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German Pages [551] Year 2020
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG
Felix Eiffler
KIRCHE FÜR DIE STADT Pluriforme urbane Gemeindeentwicklung unter den Bedingungen urbaner Segregation
BEG
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG Herausgegeben von Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann
Felix Eiffler
Kirche für die Stadt Pluriforme urbane Gemeindeentwicklung unter den Bedingungen urbaner Segregation
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9074 ISBN 978-3-7887-3470-1
Meinem Vater Johannes Ernst Dietmar Eiffler
Geleitwort
Wie »geht« Forschung? In der Wissenschaft geht es darum, durch Forschen neues Wissen zu schaffen, vorzugsweise Wissen, mit dem irgendwann auch Probleme menschlichen (Zusammen-) Lebens und menschlicher Weltgestaltung besser als vorher gelöst werden können. Dazu muss das neue Wissen überprüfbar und methodisch nachvollziehbar sein. Es muss systematisch dokumentiert und veröffentlicht werden. So wird eine neue Idee der kritischen Überprüfung wie dem Diskurs der Forschenden zugänglich, sie wird bestätigt oder widerlegt, angewandt und weiterentwickelt. Wie »geht« Forschung? Bevor das neue Wissen mit anderen geteilt werden kann, muss es das Licht der Welt erblicken. Romantische Idealbilder (oder eher Stereotype?) sehen den einsamer Forscher am Schreibtisch oder im Labor, der in »splendid isolation« Jahre über einem Gedanken brütet, seine Mitarbeiter für Recherchen einsetzt, dicke Bücher wälzt, Skizzen entwirft und verwirft, bis er am Ende sein Werk vollendet und stolz präsentiert. Der Forscher heißt dann meist Professor und ihm gebührt aller Ruhm. So ist es allerdings in der Regel nicht. Innovative Forschung geschieht durch Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die mit Leidenschaft einer wissenschaftlichen Frage auf der Spur bleiben. Sie investieren »Blut, Schweiß und Tränen« in die Bearbeitung einer Frage, die sie nicht mehr los lässt. Sie bewältigen die Tiefpunkte, in denen es nicht weitergehen will. Sie bestehen die Mühen der Ebene, in denen sich die Literatur als sperrig erweist. Sie genießen die wenigen Ausblickspunkte, wo sie ahnen, dass es sich am Ende doch lohnen könnte und ein vager Gedanke allmählich feste Formen annimmt. Sie tauschen sich miteinander aus und wachsen – wenn es gut geht – zu einer intensiven Arbeitsgemeinschaft zusammen. Die Professorinnen und Professoren sind – wenn es gut geht – Mentoren, die raten und begleiten, die Möglichkeiten zu ungestörtem Arbeiten schaffen und mit Ressourcen versorgen, die neugierig bleiben, kritisch kommentieren und wohlwollend zuhören, wenn ein ungewöhnlicher Gedanke zu Gehör gebracht wird. Sie sind es aber meist nicht, die – bezogen auf die Frage des »Projekts« – das neue Wissen erschaffen. Sie sind vielleicht Hebammen, aber nicht Eltern des Neuen. Ist eigentlich der Begriff »Doktorvater« (bzw. »Doktormutter«) noch angemessen? Vorsicht! Dieses Geleitwort soll nicht unter der Hand zum Lob des bescheidenen und fleißigen Mentors oder der fördernden und unterstützenden Mentorin werden! Jeder, der Dissertationen betreut hat, weiß: Es könnte immer
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mehr sein, es könnte schneller gehen, man sollte sorgfältiger hinschauen, sich intensiver austauschen. Worauf ich ziele, ist etwas anderes: Es ist ein Privileg die Forschung junger Leute begleiten zu dürfen. Und da kann ich konkret werden. Den Verfasser der vorliegenden Studie lernte ich als Kommilitonen im Seminar kennen, der mit besonderem Interesse Fragen der Gemeindeentwicklung diskutierte. Felix Eiffler brachte einige Perspektiven immer wieder in die Diskussion ein: Wie steht es denn um die, deren Leben von kirchlichen Angeboten nahezu unberührt blieb? Und warum tut sich die Kirche mit ihrer »Kommunikation des Evangeliums« gerade in den großen Städten so schwer? Ach ja, und dann brachte er immer wieder einen amerikanischen Theologen, einen Pastor aus New York, ins Spiel, der mit seiner praktischen wie akademischen Arbeit die großen Städte als besonders wichtigen Ort der missio Dei in den Blick nimmt: Timothy Keller. Timothy – who? Inzwischen ist der reformierte Theologe auch in meinem Bücherschrank wie meiner theologischen Gedankenwelt fest beheimatet. Die Examensarbeit war die Probe aufs Exempel. Eine jahrelange Zusammenarbeit mit Felix Eiffler begann: mit ihm als Doktoranden, als Kollegen am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung, zuständig für »fresh expressions of church« und »Mission und Kontext«, als Lehrenden in gemeinsamen Seminaren, als engagierten Mit-Leiter des Homiletisch-Liturgischen Seminars am Lehrstuhl für Praktische Theologie, als Prediger in unserem Gemeindeprojekt GreifBar, der »nebenbei« auch noch ein ehrenamtliches Vikariat in einer pommerschen Kirchengemeinde in Angriff nahm, heiratete, eine Tochter bekam, aber auch – in diesen wenigen Jahren – »dunkle Täler« im Abschied vom Vater durchwandern musste. Dass ich ihn fachlich begleiten und das freundschaftliche Zusammenwirken mit ihm genießen konnte, stimmt mich dankbar. Ich habe großen Respekt vor seiner forschenden Ernsthaftigkeit, der ungekünstelten Verknüpfung von Verstand und frommem Herzen, der Liebe zur Verkündigung der Christusbotschaft, seiner Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Offenheit und Dienstbereitschaft. Thematisch erwartet den Leser und die Leserin eine dreifach lohnende Lektüre: »Urbane Gemeindeentwicklung« wird (1) nach den üblichen einleitenden Bemerkungen zum Thema, Forschungsstand und zur Methodik in den Kontext der »Stadt« eingezeichnet. Dazu bietet der Autor einen guten Überblick über die Stadtsoziologie, um das Phänomen »Stadt« für die kirchentheoretische Forschung zu erschließen. Da ein solches Unterfangen nahezu sicher am Anspruch der Vollständigkeit scheitern müsste, fokussiert Felix Eiffler seine Beobachtungen auf ein ambivalentes Merkmal großer Städte (wie seiner Heimatstadt Berlin): die sozialräumliche Segregation bzw. Entmischung. Diese, etwa am Phänomen der Gentrifizierung sichtbar werdende, Signatur großer Städte bildet die Herausforderung, der sich eine kontextuelle urbane
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Gemeindeentwicklung verpflichtet sehen muss. Bevor Felix Eiffler seine eigenen Überlegungen offen legt, bietet er (2) eine knappe Zusammenfassung theologischer Grundlagen einer solchen, von der missio Dei inspirierten Theorie der Gemeindeentwicklung. Das Kapitel mündet in eine kritische Revision bisheriger Ansätze für eine »Theologie der Stadt« (E. Sulze, E. Lange, W. G rünberg). Wer hierzu eine luzide Zusammenfassung sucht, ist bestens bedient. Die Arbeit mündet (3) in den (gelungenen!) Versuch, die vier Dimensionen der Gemeindeentwicklung (Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia) präzise auf die urbanen Lebensbedingungen und die Problemfelder der sozialen Entmischung zu beziehen. Dabei merkt man, wie Felix Eiffler die Erkenntnisse aus der anglikanischen Kirchenreform der letzten Jahrzehnte mit Modellen, wie sie am IEEG in Greifswald entwickelt wurden, verknüpft. Die Ortskirchengemeinde gerät nicht aus den Augen (muss sich aber in der Stadt auch wandeln). Innovativ sind die Ausblicke auf ergänzende neue Formen der Gemeindeentwicklung. Man lernt die Idee von Quartiersgemeinden kennen, aber auch von StadtKirchen und frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche. Wie geht Forschung? Auch so: Nun gibt der Forscher Felix Eiffler seine Arbeit in die Hände der Leserinnen und Leser: der Fachkollegen in der Praktischen Theologie, insbesondere im Bereich der Kirchentheorie, der an Fragen der Gemeindeentwicklung interessierten kirchlich Aktiven, der Kommilitoninnen und Kommilitonen in Theologischen Fakultäten, evangelischen Hochschulen, kirchlichen Seminaren und Bibelschulen. Sie werden diese Arbeit mit Gewinn lesen und in die Diskussion einstimmen, zustimmend, fragend, auch kritisch. Das ist mein Wunsch für dieses Buch: Viele neugierige und wohlwollend-kritische Leserinnen und Leser! Weitenhagen und Greifswald in der österlichen Zeit 2020 Michael Herbst
»Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.« Apostelgeschichte 18,9 f.
Vorwort und Dank
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2019 von der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald als Inauguraldissertation angenommen. Für die Drucklegung wurden einige, wenige Änderungen vorgenommen. Aus praktischen Gründen wurden vier Paragraphen (§§ 11–14) nicht mit abgedruckt und sind per QR-Code abrufbar. Die entsprechenden Codes finden sich in der Arbeit. Mein Interesse für urbane Gemeindeentwicklung wurde in der Jungen Kirche Berlin (JKB) geweckt. Durch die Arbeit dieser, im Jahr 1999 von der Berliner Stadtmission gegründeten Gemeinde, habe ich das Evangelium entdeckt und bin im Jahr 2000 Christ geworden. Dieser Umstand hat zur Entscheidung geführt, Theologie zu studieren. Mein Dank gilt dem Team um Pfarrer Alexander Garth. Diese Menschen sind mir gute Freunde sowie erste und bis heute wichtige Vorbilder, Ansprechpartner und Wegbegleiter im christlichen Glauben geworden. Durch die Arbeit (mit) der JKB habe ich die Schönheit des Glaubens an Jesus Christus und die missionarische Dynamik dieses Glaubens entdeckt. Dies prägt mein Christsein bis heute. Ich empfand den Ostberliner Kontext dabei stets als extrem spannend für die Arbeit einer einladenden Gemeinde, die sich gerade um diejenigen bemüht, die mehrheitlich noch nie einen Zugang zum christlichen Glauben hatten. Zudem hat der urbane Kontext ganz eigene Dynamiken und Logiken, welche die Arbeit einer christlichen Gemeinde so herausfordernd wie spannend machen. Die Besonderheiten dieses Kontextes vor dem Hintergrund von Fragen der Kirchen- und Gemeindeentwicklung zu untersuchen, ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit. Dabei stellt eine solche Untersuchung lediglich eine Momentaufnahme dar, denn Städte wandeln sich kontinuierlich. Berlin mag hier als eindrückliches, wenn auch außergewöhnliches, Beispiel dienen: Zwischen 1991 und 2008 sind über 2,1 Mio. Menschen nach Berlin gezogen und im gleichen
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Zeitraum haben über 2 Mio. Menschen die Stadt verlassen.1 Dass urbane Räume starken Dynamiken unterliegen mag zudem die Tatsache veranschaulichen, dass fast alle deutschen Städte nach einer langen Phase der Schrumpfung und der »Krise« seit Mitte der 2000er Jahre wieder wachsen und sich gegenwärtig zu äußerst attraktiven Wohnorten entwickeln – mit all den damit verbundenen Konsequenzen (Bevölkerungswachstum, Diversifizierung, Gentrifizierung, steigende Mieten etc.).2 Die Idee, diesen Kontext praktisch-theologisch intensiver zu untersuchen, entstand im Rahmen meiner Examensarbeit (»Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland«, 2011). Mein Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Herbst, der mir anbot, meine Examensarbeit zu betreuen. Diese Abschlussarbeit, verbunden mit meinem Studium in Greifswald und meiner Anstellung als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Praktische Theologie, waren Ansporn zu einer intensiveren theologischen Arbeit, welche schließlich zur Entscheidung führte, eine Dissertation zu schreiben. Neben seiner Förderung und Unterstützung, der intensiven Betreuung und seinem mir entgegengebrachten Vertrauen, danke ich Michael Herbst besonders dafür, dass er mein Interesse an vertiefter theologischer Arbeit und meine Lust an der theologischen Wissenschaft geweckt hat. In den vergangenen elf Jahren ist mir Michael Herbst zu einem theologischen Lehrer geworden, von dem ich viel lernen konnte und lerne. Neben dem Lehrstuhl für Praktische Theologie und dessen Team gilt mein Dank dem Team des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald. Die Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses ist sehr hochwertig, inspirierend und hat mir in vielerlei Hinsicht sehr geholfen und die Arbeit an meiner Dissertation überaus positiv beeinflusst. Ich habe die »kurzen Wege«, den kompetenten Austausch sowie das kollegiale Miteinander sehr genossen und geschätzt. Neben den Greifswalder Kolleginnen und Kollegen bedanke ich mich auch herzlich bei meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen des Doktorandenkolloquiums für alle Begleitung, kritische Würdigung und Unterstützung bei meiner Dissertation. Mein Dank gilt ferner Prof. Dr. Johannes Zimmermann, der sich als Zweitgutachter mit meiner Arbeit beschäftigt hat und mit kritischwürdigendem Blick hilfreiche Hinweise gab. Ich danke Pia Garbers und Margarete Rathenow für ihr gründliches Lektorat sowie den Herausgebern der Reihe Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung dafür, dass meine Dissertation in dieser Reihe erscheinen kann. Ferner danke ich dem Verlag
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Vgl. Paffhausen, Jürgen (2010): Bevölkerungsentwicklung Berlin, in: Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg, 4. Jahrgang, Heft 3/2010, S. 26–35, besonders 27 f. Vgl. dazu § 3.2 dieser Arbeit.
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Vorwort und Dank
andenhoeck & Ruprecht in der Person von Miriam Espenhain für die proV fessionelle und angenehme Betreuung. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mir immer wichtige Gesprächspartner und in vielerlei Hinsicht große Vorbilder waren und sind. Ich denke besonders an meinen Vater Dietmar Eiffler, der neun Tage nach Verteidigung meiner Dissertation verstarb. Dieser Verlust kam unerwartet, schmerzlich und einschneidend. In der tiefen Gewissheit, dass wir uns im Reich Gottes wiedersehen und alles nachholen können, was so abrupt beendet wurde, widme ich ihm diese Arbeit. Zuletzt danke ich meiner Frau Ina für ihre hartnäckige Geduld und ungeduldige Hartnäckigkeit. Sie hat mich immer wissen lassen, dass ich meine Dissertation erfolgreich abschließen kann und auch irgendwann abschließen muss. Sie hat eine wunderbare Art, mich nicht ernster zu nehmen als nötig. Ich hoffe, dass diese Arbeit einen kleinen Beitrag zur Gestaltung einer Kirche für die Stadt leistet. Felix Eiffler Greifswald in der Osterzeit 2020
Inhalt
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7 Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .10
Kapitel I: Einführung in die Arbeit: Anlass, Motivation und Methode . 23 § 1 Anlass und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 1. Die Relevanz urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23 § 2 Methodische Einführung in die Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30 1. Methode und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30 2. Kontextualisierung als Schlüsselkompetenz für eine urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 2.0 Exkurs: Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 2.1 Christian Grethlein und vier Dimensionen des Verhältnisses von kirchlichem Auftrag und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .42 2.2 Wolfgang Grünberg und die Kunst, eine Stadt zu lesen . . . . . . . . .44 2.3 Harvey Cox und die Gefahr einer Überkontextualisierung . . . . . .46 2.4 Timothy Keller und die Balance zwischen Evangelium und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51 2.5 Kontextualisierung angesichts sozialer Entmischung . . . . . . . . . . .57 2.6 Kontextualisierung als grundsätzliche Haltung . . . . . . . . . . . . . . . .58 2.7 Kontextualisierung als aktive Bemühung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .59 2.8 Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .60
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Inhalt
Kapitel II: Der Kontext urbaner Gemeindeentwicklung: Stadt und soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61 § 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends 64 1. Die Stadt – Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .64 2. Die Stadt: Versuch einer Definition mithilfe ihrer (europäischen) Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68 3. Fazit: Die Stadt als Totalphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 4. Weitere Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80 4.1 Verstädterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80 4.2 Urbanisierung und Urbanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .82 4.3 Exkurs: Die Urbanisierung der Gesellschaft und die Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 4.4 Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen einzelnen Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .90 4.5 Stadtteil/Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92 4.6 Quartier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .92 4.7 Wohngebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97 5. Ausblick: Verstädterung und Urbanisierung in globaler Perspektive 97 5.1 Trends in der sog. Zwei-Drittel-Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 5.2 Folgen weltweiter Urbanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99 § 4 Biblisch-theologische Zugänge zum Thema Stadt . . . . . . . . . . . . . . .101 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101 1. Die biblische Tendenz zur Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .102 2. Die Ambivalenz urbanen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 3. Die paulinische Mission in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104 § 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt: Einführung in die Stadtsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112 1. Entstehung von Soziologie und Stadtsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .112 2. Großstadtforschung als Gesundheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .114 3. Stadtsoziologie als Datenerhebung und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . .115 4. Die Frage nach dem Raum in der Stadtforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . .116 5. Zentrale Themen der Stadtsoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen . . . . . . . . . . . .122 1. Einführung und Verortung des Themas in der Dissertation . . . . . . . . .122 2. Allgemeine Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 3. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .125 4. Formen von Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .129 5. Orte, Ursachen und Bedingungen für Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . .134 6. Folgen von Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .140 7. Ansätze zur Untersuchung von Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145 § 7 Soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146 1. Soziale Segregation als Gentrifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 1.2 Begriffsbestimmung und Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .149 1.3 Drei Wellen von Gentrifizierung und aktuelle Trends . . . . . . . . . .155 1.4 Ursachen von Gentrifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1.5 Auswirkungen von Gentrifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .172 1.6 Die Ambivalenz von Gentrifizierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . .175 2. Soziale Segregation als Marginalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .179 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .179 2.2 Ursachen von Marginalisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181 2.3 Verlauf von Marginalisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .184 2.4 Auswirkungen von Marginalisierung als sogenannte Kontexteffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187 2.5 Formen von Benachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193
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Kapitel III: Theologische Grundlagen urbaner Gemeindeentwicklung: Wesen und Auftrag der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .203 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .203 § 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .205 1. Sendung aus dem Wesen Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .206 1.1 Karl Barth: »Die Theologie und die Mission in der Gegenwart« (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .206 1.2 Gott als das Subjekt von Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .208 2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes als Ursprung der Mission der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210 2.1 Die Lehre von der Trinität als Folge der Selbstoffenbarung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .210 2.2 Kirchen- und dogmengeschichtliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . .213 2.3 Gottes Wesen als Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .214 2.4 Die Lehre von der Perichorese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 2.5 Gottes Wesen und Sendung als Ursprung der kirchlichen Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .217 2.6 Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .219 3. Die missionstheologische Figur der missio Dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .220 3.1 Die Missionskonferenz in Willingen (1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .220 3.2 Kritik am »Containerbegriff« missio Dei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .223 3.3 Streit um die Bedeutung des missio Dei-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . .224 3.4 Annäherung der Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227 4. Missio Dei und Kirche: Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .240 5. Ausblick: der ökumenische Aspekt der Doxologie . . . . . . . . . . . . . . . . .241 § 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .245 1. Biblische Zugänge zur Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 2. Die altkirchlichen Bekenntnisse zur Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 3. Einheit der Kirche in Vielfalt und Spaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .248 4. Die Kirche als Geschöpf des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .250 5. Die Kirche in der Confessio Augustana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .252 6. Die Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . .254
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .256 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .256 1. Kirche als Bewegung (in Gruppe und Gemeinschaft) . . . . . . . . . . . . . . .257 1.1 Kirche als urbane Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .259 2. Kirche als Institution (Volkskirche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .263 Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .266 2.1 Kirche als urbane Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .275 3. Kirche als Organisation/»Unternehmen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .278 3.1 Kirche als urbane Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .281 4. Kirche als Hybrid aus Bewegung, Institution und Organisation . . . . . .284 5. Kirchlicher Auftrag zwischen göttlicher Berufung und empirischer Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .285 5.1 Kommunikation des Evangeliums als Aufgabe der Kirche . . . . . . .288 5.2 Was ist das Evangelium und was bewirkt die Kommunikation dessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .295 5.3 Kommunikation des Evangeliums als Bezeugung des Handelns Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .304 5.4 Die Koinonia der Kirche als Zeugnisgemeinschaft des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .310 5.5 Orte der Kommunikation des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . .321 6. Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis . . . . . . . . . . . .324 6.1 Kirche als Gemeinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .326 6.2 Gemeindeaufbau oder Gemeindeentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . .329 6.3 Gemeindeentwicklung als Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .334 7. Bündelung: Wesen und Auftrag der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .337 8. Ausblick: Gemeindeentwicklung als Martyria, Koinonia, Leiturgia und Diakonia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .339
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Inhalt Zusatzmaterial
Kapitel IV: Konzeptionen und Themen urbaner Gemeindeentwicklung . Z 1 0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 1 § 11 Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 2 1. Emil Sulze und die Evangelische Gemeinde (1891) . . . . . . . . . . . . . . . Z 2 1.1 Gesellschaftlich-kirchliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 2 1.2 Schaffung von Seelsorgegemeinden als Reaktion auf Massenparochien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 4 1.3 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 7 2. Ernst Lange und die Bilanz 65 (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 10 2.1 Gesellschaftlich-kirchliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 11 2.2 Leitvorstellungen bei der Gründung der Ladenkirche in Berlin Z 13 2.3 Gemeinsames Leben und Sendung der Gemeinde . . . . . . . . . . . Z 15 2.4 Die Bedeutung der Sendung Gottes für die Gemeinde . . . . . . . . Z 15 2.5 Die Anpassung der Kirche als Inkarnation in die Gesellschaft . Z 17 2.6 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 18 3. Wolfgang Grünberg und die Kirche in der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 20 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 20 3.2 StadtKirchen im Ringen um die Mitte der Stadt . . . . . . . . . . . . . Z 23 3.3 Citykirchen-Arbeit als Ausdrucksform urbaner Gemeinde entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 26 3.4 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 30 § 12 Aktuelle Themen urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . 1. Strukturelle Pluralität urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Beiträge zur strukturellen Pluralität urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Pluralität durch urbane Gemeindepflanzungen und Profil gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diakonie als Aufgabe urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Beiträge zur Diakonie als Aufgabe urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Diakonie und urbane Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Trennung von Kirche und Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . .
Z 34 Z 34 Z 34 Z 35 Z 41 Z 45 Z 47 Z 47 Z 47 Z 52 Z 53 Z 55
Inhalt Zusatzmaterial
3. Multi-(A-)Religiosität der Stadt als Herausforderung für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Entwürfe zur Multi-(A-)Religiosität der Stadt als Herausforderung für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Kritische Würdigung und Ertragssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Z 57 Z 57 Z 58 Z 70
§ 13 Vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . Z 72 0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 72 1. Martyria als evangelistisch-katechetische Dimension . . . . . . . . . . . . . Z 73 1.1 Martyria als Evangelisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 74 1.2 Martyria als Katechese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 75 1.3 Martyria und soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 77 2. Leiturgia als doxologisch-ökumenische Dimension . . . . . . . . . . . . . . Z 81 2.1 Leiturgia als Doxologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 81 2.2 Leiturgia als Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 83 2.3 Leiturgia und soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 84 3. Koinonia als sozial-prophetische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 86 3.1 Koinonia als Sozialgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 86 3.2 Koinonia als Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 89 3.3 Koinonia und soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 90 3.4 Exkurs: Die Gemeinde als Plausibilitätsstruktur des christlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 91 4. Diakonia als sympathisch-solidarische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . Z 100 4.1 Diakonia als Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 103 4.2 Diakonia als Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 104 4.3 Diakonia und soziale Segregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 105 4.4 Exkurs: Stadtmissionen als Hybrid aus Gemeinde und Diakonie Z 108 5. Urbane Gemeindeentwicklung als Einheit der vier Dimensionen . . Z110 6. Martyria als primäre und leitende Dimension urbaner Gemeinde entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 111 § 14 Zwei Aufgaben urbaner Gemeindeentwicklung: Hören auf Gott und Hören auf den Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 113 1. Doppeltes Hören als Haltung der ganzen Gemeinde . . . . . . . . . . . . . Z 113 2. Doppeltes Hören in vier Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 114 2.1 Hören auf Gott in vier Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 117 2.2 Hören auf den Kontext in vier Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 121 2.3 Konkretion der vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung als Frucht des Hörens auf Gott und auf den Kontext . . . . . Z 124
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Kapitel V: Vier Dimensionen und drei Orte urbaner Gemeinde entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 § 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .346 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .346 1. Parochien als Orte urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . .349 1.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .349 1.2 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . .353 1.3 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . .357 1.4 Exkurs: Regionalisierung und regiolokale Kirchen- und Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .361 2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . .366 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .366 2.2 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . .370 2.3 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . .376 3. Fresh Expressions of Church als Orte urbaner Gemeindeentwicklung 379 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .379 3.2 Exkurs: Gemeindepflanzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .386 3.3 Die (idealtypische) Entstehung einer Fresh Expression of Church .390 3.4 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . .397 3.5 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . .403 4. Bündelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .409 § 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung aus Quartiersgemeinden, StadtKirchen und frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413 1. Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung . . . . . . . . . . . .413 2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde . . . . . . . .418 2.1 Quartiersgemeinden als quartierbezogene Ortsgemeinden . . . . . .418 2.2 StadtKirchen als lokal erweiterte und inhaltlich profilierte Citykirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .434 2.3 Frische Ausdrucksformen urbaner Kirche (fAuK) als urbane Variante von Fresh Expressions of Church . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .447 3. Erste Überlegungen zur Reorganisation urbaner kirchlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .465 3.1 Erprobungsräume als Beispiel einer Reorganisation kirchlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .466
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3.2 Wie Erprobungsräume entstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .468 3.3 Kriterien für Erprobungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .469 3.4 Rechtliche Grundlagen von und Verantwortlichkeiten für Erprobungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .473 3.5 Von Parochialgemeinden zu Quartiersgemeinden . . . . . . . . . . . . .474 3.6 Von Citykirchen zu StadtKirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .476 3.7 Von Fresh Expressions of Church zu frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .478 3.8 Pluriforme urbane Gemeindeentwicklung und Gemeinde zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .480 3.9 Widerstand gegen die Reorganisation (urbaner) kirchlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .481 4. Urbane Gemeindeentwicklung als Netzwerk pluriformer urbaner Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .482 4.1 Was sind Netzwerke? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .483 4.2 Urbane Gemeindeentwicklung als künstliches, tertiäres Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .488 5. Ausblick: Urbane Gemeindeentwicklung als ökumenisches Netzwerk 496 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .500 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .501 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .502 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .503 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .550
»Städte sind äußerst wichtig für die menschliche Zukunft und die Weltmission. Die halbe Welt wohnt heute in Städten. Es sind die Städte, in denen vor allem vier Kategorien von Menschen vorrangig vorkommen: (I) Junge Leute, d. h. die nächste Generation, (II) die Mehrzahl der unerreichten Menschen, die migriert sind, (III) die Kulturveränderer und (IV) die Ärmsten der Armen.«1 Aus der Kapstadt-Verpflichtung der Lausanner Bewegung (2010)
Kapitel I: Einführung in die Arbeit: Anlass, Motivation und Methode
§ 1 Anlass und Motivation 1. Die Relevanz urbaner Gemeindeentwicklung Der Soziologe Bernhard Schäfers bezeichnet die Stadt »[n]eben der Sprache […] [als] die wichtigste Kulturschöpfung«2, und die Autoren des EKD-Texts 93 Gott in der Stadt schreiben, dass Städte mit einigem Recht als »eine der größten Kulturleistungen der Menschheit«3 beschrieben werden können. Jörg Herrmann beschreibt Städte als »verdichtete[n] Sinnhorizont, Kultur und Symbol der Kultur zugleich [sowie als einen] Ort menschlicher Selbstdeutung.«4 Neben der grundsätzlichen Bedeutung von Städten als Form des menschlichen Zusammenlebens betont die amerikanische Soziologin Saskia Sassen die Dauerhaftigkeit dieser Siedlungsform: »Nichts, das lehrt uns die Geschichte, ist wirklich von
1 2 3 4
In: Winterhoff 2012, 272. Schäfers 2010, Vorwort zur zweiten Auflage. Kirchenamt 2007b, 9. Herrmann 2016, 175.
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§ 1 Anlass und Motivation
Dauer – außer den Städten. Sie haben alles überlebt: den Fall von Imperien und Königreichen, Revolutionen, Regierungen und den Kollaps von Banken.«5 Für die internationale Situation (siehe § 3 Abs. 5) gilt zudem, dass Städte sich ggw. zu der dominanten Form des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde entwickeln. Dies liegt v. a. daran, dass seit dem Jahr 2007 die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten lebt (Quote 2014: 54 %)6. Dieser Umstand bringt soziale und kulturelle Veränderungen mit sich und wirkt sich auf die Art und Weise des Zusammenlebens aus: »Die Welt […] erlebt eine dramatische Verschiebung: weg von der Prägung durch das ländliche Paradigma und Wertesystem hin zu einem globalen und urbanen Paradigma und Wertesystem.«7 (siehe § 3 Abs. 4.2–4.3) Für Deutschland gestaltet sich die Situation insofern anders, als dass hierzulande seit einer Phase intensiver Verstädterung (v. a. 1870 bis 1920) die Mehrheit der Bevölkerung bereits in Städten lebt (Stand 2014: 75 %)8. Deutschland verfügt gegenwärtig über 83 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, 14 Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern und vier Städte (Berlin, Hamburg, München, Köln), welche die Millionengrenze übersteigen. Damit zeigt sich eine Besonderheit der europäischen Stadtlandschaft, die darin besteht, dass Europa über mehr Klein-, Mittel- und Großstädte, jedoch weniger über Metropolen verfügt. In Deutschland spricht man von sog. Metropolregionen9, welche i. d. R. aus mehreren Städten bestehen. Im Jahr 2006 hat die Ministerkonferenz für Raumordnung elf solcher Metropolregionen für Deutschland festgelegt. Eine urbane Besonderheit Deutschlands besteht zudem darin, dass Deutschland, aufgrund seiner von Kleinstaaterei geprägten Geschichte, eine höhere Zahl an 5 6 7 8 9
Görlach 2012, 72. United Nations 2014, 7. Frenchack/McGibbon 2013, 103. United Nations 2014, 23 und Häußermann/Siebel 2004, 19 ff. Zu dem Begriff: »Weltweit bekommen Metropolregionen eine erhöhte Aufmerksamkeit – weil sie als immer wichtiger erachtet werden und sie sich zunehmend deutlicher positionieren. Dabei ist ein Aspekt besonders wichtig: Es geht dabei nicht um Metropolen, also nur die Kernstädte, sondern um Metropolregionen, weil auch das nähere und weiter entfernt liegende Umland einbezogen werden. Alle Partner in Metropolregionen – die großen und kleinen Städte, das stadtnahe Umland und die ländlichen Räume – können dabei gleichermaßen ihre Potenziale und Bedürfnisse einbringen. Dies hat auch die BBSR-Studie ›Metropolräume in Europa‹ gezeigt. Ferner hat sie belegt, dass die Metropolräume, wie sie europaweit abgegrenzt wurden, nur 10 % der Fläche Europas einnehmen, dort aber 50 % der Bevölkerung lebt, gleichzeitig in diesen Räumen 65 % des europäischen BIP erwirtschaftet wird und 80 % aller Metropolfunktionen zu finden sind. Dies ist eine eindrucksvolle Konzentration und Bilanz.« Initiativkreis 2012, 5. Vgl. dazu auch Kühn 2016, 46–48. Zum Verhältnis von Metropolregionen und sog. Global Cities vgl. Häußermann et al. 2008, 167–169. Zu Metropolregionen in Europa vgl. BBSR 2010b und BBSR 2011c. Die Studie ergibt, dass Deutschland die meisten Metropolregionen in Europa hat und beziffert diese auf 17, vgl. BBSR 2010b, 15.
1. Die Relevanz urbaner Gemeindeentwicklung
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Städten aufweist als seine europäischen Nachbarn.10 Folglich ist die deutsche Stadtlandschaft plural und komplex (siehe § 3 Abs. 1–3). Betrachtet man die aktuellen Trends nationaler und internationaler Verstädterung sowie das damit einhergehende Phänomen gesellschaftlicher Urbanisierung (siehe § 3 Abs. 4.3), wird deutlich, dass die Stadt als Lebens-, Kulturund Politikraum sowie als gesellschaftlicher Trendsetter für eine wachsende Zahl von Menschen zu einem bestimmenden Faktor ihres Lebensstils geworden ist bzw. zunehmend wird. Dies gilt sowohl für die wachsende Mehrheit der Weltbevölkerung (Prognose für 2050: 66 %)11 als auch für die wachsende Mehrheit der Deutschen (Prognose 2050: 83 %)12, die in Städten lebt. Es gilt aber auch für diejenigen, die nicht in Städten leben, da durch die Zunahme der Verstädterung auch der Grad an Urbanisierung als Lebensweise steigt und dies wirkt sich auf die ländlichen Räume aus, welche durch diese Entwicklungen geprägt werden.13 So schreibt Annette Spellerberg über die Urbanisierung der deutschen Gesellschaft: »Auch die Bevölkerung tendiert zur Stadt, denn etwa drei Viertel der Bevölkerung lebt in Stadtregionen. Menschen aus einem der vielen – etwa 35.000 – Dörfer in Deutschland wohnen häufiger in Stadtregionen als in ländlichen, dünn besiedelten und von Zentren entfernten Gebieten […]. Es kann von einer weitgehenden Urbanisierung unserer Gesellschaft gesprochen werden.«14 Die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel beschreiben den Unterschied zwischen Stadt und Land »als [ein] Mehr oder Weniger des gleichen«15. Selbst wenn nicht alle Forscher dieser Zuspitzung folgen, besteht dennoch in dem stadtsoziologischen Diskurs darüber Konsens, dass das Leben weiter Teile der Gesellschaft – unabhängig vom Wohnort – urban formatiert ist (zur Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes siehe § 3 Abs. 4.3). Diese kurze Einführung in die internationale und nationale urbane Situation verdeutlicht, dass dieses Thema aufgrund seiner gesellschaftlichen Bedeutung einer gezielten Reflexion unter kirchentheoretischer Perspektive bedarf. Die Relevanz des Themas liegt in der umfassenden Bedeutung urbaner Räume für die Entwicklung der Gesellschaft als ganzer. Städte galten seit frühester Zeit 10 Vgl. Schäfers 2009, 120–122. 11 Vgl. United Nations 2014, 1. 12 Vgl. aaO, 23 und Häußermann/Siebel 2004, 19 ff. Zum Phänomen deutscher Reurbanisierung vgl. Brake/Herfert 2012 und s. u. § 3 Abs. 2. Martin Alex und Thomas Schlegel schreiben im Rahmen der Beschäftigung mit ländlichen Räumen: »Städtische Gebiete umfassen 19,3 % der Fläche Deutschlands mit 65,3 % der deutschen Bevölkerung. Als teilweise städtische Gebiete sind 26,6 % der Fläche Deutschlands einzuordnen bei 18,7 % Bevölkerungsanteil.« Alex/Schlegel 2014, 17. 13 Vgl. dazu auch Hauschildt 2016, 147. 14 Spellerberg 2014, 199 und zur Veränderung des Stadt-Land-Verhältnisses vgl. auch Schäfers 2010, 145–149. Grundlegender zum Stadt-Land-Verhältnis vgl. Häußermann et al. 2008, 30– 42. 15 Häußermann et al. 2008, 41.
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§ 1 Anlass und Motivation
der industriellen Verstädterung als »soziale Laboratorien«16 und eine Untersuchung der urbanen Dynamiken half, die grundlegenden Entwicklungen der gesamten Gesellschaft besser zu verstehen und ansichtig zu machen. Dieses kulturprägende Potential sowie die gesellschaftlich richtungsweisende Rolle wohnen Städten bis heute inne. Folglich ist die Beschäftigung mit urbaner Gemeindeentwicklung eine zukunftsweisende Aufgabe für die Kirche. Dazu Eberhard Hauschildt: Plural, passager, alles auf dem Markt – das ist die gegenwärtige Herausforderung der Kirche, besonders in der Stadt. Zur Herausforderung in den urbanen Zentren Deutschlands gehört darüber hinaus inzwischen, dass die Mitglieder beider Großkirchen auch zusammen nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Darin ist die Situation der Kirche hier durchaus ähnlich der in den Dörfern, denen in Ostdeutschland. In den von Städten weit entfernten Dörfern des Ostens und in den urbanen Zentren beginnt also die neue Situation der Kirche der Zukunft.17
Will sich praktisch-theologische Forschung mit Zukunftsfragen der Kirche beschäftigen, muss sie sich intensiv mit urbanen Räumen befassen und deren sozio-demographische Entwicklung verstehen. Hans-Günter Heimbrock weist auf eine Leerstelle in der protestantischen Theologie hin: »So sehr der Protestantismus in Europa sich sozial- und mentalitätsgeschichtlich der Entstehung städtischer Kultur (und Ökonomie) verdankte, so wenig ist daraus bis heute in Deutschland eine urbane oder stadtbewusste Theologie erwachsen.«18 Die vorliegende Arbeit nimmt diese Feststellung ernst und bemüht sich darum, einen Beitrag zu einer stadtbewussten Praktischen Theologie als urbane Gemeindeentwicklung zu leisten und so den Diskurs zu bereichern. Da es sich um eine praktisch-theologische Dissertation handelt, ist ihre Absicht jedoch nicht, eine allgemeine urbane Theologie zu entwickeln. Sie befasst sich stattdessen mit Themen und Aufgaben von Gemeindeentwicklung als eine Theorie der Gemeindepraxis19 (siehe § 10 Abs. 6). So ist diese Arbeit der Versuch, eine 16 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 45ff und aaO., 13 f. 17 Hauschildt 2016, 147. Ein anschauliches Beispiel für diese »neue Situation der Kirche« liefert der englische Theologe David Goodhew, der in einem Zug in Birmingham ein Gespräch zwischen jungen Erwachsenen verfolgt und folgendes – freilich sehr subjektives – Fazit zieht: »I looked at my book on ecclesiology and thought: these folks are not on a different page, they are on a different planet. Increasingly for many people who are not active members of the christian community, Church is simply off their radars. It’s not that they’re against church or the Christian faith, they simply don’t connect with any expression of them. And it’s not their fault.« Goodhew et al. 2012, 87. 18 Heimbrock 2009, 170. 19 Vgl. Kunz/Schlag 2014, 13.
1. Die Relevanz urbaner Gemeindeentwicklung
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Theorie der Gemeindeentwicklung zu entwerfen, die konsequent vom urbanen Kontext her entwickelt wird. Deshalb beginnt die vorliegende Arbeit mit einer umfassenden Analyse des urbanen Kontexts (§§ 3–7). Somit soll vermieden werden, dass in die Betrachtung des urbanen Kontexts bereits kirchlich-gemeindliche Themen eingezeichnet werden, welche den Blick für eine Wahrnehmung des urbanen Umfelds verstellen könnten. Dies dient dem Ziel, die Strukturen und Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens von der Stadt her zu entwickeln, anstatt die tradierten Formen und Strukturen der Gemeinde unkritisch in den Kontext zu übertragen. Ottmar John20 plädiert für ein aufmerksames und präzises Wahrnehmen und Einfühlen in das Leben und den konkreten Zustand der Stadt. Dies bedeute nicht zuletzt, dass Christen, die den Menschen in der Stadt dienen wollen, dort leben müssen, denn »nur in der Stadt kann den Getauften […] überhaupt die Bedeutung der frohen Botschaft für die Stadt aufleuchten.«21 Dabei kann die Beschreibung des urbanen Raums lediglich das »Standbild einer komplexen Bewegung und nicht mehr als die photographische Abbildung eines Augenblicks dieses Vorgangs«22 sein. Da Städte einem ständigen Wandel unterworfen sind, ist die kirchen-theoretische Reflexion dieses Sozialraums eine permanente Aufgabe der Praktischen Theologie, da es eine endgültige Erfassung dieses Kontexts nicht geben kann. Siebel schreibt: »Städte verändern sich laufend, und im Zuge dessen auch der Zustand und die Funktion der einzelnen Stadtteile. Es wäre falsch und obendrein illusionär, dies aufhalten zu wollen.«23 Der Theologe Wolfgang Grünberg schlussfolgert: »Alle [theologischen] Deutungen [des urbanen Raumes und Lebens] bleiben notwendigerweise kontextabhängig und können darum schnell überholt werden.«24 Dennoch solle und müsse dieser Versuch laut Grünberg unternommen werden: »Die Konsequenz kann nicht sein, auf theoretische Durchdringung zu verzichten, sondern im Wissen um die Vorläufigkeit und Zeitgebundenheit das, was die Großstadt als Lebensort und Lebensform heute ausmacht, möglichst genau wahrzunehmen und vor dem Hintergrund theoretischer Annahmen zu skizzieren.«25 Ausgehend von dieser Tatsache ist die vorliegende Dissertation in dem Wissen entstanden, dass der zu beschreibende Kontext sich rasch wandelt und insofern nur eine Momentaufnahme möglich ist. Diese Momentaufnahme ist jedoch notwendig, wenn Gemeindeentwicklung situationsgerecht und kontextadäquat sein soll. Ange20 John 2013, 251–329. 21 AaO., 253. 22 AaO., 292. 23 Siebel 2015, 223. 24 Grünberg 2004, 23. 25 Ebd.
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§ 1 Anlass und Motivation
sichts der Vorläufigkeit einer Erschließung und Darstellung des urbanen Raums ist Anspruch und Ziel der vorliegenden Dissertation, die Erschließung für die aktuelle urbane Situation zu leisten und diese »Momentaufnahme urbaner Wirklichkeit« ins Verhältnis zu grundsätzlichen und über einen bestimmten Kontext hinaus gültigen theologischen Aussagen über Wesen und Sendung der Kirche zu setzen. Das Ziel dieser Arbeit kann somit als die Entwicklung einer Theorie der spezifisch urban formatierten Gemeindeentwicklung beschrieben werden, welche die urbanen Prozesse untersucht, versteht und deutet sowie als kontextuelle Gemeindeentwicklung Konsequenzen für das Leben und Engagement der christlichen Gemeinde in urbanen Räumen zieht. Der Titel26 der Arbeit ist somit paradigmatisch: Urbane Gemeindeentwicklung in der Lesart der vorliegenden Arbeit soll nicht primär danach fragen, wie die Kirche so mit dem Wandel der Städte umgeht, dass sie ihren eigenen Platz und ihre eigene Rolle in dem sich stetig wandelnden Kontext sichert. Stattdessen soll ein Nachdenken über kirchliches Arbeiten auf die Stadt bezogen sein und danach fragen, wie die christliche Gemeinde diesem Sozialraum 27mit den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen dienen kann. Deshalb soll urbane Gemeindeentwicklung von der Stadt und ihren Spezifika her entworfen werden, um sicherzustellen, dass urbanes Engagement der Kirche einen Beitrag zum Gemeinwesen der Stadt leistet und das Leben der Stadt und ihrer Bewohner28 bereichert. Die Analyse bezieht sich also streng auf die Frage, worin der spezifische Beitrag der christlichen Gemeinde im urbanen Gemeinwesen besteht. Wilhelm Dantine hat in Bezug auf Joh 12,2429 die Kirche in der Diaspora so beschrieben: »›Diaspora‹ aber heißt eingestreut sein als Weizenkorn Gottes im zerpflügten Acker der Welt. Das Weizenkorn bringt viel Frucht, wenn es stirbt. Zukunftswillige Kirche wird ›sterbende Kirche‹. […] Sterbende Kirche ist hier wesentlich verstanden als jene Kirche, die sich um ihres Zeugnisses wil-
26 Vgl. dazu auch Göpfert 1981. Der Titel der vorliegenden Arbeit stand fest, bevor ich den (äußerst knappen) Text von Göpfert entdeckt habe. 27 Christian Spatscheck Karin Wolf-Ostermann definieren Sozialräume »als ›relationale Anordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern‹ […], die an gemeinsamen Orten aggregiert sind […]. Sie bestehen aus Relationen, die aus unterschiedlichen und interagierenden Platzierungen von Menschen und Objekten entstehen. […] Soziale Räume werden als dynamische soziale Gewebe betrachtet, die aus sozialen und materiellen Praktiken gebildet werden und sich auf verschiedenen Ebenen der Interaktion kontinuierlich reproduzieren und weiterentwickeln.« Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 19.22 Zur Darstellung leitender Theoriemodelle zu Sozialräumen und deren Untersuchung vgl. aaO., 19–25. 28 Aus stilistischen Gründen gebraucht die vorliegende Arbeit das generative Maskulinum. Bei konkreten Personen wird das jeweilige Geschlecht berücksichtigt. 29 Die zitierten Bibelstellen folgen der Übersetzung Martin Luthers 1984.
1. Die Relevanz urbaner Gemeindeentwicklung
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len jeweils in den Tod begibt, weil sie nicht um ihrer selbst leben will. Kirche in der Nachfolge ihres Herrn ist nicht nur Kirche in der Welt, sondern Kirche ›für die Welt‹.«30 Der Logik dieser christologischen Figur folgt diese Arbeit mit ihrem Thema und ihrem Titel. Dieser Beitrag der Gemeinde Jesu Christi ist dabei nicht beliebig oder ein Produkt der Bedingungen des jeweiligen Umfelds, sondern hängt eng mit dem Wesen und dem Auftrag der Kirche (siehe §§ 8–10) zusammen und leitet sich aus der Sendung Gottes als sog. missio Dei ab (siehe § 8). Demnach ist die Kirche die Gesandte Gottes, welche von Gott beauftragt ist, das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen und zur Umkehr sowie zum Glauben an ebendieses Evangelium einzuladen (vgl. Mk 1,15). Der jeweilige urbane Kontext kann den Auftrag der Kirche konkretisieren und kanalisieren, er kann ihn aber nicht generieren oder verändern. Eine urbane Gemeindeentwicklung, welche diese Bezeichnung verdient, muss der göttlichen Mission entspringen und dieser bleibend verpflichtet sein. Michael Herbst identifiziert den Kern dieser Mission darin »dass der Mensch wieder in das rechte Verhältnis zu Gott zurückfindet.«31 Daraus resultiert die Versöhnung zwischen Mensch und Mensch, soziales Handeln und Dienst aneinander, die Versöhnung zwischen Mensch und Natur sowie die Bewahrung der Schöpfung. Dazu Herbst: »Das Ziel der Mission Gottes ist die Versöhnung ›in jeder Beziehung‹, mithin das Heilwerden der gesamten Schöpfung mit allen ihren Kreaturen.«32 Diese Mission orientiert urbane Gemeindeentwicklung und weist der Kirche für die Stadt Richtung und Ziel all ihrer Bemühungen um und im urbanen Kontext.
30 Zitiert nach Trinks 2001, 21. Diesen Hinweis verdanke ich Ulrich Körtner. Er stammt aus seinem Vortrag Kirche in der Diaspora: Ekklesiologische Perspektiven für eine Kirche zwischen Umbruch und Aufbruch, den er am 25. Mai 2018 in Greifswald im Rahmen des vom IEEG durchgeführten Symposiums »Kirche[n]gestalten« gehalten hat, vgl. dazu Körtner 2019, 76 f. 31 Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 8.4.2016, 10. 32 Ebd.
»Es scheint mir eines der gravierenden Probleme auch in der gegenwärtigen Theologie und Kirche zu sein, dass aktuelle Fragen unter Rückgriff auf ›zombie categories‹ (Ulrich Beck) verhandelt werden bzw. durch deren Verwendung gar nicht in ihrer Bedeutung in den Blick kommen.«1 Christian Grethlein
§ 2 Methodische Einführung in die Arbeit 1. Methode und Aufbau Henning Wrogemann bezeichnet die Sendung der Kirche als Ausbreitung der Verherrlichung Gottes und folgert daraus: »Wenn es darum geht, dass das Gotteslob aus dem Munde der geheilten, befreiten oder versöhnten Kreaturen vermehrt werden soll, dann schließt dies ein, in allem der ›Stadt Bestes‹ zu suchen.«2 Um zu wissen, was der »Stadt Bestes« ist, muss die praktisch-theologische Forschung in kirchentheoretischer Perspektive zwei Fragen klären: 1. Was sind die Besonderheiten, Bedarfe, Ressourcen und Herausforderungen des Kontexts, in den die Kirche gesandt ist? 2. Worin besteht die Sendung der Kirche, was ist ihr spezifischer Auftrag und welche Ressourcen stehen ihr zur Verfügung, um das Gemeinwesen zu bereichern? Die umfassende Erfassung und Darstellung sowohl des urbanen Kontexts als auch des Wesens sowie des Auftrags der Kirche dient dazu, die Bildung sog. zombie categories (Ulrich Beck) zu vermeiden, wie sie Christian Grethlein in den Reformbemühungen der evangelischen Kirche in den letzten 250 Jahren entdeckt.3 Die Entstehung dieser »toten Wiedergänger« ist »sowohl in einer theologischen als auch empirischen Unterbestimmtheit der jeweiligen Bemühungen begründet.«4 Die vorliegende Arbeit versucht, diesen Fehler zu 1 2 3 4
Grethlein 2013, 38. Wrogemann 2013, 429. Hervorhebung im Original. Vgl. Grethlein 2013. AaO., 37.
1. Methode und Aufbau
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vermeiden, indem sie sich intensiv mit ihren beiden Gegenständen, Stadt und Kirche, befasst. Dazu muss urbane Gemeindeentwicklung zunächst den Kontext analysieren, studieren und so genau wie möglich erfassen, was die spezifischen Herausforderungen, Ressourcen, Bedarfe und Potentiale einer Stadt sind, da die Wahrnehmung kirchlicher Aufgaben (allen voran die Kommunikation des Evangeliums, siehe § 10 Abs. 5) »in einem bestimmten Kontext stattfinden, ist dessen Rekonstruktion bzw. Analyse für Kirchentheorie konsti tutiv.«5 Urbane Gemeindeentwicklung muss ihren Kontext kennen, um einen Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten, der sinnvoll und hilfreich ist. Zudem muss urbane Gemeindeentwicklung sich ihres Auftrags und des Wesens der Kirche vergewissern sowie ihre Sendung für sich und für ihren Kontext durchbuchstabieren: Was bedeutet ein Beitrag zum Gemeinwesen hinsichtlich der Kommunikation des Evangeliums? Was ist das Proprium kirchlichen Engagements in der Stadt? Über welche Ressourcen verfügt die urbane Gemeinde? Gemäß diesem Ansatz soll das theologisch reflektierte Handeln der Kirche konsequent auf den Kontext Stadt bezogen werden und insofern sind sowohl die soziologisch-empirische Analyse des Kontexts als auch die theologisch-dogmatische Klärung des göttlichen Auftrags zentrale Aufgaben urbaner Gemeindeentwicklung. Beide Themenfelder müssen aufeinander bezogen werden, um die Besonderheit kirchlichen Arbeitens in der Stadt ansichtig zu machen. Hans Waldenfels verweist darauf, dass die Theologie Hilfe durch andere Experten benötigt, damit sie den Kontext angemessen erfassen kann. Andere Wissenschaften und Teildisziplinen dienen dazu, den Horizont theologischen Forschens zu erweitern.6 Die vorliegende Arbeit folgt dieser Spur und orientiert sich besonders an der stadtsoziologischen Forschung. Methodisch geht die vorliegende Dissertation folgendermaßen vor: In einem ersten Schritt wird in Kapitel II der urbane Raum unter Zuhilfenahme der Stadtsoziologie als Kontext kirchlichen Arbeitens untersucht, analysiert und dargestellt. Das Vorgehen ist grundsätzlich diskursanalytisch und kann mit einem Zoom verglichen werden, welcher sich, beginnend bei einer großen Gesamtschau, schrittweise den Details annähert. So wird in § 3 nach einer grundsätzlichen Beschreibung dessen, was mit dem Begriff Stadt gemeint ist, der Versuch einer Definition dieses komplexen Gegenstands unternommen. Dies geschieht anhand der europäischen und spezifisch deutschen Geschichte der modernen Stadt und mündet in der Klärung zentraler Begriffe sowie einem knappen Aus5 Grethlein 2018a, 41. 6 Vgl. Waldenfels 1987, 225 f. Zur Beschreibung eines Kontexts nennt Hans Waldenfels drei Gesichtspunkte: a) die sozio-ökonomisch-politischen Zustände und Entwicklungen b) die geistesgeschichtlich-kulturelle Orientierung und c) die weltanschaulich-religiöse Situation. Vgl. aaO., 226–229.
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§ 2 Methodische Einführung in die Arbeit
blick auf gegenwärtige Entwicklungen internationaler Verstädterung. Nach diesem allgemeinen und breit angelegten Zugang zum Thema Stadt, beschränkt sich die anschließende Darstellung auf die Einführung in soziologisches und stadtsoziologisches Arbeiten (§ 4) sowie auf die Beschäftigung mit dem Thema urbaner Segregation im deutschen Kontext (§ 5). Diese Fokussierung geschieht aus forschungspragmatischen Gründen und dient dem Ziel dieser Arbeit, einen Beitrag zu Herausforderungen urbaner Gemeindeentwicklung in deutschen urbanen Räumen zu leisten. Den Abschluss des Kapitels bildet § 7 mit einer biblisch-theologischen Betrachtung des Themas Stadt. Bei der Darstellung der urbanen Räume ist die Einsicht leitend, dass der urbane Raum als solcher nicht existiert. Vielmehr sind Städte sehr unterschiedlich, äußerst vielseitig und weisen eine Fülle unterschiedlichster Ausdrucksformen urbanen Lebens auf. Für urbane Räume gilt jedoch ebenso, dass es überregionale und translokale Phänomene gibt, welche sich in unterschiedlichen Städten unter verschiedenen Bedingungen nachweisen lassen. Diese Phänomene weisen über eine konkrete Agglomeration auf allgemeine Bedingungen urbanen Lebens hinaus. Bei der vorliegenden Untersuchung und Darstellung soll das Phänomen der urbanen Segregation (Entmischung)7 besondere Aufmerksamkeit erfahren und gleichsam als Paradigma stadtsoziologischer Erschließung des urbanen Raums dienen. Urbane Segregation erscheint in verschiedenen Formen8, von denen die vorliegende Arbeit die soziale Segregation (als Gentrifizierung und als Marginalisierung) thematisiert (§ 6). Dies geschieht aufgrund der Tatsache, dass diese Form urbaner Segregation eine grundlegende und die am weitesten verbreitete Ausdrucksform dieses Phänomens ist. Diese Fokussierung geschieht aus folgenden Gründen: A. Sozialräumliche Segregation ist ein urbanes Phänomen, welches die urbane Lebensweise von Beginn an prägt und in verschiedenen Formen seit der Existenz städtischer Siedlungen nachzuweisen ist.9 Somit handelt es sich gewissermaßen um ein urbanes Ur- und Grundphänomen, welches überzeitlich, translokal und international existiert. Somit stellt Segregation eine universale Erscheinung urbanen Lebens dar, welche sich in nahezu allen Städten (egal welcher Größe und in welcher Region) beobachten lässt und welche allem Anschein nach kein Geschehnis des Übergangs ist, sondern auch zukünftiges urbanes Leben prägen wird.
7 Nachfolgend werden Segregation (lat. segregare – trennen, absondern) und Entmischung synonym verwendet. 8 Andere Formen von Segregation sind ethnische und demographische Segregation, s. u. § 5 Abs. 4. 9 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 146.
1. Methode und Aufbau
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B. Zudem stellt Segregation eine der größten Herausforderungen gegenwärtiger Stadt-entwicklung dar. Das Phänomen ist komplex und durch zahlreiche Wechselwirkungen bestimmt. Zu seinen negativen Begleiterscheinungen gehört, dass es gesellschaftliche Teilhabe verhindert und soziale Ungerechtigkeiten sowie sozialen Abstieg fördert. Zudem führt es zu einer ungleichen Verteilung städtischen Wohlstands und kann soziale Spannungen provozieren oder verstärken.10 Für die Kirche als sozialem Akteur in der Stadt stellt Entmischung deshalb ebenfalls eine zentrale Herausforderung dar und verdient es, unter dem Gesichtspunkt urbaner Gemeindeentwicklung, eigens bearbeitet zu werden. C. Die intensive Auseinandersetzung mit sozialräumlicher Segregation ist Ausdruck des Versuchs einer kontextuellen Gemeindeentwicklung. Als alle urbanen Räume verbindendes Element mit grundlegenden und weitreichenden sozialen Auswirkungen eignet sich soziale Segregation zur Erschließung des Sozialraums Stadt als Kontext von Gemeindeentwicklung. D. Schließlich ist urbane Entmischung in missionarischer Hinsicht von Bedeutung für eine urbane Gemeindeentwicklung, denn die evangelische Kirche weiß sich zum gesamten Volk und nicht nur zu bestimmten Gruppen gesandt (zum Begriff Volkskirche siehe § 10 Abs. 2.1). Die Einladung Gottes durch das Evangelium gilt allen und somit kann die Kirche sich nicht mit einer selektiven Einladung begnügen. Dies ist besonders wichtig angesichts der Beobachtung, dass es der evangelischen Kirche gelingt, nur einige wenige Milieus zu erreichen und zu integrieren.11 Die Beschäftigung mit Gentrifizierung und Marginalisierung eröffnet eine sehr weite Perspektive, da die sozialen Gruppen, die von sozialer Segregation betroffen sind, äußerst vielfältig sind und so Gemeindeentwicklung mit höchst unterschiedlichen sozialen Gruppen konfrontiert. Das zweite zentrale Thema der Dissertation ist Gegenstand von Kapitel III. Dort wird nach Grund, Wesen und Auftrag der Kirche gefragt. Hier gilt, analog zum Vorgehen in Kapitel II, dass die diskursanalytische Aufbereitung und Darstellung dieses Themas umfassend beginnt und den Gegenstand im Verlauf der Ausführungen eingrenzt: So beginnt die Darstellung des Wesens und Auftrags der Kirche mit der Lehre von der Trinität Gottes, aus welcher die Lehre von der Sendung Gottes entspringt, welche prominent in der Figur der missio Dei formuliert worden ist. Dies führt zu einem missionstheologischen Zugang zur 10 Vgl. u. a. Kronauer/Siebel 2013a. 11 Vgl. dazu Wolfgang Hubers Feststellung einer Milieugefangenschaft der Kirche, in: Huber 2010, 68–78. Vgl. auch Hempelmann 2011, 35–47. Vgl. dagegen Karle 2011b, 138–145 und dies. 2015, 121–123.
