondern interagieren vielfältig miteinander. Diese Einheiten haben eine charakteristische Aktivität und Effektivität. Sie bilden keine leere Sukzession isolierter Vorkommnisse, sondern stehen in relationalen und sich wechselseitig bestimmenden Zusammenhängen. Die Aufeinanderfolge der Einheiten hat den Charakter eines vieldimensionalen Geflechts. Die Einheiten überlappen sich, laufen auseinander und vereinigen sich wieder. Einige Einheiten rücken — vielleicht nur für eine gewisse Zeit — in den Vordergrund, während andere in den Hintergrund treten aber dort dennoch eine massive Aktivität entfalten. Eine weitere Charakteristik der musikalischen Artikulation ist die Organisation der Einheiten in einer „rhythmischen" Form. Dabei ist es für einen Rhythmus unwesentlich, ob die ihn bildenden Einheiten gleichartig sind. Ein Rhythmus hat die wesentliche Eigenschaft, dass mit dem Ausklingen einer Einheit zugleich die Ausgangsspannung, der Impuls für eine neue Einheit gebildet wird. Wenn entweder die vorhergehende Einheit durch eine völlig neue abgebrochen wird, oder die Einheiten aufgrund einer Überlastung ihre Integration verlieren, so verschwindet der rhythmische Charakter. Auch durch die Wiederaufnahme und Wiederholung von Einheiten entsteht in der Musik der Eindruck von Lebendigkeit. Dadurch wird der auch für lebendige Vorgänge charakteristische Sachverhalt zum Ausdruck gebracht, dass sich die Einheiten oft nicht einfach verlieren, sondern - manchmal in verkürzter oder leicht variierter Form — wieder

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aufgenommen, noch einmal durchlaufen werden. Sie werden reproduziert und bleiben als Faktoren des Geschehens auch in späteren Phasen eines Verlaufs präsent (FF 129). Aufgrund dieser und anderer Prinzipien kann ein Musikstück eine hohe Expressivität von „Lebendigkeit" und „organischer Entwicklung" erlangen. Langer bezeichnet das Entstehen dieses Eindrucks eines vitalen Geflechts in der Musik als „musikalische Matrix" (FF 120) oder auch als „musikalischen Organismus" (FF 130). Leben erscheint in dieser Perspektive als ein durch und durch prozessuales, aber zugleich integriertes Geschehen. Dadurch, dass in einem Musikstück diese organische Matrix erzeugt wird, kann es die Grundlage eines darin auftauchenden und sich entwickelnden Fühlens werden. Die Kunst kann daher als Heuristik für die Entwicklung einer Begrifflichkeit der strukturellen Verhältnisse lebendiger Organisation und des in lebendigen Prozessen entstehenden Fühlens dienen. Ergänzt um den Arbeitsschritt einer Konfrontation mit empirischen und wissenschaftlichen Befanden kann ein neuer Zugang für die Wissenschaften vom Menschen angebahnt werden. Dies ist der Ansatz des dreibändigen Werks Mind: An Essa}1 on ¥iuman Feeling (1967—1982). Langer beschreitet dieses Projekt vor dem Hintergrund des vorherrschenden Positivismus und Behaviorismus, der für die Wissenschaften vom Menschen eine völlig untaugliche Perspektive beinhalte. Die Entwicklung einer neuen, sowohl am Phänomen menschlichen Fühlens und Denkens entwickelten als auch an den Ergebnissen der Wissenschaften orientierten Begrifflichkeit soll einen Beitrag für die Wissenschaften vom Menschen liefern. Als Mittel der Phänomenerschließung dient ihr die Kunst, die sie gegenüber der phänomenologischen Methode Edmund Husserls für überlegen hält, insbesondere deswegen, weil sie — allerdings in einer präsentativen Form — anschauungsnahe Objektivationen der Strukturen menschlichen Fühlens und sogar ihrer organischen Grundlagen liefere. 4

4. Fühlen als allgemeine Bewusstseinsform Der durch ihre kunstphilosophische Position fokussierte Begriff des Fühlens erweist sich nicht nur deswegen als fruchtbar, weil Langer durch ihn den gesamten Umfang des inneren Erlebens — einschließlich der durch unsere höheren intellektuellen Funktionen transformierten Gefühlswelt — 4

Vgl. dazu L a c h m a n n 2000, 1 3 6 - 1 3 8 .

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bezeichnen kann. Er bildet für eine naturalistische Philosophie des Geistes auch insofern einen hervorragenden Ausgangspunkt, als er die entwicklungsgeschichtliche Ausgangs situation des bewussten Lebens, also eine erste und ursprüngliche Bewusstseinsform zu bezeichnen vermag. The problems of semantics and logic seem to fit into one frame, those of feeling into another. But somewhere, of course, mentality has arisen from more primitive vital processes. Somehow they belong into one and the same scientific frame. I am scouting the possibility that rationality arises as an elaboration of feeling. (PA 124)

Im Vorwort von Mind: An Essay on Human Feeling formuliert Langer ausdrücklich die These, dass die höheren Formen bewusster Vollzüge einschließlich derer des menschlichen Denkens das Ergebnis einer Entwicklung und Ausdifferenzierung einer primitiven Bewusstseinsform sind. Geist ist das Ergebnis einer „[...] riesigen und speziellen Evolution des Fühlens in der menschlichen Entwicklung." (M I, xvii) Vor dem Hintergrund dieser Auffassung stellt sich die Aufgabe so, zu zeigen, wie die ersten Formen des Fühlens so transformiert werden, dass sie beim Menschen die Form des Denkens annehmen. Obwohl der Begriff des Fühlens diese Perspektive ausdrücklich anbahnen soll, wird er in Langers Philosophie nicht auf diesen Aspekt begrenzt. Der Begriff des „Fühlens" als Grundbegriff ihrer Philosophie des Geistes wird so definiert, dass durch ihn der gesamte Umfang dessen, was von uns gefühlt werden kann — angefangen von einzelnen Empfindungen, Schmerz- und Lustgefühlen, dem Spüren von Vitalität und Stimmungen bis hin zum Gefühl eigener Identität, komplexen Emotionen, intellektuellen Spannungen und unserem bewussten Denken — bezeichnet wird. Er soll den gesamten Umfang dessen, was wir fühlen und empfinden einschließlich der höchsten intellektuellen Tätigkeiten bezeichnen und ist damit ein Synonym für „Bewusstsein". 5 Durch den Begriff des Fühlens soll die mit dem Bewusstseinsbegriff verbundene Fixierung auf die höchsten Formen des Denkens und menschlicher Intellektualität vermieden werden. Zugleich sollen die mit dem Bewusstseinsbegriff verbundenen statischen und dinglichen Assoziationen einem prozessualen Verständnis des Denkens und Fühlens weichen. Schließlich betont der Begriff des Fühlens, dass der gesamte Umfang dessen, was uns bewusst wird — so auch unser Denken — stets eine affektive Charakteristik hat. 5

Langer verweist in ihrer Einführung des Begriffs vom Fühlen nur auf William James, der ihn ebenfalls zur Bezeichnung aller verschiedenen Formen des Bewusstseins verwendet.