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§ 2 Methodische Einführung in die Arbeit
Kirche und der Reflexion ihrer Teilhabe an der missio Dei (§ 8). Dem schließt sich in § 9 eine ekklesiologische Reflexion als Klärung der Implikationen für die Lehre von der Kirche an, welche sich aus der Sendung der Kirche ergeben. Durch die kirchen-theoretische Beschreibung der Kirche werden sodann die dogmatischen Grundlagen mit der empirischen Wirklichkeit der Kirche ins Verhältnis gesetzt (§ 10). Die Konkretion einer praktisch-theologischen Beschreibung der Kirche sowie der Wahrnehmung ihrer Sendung geschieht durch die Aufnahme des Diskurses um die Kommunikation des Evangeliums. Christian Grethlein12 beschreibt diese (im Anschluss an Ernst Lange13) als zentrales Paradigma der Praktischen Theologie. Schließlich mündet die Darstellung in der Beschreibung der vier Grundfunktionen (oder Lebenszeichen: Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia) der Kirche als Konkretion und Ausdruck von (urbaner) Gemeindeentwicklung als Teilhabe an der missio Dei. Ziel des Kapitels ist die theologische Klärung der Frage, was die Kirche ist, welche wesentliche und unveränderliche Aufgabe ihr zukommt und wie diese Gestalt gewinnen kann. Nachdem die zwei zentralen Gegenstände der Dissertation umfassend dargestellt worden sind, werden in Kapitel IV sowohl wichtige Konzeptionen (§ 11) als auch zentrale Themen (§ 12) des deutschsprachigen Diskurses zu urbaner Gemeindeentwicklung dargestellt sowie kritisch gewürdigt. Fokus der kritischen Würdigung ist die Frage danach, inwiefern die Sendung der Kirche sowie ihre Kontextualisierung in die urbane Wirklichkeit Niederschlag in diesen Beiträgen zur urbanen Gemeindeentwicklung gefunden haben. In einem vierten und letzten Schritt werden in Kapitel V die Einsichten der vorangegangenen Kapitel miteinander ins Gespräch gebracht und die beiden Größen Stadt und Kirche unter der Perspektive von Gemeindeentwicklung miteinander verbunden. Eine doppelte Fragestellung ist dabei leitend: Wie kann Gemeinde unter den Bedingungen urbaner Segregation entsprechend ihres Wesens und ihres Auftrags entwickelt werden, sodass sie einen spezifischen evangelischen Beitrag zum Gemeinwesen leistet? Und: Welche kirchlichen Ausdrucksformen kommunizieren den (von urbaner Entmischung betroffenen) Städtern das Evangelium auf eine für sie verständliche und für ihr Leben relevante Weise? Dazu werden in § 13 mit Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung beschrieben. Ausgehend von der Beschreibung der Kontextualisierung als Schlüsselkompetenz für urbane Gemeindeentwicklung stellt § 14 zwei Aufgaben urbaner Gemeinden dar: Hören auf Gott und Hören auf den Kontext. Zur Konkretion werden in § 15 drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung untersucht: Parochialgemeinden, City-
12 Vgl. Grethlein 2016 und ders. 2018. 13 Vgl. Lange 1976, 9–34 und 52–67 sowie Lange 1981, 101–129.
1. Methode und Aufbau
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kirchen und fresh expressions of Church (fxC). Den Abschluss der Dissertation bildet § 16, welcher urbane Gemeindeentwicklung als ökumenisches Netzwerk einer pluriformen Mischung aus Quartiersgemeinden, StadtKirchen und Urban Expressions of Church beschreibt. Die grundsätzliche Bemühung dieses abschließenden Kapitels besteht darin, dass beide Größen – Stadt und Evangelium – ernst genommen werden und zu ihrem jeweiligen Recht kommen. Dies bedeutet einerseits, dass Grund, Wesen und Auftrag der Gemeinde in dem Lebensraum Stadt nicht durch diesen kompromittiert werden dürfen und die Gemeinde ihrem Auftraggeber und ihrer Sendung treu sein muss – gleich, in welchem Kontext sie sich bewegt. Andererseits muss die Stadt als Kontext wahr- und ernst genommen werden. Dies bedeutet, dass aus der Betrachtung und der Analyse der Stadt Konsequenzen für kirchlich-gemeindliches Leben gezogen werden müssen und es nicht darum geht, dass eine bestimmte Form von Gemeinde in die Stadt implementiert wird, sondern, dass sich die Kirche – gemäß ihrem Wesen – von dem Kontext vorgeben lässt, wie sie ihren spezifischen Dienst und Auftrag unter den Bedingungen urbanen Lebens wahrnehmen kann. Somit soll eine Gemeinde-entwicklung entstehen, welche beiden Größen auf möglichst angemessene und ausgewogene Weise gerecht wird und dabei das Phänomen urbaner Segregation berücksichtigt. Es geht einer so gearteten Theorie urbaner Gemeindeentwicklung darum, was Papst Franziskus in der Enzyklika Evangelii Gaudium zum Thema Herausforderungen der Stadtkulturen (EG 71–75) schreibt: »Diese Gegenwart [Gottes in der Stadt] muss nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden. Gott verbirgt sich nicht vor denen, die ihn mit ehrlichem Herzen suchen, auch wenn sie das tastend, auf unsichere und weitschweifige Weise tun.«14 Die hier entworfene Theorie urbaner Gemeindeentwicklung rechnet mit der Gegenwart und dem Wirken Gottes in der Stadt und will darum ringen, dass die Kirche das Ihre tut, um dieser Gegenwart Gottes gerecht zu werden, und gleichzeitig die Grenzen ihres eigenen Handelns respektiert und wahrt. Die vorliegenden Arbeit ist von der Einsicht getragen, dass alle Erneuerung der Kirche zuvorderst ein Handeln Gottes ist und in seinem Handeln begründet liegt. Kirchliche Erneuerung und Reform stellt gleichsam ein Antwortgeschehen der Kirche als Akt der steten Umkehr zu ihrem Herrn dar, wie es die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) ausdrückt: »All reform and renewal needs to be understood as the way the church continually returns to God: it is an act of repentance and is always seeking renewal through the work of the Holy Spirit.«15
14 Franziskus 2013, 68. 15 GEKE 2012, 44.
36
§ 2 Methodische Einführung in die Arbeit
2. Kontextualisierung16 als Schlüsselkompetenz für eine urbane Gemeindeentwicklung Die Darstellung der urbanen Situation – besonders hinsichtlich sozialer Segregation – unterstreicht das hohe Maß an Pluralität17 und Multikulturalität18 der Städte als ein urbanes Grundmoment. Diese Pluralität an Lebensformen und -stilen, an Kulturen19 und Subkulturen20, an Weltbildern und Lebenswirklichkeiten, an Werten und Religionen (siehe § 12 Abs. 4) sowie an Wohnorten und Lebensumständen (siehe § 6) konfrontiert urbane Kirche (im Bemühen um eine stadtbewusste Gemeindeentwicklung) mit der Frage nach ihrem Verhältnis zum Kontext mit seinen Menschen, spezifischen Kulturen, Traditionen etc.
16 Vgl. Moynagh 2012, 151–193 und Keller 2014b, 91–125. Zur Genese des Begriffs vgl. Keller 2014b, 92 f. 17 »Die Stadt präsentiert die radikale Alternative zu einem Weltentwurf der Geschlossenheit: Wo dieser den Singular setzt (z. B. ein Gott, ein Ehepartner, eine Lebensentscheidung, ein Volk), da setzt die Stadt den Plural (viele Götter, wechselnde Partner, Entscheidungen als befristete Projekte); wo dieser Orientierung, aber Sozial-kontrolle setzt, da setzt die Stadt Unübersichtlichkeit, aber Selbstbezug; wo dieser die etwas schwüle Geborgenheit im kollektiven Konsens anbietet, da bietet die Stadt die konflikthafte Unbehaustheit im Individuum, die aber immer wieder überraschende Episoden der Zweisamkeit hervorbringen kann; wo der meta-physische Weltentwurf das Ganze und die Mitte verspricht, setzt der säkulare Weltentwurf der Stadt auf das Fragment und die jeweilige Verschiebbarkeit der Mitte, auf die Episode, auf den Ausschnitt.« (Sellmann 2006, 2). 18 Vgl. Bukow 2012. »Um der Multikulturalität in der Stadtgesellschaft auf die Spur zu kommen, bleibt einem deshalb gar nichts anderes übrig, als sich auf eine zunehmende Unübersichtlichkeit einer global-gesellschaftlichen Wirklichkeit einzulassen.« (AaO., 528). Wolf-Dietrich Bukow spricht von einer »super-kontingenten« kulturellen Selbstvergewisserung bzw. von Superkontingenz von Kultur, vgl. aaO., 529–534. IM Blick auf den Stadtteil Köln-Neuehrenfeld spricht Bukow von einem »für Großstädte in etwa durchschnittlichen Bezirk […]: Von 103 621 Einwohnern des Bezirks weisen 33 919 einen Migrationshintergrund auf (33 %) und wenn man Kinder und Jugendliche (unter 18) betrachtet, dann sind es von 16 083 genau 8 038 (50 %).« (AaO., 538). Hinzu kommt noch eine »typische postmoderne Fluktuation« bei der sich »Zu- und Abwanderung in etwa die Waage halten« (Ebd.). 19 Zum Begriff »Kultur« s. u. § 2 Abs. 2.0. 20 Zum Begriff vgl. Niederbacher 2014. Seine Definition: »Mit dem Begriff Subkulturen (engl. subcultures) werden Gesellungsgebilde bezeichnet, die durch relativ ›geschlossene‹ Interaktionskontexte von Personen mit bestimmten, relativ exklusiven ›Qualitäten‹ gekennzeichnet sind, in denen mittels spezifischer Praktiken eine von der gesellschaftlichen Gesamtkultur abweichende, gemeinsame Weltsicht und kollektive Identität erzeugt und gesichert werden.« (AaO., 522). Karl-Siegbert Rehberg unterscheidet innerhalb von Subkulturen a) Tradierungs-Subkulturen, b) Subkulturen der Ausgrenzung, c) sozialstrukturelle Subkulturen, d) Protestkulturen und e) Ausstiegskulturen (letztere Form teils ich in Fluchtkulturen und autarke Parallelkulturen), vgl. Rehberg 2007, 93–95.
2. Kontextualisierung
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Das Thema Kontextualisierung wird sowohl durch das Phänomen der Entmischung als auch durch die theologische Reflexion der missio Dei provoziert: Einerseits stellt die Sendung Gottes gleichsam das Paradigma zur Einlassung auf einen bestimmten Kontext dar. Somit muss sich die Kirche, wenn sie dieser Sendung und somit ihrem eigenen Ursprung treu sein will, ihrerseits ihrem gesellschaftlichen Kontext zuwenden und sich auf diesen einlassen. Andererseits ist die Kirche als Gesandte Gottes zu allen Menschen gesandt und weiß sich in der Kommunikation des Evangeliums jedem Einzelnen ausnahmslos verpflichtet. Diese universale Aufgabe wird durch sozialräumliche Entmischung mit der fluiden Vielfalt und Partikularität urbaner Wirklichkeit konfrontiert und fordert die Kirche dazu heraus, sich um plurale Formen der Kommunikation des Evangeliums zu bemühen, die zu dem jeweiligen Kontext und dessen Menschen passen. Ernstpeter Maurer zeigt auf, dass Glaubensvermittlung immer kontextuell geschieht und ebenso wie Kommunikation und Kultur nicht von den Bedingungen der prägenden Umwelt zu lösen ist, also nicht im »luftleeren« Raum stattfindet.21 Timothy Keller betont ähnlich: »If there is no single, contextfree way to express the gospel, then contextualization is inevitable.«22 Aus diesem Grund ist Kontextualisierung eine Schlüsselkompetenz für urbane Gemeindeentwicklung, da sich die Kommunikation des Evangeliums in einem spezifischen kulturellen Kontext ereignet, der seine bestimmten Voraussetzungen, Sprachspiele, Wirklichkeitsverständnisse etc. hat. Das Erlernen dieser Kompetenz entspricht der Einsicht des EKD-Texts 93 Gott in der Stadt: Die kirchlichen Akteure müssen diese Entwicklung zu situativen und punktuellen Angeboten nachvollziehen, wenn sie sich nicht nur auf eine bestimmte Lebensform oder Lebensphase (Kinder; Alter) innerhalb des Stadtlebens verengen wollen. Hier ist eine deutliche Innovationsbereitschaft von der Kirche in der Stadt verlangt. Insofern gehört es zu den zentralen Einsichten der letzten Jahre und Jahrzehnte, dass die Kirche ein sensibles Wahrnehmungsorgan für die Spiritualität in der Stadt benötigt, für die Themen und Rhythmen, für neue Lebensformen, Konflikte und intellektuelle Bewegungen, die in der Stadt oder in einem Stadtteil aufleben. Die evangelische Kirche muss nicht nur machen, sondern auch hören können, sie muss nicht nur gestalten, sondern auch hinschauen lernen. Es gehört zur Aufgabe jeder Stadtgemeinde, die in der Struktur einer Parochie liegenden Tendenzen zur Milieuverengung und Hochverbundenenkirche zu überwinden und in neuer Weise ›Gemeinde in der Stadt‹ sein zu können. Es gehört zu jeder citykirchlichen Arbeit, städtische Entwicklungen und
21 Vgl. Maurer 2003, besonders 99 f. 22 Keller 2014b, 94,
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§ 2 Methodische Einführung in die Arbeit
Trends zu reflektieren und so aufzugreifen, dass sie in immer neuer Weise ›Kirche in der Stadt‹ sein kann. Diese Wahrnehmungskompetenz gehört zu den wichtigsten Investitionsaufgaben der Kirche und muss zu Konsequenzen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung innerhalb der Kirche führen.23
Dass urbane Gemeindeentwicklung für eine angemessene Kontextualisierung des kirchlichen Auftrags ein »sensibles Wahrnehmungsorgan« für die Themen, Rhythmen und Lebensformen usw. der Stadt braucht, ist selbstredend und sollte sich laut Hans-Günter Heimbrock auch in der theologischen Ausbildung angehender Pfarrer niederschlagen.24 Die Forderung nach einer Kompetenz in Stadthermeneutik entspricht dem, was Wolfgang Grünberg die Fähigkeit, eine »Stadt zu lesen« nennt. Jörg Herrmann fordert von der Kirche in der Stadt, dass sie eine Kontextkompetenz entwickelt und »ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Kontextkompetenz ist eine angemessene Wahrnehmung des Kontextes: der gelebten Religion, der sozialen Probleme, der kulturellen Verhältnisse, der Milieus, der laufenden Projekte, der politischen Konstellationen, der Konflikte – der Menschen, die im Stadtteil leben.«25 Kontextualisierung bedeutet damit gerade nicht, dass die Kirche selbst unabhängig vom jeweiligen Kontext wäre oder diesem gegenüberstünde – das Gegenteil ist der Fall (»Wer tagtäglich im Quartier lebt, bemerkt nichts; erst wer ein Quartier nach Jahren erneut besucht, bemerkt etwas.«26). Der katholische Pastoraltheologe Matthias Sellmann verweist im Anschluss an FranzXaver Kaufmann darauf, dass eine Formulierung wie »Kirche und Welt«27 oder 23 Kirchenamt 2007b, 44. 24 Die Vorschläge von Heimbrock lauten: a) Lebensweltorientierte Erschließung eigener Lebenspraxis im Studium b) Elementartheologische Erschließung urbaner Wandlungsprozesse und c) die Erschließung kirchlicher Arbeit an den Schnittstellen zur städtischen Kultur. Vgl. Heimbrock 2009, 174–179. 25 Herrmann 2015, 40. 26 Bukow 2012, 531. 27 Vgl. dazu auch Theißen 2013, 13 f. »Gerade die Kirche als Teil der Welt – z. B. als religiöse Organisation neben anderen, etwas jüdischen religiösen Organisationen – kann mit dem theologischen Begriffsgespann ›Kirche und Welt‹ nicht adäquat beschrieben werden.« (AaO., 14). Henning Theißen bezeichnet die Formulierung »Kirche und Welt« in dreifacher Hinsicht als »voraussetzungsreich und explikationsbedürftig« (AaO., 13): 1. Die Formulierung ist zu unscharf, um das Verhältnis von Kirche und Welt zueinander angemessen zu beschreiben, da die Kirche einerseits selbst Teil der Welt ist und andererseits ihrem Selbstanspruch nach von der Welt zu unterscheiden ist. 2. Der Begriff ist dogmatisch zu trennscharf, da die Verbindung beider durch die Konjunktion »und« den theologisch gegensätzlichen Charakter beider Größen nicht dazustellen vermag. An der alternativen Formulierung »Kirche für die Welt« (der »den erwähnten dogmatischen Gegensatz zwar nicht aufheben, wohl aber überbrücken will« – aaO, 14) kritisiert Theißen einen möglichen dogmatischen Kirchenpositivismus. Vgl. ähnlich Kretzschmar 2007, 22.
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»Kirche und Stadt« verräterisch sei, »denn sie offenbart eine Idee von Kirche, die scheinbar Welt- und Bevölkerungsteile von sich abspalten kann, ohne ihre Identität zu verlieren. Kirche wird also v. a. überzeitlich, übergesellschaftlich konzipiert – sie wird sakralisiert und programmatisch ihrer sozialen Kontingenz enthoben.«28 Kontextualisierung hilft der Kirche ihre eigene Prägung durch den Kontext und somit ihre eigene Kontextualität wahrzunehmen. Über die unvermeidliche kontextuelle Bindung und Prägung schreibt Timothy Keller: »As soon as you choose a language to speak in and particular words to use within that language, the culture-laden nature of words comes into play.«29 Gemeindeentwicklung kann also nicht nicht kontextualisiert30 geschehen und umso bewusster den Verantwortlichen diese Tatsache ist, desto sinnvoller kann Gemeinde in und mit ihrem Umfeld kommunizieren und interagieren. Im Folgenden sollen mit Ausführungen aus Christian Grethleins kontextueller Kirchentheorie Kriterien für Kontextualisierung gewonnen werden. Im Anschluss daran werden mit Wolfgang Grünberg, Harvey Cox und Timothy Keller drei Ansätze von Kontextualisierung für Kirche im urbanen Raum vorgestellt, welche dazu dienen sollen, Kontextualisierung als Schlüsselkompetenz für urbane Gemeindeentwicklung darzustellen.
2.0 Exkurs: Kultur31 Seit der Antike wird der lat. Begriff cultura (Landbau, Pflege) als cultura animi, i. S. e. »Pflege des Geistes« zur Bezeichnung des erstrebenswerten Zustands »der menschlichen Veredelung im Gegensatz zu status naturalis gebraucht.«32 Kultur kann somit als »ein Gegenbegriff zu dem der unbearbeiteten, der ›rohen‹ Natur«33 beschrieben werden, und stellt somit »eine allgemeinste anthropo-
28 Sellmann 2017a, 77, FN 15. 29 Keller 2014b, 94. 30 Diese Formulierung lehnt sich an die Formulierung Paul Watzlawicks »Man kann nicht nicht kommunizieren« an, vgl. Watzlawick/Trunk 2016. 31 Zu den Grundbedeutungen von Kulturen vgl. Schrage 2014, 254–256. Zu Kultur in religionswissenschaftlicher Perspektive vgl. Laubscher 2008; in philosophischer Perspektive vgl. Recki 2008; in fundamentaltheologischer Perspektive vgl. Haigis 2008; in ethischer Hinsicht vgl. Herms 2008 und in praktisch-theologischer Hinsicht vgl. Gräb 2008. Vgl. zudem Bellebaum 2001, 47–50 und Vanhoozer 2007, 21–32. Vgl. auch Schwöbel 2003, 101–105. 32 Laubscher 2008, 1820. 33 Rehberg 2007, 76.
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logische Kennzeichnung für die Lebensweise des Menschen«34 dar. Über den engen Zusammenhang von Kultur und Religion schreibt Karl-Siegbert Rehberg: »Die Natur wird durch Bearbeitung, durch rituelles und technisches Handeln umgeformt, worauf noch der aus diesem Zusammenhang entwickelte Begriff ›Kult‹ für den ›Gottesdienst‹ verweist. Ritualisierung bezeichnet die erstarrten Formen solcher Handlungsabläufe.«35 In der Neuzeit setzt sich ein umfassender Gebrauch des Begriffs Kultur zur Bezeichnung der Gesamtheit menschlicher Werke durch und kann beschrieben werden als »der Anspruch des Menschen, etwas aus vorgefundenen Bedingungen und aus sich selbst zu machen.«36 Man kann zwischen materieller und nichtmaterieller Kultur unterscheiden.37 Die konkreten Inhalte einer Kultur, divergieren historisch und lokal, »jedoch besitzen alle menschlichen Kulturen die gleichen Grundelemente«38 und »[z]u ihnen gehören Wissen, Sprache, Symbole aller Art sittliche Werte, Normen und Artefakte (also von den Menschen geschaffene Gedanken und Dinge), aber auch Körperkonzepte und Habitusformen.«39 Matthias-Samuel Laubscher summiert, dass in religionswissenschaftlicher Hinsicht weder ein allgemein gültiger Kulturbegriff40 noch ein fester Kanon existiert, was zum Begriff der Kultur gehört und was nicht. Konsens bestehe
34 Ebd. 35 Ebd. 36 Recki 2008, 1824. 37 Vgl. Rehberg 2007, 82 f. 38 AaO., 82. 39 Ebd. Hervorhebung im Original, vgl. dazu auch aaO., 82–91. Nach Laubscher wurde ein allgemeiner Kulturbegriff dekonstruiert und der Begriff sei nur mit einem »polythetisch-prototypischen Modell« zu gebrauchen, vgl. Laubscher 2008, 1820. Wolf-Dietrich Bukow schreibt: »Tatsächlich macht es nur dann Sinn, von einer speziellen kulturellen Dimension innerhalb einer Gesellschaft zu sprechen, wenn man Kultur – anders als man das bei Religionen zu tun pflegt – nicht als etwas einmal Erlassenes und seitdem Sakrosanktes, sondern als einen ›nachgängigen‹ Bestandteil eines komplexen gesellschaftlichen Ensembles betrachtet. […] Insofern dient Kultur – vereinfacht formuliert – der Deutung des Alltags innerhalb des Alltags.« (Bukow 2012, 528). 40 Zu den verschiedenen Kulturbegriffen (u. a. »nichtmaterielle Errungenschaften«, »Lebensordnungen«, »gesamtes soziales Erbe«, die Kultur der Gesellschaft als »Synthese«, »Hochkultur«) vgl. Rehberg 2007, 76–80. Volkhard Krech beschriebt drei paradigmatische Kulturkonzepte: a) ein wertphilosophischer (neukantianischer) Ansatz demnach Kultur das Zusammenspiel verschiedener Wertsphären ist, b) ein philosophisch-anthropologischer Ansatz, der Kultur als Gesamtheit aller symbolischen Formen, die zur Freiheit befähigen, definiert (Georg Simmel und Ernst Cassirer) und c) ein kommunikationsorientierter Ansatz, wonach Kultur das Gedächtnis der gesellschaftlichen Kommunikation beschreibt (Jan Assmann und Niklas Luhmann), vgl. Krech 2008, 1829.
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hingegen darüber, dass »die Kulturwissenschaft mit einem umfassenden Kulturbegriff zu arbeiten hat.«41 Zu einem umfassenden Kulturbegriff schreibt Dominik Schrage: Im Kontext des ›cultural turn‹ bezeichnet ›Kultur‹ in einem erweiterten (›semiotischen‹) Sinne alle bedeutungstragenden und mit Deutungs- und Bewertungspraktiken verbundenen sozialen Phänomene; diese gelten dann als Grundeigenschaft von Sozialität; ›Kultur‹, ›Sinn‹ und ›Wissen‹ gehen ineinander über. Die bereits in den früheren Kulturbegriffen enthaltene Sinn- bzw. Symboldimension wird so zum eigentlichen Kern des Kulturbegriffs, ihre Differenzen treten zurück. Man kann darin eine ›Konvergenz‹ der verschiedenen Kulturbegriffe sehen […], die neben den genannten auch die differenztheoretischen Denkansätze des französischen ›Poststrukturalismus‹ (M. Foucault, J. Derrida), die Praxistheorie P. Bourdieus sowie die britischen Cultural Studies umfasst und insgesamt die Grenzen zwischen Kultursoziologie und verstehender Soziologie fließend macht.42
Peter Haigis unterscheidet drei Bedeutungsebenen von Kultur: Erstens dient Kultur zur Beschreibung der Produkte menschlichen Handelns im materiellen (Werkzeuge, Gebäude etc.) und geistigen Sinn (Literatur, Kunst, Musik etc.). Zweitens beschreibt Kultur die Gestaltungsweisen des menschlichen Handels selbst (soziale Interaktion oder symbolische Kommunikation). Drittens kann Kultur grundsätzlich als »Konstitutionsmerkmal menschlichen Daseins« und somit als conditio humana gelten.43 Die vorliegende Arbeit folgt dem in diesem Exkurs skizzierten umfassenden Kulturbegriff. Im Bezug auf die (Multi)Kulturalität einer Stadt ist die folgende Feststellung Wolf-Dietrich Bukows wichtig: In der Stadtgesellschaft ist Kultur seit je zu einem Flickwerk genötigt. Kulturelle Konzepte bieten folglich keine eindeutigen, konsistenten, in sich irgendwie geschlossenen Konzeptionen, sondern bestehen wie selbstverständlich aus vielfältigen, multipolaren, offenen, in der Regel inkonsistenten und häufig – wie das Alltagsleben generell – miteinander konkurrierenden von Moden, genauso wie von Machtdiskursen abhängigen Mustern.44
41 Laubscher 2008, 1820. Zudem bestehe in der Unterscheidung zwischen der Menschheitskultur und den jeweiligen Einzelkulturen Einigkeit. 42 Schrage 2014, 256. 43 Vgl. Haigis 2008, 1825 f. 44 Bukow 2012, 529.
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2.1 Christian Grethlein und vier Dimensionen des Verhältnisses von kirchlichem Auftrag und Kontext Christian Grethlein beschreibt sowohl in seiner Praktischen Theologie (2012/2016)45 als auch in seiner Kirchentheorie (2018) im Anschluss an die Erklärung von Nairobi zu Gottesdienst und Kultur46 des Lutherischen Weltbundes vier Dimensionen einer Kontextualisierung der Kommunikation des Evangeliums. Diese sind a) kulturübergreifend b) kontextuell c) kontrakulturell und d) kulturell wechselwirksam. Diese vier auf den Gottesdienst bezogenen Dimensionen überträgt Grethlein auf alle Modi47 der Kommunikation des Evangeliums. • Die kulturübergreifende Dimension betont zentrale Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens wie Sakramente, Gottesdienst, Gebet, Lektüre der Bibel, Gemeinschaft, sozialen Dienst etc. und identifiziert so die verbindenden Elemente als kulturtranszendierend und macht die Einheit der Christen ansichtig. Eine einseitige Betonung dieser Dimension »droht das Konkrete vor Ort zu übersehen.«48 • Die kontextuelle Dimension weist darauf hin, dass eine Kommunikation des Evangeliums nur in Verbindung mit einer bestimmten Kultur geschehen kann.49 Grethlein verweist auf zwei Wege, welche die Erklärung von Nairobi darstellt: a) dynamische Äquivalenz und b) die Methode kreativer Assimila-
45 Vgl. Grethlein 2016, 190–194 und ders. 2018, 41–45. 46 Nairobi Statement on Worship and Culture: Contemporary Challenges and Opportunities, Lutheran World Federation 1996. 47 Zu den drei Modi, die Grethlein ins Gespräch bringt vgl. Grethlein 2016, 165–169 und 256– 327; ders. 2018, 36–39 und s. u. § 10 Abs. 5.1 besonders 5.1.1. 48 Grethlein 2018a, 44. 49 Lesslie Newbigin macht dazu eine wichtige Feststellung: »Wir müssen mit der grundlegenden Tatsache beginnen, dass es so etwas wie ein reines Evangelium nicht gibt. Es gibt kein Evangelium, das nicht Bestandteil einer bestimmten Kultur ist. Die Bedeutung der einfachsten Aussage [des] Evangeliums: ›Jesus ist der Herr‹ hängt von dem Inhalt ab, den eine Kultur dem Wort ›Herr‹ verleiht. Was bedeutet ›Herrschaft‹ in der besagten Kultur? Das Evangelium kommt immer als das Zeugnis einer Gemeinschaft daher, die versucht, die Bedeutung des Evangeliums in einer bestimmten Lebensweise, in den Eigentumsverhältnissen, in Recht und Ordnung, in Produktion und Verbrauch und so weiter möglichst treu auszuleben. Jede Auslegung des Evangeliums ist Bestandteil irgendeiner kulturellen Form. Die Missionarin bringt nicht das reine Evangelium mit und passt es dann an die neue Kultur an, in der sie nun arbeitet. Sie kommt mit einem Evangelium, das bereits in einer Kultur verankert ist, durch welche die Missionarin geprägt wurde. Und das ist von Anfang an so. Die Bibel ist ein Buch, das ganz offensichtlich aus einem bestimmten kulturellen Umfeld stammt. Ihre Sprache ist Hebräisch und Griechisch, nicht Chinesisch oder Sanskrit. Alle aufgeschriebenen Ereignisse und alle enthaltenen Lehren sind geprägt durch bestimmte menschliche Kulturen. Und natürlich könnte es gar nicht anders sein. Etwas, das nicht in irgendeiner menschlichen Sprache darstellbar und
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tion. Bei a) geht es um die Darstellung bestimmter Inhalte des Evangeliums (bzw. Funktionen des Gottesdienstes) durch Elemente der lokalen Kultur, welche in Bedeutung, Wert und Funktion äquivalent sind. Kreative Assimilation hingegen beschreibt die Aufnahme von Bestandteilen der lokalen Kultur in das Corpus des christlichen Glaubens (bzw. Gottesdienstes) um diesen zu bereichern. Dieses Vorgehen »ermöglicht Menschen einen alltagsnahen Zugang zum Christsein.«50 Betont man diesen Aspekt jedoch zu stark, so führt dies zu einer einseitigen Bestätigung der bestehenden Verhältnisse bzw. der vorzufindenden Wirklichkeit. • Die kontrakulturelle (kulturkritische) Dimension folgt der Einsicht, dass einige (bzw. alle) Bestandteile jeder Kultur von Sünde geprägt und entsprechend sündhaft sind und im Widerspruch zum Evangelium und dessen Werten stehen. Eine aus dem Evangelium erwachsene und der Kultur gegenüber kritische Perspektive dient dazu »kulturelle und gesellschaftliche Fehlentwicklungen«51 aufzudecken, jedoch lässt ein »Absolutsetzen des Kontrakulturellen […] den Bezug zum Alltag und seinen Erfordernissen verfehlen.«52 • Die kulturell wechselwirksame Dimension verbindet Elemente des kirchlichen Lebens mit kulturellen Formen des Kontexts mit dem Ziel einer wechselseitigen Bereicherung und diese »kulturelle Wechselwirksamkeit des Evangeliums eröffnet den Weg zu neuen Ausdrucksformen.«53 Fokussiert die Kirche jedoch das kulturell Wechselwirksame zu stark, so besteht die Gefahr von einer lediglich oberflächlichen Annäherung.54 nicht in irgendeiner menschlichen Lebensweise verkörpert ist, was nicht in einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort stattfindet, das kann keinen Einfluss auf das menschliche Leben haben.« Newbigin 2017, 166 f. 50 Grethlein 2018a, 45. 51 Ebd. 52 AaO., 44. Mit Blick auf die Öffentlichkeit der Kirche und ihrer Kommunikation hält Thomas Schlag fest, dass sich der Anspruch kirchlicher Praxis und Entwicklung nicht nur darauf richtet die Öffentlichkeit zu informieren, »sondern diese zugleich zu orientieren, zu kritisieren, zu reformieren und gegebenenfalls Gegenöffentlichkeit herzustellen, wo immer ein entsprechender Orientierungs- und Handlungsbedarf identifiziert wird.« (Schlag 2014, 179). Vgl. dazu auch aaO., 180–182. Zum »Paradox« des Pfarrberufs als ein »gegen die Meinung, die vorherrscht« vgl. Deeg 2018, 85. 53 Grethlein 2018a, 45. 54 Zur kulturell-wechselwirksamen Dimension vgl. den Abschnitt Der Austausch gottesdienstlicher Spiritualität mit außerchristlicher Kultur und Religion in Kerner 2003, 56–58. In kontrakultureller Abgrenzung fordert Kerner summierend: »Die Christuszentriertheit christlicher gottesdienstlicher Theologie mit ihrem anamnetischen, vergegenwärtigenden und eschatologischen Komponenten darf nicht zugunsten einer allgemeinreligiösen Feierspielart aufgegeben werden.« (AaO., 57f). Siehe dazu auch den Abschnitt Die Zeitgebundenheit gottesdienstlicher Spiritualität, vgl. aaO., 58–60.
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Diese vier möglichen und nötigen Verhältnisse zum kulturellen Kontext eröffnen einen fruchtbaren Zugang zu einer kontextuellen Gemeindeentwicklung, die sich sowohl um Treue zum Evangelium als auch um einen dienenden Zugang zum Umfeld bemüht. Vor dem Hintergrund dieser von Grethlein in den Diskurs eingebrachten Verhältnisbestimmungen sollen im Folgenden drei konkrete Ansätze urbaner Kontextualisierung vorgestellt werden, welche der Begriffsbildung und -beschreibung von Kontextualisierung55 dieser Arbeit dienen.
2.2 Wolfgang Grünberg und die Kunst, eine Stadt zu lesen Der langjährige Leiter der Hamburger Arbeitsstelle Kirche in der Stadt Wolfgang Grünberg (ausführlicher siehe § 8 Abs. 3) hat 2004 einen Aufsatzband unter dem Titel Die Sprache der Stadt veröffentlicht. Dieser Titel ist besonders für den ersten Abschnitt des Bandes (Die Stadt – Lebensraum und Lebenstraum) zutreffend, da die dort gesammelten Beiträge sich der Stadt als Kontext kirchlichen Seins und Handelns zuwenden und sich bemühen, die »Stadt zu lesen«56 – sprich zu beobachten und zu verstehen, was urbane Räume auszeichnet. Grünberg spricht von einer Stadthermeneutik, die es versteht, eine Stadt zu lesen und dabei der Einsicht folgt, dass der »Text einer Stadt […] nicht eindeutig, auch nicht nur doppeldeutig, sondern vielstimmig [ist] […], [a]ber […] nicht beliebig.«57 Dabei geht es Grünberg darum, die »Strukturen und Zeichen« der Stadt zu lesen und dies besonders hinsichtlich der Frage, inwiefern die Stadt ihre Bewohner prägt und inwiefern sich die Bewohner mit »ihrer« Stadt identifizieren.58 Um eine möglichst exakte Beobachtung und Beschreibung
55 Grethlein zeichnet die Kirchengeschichte als »problemgeschichtliche Rekonstruktion […] umfangreicher Kontextualisierungsprozesse« (Grethlein 2018a, 49f). 56 So der Beitrag Vier Versuche, eine Stadt zu lesen unter 1.3, in welchem Grünberg die Stadt nach dem Modell des vierfachen Schriftsinns zu lesen versucht, vgl. Grünberg 2004, 37–46. Vgl. auch aaO., 31–34. 57 AaO., 33. 58 »In diese Reihe [derer, die Stadt die Stadt zu lesen versuchen FE] schmuggelt sich auch die Theologie wieder ein. Schließlich gehört sie in ihrer biblisch-prophetischen Tradition mit zu dem Kreis, der sich von konkreter Stadtkritik bis zur Entwicklung von Stadtutopien mit diesen Fragen beschäftigt hat und Städte, wie ihre Namen, als Texte liest und seit jeher dechiffriert. Babylon und (himmlisches) Jerusalem, Sodom und Gomorra, Ninive und Bethlehem, sind nicht nur biblische Ortsnamen. Sie symbolisieren Erfahrungen oder Bedrohungen, Kritik und Utopien.« AaO., 14.
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des Kontexts zu gewährleisten, bedient sich Grünberg verschiedener Mittel, so z. B. der Lyrik59, der Äußerungen des kulturellen Lebens60 sowie der Statistik61. Diese Hermeneutik der Stadt unterzieht Grünberg dann einer theologischen Deutung und verweist darauf, dass Praktische Theologie nicht in Handlungswissenschaft einerseits und Wahrnehmungswissenschaft andererseits zerfallen dürfe.62 Beides sei nötig und deshalb hält Grünberg am Praxisbezug fest und setzt die urbanen Beobachtungen fortwährend in Beziehung zu Fragen der Gemeindeentwicklung und bemüht sich um die Beschreibung einer StadtKirche und ihrer Rolle in dem sie umgebenden und prägenden Kontext. Konkrete Hilfe bei der Bemühung um die Kunst, eine Stadt zu lesen, findet Grünberg an exemplarischen Orten der Stadt, welche in verdichteter Form die Geschichte(n) und Erfahrungen, die Gegenwart und die aktuellen Hoffnungen sowie die Erwartungen repräsentieren und gleichsam als Gedächtnis aufbewahren, tradieren und weitergeben. Solche Orte sind für Grünberg im Wesentlichen die öffentlichen Gebäude einer Stadt (Kirchen, Schulen, Rathäuser, Denkmäler, Friedhöfe, Krankenhäuser etc.); sie seien »Orte symbolischer Verdichtung«63. Diese Orte trügen laut Grünberg ganz wesentlich zur Identitätsstiftung eines Orts bzw. einer Stadt bei.64 Grünberg beschreibt folgendes Vorgehen: »Zunächst brauchen wir, um das ABC herauszufinden, exemplarische Entschlüsselungen, zu denen uns lokale Traditionen, einzelne Schlüsselpersonen ebenso verhelfen, wie exemplarische und zum ›Lesen‹ verlockende Orte bzw. Situationen.«65 Dabei komme den Kirchen (so wie anderen religiösen Gebäuden wie Synagogen und Moscheen) eine besondere Bedeutung bei der Identitätsstiftung der Bewohner einer Stadt zu (so spricht Grünberg im Blick auf Hamburg bspw. von den Kirchtürmen als »Stadtkrone«66 und an anderer Stelle bezeichnet er solche Kirchen als »Symbolkirchen«67). Dieser Gedanke zieht sich gleichsam als ein roter Faden durch die Veröffentlichungen Grünbergs. Fazit: Der Ansatz Grünbergs ist richtungsweisend, denn Grünberg nimmt das urbane Umfeld in seiner Eigenlogik wahr und ernst und versucht mit dem
59 So ist das Buch durchzogen von Dichtungen zum Thema Stadt und urbanes Leben, vgl. u. a. aaO., 18.24–29.36.62.96.112. 60 Vgl. z. B. Die neue Rolle der Kultur, aaO., 104 f. 61 So z. B. in dem Aufsatz Die Großstadt als Lebensort und Lebensform, vgl. aaO., 25–35. 62 Vgl. aaO., 22 f. 63 AaO., 33. 64 Vgl. aaO., 33 f. »Ihnen [den exemplarischen Orten] kommt in der Stadtanalyse eine herausragende Bedeutung zu. Sie bergen das Gedächtnis, das Gewissen, die Hoffnungsenergien, aber auch die Leiden und Versäumnisse eines Gemeinwesens.« AaO., 33. 65 AaO., 34. 66 Vgl. aaO., 55 f. und 117. 67 Vgl. aaO., 193–199 und 224–226.
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Bemühen, eine Stadt zu lesen, diese zu verstehen und für kirchliches Arbeiten in der Stadt fruchtbar zu machen. Allein drängt sich der Eindruck auf, dass Grünbergs Interesse weniger darin besteht, die Strukturen und das Engagement der urbanen Gemeinde vom Kontext prägen zu lassen, als vielmehr die durch kirchliche Strukturen und Tradition bereits vorgegebenen Potentiale und Ressourcen zu entdecken und zu nutzen, anstatt diese ggf. anzupassen und neu zu formatieren. Zudem ist die missionarische Perspektive urbaner Gemeindeentwicklung und damit die Frage nach Wesen, Sendung und Auftrag urbaner Kirche bei Grünberg nicht umfassend reflektiert.
2.3 Harvey Cox und die Gefahr einer Überkontextualisierung68 Ein Entwurf, der allein aufgrund seiner breiten Rezeption von Bedeutung ist, ist das 1965 veröffentlichte Buch The Secular City. Secularization and Urbanization in Theological Perspective (deutsch: Stadt ohne Gott?) des US-amerikanischen Theologen Harvey Cox.69 Die Auflage von über einer Million verkauften Exemplare macht deutlich, dass dieses Buch für kirchlich-theologische Arbeit zur Stadt von enormer Bedeutung ist und weit über den US-amerikanischen Kontext hinaus Verbreitung gefunden hat.70 Neben der Rezeption ist es vor allem die besondere Form der Kontextualisierung, die das Buch heraushebt. Denn Cox nimmt den Kontext nicht nur als Rahmen wahr, in dem Gemeindeentwicklung geschieht, sondern er identifiziert die gesellschaftlichen Bewegungen (v. a. Säkularisierung und Urbanisierung) gleichsam mit dem Wirken Gottes in der Geschichte und vergleicht diese mit dem Reich Gottes.71 Cox denkt die zwei 68 Zum Begriff vgl. Keller 2014b, 89 ff. Die Formulierung umreisst die von Grethlein beschriebene Überbetonung der kontextuellen Dimension, vgl. Grethlein 2018a, 43 f. 69 Vgl. Greschat 1998, 94. 70 Zur deutschen Rezeption vgl. Borggrefe 1973. Vgl. auch Fitschen 2017, 210f und Zarnow 2018, 192–195. 71 Erwähnenswert ist, dass Cox in den Jahren 1984 und 1995 die hier entfaltete theologische Position in zwei Veröffentlichungen grundsätzlich überarbeitet hat und das Phänomen postmoderner Religiosität in einem neuen Licht betrachtet (Religion in the Secular City. Toward a Postmodern Theology von 1984 [Cox 1984] und Fire from Heaven. The Rise of Pentecostal Spirituality and the Reshaping of Religion in the Twenty First Century von 1995 [Cox 2007]). Er revidiert seine Säkularisierungsthese und beschreibt die Rückkehr des Religiösen in der säkularisierten Stadt. Das erneute Aufkommen von Religion in Amerika identifiziert er v. a. mit dem evangelikal geprägten Christentum Nordamerikas und dem befreiungstheologisch geprägten Christentum Lateinamerikas. Er erkennt, dass nicht die Säkularisierung an Kraft und Einfluss gewinnt, sondern die Spiritualität und eine Respiritualisierung stattfindet. Der Pfingstbewegung komme laut Cox eine besondere Rolle zu, da sie die spirituelle Leerstelle zu
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»epochalen Bewegungen« Säkularisierung und Urbanisierung eng zusammen und beschreibt Säkularisierung als die Befreiung des Menschen von Metaphysik und supranaturaler Mystik. Hier zeigt sich bereits ein Gedanke Cox’, der für das weitere Vorgehen bestimmend sein wird: Die Säkularisierung, die er (1960er Jahre) erlebt, sei nicht antichristlich, sondern antireligiös und damit biblisch sowie zutiefst christlich (Cox nennt die ersten Christen Säkularisierer). Sie ist also weder zu befürchten, noch zu kritisieren, sondern zu begrüßen. Der Mensch wende sich vom Jenseits ab und dem Diesseits zu. Die Geschichte werde »entfatalisiert« und der Mensch mündig.72 Der Kontext, in dem dies geschieht, ist Urbanisierung.73 Urbanisierung beschreibe nicht nur die räumlichen oder quantitativen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, sondern dessen Struktur und dieses Phänomen sei nicht auf Städte beschränkt. Besonders gekennzeichnet sei diese Struktur durch eine Funktionalität von Beziehungen, die als »Unpersönlichkeit«74 beschrieben werden kann. Zentral für Cox’ Entwurf ist der zweite Teil seines Buches Die Kirche in der säkularen Stadt.75 Ausgehend von der Frage: »Wie handelt Gott am Menschen im raschen sozialen Wandel?«76 identifiziert Cox die säkulare Stadt mit dem im Neuen Testament beschriebenen Reich Gottes, welches Inhalt der Verkündigung Jesu war.77 Er beschreibt die säkulare Stadt als »tragfähige Konkretisierung des alten Symbols vom Gottesreich«78 »als das Reich der Mündigkeit
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füllen vermöge, die die Säkularisierung der vorangegangen Jahrzehnte hinterlassen hat. Er bezeichnet die Pfingstler als »dritte Konfession« neben katholischer und protestantischen Kirchen. Cox beschreibt die Stadt als nicht zwingend religionsfeindlich und religionszersetzend, sondern ebenso als Ort neuer spiritueller Aufbrüche, der sich als höchst religionsaffin sowie religionsproduktiv darstellt. Vgl. Sievernich/Wenzel, 2013, 397–399 und Zarnow 2018, 192–195. Säkularisierung ist für Cox der Prozess des Mündigwerdens. Dabei unterscheidet er deutlich zwischen Säkularisierung und Säkularismus. Ersteres »meint einen geschichtlichen Prozess [sic], der so gut wie unumkehrbar ist und in dem Gesellschaft und Kultur von religiöser Kontrolle und metaphysischen Weltanschauungen befreit werden« (AaO., 31). Letzteres ist eine Ideologie — eine abgeschlossene Weltanschauung mit quasireligiösem Anspruch – der in jedem Fall gewehrt werden muss, vgl. aaO., 31.100. Vgl. Cox 1966, 36–93. AaO., 52. Vgl. aaO., 117 ff. AaO., 122. Vgl. aaO., 124–128. AaO., 128.
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und der Interdependenz […]«79.80 Bei der Beschreibung der Gestalt der Kirche in der säkularen Stadt, beschreibt Cox diese als »Avantgarde Gottes«81. Cox geht davon aus, dass zunächst geklärt werden müsse, wo Gott am Werk ist, damit die Kirche ihm darin nachfolgen kann und so ihre angemessene Gestalt gewinne. Klassisch benennt Cox die Aufgabe der Kirche als »die Fortsetzung des Dienstes Jesu«82 als Kerygma83, Diakonia84 und Koinonia85. Die Kirche sei darin Avantgarde, indem sie den Durchbruch der Herrschaft Gottes in Form dieser drei Funktionen aufzeige und gleichsam verkörpere. Unter der eigenwilligen Überschrift »Die Kirche als Exorzist der Kultur«86 führt Cox diese für die Kirche essentielle – da in Jesu Dienst zentrale – Aufgabe aus. Cox inhaltliche Klärung dessen, was er mit Exorzismus meint, macht deutlich, dass er im Grunde Exorzismus und Säkularisation gleichsetzt, da jener
79 AaO., 131. »Wo immer überlegte und greifbare Demonstrationen für die Wirklichkeit der Menschenstadt heute auftauchen, sind es Zeichen des Reiches.« (AaO., 163) »Jesus Christus begegnet seinem Volk nicht in erster Linie durch kirchliche Traditionen hindurch, sondern durch den sozialen Wandel. […] Kanon und Tradition dienen nicht als Quellen der Offenbarung, sondern als Vorläufer, mit deren Hilfe die gegenwärtigen Ereignisse als mögliche Orte des Handelns Gottes bestimmt werden können.« (AaO., 165). 80 Wie gelangt Cox zu diesem Schluss? Der Einsicht der neutestamentlichen Exegese folgend, wonach das Reich Gottes mit der Person Jesu identifiziert werden kann, schlussfolgert Cox, dass das Reich sowohl Gabe Gottes (vere deus) als auch Werk des Menschen sei (vere homo). Nach dem Konzil von Calcedon (451 n. Chr.) verbindet Jesus beide Naturen auf untrennbare Weise miteinander. Diese Untrennbarkeit entdeckt Cox in der Gestalt der säkularen Stadt ebenso. Einerseits scheine es, dass der Mensch frei handelt und gestaltet und dann wieder als ob er schlicht vom Strom der Geschichte mitgerissen werde – trotz aller gegenteiligen Versuche. Die säkulare Stadt sei nach Cox der Ort der Kooperation zwischen Gott und Mensch und der Mensch müsse hier die Verantwortung übernehmen, den »durcheinanderlaufenden Tendenzen seiner Zeit Orientierung zu geben.« (AaO., 127) Dieser Gedanke leitet sich aus Cox’ christologischer Vorstellung ab, dass die Gottheit Jesu dahingehend zu interpretieren sei, dass »er bereit war, Gottes Willen für sich anzunehmen und auszuführen.« (AaO., 126 f.) Ein weiteres Argument für die Identifizierung dieser beiden Größen miteinander ist, dass »[d]as Leben in der entstehenden säkularen Stadt […] dieselbe Art der Umkehr« (aaO., 127) verlange, wie das von Jesus verkündigte Reich Gottes. Die entstehende Technopolis fordere laut Cox einen ebenso radikalen Wandel des Denkens und Lebens wie der Einbruch des Reiches Gottes in diese Welt. Insofern könnten beide miteinander identifiziert werden. Zudem helfe diese Art der Buße laut Cox eine »moralistische Perversion von Buße loszuwerden und zu einer mehr biblischen Sicht zurückzufinden.« (AaO., 128) Zuletzt führt er als Argument ins Feld, dass der Charakter der Stadt als sich »entfaltende Wirklichkeit« dem Charakter des Reiches Gottes als einem sich realisierenden Prozess entspreche. 81 Vgl. aaO., 140–165. 82 AaO., 142. 83 Kerygma oder die Proklamation der Machtübernahme, vgl. aaO., 142–147. 84 Diakonia oder Heilung der zerbrochenen Stadt, vgl. aaO., 148–161. 85 Koinonia oder Die Stadt des Menschen sichtbar werden lassen, vgl. aaO., 161–165. 86 Vgl. aaO., 166–180.
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Menschen auffordert, ihren Blick von anderen (metaphysischen und religiösen) Welten abzuwenden und sich den konkreten Aufgaben dieser Welt zuzuwenden, in welcher allein der wahre Ruf Gottes gehört werden kann.87 Die Tendenz zur starken Identifikation von sozialen Prozessen mit göttlichem Handeln wird auch angesichts der Frage, wie »säkulares Reden von Gott«88 aussehen kann, deutlich. Cox konstatiert: Da der Begriff »Gott« durch den Verlust der metaphysischen Welt zweideutig bzw. missverständlich oder gar unverständlich geworden sei, müsse von Gott auf andere Art und Weise geredet werden.89 Die grundlegende Frage, wie der »urban säkulare Mensch[…] erreicht«90 werden kann, beantwortet Cox mit dem Hinweis auf politische Theologie. Denn Politik erfülle in der säkularen Welt den Zweck, den einst die Metaphysik hatte. Dieser bestehe darin, dass sie »Einheit und Sinn in menschliches Leben und Denken«91 bringt. Gott handele in der Welt politisch in dem Sinne, dass er das Leben menschlich macht und erhält und deshalb sei es Aufgabe der Theologie zu prüfen, was Gott in der Geschichte tat, um zu identifizieren, was er heute tut. Insofern sei politische Rede von Gott weltliche Rede von Gott und habe viele Gesichter. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: »Wo begegnet uns aber der transzendente Gott in der säkularen Stadt noch?«92 Cox entdeckt diese Begegnung mit Gott in den Prozessen sozialen Wandels.93 Fazit: Zu den Stärken des Ansatzes von Cox zählt zweifellos die präzise Wahrnehmung der urbanen Wirklichkeit und ihrer Dynamiken; jedoch erweist sich diese Stärke des Werks auch als dessen Schwäche, denn Cox identifiziert die Prozesse gesellschaftlichen Wandels zu unkritisch mit dem Handeln Gottes. Er deutet die dargestellten Prozesse theologisch und legitimiert sie dadurch, ohne 87 Vgl. aaO., 173–180. 88 Vgl. aaO., 259–288. 89 Kulturell geprägte Formen des Verstehens müssten überwunden und gleichsam der Kern – das, worum es bei der Rede von Gott geht – freigelegt und in ein neues sprachliches Gewand gehüllt werden. Die Versuche, der schwindenden Metaphysik durch eine Art ursprüngliche Mystik (Martin Heidegger) oder durch Existentialismus (Rudolf Bultmann) zu begegnen, lehnt Cox als unzureichend ab, soll die Theologie in »der gegenwärtigen Welt noch irgend etwas bedeuten« (aaO., 269). 90 AaO., 272. 91 AaO., 273. 92 AaO., 280. 93 Dort komme Gott laut Cox auf den Menschen zu. Der besondere Ort dieser Begegnung sei die Ich-Du-Beziehung – also die Begegnung mit anderen Menschen. Daraus schlussfolgert Cox, dass »Gott will, daß [sic] sich das Interesse des Menschen auf seinen Mitmenschen und nicht auf ihn richtet.« (AaO., 284) Da Gott nun in den unterschiedlichen Situationen der Geschichte so verschieden handelte, dass es stets eines neuen Namens bedurfte, um ihn zu beschreiben, könne es nun möglich sein, dass auch in der gegenwärtigen Zeit ein neuer Name für Gott nötig wird, um zu beschreiben, was er tut. Solange dieser aber nicht gefunden ist, wäre aber besser, einfach keinen zu gebrauchen.
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sie ernsthaft zu hinterfragen und gegebenenfalls vom Evangelium her zu kritisieren. Eine Identifikation dieser Geschehnisse mit göttlichem Wirken macht eine Kritik aber unmöglich. Mag dieses Vorgehen ein hohes Maß an Adaptionsfähigkeit besitzen, so ist es theologisch dennoch schwierig, da es eine faktische Ineinssetzung von Göttlichem und Irdischem bedeutet. Dazu hat die Barmer Theologische Erklärung94 in These 1 folgendes festgehalten: »Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.«95 Die Position von Cox widerspricht den reformatorischen Prinzipien des solus Christus und der sola Scriptura. Sie droht die Offenbarung Gottes in Christus in ihrer Einmaligkeit zu relativieren und in ihrer Klarheit zu verdunkeln. Zudem läuft sie Gefahr eine Quelle der Offenbarung neben dem biblischen Kanon zu eröffnen.96 So dient der Entwurf von Cox zur Abgrenzung gegenüber einer solchen Kontextualisierung, die dem Kontext insofern unangemessen ist, als dass sie diesen überbewertet. Mit Timothy Keller kann der Ansatz von Cox als »überkontextualisiert« beschrieben werden, da er dazu tendiert, die Inhalte des christlichen Glaubens im Kontext aufzulösen.97
94 Zur Synode von Barmen vgl. Kaiser 2007, 225–230 und Leonhardt 2009, 99–102. 95 Nicolaisen 2009, 37. 96 Vgl. dazu auch Lange 1981, 160–176 und aus katholischer Perspektive vgl. Altbach 2013, 151– 156. 97 An dieser Stelle helfen Ausführungen des mexikanischen Theologen Federico Altbach weiter. Ausgehend von Mt 16,1–3 par. führt Altbach aus, dass es Aufgabe der Kirche sei, die Zeichen der Zeit als messianische Zeichen des Kommens von Gottes Reich zu deuten: »Die Kompetenz zur Entscheidung über die richtige Interpretation der Zeichen der Zeit steht der ganzen Kirche, dem mit dem Licht des Heiligen Geistes erleuchteten Volk Gottes zu.« (Altbach 2013, 153) Dabei warnt er vor einer naiven Ineinssetzung von Irdischem und Göttlichem. Unter Betonung der Zweideutigkeit der Geschichte betont Altbach, dass das »schlechthinnige Zeichen der Zeit« Jesus Christus selbst ist. Das heißt nun aber nicht, dass Gott nicht auch nach Christus noch in der Geschichte wirkte und bis heute wirkt. Insofern beschreibt Altbach die Aufgabe der Kirche in der Stadt wie folgt: »Der Auftrag der Kirche in der Stadt besteht nicht darin, den Aufbau der Gesellschaft mit politischen Mitteln zu fördern. Sie steht aber als Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt vor der Aufgabe, durch die Verkündigung des Evangeliums und die daraus resultierende notwendige Praxis für die Verteidigung und Beförderung der integralen Würde jeder Person Sorge zu tragen. Die Aktualität des Evangeliums bleibt in beständigem Dialog mit den existentiellen Fragen der Menschen, die in jeder Kultur auf eine spezifische Weise gestellt werden.« (AaO., 155) Die Kirche kann die Errungenschaften der Zivilisation loben und würdigen und muss dennoch darauf hinweisen, dass eine endgültige Erlösung, »die nur durch Christus in der Kraft des Heiligen Geistes empfangen werden kann« (ebd.), auf diesem Wege niemals zu erreichen ist.
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Auf die Forderung Grünbergs nach einer Stadthermeneutik und der Warnung durch den Entwurf von Cox, stellt der nun folgende dritte Entwurf von Timothy Keller eine Art Brückenschlag zwischen Evangelium und Kontext dar, welcher explizit darum ringt, beide Größen möglichst exakt zu beschreiben und diesen je für sich und in Bezug aufeinander gerecht zu werden, indem sie miteinander verschränkt, ohne jedoch ineinander aufgelöst zu werden.
2.4 Timothy Keller und die Balance zwischen Evangelium und Kontext Der US-amerikanische Theologe und Pastor Timothy Keller befasst sich seit vielen Jahren in Theorie und Praxis mit urbaner Gemeindeentwicklung. Sein Opus Magnum stellt dabei das Buch Center Church98 dar, in welchem er Fragen einer sowohl dem Evangelium als auch der Stadt angemessenen Form von Gemeindeentwicklung nachgeht. Dabei ist der Titel des Buches paradigmatisch: Eine Gemeinde/Kirche müsse zentral ausbalanciert sein zwischen den Größen Evangelium und Kontext. Eine Gemeinde sei gleichsam zwischen diesen zwei Brennpunkten lokalisiert und müsse beiden gerecht werden. Keller warnt davor, dass eine Gemeinde sich lediglich einseitig verortet – sie also entweder theologisch reflektiert, aber der Kultur gegenüber indifferent, oder aber kulturell sensibel, jedoch theologisch unprofiliert ist. Ferner entdeckt Keller eine Gefahr darin, dass eine Gemeinde andere Konzepte schlicht kopiert und diese unverändert in einen neuen Kontext übernimmt, ohne dass diese für ein neues Umfeld passend sind.
2.4.1 Evangelium Das Evangelium beschreibt Keller in einem Dreischritt so: 1. Das Evangelium ist eine gute Botschaft – nicht ein guter Ratschlag 2. Das Evangelium ist die gute Botschaft unserer Rettung 3. Das Evangelium ist die gute Botschaft davon, was Jesus getan hat, um uns mit Gott zu versöhnen.99 Es handelt sich beim Evangelium also zuallererst um eine Benachrichtigung und nicht um eine Handlungsanweisung. Es gehe primär nicht darum, was jemand tun soll, sondern darum, dass etwas getan worden ist. Dabei will Keller klar unterscheiden zwischen dem Evangelium an sich und dessen Folgen und Auswirkungen. Er warnt vor einer Vermischung oder Verwechslung, die letztlich zu einem Synergismus führe.
98 Vgl. Keller 2014b. 99 Vgl. Keller 2014b, 29.
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Insofern identifiziert Keller Gesetzlichkeit (Moralismus) und Antinomismus (Relativismus) als die beiden »Feinde« des Evangeliums. Stattdessen müssen gute Werke und ein verändertes Leben als Folge des Evangeliums mit diesem verbunden und aus diesem abgeleitet werden – man darf sie weder voneinander trennen noch vermischen.100 Summa: »The gospel is neither religion (legalism) nor irreligion (relativism), but something else entirely – a third way of relating to God through grace.«101 Keller schlussfolgert: »Because the gospel is endlessly rich, it can handle the burden of being the one ›main thing‹ of a church.«102 (siehe auch § 10 Abs. 5.1 bis 5.2.1).
2.4.2 Kontextualisierung Keller betont, dass mit Kontextualisierung keinesfalls gemeint sei, dass die Kirche das zu bezeugende Evangelium dem Kontext anpasst, sondern, dass sie die Art der Kommunikation des einen und unveränderlichen Evangeliums der jeweiligen Situation anpasst. Ziel dessen sei, dass das Evangelium besser kommuniziert werden kann und Menschen mit Glauben darauf antworten. Er definiert Kontextualisierung hinsichtlich urbaner Gemeindeentwicklung so: »[I]t is giving people the Bible’s answers, which they may not all want to hear, to questions about life that people in their particular time and place are asking, in language and forms they can comprehend, and through appeals and arguments with force they can feel, even if they reject them.«103 Dabei sei Kontextualisierung keineswegs als »Einbahnstraße« gedacht, sondern mit einer Metapher John Stotts104 als eine Two-Way Bridge105, auf der es einen Austausch von Erfahrungen, Begrifflichkeiten und Sprachspielen106 sowie kulturellen Eigenheiten gebe. Die Chance von Kontextualisierung als wechselseitigem Austausch sei eine doppelte: Erstens helfe sie, die jeweilige Kultur, in die das Evangelium hinein kommuniziert werden soll, zu verstehen. Zweitens diene sie dazu, die kulturell bedingte Begrenzung und Verengung der eigenen Wahrnehmung des Evangeliums zu erkennen und eine Erweiterung der eigenen Erkenntnis zu
100 Vgl. aaO., 30 ff. 101 Keller 2014b, 27. 102 AaO., 35. 103 Keller 2014b, 91. Hervorhebung im Original. 104 Vgl. Stott 1982. 105 Vgl. auch Herbst 2014, 126. 106 Vgl. Clausen 2010, 148 ff.
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ermöglichen.107 »Because of our cultural blinders, we must not only speak to the people over the bridge; we must listen to them as well.«108 Somit profitierten alle Beteiligten von gelungener Kontextualisierung in der Kommunikation des Evangeliums. Unter der Überschrift Balanced Contextualization109 macht Keller im Anschluss an Stott deutlich, dass eine Predigt weder eine »bridge to nowhere« noch eine »bridge from nowhere« sein dürfe, sondern eine angemessene Kommunikation des Evangeliums immer in zwei Richtungen geschehe: vom Prediger zum Hörer und umgekehrt. Ein Feedback aus der adressierten Kultur korrigiere denjenigen, der das Evangelium ausrichtet und helfe ihm, eigene Missverständnisse zu erkennen und zu korrigieren: Dieser Austausch bewahre vor Reduktionismus. Dieses Vorgehen trägt der Einsicht Rechnung, dass keine Person oder Kultur eine einwandfreie und unverfälschte Einsicht in das Evangelium habe. Ferner sei dies die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass das Evangelium jede Kultur sowohl herausfordert als auch korrigiert. Für Keller komme der Bibel eine übergeordnete Autorität zu (sola scriptura) und somit gehe es nicht darum, die Bibel, sondern das je eigene (kulturell geformte) Verständnis der Bibel zu korrigieren. Laut Keller vermeide eine balanced contextualizaion zwei Extreme: kulturellen Fundamentalismus (die Vorstellung, dass man die Bibel »kulturfrei« lesen und auslegen könne) und kulturellen Relativismus (die Bibel hat keinen anderen Sinn als denjenigen, der in der je aktuellen Kultur zulässig ist).110 Keller nennt zwei Fehlformen von Kontextualisierung: Über- oder Unterkontextualisierung. Der Kontext werde also entweder überbewertet oder ignoriert.111 Deshalb müsse sich Gemeindeentwicklung um eine angemessene Form von Kontextualisierung bemühen, 107 Vgl. Keller 2014b, 100–104 und Herbst 2014, 126 f. Peter Haigis schreibt: »Entgegen jedem falschen ›Suprakulturalismus‹, der wahre Offenbarung kulturellen Bedingungen zu entziehen versucht, muß [sic!] Offenbarung stets als kulturell vermittelt angesehen werden.« (Haigis 2008, 1826). 108 Keller 2014b, 100. 109 Vgl. aaO., 100–103. 110 Vgl. Kellers Bemühen um eine Biblical Contextualization anhand von Röm 1–2, 1Kor 9 und 1Kor 1, vgl. aaO., 105–108. 111 Vgl. dazu aaO., 91 ff. Dazu schreibt Newbigin: »Die christliche Theologie ist eine Form rationalen Diskurses, die sich innerhalb der Gemeinschaft entwickelt, die die Vorrangstellung dieser Botschaft anerkennt und die im Einklang mit dieser Geschichte aktiv in der Welt leben will. Die Gemeinschaft kann scheitern, wenn sie die Welt, in die sie gesetzt wurde, nicht versteht und nicht ernst nimmt, sodass das Evangelium nicht gehört wird, sondern unverständlich bleibt, denn die Kirche hat in der eigenen Vergangenheit Sicherheiten gesucht, anstatt ihr Leben in einer innigen Verbindung mit der Welt zu riskieren. Sie kann andererseits auch scheitern, wenn sie zulässt, dass die Welt die Themen und Bedingungen des Zusammentreffens diktiert. Denn dann wird die Welt nicht im Ganzen herausgefordert, sondern nimmt stattdessen das Evangelium selbst ganz in Anspruch und benutzt es, um ihre eigenen Zwecke zu heiligen.« Newbigin 2017, 175 f.