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5. Die Dynamik lebendiger Aktivität Fühlen entsteht in der spezifischen Existenzform lebendiger Prozessualität, die Langer — unter Berücksichtigung der Heuristik der Kunst — genauer zu konzeptualisieren sucht.6 Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Natur lebendigen Geschehens zeigt, dass dieses, angefangen von den biochemischen Prozessen bis hin zu den Verhaltensabläufen nicht amorph ist, sondern in unterscheidbare Einheiten zerfällt. Langer bezeichnet diese Einheiten als „Akte". Akte sind raum-zeitliche und energetische Naturabläufe wie andere chemische Prozesse auch. Sie werden durch eine Ausgangsspannung initiiert und verbrauchen diese Spannung. Man kann sie als sich über einen gewissen Zeitraum erstreckende Entladungsvorgänge begreifen. Akte haben verschiedene Phasen: Sie beginnen in einem „Impuls", gehen dann in eine Beschleunigungsphase über, erreichen einen Höhepunkt und münden in eine Phase des Verbrauchs und Ausklingens. Akte sind Einheiten. Ihre Einheit beruht darauf, dass sie die Ausgangsspannung verbrauchen, durch die sie initiiert werden. Ein Akt endet damit, dass seine Energie verbraucht ist und damit seine Aktivität abbricht. Langers These ist, dass alle Formen lebendigen Geschehens - von den metabolischen Vorgängen bis hin zum Herzschlag und der Motorik - Akte sind oder zumindest auf Akte als ihre elementaren Prozesseinheiten zurückgeführt werden können. Leben ist aber nicht lediglich Prozessualität. Ein zentrales Charakteristikum lebendiger Aktivität besteht darin, dass die Prozesse in einem sich selbst aufrechterhaltenden Geschehen stehen. Als Grundbegriff einer Theorie des Lebendigen muss der Aktbegriff dieses Charakteristikum mit in seine Definition aufnehmen. Langer spricht daher erst dann von Akten, wenn Prozesse in einem prozessualen Geschehen anderer Akte entstehen und zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Akte werden durch andere Akte erzeugt und führen zur Bildung neuer Akte. Dadurch entstehen konstante Rhythmen und Aktivitätsmuster. Es formiert sich ein „Boden" permanenter Aktivität, eine „Matrix". Akte stehen daher in sich wechselseitig erzeugenden und bedingenden Beziehungen. Mit ihrer Aktualisierung verändern sie die Situation, aus der sie hervorgegangen sind und beeinflussen

6

In dieser Konzeption zeigt sich auch der Einfluss von Alfred North Whiteheads Prozessmetaphysik (vgl. Whitehead 1978 (zuerst 1929)) und eine große Nähe zur Systemtheorie. Langer und Ludwig von Bertalanffy haben ihre Arbeiten wechselseitig rezipiert und an sie angeschlossen (vgl. von Bertalanffy 1965).

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das Entstehen der folgenden Akte. Akte können mit anderen Akten verschmelzen und zu größeren massiveren Akten integriert werden. Auf diese Weise entsteht eine bis in das Verhalten hinein sich aufbauende Differenzierung und Schichtung der Akte. Ein Lebewesen ist eine riesige Verkettung und Verflechtung von Akten, die sich reproduzieren, wechselseitig stützen, beeinflussen, zu größeren Einheiten integrieren oder auch blockieren. Das komplexe Zusammenspiel der wechselseitig aufeinander bezogenen Akte, bestimmt den Organismus in allen Hinsichten. Die Entstehung von Akten ist ein natürlicher Kausalvorgang. Allerdings ist er von einer solch großen Komplexität, dass für sein Verständnis einfache Kausalvorstellungen völlig unzureichend sind. Zur Bezeichnung der besonderen Form der Aktverursachung führt Langer den Begriff der „Motivation" ein. Die Besonderheit der organischen Verursachung besteht darin, dass jeder Akt aus einer komplexen „Situation" voranschreitender Akte, der Matrix, hervorgeht. Die Situation ist die Gesamtheit der Myriaden sich im Verlauf befindender und zum Abschluss gekommener Akte, die die Determinanten der Umgebung jedes Aktes sind. Jeder Einfluss, der einen Akt erzeugt, wird daher durch die Matrix vermittelt. Zwar besteht eine abgestufte Relevanz von Akten entsprechend der Wirkungsmächtigkeit anderer Akte für einen besonderen Akt, aber in einem strikten Sinne gehen in die Erzeugung jedes Aktes alle anderen Akte der Matrix mit ein. (M I, 381) Durch die Aktkonzeption entwickelt Langer eine konsequente Prozesstheorie des Lebens. Die Einheiten des Lebens sind nicht die Zellen oder Gene oder andere statisch gedachte Entitäten, sondern Prozesseinheiten. Gene, Zellen und Zellverbände sind lediglich die biochemische Grundlage von Akten. Auch die konstanten Zustände von Organismen sind niemals statisch oder passiv beharrend, sondern Ergebnisse ihrer fortwährenden Reproduktion. Organismen sind nie passiv, auch wenn sie sich in einem relativen Ruhezustand befinden. Ein Ruhezustand ist ein temporäres dynamisches Gleichgewicht von Akten. Langer vollzieht damit in ihrer Konzeption dieselbe Perspektivenumkehrung, wie sie Alfred North Whitehead in seiner organismischen Philosophie durchführt. Akte, auch die integrierten makroskopischen Akteinheiten, die wir als Handlungen bezeichnen, werden nicht als die Ausführungen von Agenten verstanden, die ihnen zugrunde liegen. Zwar sind Akte dadurch definiert, dass sie in einer Matrix anderer Akte entstehen. Aber die Matrix hat keine Eigenexistenz, die aus etwas anderem, als eben aus einer Vielzahl anderer Akte besteht. Sie ist kein erfahrungsjenseitiges

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und unveränderliches Subjekt. Agenten sind durch Akte zu erklären und lediglich die Bezeichnung der konkreten Akt-Entwicklungsgeschichte. Agenten unterliegen daher auch einem permanenten Wandel.

6. Das Auftauchen des Fühlens Durch diesen Ansatz nimmt das Leib-Seele-Verhältnis die Frage an, wie es verstanden werden kann, dass in bestimmten Akten oder Aktverbänden Fühlen entsteht. Der Ausgang von der Aktkonzeption hat verschiedene Implikationen. (1) Zunächst beinhaltet — wie bereits ausgeführt — die Akttheorie ein prozesstheoretisches Verständnis des Fühlens und des menschlichen Denkens. (2) Ferner sieht Langer in der energetischen Natur der Akte den Anknüpfungspunkt für die Erklärung des Entstehens von Fühlen in bestimmten Akten: Es sind solche Akte einer besonders intensiven Aktivität, in denen Bewusstsein als ein neuer Aspekt auftaucht. (3) Zuletzt wird durch die Aktkonzeption eine enge Verbindung zwischen dem Empfindungsvermögen und einer besonderen Form von Akten, dem Verhalten, hergestellt. Ein Hauptstrang der Evolution des Fühlens besteht darin, dass es eine Funktion für die Steuerung des Verhaltens gewinnt. Nach Langer ist es unzutreffend von einem allgemeinen Leib-SeeleProblem zu sprechen. Diese Bezeichnung unterstellt nämlich, dass es sich hierbei um zwei eigenständige „Bereiche" handelt, die in eine spezifizierbare Beziehung treten können. Fühlen ist aber weder eine strikt getrennte Eigenwirklichkeit, noch ist es ein „Produkt" physiologischer Geschehnisse. Vielmehr ist Fühlen eine Qualität, die in bestimmten Akten auftaucht und mit ihnen wieder verschwindet. Langer spricht davon, dass in bestimmten Akten eine „psychische Phase" (M I, 21) entsteht. Mit dieser Konzeptualisierung des Leib-Seele Verhältnisses richtet sich Langer gegen dualistische Verständnisse, deren Ursache sie in der verdinglichenden Vorstellungsrichtung unserer Sprache sieht. Unsere Sprache tendiert dahin, allen Verhältnissen einen substanziellen, dinghaften Ausdruck zu geben. Dies ist für viele Erfahrungsbereiche zwar wenig problematisch, aber es behindert ein angemessenes Verständnis prozessualer Phänomene, als die Leben und Fühlen zu begreifen sind. Langer wendet sich ebenfalls gegen die epiphänomenalistische Auffassung, nach der das Psychische lediglich eine kausal irrelevante Randerscheinung physischer Prozesse ist. Ferner widerspricht sie der zum Teil in der wissenschaftli-

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chen Literatur verwendeten Vorstellung einer „Konvertierung" physiologischer in psychische Prozesse. Hinsichtlich der physiologischen Grundlagen formuliert Langer die Hypothese, dass das Entstehen einer psychischen Phase wesentlich mit dem energetischen Charakter der Akte zusammenhängt. Demnach „brechen" neurophysiologische Akte ab einer bestimmten Intensitätsschwelle in die psychische Phase „durch" und werden gefühlt. Das Auftauchen der psychischen Phase ist allerdings kein punktuelles Ereignis, sondern ein allmähliches Anschwellen, für das man keinen isolierten Grenzwert bestimmen kann. Langer spricht von einer „fluktuierenden Empfindungsgrenze". (M I, 22) Auch hängt es von der biologischen Organisation eines Lebewesens ab, welche Akte in die psychische Phase übergehen. Möglicherweise fühlen manche Tiere Vorgänge, die uns vollständig unbewusst bleiben.

7. Sensibilität und Emotionalität Die psychische Phase ist keine in sich homogene Bewusstseinssphäre. In Abhängigkeit von den zugrunde liegenden physiologischen Prozessen gibt es etwa hinsichtlich der Grade an Intensität, Distinktheit, Qualität oder des RiehtungsCharakters ganz heterogene Strukturen des Fühlens. Das, was gefühlt wird, sind die physiologischen Prozesse, in denen eine psychische Phase entsteht, selbst. Zur Bezeichnung dieser bezüglichen Natur des Fühlens spricht Langer von „gefühlt werden" (M I, 21). Deswegen steht die spezielle Form der Empfindung (ζ. B., ob es eine Färb-, Geruchs- oder Tastempfindung ist) in direkter Beziehung zu den physiologischen Prozessen, in denen sie entsteht. Die entwicklungsgeschichtlich ersten in eine psychische Phase durchbrechenden Akte wiesen noch keine erlebbare Unterscheidung hinsichtlich ihrer internen oder externen Motivation auf. Langer nimmt an, dass an den Grenzzonen von Organismen durch externe Einflüsse zum ersten Mal Akte von solcher Intensität entstanden, dass sie in eine psychische Phase durchbrachen. Später entstand Fühlen auch aufgrund von inneren Spannungen und eigeninduzierten Akten des Organismus. In jedem Fühlen wird stets auch die dynamische Struktur seines Entstehens mitempfunden. In dieser Hinsicht besteht ein charakteristischer Unterschied zwischen der äußeren oder inneren Motivation von Fühlen. Zum einen gibt es Empfindungen, die ohne jede Vorbereitung in unsere bewusste Ge-

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genwart hineinbrechen. Fühlen solcher Art geht typischerweise aus extern verursachten Einflüssen hervor. Hier haben wir auch den Eindruck eines Fremden, uns Uberfallenden. Es handelt sich um ein Bewusstsein des „Fühlens als Einwirkung". Auf der anderen Seite gibt es ein Fühlen, das allmählich anschwillt und als ein stetes Anwachsen empfunden wird. Solches Fühlen empfinden wir nicht als fremd, sondern als ein Eigenes, aus uns selbst Erwachsendes. Es hat den Charakter eines „Fühlens als autogene Aktion" (M I, 23). Aufgrund dieser unterschiedlichen Entstehungsdynamiken bilden sich die Bereiche der Sensibilität und der Emotionalität aus, die letztlich die Grundlage für die Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem darstellen.

8. Fühlen und Verhalten Eine Richtung der Evolution höherer Lebewesen besteht in der aufeinander bezogenen Differenzierung von Empfindungsvermögen und Verhalten. Die „Verhaltensnähe" des Fühlens ist ja theoretisch dadurch angebahnt, dass die psychische Phase in Akten entsteht. Fühlen entsteht innerhalb von Aktivitäten und mündet auch wieder in Aktivitäten hinein. Es kann daher zu einem verhaltensverändernden Faktor werden. Dass die Evolution des Fühlens gerade mit der Evolution derjenigen Lebewesen verbunden ist, die sich selbst bewegen können, hängt mit der für diese Lebewesen massiv zunehmenden Gefährdung zusammen. In dem Augenblick, wo Lebewesen in radikaler Weise ihre Platzierung in der Umgebung verändern können, müssen sie neue Reaktionsmodi ausbilden, um die entstehenden Gefahren bewältigen zu können. Der entscheidende Schritt in der Evolution des Fühlens besteht darin, dass es für das Verhalten eines Organismus eine Leitfunktion gewinnt. Grundsätzlich ist das tierische Wahrnehmungsbewusstsein in seiner Einbettung in die organischen Rahmenbedingungen zu verstehen. Die im Gehirn zum Bewusstsein kommenden Impulse werden aufgrund ihrer Abhängigkeit von der intraorganischen Motivation wesentlich durch hormonelle Zyklen bestimmt. Je nach der Jahreszeit und der aktuellen unmittelbareren physiologischen Situation (z. B. Hunger), sind Tiere für ganz spezifische Reize sensitiviert. Die schwankenden hormonellen Zyklen aktivieren verschiedene Verhaltensformen und führen zu einer verschiedenen „Bewertung" des Wahrgenommenen (M II, 128). Als zentrale Hypothese zur Interpretation tierischen Wahrnehmungsbewusstseins entwickelt

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Langer die Vorstellung, dass die tierische Wahrnehmung vollständig in die Struktur ihres Verhaltens integriert ist. Die Wahrnehmungen von Tieren stehen in direkter Abhängigkeit von ihrem je gerade in der Entstehung oder im Verlauf befindlichen Verhalten. Dies zeigt das Beispiel der Raumwahrnehmung. Tiere sind in der Regel nicht in der Lage, einen Raum durch bloßes Betrachten kennenzulernen. Ihre Raumkenntnis ist daran gebunden, sich in dem Raum zu bewegen. Ihr Raum existiert nur als Verhaltensraum. Nach Langers Auffassung nehmen Tiere ihre Umgebungen nicht hinsichtlich ihrer individuellen perzeptiven Eigenschaften wahr. Das tierische Wahrnehmungsbewusstsein bleibt in einer dem distinkten Form- und Eigenschaftswahrnehmen vorausliegenden Phase der pragmatischen Aufmerksamkeit. Wahrnehmungen fungieren allein in ihrer pragmatischen Relevanz, als Werte des Verhaltens (M II, 55). Der Wahrnehmungsprozess, der bei der menschlichen Wahrnehmung hin zum Auffassen der distinkten Eigenschaften führen kann, bricht im tierischen Wahrnehmungsbewusstsein aufgrund seiner pragmatischen Einbettung bereits vorher ab. Tierische Wahrnehmung verbleibt in der primären Phase der Werterfassung, weil die Einbindung in die Motorik so stark ist, dass ihre Aufmerksamkeit sofort auf neue Verhaltenskonstellationen bezogen wird. Daher haben Tiere kein unserem Wahrnehmungsbewusstsein ähnliches Wahrnehmen klar unterschiedener Eigenschaften. Langer untermauert die These vom „Wertcharakter" der tierischen Wahrnehmung durch Erkenntnisse aus der menschlichen Wahrnehmungsforschung. So ist der Sachverhalt gut erforscht, dass der bewussten Wahrnehmung eine voraufmerksame Phase der Bewertung vorausgeht. Tachistoskopische Studien belegen, dass etwa das Verständnis von Wörtern durch ihre positive oder negative, passende oder unpassende Bedeutung, die voraufmerksam wahrgenommen wird, beeinträchtigt wird. Dies ist ein Indiz dafür, dass der Wert einer Wahrnehmung bereits vor dem bewussten und distinkten Erkennen der Form- und Bildeigenschaften gegeben ist. Möglicherweise ist die Phase der voraufmerksamen Wahrnehmung in der tierischen Wahrnehmung sogar sehr viel stärker ausgeprägt als beim Menschen, weil diese Phase beim Tier nicht wie die menschliche Wahrnehmung von einer neuen Phase der distinkten Wahrnehmung abgelöst wird. Während die Wertwahrnehmung beim Menschen ein stark reduziertes Durchgangsstadium darstellt, haben Tiere möglicherweise eine sehr viel ausgeprägteres Erfassen Verhaltens funktionaler Werte. Situationsbewältigungen stellen sich nach diesem Verständnis nicht als Ergebnis