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die Keller sound contextualization nennt. Diese müsse – um des Evangeliums und der Menschen willen –unnötige (v. a. kulturelle) Barrieren beseitigen, ohne jedoch das Evangelium in seinem Anspruch und seinem Anstoß zu nivellieren und es in der jeweiligen Kultur aufzulösen.112 Keller sucht dogmatisch reflektierte Inhalte mit kultureller und lebensweltlicher Relevanz zu verbinden. Andernfalls werde eine Gemeinde nicht fruitful113 sein. Er betont besonders die kulturelle Relevanz, da laut Kellers sehr umfassendem Kulturverständnis114 Kultur jeden Bereich des Lebens berühre: »Culture affects every part of human life.«115 Diese umfassende Sicht auf Kultur116 bedeute, dass mit Kontextualisierung des Evangeliums in einer bestimmten Kultur nicht nur oberflächliche Adaption externer kultureller Äußerungen gemeint ist (Kleidung, Musik etc.) sondern, dass eine Adaption und Inkulturation alle Ebenen betreffe, z. B. Weltanschauung, Werte, gesellschaftliche Institutionen (Jurisprudenz, Bildung, Familie) aber auch die Art, wie Entscheidungen getroffen oder Gefühle ausgedrückt werden (menschliches Verhalten insgesamt), was als privat und was als öffentlich definiert wird usw. Kontextualisierung ziele demzufolge nicht nur darauf ab, das Verhalten eines Menschen zu ändern, sondern seine Weltanschauung. Ernstpeter Maurer definiert Inkulturation so: »Es geht nicht um Anpassung an vorgegebene Kultur, auch nicht um deren Zerstörung, sondern um die Durchdringung jeder Kultur vom Evangelium her.«117
112 Vgl. Keller 2014b, 91–99 und 114–125. 113 Keller warnt davor, die Arbeit einer Gemeinde unter den Gesichtspunkten faithful oder successful zu bewerten. Er plädiert für eine dritte Kategorie, welche die beiden Begriffe verbindet und so unsachgemäße Einseitigkeiten vermeidet: fruitful. In diesem Begriff finde sich laut Keller die angemessene Balance zwischen menschlich-theologisch-handwerklicher Verantwortung und göttlichem Handeln, vgl. aaO., 15 ff. 114 Zur Kultur s. o. § 2 Abs. 2.0. 115 Keller 2014b, 91. 116 In (einer grundsätzlichen) anthropologischen Beschreibung »bezeichnet ›Kultur‹ alle menschlichen Hervor-bringungen, im Unterschied zu natürlich Entstandenem. Der Gegensatz von Kultur und Natur hebt grundlegende Gemeinsamkeiten aller menschlichen Lebensformen im Gegensatz zu den Tieren hervor; Kultur nimmt dann die Stelle der beim Menschen nur schwach ausgebildeten Instinkte ein (J. G. Herder).« Schrage 2014, 254. Keller unterscheidet ebenfalls zwischen einem engeren und einem weiteren Kulturbegriff: »Culture is popularly conceived narrowly – as language, music and art, food and folk customs – but properly understood, it touches every aspect of how we live in the world. Culture takes the raw materials of nature and creates an environment. When we take the raw material of the earth to build a building or use sounds and rhythms to compose a song or fashion our personal experiences into a story, we are creating an environment we call a culture. We do all this, however, with a goal: to bring the natural order into the service of particular ›commanding truths‹, core beliefs, and assumptions about reality and the world we live in.« Keller 2014b, 92. 117 Maurer 2003, 98.
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Die Bereitschaft und Fähigkeit zu Kontextualisierung betrachtet Keller als eine Schlüsselkompetenz für eine erfolgreiche urbane Gemeindeentwicklung: »Skill in contextualization is one of the keys to effective ministry today.«118 Somit ist für Keller klar, dass Kontextualisierung unvermeidlich119 sei, denn es gebe keinen kontextfreien Raum, in dem das Evangelium verkündigt wird (bereits der Gebrauch von Sprache ist eine Form von Kontextualisierung120) – dabei verschweigt er jedoch nicht die Schwächen und Gefahren.121 Keller warnt vor der Gefahr nicht zu kontextualisieren bzw. zu denken, man würde dies nicht tun.122 Deshalb plädiert er für eine Kontextualisierung, die bewusst geschieht und nicht dem Zufall überlassen wird: »We should not only contextualize but also think about how we do it.«123 Denn: Keller geht von der Annahme aus, dass Gemeindeentwicklung (bewusst oder unbewusst) immer kontextualisiert geschehe. Umso intentionaler – und somit aktiv und reflektiert – dies geschehe, desto angemessener könne dieser Prozess stattfinden. Die Angemessenheit bezieht sich auf das Verhältnis von Evangelium und Kultur124: »If we fail to adapt to the culture or if we fail to challenge – if we underor overcontextualize – our ministry will be unfruitful because we have failed to contextualize well.«125 Deshalb empfiehlt er eine practical, active contextualization, welche jeden Schritt bewusst, initiativ, einfallsreich und kühn geht. Drei Schritte stellt Keller vor: a) entering the culture b) challenging the culture und c) appealing to the listeners.126
118 Keller 2014b, 92. 119 Vgl. aaO., 94–96. 120 Neben Sprache, Gefühlen und Narrationen verortet Keller Kontextualisierung auch auf dem Feld von Argumentation, Erörterung und Schlussfolgerung. 121 Vgl. aaO, 93 f. 122 Andreas Feldtkeller schreibt dazu: »Ausformulierungen von Theologie unterscheiden sich stark im Grad der Bewusstheit, mit der sie Kontextualität explizit thematisieren und aktiv gestalten, aber es gibt keine Theologie, die nicht kontextuell wäre – die nicht genau die ihr eigene Gestalt deswegen hätte, weil sie in einen ganz bestimmten historischen, sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Kontext gehört. Selbst die Schriften des Neuen Testaments sind kontextuell – die Gestalt, in der uns das Evangelium von Jesus Christus vorliegt: ihre Sprache ist eine Form des Griechischen, die für die christliche Mission im östlichen Mittelmeerraum geschrieben ist. Die Bilder der Evangelien sind entlehnt aus der Lebenswirklichkeit im Palästina des 1. Jh. n. Chr., und die Bruchlinien von Konflikten werden bestimmt durch die politische Situation zwischen römischem Weltreich, herodianischer Lokalpolitik und griechischen Pólis. So weit wir dem Neuen Testament etwas über das Verhältnis zwischen christlichem Glauben und anderen Religionen entnehmen können, bezieht es sich auf die religiöse Landschaft des hellenisierten Vorderen Orients.« Feldtkeller 2008, 36. 123 Keller 2014b, 97. 124 Zu einer möglichen praktisch-theologischen Perspektive auf das Thema Kultur vgl. Gräb 2008. 125 Keller 2014b, 91. 126 Vgl. aaO., 114–125.
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Fazit: Kellers Entwurf leistet einen wichtigen Beitrag zu den Themen Kontextualisierung und urbane Gemeindeentwicklung. Dies liegt zunächst an seinem Bemühen, den Kontext möglichst exakt zu untersuchen, zu beschreiben und somit zu erschließen. Zudem macht Kellers Darstellung des Evangeliums klar, dass der Kirche eine besondere Aufgabe in der Kommunikation des Evangeliums als Botschaft der Rettung und des Heils zukommt. Adressaten der Botschaft sind dabei sowohl die Gemeinde selbst, die gewissermaßen einer steten Neuevangelisation (gospel renewal) bedarf, als auch der die Gemeinde umgebende Kontext. Dabei ist nicht nur an diejenigen gedacht, die bereits zur Kirche gehören, sondern die Gemeinde weiß sich zu allen Menschen gesandt und verpflichtet, das Evangelium mit allen Menschen zu teilen und möglichst viele mit der evangelischen Botschaft in Kontakt zu bringen. Das Resultat ist ein andauerndes und unermüdliches Ringen um ein angemessenes Verständnis des Evangeliums einerseits und ein ebenso intensives Bemühen um eine kontextsensible Kommunikation dessen andererseits. In seinem Kommentar zu Kellers Kontextualisierungsansatz stellt Michael Herbst127 kritische Fragen an die Übertragbarkeit für den deutschen Kontext128 – besonders im Blick auf den stark säkularisierten und postchristlichen ostdeutschen Kontext.129 Diese Anfrage ist insofern wichtig, als dass deutsche Städte stärker als ländliche Räume von Säkularisierung betroffen sind (siehe § 12 Abs. 4) und hinsichtlich Kirchenmitgliedschaft und Gottesdienstbesuch durchaus mit dem ostdeutschen Kontext vergleichbar sind.130 Insofern ist Herbst Anfrage an Kellers Konzept auch für urbane Gemeindeentwicklung wichtig. Kellers US-amerikanischer Kontext ermöglicht offensichtlich das Anknüpfen an einen wie auch immer gearteten Glauben, an eine höhere Macht bzw. ein Grundwissen über den christlichen Glauben, um eine gemeinsame Basis an Überzeugungen zu sichern. Ob dies angesichts einer weit vorangeschrittenen Säkularisierung in vielen deutschen Städten möglich ist, ist mindestens fraglich.
127 Vgl. Herbst 2014. 128 V.a. hinsichtlich der Ausführungen zu sog. A-Beliefs und B-Beliefs sowie A-Doctrines und B-Doctrines, vgl. Keller 2014b, 114 ff. 129 Vgl. Herbst 2014, 129–131. 130 Vgl. Grethlein 2016, 6 und 392f sowie Henkel 2001, 107–110. »Die städtischen Räume sind diejenigen Räume mit den niedrigsten Werten, [mit dem Indikator Gottesdienstbesuch gemessene Kirchlichkeit] während in den ländlichen Gebieten die Kirchlichkeit stärker ist. Dies ist einmal auf der Ebene der Landeskirchen zu beobachten, kann aber auch auf der Ebene der Kirchenbezirke bzw. -kreise am Beispiel der Landeskirchen von Baden, dem Rheinland und Hannover nachgewiesen werden. Hier schlägt sich die geringere Kirchenbindung in den großstädtisch geprägten Räumen nieder, die schon beim Austrittsverhalten beobachtet wurde und die auch deutlich durch Umfragen über die Einstellung zur Kirche belegt werden kann.« Henkel 2001, 108. Für die katholische Kirche vgl. aaO., 61–63.
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Der schottische Theologe und indische Bischof Lesslie Newbigin fasst das Bemühen um Kontextualisierung im Bezug auf den Ort dieses Bemühens folgendermaßen zusammen: Die richtige Kontextualisierung gewährt dem Evangelium seine rechtmäßige Vorrangstellung und seine Vollmacht, jede Kultur zu durchdringen und in allen Kulturen in ihren eigenen Sprachen und mit den eigenen Symbolen das Wort zu sprechen, das sowohl Nein als auch Ja, sowohl Gericht als auch Gnade ist. Und das geschieht nur, wenn das Wort nicht ein körperloses Etwas ist, sondern von einer Gemeinschaft kommt, die die wahre Geschichte Gottes in einem Lebensstil verkörpert, der sowohl von der Gnade als auch vom Gericht spricht. Damit die Gemeinschaft das tun kann, muss sie sowohl wirklich lokal als auch wirklich ökumenisch sein. Wirklich lokal in dem Sinn, dass sie Gottes Wort der Gnade und des Gerichts für das Volk vor Ort verkörpert. Wirklich ökumenisch in dem Sinn, dass sie offen für das Zeugnis der Kirchen an allen anderen Orten ist. Somit ist die Gemeinschaft davor bewahrt, von der Kultur dieses Ortes verschluckt zu werden, und befähigt, diesem Ort die Universalität und das Allumfassendste von Gottes Ziel der Gnade und des Gerichts für die ganze Menschheit aufzuzeigen.131
2.5 Kontextualisierung angesichts sozialer Entmischung Die von Timothy Keller als »Schlüsselkompetenz« beschriebene Kontextualisierung erweist sich hinsichtlich der vielfältig entmischten städtischen Räume als notwendig. Entmischung ist kein rein räumlicher, sondern auch ein sozialer Vorgang, der das soziale Miteinander, die Art der Kommunikation, die kulturellen Äußerungen etc. beeinflusst. Eine angemessene Kontextualisierung fördert dabei die Bereitschaft, sich auf bestimmte Kontexte, Milieus und Subkulturen einzulassen und bewahrt zugleich vor der Gefahr einer Anpassung des Evangeliums an den Kontext. Folgende Merkmale zeichnen eine angemessene Kontextualisierung aus: • Sie ringt im ökumenischen Austausch um ein möglichst exaktes Verständnis des Evangeliums und dessen Implikationen für den vorfindlichen Kontext. Sie tut dies im Wissen um ihre eigene kulturelle Bindung. • Sie bemüht sich um eine möglichst exakte Wahrnehmung, genaue Kenntnis und zutreffende Beschreibung des (urbanen) Sozialraums. Dabei bedient sie sich aller möglichen Hilfe durch jene, die in diesem Sozialraum tätig
131 Newbigin 2017, 176.
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sind, ihn erforschen und sich um diesen bemühen (z. B. durch die Methoden der Funktions- und Sozialraumanalyse132, der Triangulation133 oder des Virtual Urban Walk 3D134). • Sie deutet die Kultur vom Evangelium her und unterscheidet zwischen solchen kulturellen und sozialen Formen, die mit dem Evangelium vereinbar und solchen, die es nicht sind.135 Besonders angesichts des oben beschriebenen Phänomens sozialer Entmischung wird deutlich, dass sich Städte zunehmend weiter ausdifferenzieren und einem steten Wandel unterliegen, welcher die Unübersichtlichkeit und Pluralität eher wachsen als schrumpfen lässt. So entstehen neue Sozialräume, die Subkulturen herausbilden, welche sich ständig wandeln und nie wirklich »fertig« sind. Man kann angesichts dieser Prozesse zwei Ebenen von urbaner Gemeindeentwicklung als Kontextualisierung beschreiben: a) Kontextualisierung als grundsätzliche Haltung und b) Kontextualisierung als aktive Bemühung.
2.6 Kontextualisierung als grundsätzliche Haltung Kontextualisierung als Haltung ist die Voraussetzung und Grundlage für diese Schlüsselkompetenz einer urbanen Gemeindeentwicklung. Diese Haltung entspricht der missio Dei, da sie von den Menschen her denkt, zu denen die Kirche 132 Zum Begriff »Sozialraum« s. o. § 1 Abs. 1 FN 27. »Die Funktions- und Sozialraumanalyse ist ein möglicher Zugang, die Nutzungen und die Alltagsqualitäten für die Menschen in einer Stadt sichtbar zu machen.« (Damyanovic et al. 2018, 198). Vgl. Damyanovic et al. 2018, besonders 200 f. Weiterführend vgl. Spatschek/Wolf-Ostermann 2016: Sie unterscheiden drei Varianten von Sozialraumanalysen: Problem- und Ressourcenanalysen, Konzeptentwicklung und Praxisforschung, vgl. aaO., 25–33. Sie unterscheiden qualitative Verfahren (u. a. Stadtteilbegehungen, Befragung von Schlüsselpersonen, Cliquenraster, Institutionsbefragungen –vgl. aaO., 40–100) und quantitative Verfahren (Sekundärdatenanalyse, Beobachtungen, Befragungen – vgl. aaO., 101–126) zur Erhebung sozialräumlicher Daten. Zur Wahl der Methoden betonen sie: »In ein Design einer Sozialraumanalyse können sehr unterschiedliche Erhebungsmethoden einbezogen werden. Mit der Erhebungsmethode wird immer auch der zu betrachtende Gegenstand, der Ausschnitt eines bestimmten Blickwinkels und eine bestimmte Art und Weise der Betrachtung mit festgelegt. Aus diesem Grund sollten die Erhebungsmethoden sorgfältig und begründet ausgewählt werden. Als Grundsatz gilt hierbei stets: Die Fragestellung bestimmt die Methode.« (AaO., 37). Vgl. auch https://www.sozialraum.de/methodenkoffer/ (aufgerufen am 6.12.2018). 133 Vgl. Texier-Ast 2018, 125–128 und 131. 134 Vgl. Müller/Müller 2018, besonders 141 ff. 135 Ein passendes Beispiel ist der Streit um Annahme bzgl. Ablehnung des indischen Kastenwesens durch christliche Missionare und einheimische Christen, vgl. Newbigin 2017, 164 f.
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gesandt ist und die Bereitschaft Gottes, sich in Christus auf diese Welt einzulassen, widerspiegelt (vgl. Joh 1,1ff Phil 2,5ff). Sie ist Ausdruck einer Bemühung um die Menschen, zu denen Gott die Gemeinde sendet. Diese Haltung beinhaltet die Bereitschaft, eigene Traditionen, Strukturen sowie Formen zu relativieren und dem Ziel, das Evangelium zu kommunizieren, unterzuordnen.136 Ist eine strukturelle Festlegung eher Hemmnis als Hilfe zur Wahrnehmung bzw. zum Verständnis des Evangeliums, dann muss diese Festlegung hinterfragt und ggf. geändert werden. Teil dieser Haltung ist zudem das Bewusstsein, dass das Evangelium von Jesus Christus nicht inhaltsleer oder beliebig ist, sondern zur Umkehr ruft und den Anspruch auf Gehorsam und Nachfolge Christi erhebt (vgl. Barmen II).137 Sich um die beiden Größen Kontext und Evangelium zu bemühen, ist die Beschreibung von Kontextualisierung als grundsätzlicher Haltung – sowohl einzelner Christen und Gemeinden sowie der Kirche als ganzer. Sie ist zudem eine Haltung kirchentheoretischer Arbeit und Reflexion, um die sich die vorliegende Arbeit bemüht.
2.7 Kontextualisierung als aktive Bemühung Zur Kontextualisierung als Haltung muss Kontextualisierung als aktive Bemühung um einen spezifischen Sozialraum (vor allem seiner Bewohner) treten. Bei diesem Aspekt handelt es sich primär um Kenntnisse und Fähigkeiten, welcher es bedarf, um angemessen zu kontextualisieren. Dabei sind sowohl theologische und hermeneutische als auch soziologische und kulturhermeneutische Kompetenzen nötig. Zudem ist Fähigkeit nötig, sich sowohl ein objektives als auch ein subjektives Bild des Sozialraums zu machen. Dazu gehört der Zugang zu Wissen, Daten, intersubjektiver Erfahrung u. ä. Außerdem sind Gebet und die Gabe der Geisterunterscheidung Aspekte dieses Vorgehens. Um der Sendung Gottes und um der Menschen willen bemüht sich 136 Vgl. dazu Moynagh 2012, 181–193. 137 Dazu der anglikanische Report Mission-shaped Church: »Eine Kirche, die dem menschgewordenen Christus nachfolgt, wird sich – mit Hilfe des Heiligen Geistes – beide Seiten seines Wesens zum Vorbild nehmen: seine Identifikation mit seiner Kultur, die aus seiner Liebe geboren war, aber auch seine kritische, ja konterkulturelle Haltung gegenüber seiner Kultur, die ihn teuer zu stehen kam. Jesu Ankündigung und Verheißung des Reiches Gottes kann nicht losgelöst werden von seinem Aufruf zur Buße, die als ›Eintrittspreis‹ zu zahlen ist. Die Kirche ist dazu berufen, Jesu Beispiel zu folgen, d. h. sich aus Liebe mit denen zu identifizieren, zu denen sie gesandt ist, und ein Beispiel für das Leben zu geben, dem sich Menschen in der Umkehr zuwenden. Ansonsten ist der Aufruf zur Buße lediglich ein moralisches Anhängsel.« Herbst 2006a, 166.
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urbane Gemeindeentwicklung darum, den beiden Größen Evangelium und Stadt in einer fruchtbaren Spannung möglichst gerecht zu werden und diese aufeinander zu beziehen. Insofern ist eine urban formatierte bzw. stadtbewusste Gemeindeentwicklung als Haltung und als aktive Bemühung selbst (Ausdruck von) Kontextualisierung.
2.8 Bündelung Ausgehend von Wolfgang Grünbergs Forderung einer Stadthermeneutik und vor dem Hintergrund des Problems einer Überkontextualisierung bei Harvey Cox, schließt sich die vorliegende Arbeit dem Modell zur Kontextualisierung von Timothy Keller an und sucht in ihrer Methode, ihrem Aufbau und ihren Folgerungen dem Anspruch einer zwischen Evangelium und Stadt ausbalancierten und darin angemessenen Form von Kontextualisierung für urbane Gemeindeentwicklung gerecht zu werden. Dies geschieht einerseits in dem Bewusstsein, dass die Bereitschaft, den urbanen Kontext zu verstehen und sich auf seine Bedingungen und Logiken einzulassen, bereits Ausdruck einer Teilhabe an der missio Dei ist. Andererseits postuliert die vorliegende Arbeit mit diesem Vorgehen die Annahme, dass urbane Gemeindeentwicklung selbst schon eine Form von Kontextualisierung darstellt. Die sich nun anschließende sehr umfangreiche Darstellung des urbanen Raums sowie des (urbanen) Phänomens sozialer Segregation ist Ausdruck einer umfassenden Bemühung den Kontext von urbaner Gemeindeentwicklung zu erfassen, zu analysieren und dessen Dynamiken verstehen. Dies ist die Voraussetzung dafür, Formen Ausdrucksformen von Kirche zu entwickeln, die der Stadt und den Städtern entsprechen und einer gelingenden Kommunikation des Evangeliums dienen. Dieses Vorgehen ist bereits Ausdruck der skizzierten Einsicht, dass man einem Kontext nur gerecht wird, wenn man sich darum bemüht, diesen zu erfassen, zu durchdrungen und zu analysieren. Dies orientiert sich an dem Ziel, den Kontext mit seinen Dynamiken, Potentialen und Herausforderungen zu verstehen.
»Stellen Städte mehr oder weniger große, mehr oder weniger klar abgegrenzte, mehr oder weniger fragmentierte, in jeden Fall aber auf der Erdoberfläche verortbare räumliche Entitäten dar? Oder interessieren an Städten nicht vielmehr ihre sozialen Qualitäten, die dort herrschenden Lebensweisen, die im Zuge der Verstädterung und Urbanisierung des Globalen Nordens ubiquitär geworden sind und die Städte zu den Laboratorien der Moderne schlechthin gemacht haben?«1 Julia Lossau
Kapitel II: Der Kontext urbaner Gemeindeentwicklung: Stadt und soziale Segregation Einleitung Den Einsichten des sog. Spatial Turns2 (zu ähnlichen Beobachtungen vgl. die Eigenlogik3 der Städte) folgend, geht die vorliegende Dissertation von der Annahme aus, dass die Stadt sowohl ein geographisch4 umrissener, abgrenzbarer 1 Lossau 2012, 91. 2 Vgl. Lossau 2012, 185–195, Steets 2008, 393f; Berking 2008, 118ff und ausführlicher s. u. § 5 Abs. 4. Jan Hermelink entdeckt in der Regionalisierung ebenfalls eine Gegenbewegung zur Globalisierung, vgl. Hermelink 2012, 52 f. Zum urbanen Raum vgl. auch Sellmann 2006, 1–4. 3 Vgl. Berking/Löw 2008b, Löw 2011 und zusammenfassend Frank 2012, 289–309. Dazu Martina Löw: »Als Soziologin jedoch kann ich den Sinn, den Menschen der jeweiligen Stadt in ihren Handlungen geben, deuten: Und zwar auf beiden Ebenen: als Sinngewebe dieser Stadt und als ausdifferenzierte Deutungen nach sozialen Gruppen. Insofern fehlt der Stadtsoziologie ein Baustein der Theoriebildung, wenn sie in erster Linie entweder Aussagen über die Stadt an und für sich im gesellschaftlichen Ganzen oder über Milieus in Städten trifft« (Löw 2011, 60 f.). 4 »Daneben [neben der symbolischen Bedeutung] findet man den Raum in den Arbeiten zum Spatial Turn auch in einer eher traditionellen, gegenständlichen Variante. Mit anderen Worten: ›Raum‹ kann in der aktuellen Diskussion auch auf einen gegebenen Ausschnitt der Erdoberfläche, auf ein bestimmtes Territorium oder auf eine Region im Sinne eines erdräumlich verorteten Containers verweisen. Das zeigt der raumtheoretische Diskurs besonders deut-
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und empirisch bestimmbarer Raum5 als auch ein soziologisches und symbolisches Produkt6 ist.7 Beide sind aufeinander bezogen und bedingen sich wechselseitig: Der tatsächliche Raum generiert (neben anderen Faktoren) eine soziale Wirklichkeit, die man als symbolische Realität beschreiben kann, welche wieder auf den Raum wirkt und diesen prägt.8 Mit diesen beiden Logiken kann der Begriff »urbaner Raum« beschrieben und raumstrukturell erfasst werden. Ein möglichst genaues Erfassen und Beschreiben dieser beiden »Räume« sichert eine möglichst genaue Darstellung der Größe Stadt. Kathrin Wildner schreibt, »dass Stadt nicht als ein gegebener Raum, sondern Produkt und Produzent von Prozessen der Verräumlichung sozialer Verhältnisse angesehen werden muss. Diese Prozesse sind nie nur lokale Ereignisse, sondern basieren immer auf Ver-
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lich dort, wo er, im Konzert mit dem Globalisierungsdiskurs, nach den neuen räumlichen Strukturierungen der Weltgesellschaft fragt. […] Eine spezielle Version der geographischen Raumsemantik findet sich in jenen Diskurssträngen, in denen es um die konkreten Raumerfahrungen alltäglicher Subjekte geht. […] Die Persistenz des geographischen Raumbegriffs ist nicht überraschend. Raum als konkreter Erdraum ist in der alltäglichen Kommunikation fest verankert, und auch in den Kultur- und Sozialwissenschaften geht es nicht ohne eine Vorstellung von erdräumlichem Hier und Dort.« (Lossau 2012, 187f). Vgl. dazu u. a. Herrmann 2014b: »Raumforschung (engl. spatial research) ist eine den Raum einbeziehende Analyse und Bewertung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, die von wissenschaftstheoretischen Ansätzen unterschiedlicher raumbezogener Disziplinen geprägt wird. Bei den auf die Raumplanung abzielenden Disziplinen ist die Materialität des Raumes und die baulich-räumliche Struktur des Ausschnitts aus der Erdoberfläche ein wesentlicher Ansatzpunkt der Forschungen, im Hinblick auf gesellschaftswissenschaftliche Raumkonzepte steht zudem der Prozess der sozialen Raumkonstruktion im Mittelpunkt. Ansätze zur diskursiven Produktion von Raum (z. B. über die Medien) werden durch konstruktivistische Ansätze ergänzt.« (AaO., 394 – Hervorhebung im Original). »Es gibt keinen Raum vor der Praxis, der Raum an sich, als universelle Kategorie, existiert nicht. ›Raum‹ wird produziert, und es gilt, diesen produktiven Prozess zu erfassen« Schmid 2005, 204. Zu einer sinnverstehenden Stadtsoziologie vgl. Löw 2011, 58 ff. Silke Steets schreibt: »Die Geschichte der Stadtsoziologie lässt sich erzählen als eine wiederkehrende Auseinandersetzung um die soziologische Relevanz und Erklärungskraft des Raums.« (Steets 2008, 391). Zu Konzeptionen von Raum vgl. Wildner 2012, 217. Vgl. Schnur 2012, 458 ff. Christian Schmid formuliert triadisch, dass der Raum »konzipiert, wahrgenommen und gelebt« wird. Schmid 2005, 208. Vgl. auch aaO., 207 f. Dazu Martina Löw: »Trotz der Existenz individueller und gruppenspezifischer Deutungen bleibt somit der Befund bedeutsam, dass eine Stadt (sagen wir New York) Erzeugnis gegenwärtigen und vergangenen Handelns ist und als solche objektiviert wird, d. h. sie wird benannt, typisiert, institutionalisiert und habitualisiert. Im Akt der deutenden Setzung liegen zugleich rekonstruierbare Wissensbestände über die Städte im Allgemeinen wie im Konkreten. Allgemeiner formuliert heißt das, dass sich in jeder Stadt spezifische Wissensbestände herausbilden, die auf habitualisierter Erfahrung basieren und in Benennungen münden. Im Prozess des Vertrautwerdens mit einer Stadt bilden sich Erfahrungsgemeinschaften heraus, die Regelzusammenhänge vor Ort kennen und ihnen Sinn zuschreiben, die diese Erfahrung in Wort und Bild jedoch auch verbreiten. Dieser Prozess der existenziellen Bezogenheit auf die Stadt kann als ›Eigenlogik der Städte‹ auf den Begriff gebracht werden.« (Löw 2011, 63).
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knüpfungen, innerhalb einer Stadt, zwischen Städten und Regionen, sowie auf transnationalen Beziehungen.«9 Der katholische Theologe Leo Penta spricht vom Menschen als einem georteten Wesen »und der Maßstab dieser Ortung geht trotz aller technologischen Erweiterungen nach wie vor von der Basis der unmittelbaren Beziehungen aus.«10 Und »[e]ine solche Basis bereitzustellen ist Chance und ureigenste Aufgabe kirchlicher Gemeinschaft.«11 Deshalb ist es von zentraler Bedeutung bei der Erforschung von Stadt als Kontext von Gemeindeentwicklung diese in ihrer raumstrukturellen Gesamtheit zu erfassen, um somit einen möglichst zutreffenden Begriff von Stadt zu entwickeln. Dabei muss die Stadt als eigenständiger Gegenstand hinsichtlich ihrer Eigenlogik gewürdigt werden. Dies kann wiederum nicht gelöst von konkreten (und möglichst lokal spezifischen) Phänomenen urbanen Lebens geschehen, da nur so ein möglichst realistisches Bild urbaner Räume generiert werden kann.12 Dieses Kapitel umreißt das Themenfeld Stadt in einem Dreischritt: 1. Zunächst erfolgt eine allgemeine Definition, verbunden mit einem Abriss der historischen Genese urbaner Räume (mit besonderem Fokus auf Westeuropa und Deutschland), welche mit einer kurzen Betrachtung der gegenwärtigen weltweiten Situation schließt. 2. Mit dem Versuch einer gesellschaftlich-soziologischen Momentaufnahme deutscher urbaner Räume im ersten Fünftel des 21. Jahrhunderts wird das Thema in einem zweiten Schritt sowohl lokal als auch zeitlich eingegrenzt und konkretisiert. Dies geschieht anhand der Darstellung urbaner Segregation (Entmischung) als einem konkreten und zentralen Phänomen urbanen Lebens in Deutschland. 3. Den Abschluss bildet eine kurze und einführende biblisch-fundamentaltheologische Reflexion über die Bedeutung und Deutung der Stadt aus biblisch-theologischer Perspektive.
9 Wildner 2012, 226. 10 Penta 2009, 199. 11 Ebd. 12 »Die Absicht Berkings und Löws lautet vor diesem Hintergrund, ›Stadt als distinktes Wissensobjekt der Sozialwissenschaften‹ zu etablieren […]. Hierzu schlagen sie eine doppelte Forschungsperspektive vor: Erstens soll ein genereller, operationalisierbarer Konzeptbegriff von ›Stadt‹ entwickelt und zweitens die eigensinnige, lokal spezifische Wirklichkeit von Städten konzeptuell und empirisch erfasst werden. Die Perspektive der Eigenlogik der Städte soll es […] langfristig ermöglichen, von einer Soziologie der Stadt zu einer Soziologie der Städte überzuleiten.« (Frank 2012, 291f).
»War das Gebiet des Deutschen Reiches vor 1848 im wesentlichen [sic!] noch ein Agrarstaat gewesen, so sorgte der danach einsetzende industrielle Aufschwung dafür, daß [sic!] Deutschland in den Jahren bis 1900 zur größten Industrienation der Welt aufstieg. Den Naturwissenschaften und der Technik wurde nun auch in Deutschland eine rasante Entwicklung zuteil, die das Leben entscheidend verändern sollte. Sichtbarster Ausdruck dieser Veränderung war das Anwachsen der Städte.«1 Achim Plagentz/Ulrich Schwab
§ 3 Definition, historischer Zugang2 und gegenwärtige globale Trends 1. Die Stadt – Versuch einer Definition Was ist eine Stadt bzw. ein urbaner Raum? Die Antwort ist weder einfach noch eindeutig und muss – wenn überhaupt3 – auf mehreren Ebenen gewonnen werden.4 Die grundlegenden Faktoren zur »Minimaldefinition« einer Stadt 1 Plagentz/Schwab 2000, 240. 2 Auch wenn eine ausführliche Darstellung einer weltweiten Stadtgeschichte in mancherlei Hinsicht hilfreich wäre, so beschränke ich mich doch auf eine sehr knappe Form der historischen Darstellung und konzentriere mich auf die Klärung der Definition der sozio-ökonomischen Größe Stadt sowie auf die Darstellung der gegenwärtigen urbanen Situation – mit Schwerpunkt auf der europäischen und deutschen Situation. 3 Silke Steets schreibt im Anschluss an Häußermann/Siebel (1978/1987) und Saunders (1987): »Stadt könne deshalb [Urbanisierung der gesamten Gesellschaft und Auflösung der Unterschiede in Produktion und Reproduktion zwischen Stadt und Land] kein eigenständiger soziologischer Gegenstand mehr sein. Dem pflichtet Peter Saunders in seinem Standardwerk ›Soziologie der Stadt‹ (1987) bei. Jeder Versuch, Stadt soziologisch zu definieren, müsse scheitern, da es nicht möglich und darüber hinaus auch alles andere als sinnvoll sei, gesellschaftliche Prozesse mit räumlichen Kategorien zu erklären. Er plädiert für eine klare Trennung zwischen dem aus seiner Sicht soziologisch nicht zugänglichen Raum und der sozialen Welt als genuinem Feld der Soziologie.« (Steets 2008, 391). 4 Martin Lenz verweist darauf, dass eine Untersuchung des komplexen Gegenstands Stadt keinesfalls eindimensional stattfinden kann, sondern die verschiedenen Ebenen (Mikro-, Meso- und Makroebene) sich wechselseitig bedingen und entsprechend betrachtet werden müssen, vgl. Lenz 2007, 9 ff. »In der Stadtsoziologie – wenn Stadt als Abbild der Gesellschaft und von so-
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beschreibt Martina Löw im Anschluss an Louis Wirth5 und Jürgen Friedrichs mit »Dichte, Größe und Heterogenität6«7 sowie wahlweise noch Zentralität8. Größe meint hier freilich mehr als die reine Einwohnerzahl (in Deutschland gelten Siedlungen ab 2000 Einwohnern als Stadt9 und »die Bevölkerungsdichte ländlicher Kreise [liegt] unter 200 Einwohner/qkm.«10). Sie beschreibt auch das Potential einer Stadt als »relationale Kategorie«11 – die Stadt wirkt über ihre Grenzen und die schlichte Zahl ihrer Einwohner hinaus, indem diese Größe Möglichkeiten und Beziehungen eröffnet, die sich gegenseitig sowohl bedingen als auch fördern: »Städte als Orte sind immer relational«12 und nicht substantiell.
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zialer Ungleichheit begriffen wird – ist die Segregations-forschung ein wichtiges Feld. Hier verschränken sich auf der Mesoebene [Gruppe] die mikro- und die makrosoziologische Perspektive.« (AaO., 12). Eine kritische Sicht auf diese (durch Louis Wirth interpretierten) Merkmale, vgl. Häußermann/ Siebel 2004, 94 f. Wolfgang Grünberg schreibt: »Vielfalt ist also das zentrale Kriterium der Großstadt.« Grünberg 2004, 114. Löw 2010, 606 und Friedrichs 1995, 17. Jürgen Friedrichs bezieht sich auf Louis Wirth (1938), der neben Dichte, Größe und Heterogenität noch die »Dauerhaftigkeit des Siedelns« als Merkmal einer Stadt nennt, vgl. ebd. Rainer Bucher identifiziert die drei Merkmale Dichte, Größe und Heterogenität – mit: Intensität, Macht und Freiheit, vgl. Bucher 2013, 221–228. Vgl. Grünberg 2004, 113 f. »Im Unterschied zum Land herrscht eine große Dichte an Interaktions-möglichkeiten; die City bündelt das administrative, das ökonomische, das kulturelle und das juristische Zentrum.« (Sellmann 2006, 1). Vgl. Herrmann 2014b, 599 und Häußermann/Siebel 2004, 20. Henkel 2004, 34. Da Städte v. a. über ihre Verwaltungsgrenzen klar vom Umland unterschieden sind und die tatsächliche Bevölkerungsdichte (innerhalb einer Stadt und zwischen Städten) sehr unterschiedlich sein kann, spielt die Dichte der Bevölkerung zur Beschreibung eines urbanen Raums nur eine untergeordnete Rolle. Die von Henkel mit einer Einwohnerdichte von unter 200 Einwohner pro qkm definierten ländliche Kreise unterscheidet das Statistische Bundesamt (Destatis) nochmals: »Im ländlichen Raum gibt es Kreise höherer (zwischen 100 und 150 Einwohner pro Quadratkilometer) und geringerer Dichte (unter 100 Einwohner pro Quadratkilometer).« (Destatis 2016, 351). Eine etwas feiner gegliederte Unterscheidung besteht seit dem Jahr 2005: »Hingewiesen sei an dieser Stelle auf eine neue Gebietstypologie für den Grad der Verstädterung, die vom Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union entwickelt wurde. Anhand des Hauptkriteriums der Bevölkerungsdichte wurden die Gemeinden Deutschlands zum Gebietsstand Dezember 2000 drei Gebietstypen zugeordnet: städtische Gebiete (Bevölkerungsdichte größer als 500 Einwohner je km2), halbstädtische oder mittelstark besiedelte Gebiete (Bevölkerungsdichte zwischen 100 und 500 Einwohnern je km2) und ländliche oder dünn besiedelte Gebiete (Bevölkerungsdichte weniger als 100 Einwohner je km2).« (Siewert et al. 2005, 885). Mit Dank an F. Pfeuffer. Löw 2010, 606. AaO., 616.
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
Ähnliches gilt für die Dichte13: Sie beschreibt nicht nur die Dichte der Besiedlung und Bebauung, sondern auch die Dichte an Infrastruktur, Institutionen, Kultur(en) sowie politischen, bildenden und wirtschaftlichen Einrichtungen und Faktoren.14 Schließlich erwächst daraus ein hohes Maß an Heterogenität der Bewohner und einer damit verbundenen Ausdifferenzierung und Vielfalt in mannigfaltiger Hinsicht. Eine Auswirkung dieser Form des verdichteten Zusammenlebens ist zudem eine ausgeprägte Form von Anonymität.15 Zentralität meint vor allem die Erreichbarkeit eines Oberzentrums i. S. e. dicht besiedelten Sozialraums durch Individualverkehr. Das BBSR hat als Weiterentwicklung des Raumordnungsberichts von 2005 im Jahr 2008 eine neue Raumtypisierung (vor allem zur Analyse des ländlichen Raums) entwickelt. In dieser werden drei Raumtypen nach Besiedlung (überwiegend städtisch · teilweise städtisch · ländlich) und vier Raumtypen nach Lage (sehr peripher · peripher · zentral · sehr zentral) unterschieden und miteinander kombiniert.16 Die räumlichen Basisstrukturmerkmale, die zur Berechnung dieser Siedlungstypen dienen, ergeben sich aus der »Unterscheidung zwischen überwiegend städtisch und ländlich geprägten Gebieten, klassifiziert nach Bevölkerungsdichte und Siedlungsflächenanteil (lokale/kleinräumige Maßstabsebene)«17 auf der einen Seite und aus der »Lage, d. h. Unterscheidung zwischen zentral und peripher gelegenen Räumen, klassifiziert nach potenziell erreichbarer Tagesbevölkerung; (regionale/großräumige Maßstabsebene)«18. Dies macht deutlich, dass man neben den faktischen Größen wie Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte auch »weiche« Faktoren, wie allgemeine
13 »Alternative Ansätze [z. B.: von Berking/Löw 2005] schlagen vor, Stadt als Form der räumlichen Verdichtung (die überall anders ist) zu konzeptionalisieren und darauf aufbauend Prozesse der Verdichtung von Raum und damit der Herstellung von Stadt zu untersuchen.« (Steets 2008, 392f – Hervorhebung im Original). 14 Sybille Frank schreibt: »Für [Helmuth] Berking ist Dichte das entscheidende Organisationsprinzip städtischer Vergesellschaftung, da es alle gesellschaftlichen Bereiche – von gebauter Materialität über kulturelle Repräsen-tationen bis hin zu sozialen Lebensformen – prägt. […] Den Begriff ›Dichte‹ versteht er dabei sowohl quantitativ als auch qualitativ: In quantitativer Hinsicht bezeichnet er die ›Steigerung von Kontaktflächen‹, also die Vielzahl von Begegnungen in der Stadt, während seine qualitative Dimension auf ›Intensitätssteigerung‹ durch deren Vielgestaltigkeit verweist (Berking 2008: 20).« (Frank 2012, 295). Vgl. auch Häußermann et al. 2008, 39. 15 Vgl. Löw 2010, 606. 16 Vgl. Schlömer/Spangenberg 2009, 17–25. In den sehr zentralen und zentralen Räumen Deutschlands leben 74,4 % der Bevölkerung, vgl. aaO., 25. 17 AaO., 20. 18 Ebd.
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Verdichtung von »kultureller und gesundheitsbezogener Infrastruktur«19, die Ballung von Schulen, Hochschulen und Universitäten, die geographische Lage (und damit die Erreichbarkeit), die Ausbildung eines bestimmten Lebensstils (bspw. durch urban geprägte Berufe) sowie Lebensgefühls, das hohe Maß an Ausdifferenzierung sowie die urbane Identität der Bewohner, in den Blick nehmen muss.20 Dies unterstreicht, dass bei der Frage nach dem, was eine Stadt ist, die Frage nach dem Begriff der Urbanität mitschwingt, welcher stärker auf die Art und Weise des Lebens in einer Stadt als urbanem Raum rekurriert. Dies ist von der Beschreibung einer Stadt angesichts äußerer Merkmale wie Größe, Dichte und gesellschaftlicher Bedeutung zu unterscheiden. Vor all diesen Bemühungen muss jedoch betont werden, dass es »[e] ine umfassende und befriedigende Definition der Stadt […] nicht geben«21 kann bzw. »dass es keinen externen Betrachter mehr geben kann, der eine angemessene Gesamtansicht der Stadt erlangen könnte.«22 Dies gilt einerseits, obwohl oder vielleicht gerade weil das Phänomen Stadt schon seit mehr als sechstausend Jahren das menschliche Zusammenleben maßgeblich prägt und einer der wichtigsten Siedlungstypen der Menschheitsgeschichte war und ist. Andererseits trifft dies aber auch deshalb zu, da Städte einem ständigen Wandel unterliegen und dies gilt für einzelne Städte ebenso wie für das wachsende weltweite Netz urbaner Räume sowie das sich wandelnde und immer einflussreichere Phänomen der Urbanität als Lebensstil und kultur-prägender Kraft. Schließlich hat die Unterscheidung zwischen Stadt und Land stark an Bedeutung verloren, was dazu führt, dass Stadt auf anderen Wegen – als in Abgrenzung zum Land – definiert werden muss (s. u. § 3 Abs. 4.3). Wolfgang Grünberg definiert den Begriff Stadt so: »Die S[tadt] […] ist ein Gemeinwesen mit den Merkmalen Zentralität, Dichte, Heterogenität, Rechtsund Steuerhoheit, Abgrenzung (Stadtmauer), Größe (Kleinstadt bis 20.000, Mittelstadt bis 100.000, darüber hinaus Großstadt).«23 Der amerikanische Öko19 Häußermann et al. 2008, 39. Die Autoren verweisen darauf, dass die räumliche Nähe von Infrastruktur-einrichtungen aufgrund der gestiegenen Mobilität zwar an Bedeutung verloren hat, jedoch besonders für Kinder sowie für ältere Menschen wichtig ist und die Ballung solcher Einrichtungen in Städten, diese als Lebensort attraktiv macht, »weil sie Differenzierungen und Spezialisierungen ermöglicht.« (ebd). 20 Vgl. dazu die Ausführungen Harvie Conns, der die Frage danach, was eine Stadt ist, auf zwei Wegen beantwortet: »The City as Place«, »The City as Process«. Er warnt vor »Urban Misperception«, die eine eher negative Einschätzung der Stadt zur Folge habe, welche sich aber häufig nicht mit der Realität decke. Vgl. Conn, 2001, 157–173. 21 Schäfers 2010, 16. 22 John 2013, 269. 23 Dangschat et al. 2004, 1661. In seinem Buch Die Sprache der Stadt ergänzt Grünberg diese Definition: Großstadt (ab 100.000 Einwohner), Millionenstadt (1–10 Millionen Einwohner), Megacities (ab 10 Millionen Einwohner) und Agglomerationen als Ballungsräume (Groß- und
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nom Edward Glaeser umreißt die Größe Stadt mit stärkerer Betonung der Dichte des Zusammenlebens und des sich daraus ergebenden Lebensstils: »Cities are the absence of physical space between people and companies. They are proximity, density, closeness. They enable us to work and play together, and their success depends on the demand for physical connection.«24 Ähnlich formuliert es Harvie Conn: »Whatever else we see, we see the city as more of everything – more people, more buildings and expanding neighborhoods.«25
2. Die Stadt: Versuch einer Definition mithilfe ihrer (europäischen26) Geschichte Als (eine erste) Definition für die Größe Stadt, bietet Bernhard Schäfers eine gestufte und sich auf zwei Aspekte (Siedlungsdichte und Lebensform) beschränkende Definition an: Stadt ist ein Siedlungsgebiet, das erstmalig in der Jungsteinzeit (Neolithikum) vor ca. sechstausend Jahren auftaucht und gegenüber bisherigen Siedlungsformen, zumal dem Dorf in seinen vielfältigen Ausprägungen, völlig neue Charakteristika aufweist: • Relativ dichte Bebauung und höhere Gebäude als im Umland führen zu höherer Bevölkerungsdichte als bei bisherigen Siedlungen. • Die Bebauung ist durch spezifische Gebäude und Plätze charakterisiert, die die Stadt zum religiösen, militärisch-herrschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Zentrum, auch für ein weiteres Umland, machen. • In der Stadt finden und entwickeln sich die für die jeweilige Gesellschaft differenziertesten Formen der Arbeitsteilung und des Gütertauschs über einen oder mehrere Märkte.27 Schäfers weist auf einen weiteren Faktor hin, der das Phänomen Stadt noch weiter ausdifferenziert: Die verschiedene Gestalt von Städten vor und nach der
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Millionenstädte mit ihren Einzugsgebieten), vgl. Grünberg 2004, 19. Zur Unterscheidung von Stadt, Metropole und Megastadt vgl. auch Werner 2016, 128 f. Glaeser 2012, 6. Conn 2001, 17. Vgl. dazu u. a. Schäfers 2010, 25–81; Siebel 2012a, 201–211 und Rüthers 2015, 24–33. Schäfers 2010, 16.
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Doppelrevolution28 im 18. und 19. Jahrhundert. So sind die Städte des Mittelalters und der frühen Neuzeit29 andere Gebilde als die industriellen Großstädte, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden sind.30 Die Entwicklung sowie die Besonderheit des städtischen Lebens in Europa fassen Häußermann et al. zusammen: Europa war die Zivilisation mit der schärfsten Polarität zwischen Stadt und Land. […] Bis zu Beginn der Moderne war die Grenze durch Mauern markiert, die die Grenze zwischen verschiedenen Gesellschaften bezeichneten. In der scharfen Abgrenzung vom umgebenden feudalen Land konnte sich innerhalb der Mauern jene ökonomische und politische Dynamik entwickeln, die zur Grundlage der okzidentalen Modernität wurde. In der Stadt war man frei von der Leibeigenschaft, durch die der großen Mehrheit der ländlichen Bevölkerung die Anerkennung als menschliche Subjekte verweigert wurde. Die schlichte Zugehörigkeit zur städtischen Population bedeutete demgegenüber einen großen sozialen Aufstieg, denn hier waren die Menschen frei. Auch dadurch waren die Städte die Orte von sozialer und kultureller Innovation.31
Diese Definition beschreibt – ähnlich wie oben Glaeser und Conn – Stadt und urbanes Leben zunächst sehr allgemein und konzentriert sich auf die allgemeine und charakteristische Verdichtung urbanen Lebens sowie die besondere gesellschaftliche Bedeutung von Städten. Schäfers ergänzt die Definition der Stadt um die Merkmale der industriellen Großstadt, die seit dem 19. Jahrhundert zunehmend die Sozialform Stadt prägt32:
28 Der Begriff geht zurück auf den englischen Historiker Eric Hobsbawm, der den Wandel der Welt zwischen 1789 und 1848 beschreibt und damit die tiefgreifenden Veränderungen in Europa in Folge der Französischen Revolution auf der einen Seite und der gleichzeitig von England ausgehenden Industriellen Revolution beschreibt, vgl. auch Häußermann/Siebel 2004, 19 ff. 29 Laut Schäfers beeinflussen diese, besonders in Deutschland, zum Teil immer noch das Bild von Stadt, vgl. Schäfers 2010, 16. 30 Dazu Hartmut Häußermann und Walter Siebel: »Die Frage nach dem Neuen, das mit der modernen Großstadt in die Welt kam, stand am Ausgangspunkt der Stadtsoziologie.« Häußermann/Siebel 2004, 11. Im elften und zwölften Jahrhundert gab es einen Urbanisierungsschub als sich die Bevölkerungszahl in Europa nahezu verzehnfachte und ein Teil dieser Menschen – von agrarwirtschaftlicher Produktion befreit – in Städten leben konnte. Städte entwickelten sich zu spezialisierten Zentren von Produktion, Handel und Dienstleistung. Ab 1700 entstand ein neuer Stadttypus: die Residenz- und Garnisonsstadt. Mit ihr wurde die Stadt zum politisch-militärischen Machtzentrum des Staates. 31 Häußermann et al. 2008, 30 f. 32 Zu den Epochen der deutschen Stadtgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, vgl. Krabbe 1989, 176–182.
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
Mit der industriellen Großstadt kommen seit dem 19. Jahrhundert als weitere Definitionsmerkmale hinzu: • Fabriken und eine ständig expandierende Marktökonomie, neue Versorgungstechniken und Verkehrssysteme führen zu neuen Mustern der Stadtgestalt. • Städte werden zum eigentlichen ›Laboratorium der Moderne‹ mit ihren Trends der Säkularisierung und des Vorherrschens anonymer Sozialbeziehungen und freiwilliger Assoziationen (wie Vereine). • Urbanität wird ein Element typisch großstädtischer Verhaltensweise, für die es erst nach 1800 die erforderlichen neuen städtischen Räume gibt: Passagen und Galerien, Boulevards und Cafés, Großkaufhäuser und Bahnhofshallen, Theater- und Konzertsäle; Museen und innerstädtische Grünanlagen und Parks (die die Stadtmauern und Festungswälle ersetzen).33 Die Industrialisierung34 beschreiben Häußermann/Siebel als »[…] Epoche, die aus Dörfern Städte und aus Städten Großstädte35 machte.«36 Dies verdeutlicht den grundlegenden Wandel – besonders durch das rasante Anwachsen sowohl der Bevölkerung im Allgemeinen als auch der Stadtbevölkerung im Besonderen – und dem damit einhergehenden Wachstum der Städte und ihrer lebensräumlichen Verdichtung in Arbeit, Wohnen und (der spärlichen) Freizeit auf engstem Raum und gewissermaßen »Tür an Tür«.37 Jürgen Reulecke stellt dazu fest, dass der »Kernbegriff, der den wichtigsten Entwicklungsimpuls jener Zeit bezeichnete, […] der der Mobilisierung« ist und fährt fort: »Ohne die Aufhebung einer Fülle von traditionellen Beschränkungen der sowohl räum33 Schäfers 2010, 17. 34 Oder wie es Martin Gornig und Jan Goebel beschreiben: »Die Städte sind mit der Industrialisierung groß geworden.« Gornig/Goebel 2013, 51. 35 So benutzen Häußermann et al. das Bild eines Schalenbrunnens, bei der sich die zentrale Schale füllt, bis sie überläuft und die nächste Schale füllt. Ebenso wächst die »Stadt […] vom Zentrum aus und ergießt sich ins Umland.« (Häußermann et al. 2008, 79). Die Quelle in der Mitte speist sich durch Bevölkerungswachstum und Zuzug, vgl. ebd. 36 Häußermann/Siebel 2004, 28. »Allerdings wäre die im 19. Jahrhundert massiv einsetzende Industrialisierung nicht ohne Verstädterung denkbar gewesen – und umgekehrt die Verstädterung nicht ohne die Industria-lisierung.« (Häußermann/Siebel 2004, 19). Beide haben einander begünstigt, gefördert, letztlich ermöglicht: »Verstädterung ist Konsequenz und Faktor des sozialen Wandels, der Änderung der Produktionsverhältnisse, Familienstrukturen, der Vergesellschaftung von Funktionen der Reproduktion, des Wandels von Normen und Verhaltensmustern, wie sie Simmel, Wirth, Bahrdt, u. a. beschrieben haben. Verstädterung muß [sic!] als ein integraler Teil jener progressiven Entwicklung der Revolutionierung der Produktionsweise, der Zerschlagung feudaler Herrschaftsverhältnisse und der Zersetzung festgefügter Rollensysteme angesehen werden, die Marx als die historische Leistung des Kapitalismus enthusiastisch gefeiert hat.« (Häußermann/Siebel 2013, 114). 37 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 19–28.
2. Die Stadt: Versuch einer Definition
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lichen als auch sozialen Mobilität wären die diversen Modernisierungsansätze im Gefolge der […] industriellen Revolution […] in Deutschland rasch an ihre Grenzen gestoßen.«38 Dabei waren die »äußere[n] Kennzeichen des sich vollziehenden Wandels […] in vielen Städten das Schleifen der Stadtmauer und das Auffüllen der Gräben, d. h. eine ›Entfestigung‹«39 der Städte, die um 1790 begann und »sich bis weit ins 19. Jahrhundert fortsetzte.«40 Das bedeutet in der Summe: »Industrialisierung und Urbanisierung sind historisch gesehen untrennbar miteinander verbunden.«41 Die Wechselwirkung zwischen Industrialisierung und Urbanisierung können als die »beiden dominanten Tendenzen der Moderne«42 beschrieben werden. Die Verquickung dieser beiden Prozesse führte zu einem »völligen Umbruch[…] der bis dahin entwickelten Formen der Produktion und des Zusammenlebens«43 sowie »einem fundamentalen Umsturz der etablierten Herrschaftsverhältnisse«44. Häußermann et al. resümieren für diese Phase, dass »[s]eit der Industrialisierung […] Städte uneingeschränkt als Zentren ökonomischer und gesellschaftlicher Dynamik«45 gelten, die trotz vielfältigen Wandels stets diese Rolle zu bewahren wussten. Den Erfolg, den die Stadt bei dem Transfer von ländlicher Lebens- und Produktionsweise hatte, entdeckt Wolf-Dietrich Bukow darin, dass die Menschen in der Stadt »eine Alternative zu Gemeinschaftsbindungen entdeckten, nämlich formale Strukturen und Arbeitsteilung.«46 Auf diesem Weg war es Städten möglich, »sich […] zu Handels- und Handwerkszentren zu entwickeln […], sich dem Humanismus und später den politischen, sozialen und religiösen Reformbewegungen [zu] öffnen.«47 Dabei ist laut Bukow besonders die formale Ordnung des Zusammenlebens »bis heute die Pointe, die Umstellung des Zusammenlebens vom Prinzip Familie und Verwandtschaft, die Aufkündigung der gemeinschaftlichen und in der Regel asymmetrisch komplementär ausgerichteten Ordnungs- und Bildungsmuster auf Arbeitsteilung, Verwaltung und Diskurs.«48 Dies führte u. a. auch zu einer Machtverschiebung, die sich
38 Reulecke 1985, 14 f. 39 AaO., 15. 40 Ebd. 41 Gornig/Goebel 2013, 51. 42 Häußermann et al. 2008, 13. 43 Schäfers 2010, 18. 44 Häußermann/Siebel 2004, 12. 45 Häußermann et al. 2008, 14. 46 Bukow 2011, 216. 47 Ebd. 48 AaO., 217.
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weg von einer patriarchalisch und kirchlich49 geprägten zunehmend hin zu einer politisch organisierten und legitimierten Form von Macht entwickelte.50 Um eine möglichst zutreffende Definition für (die europäische) Stadt zu entwickeln, ergänzt Schäfers seine Definition noch um eine dritte Phase der Stadtentwicklung51, die seit den 1960er Jahren zu beobachten ist. Geprägt ist diese Phase besonders durch wachsende suburbane Räume und die damit einhergehende Trennung von Wohn- und Produktionsraum innerhalb einer Stadt (Olaf Schnur spricht von dem »Übergang der Industriemoderne zur Nach-
49 Zu den Auswirkungen auf die Kirche vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 94 ff. 50 Vgl. Bukow 2011, 217 f. Bukow verweist hier u. a. auf Max Webers Untersuchungen zu dem Verhältnis von protestantischer Ethik und der Etablierung des Kapitalismus, vgl. dazu Weber 2016. Der katholische Pastoraltheologe Rainer Bucher stellt in seinem Aufsatz Aufgebrochen durch Urbanität. Transformationen der Pastoralmacht (vgl. Bucher 2013) die These auf, dass der Begriff Citypastoral nicht nur eine neue Form von Kirche ist, die bisherige Formen und Strukturen ergänzt, sondern, »dass es um mehr geht und hier der Anfang vom Ende einer Jahrhunderte alten Form der Kirchenkonstitution zu beobachten ist.« (AaO., 217) Seine Ausführungen beschreiben die Zeit der Urbanisierung Deutschlands aus katholischer Perspektive: Die Erscheinung der Pastoralmacht wandelte sich im Lauf der Jahrhunderte und hatte laut Buchner ihren Höhepunkt von der Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Anschluss an Michel Foucault bezeichnet Buchner die besondere Macht der Kirche als Pastoralmacht und kennzeichnet sie als selbstlos, individualisierend und totalisierend. Mit dem Zusammenbruch des katholischen Milieus und der Säkularisierung der Gesamtgesellschaft sei diese Macht geschwunden und in die Krise geraten. Diese Veränderungen hätten sich bereits früher – zur Zeit der Industrialisierung und Verstädterung im 19. Jahrhundert – angekündigt, jedoch sei der Wandel nun von grundlegender und weitreichender Art. Dabei waren und seien es die Städte, in denen sich der Wandel zuerst und am deutlichsten ankündigte. Insofern könne man die Geschichte der urbanen Kirche als Geschichte des Wandels der Pastoralmacht betrachten, welche gegenwärtig vor einer erneuten radikalen Transformation »bis hin zu ihrer Selbstüberschreitung« (aaO., 220) stehe, da die Stadt in besonderer Weise Druck auf die Kirche ausübe und diese mit notwendiger Veränderung konfrontiere. 51 Für die Geschichte der BRD beschreiben Häußermann et al. vier Phasen: »zunächst der Wiederaufbau, danach extensive und intensive Stadtentwicklung und schließlich die Phase der Differenzierung in verschiedene Stadtentwicklungstypen.« (Häußermann et al. 2008, 78). Für die DDR nennen sie folgende Phasen: »zunächst die Orientierung an einem Modell der sozialistischen Stadt, dann eine Verlagerung auf den Massenwohnungsbau am Stadtrand, der schließlich in den industrialisierten Bau von standardisierten Großsiedlungen überging.« (ebd.). Ausführlich zur Stadtentwicklung in der DDR vgl. auch aaO., 92–109. Dabei gilt für das Gebiet der ehemaligen DDR, dass erst im Zuge der Wiedervereinigung nach 1990 eine »nachholende Suburbanisierung« (aaO., 108) einsetzte, da der Bau eines Eigenheims in der DDR nur selten möglich war. Somit haben die ostdeutschen Städte nach der Wende zahlreiche Einwohner verloren und sind stark geschrumpft. »Allerdings ist der Trend zur Suburbanisierung um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert abgeebbt, weil die staatliche Förderung auslief, die Bevölkerungszahl abnahm und die Innenstädte nach und nach saniert und modernisiert worden waren, wodurch ihre urbanen Qualitäten wieder zur Geltung kamen.« (AaO., 109).