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„expliziter Beurteilungen", sondern als Ergebnis des Erfassens pragmatischer Qualitäten dar.7 Auch das tierische Sozialbewusstsein hat eine andere Struktur als die des Menschen. Zur terminologischen Fixierung der differenten Struktur fuhrt Langer die Unterscheidung zwischen Empathie und Sympathie ein. Der Begriff der „Empathie" bezeichnet die direkte emotionale Ansteckung zwischen Artgenossen. Besonders dort, wo Tiere in Sozialverbänden zusammenleben, kommt es zu einer spontanen Übertragung der subjektiven Befindlichkeit, bei der die individuelle Separatheit des Fühlens durchbrochen wird. Die plötzlich ausbrechende Panik beim Auftauchen eines Angreifers ist eine solche empathische Reaktion, die sich spontan und ohne jede symbolische Vermittlung auf alle Tiere einer Gruppe ausbreitet. Während empathische Reaktionen beim Menschen nur noch rudimentär vorhanden sind, sieht Langer darin eines der dominanten Prinzipien der Organisation des tierischen Soziallebens. Für den Menschen ist der Zugang zur subjektiven Befindlichkeit anderer in der Regel symbolisch vermittelt. Menschen erfahren die emotionale Befindlichkeit anderer durch die Vorstellung der Befindlichkeit eines anderen, durch „Sympathie". Wir wissen von den Emotionen anderer nicht „direkt gefühlt", sondern „vorgestellt und imaginativ verstanden" (M I, 89). In dieselbe Richtung geht Langers Unterscheidung zwischen „Kommunion" und „Kommunikation". Kommunion ist die Sammelbezeichnung für die zahlreichen Formen gegenseitiger Aufmerksamkeit, Kontaktsuche und Nähebedürfnisse (M II, 202). Viele Formen des tierischen Sozialverhaltens können so gedeutet werden, dass Artgenossen durch olfaktorische oder akustische Reize in naher Verbindung bleiben und dadurch ihren emotionalen Spannungszustand reduzieren. Nach Langers Auffassung findet das tierische Sozialleben ohne jede Form von Kommunikation, d. h. einer intendierten und vorstellungsbegleiteten Vermittlung von Ideen oder Informationen, statt. Wirkliche Kommunikation, d. h. die wechselseitige Mitteilung über etwas Abwesendes, Erinnertes oder Vorgestelltes wird erst durch die Fähigkeit des Sprachgebrauchs möglich und ist die Besonderheit des Menschen.

7

Vgl. dazu auch Lachmann 1999.

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9. Die Entkoppelung des Fühlens vom Verhalten Die eng an die Sprachentstehung gekoppelte Menschwerdung vollzog sich ausgehend von verschiedenen Entwicklungen, bei denen die Freisetzung der Hände eine große Rolle spielte. Daneben schreibt Langer gerade der Steigerung der Emotionalität eine zentrale Bedeutung zu. Die Spezialisierung und Differenzierung der Hand und anderer Sinnesorgane allein führt nicht zum menschlichen Geist. Es ist die ausgeprägte Emotionalität unserer Vorfahren, die die grundlegende Reorganisation unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstseins einleitete, which entails a corresponding increase of perceptive functions, not necessarily by virtue of better receptor organs, but of increasing values imposed on what anciently developed senses convey. (M II, 140) 8

Im Rahmen ihrer historischen Rekonstruktion der Menschwerdung räumt Langer dem Phänomen des Träumens eine Schlüsselstellung ein. Der Traum ist nach Langers Auffassung deswegen ein plausibler Ansatzpunkt, weil sich hier erstmals die für menschliches Vorstellen und Denken charakteristische Unabhängigkeit des Fühlens von unmittelbaren Verhaltensbezügen entwickeln kann. Im Traum stehen die Bewusstseinsgegebenheiten in keinem Zusammenhang mit einem aktuellen Verhalten. Daher können sich hier nicht-praktische Verweisungsverhältnisse überhaupt zum ersten Mal entwickeln. Die Notwendigkeit des Träumens entsteht daraus, dass im Verlauf der Gehirnentwicklung die sensorische Rezeptivität weit über das für das praktische Verhalten erforderliche Maß anstieg. Daneben geht Langer — wie gesagt — von einer überaus hohen Emotionalität unserer Vorfahren aus. Im alltäglichen Verhalten müssen alle Impulse, die das Handeln beeinträchtigen, zurückgedrängt werden. Aber die zurückgedrängten Impulse stauen sich auf und bilden einen massiven Hintergrund von „Tagesresten" 9 , die auf ihre Aktualisierung drängen. Gelegenheiten zur Verarbeitung dieser Reste bieten sich in Ruhephasen, in denen die Konzentration auf die unmittelbare Situationsbewältigung den Verdrängungszustand nicht länger aufrechterhält und vor allem im Schlaf. Im Schlaf werden die blockierten sensorischen und die emotionalen Impulse aktualisiert, die dann, wenn sie eine bildhaft-halluzinative Phase haben, Träume sind.

8 9

Vgl. dazu auch den Aufsatz Emotion and Abstraction in PS 66-82. Langer übernimmt diesen Begriff aus Sigmund Freuds Traumdeutung.

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In der Regel werden die Träume nach dem Erwachen schnell vergessen. Allerdings können sich Traumfolgen zu Traumbildern verdichten: Ein einziges Bild kann den gesamten emotionalen Gehalt eines Traums in sich enthalten. Solche Bilder zeichnen sich durch eine hohe Emotionalität und fesselnde Expressivität aus. Daher haben solche Bilder einen physiognomischen, expressiven Charakter. Solche Bilder können über einen längeren Zeitraum erinnert werden und uns auch im Wachbewusstsein für einen längeren Zeitraum präsent bleiben. Als Ergebnis einer so rekonstruierbaren Entwicklung werden Dinge und Situationen — und zwar in einem nicht-praktischen, sondern in einem rein emotionalen Sinn — ausdrucksvoll. Ein Stein wird etwa als bedrohlich, ein Baum als traurig, ein Bach als spielerisch und lustig wahrgenommen. Einer der Effekte der Wahrnehmung von hoher Expressivität besteht darin, dass wir davon gleichsam gefesselt werden. Während die tierische Wahrnehmung an vage gefühlte Wertbeziehungen gebunden bleibt, entsteht damit für den Menschen die Fähigkeit, die distinkten phänomenalen Eigenschaften von Dingen bewusst wahrzunehmen. Anders als das Tier kann der Mensch Dinge in ihrer anschaulichen Individualität wahrnehmen und sich ihre konkreten Eigenschaften zum Bewusstsein bringen. 10 Mit dieser Fähigkeit der Eigenschaftswahrnehmung ist eine elementare Leistung der Symbolisierung bereits angebahnt: die Öffnung für eine nicht-praktische Wahrnehmung. Wann immer dies zum ersten Mal stattfindet, bleibt das aktuelle Wachbewusstsein nicht ausschließlich auf die handlungsrelevanten Bezüge fokussiert, sondern beinhaltet zugleich Bezüge zu gegenwartsfernen Erfahrungen. Solange die sensorischen und emotionalen Empfindungen aufgrund der Verhaltensrelevanz miteinander verknüpft sind, bleiben sie auf die aktuell präsenten Existenzbedingungen bezogen. Mit dem Erfassen nicht-praktischen Ausdrucks findet die — wenn auch zunächst nur partielle — Ablösung der menschlicher Orientierungen von den aktuellen Umständen, in denen wir uns jeweilig befinden, statt. Die Folge ist, dass die Wahrnehmungsstruktur des Menschen komplexer wird. Zwar bleibt die Wertstruktur die Basis der menschlichen Wahrnehmung. Aber mit dem Entstehen von expressiven Traumbildern und einer Empfänglichkeit für ausdrucksvolle Gestalten gewinnt das menschliche Bewusstsein auch Bilder, die ihre Bedeutung in sich selbst haben. Es öffnet sich die Sphäre symbolischer „Bedeutung". Hier liegen die rudimentären Anfänge des bewussten Erinnerns, Vorstellens und 10

Vgl. dazu Meuter 2008.

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Denkens, die in der nun beginnenden kulturhistorischen Entwicklung zum Ausgangspunkt eines „motivationalen Denkens" (M III, 9), einer „empathetischen Magie", ritueller Praktiken und Mythen werden.

10. Die kulturelle Form des Fühlens Obwohl menschliches Fühlen durch die sich kulturgeschichtlich entfaltenden Symbolisierungsformen transformiert wird, bleiben Grundbestände des tierischen Fühlens (der Wertcharakter der Wahrnehmung, Empathie usw.) beim Menschen wirksam. Auch ist der Prozess der Menschwerdung nicht ohne Rückfálle. Als einen solchen — um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen — deutet Langer die weltweit nachweisbaren Befunde von Kannibalismus. Dieser taucht an einem solchen Punkt in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf, in der die empathischen Reaktionen zwischen den Menschen in Auflösung begriffen sind. Die Empathie besitzt im Tierreich unter Artgenossen wesentliche Koordinationsund Schutzfunktionen. Mit dem Entstehen der symbolischen Existenzform und dem damit einhergehen Verlust instinktiver Reaktionen schwindet der Einfluss der Empathie. So lange diese Entwicklung noch nicht durch eine neue Errungenschaft kompensiert wird, verlieren die Menschen auch einen Schutz gegenüber ihren Mitmenschen. In der weiteren kulturellen Entwicklung tritt die Sympathie, das imaginativ vermittelte Verstehen von Gefühlen, an die Stelle der Empathie. Die Zeitspanne, die zwischen dem Verlust der Empathie und ihrem Ersatz durch das Entstehen der Sympathie besteht, kann sehr lang sein. Nach Langer kann es an dem Punkt zum Kannibalismus kommen, wo die Empathie in Auflösung begriffen ist, sympathetische Reaktionen aber noch nicht an ihre Stelle getreten sind. Als kulturelles Wesen bedarf der Mensch, für den die natürlichinstinktive Formbestimmung seines Handelns weitgehend aufgelöst ist, einer Formgebung seines Fühlens durch Symbole. Gerade die präsentativen Symbolisierungen haben für die Ausbildung kulturspezifischer Muster des Fühlens eine entscheidende Bedeutung. Langer verweist etwa auf die Rolle von Ritualen, die nicht bloßer Gefühlsausdruck sind, sondern „komplexe, permanente innere Haltungen" (PNW 155) erzeugen. Ein deutlicheres Medium, um diese innere Haltung zu erkennen, als die formalisierte Gebärde gibt es nicht; in dieser kryptischen Form wird sie erkannt und gewährt dem Stamm oder der Gemeinde ein starkes Gefühl von Zusammengehö-

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rigkeit, Rechtlichkeit und Sicherheit. Ein regelmäßig geübter Ritus bedeutet die ständige Wiederholung von Empfindungen gegenüber den ,ersten und letzten Dingen'. (PNW 155)

Es sind alltägliche und kulturtragende Geschichten, Märchen, Mythen und Rituale, die individuell und kollektiv orientierungsstiftend sind. Aus diesem Grund liefert Langer ein Plädoyer dafür, unserem alltäglichen Leben auch durch Gesten und Rituale eine sinnhafte Form zu geben. Auch die Kunst hat in der Verbindung von Formartikulation, Formgebung und Formveränderung eine ausgezeichnete kulturelle Bedeutung. Kunstwerke können nicht nur dazu führen, Strukturen und Dynamiken des Fühlens zu artikulieren und dadurch auch zum anschaulichen Verständnis zu bringen. Sie ist auch entscheidend an dem Prozess der tatsächlichen Ausprägung der kulturellen Muster des Fühlens beteiligt. Langers Hochschätzung der bildenden Bedeutung der Kunst geht so weit, dass sie in Bezug auf die zeitgenössische Debatte über die Krisenerscheinungen die Einseitigkeit der vorherrschenden Erklärungsmuster: veränderte ökonomische Bedingungen und Familienbeziehungen bemängelt und demgegenüber auf den Einfluss „korrupter Kunst" hinweist. In der formierenden und erzieherischen Bedeutung der Kunst bestehe eine Verwandtschaft zur Religion. Art is a public possession, because the formulation of ,felt life' is the heart of any culture, and molds the objective world for the people. It is their school of feeling, and their defense against outer and inner chaos. (FF 409)

Die Entwicklung einer neuen Kunst oder eines neuen künstlerischen Stils ist oft zugleich die Formulierung einer neuen kulturellen Phase. Langer geht so weit zu behaupten, dass die Kunst die Speerspitze der individuellen und der kulturellen Entwicklung ist (PS 82). Jedes individuelle Leben bildet einen „individuellen Stil" aus, der sich in allen Aspekten des Menschen — seinem Verhalten, Sprechen und selbst in seiner Körperhaltung — zeigt. Ganz analog, wenn auch nicht mit demselben Grad an Eindeutigkeit und Homogenität hat jede Kultur einen bestimmten Stil, eine „Grundströmung des Fühlens" (PS 95). Diese Grundströmung des Fühlens ist die Weise, auf Dinge oder Ereignisse bewertend zu reagieren. Sie ist der Rhythmus, in dem sich das alltägliche Leben bewegt, der Stil, in dem Menschen miteinander leben und umgehen. Darin drückt sich die Bereitschaft aus, bestimmte Tatsachen — etwa die der eigenen Sterblichkeit — zu leugnen, anzuerkennen, heroisch oder auch niedergeschlagen darauf zu reagieren. Der Stil bestimmt, was auf welche Weise überhaupt in das Blickfeld unserer Aufmerksamkeit gelangt und welches Gewicht es für un-