2. Die Stadt: Versuch einer Definition
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kriegsmoderne«52). Seit den 1960er Jahren sind deutsche Städte mit einem ausgeprägten Deindustrialisierungsprozess53 konfrontiert. Dieser mit dem Stichwort »sektorale Struktureinbrüche« benannte Wandel sorgte für eine Verschiebung der Polarisierung weg von den Polen Zentrum und Peripherie hin zu wachsenden Unterschieden zwischen den einzelnen Ballungsgebieten. Besonders der Bedeutungsverlust der Montanindustrie sorgte für einen Wandel und eine Krise in den von dieser Industrie geprägten Regionen wie bspw. das Ruhrgebiet.54 Durch die Entstehung des Wohlfahrtsstaats sowie durch Suburbanismus55 verloren die Städte an Bedeutung und an Größe und seit den 1970er Jahren stagnieren oder schrumpfen die Städte in Deutschland.56 Sowohl der Zug in die Stadt als auch wieder aus ihr hinaus hatte seine Ursache in der Suche nach einem guten (bzw. besseren) Leben.57 So war es die Suche nach einer auskömmlichen Beschäftigung und einer einigermaßen gesicherten Zukunft, welche die Menschen im Zuge der Industrialisierung in die Stadt lockte.58 Wenngleich das Leben in der Stadt mit einer Tätigkeit, von der die Familie leben konnte, besser war als das Leben auf dem Land, so war es dennoch kein gutes Leben, da die Wohnverhältnisse, die hygienischen Standards sowie die Sicherheit überaus mangelhaft waren.59 »Zum Leitbild eines ›guten Lebens‹ – zumal einer Familie – gehörte seit Beginn der Industrialisierung und Verstädterung das Leben im Haus mit eigenem Garten.«60 Da die Stadt aber Arbeit und Auskommen bot, konnte der Wegzug aus der Innenstadt nicht bedeuten, dass man der Stadt gänzlich den Rücken kehrte. Insofern stellte Suburbanisierung einen Kompromiss dar, der die Vorteile von städtischer und ländlicher Lebensweise miteinander verband.61 In der Folge wurde der »Auszug der Mittel-
52 Schnur 2012, 449. 53 Vgl. Gornig/Goebel 2013, 52–56. Zum Begriff »Tertiärer Verstädterung«, vgl. Schäfers 2014, 509. 54 Vgl. Gornig/Goebel 2013, 51 f. 55 Zu Wohn- oder Trabantenstädte als Form von Suburbanisierung vgl. Schäfers 2010, 103–106. Die US-amerikanische Stadt Detroit ist ein Beispiel für einen äußerst starken und nachhaltigen Suburbanismus, der mit einer intensiven Deindustrialisierung sowie einer ethnischen und sozialen Segregation einherging und einhergeht, vgl. Kühn 2016, 85–94. 56 Vgl. Häußermann et al. 2008, 14–16. 57 Vgl. Gräb 2005, 278 f. 58 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 19 ff. und Schäfers 2010, 52 ff. 59 Ähnlich vgl. auch Schäfers 2010, 113. 60 Häußermann/Siebel 2004, 73. 61 Dabei entspricht der suburbane Raum ungefähr den Typen 6 und 7 (Ländliche Räume im engeren Umfeld von Verdichtungsgebieten) der sieben Typen kirchlicher Entwicklung in ländlichen Räumen des EKD-Text 87 Wandeln und Gestalten über missionarische Chancen und Aufgaben der evangelischen Kirche in ländlichen Räumen, vgl. Kirchenamt 2007a, 22 ff., besonders 35 ff. Vgl. dazu auch Schäfers 2010, 111–114.
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
schicht ins suburbane Eigenheim […] nach dem Zweiten Weltkrieg62 zu einem der zentralen Trends der Stadtentwicklung in allen westeuropäischen Ländern«.63 Der Wunsch, ins eigene Haus an den Rand der Stadt zu ziehen, ging einher mit der Konzentration des familiären Lebens auf die Kernfamilie (Eltern mit Kindern).64 Dies führte zu sozialen Unterschieden zwischen Stadt und Umland, welche für die Städte zu einer sozialen und finanziellen Belastung wurden.65 Dabei spielt besonders das Wohl des Kindes eine zentrale Rolle bei dem Wunsch aus der Stadt zu ziehen. Dies macht den suburbanen Lebensstil überaus familienzentriert. Die Absicht, die eigenen Kinder manchen schädlichen Einflüssen in einer stark gemischten Nachbarschaft zu entziehen und in ein homogeneres Umfeld zu ziehen, macht Suburbanismus zu einem Phänomen urbaner Entmischung im doppelten Sinn: Einerseits entstanden sozial homogene Gebiete an den Rändern der Städte und andererseits bildeten die Menschen, die in den Innenstädten zurückblieben auch eine mehr oder minder homogene soziale Einheit.66 Andreas Farwick spricht von den sogenannten »A-Gruppen« (Arbeitslose, Arme, Alte und Ausländer), die in den Innenstädten zurückgeblieben sind.67
62 Häußermann et al. unterscheiden drei Phasen der Suburbanisierung: (1) Vereinzelter Wegzug aus der Kernstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, (2) eine starke Suburbanisierung im Zuge einer neuen Dynamik in der Verstädterung nach dem Zweiten Weltkrieg und (3) ein Ausbau der suburbanen Infrastruktur (Handel, Dienstleistungen und Bildungseinrichtungen sowie gesundheitsbezogene Institutionen etc.) ab den 1970er Jahren. Vgl. Häußermann et al. 2008, 85 f. 63 Häußermann/Siebel 2004, 73. Dabei gilt: »Die Suburbanisierung ist fast während des gesamten 20. Jahrhunderts direkt oder indirekt durch Politik und Planung unterstützt worden: die Förderung der Eigentums-bildung, insbesondere in der Form von Wohn- und (Einfamilien-) Hauseigentum, der soziale Wohnungsbau auf billigen Flächen an der Peripherie, die Steuerbefreiungen für die Kosten des Pendlerverkehrs.« (Häußermann et al. 2008, 109). 64 Häußermann/Siebel schlussfolgern, dass es sich dabei um ein »Mittelschicht-Modell« handelte und handelt, welches einen starken Bezug zur Familie hat und auch zur Abgrenzung von unteren Schichten der Stadt diente. (Häußermann/Siebel 2004, 74). Wobei Häußermann et al. darauf hinweisen, dass im Zuge einer funktionalen Vervollständigung und einer zunehmenden »Verflechtung zwischen Umlandgemeinden« auch andere Gruppen wie »Singles, Kinderlose, Alleinerziehende, Ärmere und Ausländer« ins Umland ziehen (beide Zitate Häußermann et al. 2008, 86) und Suburbanisierung zunächst den oberen Schichten vorbehalten war, aber zunehmend für andere Bevölkerungsschichten bezahlbar wurde, vgl. aaO., 85 f. 65 Vgl. aaO., 87–89. 66 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 73–76. 67 Vgl. Farwick 2012, 383. Häußermann et al. identifizieren drei Ursachen für Suburbanisierung: 1. technische Ermöglichung eines Pendlerdaseins, 2. hohe Preise sowie hohe Umweltbelastung machten Innenstädte unattraktiv und 3. Wohnen im Grünen war für bestimmte Bevölkerungsgruppen attraktiv und erstrebenswert (und zunehmend finanzierbar), vgl. Häußermann et al. 2008, 86.
2. Die Stadt: Versuch einer Definition
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Neben der gewachsenen Mobilität (besonders durch das Auto) spielen die »Tertiarisierung68 der Berufs- und Produktionsverhältnisse«69 und der Beginn der digitalen Revolution eine Rolle bei dem Wandel der deutschen Städte. In diesem größeren Kontext betrachtet, kann man sagen, dass Städte »strategische Orte der Gesellschaft«70 sind, welche »Zentren der Produktion und Konsumption«71 bilden und somit eine weitere Kategorie und Beschreibung und Definition urbaner Räume liefern. Dabei sind Städte für »forschungsintensive Branchen«72 (Pharmazie, Medizintechnik, Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik) der bevorzugte Standort, da hier eine angemessene Infrastruktur für Verkehr, Forschung und Bildung vorhanden ist und entsprechende Synergieeffekte entstehen und genutzt werden können: »Wirtschaftliche und finanztechnische Macht- und Kontrollfunktionen konzentrieren sich zunehmend in städtischen Zentren. Dort siedeln sich hochmoderne Dienstleistungen wie Finanzen, Werbung, Design, PR, Sicherheit, Informationsbeschaffung und wissenschaftliche Institutionen an.«73 Die Folgen dieses Wandels sind unübersehbar (bspw. in Form von Industriebrachen), aber da er noch im Vollzug begriffen ist, können seine langfristigen Ergebnisse bisher nur in Ansätzen beobachtet werden. Zu diesen Folgen gehören u. a. eine Lohnspreizung und eine damit einhergehende ungleichere Verteilung der Löhne sowie eine Polarisierung der Einkommensverhältnisse.74 Walter Siebel geht sogar davon aus, dass 68 Vgl. zu dem Begriff und seinen Merkmalen Gornig/Goebel 2013, 57 ff. Allgemein beschreibt Tertiarisierung die Veränderung einer Wirtschaft mit Abnahme der Industrie und Zunahme des Dienstleistungssektors, vgl. Aehnelt 2011, 68. Vgl. auch Hirsch-Kreinsen 2008, 33 ff. Im Jahr 1950 arbeiteten 24,6 % der Deutschen im primären Wirtschaftssektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei), 42,9 % im sekundären (produzierendes Gewerbe) und 32,5 % im tertiären Sektor (Dienstleistungen). Im Jahr 2010 sind lediglich 2,1 % der Menschen im primären, 24,4 % im sekundären und 73,9 % im tertiären Sektor beschäftigt, vgl. Grethlein 2016, 227. 69 Schäfers 2010, 18. 70 Löw 2010, 606. 71 Ebd. Zur Beschreibung urbanen Lebens unter der Perspektive des Konsums vgl. John 2013. Zur Rolle der Kirche schreibt er: »Durch ihre Präsenz demonstriert sie, dass nicht alles auf der Welt in Waren verwandelt werden und zum Kauf feilgeboten werden kann. Sie relativiert die tendenziell ökonomische Totalität der City. Durch ihre aktive Teilnahme am Streit um die Freiheit eröffnet sie Spielräume für die politische und moralische Gestaltung der Stadt: Nicht nur, was Geld einbringt, ist zukunftsfähig.« (AaO., 315). 72 Gornig/Goebel 2013, 65. 73 Steets 2008, 400. 74 Vgl. Kronauer/Siebel 2013; Gornig/Goebel 2013, 57–65; Läpple 2013, besonders 131–134; Holm 2013, 678f und Häußermann et al. 2008, 159–181, besonders 177 ff. Dies hat seine Ursache darin, dass die Berufe einer tertiären Wirtschaft i. d. R. höhere Qualifikationen verlangen als Beschäftigung in der Industrie. Dies bedeutet, dass die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Stadt eine höhere Bildung erfordern und zu höheren Löhnen führen. Davon kann aber nur ein Teil der Bewohner einer Stadt profitieren. Für die schlecht ausgebildeten Menschen schrumpfen die Möglichkeiten, einer auskömmlichen Beschäftigung nachzugehen. Während also die
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
die Dienstleistungsgesellschaft in weiten Teilen sozial ungerechter sein wird, als die Industriegesellschaft dies war, da sie bestimmte Gruppen (besonders: weniger gut (aus-)gebildete Männer) aus dem Erwerbsleben auszuschließen drohe.75 Häußermann et al. stellen die These auf, dass der deutsche Typus der europäischen Stadt »angesichts der angesprochenen Veränderungen […] in eine schwere Krise geraten« ist, da sich die Bedingungen, unter denen dieser Typus europäischer Stadt einst entstanden ist, grundlegend gewandelt hätten und die Rahmenbedingungen von Industrialisierung, Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum so nicht mehr existierten. Diese Entwicklung habe zu einer Ausdifferenzierung der urbanen Entwicklung geführt: »[S]o werden in Zukunft schrumpfende, stagnierende und weiterhin wachsende Städte nebeneinander existieren [und selbst] [i]nnerhalb der Städte wird es ein Nebeneinander von Prosperität und Niedergang geben.«76 Dies zeigt, dass das Phänomen Stadt an Komplexität gewonnen hat, weiter gewinnt und somit einer noch differenzierteren Wahrnehmung bedarf als bisher: Am Ende des 20. Jahrhunderts [bzw. zu Beginn des 21. Jahrhunderts] stehen wir möglicherweise an einem Wendepunkt in der Entwicklung der europäischen Stadt. Es gibt Anzeichen für eine neue, sowohl ökonomische wie kulturelle Attraktivität urbaner Räume, und gleichzeitig stehen die Integrationsleistungen, die die Städte vor und während der Industrialisierung erbracht haben, auf dem Spiel.77
Sie schlussfolgern, dass die zu beobachtende Renaissance der Städte deshalb nicht automatisch ein Ende der (langen) Krise der europäischen (Groß-)Stadt78 bedeutet, sondern sie lediglich vor neue Herausforderungen und Probleme stellt.79 Die wachsende Stadt wird in Zukunft eher die Ausnahme sein, da auch die Städte von der allgemeinen demographischen Entwicklung betroffen sind, welche zu einem Rückgang der Bevölkerung führten.80 Grundsätzlich kann man
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einen tendenziell besser verdienen, wird es für andere zunehmend schwerer, überhaupt eine Arbeit zu finden, mit der sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Allgemein zum Thema Arbeit vgl. Hirsch-Kreinsen 2008. Vgl. Siebel 2012a, 204ff und Häußermann et al. 2008, 9 f. Häußermann et al. 2008, 18. AaO., 20. Vgl. dazu auch Gornig/Goebel 2013, 51–65. Vgl. Häußermann et al. 2008, 20 f. Vgl. Herfert/Osterhage 2012, 86 f. »Seit rund zehn Jahren weisen Großstädte im Durchschnitt Bevölkerungsgewinne auf – gegen den allgemeinen Trend einer abnehmenden Bevölkerungszahl in Deutschland. Die Mobilität in Form von innerstädtischen Umzügen wie von über die Stadtgrenzen reichenden Wanderungen ist hoch: Zum Beispiel tauschen Innenstadtquartiere rein statistisch alle sechs Jahre ihre Bevölkerung aus.« (Güles/Sturm 2014, 65f).
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davon ausgehen, dass tendenziell eher solche Städte wachsen, die entweder aufgrund historischer oder touristischer Umstände von Bedeutung oder wirtschaftlich stark und von daher attraktiv sind.81 Dies bedeutet, dass bei einer (voraussichtlichen) Abnahme der absoluten Zahl urban lebender Menschen der Anteil dieser an der Gesamtbevölkerung jedoch weiter steigt und dies regional höchst unterschiedlich in »einem Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Regionen in einer sich ausdehnenden demographischen Schrumpfungslandschaft.«82 All diese Entwicklungen führen – verbunden mit einer aufgewerteten Lebensqualität in urbanen Räumen – zu einer Renaissance der Städte83 und beschreiben die vierte Phase der Urbanisierung in Deutschland: eine Reurbanisierung.84 Die 81 Vgl. United Nations 2014, 18. 82 Herfert/Osterhage 2012, 88 f. »Das Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Städten scheint der These von der Renaissance der Stadt zu widersprechen.« (BBSR, 2011a, 2). Vgl. dazu auch aaO., 4 ff. 83 Walter Siebel beschreibt drei aktuelle Trends europäischer Stadtentwicklung: »Der ökonomische Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs-Gesellschaft. Die Dienstleistungs-gesellschaft wird auf absehbare Zeit eine ungerechtere Gesellschaft sein, als es die Industriegesellschaft in ihren beiden goldenen Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg gewesen ist. Es entstehen neue Formen sozialer Ungleichheit, die sich in der sozialräumlichen Struktur der Stadt niederschlagen, was zusätzliche Benachteiligungen zeitigen kann. Der demographische Wandel. Die Bewohner der Bundesrepublik werden weniger, und sie werden älter. Das wird neue und erweiterte Aufgaben der Politik vor allem in den Wohnquartieren einer alternden Bevölkerung zur Folge haben. Die Globalisierung und als eines ihrer sichtbarsten Kennzeichen die internationalen Wanderungsbewegungen. Gegenwärtig leben mehr als fünfzehn Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die entweder selber zugewandert oder direkte Nachkommen von Zuwanderern sind. Jeder fünfte Bewohner der BRD hat ›Migrationshintergrund‹. Sie leben vor allem in den großen Städten Westdeutschlands. In Stuttgart und Frankfurt stellen sie heute vierzig Prozent der Bewohner, bei den Kindern bereits sechzig Prozent, und das wird zur Normalität in vielen westdeutschen Großstädten werden. Damit kommen auf die Städte ungewohnte Integrationsaufgaben zu.« (Siebel 2012a, 204). 84 Vgl. u. a. Herfert/Osterhage 2012, 91–110; Siebel 2015, 152–173; BBSR 2011a und BBSR 2011b. Bzgl. der Verbindung von Reurbanisierung und Kulturwirtschaft, vgl. Siebel 2015, 189–284. Ausgehend von New York City prognostiziert Edward Glaeser eine ähnliche Entwicklung für die Städte der westlichen Welt: »The rise and fall and rise of New York City introduces us to the central paradox of the modern metropolis – proximity has become ever more valuable as the cost of connecting across long distances has fallen. New Yorks story is unique […], but the key elements that drove the city’s spectacular rise, sad decline, and remarkable rebirth can be found in cities like Chicago and London and Milan, as well.« (Glaeser 2012, 6). Dazu das BBSR: »Der lange Zeit nicht nur von Fachleuten beklagte ›Zug ins Grüne‹ der städtischen Bevölkerung ist zwar nicht zum Stillstand gekommen, hat aber an Bedeutung verloren. Die Renaissance der Städte hat die Suburbanisierung nicht abgelöst. Bemerkenswert ist aber, dass Wohnlagen in den Innenstädten wieder ›konkurrenzfähig‹ sind. Was Innenstädte anziehend macht, ist ihre Vielfalt, die Mischung unterschiedlicher Funktionen und Nutzungen.« (BBSR. 2011a, 2).
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dargestellten Dynamiken machen deutlich, dass eine Reurbanisierung nicht das Resultat einer Rückkehr zu traditionellen Formen urbanen Lebens ist, sondern in einer innovativen Anpassung und Neuformatierung von Städten als Lebensund Arbeitsraum besteht.85 Auch wenn sich Reurbanisierung als gesellschaftliches Phänomen lesen lässt, haben die Ausführungen deutlich gemacht, dass eine Wiederentdeckung und Wiederbelebung deutscher Städte weder auf alle zutrifft noch allen in gleichem Maße zugute kommen wird. Günter Herfert und Frank Osterhage unterscheiden – vor dem Hintergrund des demographischen Wandels – drei Reurbanisierungstypen86: R-Typ I: Relative Zentralisierung in leicht wachsenden Stadtregionen bei anhal tender bzw. sogar ansteigender Bevölkerungszunahme in der Kernstadt und geringer, sich abschwächender Bevölkerungszunahme im Umland. R-Typ II: Absolute Zentralisierung in Stadtregionen bei anhaltender Bevölkerungszunahme in der Kernstadt und leichter Bevölkerungsabnahme im Umland. In diesen Regionen vollzieht sich ein sanfter Übergang vom Wachstum zur Schrumpfung. R-Typ III: Relative Zentralisierung in schrumpfenden Stadtregionen bei leichtem Bevölkerungsrückgang in der Kernstadt und stärkerem Bevölkerungs rückgang im Umland.87
Dies zeigt, dass sowohl unter den Bedingungen von Wachstum (Typ I) als auch bei Schrumpfung (Typ III) Reurbanisierung stattfindet (Typ II stellt einen Übergangstyp dar). Da neben regionalen Unterschieden auch lokal unterschiedliche Dynamiken zu beobachten sind, die sich sowohl in einer steigenden Attraktivität des Lebens in der Innenstadt (Zentralisationskräfte) als auch in einer Dispersion urbanen Lebens ausdrücken, ist das Bild insgesamt disparat und 85 In Summa können folgende Ursachen für den Trend zur Reurbanisierung angeführt werden: Globalisierung (Vgl. Brake/Herfert 2012c, 409ff; Häußermann et al. 2008, 8f und Keller 2014a, 150f), Zunehmende Attraktivität urbanen Lebens v. a. für junge Menschen (Vgl. Gornig/Goebel 2013, 56 und Brake/Herfert 2012c, 409), Immigration (Vgl. dazu auch Kabisch et al. 2012 und Häußermann et al. 2008, 10f). Häußermann et al. (Vgl. Häußermann et al. 2008, 16f) nennen listenartig weitere Gründe: neue Formen des Arbeitens und neue Anforderungen an die Arbeit (z. B. Etablierung einer Wissensökonomie/Vermischung von Wohnen und Arbeiten innerhalb der Stadt); Pluralisierung der Arbeitsverhältnisse und damit einhergehender Wandel des Normalarbeits-verhältnisses; Zunahme egalitärer Beschäftigungsmuster und schwindende Attraktivität suburbaner Lebensweise; Zunahme von Singlehaushalten; zunehmende Schwierigkeit für private Haushalte langfristig zu planen; umfangreicher demographischer Wandel; Begrenzung funktionaler Ausdifferenzierung; »Rezentralisierung des Siedlungssystems bei rückläufiger Bevölkerung« (AaO., 17). 86 Vgl. Herfert/Osterhage 2012, 88–90. 87 AaO., 89.
3. Fazit: Die Stadt als Totalphänomen
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wenngleich von Reurbanisierung »als einer mittelfristig wirksamen Tendenz auszugehen«88 ist, wird die Stadtentwicklung durch ein Neben- und Ineinander von Dezentralisierung und Zentralisierung geprägt sein.89 Angesichts des komplexen Bildes, sprechen Klaus Brake und Günter Herfert bei der inhaltlichen Beschreibung von Reurbanisierung eher von einer Neo-Strukturierung90 der Stadtregion »zugunsten der –insbesondere inneren – Stadt.«91 Ähnliches kon statieren Autoren des BBSR-Berichtes Zurück in die Stadt92, wenn sie angesichts unterschiedlicher Formen und Intensitäten von Reurbanisierung schreiben: Etwaige Motive, (wieder) in die Stadt zu ziehen oder dort zu bleiben, können von Fall zu Fall ins Leere laufen, wenn Städte zu wenig ›Städtisches‹ zu bieten haben: kurze Wege, Polyzentralität, ein positiv wirkendes, durchgrüntes Stadtbild, vielfältige, nahe gelegene Versorgungs- und Freizeitangebote, Kommunikations- und Nutzungsmöglichkeiten in öffentlichen Räumen.93
3. Fazit: Die Stadt als Totalphänomen Die bisherigen Versuche einer Annäherung und Beschreibung machen deutlich, dass es eine einzige und umfassende Definition nicht geben kann, da eine solche nicht imstande wäre, das komplexe und sich ständig ändernde Phänomen Stadt zu erfassen. Schäfers spricht in Anlehnung an den Begriff phénomène social total (Marcel Mauss) von der Stadt als einem gesellschaftlichen Totalphänomen94, welches – um einigermaßen angemessen beschrieben zu werden – möglichst in seiner Komplexität erfasst werden muss.95 Folglich bleibt jede Definition ein fragmentarischer Versuch und stellt lediglich eine Momentaufnahme dar. Zumal die jeweilige Darstellung von Stadt auch nur die wahrgenommene und gedeutete Beschreibung dieser ist, welche »als solche […] je nach Perspektive und Kontext als abgegrenzte eigene Formationen oder als heterogene, widersprüchliche Anordnungen erlebt und gelebt werden [können].«96 Nachdem 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Brake/Herfert 2012, 412. Vgl. aaO., 411–417. Zum Begriff vgl. aaO., 416 f. AaO., 417. Das BBSR hat zehn Städte (Aachen, Bonn, Dresden, Freiburg, Ingolstadt, Jena, Karlsruhe, Köln, München und Potsdam) auf das Phänomen hin untersucht, vgl. BBSR 2011b, besonders 2 ff. AaO., 19. Vgl. Schäfers 2010, 18 f. Vgl. Eckardt 2009, 7–19. Kneer/Schröer 2010, 606.
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
der Versuch unternommen wurde, das Phänomen Stadt im Allgemeinen97 zu beschreiben und zu definieren, sollen nun weitere Begriffe geklärt werden.
4. Weitere Begriffsklärungen98 4.1 Verstädterung Verstädterung99 meint das Anwachsen des Anteils urban lebender Bevölkerung in einem Land oder einer Region, welches zu Lasten der ländlichen Bevölkerung geht. »Verstädterung bezeichnet somit eine Verschiebung der Bevölkerungsverteilung und einen Wandel der Siedlungsstruktur eines Landes.«100 Die Verstädterung101 der europäischen Gesellschaft ist eng mit deren Industrialisierung verbunden und ging sowohl mit großen gesellschaftlichen Umwälzungen als auch mit einer damit eng verbundenen Wanderungsbewegung weiter Teile der Gesellschaft einher102: »Die Hochphase der Verstädterung zwischen 1870 und 1925 ging einher mit einer Binnenwanderung […]. Zwischen 1860 und 1925 verließen etwa 22 bis 25 Mio. ihre Ursprungsgemeinde.«103 97 Die Autoren des EKD-Textes 93 Gott in der Stadt beschreiben (trotz aller Unterschiede, Wandlungen und Brüche im Laufe der Geschichte der europäischen Stadt), vier Merkmale der Idee der europäischen Stadt: • Verdichtung im Blick auf die Bevölkerung, die Bauten und die Nutzungen • Stadt-Land-Gegensatz: die Differenzerfahrung zum wirtschaftlich autarken ländlichen Lebensraum • Zentralität: die Stadtkrone mit Rathaus, Markt und Kirche als konkreter und symbolischer Ausdruck der politischen, ökonomischen und religiös-geistigen Selbstbestimmung der Stadt • Heterogenität und Mischung: das Neben- und Miteinander der verschiedenen sozialen Gruppen sowie ihrer verschiedenen Nutzungen von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr. (Kirchenamt 2007b, 10). 98 An dieser Stelle werden solche Begriffe geklärt, die für das Thema der Dissertation von Interesse sind. 99 Zum Begriff vgl. Herrmann 2014b. Eine zweite Bedeutung von Verstädterung ist die Beschreibung einer Konzentration innerhalb eines Städtesystems, z. B. die Herausbildung einer Primatstadt (was in Deutschland aufgrund der territorialstaatlichen Geschichte weniger der Fall ist als in Frankreich oder Großbritannien) oder die Bevölkerungskonzentration einer Stadtregion auf die jeweilige Kernstadt, vgl. Häußermann et al. 2008, 22 f. 100 Häußermann et al. 2008, 22. 101 Vgl. auch aaO., 22–29. 102 Vgl. auch Wolf, 2007, 48 ff. und 64 f. 103 Häußermann/Siebel 2004, 21. Dass die Verstädterung der Gesellschaft und die Veränderung der Art und Weise der Produktion eng zusammenhängen, zeigt auch ein Zitat von Häußermann/Siebel aus dem Jahr 1978: »Obwohl die neue Produktionsweise, die auf Kapital und
4. Weitere Begriffsklärungen
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Das Ergebnis dieses Prozesses ist, dass gegenwärtig rund Dreiviertel der Bevölkerung in entwickelten Ländern in Städten leben und, obwohl dieser Prozess weitestgehend abgeschlossen ist, wird für das Jahr 2030 ein Anteil von fünf Sechsteln prognostiziert.104 Für Deutschland gilt, dass »[z]wischen 1900 und 1910 […] der Verstädterungsprozeß [sic!] seinen Zenit«105 überschritten hat und das Wachstum von Städten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts deutlich langsamer vonstatten ging. Die dicht besiedelten Städte dehnten sich durch Suburbanisierung in das Umland aus und verloren dadurch ihre zuweilen extrem dichte Besiedlung. Häußermann et al. sprechen von einer Phase der »dekonzentrierten Konzentration«106 und beschreiben damit das Wachstum der urbanen Räume auf Kosten der ländliche Gebiete, jedoch in Form eines suburbanen Wachstums. So gibt es seit den 1970er Jahren in Westdeutschland und seit 1990 besonders in den neuen Bundesländern eine neue Form von Stadt: die schrumpfende Stadt, die mit einem stetigen Rückgang ihrer Einwohnerzahl (demographisch v. a. durch Geburtenrückgang und Abwanderung)107 konfrontiert ist.108
Lohnarbeit beruht, keineswegs auf die Stadt als Ort der Realisierung angewiesen ist (in vielen Fällen entstanden die ersten Fabriken auf dem Lande oder vor den Toren der Städte), wird doch die Stadt, und später die Großstadt, zum vorherrschenden Siedlungsmuster der indus triellen Epoche.« (Häußermann/Siebel 2013, 114). 104 Vgl. Häußermann et al. 2008, 22. Eine ähnliche – aber weit größere – Verstädterung, ereignet sich gegen-wärtig (besonders in den Ländern des sog. globalen Süden): Doug Saunders nennt dies »the largest migration in history«, so der Untertitel seines 2010 erschienenen Buches Arrival City, vgl. Saunders 2011. 105 Häußermann et al. 2008, 25. 106 Ebd. 107 Vgl. Kühn 2016, 155. Manfred Kühn verweist darauf, dass mit der demographischen Per spektive nur ein »Symptom an der Oberfläche beschrieben« (ebd.) wird, vgl. aaO., 155–159. »In schrumpfenden Städten und Regionen wirken in der Regel geringe Geburtenraten, ökonomische Strukturschwäche, Abwanderung und soziale Armut zusammen.« (AaO., 156). 108 Vgl. Häußermann et al. 2008, 25 f. Vgl. dazu Artikel Schrumpfende Städte in Häußermann et al. 2008, 203–224. Zur Peripherisierung von Städten vgl. auch Kühn 2016. Kühn beschreibt Peripherisierung als »sozialräumlichen Prozess« (aaO., 76) und zählt dazu folgende Merkmale: »a) die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, b) die Abkopplung von der ökonomischen Innovationsdynamik bzw. von materiellen Infrastrukturen, c) die Abhängigkeit von Entscheidungszentren und d) die Stigmatisierung.« (AaO., 156). Vgl. dazu ausführlicher aaO., 75–80 und 156–158.
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4.2 Urbanisierung und Urbanität109 Betont der Begriff Verstädterung110 die geographisch und sozialräumliche Veränderung menschlichen Zusammenlebens, so beschreibt Urbanisierung111 die damit zusammenhängenden kulturellen und gesellschaftlichen112 Veränderungen, welche nicht als Folgen einer irgendwie gearteten allgemeinen Verstädterung zu bewerten sind, sondern in vielen Fällen als deren Ursachen113 – dazu zählen u. a.: • Steigende Mobilität: Im 19. Jahrhundert pendelten die neuen Städter z. T. saisonal zwischen Land und Stadt – je nachdem wo es wann Arbeit gab – z. B. während der Erntezeit. • Auflösung der Ständegesellschaft und Entstehung neuer gesellschaftlicher Schichten: Im 19. Jahrhundert entsteht das Proletariat und im 20. Jahrhundert u. a. die sog. Yuppies114 (young urban professionals).115
109 Vgl. auch Grünbergs Aufsatz Die Großstadt als Lebensort und Lebensform, vgl. Grünberg 2004, 25–35. 110 Vgl. dazu Siebel 2015, 114–120. 111 Vgl. aaO., 121–141 und Häußermann et al. 2008, 22–29. 112 Häußermann/Siebel kritisieren die Vorstellung, dass sich die Verhaltensweisen des urbanen Menschen direkt aus der spezifischen Art des Zusammenlebens ergeben und somit habituelles Resultat des Lebensraums wären (»Die Tendenz, soziale Phänomene aus nicht-sozialen Ursachen zu erklären« Häußermann/Siebel 2004, 93). Diese lineare Kausalität ist ihnen zu simpel (»Verkürzung und Entdifferenzierung« Ebd.) und erinnerte an die pauschale Kritik der konservativen Stadtkritik. Stattdessen entdecken sie in der Ausbildung urbaner Lebensweisen einen allgemeinen gesellschaftlichen Wandel (»[…] die moderne Großstadt [als] eine Folge der Industriegesellschaft.« AaO., 94), der sich in Städten besonders pointiert und konzentriert beobachten lässt, seine Ursachen aber nicht (primär) in diesem Raum hat, vgl. Häußermann/ Siebel 2004, 93 ff. Zu (einer theologischen) Stadtkritik vgl. auch Zarnow 2018, 188–192. 113 »Was in den großen Städten geschieht, ist nicht eine notwendige Folge der Großstadt, sondern – wie die Großstadt als Siedlungsform selbst – eine Konsequenz sozialer Veränderungen, hauptsächlich der kapitalistisch organisierten Industrialisierung. Diese erzeugt die große Stadt und mit ihr zusammen die großstädtische Lebensweise in all ihren Ausprägungen.« (Häußermann/Siebel 2004, 96). 114 Vgl. Häußermann et al. 2008, 242 f. 115 Spannend ist hier die Beobachtung, dass die neu entstehenden sozialen Schichten der Stadt (z. B. Proletariat und Yuppies) eine gesellschaftlich-kulturelle Vorreiterrolle mit enormer Prägekraft hatten und haben: So war das Proletariat jene Bevölkerungsschicht, die als erste in großem Stil die Kirche verließ und einer starken Säkularisierung unterworfen war und damit eine später gesamtgesellschaftlich auftretende Entwicklung vorwegnahm, vgl. Wolf 2007, 63–76; Kretzschmar 2007, 40f und Conn 2001, 52 ff. Entsprechend das Fazit einer Untersuchung von Antje Güles und Gabriele Sturm zu Individualisierung und Armutsgefährdung in Städten: »Vergleichen wir […] alle Befunde für die zuvor vorgestellten vier Indikatoren, die Hinweise auf den Stand des Individualisierungsprozesses in deutschen Großstädten geben können. Zu-
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• Entstehung neuer Arbeitsformen: Die Beschäftigung wandelte sich von mehrheitlich landwirtschaftlichen Tätigkeiten hin zu industrieller bzw. heute zunehmender Beschäftigung im Bereich der new economy bzw. Wissensökonomie und im Dienstleistungssektor. • Wandel der Familienstrukturen: Abnahme von traditionellen (Groß-)Familien und Zunahme von Patchwork-Familien, Wochenendbeziehungen, Fernehen, Abnahme der Geburtenrate sowie steigender Anteil von Singlehaushalten. • Veränderung der Wohnverhältnisse: Wohnraum wird gemietet und nicht mehr erworben und vererbt. • Kultureller Wandel: Im Zuge der Globalisierung entsteht eine sich weltweit vereinheitlichende urbane Kultur, die sich durch den Austausch zwischen den Städten zunehmend homogenisiert etc.116 (»Millionenstädte etwa sind zu Filialen der zusammenwachsenden Welt geworden, samt allen Problemen und Chancen.«117)118 Somit ist Urbanisierung: »[…] mehr als Bevölkerungsverdichtung. Sie hat mit spezifischen Formen menschlicher Beziehungen zu tun, mit Kommunikation, wechselseitigen Bezügen und komplexen Mustern des kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens, die über die eng verbundenen Lebensformen kleiner Gemeinschaften hinausgehen.«119 Über den wechselseitigen Zusammenhang von Lebensort und Lebensstil schreiben Häußermann/Siebel: Die These, dass es einen Zusammenhang zwischen Lebensstilen und Wohnweisen bzw. Wohnstandort gebe, ist inzwischen weitgehend akzeptiert. Dadurch hat sich die Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Stadtentwicklung und Lebensweise umgekehrt: Nicht mehr die Stadtentwicklung prägt die Lebensweisen, sondern die Lebensweisen prägen die Stadtentwicklung.120
Beschreibt Verstädterung im Wesentlichen einen quantitativen und Urbanisierung einen dazugehörigen qualitativen Prozess so bezeichnet der Begriff Urbanität121 schließlich die urban geprägte Lebensweise, die sich gegenwärtig nächst ist festzustellen, die alle vier betrachteten Haushaltstypen in großen Städten häufiger als in anderen Siedlungsformen anzutreffen sind. Dies bestätigt die These, dass Städte Vorreiter in Prozessen gesellschaftlichen Wandels sind« (Güles/Sturm 2014, 82). 116 Häußermann/Siebel 2004, 24–28. 117 Grünberg 2003, 169 f. 118 Zur Attraktivität von Städten für Ausländer vgl. BBSR 2011b, 16 f. 119 Frenchack/McGibbon 2013, 101. 120 Häußermann/Siebel 2004, 76. 121 Zum Thema »Transnationale Urbanität«, vgl. Wildner 2012.
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in steigender Homogenität in fast allen urbanen Räumen findet und selbst in ländlichen Räumen zunehmend zu beobachten ist.122 Häußermann et al. definieren eine urbane Lebensweise als »gesittetes Verhalten, das gekennzeichnet ist durch Weltoffenheit, Toleranz, Distanz, eine zivilisierte, gewandte Art des Umgangs unter Menschen.«123 Wenngleich urbanes Leben einem steten Wandel unterworfen ist, hat sich eine typisch urbane Lebensweise erhalten: »Ein bleibendes Kennzeichen der städtischen Lebensweise ist seit den Ausführungen Simmels […] die relative Anonymität bei Begegnungen sowie eine Art ›positive Ignoranz‹, die den Fremden so sein lässt, wie er ist.«124 Somit prägt das hohe Maß an Öffentlichkeit125 die Mentalität der Stadtbewohner, sich in Form einer gewissen Indifferenz von der Vielzahl an Eindrücken, Begegnungen und Interaktionen einer Stadt abgrenzen zu müssen. Georg Simmel126 beschrieb diese Haltung mit den Begriffen Intellektualität127, Blasiertheit128 und Reserviertheit129. Die Begegnungen zwischen Menschen seien – laut Simmel – unpersönlich und zweckmäßig und die Begegnung beschränke sich zumeist auf bestimmte zugeschriebene oder gewählte Rollen, die für die jeweilige Begegnung von Interesse sind: »Funktionale Rollen strukturieren die sozialen Beziehungen.«130 Sind Überschneidungen verschiedener Rollen in einer ländlich und ländlich-peripher geprägten Region normal, so sind solche Überschneidungen – je nach Größe der Stadt – in einem urbanen 122 Vgl. Spellerberg 2014. 123 Häußermann et al. 2008, 26. 124 Herrmann 2014b, 600. 125 Vgl. zum Thema Urbanität und Öffentlichkeit den gleichnamigen Aufsatzband von Christina Aus der Au et al. aus dem Jahr 2013. 126 Vgl. Simmel 2006, 8ff und Junge 2012, 83ff, besonders 88 ff. Zur Kritik an der Einseitigkeit der Simmelschen Sichtweise, welche Aspekte wie schützende lokale Sozialbeziehungen ausblendet, vgl. Préteceille 2013, 30 f. 127 Mit Intellektualität meint Simmel die Beobachtung, dass Großstädter einen möglichst rationalen und sachlichen Zugang zu Beziehungen pflegen, in welchem ihr Verstand als Schutz vor Emotionen und Überforderung diene. Diese Haltung korreliere besonders gut mit der Geldwirtschaft, die sich vorrangig in Städten findet, vgl. Simmel 2006, 8ff und Junge 2012, 89. 128 Blasiertheit beschreibt die Abgeklärtheit, mit der Großstädter den zahlreichen und verdichteten Reizen begegnen. Sie wirkten zuweilen abgestumpft und unempfänglich dafür, auf jeden neuen Reiz einzugehen, vgl. Simmel 2006, 18ff und Junge 2012, 89 f. Zarnow schreibt: »Bester Beleg für Simmels These aus der heutigen Zeit wären die allpräsenten Kopfhörer im Ohr: Die Welt draußen wir gedämpft, die Innenwelt verstärkt. Großstadtmenschen bauen gleichsam unsichtbare Blasen um sich herum.« (Zarnow 2018, 202). 129 Mit Reserviertheit wird die Tatsache unterstrichen, dass ein Städter aufgrund der Vielzahl an sozialen Kontakten auf Distanz bleibe und nicht allzu schnell einen eingehenderen Austausch führe, sondern eher von Zurückhaltung oder gar Zurückweisung geprägt sei. Diese Distanziertheit könne von Außenstehenden zuweilen als Gefühlskälte gedeutet werden, vgl. Simmel 2006, 22ff und Junge 2012, 90. 130 Préteceille 2013, 35.
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Raum eher selten bis ausgeschlossen. Aufgrund der Tatsache, dass sich die Städter im Umgang miteinander eher fremd bleiben, schlussfolgert Simmel, dass die Stadt ein geeigneter Ort ist, um Fremde zu integrieren.131 Oder pointiert: »Die Integration des Fremden ist die Utopie der Stadt.«132 Dabei meint aber Urbanität nicht nur ein bestimmtes Verhalten133, sondern auch die weitreichende Veränderung des Lebensstils aufgrund einer veränderten und sich stetig wandelnden Arbeits-, Wohn- und Freizeitgestaltung. So wird durch eine urbane Lebensweise die Erwerbsarbeit vom privaten Haushalt getrennt und findet an einem separaten Ort und zu (mehr oder weniger) festen Zeiten statt. Dies entlastet den Haushalt und fördert eine Konsumkultur134, in der die jeweiligen Bedarfe durch den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen gedeckt werden. Ebenso wurden die Familien verkleinert, da zum Haus gehöriges Personal nicht mehr gebraucht wurde und kleinere familiäre Einheiten selbstständiger wurden: »Zurück blieben die Eltern mit ihren leiblichen Kindern, die Kernfamilie.«135 Diese kleinere Einheit wurde dann zum Ort einer kultivierten Privatheit, die sich vom öffentlichen Raum abgrenzte. Häußermann verweist in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen einer »intimisierten privaten Sphäre der Wohnung und einer öffentlichen Sphäre auf dem städtischen Markt«136 und die dadurch entstehende Polarisierung von Privatheit und Öffentlichkeit.137 Häußermann/Siebel bilanzieren: »Die Großstadt schafft damit einen sozialen Raum für akzeptierte Differenzen, in dem sich Unbekannte und Fremde leichter bewegen und einordnen können als in den geschlossenen sozialen Kreisen des Dorfes.«138 Folglich beschreiben die Autoren die »Ausdifferenzierung
131 Vgl. Simmel 2006, 24–32 und Häußermann/Siebel 2004, 35–43. 132 Kirchenamt 2007b, 10. Dabei gehe es nicht darum, dass Fremde zu ignorieren oder zu negieren, sondern es »in gewisser Weise [zu] transzendier[en].« Ebd. 133 Zur Kritik an einer urbanen Verhaltensforschung: »Geht man schon von kulturellen Phänomenen der Stadt aus – und dies ist durchaus ein legitimer Gegenstand soziologischer Forschung –, dann stellt die Beschränkung auf einen bestimmten Verhaltensstil eine unzulässige Vereinfachung dar: sie unterstellt, daß [sic!] es etwas typisch Städtisches über alle Klassen- und Schichtungsgrenzen hinweg gibt. Doch ist offenkundig, daß [sic!] sich Lebens- und Verhaltensstil städtischer Bourgeoisie und städtischen Proletariats kaum auf einen sinnvoll gemeinsamen Nenner bringen lassen; daß [sic!] wir Soziologen bis heute so wenig über die spezifischen Lebensformen der Arbeiterklasse wissen, ist noch lange kein Grund für die Annahme, diese gebe es nicht.« Häußermann/Siebel 2013, 113 f. 134 Zum sog. städtischen Konsumentenhaushalt, vgl. Häußermann/Siebel 2004, 67–71. 135 Häußermann et al. 2008, 26. 136 AaO., 27. 137 Vgl. dazu auch Häußermann/Siebel 2004, 55–66. 138 AaO., 36.
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funktionaler Rollen«139 als ein Kennzeichen (groß-) städtischer Lebensweise. Diese Ausdifferenzierung finde sich laut Wolf-Dietrich Bukow auf allen Ebenen der Stadt, denn »[d]ie urbane Struktur wird […] nicht nur als Ganze funktional differenziert, sondern auch im Detail, d. h. intern Stadtteil für Stadtteil und Quartier für Quartier.«140 Dieser Prozess beschränkt sich aber eben nicht nur auf die Stadt als solche, sondern gewinnt sowohl lokale als auch überregionale Bedeutung und formt schließlich die gesamte Gesellschaft und dies gewissermaßen unter urbanen Vorzeichen: »So wird die Stadtgesellschaft mit ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung zugleich Teil eines zunehmend ausdifferenzierten gesellschaftlichen Ganzen.«141 Der Trend zur familiären Verkleinerung und privaten Abschottung förderte nicht zuletzt auch eine Individualisierung142, die ebenfalls ein Kennzeichen urbanen Lebens ist. Häußermann et al. definieren sie als »die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von den Zwängen und Anforderungen der Nachbarschaft oder Familie zu führen: die Emanzipation aus der Gemeinschaft, die der Bauernhof oder das Dorf darstellten.«143 Dabei sorgen sowohl eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung als auch eine Arbeitsteilung für einen individualisierten Lebensstil, der sich verschiedener Anbieter und Netzwerke bedient, um den verschiedenen Bedürfnissen des Lebens zu begegnen und das Leben in verschiedene Bereiche einteilt und diesen Bereichen verschiedene Orte, Personen, Netzwerke, Strukturen, Zeiten und Prioritäten zuweist. Vieles von dem, was zuvor durch die Familie geleistet wurde, bieten nun dezentralisierte Einrichtungen und Träger an und so werden der Familie stetig Kompetenzen entzogen (bspw. die Versorgung und Pflege alter Menschen).144 Insofern ist die Stadt auch ein Ort der Emanzipation von einer als kontrollierend und verengend empfundener Lebensweise auf dem Land oder in der Großfamilie, die in gewisser Hinsicht für »alles« zuständig war. Dieser Prozess beschreibt dann sowohl Verluste (von Tradition, Struktur und manchen verbindlichen Beziehungen) als auch Gewinne (von Freiheit, Individualität und Selbstverwirklichung als Wahlfreiheit).145 Eckart Leipprand postuliert, dass jeder Städter zur Urbanität bereit sein und sie gestalten muss – sie ist also folglich nicht nur ein Automatismus, der einen überkommt, sondern auch die Wahrnehmung 139 Ebd. 140 Bukow 2011, 218. 141 Ebd. 142 Siehe der Aufsatz Die kleinräumige Struktur sozialräumlicher Individualisierung in deutschen Großstädten von Antje Güles und Gabriele Sturm, vgl. Güles/Sturm 2014. Vgl. dazu auch Simmel 2006, 24 ff. 143 Häußermann et al., 2008, 27. 144 Vgl. aaO., 27–29. 145 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 44 f.
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einer aktiven Aufgabe, mit der jeder Bewohner einer Stadt konfrontiert ist. Dabei gibt es laut Leipprand verschiedene Formen der Urbanität (z. B. Wohnund Geschäftsurbanität), die auch ein unterschiedliches starkes Maß an urbaner Mitgestaltung darstellen.146 Da Verstädterung und Urbanisierung stetig zunehmen, nimmt auch die urbane Lebensweise zu und dies nicht nur im urbanen Raum147, sondern – so stellt das Team um Häußermann fest – hat »[d]ie Urbanisierung […] das Land erreicht«148 und »das Land ist zunehmend physisch verstädtert und kulturell urbanisiert.«149 Wolfgang Grünberg schreibt dazu: »Die Großstadt ist unser Schicksal. […] Die Kommunikationstechnologie und Unterhaltungselektronik […] macht uns alle, wo immer wir leben, zu Bewohnerinnen und Bewohnern virtueller Weltstädte.«150 Und weiter: »Darum werden Chancen und Probleme aller Weltgegenden medial, emotional, mental bis ins letzte Dorf hineinschwappen.«151 So schreiben Martin Kronauer und Walter Siebel, dass »Verstädterung und Urbanisierung […] den Stadt-Land-Gegensatz zunächst abgeschwächt und schließlich überwunden [haben].«152 Analog zu dieser Beobachtung beschreibt Wolfgang Grünberg StadtKirchenarbeit als eine Dimension aller kirchlicher Arbeit in einer urban gewordenen Welt: »StadtKirchenarbeit ist […] eine notwendige Dimension, ein Kriterium kirchlicher Arbeit in unserer Welt, die eine urbane Welt geworden ist, unabhängig davon, ob man in Dörfern, Kleinstädten oder in einem Ballungszentrum lebt.«153 Grünberg postuliert somit, dass es ein grundlegendes urbanes Element des Lebens gibt, welches die Art und Weise, wie Gemeindeentwicklung geschieht, grundsätzlich bestimmen sollte – unabhängig davon, wo Gemeindeentwicklung tatsächlich stattfindet.154
146 Vgl. Leipprand 2000, 123 ff. 147 Vgl. dazu Spellerberg 2014, Keller 2014a, 148–151 und Hauschildt 2016, 147. 148 Häußermann et al. 2008, 29. 149 AaO., 40. 150 Grünberg 2004, 34. 151 Ebd. 152 Kronauer/Siebel 2013b, 9. 153 Grünberg 2003, 166. 154 Als inhaltliche Trias schlägt Grünberg vor: a) »Die Arbeit am Gewissen der Stadtöffentlichkeit« b) »Die Sorge für das Gedächtnis der Stadt und ihrer Bewohner« und c) »Die Inszenierung der Hoffnung am jeweiligen Ort«. (AaO., 186) Für praktische Beispiele vgl. aaO., 175–183.
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4.3 Exkurs: Die Urbanisierung der Gesellschaft und die Auflösung des Stadt-Land-Gegensatzes Die umfassende Urbanisierung (u. a. durch eine »funktionale Verflechtung von Stadt und Land durch die Industrialisierung«155 siehe oben) weiter Teile der Gesellschaft156 – sowohl des städtischen157 als auch des ländlichen Raums – bleibt nicht ohne Folgen für das Verhältnis von Stadt und Land. Dabei ist die Annäherung beider Größen durchaus eine wechselseitige: Einerseits finden sich urbane Lebensweisen verstärkt auf dem Land (Lohnarbeit, Marktwirtschaft, Wohnen in der Kleinfamilie, Trennung von Arbeit und Freizeit etc.158) und andererseits finden sich ländliche Formen des Zusammenlebens (z. B. »traditionelle gemeinschaftliche Bindungen«159) ebenso in der Stadt: Die grundsätzlichen politischen und ökonomischen Systemunterschiede, die im Mittelalter den Gegensatz von Stadt und Land bestimmt hatten, sind aufgehoben. Marktwirtschaft und Demokratie definieren längst nicht mehr die Besonderheit der Stadt. Auch die beruflichen Tätigkeiten gleichen sich mehr und mehr einander an, selbst auf dem Land arbeitet nur noch eine kleine Minderheit im landwirtschaftlichen Sektor. Damit – und mit der Industrialisierung der Landwirtschaft selbst – schwindet die objektive Basis für eine Differenzierung der Lebensweisen.160
So hat die Abgrenzung und das Gegenüber von Stadt und Land deutlich an Bedeutung verloren.161 Dieser Bedeutungsverlust ergibt sich einerseits aus der »Auflösung feudaler Produktionsstrukturen«162, welche zur Folge hat, dass »sich städtische und ländliche Ökonomie einander an[glichen]«163 und man eher von einer »intensiveren Arbeitsteilung«164 statt von einem Gegensatz zwischen Stadt und Land sprechen kann. Diese Entwicklung sorgte dafür, dass »die 155 Häußermann et al. 2008, 33. 156 »Schon heute ist der Urbanisierungsgrad für viele Länder so hoch, dass die Evidenz von Forschung nur noch in urbanisierten Kontexten zu finden sein wird.« (Eckardt 2009, 10). 157 Zu der Möglichkeit einer Verstädterung ohne Urbanisierung vgl. Häußermann et al. 2008, 35 f. 158 Vgl. aaO., 35 und 40. 159 AaO., 35. 160 AaO., 34. 161 Vgl. Häußermann/Siebel 1987, 104–118, besonders 104–106. Den 1978 im Leviathan erschienen Aufsatz Thesen zur Soziologie der Stadt, beschreiben Frank et al. »rückblickend als Gründungsdokument einer ›kritischen Stadtsoziologie‹ im deutschen Sprachraum« (Frank et al. 2013, 199). 162 Häußermann/Siebel 1987, 105. 163 Ebd. 164 Häußermann et al. 2008, 33.
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landwirtschaftliche Produktion […] ebenso kapitalistisch organisiert [wurde] wie die städtische, die im 19. Jahrhundert ganz aus den antikapitalistischen Organisationsformen der Zünfte herausgeführt wurde.«165 Daraus166 und aus der empirischen Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der west-europäischen Gesellschaften in Städten wohnt – und somit der Großteil der Einwohner dieser Staaten urban lebt – ergibt sich eine Omnipräsenz urbaner Kultur.167 Hinzu kommt, dass aufgrund einer »Urbanisierung« der Kultur, auch diejenigen, die auf dem Land leben, von Urbanität betroffen sind und sich durch einen urban geprägten Lebensstil auszeichnen. Die Folge ist, dass der Unterschied zwischen Stadt und Land eher »als Mehr oder Weniger des gleichen«168 beschrieben werden kann oder anders: »Beides verschwindet im Brei der Agglomeration.«169 Dabei verweisen Häußermann et al. darauf, dass die zunehmende Annäherung von urbanem und ländlichem Raum nicht nur ein soziales Konstrukt, sondern eine empirisch fassbare Realität ist: »Die empirischen Beschreibungen der Stadt-Land-Unterschiede folgen generell dem Muster schwindender Bedeutung und wachsender Anpassung.«170 Folglich wird es schwieriger, Stadt und Land als scharf voneinander abgrenzbare Begriffe zu beschreiben.171 Für die stadtsoziologische Forschung bedeutet dies, dass, wenn die Stadt als Gegenstand nicht mehr klar abgrenzbar ist, »Stadtsoziologie […]
165 Häußermann/Siebel 1987, 105. 166 »Im langsamen Prozeß [sic!] der Ausbreitung ökonomischer Formen, die vordem stadtspezifisch waren, mit der kapitalistischen Kolonisierung sämtlicher Wirtschaftsbereiche und mit der Verallgemeinerung auch der politischen Formen durch die bürgerliche Revolution, ist diese Kultur als Stadtkultur verschwunden. Sie wurde nach und nach zur Form der gesamten Gesellschaft, vollständig erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge die letzten Reste der vorbürgerlichen Gesellschaft beseitigt wurden.« (AaO., 239). Dieser Prozess wurde verstärkt durch die Tatsache, dass die Städte durch ihre Einbettung in Nationalstaaten ihre politische, militärische und soziale Eigenständigkeit verloren hatten, was ihre Unterscheidbarkeit vom Land zusätzlich erschwerte, vgl. Frank 2013, 199 ff. 167 Heike Herrmann merkt dazu grundsätzlich an: »Ob in Europa noch zwischen einer städtischen und nicht-städtischen (d. h. dörflichen) Lebensweise unterschieden werden kann, also die dritte Dimension der Verstädt-erung als Analysedimension weiterhin hilfreich ist, ist umstritten.« (Herrmann 2014b, 600). Zum Verhältnis von Stadt und Land vgl. Häußermann et al. 2008, 30–42. 168 Häußermann et al. 2008, 41. Häußermann/Siebel schrieben dazu bereits 1978: »Wenn sich aber in hochentwickelten kapitalistischen Industriestaaten die städtische nicht mehr eindeutig von einer ländlichen Produktionsweise unterscheiden läßt [sic!] und wenn 70 % der Bevölkerung in Städten wohnen, ist die Untersuchung der Stadt in Wirklichkeit die Untersuchung der ›modernen‹ (= industriellen) Gesellschaft, die Stadt also nur der Ort, an dem die Gesellschaft in ihrer Struktur und ihren Konflikten erscheint.«, (Häußermann/Siebel 2013, 103). 169 AaO., 106. 170 Häußermann et al. 2008, 34. 171 Dagegen vgl. Berking/Löw 2008b.
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Gesellschaftsanalyse in der Stadt sein [müsse].«172 Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Stadt und Land mehr gäbe.
4.4 Unterschiede zwischen Stadt und Land sowie zwischen einzelnen Städten Der offensichtlichste Unterschied zwischen Stadt und Land ist die Bevölkerungsdichte, »die in der Großstadt im Durchschnitt zwanzigmal so hoch ist wie in ländlichen Gebieten.«173 Zudem ist die Heterogenität der Stadt ein weiteres zentrales Element, welches sie vom Land unterscheidet. Dabei umfasst die Vielfalt alle Ebenen: »Die Bevölkerung ist heterogener hinsichtlich der Berufe, der Bildungswege und ethnischen Zugehörigkeit.«174 Zudem ist auch die Wirtschaft einer Stadt deutlich vielfältiger, komplexer und stärker ausdifferenziert als auf dem Land. Weitere Unterschiede finden sich laut Häußermann et al. vor allem auf sozialer Ebene. So zeigt sich, dass in ländlichen Gebieten zwar ein ökonomischer und struktureller Wandel stattgefunden hat, dies jedoch nicht zwangsläufig soziale Folgen zeitigt, sondern Unterschiede zwischen Stadt und Land weiterhin bestehen. Sie sprechen von einem sog. cultural lag und meinen damit: »Ein Überbau an Normen, Regeln und Mentalitäten existiert demnach [auf dem Land] weiter, obwohl die materielle Basis verschwunden ist.«175 Dies gilt jedoch weniger für kleine Gemeinden im Umfeld von Städten, da dort primär Städter leben, die im Zuge der Familiengründung an den Rand der Stadt gezogen sind. Neben dem Sozialverhalten ist es das Familienleben, bei welchem Häußermann et al. Differenzen zwischen Stadt und Land feststellen. So lebten (Ende der 1990er Jahre)176 bspw. in Berlin und Hamburg nur 35 % der 33–42-Jährigen in Familienhaushalten.177 In ländlichen Regionen Thüringens, Bayerns und 172 Frank et al. 2013, 197. »Ähnlich wie ›Stadt‹ ist auch ›Raum‹ nur Erscheinungsform gesellschaftlicher Strukturen, aber kein eigenständiger soziologischer Gegenstandsbereich.« (AaO., 203). 173 Häußermann et al. 2008, 41. 174 Ebd. 175 AaO., 37. 176 »Insbesondere allein wohnende Berufstätige bevorzugen die Nähe zu den Innenstädten. Dabei ist zu bedenken, dass der Anteil der Einpersonenhaushalte bundesweit zwischen 1995 und 2009 um 24 % zugenommen hat, was sich insbesondere in Großstädten verstärkt ausprägt.« (BBSR 2011b, 16). 177 Im Jahr 2011 waren 40,5 % aller Haushalte Berlins Einpersonenhaushalte mit Bewohnern unter 65 Jahren, vgl. Senatsverwaltung 2013. Vgl. dazu auch Güles/Sturm 68–71 und 73 f. »Derzeit lebt in Deutschland in etwa 40 % aller Haushalte nur eine Person. Differenziert nach Bundesländern haben die Flächenländer Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland mit je 36 % den vergleichsweise niedrigsten, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern mit je 40 % den höchs-
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Mecklenburg-Vorpommerns betrug dieser Wert 50–60 %. Hingegen waren zu dieser Zeit gemischte Wohngemeinschaften sowie Wohngemeinschaften von unverheirateten Paaren in der Stadt die dritthäufigste Wohnform (18–20 %). Auf dem Land ist dieser Typus mit 6–7 % eher die Ausnahme. Zudem weisen Städte eine höhere Scheidungsrate auf.178 Dies bedeutet: »Auf dem Land sind […] die Lebens- und Familienformen noch überwiegend traditionell.«179 Hinzu kommt noch die Verdichtung von Bildungseinrichtungen sowie kulturellen und gesundheitsbezogenen Infrastrukturen, welche einen Einfluss auf die Möglichkeit der selbstbestimmten Lebensführung hat. Hier stellen Städte einen attraktiveren Lebensraum als rurale Räume dar, denn die hohe Dichte an o. g. Anbietern sorgt für eine Differenzierung und Vielfalt sowie einen barrierefreieren, weil vielfach direkten Zugang (z. B. ohne die Notwendigkeit ein KFZ zu nutzen/besitzen oder die Dienstleistung des ÖPNV zu nutzen). Weitere Unterschiede konstatieren Häußermann et al. bei »der Bevölkerungsdichte, beim Wanderungssaldo, beim Ausländeranteil und bei der Sozialhilfe. […] [I]n der Großstadt wohnen zwanzigmal mehr Menschen auf gleicher Fläche, die Sozialhilfedichte ist mehr als zwei-, der Ausländeranteil dreimal so hoch – und in den Schulen sogar viermal.«180 Was die Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Migrationshintergrund angeht, ist der Anteil von Ausländern an der Gruppe der Arbeitslosen in der Stadt »viermal so hoch wie auf dem Land.«181 Für das Land hingegen »bestätigt sich das Bild einer vergleichsweise homogenen Bevölkerung in aufgelockerter Siedlungsstruktur.«182 Schließlich bestehen bei der Mobilität Unterschiede zwischen Stadt und Land: Städter sind weniger auf das Auto angewiesen, besitzen auch vergleichsweise seltener eines und nutzen stattdessen mehr den ÖPVN. Dies führt auch dazu, dass ihr Verkehrsverhalten sicherer ist, da bei einer höheren Nutzung eines KFZ, die Gefahr, in einen Unfall verwickelt zu werden, steigt. Dies bedeutet, dass »auf dem Land […] fünfmal mehr Menschen auf der Straße [sterben]«183 als in der Stadt.
ten Anteil – die Stadtstaaten weisen durchgängig mehr als 50 % Einpersonenhaushalte auf.« (Güles/Sturm 2014, 69). Bezogen auf die gesamte Bevölkerung bedeutet dies: »In Städten mit mindestens 500 000 Einwohnern wohnen etwa 29 %, in Landgemeinden mit weniger als 5 000 Einwohnern hingegen nur 14 % der Bevölkerung allein.« (AaO., 70). »Mit durchschnittlich nur 40,5 % Einpersonenhaushalten zeigen die ostdeutschen Großstädte ohne Berlin derzeit die geringste Singularisierung, gefolgt von den altindustriell geprägten Städten, die 43,7 % Einpersonenhaushalte aufweisen.« (AaO., 73). 178 Vgl. Häußermann et al. 2008, 38. 179 Ebd. 180 AaO., 39. 181 Ebd. 182 Ebd. 183 AaO., 40.
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Zusammenfassend kann man sagen, dass sich Stadt und Land in den letzten Jahrzehnten stark angenähert haben. So ist einerseits das Land in weiten Teilen urbanisiert, was aber nicht bedeutet, dass der urbane Lebensstil der einzig mögliche ist. Es gibt stattdessen sowohl auf dem Land als auch in der Stadt, Lebensstile, die vom urban geprägten Typ abweichen und eben »typisch ländlich« sind. Man kann schlussfolgern: »›Stadt‹ und ›Land‹ zeigen zwar noch unterschiedliche, aber keineswegs grundsätzlich andere Lebensweisen: Der Unterschied erscheint als ein Mehr oder Weniger des gleichen.«184 Der einstige Unterschied eines Gegenübers von Stadt und Land hat sich stattdessen auf zwischenstädtische Unterschiede und Spannungen verlagert, welche sich »als Unterschied zwischen schrumpfenden185, stagnierenden und prosperierenden Städten«186 zeigt.187
4.5 Stadtteil/Bezirk Ein Stadtteil oder Bezirk ist eine politische Größe und beschreibt die nach amtlichen Verwaltungseinheiten unterteilten Gebiete einer Stadt. Die Ordnung erfolgt aufgrund politisch-administrativer Gesichtspunkte und spiegelt für gewöhnlich keine kulturellen, sozialen oder ethnischen Mischverhältnisse wider. Diese entstehen i. d. R. unabhängig davon, können aber durch die spezifische soziale Mischung der Bewohner eine entsprechende Zuschreibung oder Selbstidentifikation haben, was einem Stadtteil eine symbolische Bedeutung verleihen kann. Ein Stadtteil besteht meist aus mehreren Quartieren.188
4.6 Quartier189 Aufgrund der hohen Anonymität einer (Groß-)Stadt hat sich in den letzten Jahren eine Größe etabliert, die sich nicht mit amtlichen oder verwaltungs184 AaO., 40 f. 185 Zur Schrumpfung von Städten vgl. auch aaO., 203–224 und Kühn 2016, besonders 76f und 155–159. Als Beispiel für intensive Abwanderung dient die Stadt Detroit in den USA (vgl. 85–94). 186 Häußermann/Siebel 2004, 101. 187 Vgl. dazu den Abschnitt Die fragmentierte Stadt in Häußermann et al. 2008, 182–202. 188 Vgl. Wieland 2014, 28. 189 Vgl. Schnur 2012, 449ff und Neef 2011. Einen Überblick zur Geschichte der Quartiersforschung bietet Schnur 2014b, 21–36.
4. Weitere Begriffsklärungen
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technischen Grenzen gleichsetzen lässt und dennoch das Leben einer Stadt lokal begrenzt, orientiert und beheimatet: das Quartier.190 Da Quartier ist zu einem besonderen Faktor bei der neuen Attraktivität von Städten geworden und folglich mit ursächlich für Reurbanisierung, denn »auf Quartiersebene [kann] vorhandene oder fehlende Qualität der gebauten Stadt in der Alltagserfahrung seiner Nutzer am ehesten wahrgenommen und erlebt werden.«191 Quartiere sind insofern für die gesamte Stadt wichtig, da sie »sowohl positive als auch negative Impulse in das Gesamtgefüge Stadt entsenden«192 können.193 Unter einem Quartier versteht194 man eine kleine sozialräumliche Einheit einer Stadt (»räumliche Grundkategorie in der Stadtplanung und Stadtforschung«195), die als Nahraum des urbanen Lebens zunehmend an Bedeutung gewinnt und das Leben in einer großen Stadt sinnvoll und notwendig reduziert und den Faktor Nachbarschaft196 stärkt.197 Andreas Wieland bezieht sich bei
190 Vgl. Wieland 2014, 25 ff. Vgl. auch Brake/Herfert 2012, 418. 191 Wieland 2014, 25. 192 Ebd. 193 »Dass Menschen sich stärker mit ihrem Stadtviertel denn mit der Stadt identifizieren […], zeigt im Umkehrschluss, dass sie auch die Stadt als konstruierte Einheit mit Sinn für das eigene Leben anreichern. Städte sind (wie Quartiere und Nationen) auch – und ganz wesentlich – Orte, die die Erfahrung eines ›Wir‹ ermöglichen. Dieses ›Wir‹ (wir New Yorker, wir Frankfurter, wir Darmstädter …) ist kein Ausdruck von Deckungsgleichheit möglicher Erfahrungen städtischer Bürger/-innen. Eine Weltsicht, die eine Stadt als Wir-Beziehung setzt, bedeutet zunächst nichts anderes als die Erfahrung sozialer Umwelt in räumlich und zeitlicher Koexistenz.« (Löw 2011, 59 f.). 194 »Es existiert keine einheitliche Definition zum Begriff Quartier.« (Wieland 2014, 26). 195 Lichtenberger 2011, 105. 196 »Unter Nachbarschaft (engl. neighborhood) kann sowohl eine Gruppe verstanden werden, die sich aufgrund von räumlicher Nähe herausbildet (engl. [local] community), als auch die sozialen Netzwerke oder Beziehungen selbst, die Nachbarschaft konstituieren.« Schnur 2012, 452. Vgl. dazu auch Neef 2011, 241–246. »Nachbarschaft ist ein in der Regel nicht selbst gewähltes, sondern durch das Wirken des Marktes oder durch Wohnungs-verwaltungen erzwungenes Nebeneinander auf engem Raum.« (AaO., 242). »Der Normalzustand von Nachbarschaft ist daher höfliche oder auch respektvolle Distanz bei gleichzeitiger Hilfsbereitschaft in Notfällen. Freundschaft und Solidarität, Anonymität, sowie Spannungen und Dauerkonflikt hingegen sind ›Ausartungen‹ von Nachbarschaft.« (AaO., 243). 197 Olaf Schnur schreibt dazu: »In einer Nachbarschaft überschneiden sich dabei räumliche und soziale Kategorien konkreter als in anderen Situationen, sodass mit gängigen Konzepten wie ›Sozialraum‹ häufig auch ›nachbarschaftliche‹ Kategorien assoziiert werden. Es ist vor allem die auf den ersten Blick etwas paradoxe Verbindung zum ›Raum‹, die die Nachbarschaft weiterhin als eine wichtige Kategorie insbesondere im postmodernen städtischen Kontext erscheinen lässt. Denn das, was Robertson (1998) als ›Glokalisierung‹ beschrieben hat, findet sich genau hier wieder: Die Schwächung integrativer Instanzen wie des Arbeitsmarkts, kirchlicher Organisationen oder der Familie im Übergang zur postmodernen Gesellschaft bringt eine zunehmende Relevanz von Nähe und sozialer Interaktion im lokalen Maßstab mit sich […]. Das ›vor Ort‹ der Alltagswelt übernimmt mehr und mehr sozialintegrative Funktionen und die
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§ 3 Definition, historischer Zugang und gegenwärtige globale Trends
seiner Definition von Quartier auf die räumliche Größe dessen: »Ein Quartier ist ein innerstädtischer Stadtraum mit einer Ausdehnung von 1 bis 5 Hektar, der eine robuste und vielfältige Nutzungsmischung aufweist, öffentlich zugänglich ist und sich deutlich durch eine spezifische Qualität und Identität von der Umgebung abgrenzt.«198 Olaf Schnur verweist darauf, dass der Begriff »in der deutschen Sprache schon seit einigen Jahrhunderten gebräuchlich«199 ist: Ursprünglich wurde der Ausdruck aus dem französischen ›quartier‹ bzw. dem lateinischen Wort ›quarterium‹ entlehnt und bezeichnet allgemein ›den vierten Teil von etwas‹, eine ›Wohnung‹ bzw. ein militärisches ›Lager‹, aber auch konkret ein ›Viertel, einen Bezirk oder eine Abteilung einer Stadt‹ (Grimm & Grimm 2007). Während ›Quartier‹ in der Schweiz auch alltagssprachlich Gebrauch findet, gibt es eine Reihe von populären Synonymen wie ›Kiez‹ (Berlin) oder auch das eher als ›Amüsierviertel‹ konnotierte ›Kietz‹ (Norddeutschland), ›Kolonie‹ im Sinne von Bergarbeiter-, Werksbzw. Zechensiedlung (v. a. Ruhrgebiet), ›Veedel‹ (Köln) oder ›Grätzl‹ (Wien), die in der Regel keine Verwaltungseinheit meinen, sondern eine ›gefühlte‹ sozialräumliche, alltagsweltliche Kategorie darstellen.200
Trotz der Komplexität des Begriffs und der daraus resultierenden Schwierigkeit, diesen zu definieren201, schlägt Schnur folgende Definition vor: »Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden.«202 Quartiere sind dabei nicht zwingend mit den amtlichen Stadtteilen identisch (»›Quartier‹ bezeichnet einen sozialen Raum, der kleiner als ein (administrativ abgegrenzter) Stadtteil, aber durchaus vielfältiger sein kann als ein Wohngebiet, das planungsrechtlich nur dem Wohnzweck dient.«203). Ein wichtiger Faktor ist Überschaubarkeit und Zugehörigkeit (Utopie
Organisation der freigesetzten, entankerten Individualbiografien benötigt ein ›Headquarter‹, das nicht selten das Wohnquartier mit seinen Ressourcen darstellt. Dabei kann es sich ebenso um ein Ressourcensetting für Arbeitslose oder benachteiligte Migranten wie um einen inspirativen Kontext für kreative Milieus handeln.« (Schnur 2012, 449f). Vgl. auch T exier-Ast 2018, 122 f. 198 Wieland 2014, 29. 199 Schnur 2014b, 37. Zum Quartier in der europäischen Stadt vgl. Wieland 2014, 29 f. 200 Schnur 2014b, 37. 201 Vgl. ebd. 202 AaO., 40. 203 Alisch 2002, 60.
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einer »Rückkehr zum menschlichen Maßstab«204), der u. a. ethnische, kulturelle, wirtschaftliche oder milieubedingte Gründe haben kann.205 Ein Quartier kann in diesem Sinne identitätsstiftend sein und einer lokal begrenzten Beheimatung im (meist unübersichtlichen und tendenziell anonymen) urbanen Raum dienen.206 Somit ist »[d]as Quartier […] Erfahrungsraum und Gestaltungsraum, es hat ein gewisses Eigenleben, sein Image, seinen Stil und seine Philosophie.«207 Schnur bezeichnet das Quartier »als eine Art Mikrokosmos«208.209 Rainer Neef beschreibt – mit Blick auf Segregation – das Quartier »als eine räumlich abgegrenzte Beziehungs- und als Versorgungs- bzw. Regelungseinheit […]. Hier überlagern sich die Sozialbeziehungen und Netzwerke der Bewohner. Je nach dem Grad der sozialräumlichen Segregation und nach sozialen Milieus (also nach Un-/Ähnlichkeit der sozialen Lage und der Orientierungen) reichen Beziehungen unterschiedlich weit über das Quartier hinaus.«210 Durch das Instrument des Quartiersmanagement werden stadtplanerisch verschiedene Akteure (Verwaltung, Bildung, Wirtschaft, Freizeit, Religion etc.) eines Quartiers zur gemeinsamen Gestaltung versammelt und unterstützt. Man nutzt gewissermaßen die lokalen Potentiale und schafft Synergieeffekte mit ortskundigen Vertretern des Quartiers. Neben Aspekten des Wohnens, können Quartiere und Viertel auch aufgrund funktionaler (bspw. wirtschaftlicher) Gesichtspunkte entstehen bzw. profiliert sein wie dies z. B. bei Finanz-, Hafenoder Einkaufsvierteln der Fall ist.211 Generell gilt für Quartiere, dass sie keine solch festen Einheiten darstellen wie Stadtteile. »Ihre Struktur sowie ihr Selbstverständnis sind homogen und stabil. Darüber hinaus beinhalten sie gleichzeitig Entwicklungspotential.«212 Sie unterliegen einem Wandel, der von zahlreichen Faktoren abhängig ist und sehr unterschiedlich (in Dauer, Umfang, Abfolge) sein kann.213 Ulfert Herlyn et al. entdecken im Quartier nicht nur den Wohnort, sondern auch eine »Ressource« 204 Lichtenberger 2011, 105. 205 Zur sog. Community lost-These, die von der Anonymisierung urbaner Nachbarschaften ausgeht und die soziale Isolation der Städter befürchtet vgl. Schnur 2012, 467. Diese These konnte empirisch nicht nachgewiesen werden. Dazu und zur Gegenthese (Community saved) sowie zur Zwischenposition (Community liberated) vgl. ebd. 206 Vgl. Kirchenamt 2007b, 18 f. 207 AaO., 18. 208 Schnur 2012, 463. 209 Zu den verschiedenen Funktionen (organisatorisch, kompensatorisch und identifikatorisch) eines Quartiers vgl. Brake/Herfert 2012, 413. 210 Neef 2011, 235. 211 Vgl. Lichtenberger 2011, 106. 212 Wieland 2014, 28. 213 »Mit der Änderung der Zahl der viertelsbildenden Objekte bzw. Bevölkerungselemente können sich Viertel vergrößern, aber auch auflösen bzw. zerfallen. […] In jeder neuen Entwicklungs-
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zur Alltagsgestaltung und zur Lebensbewältigung und dies auf vier Ebenen: Der Stadtteil ist eine Ressource als eine Chance der Existenzsicherung (1.), als ein Ort des Wohnens (2.), als Ort des sozialen Austauschs (3.) und als Ort der Teilhabe an gesellschaftlichen Einrichtungen (4.).214 Das Quartier bewegt sich verhältnismäßig zwischen den Ebenen Stadtteil und Wohngebiet, da es Merkmale von beiden aufweist. Zu dem Verhältnis von lokalem Quartier und globalen Lebensstil schreibt Olaf Schnur: Die Globalisierung wird dabei inzwischen eher als ›Glokalisierung215‹ begriffen (Robertson 1998): Die lokale Ebene wird obsolet und unverzichtbar zugleich. Zwischen lokaler Entankerung und räumlichen Andockstellen können die Quartiere für die Bewohner ein Raumpotenzial, aber auch eine Raumfalle darstellen. Für die einen ist das Quartier das Interface zur globalisierten Arbeitswelt, das Zentrum, an das man trotz der hohen Mobilität immer wieder zurückkehrt, die Kulisse inszenierter Erfolgsbiographien. Für die anderen ist es der alltägliche Aktionsraum, in dem die notwendigsten, oft eingeschränkten Ressourcen genutzt werden […]. Dies gilt etwa hinsichtlich der Nahversorgung, wo man manche Quartiere als Food Deserts deklarieren oder wo bisweilen auch neue Formen der Collaborative Consumption greifen und bestimmte Versorgungsdefizite auszugleichen vermögen. Gleichzeitig kann man dies auch im Kontext kultureller oder subkultureller Aktivitäten vor Ort beobachten (z. B. Skateboarding-Szene, lokal verankerte Künstlergruppen etc.). Quartiersforschung in diesem Bereich besitzt eine große gesellschaftspolitische Relevanz.216
Im fünften Kapitel (siehe § 15) dieser Arbeit wird die parochial organisierte Ortsgemeinde als Form von Gemeindeentwicklung auf ihr Potential und ihre Begrenzungen in Bezug auf den lokalen Nahbereich und unter der Bedingung von Segregation untersucht. Vor dem Hintergrund der dargestellten Bedeutungszunahme des lokalen Nahbereichs als Quartier wird in Ergänzung und Alternative zudem das am Sozialraum orientierte Modell der Quartiersgemeinde vorgestellt und diskutiert.
periode des städtischen Gesamtsystems erneuert sich daher auch der sozio-ökonomische Inhalt von Vierteln.« (Lichtenberger 2011, 106). 214 Herlyn et al. 1991, 234–247. Schnur fasst den Diskurs zu Nachbarschaft und Gemeinschaft der letzten Jahrzehnte so zusammen: »Auf jeden Fall wird deutlich, dass Nachbarschaft und Quartier als alltagsweltliches Experimentierfeld für Gemeinschaftlichkeit und Individualismus, Nähe und Distanz, für Öffentlichkeit und Privatheit, Anonymität und Intimität, für Ortsbindung und Entankerung zugleich gelten können – Ambivalenzen, die sich auch im wissenschaftlichen Bereich in kontroversen Debatten niederschlagen (müssen).« (Schnur 2012, 451). 215 Vgl. dazu auch Bukow 2012, 538 und 546–548. 216 Schnur 2014b, 33. Hervorhebung im Original.
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4.7 Wohngebiet Bei der Beschreibung eines Wohngebiets liegt der Fokus auf der Größe Wohnen, welche die Menschen eines Wohngebiets miteinander verbindet. Dies ist aber nicht immer eine freiwillige Zusammensetzung, da bspw. durch Marginalisierung Menschen unfreiwillig in einem Wohngebiet wohnen, da sie sich kein anderes leisten können. Bei Prozessen der Gentrifizierung wiederum sind die Vorzeichen meist andersherum: Hier ist die Wahl i. d. R. freiwillig.
5. Ausblick: Verstädterung und Urbanisierung in globaler Perspektive Seit dem Jahr 2007 lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung urban (Stand 2014: 54 %)217 und dieser Umstand macht deutlich, dass die urbane Lebensweise zu der Art der Lebensgestaltung der Gegenwart und der Zukunft avanciert. Dies wird noch unterstrichen durch die Tatsache, dass der weltweite Anteil der Städter stetig wächst, sodass Prognosen eine durchschnittliche weltweite Verstädterung von rund 66 % für das Jahr 2050 erwarten.218 Edward Glaeser zufolge wächst die urbane Bevölkerung der sich entwickelnden Welt jeden Monat um rd. fünf Mio. Menschen.219 Dabei lässt sich ein doppeltes Wachstum beobachten: Sowohl die urbane Bevölkerung insgesamt als auch die Städte selbst wachsen und so entstehen sog. Global Cities220, Megacities221 und Metropolregionen222. Gab es im Jahr 1900 bspw. lediglich 20 Millionenstädte so waren es im Jahr 2010 bereits 370 – Tendenz steigend. Städte, die mehr als 10 Mio. Einwohner haben, werden als Megacities beschrieben (1950 gab es nur zwei solcher Städte – heute sind es über 20223). Besonders die Städte der Schwellen- und Entwicklungs217 Vgl. United Nations 2014, 1. 218 Vgl. ebd. Siehe dazu auch die Ankündigung Rashmi Mayurs, dass bis Ende des 21. Jahrhunderts 90 % der Weltbevölkerung urban leben wird, vgl. Conn 2001, 17. 219 Vgl. Glaeser 2012, 1. 220 Vgl. Sassen 2001. Vgl. auch Wildner 2012, 214f; Rolf 2006, 41ff, besonders 45–58 und Eckardt 2004, 83 ff. 221 Vgl. Hoerning 2012 und Rüthers 2015, 45 ff. 222 Vgl. BBSR 2010a und Eckardt 2004, 93 ff. 223 Im World Urbanization Prospects Revision 2014 der Vereinten Nationen wurden im Jahr 2014 28 solcher Megacities gezählt. Die Prognose für 2030 liegt bei 41 Megacities, vgl. United Nations 2014, 1.
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länder (sog. Zweidrittelwelt) weisen gegenwärtig das dynamischste Wachstum auf.224 Die Weltkarte zeigt den prozentualen Anteil urbaner Bevölkerung sowie urbane Zentren ab einer Größe von 500.000 Einwohnern (Stand: 2014).
5.1 Trends in der sog. Zwei-Drittel-Welt Lateinamerika war schon früher deutlich stärker urbanisiert als Afrika. So lebten bereits 1950 40 % der Bevölkerung urban. Dieser Wert steigerte sich bis 1985 nochmals um ein gutes Viertel auf 67,4 %. In Asien hingegen liegt die signifikante Zunahme urbaner Lebensweise bereits länger zurück: So fanden sich bereits 1800 sechs der zehn größten Städte in Asien (dies trifft auch 1990 noch zu. Wenngleich die Städte nicht mehr alle identisch sind, beheimatet Asien auch 190 Jahre später noch sechs der zehn größten Städte der Welt225). Bis zum Jahr 2000 wuchs der Anteil urban lebender Menschen in Asien auf rund 45 % an und somit zeigt sich ein Wachstum um 665 % seit 1920. Dabei ist davon auszugehen, dass ein nicht unbedeutendes Wachstum urbaner Räume in Asien noch bevorsteht – dies liegt besonders an Ländern wie China, Indien und Indonesien, deren Städtewachstum ein vergleichsweise junges Phänomen ist, welches seine Klimax noch vor sich hat.226 Was die muslimisch geprägten Staaten des mittleren Ostens und Nordafrikas angeht, zeigt sich eine ähnliche Tendenz. Nachdem die islamische Welt zunächst durch eine florierende urbane Kultur geprägt war, ereilte diese gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Niedergang. Aber seit den 1920er Jahren ist eine Trendwende zu beobachten, welche sich seit den 1970er Jahren nochmals verstärkte und ein rasantes Wachstum urbaner Räume in dieser Region bewirkt.227 Inwiefern dieses Wachstum durch den sog. Arabischen Frühling oder durch andere kriegerische Auseinandersetzungen (wie den Krieg im Irak im Jahr 2003, den Bürgerkrieg in Syrien seit 2011 oder den Kampf gegen den sog. Islamischen Staat in Irak und Syrien seit 2013) beeinflusst wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Angesichts dieser Entwicklung betont Wolfgang Grünberg, dass hinsichtlich der urbanen Zukunft der Welt eine euro-zentrische Perspektive mehr als unangebracht ist.228
224 Vgl. Häußermann et al. 2008, 11 f. 225 Vgl. Conn 2001, 65. 226 Vgl. aaO., 65 f. 227 Vgl. aaO., 66 f. 228 Vgl. Grünberg 2004, 30 f.
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Für die Ursachen dieses rasanten Wachstums urbaner Räume kann laut Conn/Ortiz der Faktor Industrialisierung nicht in dem Maße geltend gemacht werden, wie dies für die Urbanisierung des sog. Westens galt. Die Gründe liegen dagegen sowohl im allgemeinen Wachstum der Bevölkerung als auch in einer starken Migrationsbewegung in die Städte.229
5.2 Folgen weltweiter Urbanisierung Das bisher Dargestellte macht deutlich, dass sich eine urban geprägte Lebensweise zunehmend zur dominanten Form menschlichen Lebens auf der Erde, über alle Kontinente und durch alle Kulturen hindurch, entwickelt. Conn/Ortiz fassen die Situation folgendermaßen zusammen: »The global village […] has become a global city, whose demographic center of gravity has shifted through history from industrialization in Europe and the English-speaking world to explosive changes in Africa, Asia and Latin America.«230 Die Zeitschrift Foreign Policy beschreibt dies mit den Worten: »Das 21. Jahrhundert wird nicht von Amerika dominiert werden, auch nicht von China, Brasilien oder Indien, sondern von der Großstadt.«231 Timothy Keller schreibt dazu: The significance of cities today lies not only in their growing size but also in their growing influence, and this influence is due to the rise of globalization. […] First, globalization connects cities to the world. […] Second, globalization connects cities to cities. Not only does globalization connect the rest of the world to urban ideas and culture; it also connects cities to one another, enhancing their power and influence. World cities are more connected to others around the world than they are to their own nations.232
Die Ursachen für diese Entwicklung liegen vor allem darin, dass Städte i. d. R. die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Zentren eines Landes darstellen. »In 100 Städten versammelt sich 30 % der Weltwirtschaft und fast die ganze globale Innovationskraft.«233 Städte gewinnen zunehmend an Bedeutung und umso schwächer Nationalstaaten werden, desto bedeutender werden die
229 Vgl. Saunders 2011. 230 Conn 2001, 79. 231 Winterhoff 2012, 84. 232 Keller 2014b, 148 f. 233 Winterhoff 2012, 84.
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Städte (besonders die Megacities) und bilden »regierende Inseln«234 in einer globalisierten Welt.235 International operierende Unternehmen siedeln sich meistens in Städten an und die Angestellten dieser Unternehmen haben häufig an den gleichen Universitäten studiert und sind meist im Lauf ihre Berufslebens in verschiedenen Städten wohnhaft und tragen somit zu einem Austausch von Ideen, kulturellen Einstellungen und Lebensstilen bei. Zudem haben überregionale Medienanstalten (Fernsehsender, Musiklabels, Künstleragenturen, internetbasierte Firmen etc.)236 sowie Kultur und Kunsteinrichtungen (Museen, Clubs, Konzerthallen) ihren Sitz meist in Städten.237 »Jede Stadt wird zur Filiale der Weltstadt. Die eine Welt hat faktisch offene Grenzen.«238 Dies führt dazu, dass sich eine weltweit vernetzte urbane Kultur entwickelt, welche die großen Städte miteinander verbindet.239 Ähnliches prognostiziert Saskia Sassen: »Unsere Zukunft wird nicht von den G8-Staaten bestimmt werden, nicht vom amerikanisch-chinesischen Tandem oder von den G20. Die Zahl der relevanten Akteure wird größer sein, und jeder einzelne von ihnen spezialisierter. Urbane Netzwerke werden Teil dieser neuen Architektur sein.«240
234 Ebd. 235 Häußermann/Siebel vermuten, dass durch die Globalisierung und dem damit verbundenen Relevanzverlust des Nationalstaats die Bedeutung der lokalen Ebene und somit auch der Stadt als verdichteter Wohn-, Wirtschafts- und Politikeinheit eine größere Bedeutung zukomme und das Thema Urban Governance (vgl. dazu Sack 2012, 311–335 sowie mit Blick auf Peripherisierung von Städten vgl. Kühn 2016, besonders 137ff und 171ff) zukünftig relevanter werde und »Städte […] stärker als Kollektive Akteure zu betrachten« (Häußermann/Siebel 2004, 101) sein werden. Diese Vermutung hat sich z. B. im Blick auf die Entstehung von Global-Cities (vgl. Schäfers 2009, 120–122, Friedrichs/Triemer 2009, 19; Wildner 2012, besonders 214f und 221f sowie das Buch The Global City [2001] von Saskia Sassen) und einer Bewegung wie das C-40-Netzwerk (vgl. http://www.c40.org [aufgerufen am 22.04.2016]) bestätigt. 236 Hier böte sich eine vertiefende Untersuchung darüber an, inwiefern das Internet einerseits zur Homo-genisierung von Kultur, Informationsfluss und Weltanschauung beiträgt und andererseits zu einer Demokrati-sierung und Dezentralisierung von Informationsfluss, Marktmacht und Meinungsmonopol. Dies kann an dieser Stelle aber leider nicht geleistet werden und würde das Thema dieser Arbeit überschreiten. 237 Vgl. dazu Wildner 2012, 218–224. 238 Grünberg 2004, 34. Vgl. dazu auch der Abschnitt Die Chicago School of Sociology und die neuen urbanen Migranten in Rolf 2006, 117–124. Dagegen etwas kritischer der von einer sog. »schwachen« Globalisierung ausgehende Artikel Die Zivilgesellschaft und die postmoderne Stadt: Das Überdenken unserer Kategorien im Kontext der Globalisierung von Andrew Aratao und Jean L. Cohen (vgl. Aratao/Cohen 2007). 239 Keller 2014b, 149. Dies betrifft aber nicht nur die Eliten, sondern auch die Millionen Migranten, die nicht selten in engem Kontakt mit ihren Herkunftsländern stehen und ihre spezifische Herkunftskultur in ihre neue Heimat transportieren. Zum Thema Migration vgl. auch Wildner 2012, 223 f. 240 Görlach 2012, 71 f.
»Im großen Bogen betrachtet, erzählt das erste Buch der Bibel, die Genesis, von der Schöpfung Gottes und dem ›Garten Eden‹ (Gen 2,8), also einem Natursymbol. Das letzte Buch der Bibel dagegen, die Offenbarung des Johannes, erzählt von der ›heiligen Stadt Jerusalem‹ (Offb 21,2), als einem Kultursymbol, in welches der Paradiesgarten integriert ist.«1 Michael Sievernich · Knut Wenzel
§ 4 Biblisch-theologische Zugänge zum Thema Stadt Einleitung Die folgenden Ausführungen dienen der grundlegenden Betrachtung des Themas Stadt in der Bibel.2 Dabei kann dies nicht mehr als eine knappe und basale Einführung sein, die keineswegs beansprucht, das Thema in der Fülle seiner biblischen Akzentuierungen zu erfassen und zu beschreiben. Insofern kann keine exegetisch-detaillierte Darstellung des Themas erfolgen, da dies nicht Ziel und Thema der vorliegenden Dissertation ist und den Rahmen des hier zu Beschreibenden deutlich überschreiten würde.3 Den Auftakt bietet ein Zitat von Christopher Zarnow, der über die enge Verbindung von christlichem Glauben und urbaner Kultur Folgendes schreibt:
1 Sievernich/Wenzel 2013b, 405. 2 Wayne Meeks reflektiert zu Beginn seines Buches The First Urban Christians das Verhältnis von theologischer und soziologischer Arbeit an biblischen Texten sowie kirchengeschichtlicher Überlieferung und zeigt die Vorbehalte, die Schwächen sowie die Stärken und Chancen auf, vgl. Meeks 2003, 1–7. Ähnlich geht Rodney Stark im ersten Kapitel seines Buches Cities of God vor, vgl. Stark 2006, 15–23. Ausführlicher zum Thema vgl. auch der Aufsatzband Das frühe Christenum und die Stadt von Bendemann/Tiewald 2012. 3 Für eine christliche Ideengeschichte der Stadt vgl. Fitschen 2017. Für eine urbane Theologie vgl. Zarnow 2018. »Urbane Theologie soll der programmatische Titel für den Versuch sein, diesen teils in Stein gehauenen, teils in Hoffnungen und Sehnsüchten verborgenen Spuren der Transzendenz zu folgen.« (Zarnow 2018, 186).
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§ 4 Biblisch-theologische Zugänge zum Thema Stadt
»Das Christentum ist von seinem Ursprung her eine Stadtreligion. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens vollzog sich über Gemeindegründungen in den urbanen Zentren der antiken Welt. Zunächst in Palästina und Syrien – wichtige Stationen sind in der biblischen Überlieferung genannt wie Antiochia, Korinth, Ephesus –, dann über Rom und den ganzen Mittelmeerraum prägte sich der christliche Glaube den Städten ein.«4
1. Die biblische Tendenz zur Stadt Eveline Valtink attestiert der Bibel »eine Tendenz hin zur Stadt«5 und dies sowohl in einem historischen als auch einem symbolischen Sinn, indem die biblischen Schriften einerseits Gottes Handeln und Wirken in konkreten Städten ihrer Zeiten wahrnehmen und andererseits urban geprägte Verheißungen gebrauchen, um das Bild einer göttlich gestifteten und heilvollen Zukunft zu zeichnen.6 So begegne in den biblischen Texten insgesamt die »Sorge um die Stadt, ja das grundsätzliche Interesse an ihr, […] [als] ein auffälliges Phänomen.«7 Thomas Söding schreibt, dass die »Bibel […] mit einem großartigen Stadtpanorama [endet]«8 und stellt fest: »Stärker als im apokalyptischen Finale kann die Stadt theologisch nicht gewürdigt werden.«9 Aber nicht nur die Apokalypse des Johannes, auch in anderen Texten der Bibel entdeckt Söding eine »Galerie von Stadtansichten«10. Insofern kann für das letzte Buch der Bibel und seine Verheißung einer neuen Welt folgendes festgehalten werden: »Am Ende der Bibel ist ihr Anfang präsent: das Paradies. Aber es wird nicht einfach wiederholt. Die Utopie des Paradiesgartens wird zwar zitiert, aber der Garten ist in die Stadt hineingewandert.«11
4 AaO., 187. 5 Valtink 2009, 155. 6 Vgl. aaO., 156–158. 7 AaO., 155. 8 Söding 2014, 160. 9 AaO., 161. 10 Ebd. 11 Kirchenamt 2007b, 14.
2. Die Ambivalenz urbanen Lebens
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2. Die Ambivalenz urbanen Lebens Timothy Keller betont, dass die Bibel weder einen grundsätzlich positiven noch grundsätzlich negativen12 Blick auf die Stadt hat; sondern, dass dieser sehr differenziert13 ist. Dies habe seinen Grund darin: »Because the city is humanity intensified – a magnifying glass that brings out the very best and worst of human nature – it has a dual nature. This is why the Bible depicts cities as places of perversion and violence and also as places of refuge and peace.«14 Insofern haben Städte – als Raum verdichteter Menschlichkeit – das Potential Gott zu ehren und ebenso gegen ihn zu rebellieren.15 Städte sind somit »unreine Kreuzungen«16, d. h. sie tragen in sich Potentiale zum Positiven wie zum Negativen: Sie sind »weder Babylon noch Jerusalem, sondern beides«.17 Wolfgang Grünberg beschreibt Städte ganz ähnlich, wenn er die Stadt als »als Vergrößerungsglas seelischer Kräfte«18 beschreibt. Für beides finden sich zahlreiche biblische Berichte und Belege: So begegnen Städte in Gen 4,14–17 als Orte der Zuflucht und des Neuanfangs sowie der Sicherheit und in Gen 4,20–22 als Beispiele für frühe kulturelle Errungenschaften, deren Entstehung offenbar mit frühen urbanen Siedlungen in Verbindung stehen. Gen 4,23 f. hingegen nennt Beispiele für das urbane Potential für Gewalt.19 Dazu Keller: »Here is the first clear indicator of the dual nature of the city. Its capability for enormous good – for the culture-making creation of art, science and technology – can be used to produce tremendous evil.«20. Ein biblisches Indiz für die negativen Potentiale von Städten, drückt sich auch in der Darstellung Kains als erstem Städtebauer aus (vgl. Gen 4,17).21 Wolfgang Grün-
12 Vgl. dazu auch Fitschen 2017. Ein konziser historischer Abriss theologisch-geistlich motivierter Ablehnung der Größe Stadt sowie des Phänomens Urbanisierung, vgl. Conn 2001, 161–165. 13 Dazu schreibt Papst Franziskus: »Die Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebens-entfaltung vieler. Dieser Widerspruch verursacht erschütterndes Leiden. In vielen Teilen der Welt sind die Städte Schauplatz von Massenprotesten, in denen Tausende von Bewohnern Freiheit, Beteiligung und Gerechtigkeit fordern sowie verschiedene Ansprüche geltend machen, die, wenn sie nicht auf ein angemessenes Verständnis stoßen, auch mit Gewalt nicht zum Schweigen gebracht werden können.« Franziskus 2013, 70. 14 Keller 2014b, 135. 15 Vgl. auch Hermann/Schönemann 2014, 7 f. 16 Herrmann 2016, 175. 17 Ebd. 18 Grünberg 2004, 29. 19 Das Lied des Lamech als biblisches Zeugnis für frühe Lieddichtung ist ein Kriegslied. 20 Keller 2014b, 137. 21 Vgl. Valtink 2009, 157 und vgl. Herrmann 2016, 175.
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§ 4 Biblisch-theologische Zugänge zum Thema Stadt
berg nennt Kain den »eigentliche[n] Patron aller Städte.«22 Städte sind Orte wie alle übrigen auch – nur intensiver und hoch verdichtet und somit in gewisser Hinsicht extrem: »They are both better and worse, both easier and harder to live in, both more inspiring and oppressive, than other places.«23 Die urbanen Potentiale sind also ambivalent: »Kultur und Gewalt, das ist eine Urspannung aller Städte bis auf den heutigen Tag geblieben.«24 Oder mit den Worten Eveline Valtinks: »Die Stadt: ein gefährdetes, störbares und bedrohtes Gefüge. Sie birgt Abgründe und vermag zum Moloch zu werden. Genau deshalb ist sie aber auf der anderen Seite auch komplexes Gleichnis für die Möglichkeit gelingenden und erfüllten sozialen Lebens.«25 Die Stadt ist laut Valtink ein Ort der radikalen Egalität und dient somit als Paradigma für die biblische Vision einer heilvollen Zukunft Gottes mit den Menschen.26 Somit befindet sich die biblische Beschreibung der Stadt in einer großen Spannung: »Stadtgeschichte ist, vom Herkommen her gesehen, eine Gewaltgeschichte. Aber am Ende der Bibel wird über die Stadt nicht von ihrem Herkommen, sondern von ihrer Zukunft aus nachgedacht. Symbol dieser Zukunft ist das Neue Jerusalem, die aus dem Himmel herabsteigende Stadt Gottes.«27
3. Die paulinische Mission in der Stadt28 Hinsichtlich des Themas urbaner Gemeindeentwicklung ist die biblische Darstellung der paulinischen Missionstätigkeit von besonderem Interesse. Indem Paulus (und Lukas) die Verheißung aus Jes 59,20 (»Aber für Zion wird er als Erlöser kommen.«) als in Jesus Christus erfüllt betrachten (vgl. die veränderte Formulierung in Röm 11,26: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser.«) verändert sich die zentripetale Funktion Jerusalems zu einer zentrifugalen. Von dort breitet sich das Evangelium in alle Welt aus und löst sich vom Tempel als festem Ort der Gegenwart Gottes hin zu der Kirche als der Herausgerufenen, die als Gemeinschaft des Leibes Christi, Ort der Gegenwart Gottes und somit ortsunabhängig ist. Diese Mobilität lenkt den Fokus auf die Städte als die zen-
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Vgl. Grünberg 2004, 135. Keller 2014b, 140. Auf diese Ambivalenz weist auch Edward Glaeser hin vgl. Glaeser 2012, 1 f. Kirchenamt 2007b, 14. Vgl. auch Sievernich 2013, 213 f. Valtink 2009, 156. Vgl. aaO., 156 f. Grünberg 2004, 135. Vgl. auch Sievernich/Wenzel 2013b, 404–407. Siehe dazu auch der Aufsatz Der urbane Raum als Ort des Christentums von Michael Sievernich. Vgl. Sievernich 2013, besonders 166–172.
3. Die paulinische Mission in der Stadt
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tralen Orte des Handels, der Kultur, der Religion, der Wirtschaft und Politik. Zur Ausbreitung des Evangeliums pflanzt Paulus Gemeinden und kleine christliche Gemeinschaften an strategisch wichtigen Orten – also in den Städten des Mittelmeerraums. Wayne Meeks schreibt dazu: »Yet what he [Paul] had done to ›fill everything with the Gospel of Christ‹ […] was only to plant small cells of Christians in scattered households in some of the strategically located cities of the northeast Mediterrianean basin.«29 Folglich attestiert Meeks dem paulinisch geprägten Christentum, dass es »entirely urban«30 war. Thomas Söding verweist darauf, dass der Begriff ἐκκλησíα ein urban konnotiertes Wort ist, welches ursprünglich die Versammlung der freien Männer der Städte des Mittelmeerraums bezeichnete, in welcher die Geschicke der Städte gelenkt wurden.31 Dieter Georgi entdeckt in dem Jerusalemer Apostelkonzil (Apg 15 und Gal 2) die Bestätigung einer christlichen Vielfalt in kultureller und lebensförmlicher Hinsicht bei gleichzeitiger Einheit in Christus (vgl. Gal 3,28) und in einem Grundbestand an ethischen Verpflichtungen. Damit zeichnet sich laut Georgi die Urkirche durch eine ähnliche kulturelle und ethnische Vielfalt aus, wie sie auch die antiken Städte des Mittelmeerraums aufweisen.32 Georgi schlussfolgert, dass die paulinischen Gemeinden »[…] besonders gut den hellenistisch-römischen Gedanken von der Gesamtgesellschaft als einer Konföderation von Städten [verkörpern].«33 Nicht zuletzt die Vorstellung der Gemeinde als Leib Christi zeigt an, dass die Parallelität von Stadtversammlung und Gemeinden durchaus als Konkurrenz gedacht war, da dieses Bild der zeitgenössischen Vorstellung des Römischen Reiches als Leib mit dem Caesar als Haupt entsprach und somit widersprach. Insofern stellten die paulinischen Gemeinden einen Gegenentwurf zu der sie umgebenden städtisch-paganen Kultur dar, welche diese mindestens herausfordern musste – zumal sie sich auf ihrem eigenen Gebiet befand. Damit stellt die christliche Gemeinde als ekklesia auch eine Vision dar – die Vision einer Gemeinschaft, in der sämtliche – das Leben grundlegend bestimmenden – Unterschiede (Ethnie, sozialer Status und Geschlecht) aufgehoben sind. Der Ort dieser Utopie ist laut Georgi die hellenistische Stadt und die geistig-geistliche Grundlage ist m. E. das Evangelium von Jesus Christus. Folglich kann man
29 Meeks 2003, 9 f. 30 AaO., 8. Vgl. auch aaO., 8 ff. 31 Vgl. Söding 2014, 163. Söding führt aus, dass der Begriff ekklesia in der Herleitung aus dem Alten Testament das Volk Gottes beschreibt und in hellenistischer Prägung die Versammlung der stimmberechtigten Bürger einer Stadt meint. Vgl. auch Conn 2001, 132. Siehe auch unten § 16 Abs. 2.3.1. 32 Vgl. Georgi 2009, 146–148. 33 AaO., 149.
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mit Georgi sagen, dass Paulus in der hellenistischen Stadt, nach ihrem eigenen Vorbild, ein Gegenmodell ebendieser entwirft und dies mit dem Evangelium begründet und legitimiert sowie in diesem die nötigen Ressourcen findet.34 Die grundlegende Bedeutung der urbanen Räume für das Römische Reich wird vor allem in folgendem Zitat des amerikanischen Soziologen Rodney Stark deutlich: »Despite the fact that about 95 percent of its population lived on farms of tiny rural villages, Rome was an urban empire. […] ›[T]he cities were where the power was … [and] where changes could occur.‹ The rural ›population hovered so barely above subsistence level that no one dared risk change.‹«35 Stark untersucht in seinem Buch Cities of God die Rolle der Stadt in der Mission der Alten Kirche, angefangen bei der paulinischen Mission. Stark hält fest, dass sich die neue religiöse Bewegung um Jesus von Nazareth bereits innerhalb von 20 Jahren nach Jesu Kreuzigung in Jerusalem von dem weitgehend ländlich geprägten Gebiet Galiläas zu einer urbanen Bewegung entwickelt hatte, die weit über Palästina hinaus reichte.36 Das sich entwickelnde Christentum ergriff dabei zügig die römisch-griechischen Städte37, besonders im hellenistischen Osten des Römischen Reichs. Gegenstand der Untersuchung Starks sind jene Städte des Römischen Reichs, die mindestens 30.000 Einwohner hatten; im Jahr 100 n. Chr. trifft dies auf 31 Städte38 zu.39 Diese 31 Städte dienen Stark als Konkretionen, an denen er die Ausbreitung des christlichen Glaubens im Römischen Reich als urbane Bewegung im Laufe der ersten drei Jahrhunderte beschreibt. Dabei fällt auf, dass sich die Mehrheit der Städte im Oströmischen Reich befand und sich dort besonders am östlichen Ende des Mittelmeers ballten; hier waren ein Drittel der Städte beheimatet. Neben dieser Region finden sich weitere drei Städte auf der ägäischen Halbinsel sowie fünf im Westen Kleinasiens, was ebenfalls zu einer Ballung in diesem Gebiet führt.40
34 Vgl. aaO., 149 f. »Die Urkirche übernahm und radikalisierte diese Organisationsform […] [und] […] trat also in Konkurrenz zur jeweiligen städtischen Versammlung der freien Bürger.« (Georgi 2009, 146). 35 Stark 2006, 60. 36 Zur Stadt als Lebensraum der ersten Christen vgl. auch Ebner 2012. 37 Grundlegende und allgemeine Hintergrundinformationen über (römisch-griechisches) urbanes Leben in den ersten drei Jahrhundert n. Chr. vgl. Stark 2006, 26–35. 38 Dabei handelt es sich um: Cäsarea Maritim, Damaskus, Antiochia, Apameia, Salamis, Edessa, Nisibis, Pergamon, Ephesus, Sardes, Smyrna, Byzanz (Konstantinopel), Alexandria, Memphis, Oxyrhynchus, Leptis Magna, Karthago, Athen, Korinth, Thessaloniki, Rom, Capua, Syrakus, Mailand, Autun, Lyon, Nîmes, Cádiz, Cordoba, Sevilla, London. 39 Vgl. aaO. 34–61. 40 Vgl. aaO., 60 f.
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Daran wird deutlich, dass Paulus41, als erster überregional bedeutender christlicher Missionar, das tat, was die erfolgreichste Strategie zu sein schien: Er suchte die Städte auf, da hier die meisten potentiellen Konvertiten lebten.42 Jürgen Becker vermerkt zur paulinischen Mission in Ephesus: »Ephesus paßt [sic!] zu den Orten, die Paulus sich sonst zur Mission aussucht.«43 Diese Haltung erwarb er wohl u. a. während seiner 12 jährigen44 Tätigkeit in der Stadt Antiochia, welche zu jener Zeit die drittgrößte Stadt des Römischen Reichs war: »Antiochia war nun nicht irgendeine Stadt, sondern zentraler Ort in Verwaltung, Handel und Wandel für ein relativ großes Einflußgebiet [sic!], das zumindest die ganze römische Provinz Syrien umfasste.«45 Spätestens dort jedoch lernte Paulus städtisch zu denken46 und »[s]tädtisch denken, hieß so auch, eine ganze Region im Blick haben.47 Dass Paulus hier die entscheidenden Einsichten in eine solche Missionsstrategie erhalten haben könnte, legt die Beobachtung nahe, dass »[d]ieser Mission […] auch die Christen in Antiochia ihren Glauben [verdankten]«48 und gewissermaßen mit ihrer Konversion zum christlichen Glauben diese Art der Mission über sie kam. Dabei ist der übergeordnete Referenzrahmen solch einer urban geprägten und urban fokussierten Mission laut Meeks die Urbanisierung, welche bereits für die Zeit vor Alexander dem Großen zu beobachten ist und sich durch die Zeiten der hellenistischen und römischen Imperien weiterentwickelte.49 Diese Fokussierung der Mission begründet sich also weniger in christlich-altkirchlichen Affinitäten, sondern spiegelt die geistig-kulturelle Welt des antiken Mittelmeerraums wider. Die Orte, die Paulus aufsuchte, waren vorrangig hellenisierte Hafenstädte, in denen häufig bereits eine christliche Gemeinde bestand. Dies macht deutlich, dass bereits die vorpaulinischen Missionare Städte aufsuchten und dort Gemeinden ins Leben riefen, die bis zur Zeit des Paulus (ca. 45 n. Chr.) exis41 Wayne Meeks nennt Paulus eine city person (vgl., Meeks 2003, 9) was sich an seiner Sprache, seinem Denken und seinem Beruf zeige und Eveline Valtink bezeichnet ihn als »Stadtbürger« (Vgl. Valtink 2009, 157f). 42 Dies taten auch andere Missionare, vgl. Georgi 2009, 146 f. Siehe auch der Aufsatz Urbaner Glaube. Die Stadtmission des frühen Christentums und heute von Thomas Söding, vgl. Söding 2014. 43 Becker 1998, 161. 44 Vgl. aaO., 87. 45 AaO., 91. 46 Vgl. dazu auch die theologische Prägung, die Paulus in Antiochia erhielt, vgl. Becker 1998, 108–110. 47 Man darf Antiochia aber nicht mit postindustriellen Großstädten vergleichen: »Antioch-onthe-Orontes, for example, was one of the giants in the first century, yet a person could easily walk the circumference in an afternoon.« Meeks 2003, 28. 48 Becker 1998, 91. 49 Vgl. Meeks 2003, 25 f.
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tierten.50 Städte schienen der geeignete Ort sowohl für die Pflanzung und Neugründung als auch für das dauerhafte Überleben einer Gemeinde zu sein. Dazu Thomas Söding: »Die heilige Stadt ist Ausgangs- und Zielpunkt; die städtischen Schwerpunkte der Mission spannen ein Netz, das unter den Bedingungen der Antike Globalisierung inszeniert. Universales Denken ist eine Frucht des Monotheismus; die Stadt ist der Katalysator.«51 Dass die paulinische Mission diese Tradition fortsetzte, berichtet die Apostelgeschichte (und die paulinischen Briefe bestätigen dies im Wesentlichen52), in deren Verlauf der Apostel Paulus die wichtigsten Stadtzentren des Römischen Reichs besucht, um dort entweder Gemeinden zu pflanzen oder zu besuchen. So sucht er laut Apg 17 Athen, als das vermeintlich intellektuelle Zentrum des Römischen Reichs auf.53 In Apg 18 wird berichtet, dass er Korinth besucht – eines der Handelsszentren des Imperium Romanum. Ein Kapitel weiter verweilt er in Ephesus und damit in der Stadt, die in religiöser Hinsicht wohl als so etwas wie Hauptstadt des Römischen Reichs bezeichnet werden kann.54 Schließlich erzählt die Apostelgeschichte, dass es Paulus schließlich auch gelingt nach Rom, als der Hauptstadt des Reichs und dessen politisch-militärisches Zentrum zu reisen.55 Jürgen Becker schreibt in seiner Biographie über Paulus, dass dieser von Beginn seiner eigenständigen Mission an, Gemeinden in Städten56 gründete: »So entstehen in zwei bis drei Jahren […] die Gemeinden in Galatien, Philippi, Thessaloniki und Korinth.«57 Nachdem Paulus die Gemeinde in Antiochia und somit das antiochenische Missionsfeld verlassen hat »denkt [er] fortan in römischen Provinzen und sucht vor allem deren Hauptstädte und Zentren auf.«58 Becker fährt fort: »Es ist dabei nicht auszuschließen, daß [sic!] ihm schon bald Rom als Fernziel vor Augen stand (Röm 15,22).«59 Dabei habe sich Paulus in seiner Theologie und seiner Tätigkeit als Gemeindegründer nicht von der urbanen Kultur abgegrenzt, sondern auf diese eingelassen und dabei einen hermeneutischen Ansatz vertreten, der davon ausgeht, dass Gottes Geist auch in der Natur und in einer Kultur wirkt, die nicht genuin christlich ist. Dies bedeutet 50 51 52 53 54 55 56
Vgl. Stark 2006, 129–133. Söding 2014, 165. Vgl. Becker 1998, 17–33.132–137.154–159.160–170.502–507. Vgl. auch Meeks 2003, 25–32. Zur Bedeutung Athens zu der Zeit des Paulus vgl. Becker 1998, 135. Vgl. aaO., 161 f. Vgl. dazu Keller 2014b, 144. Dieter Georgi nennt die Gründung der Gemeinde in Galatien eine Ausnahme in diesem paulinischen Schema, vgl. Georgi 2009, 146. 57 Becker 1998, 132. 58 AaO., 132 f. 59 AaO., 133.
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dann auch, dass Gott in der urbanen Kultur, Politik und Zivilisation erkannt, bezeugt und bekannt wird. Dies sei laut Thomas Söding der Hauptgrund, warum hinsichtlich des Glaubens des Urchristentums von einem »urbanen Glauben« die Rede ist.60 Dabei war Teil der Urbanität der Kirche eine Existenz in der Öffentlichkeit, welche vor Sektierertum schützte und laut Söding dazu geführt habe, dass das Christentum zur Weltreligion wurde.61 Aufgrund der Tatsache, dass die ersten Christen die Städte62 und nicht das Hinterland mit dem Evangelium zu erreichen suchten63, blieb letzteres in vielen Fällen stark heidnisch geprägt. So zeigt sich die urbane Affinität der altkirchlichen Mission und die daraus resultierende hohe Verbindung zwischen der entstehenden christlichen Kirchen und dem urbanen Leben auch in der Bezeichnung pagani, die man mit »Dörfler«64 übersetzen kann und die zum terminus technicus für die Bezeichnung von Heiden65 geworden ist: »The early church was largely an urban movement that won the people of the Roman cities to Christ, while most of the rural countryside remained pagan. Because the Christian faith captured the cities, however, it eventually captured the ancient Greco-Roman world. As the city went, so went the culture.«66 Dies belege nicht zuletzt die Abfassung des gesamten Neuen Testaments sowie fast sämtlicher Schriften der frühen Christenheit in der urbanen Universalsprache Griechisch.67 Die Christen lebten keineswegs ausschließlich in den von Stark genannten urbanen Zentren (siehe oben), sondern ebenso auch in zahlreichen kleineren urbanen Räumen68: »[T]he overwhelming majority of Christians lived in towns and cities, and about one two-thirds of them probably lived in these larger thirtyone cities.«69 Dabei gilt für den christlichen Glauben dasselbe wie für andere Kulte und Religionen des Orients zu dieser Zeit: Sie wurden durch Händler und Einwanderer, durch Reisende und Missionare von Stadt zu Stadt gebracht und fassten dort zeitweise oder dauerhaft Fuß. Dabei waren es besonders die Küstenstädte, welche ein reges religiöses Leben sowie eine große Vielfalt an 60 Vgl. Söding 2014, 168 f. 61 Vgl. aaO., 171 f. 62 Zur Christianisierung der Antike und der Urbanisierung des Christentums vgl. Hauschild 1991, 10–15. 63 Vgl. dagegen zur Mission des Hinterlands von Korinth und Ephesus Vogler 2001, 117. 64 Vgl. Valtink 2009, 157. 65 Vgl. Haußig 1993. 65. 66 Keller 2014b, 145. 67 Vgl., Meeks 2003, 15 f. 68 Vgl. Stark 2006, 60 und 70 f. Diese Schlussfolgerung wird durch Daten gestützt, welche anzeigen, ab welchem Jahr in den genannten Städten eine christliche Gemeinde nachweisbar existierte (im Jahr 180 n. Chr. gab es in 23 der 31 Städte eine christliche Gemeinde), vgl. aaO., 72. 69 AaO., 71.
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Kulten und Religionen aufwiesen. Sie waren aufgrund ihrer Lage an Handelsrouten, ihrer multiethnischen und multikulturellen Bevölkerung und ihrer meist politischen Bedeutung ein beliebtes Ziel missionarischer Aktivitäten.70 War es die Mehrheit der Christen, die wohl um das Jahr 180 n. Chr. in urbanen Räumen im Allgemeinen und ebenso in den genannten 31 Städten im Besonderen lebte, so stellten Christen höchstwahrscheinlich bereits in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts die Mehrheit der gesamten Bevölkerung in den meisten dieser 31 Städte im Römischen Reich.71 Dabei kann man beobachten, dass sowohl die Hafenstädte als auch die hellenistisch geprägten (im Osten gelegenen) Städte schneller und umfassender für den christlichen Glauben gewonnen wurden, als die übrigen Städten des Römischen Reichs. Dies hing einerseits mit der für Handel und Reise strategisch günstigen Lage der Hafenstädte zusammen und andererseits mit einem hohen Maß an weltanschaulichphilosophischen Überschneidungen zwischen Hellenismus und Christentum.72 Eine Ursache für die generelle Affinität der Alten Kirche für Städte entdeckt Stark zudem in dem Umstand, dass mit wachsender Größe von Städten auch der Raum und die Möglichkeit für unkonventionelles Verhalten und Handeln steigt. Dazu zitiert er Claude S. Fischer: »The more urban the place, the higher the rates of unconventionality.«73 Dabei meint Fischer mit »more urban« schlicht die Zahl der Bevölkerung. Diese Annahme begründet sich u. a. damit, dass der christliche Zugang zur Wirklichkeit in vielen Punkten dem der römischen (und z. T. Hellenistischen) Kultur (teilweise diametral) entgegenstand und eine Hinwendung zum christlichen Glauben durch die Bildung einer kritischen Masse (»[…] asemble the ›critical mass‹ needed to form a deviant subculture […]«74) begünstigt und gefördert wird. Dies war in urbanen Räumen eher möglich und wahrscheinlich als auf dem Land, wo es schwieriger war, Gleichgesinnte zu finden: »The larger a city’s population, the easier it seems to have been to gather the nucleus needed to form a Christian congregation.«75 So hatten bis zum Jahr 100 n. Chr. Dreiviertel der größeren Städte (mehr als 75.000 Einwohner) eine Kirche, wohingegen sich nur bei einem Drittel der kleineren Städte im gleichen Zeitraum eine Kirche findet. Bis zum Jahr 180 n. Chr. hatten alle größeren Städte eine Kirche, bei den kleineren Städten war dies bei einem Drittel immer noch nicht der Fall.76
70 Vgl. Meeks 2003, 1, vgl. auch Stark 2006, 70–77. 71 Vgl. Stark 2006, 71. 72 Vgl. aaO., 73–83. 73 AaO., 81. 74 Ebd. 75 AaO., 94. 76 Vgl. aaO., 81–83.
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Eine weitere Ursache der Bedeutung von Städten für das Wachstum des frühen Christentums entdeckt Stark darin, dass für hellenisierte Juden der Diaspora das Christentum eine attraktive Alternative zu ihrem bisherigen Glauben darstellte: »For many Hellenized Jews, a monotheism with deep Jewish roots, but without the Law, would have been extremely attractive.«77 Dies liegt daran, dass das Judentum der hellenistischen Diaspora signifikante kulturelle und religiöse Modifikationen erlebt hat und von daher in gewisser Spannung mit dem »klassischen« Judentum stand. Für die Diasporajuden galt: »[…] they no longer were very Jewish, neither were they Greek.«78 Diese Beobachtung deckt sich mit den Berichten der Apostelgeschichte, wonach das erste Ziel der paulinischen Mission in den jeweiligen Städten – trotz seiner Sendung zu den Heiden – jeweils immer die Synagogen der Diasporajuden waren. Dort predigte er den »neuen Weg« und gewann einige der Synagogenmitglieder (teilweise auch deren Vorsteher vgl. Apg 18,18) für den christlichen Glauben. Da seine Lehre aber in mehr oder weniger offenem Widerspruch zu den jüdischen Lehren stand, führten diese Aktivitäten früher oder später zu Konflikten mit der jüdischen Bevölkerung, allen voran den Vertretern der jüdisch-religiösen Leitung sowie, meist als Resultat dieses Konflikts, zu Auseinandersetzungen mit der römischen Exekutivmacht (vgl. Apg 13,13ff; 14,1ff; 17,1ff; 18,4ff; 19,8ff).79 Das Christentum bot den hellenistischen Juden eine kulturell-religiöse Kontinuität, die es ihnen erlaubte »[…] to retain most of their Jewish and their Hellenic religious capital.«80 Diese »niedrigen Schwellen« erleichterten den Juden der Diaspora den Zugang zum christlichen Glauben und halfen dem Christentum in den Städten des Römischen Reichs Fuß zu fassen.81 Insofern war das junge Christentum zunächst eine jüdische Sekte, deren Aufstieg sowohl durch kulturelle Kontinuität mit dem hellenistischen Judentum82 als auch durch Berührungspunkte mit heidnischen Religionen83 begünstigt wurde.84
77 AaO., 126. 78 Ebd. 79 Aufgrund seiner Beobachtungen fordert Stark (vgl. aaO.,133–139), Paulus’ Rolle als Heidenmissionar zu relativieren und den Anteil judenchristlichen Konvertiten bei seiner Mission stärker zu berücksichtigen. Da diese Gedanken den thematischen Rahmen dieser Arbeit verlassen, muss dieser Hinweis genügen und ich verzichte auf eine eingehendere Diskussion dieses zweifellos spannenden Themas. 80 AaO., 128. Hervorhebung im Original. 81 Vgl. aaO., 124–129. 82 Vgl. aaO., 119–139. 83 Vgl. aaO., 85–117. 84 Für eine kurze historische Darstellung des Verhältnisses von Stadt und Religion in kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Gräb 2005, 279–282.