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sere Handlungen gewinnt (PS 99). Auch das Handeln — ob in militärischen, akademischen, feierlichen, religiösen Zusammenhängen oder in unserem alltäglichen Sozialverhalten — hat immer eine expressive Bedeutung. Als einzelne Individuen wachsen wir in solche etablierten Formen hinein und werden durch sie akkulturiert. Indem bestimmte Symbole eine vorherrschende Stimmungslage nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern auch neue Formen des Fühlens artikulieren oder tatsächlich formen haben sie einen wesentlichen Einfluss auf den kulturellen Prozess. Die „formative Funktion" der Symbolisierung ermöglicht die spezifische Form menschlicher Freiheit, die im Erleben einer sinnerfüllten Existenz besteht. Der elementare Sinn menschlicher Freiheit besteht nicht in der Abwesenheit äußerer Zwänge oder in der praktischen Beherrschung der belebten und unbelebten Natur. Vielmehr ist Freiheit zunächst die innere Sicherheit und Orientiertheit, mit der Menschen handeln und leben, und aufgrund der konfrontierende Ereignisse als sinnhaft erfahren werden können. Freiheit besteht in der Festigkeit und in dem inneren Uberzeugtsein von den eigenen Orientierungen, in der Formsicherheit des eigenen Lebens, die durch ein wechselseitig sich stützendes und anschaulich beglaubigtes Gewebe von Meinungen und Bewertungen entsteht. Diese Freiheit wird unter anderem durch eine Stilbildung errungen, durch die die verschiedenen Erfahrungen und Interpretationen sich zu einem konvergenten „Muster des Fühlens" fügen.

Literatur Langers Schriften werden nach einer deutschen Ausgabe sowie nach den amerikanischen Publikationen zitiert — vollständige Angaben siehe unten. Alle Zitate aus denjenigen Schriften Langers, fur die keine Ubersetzungen vorliegen, stammen von Rolf Lachmann. Die verwendeten Siglen sind: FF M I—III PA PNW PS

Peeling and Form Mind: An Essay on Human Peeling Bd. I—III Problems of Art Philosophie auf neuem Wege Philosophical Sketches

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Zu den Autorinnen und Autoren geb. 1956, studierte Klavier und Orgel am Konservatorium Biel und in Genf, anschließend Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft an der Universität Bern und in Berlin. Promotion in Zürich bei Prof. Dr. H. Holzhey: Selbstgefühl und reflektierte Neigung. Ästhetik und Ethik bei Shaftesbury (2001). Sie unterrichtet Philosophie, Ethik und Deutsch an der Kantonsschule Solothurn (CH).

ANGELICA BAUM,

D I E T E R B I R N B A C I I E R , geb. 1946, studierte Philosophie, Anglistik und Allgem. Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg. Von 1993 bis 1996 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, seit 1996 in Düsseldorf. Arbeits Schwerpunkte: Ethik, Angewandte Ethik, Anthropologie. Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft. Veröffentlichungen u. a.: Verantwortung für zukünftige Generationen (1988); Tun und Unterlassen (1995); Analytische Einführung in die Ethik (2003); Bioethik zwischen Natur und Interesse (2006); Natürlichkeit (2006). S L D O N I A B L Ä T T L E R , geb. 1959, promovierte in Zürich in Philosophie, war dort und an der FU Berlin wiss. Assistentin, bevor sie 2006 als wiss. Referentin ans Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M. ging. Veröffentlichungen u. a.: Der Pöbel, die Erauen etc. Die Massen in der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (1995); Nation und Geschlecht im philosophischen Diskurs der politischen Moderne, in: Feministische Studien (2/2000); Die Rechte von Frauen zwischen Universalismus und kultureller Selbstbestimmung. Exitoption und der Zugang zur Staatsbürgerschaft, in: S. Zurbuchen (Hg.), Bürgerschaft und Migration. Einwanderung und Einbürgerung aus ethisch-politischer Perspektive (2007).

geb. 1958, promovierte 1992 in Tübingen in Philosophie und habilitierte sich dort 1998. Seit 2004 lehrt er das Fach Philosoph. Grundfragen der Theologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Fichtes Fehn vom Sein (1995); Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus (2000); Augustins Confessio-

JOHANNES BRACHTENDORF,

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Xu den Autorinnen und Autoren

nes (2005); Augustinus, De libero arbitrio. Einleitung und Übersetzung (2006). Er ist (mit V. Drecoll) Hauptherausgeber der lateinisch-deutschen Gesamtausgabe der Werke Augustins: Augustinus. Opera — Werke. ALEXANDER BRUNOS, geb. 1966, studierte Philosophie, Amerikanistik und Buchwissenschaft in Göttingen, Erlangen und Rom. Seit 2001 ist er am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 auch an dem der Universität Freiburg i. Br. wiss. Mitarbeiter. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Metaphysik, Sprachphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Metaphysik der Sinnlichkeit. Όas System derpassiones animae bei Thomas von Aquin (2002). FRIEDEMANN BUDDENSIEK, geb. 1967, studierte Philosophie, Alte und Neuere Geschichte, Slawistik und Griechisch in Erlangen und Oxford. Seit 2007 ist er Professor für Antike Philosophie an der Universität Frankfurt a. M. Arbeits Schwerpunkte: Philosophie der Antike, Metaphysik. Veröffentlichungen u. a.: Oie Modallogik des Aristoteles in den Analytica Priora A (1994); Oie Theorie des Glücks in Aristoteles' Eudemischer Ethik (1999); Oie Einheit des Individuums. Eine Studie f^ur Ontologie der Ein^eldinge (2006). DAMIAN CALUORI, geb. 1970, studierte Philosophie, altgriechische Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Mathematik in Zürich und Oxford und promovierte dort 2007 über Plotins Seelenlehre. Er ist wiss. Mitarbeiter an der Universität Zürich beim Neuen Ueberweg. Veröffentlichungen u. a.: Aristoteles über Leiber und Leichen, in: Studia Philosophien 62 (2003); The Essential Functions of a Plotinian Soul, in: Έώίψί 2 (2005); Franciscus Sanchez, Daß nichts gewußt wird {Quod nihil scitur), Ed. und Ubersetzung (in Zusammenarb. mit Kaspar Howald und Sergei Mariev; 2007); The Scepticism of Francisco Sanchez, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 89 (2007). CHRISTOPH DEMMERLING, geb. 1963, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik in Konstanz und Florenz, wo er 1992 promovierte. Er habilitierte sich 1998 in Dresden. Professor für Philosophie in Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Sprache und Verdinglichung. Wittgenstein, Adorno und das Projekt einer Kritischen Theorie (1992); Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie. Von Frege ψ Dummett (zus. mit Th. Blume; 1998); Sinn, Bedeutung Verstehen. Untersuchungen ψ Sprachphilosophie und Hermeneutik (2002); Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (gem. mit Hilge Landweer; 2007).