»Überwiegend städtische Gemeinden machten 2013 zwar nur ein Fünftel der Gesamtfläche Deutschlands aus; hier lebten aber zwei Drittel der Bevölkerung und befanden sich drei Viertel aller Arbeitsplätze. Im Gegensatz dazu nahm der ländliche Raum zwar 60 % der Fläche ein, dort lebten allerdings nur 18 % der Bevölkerung, die lediglich 10 % aller Arbeitsplätze vorfanden. Fast die Hälfte der Bürger lebte in sehr zentralen Orten, jeder Vierte in peripheren oder sehr peripheren Orten.«1 Datenreport 2016
§ 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt: Einführung in die Stadtsoziologie2 1. Entstehung von Soziologie und Stadtsoziologie Die Soziologie3 als Disziplin »entstand im Zusammenhang des völligen Umbruchs der bis dahin entwickelten Formen der Produktion und des Zusammenlebens.«4 Dieser Umbruch wurde maßgeblich durch die sog. Doppelrevolution5 herbeigeführt und provozierte die Herausbildung einer neuen Wissenschaft, die sich der Erforschung der Formen des Zusammenlebens widmete.6 So prägten die Forscher Claude-Henri de Saint-Simon und Auguste Comte um 1835 den Begriff Soziologie. Da die Stadt als ein »Zentrum der Bewegung«7 identifiziert wurde (so bspw. Wilhelm Heinrich Riehl 1854), lag das Augenmerk soziologischer Forschung schon früh auf der sich wandelnden Stadt und der entstehen-
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Destatis 2016, 351. Zur grundlegenden und knappen Einführung vgl. Schäfers 2014. Zur Geschichte der Soziologie vgl. Krähnke 2014. Schäfers 2010, 18. Gemeint ist die von England ausgehende Industrielle Revolution (seit Mitte des 18. Jh.) sowie die Französische Revolution (1789/1799), vgl. Winkler 2012, 254–259 und 310–338; Schneider 2008, 510–520; Nowak 2007, 19–27 und Wolf 2007, 91–99. 6 Zum Verhältnis von Soziologie und Praktischer Theologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, vgl. Grözinger 2014, 59–61. 7 Schäfers 2010, 19.
1. Entstehung von Soziologie und Stadtsoziologie
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den Großstadt.8 Die Stadt diente gleichsam als »Laboratorium (der Moderne)«9, in dem sich die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in verdichteter und konzentrierter Form beobachten und beschreiben ließ sowie daraus resultierend Thesen für eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklung aufgestellt werden konnten. So haben auch die Gründungsväter der Soziologie in Deutschland – Ferdinand Tönnies10, Georg Simmel11 und Max Weber12 – bei ihrem soziologischen Arbeiten stets die Stadt sowie bestimmte urbane Elemente fokussiert. Die Arbeiten dieser drei Forscher (sowie der Beitrag Emile Durkheims13) gehören »zu den grundlegenden Texten der Stadtsoziologie als Gesellschaftstheorie«14 und weisen ihr somit forschungsprofilierend die Richtung, indem sie bei der Untersuchung und Beschreibung bestimmter Elemente der Stadt stets die größere Frage nach den Ursachen sowie nach der Bedeutung der Entstehung der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft stellen und diese zu ergründen und darzustellen suchen.15 Das Nachdenken über die Stadt als eigenständiger Zweig der Soziologie16 hat sich also im Zuge der Herausbildung der modernen Großstadt und der damit verbundenen Urbanisierung sowie dem damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel formiert. Diente die Soziologie eher der allgemeinen Beschreibung der gesellschaftlichen Umbrüche, die in nachaufklärerischer Zeit eben nicht mehr allein mit den Wissenschaften der Ökonomie und Philosophie erklärbar waren, so fokussierte die Stadtsoziologie ihren Blick auf die besondere Sphäre des urbanen Raums, seinen Wandel und der sich daraus ergebenden sowie diesen Wandel bedingenden Umstände. So war die Etablierung der Soziologie als eigen8 Dabei fungiert Gemeinde als Oberbegriff und Stadt als eine Form gemeindlichen Lebens: »Zur Differenzierung der Gemeinde: Gemeinde ist ein Oberbegriff für alle Siedlungsgebilde, die über die Form von Einzelsiedlungen hinausgehend, eine bestimmte Struktur und damit eine soziale und kulturelle Identität ausgebildet haben. Das Spektrum reicht vom Dorf bis zur Megalopolis. Gemeinde lässt sich durch drei Merkmale definieren (Hamm 1982): durch das materielle Substrat (das durch Grenzen eingefasste Gebiet und die sich darin befindenden Menschen und Sachanlagen); durch das institutionell differenzierte und abgestützte soziale Interaktionsnetz und semiotisch durch Name, Erscheinungsbild usw. der Gemeinde. Für die Unterscheidung von Dorf und Stadt oder andere spezifische Ausprägungen der Siedlungsstruktur müssen zusätzliche Merkmale eingeführt werden, in soz. Perspektive z. B. Einwohnerzahl, Dichte und soziale Heterogenität der Bevölkerung.« Schäfers 2014, 507. Zur Gemeindesoziologie vgl. aaO., 509–511. 9 Vgl. u. a. Lossau 2012, 192 und Bertels 2008, 56. 10 Vgl. dazu eine knappe Darstellung bei Zarnow 2018, 189–192. 11 Vgl. Junge 2012. 12 Vgl. Kemper 2012. 13 Vgl. Schroer/Wilde 2012. 14 Schäfers 2010, 19. 15 Vgl. aaO., 17–19. 16 Vgl. Eckardt 2012, 9 ff.
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§ 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt
ständiger Wissenschaft im beginnenden 20. Jahrhundert von Beginn an eng mit der Urbanisierung verbunden, da die »Bedingungen der Existenz […] fortan eng an die Stadt geknüpft [sind]«17 und eine wissenschaftliche Beschreibung der menschlichen Lebenszusammenhänge ohne eine intensive Erforschung und Beschreibung der Stadt seitdem nicht mehr möglich ist. Als Gründungsväter der Stadt- und Raumsoziologie »gelten vor allem Georg Simmel [(1858–1918)] und die von ihm beeinflusste Chicagoer Schule«18, deren bekannteste Vertreter Robert E. Park (1864–1944) und William I. Thomas (1863–1947) sind.19 Die Chicago School of Sociology20 war es auch, die entscheidende Impulse für die deutsche Stadtsoziologie nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte, welche sich »weder während der Weimarer Republik noch im Nationalsozialismus nennenswert weiter entwickeln konnte.«21 Der Grund bestand u. a. darin, dass die Forschung bis dahin eher durch theoretische Konzeptionen gekennzeichnet war und die Forscher der Chicagoer Schule stärker empirisch-ethnographische Methoden bei der Beschreibung von Stadt und urbanem Leben anwendeten und damit der Forschung eine neue Richtung gaben.22
2. Großstadtforschung als Gesundheitsforschung Neben dem grundsätzlichen Interesse, das Phänomen Stadt zu beschreiben, gab es auch einen ganz pragmatischen und naheliegende Grund, eine Stadtsoziologie zu etablieren: »der Informationsbedarf der Verwaltungen, die damit
17 Löw 2010, 605. 18 AaO., 606. 19 Zur Chicago School of Sociology vgl. Häußermann/Siebel 2004, 45–54; Lenz 2007, 12ff; Hennig 2012, 95ff und Masson 2016, 21–24. 20 »In den 1920er Jahren sind Robert E. Park, Ernest W. Burgess und Louis Wirth auf der Suche nach einer Theorie der Stadt, die Formen der Integration und Desintegration schnell wachsender und sich ständig wandelnder Großstädte (wie Chicago) erklären soll (vgl. Park 1967, orig. 1925). Sie entwerfen die Human- bzw. Sozialökologie, deren Grundgedanke aus der Pflanzensoziologie stammt. Er besagt, dass jede Störung eines Gleichgewichts im städtischen Zusammenleben durch den Zuzug von Menschen zu einem natürlichen Segregationsprozess führt, in dessen Folge sich eine Vielzahl differenter, in sich territorial abgrenzbarer Räume in der Stadt, sogenannte ›natural areas‹, bilden. Auf diesen entstehen wiederum relativ homogene, eigenständige ›communities‹ mit eigener kultureller Ordnung. […] Stadtsoziologie in der Tradition der Chicago School ist deshalb in erster Linie Stadtteilforschung« (Steets 2008, 391). 21 Häußermann/Siebel 2004, 43. 22 Vgl. Werner 2016, 128 f.
3. Stadtsoziologie als Datenerhebung und Reflexion
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begannen, das städtische Chaos zu ordnen und die Lebensverhältnisse zu verbessern.«23 So entstand die »empirische Großstadtforschung […] als Gesundheitsforschung.«24 Das staatliche Gesundheitsmanagement der scheinbar endlos wachsenden Städte machte eine statistische Erhebung aller dafür relevanter Daten nötig: Wer zieht, wann, warum, wohin und bleibt wie lange? Außerdem war es wichtig zu wissen, wo die größten Probleme lagen. Dazu war es nötig, möglichst verschiedene und differenzierte Daten zu erhalten, die nicht nur den Status quo abbildeten, sondern möglichst auch die Ursachen aufzeigten und so halfen, der Situation entsprechende Lösungen zu finden. Als eigene Teildisziplin der Soziologie hat sich die Stadt- und Regionalsoziologie in Deutschland aber erst ab den 1950er Jahren etabliert und schließlich wurde im Jahr 1975 die Sektion »Stadt- und Regionalsoziologie« offiziell in der deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet.25
3. Stadtsoziologie als Datenerhebung und Reflexion Der beschriebene Ursprung der Stadtsoziologie ist in mancher Hinsicht auch ein belastendes Erbe, da die Erstellung von Daten auf Zuruf und aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen sowie Zwänge zu einer eingeschränkten Wahrnehmung führt und die wichtige und richtungsweisende (zuweilen zunächst zweckfreie) Grundlagenforschung gefährdet. Dieser Spannung zwischen Stadtplanungssoziologie26 und gesellschaftstheoretischer Grundlagen- und Ursachenforschung sah sich die Stadtsoziologie stets ausgesetzt. Dazu Häusermann/Siebel: »Die Soziologie der Stadt kann dieses Spannungsverhältnis nicht zur einen Seite oder anderen Seite hin auflösen, will sie nicht akademische Theorie ohne Bezug zur politischen Praxis sein oder praxisbezogene Datenbeschaffung ohne theoretische Reflexion.«27 Statt einer Teilung der Stadtsoziologie in »zwei Soziologien der Stadt […]: einer gesellschaftstheoretisch angeleiteten Stadtsoziologie und einer vom Informationsbedarf der Verwaltung geprägten Stadtplanungssoziologie«28 fordern Häußermann/Siebel bereits 1978, dass eine »Soziologie der Stadt […] anzuknüpfen [hätte] an den gesellschaftstheoretischen Ansätzen,
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Häußermann/Siebel 2004, 13. Ebd. Als aktuelles Beispiel vgl. Adli 2017. Vgl. dazu Schäfers 2010, 20 f. Vgl. dazu den Abschnitt Die Banalität der Stadtplanungssoziologie von Häußermann/Siebel 2013, 108–111. 27 Häußermann/Siebel 2004, 14. 28 Häußermann/Siebel 2013, 101.
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§ 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt
die den Zusammenhängen zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und räumlichen Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mit denen auf lokaler Ebene nachgehen.«29
4. Die Frage nach dem Raum in der Stadtforschung30 Dies leitet über zu einer kontroversen Diskussion innerhalb der Stadtsoziologie: die Frage nach der Rolle des Raums – und damit die Frage nach dem Gegenstand – bei der Erforschung von Stadt.31 Die wohl einfachste und treffendste Definition für die Arbeit der Stadt- und Raumforschung32 liefert Martina Löw: »Die Stadt- und Raumsoziologie untersucht […] die Lebensbedingungen von Menschen in Städten.«33 Dabei hat sich laut Löw die Stadtsoziologie von Anfang an auch darum bemüht, neben der Erforschung der Lebensbedingungen auch die Rolle des urbanen Raums und der »räumlichen Formation der Gesellschaft«34 in der Stadt zu untersuchen. Ferner untersuchte die Stadtsoziologie zunächst die mit der Urbanisierung einhergehende Umstrukturierung der Gesellschaft und die – bis heute zentrale – Erforschung der »Herausbildung ethnischer Gemeinschaften, […] die Reproduktion sozialer Klassen und Milieus […] sowie geschlechtsspezifische Lebensbedingungen in Städten.«35 Außerdem wurde auch die Stadt als solche Gegenstand von Studien und daraus entwickelte sich die Formulierung einer kulturellen Eigenart urbaner Räume, die nicht zuletzt durch die »Analyse der Eigenlogiken36 von Städten«37 erforscht und dargestellt wurde.38 Diese Entwicklungen spiegeln die Diskussion um die Stadt als Raum wider, welche zwischen dem geographischen und dem soziologischen (oder symbolischen) Raum39 unterscheidet und die Frage stellt, ob »der Gegenstand Stadt
29 AaO., 102. 30 Vgl. dazu Barlösius 2014. Zum Sozialraum vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 19 ff. 31 Vgl. dazu den Aufsatz Der aktuelle Perspektivenstreit in der Stadtsoziologie von Frank et al. 2013, 197–223. 32 Vgl. Herrmann 2014a. 33 Löw 2010, 605. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 S.u. in diesem Absatz. 37 Löw 2010, 605. 38 Zur Bezeichnung der Stadtsoziologie als »beratender Wissenschaft« sowie als »Wirklichkeitswissenschaft« vgl. Lenz 2007, 38 f. 39 Vgl. Lossau 2012, 186–189.
4. Die Frage nach dem Raum in der Stadtforschung
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vor allem durch seine räumliche Dimension konstituiert wird oder ob es sich bei der Stadt nicht vielmehr um einen soziologisch zu bestimmenden Gegenstand handelt.«40 Damit verbunden ist zudem die Frage, inwieweit sich die beiden »Arten« von Raum gegenseitig beeinflussen und wie sie voneinander abzugrenzen sind.41 So beschreibt Eckart Leipprand den Begriff Urbanität als Doppelbegriff i. S. e. Software (das Leben der Städter) und einer Hardware (die gebaute Stadt als Raum und Gebäude). Beide beeinflussen sich wechselseitig und ändern sich gemeinsam und in Abhängigkeit voneinander. So muss der urbane Raum belebt und gestaltet werden und prägt seinerseits die Art und Weise des Lebens. Wiederum passt sich die Gestaltung des urbanen Raumes der Lebensweise der Bewohner an und wird durch die Art, wie diese ihr Leben führen, geprägt und geformt.42 In zahlreichen soziologischen Ansätzen wurden beide Raumtheorien miteinander verbunden. Dies änderte sich in den 1970er Jahren als die geographische Verortung des Begriffs Stadt infolge eines schwindenden Stadt-LandGegensatzes als nicht mehr angemessen betrachtet wurde (sog. New Urban Sociology43 oder kritische Stadtsoziologie – Hartmut Häußermann, Walter Siebel, Dieter Läpple).44 Zusammengefasst werden kann dieser Ansatz so: »Ähnlich 40 AaO., 191. 41 »Im Kern geht es bei der hier nur grob skizzierten Auseinandersetzung also um die einfache, aber höchst folgenreiche Frage, ob räumliche Strukturen – das heißt naturräumliche Gegebenheiten ebenso wie die gebaute Umwelt – gesellschaftliche Strukturen sind und zwar in dem Sinne, dass sie als erklärungsrelevante Ursachen sozialer Phänomene angesehen werden können. Direkt daran schließt sich die zweite (und m. E. [Steets] eigentlich entscheidende) Frage nach der Art und Weise wie Raum gedacht und konzipiert wird an.« Steets 2008, 393. Zum Unterschied zwischen absolutem und relativem/relationalem Raum vgl. Barlösius 2014, 390 f. 42 Vgl., Leipprand 2000, 114–131. 43 Vgl. dazu Häußermann/Siebel 2004, 97–99. Vgl. auch den Abschnitt Die Stadt als Subjekt?, aaO., 89–102. 44 Z. B. Häußermann/Siebel: »Die Konzeption einer Stadtsoziologie setzt […] eine Identität zwischen einem räumlichen und einem sozialen System voraus. Diese Identität gibt es in der Regel für eine stadt-soziologische Theoriebildung nicht. Aber diese Identität kann es für Teilgebiete oder für andere räumliche Einheiten (Gemeinden) geben, deren soziales System in starkem Maße von einem bestimmten nur dort auftretenden sozialen Faktum geprägt wird (z. B. für eine alte Zechensiedlung), wenn also Lebensverhältnisse von lokal spezifischen Faktoren stärker bestimmt werden als von den in der Gesellschaft allgemein vorherrschenden. Solche lokalen Identitäten können in Forschungen erfaßt [sic!] werden, die in der Tradition der Community Studies stehen. Da in solchen Studien die spezifischen Einflüsse einer Gemeinde auf die sozialen Beziehungen der Bewohner untersucht werden, und gerade nicht auf deren allgemeine Charakteristika abgehoben werden darf (denn dann würden wiederum nur allgemeine gesellschaftliche Probleme pars pro toto in einer Gemeinde zum Gegenstand), muß [sic!] dieser Forschungszweig auf Fallstudien beschränkt bleiben. Beim Versuch der Verallgemeinerung verlieren sie das spezifisch Lokale bzw. Städtische.« (Häußermann/Siebel 2013, 116). Vgl. zu diesem Ansatz auch Frank et al. 2013, 199–203.
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§ 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt
wie ›Stadt‹ ist auch ›Raum‹ nur Erscheinungsform gesellschaftlicher Strukturen, aber kein eigenständiger soziologischer Gegenstandsbereich.«45 Julia Lossau verweist jedoch darauf, dass in den Arbeiten der New Urban Sociology »die Stadt als räumliche Entität ebenso wenig verloren gegangen ist wie kleinräumigere Entitäten der Stadtteile, Quartiere oder Nachbarschaften.«46 Dies änderte sich als (v. a. unter dem Eindruck der Globalisierung und einer Wiederentdeckung des Lokalen)47 im Zuge des sog. Spatial Turns48 seit den 1980er Jahren als der Raum49 im Anschluss an Arbeiten von Michel Foucault (1967), Henri Lefebvre (1974)50, David Harvey (1989)51 und Edward Soja
45 Frank et al. 2013, 203. Der Raumbegriff wird hier dem der Gesellschaft untergeordnet und Prozesse, die im Raum ablesbar sind, haben aber ihren Ursprung in gesellschaftlichen Umwälzungen und nicht vice versa. Der Raum kann deshalb keine unabhängige Variable sein. Betrachtet man diesen aber als solches, so die Kritik der kritischen Stadtsoziologie »wird hier Soziales mit Nicht-Sozialem erklärt und damit das Feld legitimer soziologischer Forschung verlassen.« (AaO., 207). Die Kritik der Vertreter eines Eigenlogik-Ansatzes ist die, dass die Annahme einer dem Raum (und somit der Stadt) übergeordneten Rolle der (nationalstaatlichen) Gesellschaft schlicht eine Behauptung sei und die Annahme, dass Umwälzungen und Wandel auch von Städten ausgehen können, da sie hier die spezifischen Bedingungen für ihre Genese finden, ohne stichhaltige Begründung abgelehnt werde. »Für die EigenlogikerInnen ist nicht nachvollziehbar, dass Gesellschaften ›realer‹ als Städte seien.« (AaO., 208). Die beiden zugrunde liegenden Ansätze sind a) historisch-materialistisch und b) kultur- und wissenssoziologisch. Vgl. aaO., 207 f. 46 Lossau 2012, 192. 47 Vgl. aaO., 185–189 und Steets 2008, 400–404 sowie zur Globalisierung vgl. Berking 2008, 117–137, Berking/Löw 2008b, 9f und Häußermann et al. 2008, 165–167. »Weil in der globalisierten Welt alles gleichzeitig zu haben ist, bekommen die lokalen Orte wieder neue Bedeutung, was dann im Globalisierungsdiskurs als ›Ersetzung der Zeitproblematik durch die Raumproblematik‹ gewertet wird.« Schüßler 2013, 19. Vgl. aaO., 53 ff. Über den Zusammenhang von Globalisierung und Stadtentwicklung, zu dem Verhältnis von Nationalstaat und Großstadt, vgl. Frank et al. 2013, 204 f. 48 Vgl. Lossau 2012, 185 ff. »Die Erkenntnis, dass gesellschaftlicher Wandel ohne eine kategoriale Neukonzeption der räumlichen Komponente des sozialen Lebens nicht hinreichend erklärt werden kann, wird deshalb als ›spatial turn‹ bezeichnet.« (Steets 2008, 394). Unter praktisch-theologischer Perspektive vgl. u. a. Grethlein 2016, 517ff; Schüßler 2013, 18–20 sowie Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 121–124. Jan Hermelink entdeckt bei den regionalisierenden Reformbemühungen der Evangelischen Kirche, dass diese »wesentlich an territoriale Verhältnisse gebunden« (Hermelink 2012, 73 – Hervorhebung im Original) sind, vgl. Hermelink 2012, 72 f. 49 »Die Stadt ist demnach – jenseits jeder konkreten inhaltlichen Bestimmung – zunächst einmal eine raumstrukturelle Form.« (Frank et al. 2013, 204). Dabei bedingt der Raum die Art, wie die Menschen leben (zumeist als präreflexiver Vorgang gedacht) und zugleich prägt der Lebensstil der Menschen den Raum, in welchem sie leben und agieren, vgl. aaO., 204 f. Janet Merkel hat im Bezug auf Kreative Milieus gezeigt, dass die Bedeutung des Raumes sich zwar gewandelt hat (und wandelt), aber (auch in der Netzwerkgesellschaft) nicht an Relevanz verloren hat, vgl. Merkel 2012, 706. 50 Ausführlicher dazu vgl. Steets 2008, 394–397. Vgl. zu Lefèbvre auch Kipfer et al. 2012, 167 ff. 51 Ausführlicher dazu vgl. Steets 2008, 398–400.
4. Die Frage nach dem Raum in der Stadtforschung
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(1996)52 sowie Manuel Castells53 »als Bedingung und Resultat sozialer Prozesse«54 neue Aufmerksamkeit erfuhr, ohne ihn aber von konstruierter Wirklichkeit zu trennen.55 Dies wirkte sich auf die Stadtsoziologie aus und führte in den 2000er Jahren zu einer Wende im stadtsoziologischen Diskurs, welcher mit dem Begriff der sog. Eigenlogik der Städte56 verbunden ist.57 Dieser Begriff drückt den Versuch aus, sowohl die Eigenwilligkeit als auch die Differenzen der Städte (untereinander) möglichst genau zu fassen und als solche zu würdigen58 und ist somit Folge sowie fachspezifischer Ausdruck des Spatial Turns der Soziologie (bzw. Stadtsoziologie). Eine verheißungsvolle Verbindung beider Räume beschreibt Silke Steets unter Aufnahme anderer Konzeptionen so: Konzipiert man Stadt nicht als territorialen Ausschnitt der Erdoberfläche, […] sondern als (Teil)Funktion von Raum, dann gelingt eine theoretische Zusammenführung von Räumlich-Physischem und Sozialem, die neue Forschungsperspektiven eröffnet. […] Mit Löw lässt sich diese beschriebene räumliche Form der Stadt [im Anschluss 52 53 54 55 56
Vgl. Lossau 2012, 185 ff. und Steets 2008, 393 ff. Vgl. Schnur 2012, 458. Steets 2008, 394. Vgl. Lossau 2012, 191 ff. und Steets 2008, 391 ff. Vgl. dazu Frank 2012 und Berking/Löw 2008b. Zu den drei zugrundeliegenden Theorien (1. Wissens- und Kultursoziologie, 2. Raumtheorie und 3. Praxeologie) des Ansatzes einer Eigenlogik der Städte, vgl. auch Frank et al. 2013, 203–207. Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. Frank et al. 2013, 208–214. Martina Löw summiert: »›Eigenlogik‹ erfasst praxeologisch die verborgenen Strukturen der Städte, als vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnformung mitsamt ihrer körperlich-materiellen Einschreibung […]. In diesem Sinne bezeichnet ›Eigenlogik‹ auch eine Konstellation spezifisch zusammenhängender Wissensbestände und Ausdrucksformen, mittels derer sich Städte zu Sinnprovinzen […] verdichten. Eigenlogiken werden in regelgeleitetem, routinisiertem und über Ressourcen stabilisiertem Handeln permanent aktualisiert und gegebenenfalls mehr oder weniger spürbar (wiederum ›eigenlogisch‹, das heißt auf eine für die jeweilige Stadt typische Weise) verändert. Der Begriff der Eigenlogik fokussiert die Einsicht, dass sich unhinterfragte Gewissheit über diese Stadt in unterschiedlichen Ausdrucksgestalten im Handeln finden und insofern rekonstruieren lassen. Die Grenzen einer Stadt können hierbei konzeptuell nicht als Verwaltungsgrenzen, sondern nur als Sinngrenzen der Stadt gedacht werden, die über Benennung aber auch über gemeinsame Erfahrung rekonstruiert werden.« (Löw 2011, 63f). 57 Zu dem Streit zwischen Vertretern der Eigenlogik der Städte (besonders Berking und Löw) und den Kritikern dieser Sichtweise (besonders Häußermann, Siebel), vgl. Frank et al. 2013, 197–223. 58 Vgl. Löw 2011: »Unter der Frage der Eigenlogik lässt die Analyse des gebauten Raumes die Einsicht zu, dass Städte ihr Bauen an der Idee des Eigenen ausrichten (zumindest in Europa), dabei jedoch nicht der Logik der Stadt in ihrer Vielschichtigkeit und Heterogenität folgen, sondern Einheitlichkeitsfantasien gegen die historischen Sedimentbildungen in ihrer Uneinheitlichkeit zu verwirklichen trachten. […] Eigenlogiken entstehen als im historischen Prozess sich verfestigende kulturelle Ordnungen an einem und in Bezug auf einen Ort. Sie erzielen ihre Stabilität durch Habitualisierung, Institutionalisierung und Materialisierung.« (AaO., 57).
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§ 5 Soziologische Einführung in den Kontext Stadt
an Doreen Masseys Definition von Städten als spatial phenomena59] als (An)Ordnung konzipieren, das heißt als eine Menge von räumlichen Strukturen, die Teil der gesellschaftlichen Struktur (nach Giddens60) sind, die also dem Handeln sowohl vorrangig als auch Folge des Handelns sind. Mit anderen Worten: Räume und damit auch die Räumlichkeit der beziehungsweise einer Stadt ist gleichzeitig Ursache und Folge einer spezifisch städtischen Form der Vergesellschaftung.61
Abschließend lässt sich festhalten, dass der Ansatz einer Eigenlogik als Er gänzung zur kritischen Stadtsoziologie seinen angemessenen Ort hat, da er wichtige und dringende Fragen stellt und eine andere Perspektive auf das Thema Stadt einnimmt, die manche Versäumnisse und Einseitigkeiten des kritischen Ansatzes ergänzt und somit zu einem möglichst exakten Erfassen des Lebensraums Stadt beiträgt.62
5. Zentrale Themen der Stadtsoziologie Als grundlegende Themen der Stadtsoziologie können folgende genannt werden63: • Gestalt der Stadt hinsichtlich der wirtschaftlichen Produktion und der sozialen Beziehungen sowie die wechselseitige Prägung dieser Bereiche (»Stadtkultur/-ökonomie«64) • Urbaner Lebensstil in den Bereichen »Wohnen und Arbeiten, Erholung und Verkehr, Kultur und Kommunikation«65 • Identifikation der Bewohner mit und Integration dieser in die Stadt (Integration von Fremden und Benachteiligten) • Segregation und Gettobildung oder Räumliche Differenzierung66 • Heterogenität und Toleranz Minderheiten gegenüber • Zugänglichkeit und Gestaltung des öffentlichen Raums sowie die Entwicklung einer urbanen Raumtheorie67 59 60 61 62 63 64 65 66 67
Vgl. Massey 1999, 157 ff. Vgl. Giddens 1988. Vgl. zu Giddens auch Werlen 2012, 144 ff. Steets 2008, 406 f. Hervorhebung im Original. Vgl. Frank et al. 2013, 208 f. Sofern nicht anders vermerkt im Anschluss an die Grundfragen der Stadtsoziologie bei Schäfers, vgl. Schäfers 2010, 20. Vgl. Löw 2010, 612 f. Schäfers 2010, 20. Vgl. Löw 2010, 608 ff. Vgl. aaO., 616 ff.
5. Zentrale Themen der Stadtsoziologie
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• politische und verwaltungstechnische Organisation der Stadt • Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger • Eigenlogik der Städte68 Diese Liste ist keineswegs erschöpfend und kann – laut Schäfers – durch »die Vielzahl der empirischen Untersuchungen zum Phänomen Stadt«69 (z. B. zum Thema Postkolonialismus und der Entstehung der mega cities70) ergänzt werden. Bei der Frage nach der Stadt als Gegenstand empirischer und theoretischer Forschung (Die Stadt als Subjekt?71) halten Häußermann/Siebel fest, dass die Stadt keine unabhängige Variable mehr sei: Sie sei nicht mehr die Ursache (»Subjekt«) für gesellschaftliche Bewegungen72, aber in besonderer Weise die »Bühne« (»Objekt der Entwicklung«73) auf der diese Entwicklungen »dargestellt und zugespitzt«74 und somit in verdichteter Form beobachtet und untersucht werden können. Sie beschreiben die Stadt nicht mehr als Generator einer veränderten Gesellschaft in einem kapitalistischen Nationalstaat, sondern als »Katalysator, Filter oder Kompressor gesellschaftlicher Entwicklungen.«75
68 Vgl. aaO., 613 ff. 69 Schäfers 2010, 20. 70 Vgl. Löw 2010, 611 f. 71 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 89–102. 72 Vgl. aaO., 100 f. 73 AaO., 100. 74 Ebd. 75 Ebd.
»Gesellschaftliche Polarisierung und soziale, ethnische und ökonomische Segregation haben aus der einen Stadt die Addition vieler Städte gemacht.«1 Wolfgang Grünberg
§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes2 Phänomen
1. Einführung und Verortung des Themas in der Dissertation Die bisherige Darstellung des Themas Stadt hat verdeutlicht, dass ein bedeutender Unterschied zwischen Städten des sog. Westens und denen der sog. Südlichen Hemisphäre (oder Zweidrittelwelt) besteht. Es gibt zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber ebenso auch grundlegende Divergenzen. Deshalb wäre es sinnvoll und dem Forschungsgegenstand angemessen, die Städte dieser verschiedenen Weltregionen gesondert vorzustellen und in einer vertieften Betrachtung je für sich zu untersuchen. Aus forschungspragmatischen Gründen beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die Städte des westlichen Kulturkreises und somit auf die geographischen Gebiete Nordamerika und Europa. Innerhalb dieser soll der Schwerpunkt zudem auf Europa und innerhalb dieses Kontinents auf Deutschland liegen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die vorliegende Qualifikationsarbeit in erster Linie das kirchliche Handeln in deutschen urbanen Räumen untersuchen und darstellen möchte. Da aber selbst dieser Fokus noch zu weit ist, wird sich die Arbeit in ihren wesentlichen Bestandteilen auf das spezifische Phänomen sozialräumlicher Entmischung konzentrieren. Die Gründe für diese Fokussierung wurden zu Beginn der Arbeit bereits dargelegt (siehe § 2 Abs. 1).
1 Grünberg 2003, 173. 2 Hier gilt zu beachten, dass Segregation kein rein urbanes Phänomen ist, sondern auch in ländlichen Räumen zu beobachten ist. Siehe dazu den Aufsatz Sozialräumliche Segregation in ländlich bezeichneten Räumen von Simone Linke, vgl. Linke 2016.
2. Allgemeine Beobachtungen
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2. Allgemeine Beobachtungen Das urbane Phänomen der Segregation (oder Trennung, Absonderung, Entmischung) ist vermutlich so alt wie die Stadt selbst (Beschreibungen finden sich bereits im Jahr 2000 v. Chr. für die Stadt Babylon)3 und kann im Laufe der folgenden Jahrhunderte nachgewiesen werden4: So existierte in vorindustriellen Städten stets eine (institutionalisierte) räumliche Konzentration verschiedener Berufs- und Sozialgruppen (Herkunft, Klasse oder Religion) und selbst innerhalb der verschiedenen Handwerkerquartiere gab es eine Trennung der Zünfte und Gilden in verschiedenen Straßen.5 Mit der Industrialisierung6 und dem rapiden Wachstum der Städte änderte sich dies nicht – im Gegenteil: das sprunghafte Wachstum der Städte und die Entstehung großflächiger (zumeist von Verelendung betroffener) Arbeiterquartiere in Fabriknähe stellten einen starken Kontrast zu den bürgerlichen und großbürgerlichen Wohnvierteln dar.7 Diese Entwicklung ist keinesfalls beendet; stattdessen ist eine weitere Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten (z. B. Schrumpfung der Mittelschicht8 sowie Wachstum der Ober- und der Unterschicht9), die sich auch auf das Wohnen
3 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 146. 4 Vgl. Farwick 2012, 382 f. 5 Vgl. Ebd. 382 f. und Häußermann/Siebel 2004, 153. Zur sozialen Mischung innerhalb dieser Quartiere, vgl. aaO., 155 f. Wichtig ist dazu auch der Hinweis Schäfers, dass der Segregationsbegriff von Voraussetzungen ausgeht, die erst neuzeitliche Städte erfüllen, weshalb er für eine Analyse mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Städte nicht angemessen ist, vgl. Schäfers 2010, 192. 6 Für die Zeit der Frühindustrialisierung vgl. Reulecke 1985, 40–56 und für die Zeit der Hochindustrialisierung vgl. aaO., 68–86. 7 Vgl. Farwick 2012, 382f und Krabbe 1989, 78ff (besonders 90ff) sowie für die Geschichte Berlins zwischen 1855 und 1920 vgl. Haus 1992, 54–68. In Berlin gab es neben Entmischung auch eine punktuelle Mischwohnform mit den wohlhabenderen Bürgern in den Vorderhäusern und den ärmeren Bewohnern in den Hinterhäusern, vgl. Stöver 2010, 32 ff. Ebenso auch der Artikel Armut in der Stadt – historische und aktuelle Befunde von Jörg Blasius, vgl. Blasius 2011, 147–162. 8 Zwischen 2000 und 2006 ist die Mittelschicht von 62 % aus 54 % geschrumpft, vgl. Friedrichs 2011, 49. 9 Zur Begriffsdefinition und -unterscheidung vgl. BBSR 2009, 406f sowie für empirische Daten zum Phänomen vgl. Gornig/Goebel 2013, 59–64.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
niederschlägt.10 Somit lässt sich Segregation auch »als das räumliche Abbild11 städtischer sozialer und kultureller Ungleichheiten12 bezeichnen.«13 Für die gegenwärtige Situation in deutschen Städten spricht Andreas Farwick von einem »sich seit längerem vollziehenden Prozess […] der generellen Entmischung der städtischen Bevölkerung […]«14 und einer damit einhergehenden Entstehung sozial homogener Gebiete.15 Dabei liegt die Bedeutung des Themas nicht bei dem Phänomen der Entmischung selbst, sondern bei dessen sozialen Auswirkungen, so dass »das eigentliche einer soziologischen Segregationsanalyse aber […] die sozialen Konsequenzen [sind].«16 Wolf-Dietrich Bukow bilanziert ähnlich, dass die »segmentierenden Quartiere […] an innerer Vielfalt [verlieren]. Sie homogenisieren nach innen und polarisieren nach außen.«17 Im Blick auf die sozialen Folgen der schreibt er: »[w]enn in Ländern wie Deutschland über Jahrzehnte hinweg ein sozio-ökonomisch imprägniertes Migrationsregime geführt wurde, dann gibt es am Ende zwangsläufig eher proletarisch geprägte Quartiere mit einem Überhang an Einwanderern und daneben andere Quartiere, die das genaue Gegenteil repräsentieren.«18 Nicht nur Stadtsoziologen, sondern auch Theologen sowie kirchliche Repräsentanten haben die Dringlichkeit des Themas Segregation entdeckt und so
10 Vgl. BBSR 2009, 406–413 und Kronauer/Siebel 2013b, 9ff und Gornig/Goebel 2013. 11 »Städte sind Abbilder gesellschaftlicher Entwicklungen. Die baulich-räumliche Gestalt von Städten spiegelt Bewegungsströme von Menschen, Ideen und Objekten. Transnationale Beziehungen – Migrationsströme, aber auch wandernde Leitbilder und Diskurse – sind in den Stadtlandschaften, in Siedlungsstrukturen, Formen der räumlichen Gestaltungen, Aneignungen und Umnutzung eingeschrieben und abgebildet.« (Wildner 2012, 225). 12 Zur sozialen Ungleichheit siehe auch den Artikel Soziale Ungleichheit und der (städtische) Raum von Jens Dangschat, vgl. Dangschat 2014 und zur konzisen Einführung in das Thema (urbane) Ungleichheiten vgl. Keller et al. 2014, 7–11. 13 BBSR 2009, 407. Vgl. dazu auch die Feststellung von Reinhard Aehnelt: »Aus den gezeigten Befunden könnte man schleißen [sic!], dass unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Wachstums zwar ebenfalls eine Polarisierung der Einkommen stattfindet, aber die geringe Bewegungsmöglichkeit zwischen den Wohnungsteilmärkten die ›Übersetzung‹ der Einkommenspolarisierung in eine räumliche Polarisierung erschwert.« Aehnelt 2011, 78. Das bedeutet, dass ein angespannter Wohnungsmarkt die Projektion der Polarisierung auf den Sozialraum schwächt, da er die Wahlmöglichkeit einschränkt. 14 Farwick 2012, 386. 15 Vgl. auch die Segregationsindizes für verschiedene deutsche Städte zwischen den Jahren 2000 und 2008, welche die Aussage Farwicks empirisch anhand von der Verteilung von Sozialhilfeempfängern (2000–2004) sowie Beziehern staatlicher Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II (2005–2008) belegen, vgl. aaO., 387 f. 16 Häußermann/Siebel 2004, 146. 17 Bukow 2012, 541. 18 Ebd.
3. Begriffsbestimmung
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schreibt die Arbeitsgruppe der EKD, die sich mit dem Thema Stadt und Kirche19 befasst, angesichts urbaner Segregation: Die mit der insgesamt zunehmenden Heterogenisierung und Polarisierung der Städte verbundene Segregation gehört nach Einschätzung vieler Fachleute zu den größten Herausforderungen gegenwärtiger Stadtentwicklung. Die verschiedenen Spaltungstendenzen addieren sich im ungünstigen Fall zu einer Herausbildung von Gewinnerund Verliererquartieren. Dabei entsteht in doppelter Hinsicht ein sich verstärkender Regelkreis: Wer es sich leisten kann, entzieht sich der Zumutung von Stadtgebieten durch Wegzug in besser gestellte Quartiere. Die erst einmal stigmatisierten Stadtteile müssen um ihr Image kämpfen. Zur realen Verbesserung ihrer Situation ist ein erheblicher Aufwand in finanzieller, infrastruktureller und kultureller Hinsicht nötig, der einen langen Atem braucht und städtische Haushalte oftmals überfordert.20
Wenngleich über die Tatsache urbaner Entmischung weitgehend Konsens besteht, so betonen die Forscher dennoch übereinstimmend, dass aufgrund der Komplexität21 des Forschungsgegenstands die Erhebung von Daten keineswegs einfach und damit ein empirischer Nachweis des Phänomens mit Unschärfen und Ambivalenzen behaftet ist und die Ergebnisse eher spezifische als pauschale Gültigkeit besitzen.22
3. Begriffsbestimmung Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen in seiner Heimatstadt Hamburg definiert Prälat Stephan Reimers Segregation eigenwillig und pointiert: Entweder tendieren Ortsteile dazu, sich zu besseren Wohnlagen zu entwickeln, oder sie rutschen ab in Richtung auf einen neuen sozialen Brennpunkt mit hoher Arbeitslosigkeit, vielen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern und einem hohen Anteil von ausländischen Mitbürgern. Segregation nennen Soziologen diese Auseinander19 Ergebnis dieser Arbeit war der EKD-Text 93 Gott in der Stadt. Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt aus dem Jahr 2007, vgl. Kirchenamt 2007b. 20 AaO., 24. 21 Vgl. dazu Eckardt 2009, 7 ff. 22 Vgl. u. a. Farwick 2012, 405–409; Häußermann/Kronauer 2009, 168–171, Masson 2016, 28– 34, BBSR 2009, 405f und Aehnelt 2011, 64 f. Vgl. auch die Arbeit von Martin Lenz, der auf die Unterschiede zwischen Großstädten und mittleren Großstädten sowie Mittelstädten hinweist und am Beispiel Karlsruhe diese Forschungslücke zu schließen versucht, vgl. Lenz 2007, zu den Ausführungen besonders 3 ff.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
entwicklung der Städte. In dem Fremdwort steckt die lateinische Vokabel grex, die Herde. Auf Deutsch also: Menschen desselben sozialen Standes oder der gleichen Herkunft scharen sich wie eine Herde zusammen.23
Der Begriff Segregation wird seit Beginn der stadtsoziologischen Forschung der Chicago School (Anfang 20. Jahrhundert) für die Beschreibung der ungleichen Verteilung urbaner Bevölkerung verwendet.24 Eine knappe Definition für Segregation von Häußermann/Siebel lautet: »Mit Segregation wird die Konzentration bestimmter sozialer Gruppen auf bestimmte Teilräume einer Stadt oder einer Stadtregion gemessen.«25 Etwas ausführlicher beschreibt Bernhard Schäfers: »Mit dem Begriff Segregation wird die sich räumlich widerspiegelnde soziale Differenzierung der Bevölkerung in der Siedlungsstruktur von Städten und Gemeinden zum Ausdruck gebracht. Segregation ist zugleich ein wichtiger Indikator der sozialen Ungleichheit bzw. der sozialen Differenzierung.«26 Dabei betont Schäfers, dass »der Begriff der Segregation mit den Formen der sozialen Ungleichheit eng verknüpft ist«27 und »die sozialräumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten ebenso zur Voraussetzung [hat] wie die Trennung der Stände und der nicht-ständischen Bevölkerungsgruppen in sich räum-
23 Reimers 2003, 156. 24 Vgl. Farwick, 381. Zu den beiden Varianten des Segregationsbegriffs, vgl. Dangschat 2014, 119–122: »Innerhalb der stadtsoziologischen Debatte bestehen zwei sehr unterschiedliche Formen der Ableitung, Definition, Begründung und Verwendung des Segregations-Begriffes: Der Segregationsbegriff des qualitativ orientierten Teils der Chicagoer Schule der späten 1920er und ersten 1930er Jahre […] und der Segregationsbegriff, der – aufbauend auf räumliche Verteilungsrnuster des eher quantitativ orientierten Teils der Chicagoer Schule […] – durch die Einführung von Segregationsindices in den späten 1940er und in den 1950er Jahren entstanden ist […] und bis in die 1990er Jahre hinein dominant gewesen ist. Mit beiden Ansätzen wird unter dem gleichen Begriff jedoch eine jeweils andere Zielsetzung verfolgt. Während Park in den 1920er Jahren der Frage nachgegangen ist, warum sich Menschen gleicher Herkunft in bestimmten Quartieren einer Stadt konzentrieren und wie die ›moral order‹ des Zusammenlebens beschaffen ist, wird mit den Segregationsindices die ungleiche Verteilung der Wohnstandorte sozialer Gruppen innerhalb einer Stadt-(agglomeration) gemessen, ohne jedoch soziale Beziehungen zu berücksichtigen. Methodisch steht dabei das Verstehen sozialräumlicher Bezüge einer mathematisch-statistischen Operation gegenüber, an die sich aufgrund ungleicher Verteilungen der Wohnstandorte weitreichende Annahmen über das menschliche Zusammenleben anschließen.« (AaO., 119). 25 Vgl Häußermann/Siebel, 140. 26 Schäfers 2010, 191. 27 AaO., 192. Dazu auch Lenz, der bei der Darstellung einer zunehmenden betriebswirtschaftlichen Optimierung von Städten zu dem Resultat kommt, »wie untrennbar Segregation und soziale Ungleichheit miteinander verknüpft sind.«, Lenz 2007, 35.
3. Begriffsbestimmung
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lich separierende (segregierende) Wohnbereiche.«28 Die Definition von Julia Marth und Kurt Salentin betont ebenso die Verbindung von Segregation und Ungleichheit sowie die Fokussierung des Begriffs im deutschsprachigen Diskurs auf das Thema Wohnen (im Gegensatz zur angelsächsischen Forschung, die den Begriff auch unabhängig vom sozialen Raum als direktes Maß von sozialer Ungleichheit gebraucht): Segregation (engl. segregation) bezeichnet den Grad der Trennung sozialer Gruppen. Im deutschen Sprachgebrauch bezieht sich der Begriff meist auf die disproportionale wohnräumliche Verteilung sozialer Kategorien über geographische Einheiten, etwa Stadtviertel (residentielle Segregation). Die Soziologie interessiert daran der Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit.29
Die letzten beiden Beschreibungen des Phänomens lenken den Blick bereits auf die möglichen sozialen Probleme, die damit zusammenhängen bzw. daraus erwachsen können. Ähnliches schreibt Jürgen Friedrichs, wenn er Segregation als »disproportionale Verteilung von Bevölkerungsgruppen über die städtischen Teilgebiete«30 definiert und dabei zu dem Schluss kommt, dass »Segregation […] ein Ergebnis sozialer Ungleichheit [ist], d. h. ungleicher Chancen und Präferenzen einzelner Bevölkerungsgruppen.«31 Bei dieser Beschreibung zeigt sich die weiter unten detaillierter ausgeführte Ambivalenz von Entmischungsprozessen, da der Einfluss der einzelnen Betroffenen auf ihre persönliche Lage unterschiedlich groß ist. Die stadtsoziologische Forschung32 zum Thema Entmischung beschreibt Martin Lenz so: »Die Segregationsforschung widmet sich der Frage nach den räumlichen Folgen sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft.«33 Da die beschriebenen und untersuchten Folgen sich primär in Städten zeigen, stelle eine Erforschung des Themas unter stadtsoziologischen Vorzeichen den
28 Schäfers 2010, 191. Deshalb sei dieser Zugang auch für eine Analyse mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Städte nicht geeignet, vgl. ebd. 29 Marth/Salentin 2014, 420. 30 Friedrichs 1995, 79. 31 Ebd. Friedrichs unterscheidet zudem noch zwischen Segregation auf der Ebene des Gebiets als Ungleichverteilung, Konzentration auf der Ebene des Teilgebiets als Beschreibung des Anteils einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in einem Gebiet an der Gesamtbevölkerung dieses Gebiets und räumliche Distanz auf der Ebene des Individuums zur Beschreibung der faktischen räumlichen Distanz zwischen den Bewohnern eines Teilgebiets, vgl. Lenz 2007, 25 f. 32 Zur Kritik an der Erforschung von Segregation und Ungleichheit vgl. Dangschat 2014, 128 f. 33 Lenz 2007, 24.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
angemessenen Zugang dar.34 Dabei gehe es darum, sowohl die Ursachen als auch die Folgen sozialräumlicher Segregation zu untersuchen. Aufgrund der Tatsache, dass in Städten die gesamtgesellschaftlichen soziodemographischen Entwicklungen in verdichteter Form ablesbar sind35, bedeutet dies auch, dass bei einer derzeit zu beobachtenden wachsenden Polarisierung der Gesellschaft auch von einer weiter zunehmenden Polarisierung der Stadt ausgegangen werden muss.36 Jürgen Friedrichs und Sascha Triemer unterscheiden zwischen den Begriffen Segregation und Polarisierung: Segregation beschreiben sie im Anschluss an Friedrichs (1995 und 1983) als die »disproportionale Verteilung sozialer Gruppen über die Stadtteile«37. Segregation ist dabei eine Momentaufnahme, deren Validität stets neu geprüft werden muss. Polarisierung hingegen ist ein »Prozess, der sich darauf bezieht, wie sich die Einkommensverteilung oder das Ausmaß der räumlichen Verteilung von Bevölkerungsgruppen in einem Zeitraum verändert.«38 Sie fahren fort: »Genauer wird damit jener Prozess bezeichnet, der von einer Normalverteilung zu einer bimodalen Verteilung führt.«39 Naturgemäß kann man dieses Phänomen nur über einen längeren Zeitraum beobachten und beschreiben.40 Aufgrund von Segregation »erscheinen große Städte […] als Mosaik aus städtischen Dörfern, die sich berühren, aber nicht durchdringen – […] sie sind benachbart und zugleich getrennt.«41
34 Vgl. dazu den Verweis auf Friedrichs, der aufgrund des hohen Grads an Verstädterung und Urbanisierung der deutschen Gesellschaft Stadtanalyse und Gesellschaftsanalyse praktisch gleichsetzt, vgl. ebd. 35 Vgl. u. a. Häußermann/Siebel 2004, 89–102. Siehe auch § 3 Abs. 4.2 und 4.3. 36 Vgl. u. a. Gornig/Goebel 2013, 57 ff. Reinhard Aehnelt fasst die Untersuchungen zu Trends und Ausmaß von Polarisierung in deutschen Städten so zusammen: »Insgesamt lässt sich also eine Tendenz zur verschärften relativen Einkommenspolarisierung für Deutschland konstatieren.« Aehnelt 2011, 66–69. Siehe besonders die Beispiele aus Berlin und Dresden, vgl. aaO., 74–78. 37 Friedrichs/Triemer 2009, 16. 38 AaO., 18 f. 39 Ebd. 40 Dies tun die beiden Autoren Friedrichs/Triemer, indem sie 15 deutsche Großstädte in dem Zeitraum zwischen 1990 und 2005 untersucht haben, vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 7 und 21– 27. Vgl. dazu die Ausführungen Edmond Préteceilles über die Unterschiede zwischen amerikanischen und deutschen Städten hinsichtlich der Segregation, vgl. Préteceille 2013. 41 Herrmann 2016, 174. Dabei kann die segregierte sozialräumliche Struktur (unabhängig davon, ob sie durch Wahl freiwillig entstanden ist oder durch Diskriminierung erzwungen wurde), »selbstverstärkende Effekte auslösen, die soziale Ungleichheit vertiefen und so zur Verschärfung sozialer Konflikte beitragen.« Häußermann/Siebel 2004, 100.
4. Formen von Segregation
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4. Formen von Segregation Dem Begriff bzw. der Beschreibung von Segregation liegt die Annahme zugrunde, dass der Funktionsraum42 Stadt nicht homogen ist, sondern stark ausdifferenziert. Die Nutzungen in einer Stadt sind nicht an allen Orten gleich und unterscheiden sich stark je nach Lage (Zentrum43 oder Stadtrand) und Beschaffenheit (Bodenpreise, Verkehrsanbindung etc.). So finden sich Büros tendenziell eher zentral, Industriestandorte eher am Rand. Dies nennt man funktionale44 Segregation. Je nach Funktion ist eine Stadt aufgeteilt und geordnet. Dies kann »von unten« geschehen: aufgrund wirtschaftlicher Umstände durch Nachfrage und Angebot bzw. durch die jeweiligen Entscheidungen einzelner Unternehmen oder aber bedingt durch die Attraktivität bestimmter Gebiete für Geschäfte oder Wohnungen. Dies kann aber auch »von oben« geschehen: durch sozialstaatliche Maßnahmen und gezielte stadtplanerische Gestaltung von Vierteln und Städten durch die öffentliche Hand. Dies war meist bei den im Zuge der Industrialisierung entstandenen Städten der Fall, wo durch stadtplanerische Eingriffe und Reglements sowie durch Sozialreformen (Ende des 19. Jahrhunderts) und durch Ermöglichung von Bildung für die Arbeiterklassen (bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) das Ausmaß der Armut in den Städten deutlich verringert wurde, was zu einem Rückgang der Segregation führte (besonders durch den sozialen Wohnungsbau nach dem Ersten Weltkrieg). Selbiges geschah nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge des raschen wirtschaftlichen Aufschwungs in der Bundesrepublik.45
42 Vgl. zum Begriff Häußermann/Siebel 2004, 139. 43 Zur Bestimmung von Zentrum und Peripherie in nicht primär geographischer Hinsicht schreiben Keller et al. im Anschluss an Manfred Kühn und Sabine Weck (Kühn/Weck 2013): »Die neuere Debatte über räumliche Ungleichheiten im Zusammenwirken von Wirtschaft und Staat wird von einem interessanten Modell von Kühn und Weck (2013) zur Peripherisierung (und Zentrenbildung) angeregt. ›Periphere‹ Regionen in diesem Sinne müssen keineswegs räumlich am Rande liegen. Sie entwickeln sich ›abhängig‹, ökonomisch enthalten sie vorwiegend Zweigbetriebe, politisch nur nachrangige Institutionen und werden insofern von außerhalb kontrolliert; und sie sind ›abgekoppelt‹ von der Entwicklung innovativer und wissensintensiver Ökonomien, ihre Infrastruktur und Verkehrsverbindungen sind ausgedünnt, sie liegen insofern am Rande ökonomischer politischer Machtpotentiale. Für Zentren gilt das jeweilige Gegenteil. Im Ehrgeiz, auch Verhalten der Bevölkerung einzubeziehen, wurde die Wirkung negativer regional-lokaler Images einbezogen, aber wenig plausibel gemacht.« (Keller et al. 2014, 10). Vgl. auch Kühn 2016, besonders 75 ff. 44 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 139. 45 Vgl. dazu u. a. Blasius 2011, 147ff und Farwick 2012, 382 f.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
Was für den Funktionsraum Stadt gilt, gilt ebenso auch für den Sozialraum46 Stadt. Hier bildet die Stadt keine homogene Einheit, sondern erscheint höchst ausdifferenziert. Diese Ausdifferenzierung ist das Ergebnis eines komplexen Prozesses mit zahlreichen Faktoren. Dazu zählen neben Marktprozessen, persönlichen Präferenzen und Schicksalen, auch historische Entwicklungen, Machtstrukturen sowie makro- und mikrosoziale Entwicklungen in urbanen Räumen sowie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen47. Menschen suchen oder erhalten den jeweiligen Wohn- und Lebensraum, den sie sich leisten können (wollen) oder der zu ihnen passt. Insofern ist der Ort, an dem Menschen wohnen, z. T. selbst gewählt, aber eben nicht nur: In vielen Fällen – und dies trifft meist bei sozialer Segregation als Marginalisierung48 zu – bekommen Menschen ihren Wohn- und Lebensort (durch ökonomische Zwänge49 oder staatliche Anweisung50) zugewiesen und haben wenig bis keinen Einfluss darauf. Die Folge: »Die verschiedenen Schichten und Gruppen der Stadtbevölkerung sind nicht gleichmäßig auf die Wohngebiete der Stadt verstreut. Man bezeichnet diese Struktur als ›residentielle‹ oder ›soziale‹ Segregation. [Dabei gilt residentielle51 Segregation als »die Projektion sozialer Unterschiede52 auf den Raum«53 und »ist der wohl schwerwiegendste Ausdruck städtischer Desintegration und stellt die Verräumlichung sozialer Ungleichheit dar.«54]. Es gibt wohlhabende und arme Wohngebiete, Arbeiterviertel und solche, in denen sich Zuwanderer 46 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 139. 47 »Stadtforschung muss folgerichtig immer eingebunden sein in die Analyse gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen.« (Kronauer/Siebel 2013b, 10). 48 Da die soziale Entmischung als Ballung von Menschen unterer sozialer Schichten i. d. R. mit einer Marginalisierung dieser Gruppe(n) einhergeht, wird im Folgenden für diese spezifische Form der Entmischung der Begriff Marginalisierung verwendet. Alternative Begriffe sind Residualisierung vgl. Aehnelt et al. in BBSR 2009, 408 und Ausgrenzung bzw. Ausschließung (vgl. Güntner/Walther 2013, 295). Zum Begriff der Marginalität vgl. Vaskovics 2014: »Marginalität (engl. marginality) wurde von R. E. Park (1928) zur Bezeichnung der Lebenslage von Individuen eingeführt, die eine Position am Rande einer sozialen Klasse oder Gesellschaft innehaben. Marginalität resultiert nach dieser Konzeption aus strukturellen Benachteiligungen, d. h. sie ist in der Regel nicht selbst verschuldet, sondern wird durch gesellschaftliche Ungleichheiten ausgelöst.« (AaO., 280 – Hervorhebung im Original). 49 Ausführlicher s. u. § 7 Abs. 2.2. 50 »Restriktive Vorschriften beim Bezug von Transfereinkommen (SGB II) drohen die Konzentration von Dauerarbeitslosen in unterprivilegierten Wohnquartieren zu erhöhen.« (BBSR 2009, 413). 51 Marcel Helbig und Stefanie Jähnen unterscheiden drei Dimensionen residentieller Segregation: soziale, ethnische und demographische Segregation, vgl. Helbig/Jähnen 2018, I. 52 Das bedeutet, dass bei steigender Armut und Polarisierung der Gesellschaft auch von einer steigenden Segregation in den Städten ausgegangen werden muss, vgl. Friedrichs 2011, 50 ff. 53 Häußermann/Siebel 2004, 140. 54 Müller 2012, 438.
4. Formen von Segregation
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konzentrieren.«55 Andreas Farwick56 trennt dabei Prozesse dynamischer Segregation (»Prozesse der räumlichen Differenzierung, Sortierung und Separierung«57) von solchen, die als statisch zu beschreiben (»Muster einer disparitären Verteilung von Bevölkerungsgruppen im Raum«58) sind. Bei der Erforschung und Darstellung von Segregation handelt es sich zumeist um residentielle Segregation, also jene Form von Entmischung, die sich primär auf das Wohnen bezieht und hinsichtlich dieser sind es laut Farwick besonders die drei speziellen Formen sozialer 59, ethnischer 60 und demographischer 61 Segregation, die von Interesse sind.62 Mit dem Begriff der ethnischen Segregation ist die »räumliche Ungleichverteilung verschiedener ethnischer Gruppen«63 beschrieben. Aufgrund des insgesamt höheren Anteils an Migranten an der Bevölkerung ist dieses Phänomen stärker ein west- denn ein ostdeutsches64 und eher eines, das in größeren Städten und Großstädten65 auftritt (»Städte
55 Häußermann/Siebel 2004, 139. 56 Vgl. dazu Farwick 2012. 57 AaO., 381. 58 Ebd. 59 Zu der Zuordnung des entsprechenden Kapitals vgl. Strohmeier 2008, 489. 60 Vgl. u. a. Häußermann/Siebel 2004, 173–195; Schäfers 2010, 179–199; Friedrichs/Triemer 2009, 71–108; Bukow 2011; Farwick 2012, 396–409. Zum aktuellen Stand der Forschung vgl. Helbig/Jähnen 2018, 11–14. Weiterführend vgl. auch Heckmann 1998; Ceylan 2006; Farwick 2009 und Schnur et al. 2013. 61 Zum aktuellen Stand der Forschung vgl. Helbig/Jähnen 2018, 14 f. Vgl. auch BBSR 2011a, 8 ff. Vgl. weiterführend auch Reuband 2008; Rademacher 2013 und Schubert 2015, 151 f. Klaus Peter Strohmeier verbindet die Formen von Segregation und entdeckt gerade in der Kombination die Herausforderung: »Problematisch heute ist das Zusammentreffen ethnischer, demografischer und sozialer Segregation: wo die meisten Zuwanderer leben, leben die meisten Kinder, und dort ist die Armut am größten.« (Hervorhebung im Original). Aus der Präsentation eines Vortrags von Strohmeier aus dem Jahr 2006. Zu finden unter http://www.fes.de/aktuell/ focus_interkulturelles/focus_2/documents/L11_20060318_strohmeier.pdf (aufgerufen am 09.10.2017). Michael Sievernich spricht von »Seniorisierung« der Städte, Sievernich 2013, 210. 62 »Kleinräumige Differenzierungen der Wohnbevölkerung hinsichtlich ihres ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals […] – die Stadtforschung spricht von Segregation und unterscheidet soziale (ökonomisches Kapital), demographische (soziales Kapital) und ethnische Segregation (in erster Linie kulturelles Kapital) – sind nichts Neues. Menschen in ähnlicher sozialer Lage und in ähnlichen Familienformen sowie mit ähnlichen Lebensstilen leben in der Stadt in der Regel in möglichst großer Nähe zu ihresgleichen. Tatsächlich ist Segregation städtisch, und es hat sie (freilich aus unterschiedlichen Gründen) immer gegeben.« (Strohmeier 2008, 489). 63 Farwick 2012, 382. 64 Vgl. Destatis/WZB 2016, 223 f. 65 »Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund nimmt vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung und einer höheren Geburtenrate langsam zu. In sechs deutschen Großstädten liegt der Anteil der bis zu Fünfjährigen bereits bei über 60 Prozent.« Kirchenamt 2009, 12. »Im Jahr 2014 hatte in Deutschland jedes dritte der 715 000 Neugeborenen Eltern(teile)
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
waren und sind Ziele von Migrationsbewegungen, die Stadtgesellschaft wird internationaler.«66) – wobei man bei einer entsprechend kleinräumlichen Untersuchungsmethode Prozesse ethnischer Entmischung auch in kleineren Gemeinden und Kommunen aufzeigen kann.67 Besonders im Blick auf Ostdeutschland spielt ethnische Segregation – gegenüber sozialer – eine untergeordnete Rolle.68 Eine Bündelung aktueller Forschung bieten Marcel Helbig und Stefanie Jähnen: Im Gegensatz zur sozialen Segregation hat die räumlich ungleiche Verteilung von Ausländern in den deutschen Städten abgenommen. War die Segregation der Armen lange Zeit geringer als die von Personen ohne deutschen Pass, so ist es mittlerweile umgekehrt. Die vorliegende Untersuchung endet aus verschiedenen Gründen 2014. Inwieweit die Flüchtlingskrise seit 2015 die ethnische Segregation beeinflusst, müssen zukünftige Studien klären.69
Demographische Segregation beschreibt hingegen die Entmischung hinsichtlich des Lebensalters von Menschen. Dabei komme laut Farwick »der sozialen und ethnischen Dimension von residentieller Segregation«70 eine »besondere[…] gesellschaftspolitische[…] Relevanz«71 zu. Die demographische Dimension mit ausländischen Wurzeln.« Destatis/WZB 2016, 218. »Im Jahr 2014 war der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund am höchsten in den Stadtstaaten Bremen (29 %), Hamburg (28 %) und Berlin (26 %) sowie in den Flächenländern Hessen (28 %), Baden-Württemberg (27 %) und Nordrhein-Westfalen (25 %).« (Destatis/WZB 2016, 223). 66 BBSR 2016, 4. 67 Unter dem Titel Die Städte werden bunter hat das BBSR im August 2016 aktuelle Zahlen zur Migration in deutschen Städten veröffentlicht und resümiert: »In den 41 Großstädten, für die vollständige Informationen in Zeitreihe seit 2009 vorliegen, lebten am 31. Dezember 2009 17,27 Mio. Einwohner. Am Jahresende 2014 lag die Zahl bei 18,08 Mio., was einem Anstieg von 4,7 % gegenüber dem Ausgangsjahr 2009 entspricht. Während die Zahl der Deutschen um rund 300.000 Einwohner anstieg, wuchs die ausländische Bevölkerung um eine halbe Million. Bei der Zunahme der deutschen Bevölkerung bleibt zu beachten, dass sich die Zahl der Deutschen mit doppelter Staatsbürgerschaft durch Einbürgerungen um etwa 260.000 erhöht hat.« (Ebd). 68 »Eine dritte Haupteigenschaft nordamerikanischer Städte, die in Europa weniger ausgeprägt ist, stellt die räumliche Trennung der ethnischen Gruppen dar.« (Neumann 2005, 18). 69 Helbig/Jähnen 2018, I. Hervorhebung im Original. »Wir konnten zeigen, dass die ethnische Segregation in der Mehrheit der deutschen Städte abnimmt. Im Durchschnitt ist die ethnische Segregation in den 51 IRB-Städten (vgl. dazu BBSR 2011b, 2) von 2002 bis 2014 um knapp 7 Prozent gesunken. Damit setzt sich ein Trend fort, den andere Forscher bereits für die 1990er Jahre in Westdeutschland festgestellt haben. Seit 2007 ist die ethnische Segregation im Durchschnitt geringer als die soziale Segregation.« (AaO., 113). Damit bestätigen sie die Ergebnisse von Friedrichs/Triemer, vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 71–108 und 109–117. 70 Farwick 2012, 382. 71 Ebd.
4. Formen von Segregation
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gewinne zwar – v. a. aufgrund des sog. demographischen Wandels – zunehmend an Bedeutung, jedoch sei die Reichweite und Auswirkung des Phänomens noch nicht in dem Maße von Bedeutung, wie dies bei den übrigen beiden Formen der Fall ist.72 Dazu Helbig/Jähnen: Weitgehend unbemerkt von der bisherigen Forschung kommt es in den deutschen Städten zu einer zunehmenden Segregation nach Altersgruppen. Genauer gesagt ballen sich sowohl die 15- bis 29-Jährigen als auch die ab 65-Jährigen immer stärker in bestimmten Stadtteilen. Die Indexwerte für die demografische Segregation sind zwar weit entfernt vom Niveau der sozialen und ethnischen Segregation. Allerdings ist nicht absehbar, dass sich die Entwicklung bei den genannten Altersgruppen abschwächt.73
Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf das Thema soziale Segregation als Marginalisierung und Gentrifizierung. Dies hat folgende Gründe: • Das Thema hat universal-urbane und gesamtdeutsche Relevanz, d. h. es findet sich in nahezu allen Städten Deutschlands, relativ unabhängig von deren Größe und Lage. • Das Thema befasst sich mit einer vielgestaltigen Form von Segregation, für die sowohl ökonomische (Wohlstand und Armut) als auch soziale (familiale Beziehungen und soziale Netzwerke) sowie kulturelle (Milieus) Faktoren von Bedeutung sind. • Die Beschränkung auf eine Form urbaner Segregation geschieht zudem aus forschungspragmatischen Gründen, da die Komplexität des Themas – als Beschreibung des Kontexts für Gemeindeentwicklung – eine Beschränkung notwendig macht.
72 Vgl. Farwick 2012, 382. Vgl. zum Thema auch Baum 2012, 585–589. Zudem ist – nach bisherigen Erkenntnissen – demographische Entmischung eher eine ländliche (oder suburbane) Erscheinung: »Aufgrund steigender Lebenserwartung sind die Älteren oft diejenigen, die zunehmend das Gesicht der ländlichen Regionen prägen. Denn sie bleiben, wollen und können ihre liebgewordene Heimat nicht einfach verlassen. Sie geben den politischen Ton an, sie engagieren sich und setzen sich ein.« (Alex/Schlegel 2014, 20). 73 Helbig/Jähnen 2018, I. Hervorhebung im Original.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
5. Orte, Ursachen und Bedingungen für Segregation Im Anschluss an Jürgen Friedrichs74 unterscheidet Farwick Gebiet (Segregation im engeren Sinne als die sozialräumliche Trennung und Konzentration bestimmter Bevölkerungsgruppen in einem Gebiet), Teilgebiet (die Konzen tration einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in einem Teilgebiet) und Individuum (die räumliche Distanz zwischen verschiedenen Personen in einem Teilgebiet) als die drei Ebenen zur Beschreibung von Segregation. Dabei ist die Ebene des Teilgebiets sehr wichtig, da die hier vorkommende Konzentration bestimmter Gruppen Aufschluss über das Ausmaß der Segregation der gesamten Stadt gibt.75 Schäfers unterstreicht, dass der Begriff der Segregation differenziert betrachtet und gebraucht werden muss, um für stadtsoziologische Forschung fruchtbar gebraucht werden zu können. Diese Differenzierung geschah im deutschsprachigen Raum Ende der 1960er Jahre und wurde u. a. durch den Segregationsindex’76 Richard Gissers (Wien 1974) geleistet.77 Auf diesen verweisend, stellt Schäfers fest, dass den »höchsten Index der Segregation […] die armen78 und die reichen79 Bevölkerungsschichten [hatten (und haben)].«80 Dies ergibt ein U-förmiges Verteilungsmuster, welches in Abb. 1 beispielhaft dargestellt ist.81
74 Vgl. Friedrichs 1977. 75 Vgl. Farwick 2012, 381 f. Zur Rolle der Größe der Raumeinheit vgl. auch ders. 2001, 125–129. 76 Zu den Indizes von Otis D. und Beverly Duncan und den Chancen sowie Grenzen solcher Indizes vgl. Masson 2016, 24 f. Zur Berechnung eines Segregationsindizes vgl. Häußermann/ Siebel 2004, 140–143. Helbig/Jähnen weisen darauf hin, »dass höhere soziale Gruppen in der Regel segregierter leben als die unteren.« (Helbig/Jähnen 2018, 6). 77 Zur Kritik an Segregationsindizes vgl. Dangschat 2014, 122–124. 78 »Die relativ stark segregierten Quartiere der unteren Klassen sind kulturell bzw. herkunftsmäßig heterogen.« (Neef 2011, 260). 79 »Oberklassen leben räumlich stark segregiert.« (AaO., 251 – Hervorhebung im Original). 80 Schäfers 2010, 192. Über die Messung wohnortsbezogener Segregation schreiben Marth/ Salentin: »In der Forschung zu residentieller Segregation werden fünf Dimensionen unterschieden: Gleichverteilung über geographische Einheiten; Wahrscheinlichkeit des Kontakts zwischen Gruppen; Konzentration auf kleinen Teilflächen; Zentralität, d. h. Ballung in bestimmten zentralen oder peripheren Lagen; sowie Grad der Clusterbildung der Wohngebiete. Gängige Messinstrumente zur Beschreibung der Gleichverteilung (Dissimilaritätsindex, Gini- Koeffizient) wurden für Untersuchungen zur Geschlechter- bzw. beruflichen Segregation adaptiert.« (Marth/Salentin 2014, 421). 81 Farwick verweist darauf, dass die Werte eines Segregationsindizes unbedingt differenziert und unter Berücksichtigung der jeweils zugrundeliegenden Stadtregion(en) betrachtet und ausgewertet werden müssen, da die Ergebnisse abhängig von der Größe (Zur Problematisierung
5. Orte, Ursachen und Bedingungen für Segregation
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Für die Ursachenforschung gilt generell, dass es kein einheitliches und monokausales Modell zur Erklärung von Segregation gibt. Stattdessen werden verschiedene Ansätze und Modelle gebündelt und zu einem breiteren Ansatz verdichtet.82 Da bei sozialer Segregation aber zumeist das Wohnumfeld im Fokus steht, kann als gemeinsamer Nenner der Wohnungsmarkt geltend gemacht werden und als der »entscheidende Mechanismus der räumlichen Verteilung der Bevölkerung«83 beschrieben werden. Das Autorenteam um Reinhard Aehnelt hat folgende Faktoren herausgearbeitet, die Segregationsprozesse beeinflussen: • • • • • •
ökonomische Entwicklung (Einkommen und Kaufkraft), Wohnungspolitik (Verfügbarkeit preiswerter Wohnungen), Entwicklung der Bildungsabschlüsse, Entwicklung der kulturellen Unterschiede (Lebensstile und Migration) sowie der demographischen Strukturen (Haushaltsgröße, Lebensformen) und der Wohnstandortpräferenzen (Milieubildung).84
der Maßstabsebene, vgl. Farwick 2012, 395) der untersuchten Raumeinheit (vgl. dazu auch Friedrichs 2011, 58–60) sind und somit von Stadt zu Stadt höchst unterschiedlich sein können, was eine direkte Vergleichbarkeit von Städten erschwert, vgl. Farwick 2012, 384 ff. 82 Vgl. Masson 2016, 26–28. Zum Stand der Forschung zu Determinanten sozialer Segregation vgl. Helbig/Jähnen 2018, 60–73. 83 Farwick 2012, 383. 84 BBSR 2009, 408. »Die soziale Segregation in Städten lässt sich anhand der räumlichen Ungleichverteilung der Merkmale Einkommen, Bildung und Beruf operationalisieren.« (Helbig/Jähnen 2018, 21). Helbig/Jähnen arbeiten mit einem erweiterten methodischen Vorgehen: »Zunächst haben wir ein theoretisches Modell entworfen, das über die übliche Synthese von angebotsund nachfrageorientierten Ansätzen hinausgeht, indem es die Rolle von Makro-Faktoren berücksichtigt. In der Literatur wird zumeist davon ausgegangen, die ungleiche Verteilung von Wohnstandorten resultiere aus dem Zusammenspiel eines differenzierten Wohnungsangebots mit den unterschiedlichen Präferenzen und Ressourcen von Haushalten sowie dem Modus, wie den Haushalten Wohnungen zugeteilt werden. Da die Akteure des Wohnungsmarktes aber nicht im luftleeren Raum agieren, haben wir den integrierten Ansatz um eine lokale bzw. regionale sowie eine nationalen bzw. globale Makro-Ebene erweitert. Auf Ebene der Städte und der sie umgebenden Regionen ist neben ökonomischen, politischen, sozialen und demografischen Kontextfaktoren auch die Morphologie mitverantwortlich für Ausmaß und Entwicklung der residenziellen Segregation. Gemeint sind damit physische Pfadabhängigkeiten im städtischen Raum. In multivariaten Analysen haben wir mithilfe von Zeitreihenregressionen geprüft, welche Kontextfaktoren auf Stadtebene die unterschiedlichen Dynamiken der sozialen Segregation in den deutschen Städten erklären können. […] Im Anschluss haben wir zwei politische Faktoren auf ihren Zusammenhang mit der Ausprägung sozialer Segregation hin analysiert: den Anteil von Sozialwohnungen und den Anteil privater Grundschulen.« (AaO., 114f – Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch aaO., 21ff und 60–73.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen Grad der Segregation hoch
mittel
›gemischte‹ Viertel
niedrig arme
Stadtviertel
Stadtviertel
reiche
Abb. 1: Grad der Segregation nach Schichtzugehörigkeit Quelle: Häußermann/Siebel 2004, 149
Bei der Frage nach den Ursachen der sozialen Segregation unterscheiden Häußermann/Siebel zwischen der Angebots- und der Nachfrageseite des Wohnungsmarktes.85 Die beiden leitenden Fragen lauten: 1. »Wie kommt eine räumlich ungleiche Verteilung qualitativ differenzierter Wohnungsbestände zustande?«86 und 2. »Wie kommt es zur Verteilung von Individuen auf die unterschiedlichen Segmente des Wohnungsangebots?«87 Zur Beschreibung der Ursachen unterscheiden sie zwischen vier Ebenen, die konzentrisch angeordnet sind – mit der vierten Ebene in der Mitte: 1. Makro-Ebene (Ökonomie, demographische Entwicklung) 2. Meso-Ebene (Staat [Wohnungspolitik]) 3. Mikro-Ebene (Stadtplanung, Bebauungspläne, Vermieterpraxis: Bevorzugung und Diskriminierung) 4. Individualebene (Ressourcen und Präferenzen: Informationszugang, finanzielle Ressourcen88, soziale
85 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 153–159. Helbig/Jähnen identifizieren thesenhaft fünf »Faktoren mit Wirkung auf die Angebotsseite des Wohnungsmarktes« und fünf »Faktoren mit Wirkung auf die Nachfrageseite des Wohnungsmarktes« vgl. aaO., 71–73. Zur Auswertung der thesenartigen Faktoren vgl. aaO., 94 ff. 86 Häußermann/Siebel 2004, 153. 87 Ebd. 88 Zur Spreizung der Einkommen urbaner Bevölkerung als Ausdruck von Polarisierung vgl. Gornig/Goebel 2013, 57 ff.
5. Orte, Ursachen und Bedingungen für Segregation
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Schicht, ethnische Zugehörigkeit, Lebensstil, Diskriminierung bei der Verteilung89).90 Ein Alternativmodell bietet Lenz91 bei der Untersuchung von benachteiligten Wohngegenden in der Stadt Karlsruhe. Daran wird deutlich: Wenngleich die absolute Zahl an Wohnungszuweisungen eher gering ist, sind Menschen mit sinkenden finanziellen Ressourcen dennoch steigenden Restriktionen ausgesetzt, weil sie über ihren Wohnungsstandort nur bedingt frei entscheiden können, da sie nur die Wohnung mieten können, die ihrem Budget entspricht. Das Handlungsfeld verringert sich nochmals, wenn der Wohnungsmarkt angespannt ist. Dabei spielen neben makroökonomischen (Kapitalverfügbarkeit, Einkommensentwicklung, Baukonjunktur) und makrosozialen (Bevölkerungsentwicklung, Migration) auch politische Entwicklungen (staatliche Förderung des Wohnungsbaus, Mietrecht) eine Rolle.92 Der nachhaltige Einfluss politischer Entscheidungen zeigte sich z. B. bei der Wohnungsbauförderung durch die Kommunen in den 1920er Jahren sowie in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, durch den breite Bevölkerungsschichten Zugang zu vergleichbarem Wohnraum bekamen. Ausgeschlossen von dieser Förderung waren im Prinzip nur wohlhabende Haushalte.93 Da die Faktoren, die soziale Segregation bedingen, auf teils grundlegenden strukturellen Veränderungen des Wohnungsbaus, der Demographie sowie der makro- und mikroökonomischen Entwicklungen einer Gesellschaft beruhen, vollziehen sich Veränderungen i. d. R. nur langsam.94 »Deshalb sind die sozialen Prägungen von Quartieren das Ergebnis von teilweise weit zurückliegenden Entscheidungen.«95 89 Farwick beschreibt für diesen Fall auch das Schema einer sog. self-fulfilling-prophecy: »So werden bestimmte Angebote aus Angst vor Ablehnung gar nicht erst nachgefragt.«, Farwick 2012, 384. 90 Die entsprechende Graphik vgl. Häußermann/Siebel 2004, 154. 91 Vgl. Lenz 2007, 45. 92 Vgl.Häußermann/Siebel 2004, 155. 93 Vg. ebd. 94 Vgl. aaO., 155–157. Helbig/Jähnen zeigen jedoch, dass sich soziale Segregation schneller entwickelt, wenn ein bestimmter Grenzwert überschritten ist: »Insgesamt deuten die Analyseergebnisse darauf hin, dass es ab einer sozialen Segregation von rund 27,5 und darüber zu einem dynamischeren Anstieg der sozialen Segregation kommt als unter diesem Wert. Dieser Befund ist sozial- und städtebaupolitisch brisant. Die politischen und ökonomischen Folgekosten, um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, sollten weit höher sein als in Städten, in denen die soziale Segregation dieses Niveau noch nicht überschritten hat.« (Helbig/Jähnen 2018, 91). 95 Häußermann/Siebel 2004, 155. Als Grundlagen »für die qualitativ und quantitativ ungleiche Verteilung des Wohnraumangebots über das Stadtgebiet« (aaO., 157) auf Seiten der Anbieter unterscheiden Häußermann/Siebel zwischen vier Differenzierungen: politisch, ökonomisch, symbolisch und sozial. Vgl. ebd.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
Faktoren für die Nachfrage von Wohnraum liegen im besonderen Maße bei privaten Haushalten, die in höherem oder geringerem Maße über die entsprechenden ökonomischen, kognitiven, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen.96 Dabei gilt grundsätzlich, dass »Haushalte mit hoher Ausstattung an den jeweiligen Kapitalsorten […] als erste den Wohnungsmarkt [betreten] und […] ihre Wahl [treffen] [und] diejenigen mit niedriger Kapitalausstattung […] dann das akzeptieren [müssen], was von den zuerst Gekommenen übrig gelassen wurde.«97 Neben den persönlichen Ressourcen spielt natürlich auch der persönliche Geschmack und die je eigene Präferenz eine Rolle.98 Grundlegend halten Häußermann/Siebel fest: »Der Wunsch nach sozialer Homogenität ist eine treibende Kraft für Segregationsprozesse«99 und dies gilt neben jenen Menschen, die über zahlreiche Ressourcen verfügen, ebenso für Menschen verschiedener ethnischer Gruppen als auch für Menschen mit geringeren Ressourcen. Insofern findet auch bei denen, die in den Kernstädten zurückblieben, ein Prozess der Entmischung statt, welcher zur Ballung bestimmter sozio-ethnischer Gruppen in diesen Gebieten führt. Dieser Prozess fußt zum Teil auf persönlichen Präferenzen aber auch auf Zuweisung und auf Sachzwängen sowie mangelnden Ressourcen. »Schwierig wird es aber überall da, wo in Städten aus der freiwilligen eine strukturelle Segregation wird, die mit einem sozialen und ökonomischen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft verbunden ist.«100 Das Wechselspiel von Ressourcen, Präferenzen und verfügbarem Wohnraum führt zu dem bereits oben erwähnten unterschiedlich hohem Maß freiwilliger Entmischung. Häußermann/Siebel gliedern diese so: Auf der einen Seite gibt es aktive (oder freiwillige) Segregation, wenn die Präferenzen ausschlaggebend und handlungsleitend sind.101 Friedrichs/Triemer nennen dies selektive Fortzüge und beschreiben damit den Umstand, dass sozial Bessergestellte bestimmte Quartiere verlassen (Shift-Effekt).102 Die Gegenbewegung bezeichnen Häußermann/Siebel mit passiver (oder erzwungener) Segregation, wenn sie sich aufgrund mangelnder Ressourcen und/oder sozialer Diskriminierung, und damit verbundener Restriktionen ereignet, Friedrichs/Triemer ihrerseits sprechen von selektiven Zuzügen solcher, die einen niedrigen sozialen Status haben und entweder durch wirtschaftliche Zwänge oder durch Zuweisung einer Sozial-
96 Vgl. aaO., 157 f. 97 AaO., 158. 98 Vgl. aaO., 158 f. 99 AaO., 159. 100 Kirchenamt 2007b, 23. 101 Vgl. Helbig/Jähnen 2018, 117. 102 Vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 15 f.
5. Orte, Ursachen und Bedingungen für Segregation
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wohnung in solche Viertel ziehen (ebenfalls Shift-Effekt).103 Bei den betroffenen Vierteln handelt es sich meist um innerstädtische (ehemalige) (Arbeiter-)Quartiere, die aufgrund der Nähe zu einer Hauptstraße oder einem Gewerbegebiet von Luftverschmutzung und Lärm betroffen sind oder es sind eher am Rand gelegene, meist durch architektonische Monotonie gekennzeichnete, Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus der 1960–1980er Jahre (z. B. Plattenbausiedlungen).104 Diese eher passive Form der Segregation führt zu sozialer Marginalisierung und einer zunehmenden Exklusion aus der Gesellschaft. »Die marginale soziale Lage kann sich durch das Wohnen in solchen segregierten Gebieten verfestigen und verschärfen, so dass aus benachteiligten Quartieren, benachteiligende Quartiere werden.«105 Der erzwungene Zuzug solcher, die sich keine Alternativen leisten können, ist nicht selten die Kehrseite dessen, was als Gentrifizierung von Quartieren bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass eine Wohngegend baulich (Abriss, Neubau, Sanierung) und infrastrukturell (umfassende Gebietserneuerung durch Ausbau des ÖPNV, Sanierung des Straßennetzes inklusive des Ausbaus von Fahrradwegen etc.) modernisiert und damit deutlich aufgewertet wird. Dies zieht neue Bewohner (primär »einkommensstarke und gut ausgebildete, kinderlose Single- bzw. Zwei-Personenhaushalte«106) an, die sich diese aufgewertete Form des Wohnens leisten können und wollen (»Umzugswunsch«107). Wiederum steigen im Zuge dessen die Mieten sowie die Lebenshaltungskosten, was dazu führt, dass diejenigen Einwohner, die bisher dort lebten, sich den neuen Wohnstandort nicht mehr leisten können und wegziehen müssen (»Umzugszwang«108). Somit entstehen an mindestens zwei Orten homogene Quartiere: dort, von wo die Menschen wegziehen müssen (man kann auch von Verdrängung109 sprechen) und dort, wo diese Menschen zukünftig leben (müssen).110 Die zwei Voraussetzungen für Segregation in einer Stadt sind sowohl räumliche als auch soziale Unterschiede. Sind beide vorhanden – und davon kann man in jeder Stadt ausgehen – dann kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Segregationserscheinungen. Diese sozialräumlichen Unterschiede lassen sich an verschiedenen Indikatoren ablesen: »Differenzen zwischen verschiedenen Gebieten beim Haushaltseinkommen, in der Altersstruktur, bei den Lebensstilen
103 Ebd. 104 Vgl. Farwick 2012, 386. 105 Häußermann/Siebel 2004, 159. 106 Farwick 2012, 385. 107 Dangschat/Hamedinger 2007, 175. 108 Ebd. 109 Vgl. u. a. aaO., 175 f. 110 Vgl. Masson 2016, 28 und Häußermann/Siebel 2004, 229.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
oder nach ethnischen Zugehörigkeiten. Sie können also [sozio]ökonomisch, demographisch oder kulturell begründet sein.«111 Neben den genannten Faktoren spielen auch zunehmend Lebensstile sowie Milieuzugehörigkeit bei Entmischungsphänomenen eine Rolle. Menschen wählen ihren Wohnort nach persönlichem Geschmack sowie nach individuellen Ansprüchen. Grundsätzlich gilt aber, dass Entmischung nicht per se schlecht ist und eine prinzipielle Durchmischung von Gebieten weder einen zwingend positiven Effekt hat, noch von allen gewünscht ist und zudem als Ideal nirgends jemals Wirklichkeit war: »Sicher ist, dass soziale Ungleichheit nicht durch eine sozialräumliche Mischung von Haushalten mit unterschiedlicher Lage beseitigt wird. […] Aber soziale Ungleichheit kann durch räumliche Segregation befestigt und sogar verschärft werden.«112 Folglich sollte stadtsoziologische Forschung sowohl die positiven Effekte einer sozialen Durchmischung als auch die negativen Auswirkungen sozialräumlicher Entmischung untersuchen und beide Aspekte in angemessener Weise berücksichtigen. Das Thema ist zu komplex, um es durch pauschale Aussagen zu erklären oder dessen Probleme mit einfachen Lösungen zu beheben.113
6. Folgen von Segregation114 Gerade weil Städte Orte höchster Verdichtung bei gleichzeitig hoher kultureller, sozialer, ästhetischer und ethnischer Vielfalt sind, bilden sich homogene Ballungsgebiete, um so die soziale Integration verschiedenster Gruppierung auf verhältnismäßig wenig Raum zu leisten und etwaige Konflikte und Spannungen abzufedern bzw. ihnen vorzubeugen. Dass dieser segregierende Vorgang in gewissem Maß notwendig ist, liegt auf der Hand.115 111 Häußermann/Siebel 2004, 143. 112 AaO.,146. 113 Vgl. Masson 2016, 38 ff. 114 Vgl. Helbig/Jähnen 2018, 118. 115 Jens Dangschat schreibt angesichts einer geforderten Mischung von Gebieten: »Da Segregations- und Konzentrationsanalysen überwiegend in den Stadtquartieren vorgenommen werden, die von einem hohen AusländerInnenanteil und/oder hoher Armut gekennzeichnet sind, werden diese Annahmen gegenüber Bevölkerungsgruppen getroffen, die einen eher niedrigen Bildungsstand, eine geringe sprachliche Kommunikationskompetenz in der Sprache des Aufnahmelandes und ein eher geringes Selbstbewusstsein haben und die soziale Abstiege und/oder Diskriminierungen erfahren haben. Gerade in diesen Kreisen funktioniert jedoch die Kontakthypothese aufgrund der Abgrenzung nach unten aufgrund der eigenen Abstiegserfahrungen kaum im Sinne integrationsfördernder Haltungen […]. Es wird meist übersehen, dass bei als zu groß empfundenen sozioökonomischen und soziokulturellen Unterschieden auch im direkten Zusammenleben die sozialen Abstände nicht überwunden werden, was dann eher zur
6. Folgen von Segregation
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Dies ist aber nur eine mögliche Perspektive auf das Phänomen Segregation, welche die negativen Effekte ausklammert. Diese sind jedoch enorm, denn »Stadtentwicklung muss […] immer auch als ein fortwährender Kampf um die Kontrolle über Räume analysiert werden.«116 Bei der Wahl bzw. Zuteilung von Wohn- und Lebensraum stellt sich die Frage, was als attraktiver und erstrebenswerter Wohnraum betrachtet wird und wie groß der Einfluss der jeweiligen Bewohner ist, sich ihren Lebensraum selbst zu wählen oder eben zugeteilt zu bekommen und sich somit gleichsam schicksalhaft in einem bestimmten Wohnraum wiederzufinden und von anderen Wohngegenden ausgeschlossen zu sein. Hinzu kommt, dass die verschiedenen Wohnquartiere einer Stadt eben auch in sozialer, kultureller und milieuorientierter Hinsicht definiert sind und dies »bleibt […] nicht ohne Folgen für die Bewohner, denn die so definierten Räume definieren dann auch die darin lebenden Menschen.«117 So kann aus einem benachteiligten Viertel ein benachteiligendes Viertel werden118, da es die dort lebenden Menschen in ihren Handlungsmöglichkeiten, ihrem Zugang zu Bildungs- und Sozialeinrichtungen sowie den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe einschränkt und somit nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihre Zukunft prägt und bestimmt. Als Folge von Segregation schließen sich manche urbane Viertel für Menschen bestimmter ethnischer, sozialer oder kultureller Milieus. Sie tun dies im doppelte Sinn, denn sie schließen diese Menschen aus oder ein. So ist ihnen einerseits der Zugang zu manchen Vierteln verschlossen und andererseits erleben sie sich als in ihrem Viertel schicksalhaft gefangen und eingeschlossen. Martin Kronauer und Walter Siebel weisen darauf hin, dass Phänomene sozialer Ungleichheit nicht erst durch Städte erzeugt, aber durch sie gefördert (durch sog. Kontexteffekte oder Nachbarschaftseffekte119) oder abgeschwächt Verschärfung von Konflikten führt (›überforderte Nachbarschaften‹). Die Einschätzung, dass eine geringe gemessene Segregation vorteilhaft für eine Gesellschaft sei, wie es noch immer in den Lehrbüchern […] zu finden ist, ist vor allem deshalb zu kritisieren, weil weder ein Nebeneinander in einer Nachbarschaft zu einem Miteinander führen muss, noch notwendigerweise eine höhere Konzentrationen als ›problematisch‹ angesehener Gruppen ein Signal für eine mangelnde oder gar fehlende Integration ist.« (Dangschat 2014, 122f). 116 Häußermann/Siebel 2004, 140. 117 Ebd. 118 Vgl. aaO., 159. 119 »Die These der Nachbarschaftseffekte besagt, dass die räumliche Konzentration von Armut und Arbeitslosigkeit die Benachteiligungen in der sozialen Lage noch verstärkt und dazu beiträgt, dass Ausgrenzungsrisiken von einer Dimension auf andere ›überspringen‹ (ein Beispiel: anhaltende Arbeitslosigkeit zwingt zum Umzug in ein Quartier mit noch erschwinglicheren Mieten und verengt die sozialen Kontakte auf Menschen in ähnlicher Lage, was es wiederum erschwert, aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, da Arbeitsstellen zumeist informell vermittelt werden).« (Kronauer/Siebel 2013b, 14). Über den Zusammenhang von Wohnort und
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
(v. a. durch sozialen Wohnungsbau120 und durch Quartiersmanagement und stadtplanerische Eingriffe121, oder die schlichte Tatsache der fragmentierten baulichen Beschaffenheit europäischer Städte122) werden können.123 Dabei kommt der Zusammensetzung der Bewohnerschaft eine besondere Bedeutung zu (siehe auch unten die Diskussion über sog. Kontexteffekte): »Sozialräume wirken gerade über die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung: Merkmale wie der Anteil der Migranten, Einkommen, Qualifikation, Transferleistungsbezug etc. wirken symbolbildend für den Sozialraum.«124 Wie stark ein Gebiet segregiert ist, hängt natürlich von der Größe der zu untersuchenden Raumeinheit ab: ist sie besonders groß, ist der Grad an Segregation gering, ist sie eher klein, steigt der Grad höchstwahrscheinlich. Dabei muss stets das Konzentrationsmaß beachtet werden, also der Anteil der zu untersuchenden Minderheit an der gesamtstädtischen Bevölkerung als Ergänzung zu dem jeweils zu untersuchenden Gebiet. Ob und in welchem Ausmaß Segregation vorliegt und ob dies positiv oder negativ zu bewerten bzw. ohne erkennbare Auswirkungen für die jeweiligen Menschen ist, kann keinesfalls pauschal beantwortet werden, sondern muss soziologisch (und theologisch?)125 untersucht, geprüft und bewertet werden.126 Dass eine Segregation nach sozio-ökonomischen Gesichtspunkten massive Probleme mit sich bringt, wurde jedoch schon vor der Industrialisierung, welche dieses Phänomen massiv befördert hat, wahrgenommen. Dies lag vor allem daran, dass »Gebiete der städtischen Unterschichten als Gefahrenherde für die öffentAbstiegsgefahren sowie Aufstiegschancen siehe der Artikel Räumliche Segregation und innerstädtisches Ghetto von Häußermann und Kronauer, vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 157– 173. Ausführlicher s. u. § 7 Abs 2.4. 120 Vgl. dazu Lenz 2007, 47 ff. 121 Zum (europäischen) Konzept einer sozialen Stadt und dessem Wandel vgl. Préteceille 2013, 28–40 und Güntner/Walther 2013. Vgl. dazu auch Walther 2010. Zum Ende der Förderung des sozialen Wohnungsbaus vgl. Kujath 2010, 430 f. 122 So sind die Quartiere europäischer Städte meist über einen längeren Zeitraum entstanden, was dazu führt, dass sie architektonisch weniger homogen sind als bspw. suburbane Gebiete. Somit sind Gebäude verschiedener Qualität und Funktion entstanden, die zu einer natürlichen Mischung dieser Gebiete beigetragen haben und beitragen, vgl. Préteceille 2013, 30. 123 Vgl. Kronauer/Siebel 2013b, 9 ff. 124 Jurczok/Lauterbach 2014, 141. 125 Vgl. dazu Ausführungen von Papst Franziskus (EG 73) über das Evangelium in der Stadtkultur: »Es entstehen fortwährend neue Kulturen in diesen riesigen menschlichen Geographien, wo der Christ gewöhnlich nicht mehr derjenige ist, der Sinn fördert oder stiftet, sondern derjenige, der von diesen Kulturen andere Sprachgebräuche, Symbole, Botschaften und Paradigmen empfängt, die neue Lebensorientierungen bieten, welche häufig im Gegensatz zum Evangelium Jesu stehen. Eine neue Kultur pulsiert in der Stadt und wird in ihr konzipiert.« (Franziskus 2013, 69). 126 Vgl. Jurczok/Lauterbach 2014, 143–146.
6. Folgen von Segregation
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liche Gesundheit und die politische Ordnung galten.«127 Besonders mangelnde hygienische Standards begünstigten den Ausbruch von Krankheiten. Zudem waren diese Quartiere Brutstätten für Gewalt und Kriminalität. Auch wenn die beschriebene hygienische Situation für die heutigen »prekären« Viertel nicht mehr so zutreffend ist, bleibt jedoch die Tatsache bestehen, dass in benachteiligten Gebieten heute wie damals gilt: »Zwischen Lebenschancen und Wohnstandort [besteht] ein enger Zusammenhang.«128 Dabei stellt besonders der bereits von Friedrich Engels beobachtete demoralisierende Einfluss auf sozial marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die in Gebieten wohnen, die von sozialräumlicher Segregation betroffen sind, ein enormes Problem dar, da auf diese Weise der Wohnort zu einem entscheidenden Faktor beim Eröffnen oder Verschließen von Chancen wird. »Damit wird die Existenz von Sozialisationseffekten der segregierten Quartiere behauptet, die die soziale Marginalisierung verfestigen.«129 Dies ist ein ungebrochen starkes Argument gegen sozialräumliche Segregation.130 Im aktuellen Diskurs werden die Probleme, die mit Segregation einhergehen, unterschiedlich bewertet und das Phänomen stellt sich insgesamt als ambivalent dar.131 Bei sozialer Entmischung als Marginalisierung sind die Pro bleme besonders dann offenkundig, wenn die Gegend von einer benachteiligten zu einer benachteiligenden wird und die Bewohner durch ihren Wohnort an gesellschaftlicher Teilhabe und Aufstiegschancen gehindert werden und sich als in ihrem Quartier eingeschlossen erleben. Dieser Effekt verschärft sich durch eine Polarisierung der Gesellschaft.132 Bei Gentrifizierung133 wiederum zeigen 127 AaO., 149. 128 AaO., 150. Zu dem aktuellen Diskurs über die Ambivalenzen und Schwächen dieser Annahme vgl. Masson 2016, 28–34 und die Darstellung dieses Diskurses s. u. § 7 Abs. 2.4. 129 Häußermann/Siebel 2004, 150. 130 Vgl. aaO., 149 f. 131 So kann ethnische Segregation im frühen Stadium einer Integration in eine neue Gesellschaft überwiegend positive Effekte haben, die aber bei Verfestigung der so entstehenden Parallelgesellschaft(en) zum Nachteil werden. Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 173–195 und Farwick 2012, 396–409. Vgl. auch Friedrichs/Triemer 2009, 71–77. 132 Zum Begriff vgl. Gornig/Goebel 2013, 58 ff. Zum Phänomen im Bezug auf deutsche Städte vgl. Aehnelt 2011, 63–79. So schreibt bspw. Annika Müller: »Im aktuellen Sozialmonitoring der Berliner Senatsverwaltung (2009: 18) wird ein Jahrzehnt später deutlich, dass sich die Befürchtung eines negativen Entwicklungstrends unserer Städte bestätigt hat: Armut und Reichtum konzentrieren sich zunehmend an unterschiedlichen Orten der Stadt und diese Entwicklung verstetigt sich: Die soziale Polarisierung schreitet voran. Ein ähnliches Bild offenbaren die Armutsberichte anderer deutscher Großstädte wie Frankfurt am Main, Bremen, Köln, München oder Stuttgart. Die erschreckende Botschaft ist demnach, dass sich die Städte sozial immer weiter auseinanderentwickeln – die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich zusehends.« (Müller 2012, 421). 133 Vgl. auch zum Phänomen einer state-led-gentrification und einer positive gentrification Masson 2016, 40.
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§ 6 Sozialräumliche Segregation als urbanes Phänomen
sich die Herausforderungen und negativen Auswirkungen eher auf der Rückseite des Phänomens, wenn Menschen aufgrund steigender Mieten gezwungen sind, wegzuziehen und regelrecht verdrängt werden. Hier schließen sich Quartiere nach außen ab und sperren bestimmte Gruppen aus. Verena Texier-Ast schreibt, dass eine soziale Mischung innerhalb eines Quartiers, besonders den unteren sozialen Schichten zugute käme, da diese – stärker als andere Gruppen – von den lokalen Bedingungen abhängig sind: Hier wird der Umsetzung der sozialen Mischung im städtischen Kontext ein maßgeblich positiver Einfluss zugesprochen, denn sie ermöglicht sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen ein Leben in einem gut an die sozialen und technischen Infrastruktureinrichtungen angebundenen Quartier. Darüber hinaus eröffnet räumliche Nähe von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichem ökonomischem Kapital die Möglichkeit sozialer Beziehungen zwischen diesen […]. Die damit assoziierten positiven Wirkungen städtischer Mischung können zu einem gesteigerten Zugeh. rigkeitsgefühl sozial und wirtschaftlich benachteiligter Bevölkerungsgruppen am Wohnort beitragen und sozialräumliche Bezugspunkte kreieren.134
Angesichts der Zunahme sozialer Segregation (2005 bis 2014) fordern Helbig/Jähnen einen Dreischritt, um Segregation und ihren negativen Folgen zu begegnen: 1. Segregation begrenzen durch Bau und Schaffung von Sozialwohnungen in Gebieten, in denen diese normalerweise nicht lokalisiert sind, damit sich bezahlbarer Wohnraum auf die gesamte Stadt verteilt. 2. Folgen abmildern durch Hilfe auf Quartiersebene als Quartiersmanagement und durch die Förderung von Bildungseinrichtungen sowie die Bereitstellung eines kostenfreien Nahverkehrs für Kinder und Jugendliche. 3. Kontinuierliche Beobachtung auf Basis geeigneter Daten durch ein lückenloses Monitoring der Entwicklungen auf Grundlage von kleinräumig verfügbaren Daten und eine begleitende Evaluation von Maßnahmen.135
134 Texier-Ast 2018, 122. Positive Beispiele für gemischte Quartiere sind der Ackermannbogen in München (vgl. Texier-Ast 2018, 122ff) und die GAG-Siedlung in Köln-Neuehrenfeld (vgl. Bukow 2012, 538ff). 135 Vgl. Helbig/Jähnen 2018, 118–121. In kritischer Abgrenzung einer geforderten Mischung schreibt Jens Dangschat; »Abgesehen davon, dass keinE WissenschaftlerIn trotz aller Messung von ›tipping points‹ ernsthaft behaupten kann, wie viele Menschen welcher Sorte mit wie vielen einer zweiten, dritten und vierten Sorte sich ›erfolgreich‹ integrieren werden und über die Maßstabsebene (Treppenhaus, Block, Wohnumfeld, Quartier) allenfalls Vermutungen existieren, bedeutet die Obsession des ›social mix‹ aber auch eine klare Vorstellung darüber, das Integration nur über das Assimilationsmodell funktioniere.« (Dangschat 2014, 129).
7. Ansätze zur Untersuchung von Segregation
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7. Ansätze zur Untersuchung von Segregation Bei der Untersuchung von Segregation kann mit Martin Lenz136 zwischen drei Ansätzen unterschieden werden, die in Kombination und wechselseitiger Ergänzung ein möglichst umfassendes Bild des Phänomens urbaner Segregation zeichnen und ein möglichst zutreffendes Verständnis sowie ggf. fruchtbare Lösungsansätze (u. a. sog. Desegregation137) bei Problemen zutage fördern: 1. Sozialökologischer Ansatz: Der Fokus liegt auf dem Raum und den zu erhebenden empirischen Daten zu Verteilung und Entmischung und wird besonders von Jürgen Friedrichs, Bernd Hamm und Ulfert Herlyn vertreten. Das zentrale Stichwort lautet empirische mehrperspektivische Sozialraumanalyse. 2. Polit-ökonomischer Ansatz: Das Interesse besteht darin, die Auswirkungen (eher lokaler) politischer und (eher globaler) ökonomischer Entscheidungen auf die Wohnsituation der Städter zu untersuchen und zu beschreiben und wird besonders von Hartmut Häußermann und Walter Siebel vertreten. Das zentrale Stichwort lautet urban governance. 3. Feministischer Ansatz: Unter genderreflexiver Perspektive wird bei diesem Ansatz allgemein die Berücksichtigung von Frauen bei stadtsoziologischer Forschung und bei stadtplanerischen Überlegungen eingefordert und besonders die benachteiligte Rolle von Hausfrauen, Teilzeit-Erwerbstätigen und Alleinerziehenden in peripheren Räumen untersucht. Wichtige Vertreterinnen sind Kerstin Dorhöfer, Maria Spitthöver und Maria Roden stein. Das zentrale Stichwort lautet: gender segregation.
136 Vgl. Lenz 2007, 14–21. 137 Vgl. aaO., 26 f. Zur Kritik an diesen Ansätzen durch Jens Dangschat, vgl. aaO., 21 f.
»Ein Stadtteil verliert an Werthaltigkeit für seine Bewohner/innen, wenn er Entmischungsprozessen ausgesetzt ist.«1 Martin Lenz
§ 7 Soziale Segregation Einleitung Mit sozialer Segregation ist die ungleiche Verteilung armer und reicher Bewohner einer Stadt gemeint bzw. beschreibt soziale Segregation »die räumliche Ungleichverteilung der städtischen Bevölkerung nach sozioökonomischen Merkmalen wie Einkommen, Bildungsstand und Berufsqualifikation.«2 Das Zitat macht deutlich, dass die Begriffe Armut und Reichtum nicht nur die materiell-wirtschaftliche Situation der Menschen beschreiben, sondern auch immaterielle Güter wie Bildung, soziale Kontakte sowie ein stabiles soziales Umfeld, Zugang zu gesundheits-, kultur- und bildungsbezogenen Infrastrukturen etc. berücksichtigt. Dabei wird die Ballung eher wohlhabender Menschen (meist als Resultat einer Aufwertung des Stadtgebiets) mit dem Phänomen der Gentrifizierung verbunden und die Konzentration ärmerer Bürger in einem bestimmten Teilgebiet wird unter dem Begriff Marginalisierung zusammengefasst.3 Für den Zeitraum zwischen 2005 und 2014 haben Helbig/Jähren 74 deutsche Städte hinsichtlich residentieller Segregation untersucht und kommen zu folgendem Resultat: Die soziale Segregation in den deutschen Städten ist zwischen 2005 und 2014 um 10,5 Prozent angestiegen. Die Entwicklung, welche andere Forscher ab Mitte der
1 Lenz 2007, 38. 2 Helbig/Jähnen 2018, 1. Zum aktuellen Stand der Forschung zu Entwicklung und Ausmaß vgl. aaO., 6–10. 3 Vgl. Farwick 2012, 381–383. Für eine empirische Untersuchung der Verteilung von Menschen mit geringem Einkommen in verschiedenen deutschen Großstädten vgl. vom Berge et al. 2014.
Einleitung
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1990er Jahre beobachteten, setzt sich also auch nach der Hartz-IV-Reform fort. In den ostdeutschen Bundesländern war die Zunahme zwischen 2005 und 2014 mit 23,4 Prozent deutlich stärker als in Westdeutschland (plus 8,3 Prozent). Insgesamt kann die Entwicklung in den ostdeutschen Städten als historischer Sonderfall bezeichnet werden – denn dort kam es bereits in den zehn Jahren zwischen 1995 und 2005 zu einer massiven räumlichen Neuverteilung von sozial benachteiligten Gruppen. […] Mittlerweile lassen sich in einigen ostdeutschen Städten Werte der sozialen Segregation von 35 bis 40 Prozent beobachten – ein ähnliches Niveau wie für die Segregation von Armen in US-amerikanischen Metropolregionen.4
Wenngleich soziale Segregation ein gesamtdeutsches Phänomen ist, wird hier deutlich, dass das Ausmaß sozialer Segregation in den sog. neuen Bundesländern Ostdeutschlands deutlich höher ist als im alten Bundesgebiet (anders als vor der Wiedervereinigung, denn die »soziale Segregation war in den Städten der DDR gering ausgeprägt.«5). Zudem bestehen »zwischen den ostdeutschen Städten enorme Unterschiede in Ausmaß und Entwicklung der sozialen Segregation.«6 Die Ursachen liegen v. a. in der unterschiedlichen Zerstörung der Städte und der verschiedenartigen Wiederaufbaumaßnahmen (bspw. große Plattenbaugebiete als Trabantenstädte). Sie liegen ebenso in dem Verhältnis von Miet- und Wohneigentum, der staatlichen Bezuschussung von Mieten und Vergabe von Wohnungen sowie den sozialen Auswirkungen der Wiedervereinigung (nachgeholte Suburbanisierung, schwindende Attraktivität der Plattenbaugebiete und Sanierung der zumeist verfallenen Altbauten) und den Folgen sozialstaatlicher Maßnahmen wie der Agenda 2010 begründet.7 Insgesamt kann festgehalten werden, »dass die soziale Segregation der ostdeutschen Städte durch die überproportionale Ballung von armen Menschen in den Plattenbaugebieten erklärt werden kann.«8 Zudem hatten die Plattenbaugebiete – anders als andere Quartiere ostdeutscher Städte – kaum bis keinen Anteil an wirtschaftlichem Aufschwung bzw. erlebten sogar eine Verschlechterung. Die mangelnde Attraktivität der Plattenbaugebiete hat sich durch die Sanierung der Innenstädte und durch die Suburbanisierung noch verschärft und konnte durch die Sanie-
4 5 6 7
Helbig/Jähnen 2018, 113 f. Hervorhebung im Original. AaO., 100. AaO., 111. Vgl. aaO., 95–112: »Soziale Segregation in Ostdeutschland: Der Zusammenhang zwischen Bombenkrieg, sozialistischem Wohnungsbau, Kohls ›blühenden Landschaften‹, Schröders ›Agenda 2010‹ und dem heutigen Ausmaß sozialer Segregation« (AaO., 95). 8 AaO., 111.
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§ 7 Soziale Segregation
rung (der meist älteren Plattenbauten – die jüngeren wurden häufig großflächig abgerissen) nicht nachhaltig verändert werden.9 Helbig/Jähnen resümieren: Es ist nicht davon auszugehen, dass sich das Attraktivitätsgefälle zwischen Plattenbaugebieten und den restlichen Wohnlagen der ostdeutschen Städte langfristig ausgleicht. Im Gegenteil ist sogar eine weitere Polarisierung zu befürchten. Neben der mangelnden baulichen Attraktivität der Plattenbaugebiete werden sie immer mehr zu sozialen Brennpunkten. Es sinkt also zusätzlich die soziale Attraktivität in diesen Gebieten, was sich auch in den Mieten spiegelt. Vor allem Familien mit Kindern werden nicht in diese Gebiete ziehen, solange sie es nicht aus ökonomischer Not heraus müssen.10
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung 1.1 Einleitung Der Begriff Gentrifizierung taucht erstmalig bei der Soziologin Ruth Glass auf, die 1964 die Aufwertung des Londoner Stadtteils Islington mit diesem Begriff beschrieben hat.11 Für die gegenwärtige deutsche Situation gilt: Wenngleich Mieter mit niedrigerem sozialen Status durch das deutsche Mietrecht12 gut geschützt sind gegen Verdrängung durch statushöhere Mieter, kann bei Wegzug ersterer »die Miete für die Nachfolger drastisch erhöht werden oder die Wohnung wird verkauft.«13 Beides hat die Folge, dass diese Wohnung für Menschen unterhalb eines bestimmten Einkommens nicht mehr verfügbar ist. Wiederholt sich dieser Vorgang in einem Viertel, wird dieses aufgewertet und Angehörige einer niedrigeren Statusgruppe werden aus diesem Quartier verdrängt. »So entstehen als eine Folge von Gentrifizierung im Extremfall soziale Brennpunkte. Je höher die Mobilität der Bevölkerung, desto schneller verlaufen die Prozesse.«14 Dies ist die Kehrseite von Aufwertungsprozessen, weshalb diese in ihren Auswirkungen 9 Vgl. aaO., 100–112. 10 AaO., 112. 11 Vgl. Holm 2012, 661 und Siebel 2015, 223. Zur Geschichte der Gentrifizierung und deren Erforschung vgl. Glatter 2007, 7–26. 12 So wurden Mieter z. B. bereits durch die Novellierung des Städtebauförderungsgesetzes von 1976 geschützt, welches schon damals – und damit vergleichsweise früh – mit den Instrumenten der Erhaltungssatzung, Gestaltungssatzung und der Milieuschutzsatzung Verdrängung als Folge von Aufwertung zu mindern suchte, vgl. Glatter 2007, 16. 13 Siebel 2015, 224. 14 Ebd.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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keineswegs neutral sind, sondern zu einer sozialen Spaltung der Stadt und damit zu urbaner Polarisierung beitragen (können), in deren Folge Menschen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Die Auswirkungen sind laut Siebel deshalb so folgenreich, da sie den Wohnraum für diejenigen, die ohnehin schon über wenig Ressourcen und eine geringe Wahlfreiheit verfügen, zusätzlich verknappen und denjenigen zugute kommen, die schon vorher über eine größere Optionenvielfalt verfügten und damit letztlich einer Polarisierung der (städtischen) Gesellschaft Vorschub leisten.15
1.2 Begriffsbestimmung und Genese Andrej Holm stellt fest, dass es trotz einer Vielzahl an Veröffentlichungen zum Thema Gentrifizierung »bis heute keine allgemein geteilte Definition und Erklärungsmuster für die unter dem Begriff Gentrification16 zusammengefassten Beobachtungen in den Städten«17 existiert. Dies liegt v. a. an der Komplexität des Gegenstands und der damit verbundenen multikausalen und multidimensionalen Prozesse. Als einen Minimalkonsens zitiert Holm die Definition von Maureen Kennedy und Paul Leonard in eigener Übersetzung: »Gentrification ist ein Prozess, in dessen Verlauf Haushalte mit höheren Einkommen Haushalte mit geringeren Einkommen aus einem Wohnviertel verdrängen und dabei den grundsätzlichen Charakter und das Flair der Nachbarschaft verändern.«18 In ähnlicher Weise, aber differenzierter, beschreiben Häußermann/ Siebel das Phänomen:
15 Vgl. aaO., 223 f. 16 Gentrification ist die englische Variante des deutschen Wortes Gentrifizierung und wird in dieser Arbeit synonym verwendet, vgl. Koch 2011, 91. Das Wort stammt von dem englischen Begriff gentry, was mit Oberklasse bzw. Oberschicht oder Adel bzw. niederer Landadel übersetzt werden kann, vgl. Häußermann/Siebel 2004, 229 und Holm 2012, 662 sowie Schäfers 2010, 175 und Siebel 2015, 222 ff. Dazu Glatter: »Nach [Ruth] GLASS ist Gentrification die Wiederaufwertung von Wohnquartieren mittels Erneuerung der Bausubstanz und einem dadurch bedingten Austausch der Bewohner. Die bisherige Bewohnerschaft der Arbeiterklasse wird aufgrund des Zuzugs einer neuen Mittelklasse ausgetauscht und die verfallene Bausubstanz durch Modernisierung und Umbau erneuert. GLASS benannte die Gentrification nach dem gentry, womit ursprünglich der niedere Landadel im England des 18. und 19. Jahrhundert bezeichnet wurde […]. Diejenigen, die in die ehemaligen Londoner Altbauquartiere zogen, waren jedoch keine klassischen gentries, es war eine neue städtische Mittelklasse, der GLASS den Namen einer alten ländlichen Mittelklasse verlieh.« (Glatter 2007, 7). Zu alternativen Begriffen, die sich jedoch nicht durchsetzten, vgl. ebd. 17 Holm 2012, 661. 18 AaO., 662.
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§ 7 Soziale Segregation
Sozialer und baulicher Wandel in einem städtischen Quartier, für den es zwei Gründe geben kann: a) von Verwertungsinteressen angetriebene Veränderung der Wohnqualität und der Bewohnerzusammensetzung, bei der Haushalte mit geringeren Einkommen aus dem Gebiet verdrängt werden; b) Wandel des sozialen Milieus in einem Quartier durch sozialen Aufstieg der Bewohner (›incumbent gentrification‹).19
Jürgen Friedrichs legt den Fokus auf die Bewohnerschaft, indem er Gentrifizierung als »Austausch einer statusniedrigen Bevölkerung durch eine statushöhere in einem Wohngebiet«20 beschreibt. Sanierung von Gebäuden und Folgen für die Bewohnerschaft verbinden Häußermann et al. bei ihrer Definition: »Mit Gentrification wird die bauliche Aufwertung eines Quartiers mit nachfolgenden sozialen Verdrängungen bezeichnet, die in der Verdrängung einer statusniedrigeren sozialen Schicht durch eine höhere resultieren.«21 Durch den Gebrauch des Begriffs Verdrängung, nehmen die Autoren bereits eine Wertung vor, die dem Begriff Gentrifizierung ingesamt einen negativen Ton verleiht, was nicht zuletzt daran liegt, dass die (nicht unbedingt intendierte, aber faktische) Konsequenz von Aufwertung meist Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen ist. Folglich ist der Begriff Gentrifizierung zuweilen negativ konnotiert – manche sprechen gar von einem dirty word22. Martin Lenz umreißt das Phänomen mit einem ähnlichem Fokus (und ebenfalls kritischem Unterton) als »das Eindringen einer Bevölkerungsgruppe in ein Wohngebiet, das bislang überwiegend von einer anderen Bevölkerungsgruppe bewohnt wurde.«23 Er differenziert zwischen zwei Formen: »Das Eindringen einer statusniedrigen ethnischen Minorität in ein Wohnviertel statushöherer Majorität sowie das Eindringen einer statushohen Gruppe in ein Viertel, das bislang von einer dem gegenüber statusniedrigeren Gruppe bewohnt wurde.«24 Dabei tritt Gentrifizierung nicht überall auf, »sondern in jenen [Gebieten] mit einer citynahen Lage und einer gegenwärtig statusniedrigen Wohnbevölkerung.«25 Dabei wird »[d]ie zunächst einziehende Gruppe […] als ›Pioniere‹ bezeichnet, die nachfolgenden sozialen Gruppen [dagegen] sind die ›Gentrifier‹, die einen höheren Status als die Pioniere aufzuweisen haben und ihr Vermögen nicht gefährden wollen, weshalb sie erst zuziehen, wenn sie sich in ihrem Nut-
19 Häußermann/Siebel 2004, 229. 20 Friedrichs 1996, 14. Hervorhebung im Original. 21 Häußermann et al. 2008, 242. 22 Vgl. Slater 2006, 751. 23 Lenz 2007, 30. 24 Ebd. 25 Ebd.
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1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
zen sicher sind.«26 Farwick beschreibt die verdrängende Wohnbevölkerung eingehender, wenn er Gentrifizierung als einen Prozess bezeichnet, der »sich auf einkommensstarke und gut ausgebildete [und zumeist – aber nicht immer –] kinderlose Single- und Zwei-Personenhaushalte [bezieht], die aufgrund eines spezifischen Lebensstils und bestimmter Konsumgewohnheiten die zumeist innenstadtnahen nutzungsgemischten gründerzeitlichen Quartiere der Städte wiederentdecken und die bisher dort wohnenden einkommensschwächeren Haushalte verdrängen.«27 Tab. 1: mögliche Gentrifizierungsquartiere (Quelle: Glatter 2007, 9) Bestandsquartiere, die zu Gentrificationgebieten werden können historische Altstädte
ehemalige ehemalige Arbeiterkleinbürger wohnviertel liche Mischgebiete (Wohnen/ Gewerbe)
ehemals großbürger liche Wohnviertel
ehem. Brach- und Industrieflächen inkl. ehem. Hafengebiete
(highresidential gentrification) (new-build gentrification: brownfield-devel. loft-conservation waterfrontdevel. harbourdevel. army-basedevel.
ländliche Siedlungen (rural gentrification
Neben der Betrachtung der Wohnbevölkerung spielen aber auch ein baulicher Wandel von Quartieren sowie eine »wohnungswirtschaftliche Wertsteigerung«28 eine Rolle bei der Untersuchung von Prozessen der Aufwertung – insofern ergibt sich Gentrifizierung »aus Wechselwirkungen zwischen der ökonomischen,
26 Ebd. 27 Farwick 2012, 385. 28 Holm 2012, 662.
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§ 7 Soziale Segregation
wohnungswirtschaftlichen Situation und der damit verbundenen Veränderung der Sozialstruktur.«29 Infolge des neuen Interesses an diesen Gebieten werden diese meist umfangreich saniert, was zu einem Anstieg der Mieten führt, wodurch dieses Wohngebiet für viele der bisher dort ansässigen Bewohner nicht mehr bezahlbar ist. Dies führt dazu, dass diese Bewohner das Gebiet verlassen müssen, um sich bezahlbaren Wohnraum zu suchen. Bei der Zuordnung von drei Wohngebietstypen mit dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)30 und microm-Milieustudien31 wurden folgende Wohngebiete als potentiell gesichert definiert: »Attraktive innerstädtische Wohnlagen32 –Wohlhabende Akademiker in Villenvierteln – Gediegene ältere Einzelhäuser – Gute, neue Einzelhäuser«33 Die Graphik von Glatter (Tab. 2) stellt verschiedene Formen von Gentrifizierung schematisch nebeneinander und unterscheidet Bau- und Raumstruktur sowie Initiative und Verlauf. Tab. 2: Formen der Wiederaufwertung von Stadtteilen (Quelle: Glatter 2007, 10) Formen der Wiederaufwertung von Stadtteilen
Sozialstruktur
29 30 31 32
Gentrification
incumbent upgrading
Flächen sanierung
Zuzug statuthörerer Gruppen in leere Gebiete oder Austausch statusniederer Bewohner durch status höhere
geringe soziale E rstbezug Mobilität ohne Spezifik der Sozialstruktur
soziale Stadt entwicklung geringe soziale Mobilität, Stabilisierung benachteiligter Nachbar schaften
Koch 2011, 92. Vgl. BBSR 2009, 405 f. Vgl. ebd. Von Bedeutung ist, dass die Gebäudesubstanz in einem brauchbaren Zustand ist und eine Sanierung noch zulässt, vgl. Koch 2011, 93 f. 33 BBSR 2009, 409.