Zu den Autorinnen und Autoren

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MICHAEL ERLER, geb. 1953, studierte Klass. Philologie und Philosophie in Köln und London und promovierte 1977 in Köln. Er habilitierte sich 1985 in Konstanz. 1989 Professor für Klass. Philologie (Schwerpunkt Latein) in Erlangen, 1992 o. Professor für Klass. Philologie (Schwerpunkt Griechisch) in Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Der Sinn der Aponen in den Dialogen Viatons (1987); Epikur — Die Schule Epikurs — Lukrez, in: Oie Philosophie der Antike Bd. 4/1 (1994); Römische Philosophie, in: Einleitung in die lateinische Philologie, hg. von F. Graf (1997); Piaton (2006); Platon. Oie Philosophie der Antike Bd. 2/2 (2007). AARON V. GARRETT, geb. 1965, studierte Philosophie an der Universität Chicago und an der New School for Social Research. Er ist derzeit Associate Professor an der Boston University. Arbeitsschwerpunkt: Geschichte der modernen Philosophie. 2003 erschien von ihm Meaning in Spinoza's Method. Er ist Herausgeber von Francis Hutchesons Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections (2002) sowie des Routledge Handbook of 18th-Century Philosophy (2008). GUNTER GEBAUER, geb. 1944, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik und Sportwissenschaft in Kiel, Mainz und Berlin, promovierte 1969 an der TU Berlin und habilitierte sich 1975 an der TU Karlsruhe. 1978 Ruf an die Freie Universität Berlin, derzeit am Institut für Philosophie. Er ist Mitbegründer und Sprecher des Interdisziplinären Zentrums für Histor. Anthropologie. Arbeitsschwerpunkte: Histor. Anthropologie, Sprachtheorie und Sozialphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Oer Einzelne und sein gesellschaftliches Wissen (1981); Mimesis (zus. mit Ch. Wulf; 1992); Spiel- Ritual- Geste (zus. mit Chr. Wulf; 1998). CHRISTOPHER GILL, geb. 1946, studierte Altphilologie in Cambridge und Yale. Er lehrte in Yale, Bristol und an der University of Wales in Aberystwyth. Seit 1997 ist er Professor für Ancient Thought an der Universität Exeter. Arbeitsschwerpunkte: Antike Psychologie und Ethik, mit Blick auf Konzepte von Charakter, Personalität und Selbst. Veröffentlichungen u. a.: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy: The Self in Dialogue (1996); The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (2006); Naturalistic Psychology in Galen and Stoicism (im Erscheinen) sowie Galen and the World of Knowledge (hg. mit T. Whitmarsh und J. Wilkins; im Erscheinen).

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Xu den Autorinnen und Autoren

OLIVER HALLIG!!, geb. 1968, studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Hamburg, wo er 1995 promovierte. 2007 Habilitation an der Universität Düsseldorf. Zur Zeit Vertretungsprofessor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Metaethik, Angewandte Ethik, Politische Philosophie, Antike Philosophie, Klassischer Empirismus. Veröffentlichungen u. a.: Die Rationalität der Moral. Eine sprachanalytische Grundlegung der Ethik (2008). MlCHAKL HAM]'!;, Professur für Philosophie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Arbeitsgebiete: Geschichte der Philosophie in der frühen Neuzeit (vor allem Hobbes, Spinoza und Hume), Philosophische Probleme der Biologie und Psychologie. Veröffentlichungen u. a.: Erkenntnis und Praxis. Studien %um Pragmatismus (2006); Oie Macht des Zufalls (2006); Eine kleine Geschichte des Νaturgeset^begriffs (2007). VliSA HlRVONKN, geb. 1964, studierte Theologie und Philosophie in Helsinki, wo er 2002 promovierte. Seit 2002 ist er Forscher in der philosoph. Spitzenforschungseinheit der Akademie von Finnland. Arbeitsschwerpunkte: Wilhelm von Ockhams Philosophie und Theologie, spätmittelalterliche philosoph. und theolog. Theorien der Geistesverwirrungen, moderne lutherische Ethik. Veröffentlichungen u. a.: Passions in William Ockham's Philosophical Psychology (2004); Mind and Modality. Studies in the History of Philosophy in Honour of Simo Yjíuuttila (Hg. mit Toivo J. Holopainen und Miira Tuominen 2006). ROLF LACIIMANN, geb. 1959, studierte Philosophie in Marburg, an der Georgetown University, Washington D.C., und in Düsseldorf. 1990 Promotion in Philosophie. Wiss. Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin und dort 1998 Habilitation. Forschungsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Ethik und angewandte Ethik, philosophische Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Ethik und Identität (1994); Medizinische Gerechtigkeit (1997), Susanne Κ Eanger (2000). H i l g K LANDWEHR, geb. 1956, studierte in Kiel und Bielefeld Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik und Geschichte und wurde 1989 in Bielefeld promoviert. Sie habilitierte sich 1998 und ist Professorin an der Freien Universität Berlin. Schwerpunkte: Praktische Philosophie, Philosoph. Anthropologie, Phänomenologie. Veröffentlichungen u. a.: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen %ur Sozialität eines Gefühls (1999);

Zu den Autorinnen und Autoren

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Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn (gem. mit Christoph Demmerling; 2007); Gefühle — Struktur und Funktion (Hg. 2007). MARIA-SLBYLLA LOTTIIR, geb. 1961, studierte Philosophie, Religionswis-

senschaft und Ethnologie in Deutschland und den USA und promovierte an der TU Berlin. Sie lehrt derzeit in Konstanz. Veröffentlichungen u. a.: Die metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter So^ialontologie (1996); Zur Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit: Subject-Superject, in: Natur, Subjektivität, Gott. Beiträge ψΓ Philosophie A Al Whiteheads, hrsg. v. H. Holzhey/R. Wiehl/A. Rust (1990); Erfahrung und Natur. Von der Philosophie der Naturwissenschaft zur pragmatistischen Metaphysik der Erfahrung, in: Die Gifford lectures und ihn Deutung. Materialien ψ Whiteheads „Pro^eß und Realität"2, hg. v. M. Hampe/H. Maaßen (1991). BARBARA MKRKUR ist Professorin für Philosophie in Frankfurt a. M . For-

schungsschwerpunkte: Ethik, Politische Philosophie; Sprachphilosophie, Metaphorologie; Phänomenologie. Veröffentlichungen u. a.: Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls (1988); Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher (Hg. 1998; zus. mit G. Mohr, L. Siep); Subjektivität und Anerkennung. Beiträge ψ. Hegels Philosophie des Geistes (Hg. 2003 zus. mit G. Mohr, M. Quante). KEVIN MULLIGAN, geb. 1951, Studium der Philosophie am Trinity College,

Cambridge und in Tübingen, Promotion 1980 in Manchester, seit 1986 o. Professor für analytische Philosophie an der Universität Genf. Veröffentlichungen u. a. zur analytischen Metaphysik, zur Philosophie des Geistes und zur Geschichte der österreichischen Philosophie von Bolzano bis Wittgenstein. Gemeinsam mit A. Westerhoff (Hg.), Robert Musil — Ironie, Satire, falsche Gefühle (im Erscheinen). DOMINIK PERLER, geb. 1965, ist nach Lehrtätigkeiten in Oxford und Basel

seit 2 0 0 3 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen historisch in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Philosophie, systematisch in der Philosophie des Geistes und Erkenntnistheorie. Veröffentlichungen u. a.: Repräsentation bei Descartes (1996), Theorien der Intentionalität im Mittelalter (2002), Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter (2006).

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Xu den Autorinnen und Autoren

geb. 1971, studierte Philosophie, Mittellateinische Philologie und Germanistik in Freiburg und Köln und promovierte dort 2003. Seit 2004 ist er Assistant Professor für Philosophie und Mittelalterstudien an der University of Toronto. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der mittelalterlichen Metaphysik und Philosophie des Geistes. Zur Zeit arbeitet er an einer Monografìe zu mittelalterlichen Emotionstheorien. Veröffentlichungen u. a.: Nicomachean Ethics 7.3 on Akratic Ignorance (gem. mit J. Whiting; 2008); Heinrich von Gent über Metaphysik als erste Wissenschaft (2007). MARTIN PICKAVÉ,

geb. 1 9 6 1 , studierte Philosophie, Germanistik und Italianistik in Heidelberg und Berlin, wo er 1 9 9 4 promovierte. Von 1994—2000 war er wiss. Assistent am Institut für Philosophie der FU Berlin, von 2001—2004 wiss. Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt zum Verhältnis von Philosophie, Kunst und Kunstkritik. Er arbeitet seit 2 0 0 5 an einer Abhandlung zum Kunstbezug der philosophischen Moderne. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Anthropologie, Ästhetik. Veröffentlichungen u. a.: Heideggers Theorie der Befindlichkeit ( 1 9 9 6 ) ; Der Sinn der Zeit (hg. mit E. Angehrn u. a.; 2 0 0 2 ) . ROMANO POCAI,

geb. 1964, studierte Philosophie, Griechisch, Logik und Wissenschaftstheorie in Tübingen und München. Er wurde 1993 in München promoviert und habilitierte sich 2000 in Tübingen. Er lehrte in Tübingen, Berkeley, Basel und Oxford und ist seit 2001 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie der Antike und Gegenwart an der HumboldtUniversität zu Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Philosophie der Antike. Veröffentlichungen u. a.: Vorsokratiker (1997, 220 07); Aristoteles %ur Einführung (2001, 32008), Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4: Rhetorik (2002). CHRISTOF RAPI',

geb. 1954, ist seit 1997 Professorin an der Universität Hamburg und Leiterin der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle (Edition der Werke Cassirers). Ihre Arbeitsgebiete liegen in der Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno (1988); Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Fiant (2001); Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Tormén (2004); Oie Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Tortschritt. Aufsätze I. Kant (2006). BIRGIT R E C K ! ,

Zu den Autorinnen und Autoren

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URSULA RENZ, geb. 1968, ist seit 2008 Associate Professor an der Roskilde University bei Kopenhagen. Sie studierte Philosophie, Germanistik und Didaktik in Zürich und war als wiss. Assistentin an der Universität und an der ΕΤΗ in Zürich tätig. Veröffentlichungen u. a.: Die Rationalität der Kultur. Fjilturphilosophie und ihre transzendentale Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer (2002), Die Erklärbarkeit von Erfahrung. Realismus und Subjektivität in Spinozas Theorie des menschlichen Geistes (2009). TAD M. SCHMALTZ, geb. 1960, studierte Philosophie in Kalamazoo (USA) und wurde 1988 an der Universität Notre Dame (USA) promoviert. Seit 1989 ist er Professor für Philosophie an der Universität Duke (USA). Seit 2003 ist er Herausgeber des Journal of the History of Philosophy. Veröffentlichungen u. a.: Malebranche's Theory of the Soul: Λ Cartesian Interpretation (1996); Radical Cartesianismi The Trench Reception of Descartes (2002); Descartes on Causation (2008). ROBERT SCHNELL, geb. 1963, ist wiss. Angestellter am Seminar für Philosophie der Universität Halle-Wittenberg. Er promovierte 1993 in Heidelberg und habilitierte sich 2001 in Halle. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Metaphysik und Metaphysikgeschichte, Erkenntnistheorie, Rechtsphilosophie und deren Geschichte. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über Probleme des Erklärens in den Geschichtswissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Die Trage nach der Ursache — systematische und problemgeschichtliche Untersuchungen yum Kausalitäts- und zum Schöpfungsbegriff (2006). JAN SLABY, geb. 1976, studierte Philosophie, Soziologie und Anglistik in Berlin und wurde 2006 an der Universität Osnabrück promoviert. Er ist wiss. Mitarbeiter im VW-geförderten Forschungsprojekt animal emotionale am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück und arbeitet vor allem über Gefühle, Personalität sowie zu philosophischen Fragen im Umfeld der Neurowissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Gefühl und Weltbe^ug (2008). WERNER STEGMAIER, geb. 1946, Gründungsprofessor des Instituts für

Philosophie der Universität Greifswald, Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie, Mitherausgeber und Schriftleiter der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte der Nietzsche-Torschung. Veröffentlichungen u. a.: Substanz. Grundbegriff der Metaphysik (1977); Philosophie der Tluktuanz Dilthey und Nietzsche (1992); Nietzsches „Genealogie der Moral".

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Xu den Autorinnen und Autoren

Werkinterpretation (1994); Die philosophische Aktualität der jüdischen (Hg., 2000); Uvinas (2002); Philosophie der Orientierung (2008).

Tradition

geb. 1960, promovierte 1989, war als wiss. Mitarbeiter in Freiburg und als wiss. Assistent in Hildesheim tätig. Er habilitierte sich dort 2 0 0 0 und ist seit 2 0 0 7 api. Prof. Seit 1 9 9 5 Redakteur d. Ällgem. Zeitschrift für Philosophie; 2 0 0 2 - 2 0 0 3 Leo-Baeck-Institute London; 2 0 0 3 2 0 0 6 DFG-Projekt zu Peirce. Seit 2 0 0 7 ist er Gymnasialreferendar. Spezialgebiete: Normentheorie, Metaphorologie, Editionen. Veröffentlichungen u. a.: Kalkulierte Absurditäten (1991); Sanktionen des Selbst. Zur normativen Praxis socialer Gruppen (2005); Vom freien Umgang mit Gepflogenheiten. Eine Perspektive auf die praktische Philosophie nach Wittgenstein (2005). CHRSITIAN STRUB,

geb. 1978, studierte Philosophie und Alte Geschichte in Düsseldorf und Berlin. Von 2000 bis 2001 arbeitete sie am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf an der elektronischen Erfassung antiker griechischer Münzen aus Kleinasien. Gegenwärtig schreibt sie an einer Promotion bei Gunter Gebauer über das Thema Emotionen beim späten Wittgenstein.

ANNA STUHLDRLHLR,

geb. 1971, ist wiss. Assistent am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte 2004 mit Oie anthropologische Differenz Der Geist der Tiere in der frühen Neuheit bei Montaigne, Descartes und Hume (2006). Ein Arbeits Schwerpunkt ist die Philosophie der frühen Neuzeit. Publikationen: Sehen und Begreifen. Wahrnehmungstheorien in der frühen Neuheit (mit D. Perler; 2008); Unsicheres Wissen. Tormén des Skeptizismus und Theorien der Wahrscheinlichkeit in der frühen Neuheit (mit C. Spoerhase u. D. Werle; im Erscheinen). MARKUS WILD,

geb. 1957, studierte Philosophie und Katholische Theologie in Leuven und Tübingen, wo er 1987 promovierte und sich 1990 habilitierte. Nach Professuren in Ulm, Freiburg und Tübingen ist er seit 1996 Ordinarius für Kulturtheorie der Moral unter bes. Berücksichtigung der Religion an der Radboud Universiteit Nijmegen (NL), wo er z. Z. Gründungsdekan der Fakultät der Religionswissenschaften ist. Veröffentlichungen u. a.: Nachsicht (2006); Texikon der Ethik (hg. zus. mit Ch. Hübenthal; 2 0 0 6 ) ; Gotteslästerung (2007); Ars moriendi. Uber das Sterben

JEAN-PIERRE WILS,

(2007).