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1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
Formen der Wiederaufwertung von Stadtteilen Gentrification
incumbent upgrading
Flächen sanierung
soziale Stadt entwicklung
Baustruktur vorher:
Bestandsquartier, meist verfallen, teilweise ruinös
Bestandsquartier, meist verfallen, teilweise ruinös
großflächiger Abriss
Bestandsquartier, meist verfallen, teilweise ruinös
nachher:
modernisierte Bestands struktur, Baulückenfüllung
modernisierte, instandgesetzte Bestandsstruktur
ausschließlich Neubauten
modernisierte Bestandsstruktur
Initiative geht aus von …
Außen: Investoren, Planung oder Innen: Bewohnern, Pionieren
Innen: Bewohnern, Hausbesitzern
Außen: Investoren, Planung
Außen: Planung
Prozess verläuft
meist schnell, intensiv, in Schüben
langsam, schnell, wenig intensiv, intensiv, gleichmäßig gleichmäßig
langsam
Die umfassendste Beschreibung liefert Walter Siebel, der besonders das Prozesshafte der Gentrifizierung betont und die Vorgänge als Abbildung der Karrierewege von Städtebewohnern auf den Raum betrachtet34: Im Zuge von Gentrifizierung werden das Wohnumfeld, die Bausubstanz und die Infrastruktur verbessert, Miet- und Kaufpreise steigen, die Eigentumsverhältnisse und die soziale Struktur ändern sich ebenso wie die Kultur des Stadtteils: Neue Bewohner mit anderen Lebensweisen drängen hinein, Alteingesessene werden verdrängt. Der öffentliche Raum wird anders genutzt, die Fassaden werden verschönert, Geschäfte mit neuen Waren- und Dienstleistungsangeboten, andere Restaurants und Kneipen treten an die Stelle der alten. Gentrifizierung ist ein Prozeß [sic!] der ökonomischen und physischen Aufwertung und symbolischen Umdeutung eines Stadtquartiers unter Verdrängung der Alteingesessenen.35
34 So schreibt er: »Menschen machen Karriere, positive und negative, und wo solche Karrieren sich häufen, steigen Stadtteile auf oder ab.« (Siebel 2015, 223). 35 Ebd.
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§ 7 Soziale Segregation
Tab. 3: Definitionen von Gentrifizierung (Quelle: Glatter 2007, 8) holistisch
solitär sozialer Austausch
sozialer Austausch, sozialer Austausch, bauliche Erneuebauliche Erneuerung rung, kultureller Wandel
Friedrichs 1996 Slater 2002
Glass 1964 Smith/Williams 1986 Dangschat 1988 Alisch/Dangschat 1996 Atkinson 2003
sozialer Austausch, bauliche Erneuerung, infrastruktureller Wandel, symbolischer Wandel, ökonomische Inwertsetzung, kultureller Wandel
Bernt/Holm 2002 Hamnett 1984 Beauregard 1986
In der Beschreibung von Siebel wird deutlich, dass Gentrifizierung nicht einfach »mit Begriffen wie Revitalisierung oder Reinvestment gleichgesetzt werden kann«36, da diese Begriffe mehr oder minder wertneutral sind und allgemeine urbane Veränderungsdynamiken beschreiben. Die Aufwertung, die mit dem Begriff Gentrifizierung beschrieben wird, fokussiert und thematisiert besonders den negativ bewerteten Aspekt der Verdrängung (»Verdrängung […] wird als Prozess definiert, in dem die Wohnungs- (und damit auch die Wohnorts-)wahl eines Haushalts durch die Handlungen einer anderen sozialen Gruppe definiert wird.«37).38 Insofern verändert sich ein gentrifiziertes Gebiet sowohl in sozialer als auch in kultureller Hinsicht (»Der Gebietscharakter ändert sich, neue Nutzungen und Funktionen entstehen, während andere verschwinden.«39).
36 Koch 2011, 93. 37 AaO., 97. 38 Koch verweist darauf, dass Verdrängung empirisch jedoch »methodisch durchaus schwierig nachweisbar« ist, vgl. aaO., 93 und 97 ff. 39 AaO., 92.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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1.3 Drei Wellen von Gentrifizierung und aktuelle Trends Wenngleich Formen von Gentrifizierung älter sind als die moderne Stadt, so kann man dennoch festhalten, dass die mit Gentrifizierung beschriebenen Prozesse »ihre größte Bedeutung doch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«40 erreichten. Dabei werden drei Wellen der Gentrifizierung voneinander unterschieden41: 1. Welle: Seit den 1950er bis in die frühen 1970er Jahre hinein sind die ersten relevanten Aufwertungsprozesse in Städten Nordamerikas (u. a. Philadelphia, New York City) und Großbritanniens (London-Islington, LondonChelsea) zu beobachten und wurden einer ersten intensiveren sozialwissenschaftlichen Forschung unterzogen. Auslöser waren meist staatlich gesteuerte und subventionierte Maßnahmen zur Umgestaltung, Sanierung und Aufwertung von innenstadtnahen Bereichen. Diese Maßnahmen hatten bereits erste Verdrängungen benachteiligter Bevölkerung zur Folge. Insgesamt waren diese Prozesse aber punktuell und lokal begrenzt. Ein vorläufiges Ende fand diese erste Welle aufgrund einer globalen ökonomischen Rezension Anfang der 1970er Jahre. Für den US-amerikanischen Kontext war Gentrifizierung zu diesem Zeitpunkt bereits ein weit verbreitetes und bedeutendes Phänomen der Stadtentwicklung. Aufgrund eines Paradigmenwechsels hinsichtlich der Bewertung gründerzeitlicher Altbaugebiete in deutschen Städten waren ab den 1960er Jahren auch in Deutschland erste Anzeichen einer Aufwertung dieser Gebiete zu beobachten. Diese wurden aber nicht mit dem Begriff einer Gentrifizierung in Zusammenhang gebracht und waren noch punktueller als in den angloamerikanischen Kontexten.42 2. Welle: Mit der Erholung der globalen Wirtschaft setzte Mitte der 1970er Jahre43 die zweite Welle der Gentrifizierung ein, die nach Glatter vier Merkmale aufwies: a) »neue Quartiere und Bauformen [wurden] von der Aufwertung erfasst«44 b) »private Investitionen [gewannen] eine größere Bedeutung«45 c) Entwicklung »zum Teil sehr intensive[r] Widerstände gegen
40 41 42 43
Glatter 2007, 11. Vgl. auch Holm 2012, 676 f. Vgl. Glatter 2007, 11–15. Vgl. die Zusammenhänge zwischen dem Rückgang des Wirtschaftswachstums, des Stadtumbaus in Deutschland sowie der Städteförderung (nach dem Städtebauförderungsgesetz [StBauFG] von 1971) und den (eher unbeabsichtigten) Folgen von Verdrängung, vgl. Häußermann et al. 2008, 89–92. 44 Glatter 2007, 15. 45 Ebd.
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§ 7 Soziale Segregation
Gentrification«46) und d) Zunahme der »Bedeutung der sich entwickelnden ›alternativen (Kunst)Szene‹ als vorbereitendes Element der Gentrification.«47 Dabei erlebte Gentrifizierung in der zweiten Welle eine Konsolidierung, eine Verselbstständigung sowie einen massiven Bedeutungszuwachs (besonders ab Anfang der 1980er Jahre) und erscheint als ein deutlich größeres Phänomen als dies noch in der ersten Welle der Fall war (»Diese privat finanzierten Gentrification-Prozesse haben in größerem Umfang als die staatlich getragenen Aufwertungen zu einer Umgestaltung vieler europäischer und amerikanischer Städte beigetragen.«48). Dennoch kann man noch nicht von einem flächendeckenden Prozess sprechen: Aufwertungen konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Großstädte mit mehr als 500.000 Einwohnern. Im Zuge dieser zweiten Welle erlebten ehemalige Aufwertungsgebiete eine zweite Aufwertungsphase und dies wiederum erhöhte den Aufwertungsdruck auf die übrigen Quartiere. Besonders die stärkere Orientierung an einer unternehmerischen Stadtpolitik sorgte für einen Wettbewerb der Städte im Ringen um Standortvorteile zur Ansiedlung von Unternehmen und Steuerzahlern. Dies ging einher mit knapperen Ressourcen der öffentlichen Hand – besonders infolge der ökonomischen Krise der 1970er Jahre. Dies nötigte die Kommunen (und den Staat) alternative finanzielle Ressourcen zu erschließen. War die erste Welle noch verstärkt durch staatliche Förderungen ausgelöst und geprägt, spielte nun der Einfluss privater Investoren eine immer größere Rolle. Der Staat übernahm stärker die Rolle des Förderers denn des Finanziers – er schuf gute Rahmenbedingungen und finanzielle Anreize, die dann private Geldgeber nutzten. Dies offenbarte die Ambivalenz von Aufwertung, welche durch Verdrängung auch »Opfer« produzierte. Eine starke Kritik an Gentrifizierung war die Folge. »In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erreichte die Gentrification ihren vorläufigen Höhepunkt.«49 Das Ende der zweiten Welle wurde mit dem Börsencrash von 1987 eingeleitet, dessen Folgen die Wirtschaft schwächten, das Wachstum abkühlten und die Immobilieninvestitionen reduzierten.50 Angeregt durch diese Entwicklung erlebte die Gentrifizierungsforschung einen regelrechten Boom und machte sie »zu einem der wichtigsten Themen geographischer und soziologischer Stadtforschung.«51 Im Fokus der Untersuchungen stan-
46 Ebd. 47 Ebd. 48 Holm 2012, 677. 49 Glatter 2007, 16. 50 Vgl. aaO., 15 f. und 23 f. 51 AaO., 17.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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den besonders die Untersuchung der Ursachen (so die Diskussion zwischen Angebots- und Nachfragetheorie) sowie das Problem der Verdrängung.52 3. Welle: Mitte der 1990er Jahre setzte die dritte und vorerst letzte Welle ein, welche als post-recession-gentrification53 bezeichnet wird. Sie zeichnet sich besonders durch »Professionalisierung und Expansion«54 aus. Dabei beschreibt Expansion, dass sich Aufwertungsprozesse »von der Ausnahmesituation zum neuen städtischen Mainstream entwickelt«55 haben und nun auch solche Gebiete von Aufwertung betroffen waren und sind, bei denen man dies nicht erwartet hätte, da sie nicht in Nähe der Innenstadt liegen oder »aufgrund ihrer Bausubstanz oder Sozialstruktur bis dato als nicht gentrifizierbar galten«56. Was in lokaler Hinsicht galt, galt auch global: Gentrifizierung expandierte auch über die Städte des sog. Westens hinaus und konnte auch in Städten des ehemaligen Ostblocks, Asiens oder Afrikas beobachtet werden.57 Professionalisierung bedeutet, dass Unternehmungen urbaner Aufwertung in stärkere Abhängigkeit von den Dynamiken des internationalen Finanzmarktes gerieten und so »werden zunehmend international tätige Investmentfirmen und global agierende Projektentwickler als zentrale Akteure der Aufwertung identifiziert«58. Dies hing v. a. mit »einer zunehmenden Professionalisierung der Investoren und der Kulturindustrie«59 zusammen. Dies hatte zur Folge, dass Umwertung auch ohne Pioniere funktionierte, da sie direkt von global operierenden Investoren initiiert wurde. Die Rolle der sog. »alternativen Kunstszene« wurde dabei von einer »professionellen Kulturindustrie« übernommen.60 Gleichzeitig lässt sich aber auch eine zunehmende Bedeutung des öffentlichen Sektors beobachten, dessen Aufgaben »bestehen jedoch nicht in der Finanzierung und Durchführung von Aufwertungen, sondern im Anregen, Fördern, Moderieren und Kontrollieren der Inwertsetzungen«61. Schließlich lässt sich ein Rückgang der Widerstände gegen Gentrifizierung beobachten, der seine Ursache in einem Bündel
52 Vgl. aaO., 17–24. 53 AaO., 24. 54 Holm 2012, 677. 55 Ebd. 56 Glatter 2007, 24. 57 Vgl. Holm 2012, 678. Weiterführend vgl. Atkinson/Bridge 2005. 58 Holm 2012, 678. Weiterführend dazu vgl. Smith 2002. 59 Glatter 2007, 24. 60 Vgl. ebd. Laut Holm sind für diese aktuelle Phase »eine räumliche Diversifizierung, eine globale Ausbreitung und neue Formen von Gentrification« kennzeichnend, Holm 2012, 677. 61 Glatter 2007, 24.
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an (regional sehr unterschiedlichen) Maßnahmen62 hat, jedoch keineswegs zu einem völligen Verschwinden von Opposition geführt hat.63 Mit dieser dritten Welle kam es Ende der 1990er Jahre auch zu einem Wiederaufleben der Gentrifizierungsforschung, die von manchen Forschern bereits als abgeschlossen betrachtet wurde. Getragen wurde dieses neue Interesse von einer neuen Generation von Forschern wie Loretta Lees, Tom Slater64 u. a. 65 Für die deutsche Forschung beobachtet Glatter, dass seit der Ernüchterung der 1990er Jahre das Interesse am Thema zurückgegangen ist, was sich mit Beobachtungen von Friedrichs/Triemer66 deckt.67 3.1 Exkurs Ostdeutschland68: Häußermann et al. zeigen auf, dass die innenstadtnahen Altbaugebiete aufgrund der Stadtplanung in der DDR in eine »Art Zangenbewegung«69 gerieten: Die Innenstädte wurden nach
62 »Die Widerstände gegen die Gentrification gehen, bedingt durch strengere Gesetze und härtere Polizeistrategien gegen die Widerständler, deutlich zurück. Zugleich ist ein Teil der AntiGentrification-Bewegung über Verhandlungen in den Aufwertungsprozess integriert worden. So wurden in Deutschland aus vielen ehemaligen Besetzern Mieter und Hauseigentümer. In den USA entstanden die Community Development Corporations (CDC), die mit Hilfe staatlicher Finanzzuweisungen Gebäude sanierten.«, (ebd). 63 Als Beispiel dient die Hamburger Hafenstraße, vgl. Birke 2014, 90–93. Weitere Beispiele aus Hamburg finden sich in dem Artikel Die Stadt von den Rändern gedacht. Drei Jahre Recht-aufStadt-Bewegung in Hamburg – ein Zwischenstopp von Nicole Vrenegor, vgl. Vrenegor 2014. Zu unterschiedlichen Protesten gegen Gentrifizierung in verschiedenen Berliner Bezirken vgl. Holm 2011. 64 Zu dem Verhältnis von deutscher und angloamerikanischer Forschung schreibt Glatter: »Zwischen der deutschen und englischsprachigen Gentrificationforschung gab und gibt es nur wenige Berührungspunkte. Ergebnisse deutscher Studien werden nur selten in der britischen und amerikanischen Fachpresse veröffentlicht. Selbst die in Deutschland fast zu einem ›Muss‹ gewordenen sozialstatistischen Akteursdefinitionen und Phasenmodelle werden dort selten diskutiert. Umgekehrt finden die jüngsten Ergebnisse der angelsächsischen Gentrificationforschung kaum Eingang in die deutsche Forschung.« (Glatter 2007, 25). 65 Vgl. aaO., 24–26. 66 Friedrichs/Triemer stellen fest, dass sich bei der Erforschung von Phänomenen der urbanen Entmischung und Homogenisierung von Wohngebieten die »Diskussion […] nur auf benachteiligte Wohngebiete bezieht, die Folgen in homogen reichen Wohngebieten demgegenüber für Sozialwissenschaftler von sehr geringem Interesse zu sein scheinen.« (Friedrichs/ Triemer 2009, 17). Dazu Jürgen Friedrichs: »Offenkundig richten sich alle diese Maßnahmen [Planung sozialer Mischung], man könnte sogar sagen, die gesamte Debatte über soziale Mischung, fast ausschließlich auf Wohngebiete der Unterschicht, vielleicht noch der unteren Mittelschicht. Keine Studie fragt nach der sozialen Mischung in Mittelschicht – und schon gar nicht in Oberschicht-Gebieten. Hamburg Blankenese oder München Grünwald bedürfen solcher Planungen nicht. Wer wollte schon vorschlagen, in solchen Gebieten ein Quartiersmanagement einzurichten?« (Friedrichs 2010, 330). 67 Zu den möglichen Ursachen vgl. Glatter 2007, 26. 68 Vgl. auch Helbig/Jähnen 2018, 95–112. 69 Häußermann et al. 2008, 100.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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sozialistischen Idealen umfangreich aus-, neu und umgebaut und am Rand der Stadt entstanden große neugebaute Wohngebiete. Die Altbaugebiete verfielen weitgehend. Sie wurden nicht saniert und stellten keine Alternative zu den »Neubauten« dar. Dies führte dazu, dass im Jahre 1989 in der DDR 200.000 Wohnungen leer standen, da in den Gründerzeitvierteln kaum Gebäude abgerissen wurden. Die Wohnungen dienten als Wohnfläche für »unangepaßte [sic!] Personen, unqualifizierte Arbeitskräfte in den weniger wichtigen Beschäftigungsbranchen und alte Menschen.«70 Da der Staat sich städtebaulich auf die Innenstadt und die Randgebiete konzentrierte, war der Zustand der Altbaugebiete entsprechend schlecht, aber nicht hoffnungslos. So löste die Wiedervereinigung eine massive Sanierung dieser Gebiete aus (besonders durch das Fördergebietsgesetz des Bundes), was dazu führte, dass im Jahr 2008 60–70 % dieser Altbaugebiete saniert waren.71 Die Sanierungen erfolgten zumeist durch private Investoren und folgten den Gesetzen der Marktwirtschaft. Somit hatte die Sanierung eine massive Aufwertung dieser Gebiete zur Folge, was auch einen sozialen Wandel der Quartiere sowie eine Verdrängung (von Teilen) der Bewohnerschaft zur Folge hatte (z. B. in Berlin-Prenzlauer Berg).72 So haben städtebauliche Entscheidungen in der ehemaligen DDR, deutliche Auswirkungen auf die Gestalt dieser Städte in der Gegenwart. 3.2 Trends: Unter dem Stichwort »Gentrification ist überall«73 beschreibt Holm, dass sich Prozesse der Aufwertung in dreierlei Hinsicht wandeln: Erstens beschränkt sich Gentrifizierung nicht mehr nur auf bestimmte Viertel, sondern hat sich zu einem allgemeinen urbanen Phänomen gewandelt. Zudem ist Aufwertung auch über Großstädte hinaus in mittleren und kleineren Städten zu beobachten. Zweitens beschreibt Gentrifizierung nicht mehr nur ein rein städtisches Geschehen, denn mittlerweile sind ebenso ländliche Räume von Gentrifizierung betroffen. Drittens wird neben der Beschreibung von Sanierung und Umnutzung von Wohngebieten auch bei der Darstellung der »Wiederaufbereitung ehemaliger Industrie- und Hafenanlagen auf den Gentrification-Begriff zurück[gegriffen].«74 Gleiches gilt für Neubauprojekte, die ebenfalls zu einer Aufwertung führen (new-build-gentrification). Auf das Phäno70 AaO., 102. 71 Vgl. aaO., 98–109. 72 Vgl. auch aaO., 233–237. Vgl auch Siebel 2015, 222–238. Zur Gentrifizierung in Berlin vgl. Holm 2011, besonders 215 Karte 1. 73 Vgl. Holm 2012, 677 f. 74 Holm 2012, 677.
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men einer Super-Gentrifizierung75 wird weiter unten eingegangen (§ 7 Abs. 1.4.4).
1.4 Ursachen von Gentrifizierung Für die Suche nach Ursachen gilt Ähnliches wie für die Definition bzw. Darstellung des Phänomens: Aufgrund der Komplexität des Gegenstands ist es schwer bzw. ausgeschlossen, diese umfassend und in allen Einzelheiten bzw. Spielarten darzustellen. Dazu Glatter: Bislang ist es nicht gelungen, ein angemessenes Erklärungskonzept für Gentrification zu entwerfen. Die Diskussion ist bei theoretischen Markt- und Mehrebenenmodellen angelangt, die zahlreiche Einflussfaktoren und Systemlogiken berücksichtigen, aber empirisch nicht belegt sind. Die Gentrification gilt als multikausaler Prozess, der sich nicht auf eine Erklärungsebene reduzieren lässt, sondern aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren auf unterschiedlichen Maßstabsebenen zu erklären ist.76
Aufgrund dieser Tatsache resümiert Holm (im Anschluss an Jan van Weesep), dass das Wie der Gentrifizierung sowie deren Auswirkungen bedeutender sind als das Warum, da Letzteres das Resultat einer Symphonie zahlreicher Faktoren ist und beides – das Warum und das Wie – ohnehin eng zusammengehören. Dennoch sollen einige Faktoren genannt werden, die Gentrifizierung verursachen, beeinflussen und begleiten. Im Anschluss an die Darstellung Holms77 und Siebels78 kann zwischen vier Faktoren unterschieden werden: a) sozialen b) ökonomischen c) politischen und d) kulturellen.
1.4.1 Soziale Gesichtspunkte Die sozialen Ursachen fasst Holm unter dem Stichwort Neue Urbanität zusammen und unterscheidet dabei verschiedene Dimensionen. Zunächst sind demographische Faktoren bedeutend, da diese die Formen des (urbanen) Wohnens direkt beeinflussen.79 So hat sich die Art wie Menschen wohnen in den 75 76 77 78 79
Vgl. u. a. Holm 678 und Siebel 2015, 236. Glatter 2007, 22. Vgl. Holm, 663–671. Vgl. Siebel 2015, 236–284. Vgl. dazu den Abschnitt Demographischer Wandel – zurück in die Innenstädte? von Eberhard von Einem, vgl. von Einem 2016, 125–143.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
161
letzten 30 Jahren zunehmend ausdifferenziert und individualisiert. Der langjährige (Massen-)Trend der Suburbanisierung (seit Mitte der 1950er Jahre) ist einer neuen Attraktivität innenstadtnaher (durch Altbauten80 geprägter) Wohnlagen gewichen (»Wandel der Wohnpräferenzen«81). Besonders die mittelalte bis junge Mittelschicht der späten Generation X82 und der frühen Generation Y83 bevorzugt die citynahen Bereiche, um Arbeiten, Wohnen und Leben sowie Freizeitgestaltung und Pflege sozialer Kontakte miteinander zu verbinden.84 Diese Menschen heiraten später, haben vergleichsweise weniger Kinder und die Zeit des Erwachsenwerdens dehnt sich nach hinten aus.85 Zudem sind die Scheidungsraten hoch und dies führt dazu, dass »sich der Anstieg der Anzahl der Haushalte von der allgemeinen Bevölkerungsentwicklung entkoppelt«86. So steigt die Zahl kleinerer Haushalte (Zwei-Personen-Haushalte oder kleine Familien) sowie von Ein-Person-Haushalten und dies meist zu Lasten der (klassischen) Familienhaushalte.87 So finden sich in den Innenstadtregionen neben den zahlreichen Singlehaushalten auch überdurchschnittlich viele sog. DINKS80 Über die Attraktivität von Altbauten gegenüber Neubauten schreibt Florian Koch: »Denn bei Neubauten geben die Wohnungsgrundrisse in der Regel die Nutzung der einzelnen Räume bereits vor (Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer) […]. Die Räume sind hierarchisiert und spiegeln die Herrschaftsstruktur der Kleinfamilie wider. […] Im Gegensatz dazu sind die Räume in Altbauwohnungen häufiger flexibler zu gebrauchen und nicht von vorneherein [sic!] zwingend auf eine bestimmte Nutzung festgelegt.« (Koch 2011, 93). 81 Ebd. Das bedeutet: »Nicht mehr das suburbane Einfamilienhaus am Stadtrand oder in den Umlandgemeinden wird verstärkt nachgefragt, sondern zunehmend innenstädtische Wohnorte, die sich in der Nähe zu den Arbeitsstätten des Dienstleistungssektors sowie zu Kulturund Einkaufsmöglichkeiten befinden.« Ebd. 82 Generation X umfasst die Jahrgänge 1965–1980, vgl. Klaffke 2014, 10–17 und 45–53. 83 Generation Y umfasst die Jahrgänge 1980–1995, vgl. aaO., 10–17 und 58–69. 84 Vgl. der Artikel Innere Suburbanisierung als Coping-Strategie: Die »neuen Mittelschichten« in der Stadt von Susanne Frank, vgl. Frank 2014. Frank beschreibt die Bildung von quasi suburbanen Familienenklaven, welche soziale Entmischung weiter fördere. Sie bilanziert: »Reurbanisierung wird in meinen Augen ganz zu Unrecht als Gegentrend zur Suburbanisierung betrachtet. Dagegen lautet meine These, dass die Rückkehr der Mittel-schichten – und insbesondere die von Mittelschicht-Familien in die Stadt – vor allem deshalb möglich wird, weil es diesen Familien – mit vereinten Kräften und natürlich mit machtvoller Unterstützung von Politikern, Planem und Investoren – gelingt, elementare Funktionen und Charakteristika des suburbanen Lebens in die Städte zu transferieren. In der Folge entstehen immer mehr Mittelschichtinseln in den Städten, die sich gegen ihre Umgebung abgrenzen und ihre Bewohner gegen statusniedrigere bzw. bildungsferne Bevölkerungsgruppen abschirmen.« (AaO., 168f). 85 »Die Wurzeln dieser neuen urbanen Lebensstile liegen in der Jugendbewegung der 1960er Jahre, die zur Entstehung einer eigenständigen Lebensphase der Post-Adoleszenz führte. Emanzipiert vom Elternhaus und noch nicht an familiäre Verantwortungen gebunden, erleben sie eine Phase der Freiheit und des Ausprobierens und beginnen mit ihren Lebensformen städtische Räume zu prägen.« (Glatter 2007, 19f). 86 Holm 2012, 667. 87 Vgl. von Einem 2016, 126–128.
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Haushalte (Double Income No Kids). Dabei bewahrt sich diese neue urbane Mittelklasse ihren vom Single-Dasein geprägten Lebensstil – auch wenn sie bereits Familien (ohne und mit Kindern) gegründet haben – geben sie einem Leben in der Stadt dem suburbanen Wohnen den Vorzug.88 Für Angehörige der genannten Haushalte ist ein Wohnen nahe der Innenstadt insofern attraktiv, als dass sie so in der Nähe ihrer Erwerbstätigkeit an den bevorzugten Orten ihrer Freizeitgestaltung und in einem dichten Netz an Versorgungsangeboten (Gesundheit, Kultur, Bildung, Freizeit) wohnen. Sie haben kurze Wege, sparen Zeit sowie Geld und erhöhen die Vielfalt an Optionen der Freizeitgestaltung. Außerdem sind die Innenstädte aufgrund einer Tertiarisierung des Arbeitsmarktes und einem damit verbundenen Wegzug oder Wegfall von Industrieanlagen als Ort zum Arbeiten und Wohnen attraktiv, da sie oben genannte Vorteile bieten ohne entscheidende Nachteile zu haben. Der Wandel der Arbeitsverhältnisse vom Fordismus89 hin zum Postfordismus ist demnach ein weiterer Faktor, der einer Gentrifizierung Vorschub leistet. So ist durch die »Ausweitung des Bildungssystems […] die Zahl der Arbeiterhaushalte zurückgegangen«90 und durch die Etablierung des Dienstleistungssektors und der Wissensökonomie91 sind viele neue Arbeitsplätze in der Stadt entstanden, die aber die Lebensqualität der Stadt nicht negativ beeinflussten (durch Lärm, Luftverschmutzung etc.). Holm verweist darauf, dass aber nicht nur die Lage der neu entstandenen Arbeitsverhältnisse, sondern auch deren Struktur für die Aufwertung der Innenstadt bedeutend ist. So verändert die Konzentration zahlreicher Unternehmen in der City bzw. in bestimmten Vierteln der Stadt deren Struktur, Architektur und Image. Zudem ist ein hohes Maß an Flexibilität ein weiterer Faktor, der ein arbeitsplatznahes Wohnen erfordert: »Die für den beruflichen Erfolg notwendige Durchlässigkeit von Arbeits-, Wohn- und Freizeitstrukturen ist fast ausschließlich in den Innenstädten zu realisieren«92.93 Nimmt man diese Beobachtung ernst, dann muss man die enge Verbindung von Gentrifizierung und Verdrängung relativieren und den Aspekt einer
88 Vgl. Holm 2012, 669 f. Vgl. auch Gornig/Goebel 2013, 56. 89 Als Fordismus wird die nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Produktionsweise »der einfachen Massenfertigung und der ihr zugehörigen Organisationsformen« (Schmiede/Schilcher 2010, 19) bezeichnet. Vgl. auch Kühn 2016, 86.90f und 137. Zu dem Wandel von der fordistischen zur postfordistischen Stadt vgl. Franke/Schnur 2016, 296 f. 90 Siebel 2015, 226. 91 Zu Zahlen und Fakten zur Wissensökonomie vgl. aaO., 193–198. 92 Holm 2012, 668. 93 Glatter schreibt zur Geschichte der Erforschung von Gentrifizierung: »Relativ schnell widerlegt wurde die These, dass es sich bei der Gentrification um ein back-to-the-city-movement der Suburbaniten handelte.« (Glatter 2007, 12).
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Ersetzung94 von alten Bewohnergruppen (z. B. Eltern) durch neue Bewohnergruppen (z. B. deren Kinder) ergänzen. Man kann dann diese Vorgänge als eine sozialräumliche Projektion des demographischen Wandels sowie der Tertiarisierung der Wirtschaft betrachten. Dem Gedanken Siebels folgend, kann unter diesem Gesichtspunkt Gentrifizierung als das Abfärben der individuellen Karrieren der Bewohner auf ihren Stadtteil angesehen werden (incumbent gentrification95).96 Das Leben in der Stadt führt zu einer »Ästhetisierung des Stadtraums«97 und so bildet sich eine urban konnotierte, von Gentrifizierung geprägte Form des urbanen Lebens heraus. Neben dem Wandel in Art und Ort der Erwerbstätigkeit ist die Emanzipation der Frauen –besonders deren Erwerbstätigkeit – ein weiterer wichtiger sozialer Faktor bei der Aufwertung von Innenstädten. So sind es überdurchschnittlich oft Frauen, die an Aufwertungen Anteil haben und diese entweder aktiv gestalten oder zumindest davon profitieren. Auf der anderen Seite gilt aber auch, dass Frauen – besonders als alleinerziehende Mütter – überdurchschnittlich von Benachteiligung betroffen sein können.98 Ferner zeigt sich auch hier, dass Gentrifizierung nicht nur die Folge von sich wandelnden Familienformen ist, sondern, dass auch hier die Wirkungen wechselseitig sind und »gentrifizierte Gebiete selbst neue Familienformen begünstigen.«99 So fördert innenstadtnahes Wohnen bspw. die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aufgrund kurzer Wege, engerer Beziehungsnetze etc.100
1.4.2 Ökonomische Faktoren Siebel geht davon aus, dass Prozesse einer Gentrifizierung »Kämpfe um städtische Territorien«101 beinhalten und dass bei diesen Kämpfen »alle Kapitalsorten eingesetzt«102 werden. Diese umfassen ökonomisches103, soziales104 und 94 So Holm, vgl. Holm 2012, 668. 95 Vgl. Siebel 2015, 226 f. Anders das sog. Kaskadenmodell, welches – im Gegensatz von Gentrifizierung – eine Bewegung von unten beschreibt und in Deutschland bestenfalls für die Jahre des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg zutreffend ist, vgl. aaO., 227–232. 96 Vgl. aaO., 223 f. 97 AaO., 233. 98 Vgl. Holm, 2012, 668 f. und Lenz 2007, 19–21. 99 Holm 2012, 669. 100 Vgl. ebd. 101 Siebel 2015, 233. 102 Ebd. 103 »Über ökonomisches Kapital verfügt, wer Geld oder geldwerte Besitztümer (Aktien, Immobilien etc.) sein eigen nennt.« (AaO., 220). 104 »Soziales Kapital sind Netzwerke, soziale Beziehungen, kurz ›Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen‹«. (Ebd.).
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kulturelles105 (symbolisches) Kapital und werden in der »Wechselstube«106 Stadt getauscht. Diese Werte lassen sich gegeneinander verrechnen und stellen somit die Güter auf dem Markt der Stadt dar und so können »[a]uf dem Immobilienmarkt […] Symbole zu Geld gemacht werden«107, was aus ökonomischer Sicht ein zentraler Grund für urbane Aufwertungsprozesse ist. Bei der Suche nach ökonomischen Rahmenbedingungen für Gentrifizierung muss man verschiedene Ebenen berücksichtigen. Auf der makroökonomischen Ebene gilt, dass eine Investition in bereits bestehende Bausubstanz nur vorgenommen wird, wenn sich eine entsprechend rentable Vermarktung abzeichnet, weil Neubauten normalerweise kostengünstiger als Renovierung und Wiedererschließung sind, da neben den sonst anfallenden Kosten (Bodenerwerb, Erschließung und Bau) »auch die abgebrochene Restnutzungsdauer des Bestandes berücksichtig[t]«108 werden muss. Folglich erfolgt eine Sanierung nur, wenn die geeigneten Mittel vorhanden sind und wenn eine entsprechende Rentabilität (»im Vergleich zu Stadterweiterungsmaßnahmen«109) zu erwarten ist. Dies erklärt, warum größere Maßnahmen der Aufwertung und Umstrukturierung der Innenstädte unter den Vorzeichen wirtschaftlicher Stagnation und dem Erreichen der Grenzen städtischer Expansion stattfinden. Insofern betrachten Holm u. a. das Ende des räumlichen Städtewachstums als Voraussetzung für innenstädtischen Wandel und Aufwertung. Auf mikroökonomischer Ebene findet eine Investition unter der Voraussetzung statt, dass eine Ertragslücke (Rent-gap-Theory nach Neil Smith110) besteht, die sich durch Sanierung schließen ließe und bei der die »Lücke größer ist als die Investitionssumme selbst.«111 Die Mieten steigen nach der Investition
105 »Kulturelles Kapital umfaßt [sic!] einmal das inkorporierte kulturelle Kapital. Das sind weiche Qualifikationen, die eine Person im Verlauf eines familialen Erziehungsprozesses erwirbt, und die in den formellen Ausbildungsprozessen von Schulen und Universität nicht vermittelt werden: der richtige Geschmack, gute Umgangsformen, das Wissen, wie man sich in bestimmten Situationen zu benehmen hat, Allgemeinbildung usw. Davon zu unterscheiden ist das objektivierte kulturelle Kapital: Kunstwerke, architektonisch herausragende Bauwerke, Theater, aber auch Musikinstrumente oder Bücher. Und schließlich das institutionalisierte kulturelle Kapital, das im wesentlichen mit zertifizierten akademischen Qualifikationen umschrieben ist.« (AaO., 220f). 106 Vgl. aaO., 220–222. »Die Stadt fungiert als Wechselstube, in der soziales und kulturelles Kapital in ökonomisches Kapital und vice versa verwandelt wird.« (AaO., 221). 107 Siebel 2015, 220. 108 Holm 2012, 664. 109 Ebd. 110 Vgl. Smith 1979. Holm spricht hier auch von der modifizierten westeuropäischen Value-GapTheorie, welche von denselben Grundannahmen ausgeht, vgl. Holm 2012, 665. Vgl. zu den Theorien auch Koch 2011, 94 f. 111 Holm 2012, 665.
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an und dies bedeutet i. d. R., dass die bisher ansässigen Bewohner das Gebiet verlassen müssen (also verdrängt werden). Dies ist dann nicht der Fall, wenn die Bewohner des Quartiers kollektiv aufsteigen und somit die Aufwertung entweder sogar veranlassen oder mindestens begrüßen und mitvollziehen können. Weil dies eher selten der Fall ist, muss die Bevölkerung i. d. R. (wenigstens teilweise) ausgetauscht werden.112 Siebel verweist aber darauf, dass »negative Umverteilungseffekte […] nicht notwendig alle Ansässigen [treffen].«113 Da die Bewohnerschaft eines Quartiers nicht homogen ist, trifft Aufwertung auch nicht alle Menschen gleichermaßen – viele werden zweifellos verdrängt, aber einige (»Wohlhabende und Aufsteiger«114) profitieren davon und ziehen Nutzen aus Gentrifizierung, da sich ihr Wohnviertel in ihrem Sinne positiv verändert und ihnen einen Umzug erspart. Insofern gibt es im Zuge von Gentrifizierung zweifellos Verlierer und Gewinner und nicht selten entstammen Vertreter beider Gruppen der lokalen Bevölkerung. Für die Verlierer kann dies auch bedeuten, dass sie das Quartier zwar nicht verlassen müssen, aber der Wandel ihren Kiez derart verändert hat, dass es sich wie ein Umzug anfühlt: »Man hat sein Zuhause verloren, ohne daß [sic!] man es verlassen hätte.«115 Die vertrauten Nachbarn und Strukturen verändern sich und »[s]o verschwindet allmählich die gewohnte Umwelt, die auf die Bedürfnisse der Eingesessenen zugeschnitten war […]. Wäre man jünger und hätte mehr Geld, würde man fortziehen.«116 Dies beschreibt ein ähnliches Phänomen wie bei Marginalisierung: Die Bewohner fühlen sich in ihrem Viertel eingeschlossen und schicksalhaft gefangen. Für diese Gruppe gilt, dass Prozesse der Gentrifizierung »mehr oder weniger erzwungene[…] Veränderungen der Sozialstruktur eines Viertels«117 sind. Eine weitere Begleiterscheinung von Gentrifizierung ist ein umfassender Wechsel der Eigentümer von zu sanierendem Wohnraum. Meist sind die Altbauten in Innenstadtnähe in privater Hand und eine Sanierung ist weder finanziell möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Dies ändert sich, wenn die Gebiete von Aufwertung betroffen sind und sich damit einhergehend die Prognosen ändern. Da aber die finanziellen Mittel auf privater Seite fehlen, werden die Häuser in diesem Fall meist an professionelle Immobilienfirmen und Verwaltungsgenossenschaften verkauft, welche eine entsprechende Sanierung finanzieren
112 Vgl. Siebel 2015, 224f und Holm 2012, 665. 113 Siebel 2015, 226. 114 Ebd. 115 AaO., 233. 116 Ebd. 117 Ebd.
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können.118 Dabei vollzieht sich meist ein Wandel der Wirtschaftsform von einer rentenorientierten in eine profitorientierte Ökonomie.119 Die Umnutzung städtischen Grundeigentums in Finanzanlagen wird von kritischen Wohnungsmarktforschern als eine zentrale Ursache für Gentrifizierung angesehen.120 Wenn sich dabei – wie dies häufig der Fall ist – Grundbesitz in direktem Besitz von Finanzinstitutionen befindet, dann findet eine »weitgehende Verschmelzung von Kapital- und Grundstücksverwertung«121 statt. Der Wechsel der Eigentümer verändert die Bewirtschaftungspraxis grundlegend und nachhaltig, da die neuen Besitzer weniger eine langfristige Perspektive verfolgen als das kurzfristige Erzielen von Gewinn. Insofern findet statt einer Wohnungsverwaltung eine Wohnungsverwertung statt, die zu einem Anstieg an Eigentumswohnungen führt, was dann zu einer starken Aufwertung des Viertels führt und dies wiederum jene verdrängt, die nicht über entsprechende finanzielle Ressourcen verfügen.122 Diese Aufwertung lässt aber nicht nur die Mietpreise steigen, sondern führt zu einem allgemeinen Anstieg der Lebenshaltungskosten und einem grundlegenderen Wandel des Quartiers, der über rein bauliche Maßnahmen hinausgeht. Das Image des Viertels ändert sich und »[a]m Ende ist eine neue Kultur des Quartiers entstanden.«123 Hier zeigt sich besonders deutlich, dass ein Austausch der Bewohnerschaft häufig nicht die Folge, sondern die Voraussetzung von Gentrifizierung ist und dies macht deutlich, dass Prozesse der Aufwertung nicht nur Effekte eines veränderten Angebots, sondern auch Resultat einer veränderten Nachfrage124 sind.125 Da aber »weder Angebots- noch Nachfragetheorie […] allein eine ausreichende Erklärung für die Gentrification [liefern]«126, müssen beide als einander ergänzend angesehen und es muss von einer monokausalen Betrachtung
118 Siehe der Aufsatz Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes von Andrej Holm, vgl. Holm 2008. 119 »Die neuen Wohnungsmarktakteur(inn)en […] in den Aufwertungsgebieten orientieren sich in der Regel nicht mehr an einer angemessenen Verzinsung des von ihnen erworbenen Grundstücks (Rente), sondern zielen auf die Amortisierung und einen Überschuss ihrer Investition (Rendite).« (Holm 2012, 666). 120 Vgl. ebd. 121 Ebd. 122 Vgl. ebd. und Häußermann et al. 2008, 241. 123 Siebel 2015, 232. 124 Zur Diskussion zwischen der Angebots- und Nachfragetheorie als »eine[m] der wichtigsten ›Schlachtfelder‹ der englischsprachigen Humangeographie der 1980er Jahre« (Glatter 2007, 17), vgl. aaO., 17 f. Vgl. dazu auch Koch 2011, 94–97. 125 Vgl. Holm 2012, 663.666 und Siebel 2015, 225f und 235. 126 Glatter 2007, 18. »Zudem kommt keine der Theorien ohne die andere aus, die Angebotstheorie ist auf die sich ändernde Nachfrage angewiesen und die Nachfragetheorie auf das sich ändernde Angebot.« (Ebd.).
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Abstand genommen werden.127 Das sog. Marktmodell bemüht sich um eine Integration beider Ansätze, konnte das exakte Verhältnis von Nachfrage und Angebot aber nicht klären.128 »Im sogenannten Mikro-Meso-Makro-Modell [siehe oben] wird Gentrification als neue und besondere Form der Segregation interpretiert.«129
1.4.3 Politische Rahmenbedingungen Neben den Faktoren von Nachfrage und Angebot kommt ebenso politischen Rahmen-bedingungen eine entscheidende Rolle bei Aufwertungsprozessen zu. Dies beinhaltet zunächst schlicht die Ermöglichung bzw. keine Verhinderung von privaten Maßnahmen zur Aufwertung und damit möglichen Umwertung eines Quartiers vonseiten der Politik. Darüber hinaus kann die Stadtpolitik auch Aufwertung durch eigene Beiträge anregen oder unterstützen. Ebenso kann der Gesetzgeber Prozesse der Aufwertung rechtlich regeln, begrenzen und deren faktische Umsetzung aktiv beeinflussen.130 Lange Zeit wurde der Einfluss der Politik in der internationalen Gentrifizierungs-Debatte nur lokal und punktuell untersucht und produzierte Ergebnisse mit einer lediglich lokalbegrenzten Reichweite. Seit der Jahrtausendwende jedoch wird die Rolle der Politik gezielter untersucht. Dabei findet sich im angloamerikanischen Diskurs eine Kritik an einer Stadtpolitik, die als neoliberal bezeichnet wird und eine Verdrängung ärmerer Bewohner beabsichtige, um die Stadt –besonders innenstädtische Quartiere – wieder zu beleben und in symbolischer und damit in wirtschaftlicher sowie touristischer Hinsicht aufzuwerten, um die jeweilige Stadt im Wettbewerb der Städte gut zu positionieren. Der deutsche Diskurs gewann besonders durch die Untersuchungen zu Stadterneuerungen in den neuen Bundesländern an Dynamik und befasst sich insbesondere mit den staatlichen Steuerungsinstrumenten.131 Diese können bspw. so aussehen: Um Verdrängungseffekten vorzubeugen, verfolgen manche Städte entweder das Konzept einer behutsamen Stadt-
127 »Beide Theorien erklären nicht, warum es nur in bestimmten Bestandsquartieren zur Gentrification kommt. Die Angebotstheorie kann nicht erklären, warum es nicht in allen Quartieren mit ökonomischen gaps zur Gentrification kommt, und die Nachfragetheorie kann nicht erklären, warum nicht in allen innenstadtnahen Wohnquartieren eine Nachfragesteigerung einsetzt.« (Ebd.). 128 Vgl. ebd. 129 AaO., 21. Dazu alternativ »ein zweites multikausales Mehrebenenmodell der Erklärung […] [welches] […], […] als iteratives Interdependenzsystem« (ebd.) beschrieben wird, vgl. aaO., 21 f. 130 Vgl. Siebel 2015, 224 f. 131 Vgl. Holm 2012, 670 f.
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erneuerung132, indem man (meist mit öffentlichen Mitteln) einen Stadtteil vorsichtig modernisiert, mit dem Ziel, dessen Sozialstruktur möglichst wenig zu verändern. Verfügt eine Stadt nicht über entsprechende Mittel, dann stellen partizipatorische Erneuerungsstrategien eine Alternative dar, bei der man die betroffenen Anwohner an dem Prozess beteiligt und ihre Interessen, Bedürfnisse und Ressourcen berücksichtigt, indem man sie rechtlich schützt. Für letztere Maßnahme lässt sich zwar eine Verhinderung von Verdrängung nachweisen, jedoch ebenso ein Zusammenhang zwischen dem sozialen und kulturellen Kapital der Betroffenen und deren Erfolg beim Kampf gegen Umverteilung. Verfügen die Anwohner nicht über ein geeignetes Maß an Bildung oder informellen Kontakten, können sie ihr Recht deutlich schlechter einklagen und geltend machen.133 Die Abschaffung einer Mietobergrenze134 durch die Verwaltungsgerichte, führte jedoch zu einem faktischen Rückzug der Politik aus der aktiven Gestaltung der Stadterneuerung. Die Folge ist, dass der »Staat […] auf private Investitionen für die bauliche Erneuerung angewiesen [ist], aber er hat faktisch keine Instrumente mehr, soziale Ziele durchzusetzen.«135 Diese Form von Stadterneuerung (postfordistisch) »zeichnet sich also durch einen weitgehenden Verlust staatlicher Steuerungsmöglichkeiten und durch eine Individualisierung von ›Betroffenheiten‹ aus.«136 Die Rahmenbedingungen und die Vertretung von Mieterinteressen werden damit nur noch durch den Markt (»private Ver-
132 Vgl. Häußermann et al. 2008, 229 ff. 133 Vgl. Siebel 2015, 234f und dazu auch Häußermann et al. 2008, 237–245. 134 Im Jahr 2015 hat die Bundesregierung die sog. Mietpreisbremse (Mietrechtsnovellierungsgesetz – MietNovG) eingeführt (http://www.mietpreisbremse.bund.de/WebS/MPB/DE/Home/ home_node.html – aufgerufen am 05.10.2017), deren Wirksamkeit jedoch umstritten ist. Vgl. dazu Deschermeier et al. 2014; Kholodilin/Ulbricht 2014; Kholodilin et al. 2016. »Die Ergebnisse dieses sogenannten Difference-in-Differences-Ansatzes legen nahe, dass die Mietpreisbremse den Anstieg der Mietpreise nicht entschleunigen konnte. Im Gegenteil: Sie hat kurzfristig sogar zu einem stärkeren Mietpreisanstieg in regulierten Märkten geführt. Auch scheinen Investoren der Auffassung zu sein, dass die Regulierung auch in Zukunft keine substanzielle Wirkung entfaltet: Die kausalen Effekte der Mietpreisbremse auf die Entwicklung der Wohnungspreise – als Reflektion zukünftiger Erträge aus der Vermietung – sind relativ gering.« Kholodilin 2016, 491. Vgl. auch das Modell (sowie das Programm von Bund und Ländern in Deutschland aus dem Jahr 2000) Soziale Stadt als Maßnahme zur Integration und Förderung entmischter Quartiere und segregierter Gruppen: https://www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_node.html (aufgerufen am 7.12.2018). Vgl. dazu auch Walther 2010; Schäfers 2010, 195–197 und Masson 2016, 34–40; BBSR 2009, 412f; Franke/Schnur 2016, 299–303 und allgemein zum Thema politische Programme zur Entwicklung von Quartieren vgl. Farwick 2012, 395 f. 135 Häußermann et al. 2008, 242. 136 Ebd.
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handlungen«137) und das Recht138, aber nicht mehr durch die Politik bestimmt, was die Berücksichtigung lokaler Besonderheiten und sozialer Interessen sowie historisch gewachsener Strukturen unterminiert.139 Das Fazit der Autoren um Häußermann: »Stadterneuerung ohne Steuerung – das ist voraussichtlich der Regelfall von Stadterneuerung in postmodernen, postfordistischen Zeiten.«140
1.4.4 Kulturelle Einflüsse141 und der Verlauf von Gentrifizierung nach Philip Clay Siebel zeigt, dass bei einer längerfristigen Betrachtung von Gentrifizie rungs prozessen deutlich wird, dass »am Anfang häufig kulturelle Veränderungen«142 stehen und eine »ökonomische Aufwertung […] erst später [kommt].«143 Solches beschreibt u. a. das Vier-Phasen-Modell von Philip Clay144, welches an den Beginn der Aufwertungsprozesse den Einsatz von kulturellem und sozialem anstatt ökonomischem Kapital stellt: Die erste Phase besteht darin, dass sog. (risikobereite) Pioniere145 (u. a. Studierende146 und jüngere Erwerbs137 Ebd. 138 So regelt das Baugesetzbuch (§ 172) die Schaffung sog. Erhaltungsgebiete, welche nur unter Auflagen saniert werden dürfen, um sowohl die städtebauliche Eigenart des Gebiets zu bewahren, die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung zu schützen oder eine mögliche städtebauliche Umstrukturierung zu beeinflussen (BauGB § 172,1). Vgl. aaO., 243–245. Zum I. und II. Wohnungsbaugesetz (WoBauG) vgl. Kujath 2010, 428 f. 139 Vgl. Häußermann et al. 2008, 240 ff. 140 AaO., 245. 141 Ausführlich zum Verhältnis von Stadtentwicklung und Kultur vgl. Siebel 2015, 189 ff. 142 Siebel 2015, 235. 143 Ebd. 144 Vgl. Clay 1979. Vgl. dazu auch Holm 2012, 671ff und Glatter 22f, hier besonders die grundsätzliche Kritik, dass eine empirische Überprüfung bisher nicht geleistet wurde bzw. nur unzureichend ist. 145 Siebel schreibt über die Pioniere: »Junge Erwachsene sind prädestiniert für die Rolle als ›Raumpioniere‹. Weil sie mobiler als andere Gruppen sind, etablierte Verhaltensnormen kritischer betrachten, sich bewußt [sic!] oder vorbeugt [sic!] von den Eltern und deren Lebensweisen absetzen und nicht zuletzt weil die Mieten für sie bezahlbar sind, lassen sie sich oft gerade in solchen Räumen nieder, die von den Etablierten gemieden werden. Wenn die Pioniere zuweilen auch ›Trüffelschweine‹ […] genannt werden, so wird das ihrer Rolle nicht ganz gerecht. Die Pioniere wühlen die Trüffel nicht unter dem Pflaster hervor, sie machen sie selbst, indem sie in bislang vernachlässigten Räumen eine Szene schaffen, die diese Räume interessant werden läßt [sic!]. Unter Einsatz ihres kulturellen Kapitals leisten sie eine zunächst rein symbolische Neudefinition, der dann Investitionen ökonomischen Kapitals, steigende Bodenpreise und im nächsten Schritt auch steigende Mieten folgen.« (Siebel 2015, 236f). 146 »Studierende tragen dazu bei, Quartiere zu lebendigen Vierteln mit Geschäften, Gastronomie und dezentralen Kulturangeboten zu formen. Solche Viertel sprechen dann durchaus unterschiedliche Bevölkerungsgruppen an, sofern auch das Wohnungsangebot vielfältigen Präferenzen gerecht wird. Bekannt ist das Phänomen gut verdienender, beruflich erfolgreicher Singles,
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tätige aus der Kultur- und Kreativwirtschaft147, die über ein hohes soziales und kulturelles Kapital verfügen148) in ein Viertel ziehen, teilweise Wohnungen und Häuser in Eigenleistung renovieren und somit diesen Stadtteil kulturell aufwerten, was diesen wiederum ökonomisch attraktiv macht (Zuzüge). Dies zieht die zweite Phase in Form von Zuzug weiterer Pioniere und punktueller Investitionen in die lokalen Immobilien durch professionelle Investoren (bauliche Aufwertungsarbeiten) nach sich. Die Folge ist eine wachsende mediale und öffentliche Bekanntheit und Attraktivität des Quartiers, was sich u. a. im Ansteigen der Bodenpreise und einer umfassenden Sanierung (dritte Phase) äußert (wohnungswirtschaftliche Wertsteigerung). An diesem Punkt des Prozesses findet Verdrängung statt, wenn sich Haushalte mit entsprechenden Ressourcen anpassen bzw. zuziehen (sog. Gentrifier149) und Bestandsbewohner sowie diejenigen Pioniere, die über keine angemessenen Ressourcen verfügen,
die in solch innerstädtische, studentisch geprägte Viertel, am liebsten in schöne Gründerzeitquartiere ziehen. In Universitätsstädten können viele Familien in diesem Segment nicht konkurrieren, denn studentische Wohngemeinschaften sind in der Lage, hohe Mieten für große Wohnungen zu zahlen. Das treibt die Preise.« (BBSR 2011b, 4). Vgl. zum studentischen Lebensstil aaO., 16. 147 Vgl. Merkel 2012: »[Z]um Kernbereich der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland [zählen]: Verlagsgewerbe, Filmwirtschaft, Rundfunk- und Fernsehwirtschaft, darstellende und bildende Künste, Literatur, Musik, Journalisten- und Nachrichtenbüros, Buch- und Zeitschriftenhandel, Museen und Kunstausstellungen, Architektur sowie Designwirtschaft.« (Merkel 2012, 692). Kreative Milieus beschreibt Janet Merkel so: »Ein Kreativ-urbanes Milieu stellt demnach eine Handlungs-situation dar, in der die Individuen besonders günstige Bedingungen für ihre Arbeit, aber auch für ihren Lebensstil vorfinden. Das Milieu ist für die Akteure zugleich Lebens- und Arbeitswelt, Lern- und Erfahrungs-raum, Markt, Kooperations- und Konkurrenzsituation und liefert ausreichend Gelegenheit für Symbolisierungen und Identitätskonstruktionen. Es kann zudem als Marke und Imageträger wirken und für die Arbeit der Akteure Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit erzeugen, weil der symbolische Wert eines Kreativen Milieus einen Marktvorteil für jene bietet, die darin arbeiten bzw. Zugang zu ihm haben« (Merkel 2012, 698). Merkel betont den Zusammenhang zwischen der Entstehung von Kreativen Milieus und Gentrifizierung, vgl. aaO., 698–703 und 706. Kritisch gegenüber der Annahme einer sog. Kreativen Klasse vgl. Glasauer 2008. 148 Zahlen und Fakten zu diesem Wirtschaftszweig vgl. Siebel 2015, 199–210. 149 »›Gentrifier‹ sind Haushalte, die innerstädtische Wohnstandorte bevorzugen. Gentrifier schätzen an innerstädtischen Wohnstandorten die Nähe zu ihren meist auch innerstädtisch gelegenen Arbeitsplätzen, die längeren Ladenöffnungszeiten und die Nähe zu Kultur- und Freizeiteinrichtungen. Ergänzend kommen die Qualitäten der Altbauten, wie z. B. größere Zimmer oder mehr Flexibilität bei der Nutzung der Wohnung als bevorzugte Aspekte hinzu. Der Wunsch nach Individualität, auch bei der Wohnform, und damit die Ablehnung standardisierter Wohnformen, wie suburbane Eigenheimsiedlungen, lässt sich in diesen Quartieren einfacher verwirklichen. Insofern können die Entstehung der Nachfragergruppe der ›Gentrifier‹ und der Prozess der Gentrification auch als Merkmale post-fordistischer Stadtentwicklung interpretiert werden. Die Entstehung der ›Gentrifier‹ ist demnach Ausdruck eines komplexen gesellschaft-
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das Viertel verlassen müssen. Diese Verdrängung verschärft sich in der vierten Phase, wenn sich Investitionen intensivieren und die verbliebenen Altmieter und Pioniere schließlich auch verdrängt werden und durch ökonomisch potente Haushalte (obere Mittelschicht) ersetzt werden (Verdrängung). Insgesamt entwickelt sich das Quartier in eine »sozial homogene Zone […] des Wohlstandes«150.151 Man könnte nun in Anschluss an eine Untersuchung von Loretta Lees152 noch eine fünfte Phase der »Super-Gentrifizierung« als »Re-Gentrifizierung«153 (»Gentrification und kein Ende«154) oder »dritte Welle der Aufwertung«155 bezeichnen, welche die mittelständischen Haushalte aus bereits gentrifizierten Gebieten vollständig verdrängt und nur noch Raum für Angehörige der Oberklasse lässt.156 Nach Einschätzung Siebels ist die Mischung, die benötigt wird, damit eine kulturell veranlasste Gentrifizierung stattfindet, eher selten, weshalb zu erwarten ist, dass diese »nur in prosperierenden Städten mit einer an urbanen Qualitäten interessierten Mittelschicht und dort nur an ausgewählten Standorten stattfindet.«157 Laut Siebel machen sich Projektentwickler (»Developer«158) dieses Phänomen gezielt zunutze und locken Pioniere (Künstler, Studierende etc.) mit preiswerten Mieten in vernachlässigte Gebiete in der Hoffnung, dass deren Anwesenheit diese Quartiere aufwertet und einen Anstieg der Bodenpreise zur Folge hat. Tritt dies ein, können Liegenschaften und Anwesen gewinnbringend veräußert werden. Ist das Vorgehen erfolgreich, dann hat der Wechsel von kulturellem in ökonomisches Kapital (»Ökonomisierung des kulturellen Kapitals«159) lichen und demographischen Wandels. Abkürzungen wie das schon seit den 1980er Jahren bekannte Yuppie (Young Urban Professionals), Dinks (Double Income No Kids) oder Bobos (Bohemian Bourgeousie) verdeutlichen diese Veränderungen.« (Koch 2011, 95). 150 Holm 2012, 672. 151 Vgl. Siebel 2015, 235f und Holm 2012, 671–673. 152 Vgl. Lees 2003, besonders 2501–2506: »By super-gentrification, I mean the transformation of already gentrified, prosperous and solidly upper-middle-class neighbourhoods into much more exclusive and expensive enclaves.« (AaO., 2487) Für das Beispiel Berlin-Prenzlauer Berg vgl. Holm 2011, 218–220. 153 Holm 2012, 678. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 Vgl. aaO., 678 f. Zum sog. doppelten Invasion-Sukzession-Zyklus (Friedrichs 1996), der empirisch jedoch umstritten ist, vgl. Koch 2011, 95 f. Zu den Phasen von Gentrifizierung in der Berliner Innenstadt (Berliner Aufwertungszirkel) vgl. Holm 2011, 214–218. Holm zeigt am Beispiel Berlins, dass verschiedene Verlaufsformen von Gentrifizierung existieren und diese je nach Gebiet, Rahmenbedingungen und Akteuren unterschiedliche Dynamiken besitzen (vgl. aaO., 218ff). 157 Siebel 2015, 238. 158 AaO., 239. 159 Holm 2012, 673.
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funktioniert: »Das individuell inkorporierte kulturelle Kapital der Pioniere hat sich auf diesem Wege in ein ortsgebundenes kulturelles Kapital transformiert.«160 Der Gewinn ist aber als einseitig zu betrachten, denn »[d]ie jungen Kreativen schaffen die Gewinnchancen auf den Immobilienmärkten, aber es sind die Immobilieneigentümer und Projektentwickler, die sich die Gewinne aneignen.«161 Dabei sind es aber nicht nur privatwirtschaftliche Akteure, die sich den »Trüffelschwein-Effekt«162 der Kreativen zunutze machen. Auch die Städte selbst haben den Einfluss derer mit hohem kulturellen Kapital (besonders der Künstler, aber auch der Kunst163 an sich) entdeckt und bemühen sich darum, diese städteplanerisch fruchtbar zu machen.164
1.5 Auswirkungen von Gentrifizierung Bei der Frage nach den Auswirkungen der Aufwertung innerstädtischer Gebiete tritt dasselbe Problem auf, welches auch bei anderen stadtsoziologischen Fragestellungen auftritt: Aufgrund der Komplexität und Fluidität des Gegenstandes ist die Erfassung und umfassende Darstellung von Aufwertungsprozessen mit ihren (faktischen und potentiellen) positiven wie negativen Folgen methodisch schwer umsetzbar. Insofern besteht die Schwierigkeit darin, sowohl die vermuteten als auch die faktisch zu beobachtenden positiven und negativen Effekte empirisch einwandfrei darzustellen. Diese methodische Problematik führt zu einer Unschärfe bei der Erfassung sowie Darstellung der Auswirkungen von Gentrifizierung. Diese Unschärfe wiederum führt zu einem kriteriologischen Problem: Betrachtet man Gentrifizierungsprozesse als »Kämpfe um städtische Territorien«165, dann heißt dies auch, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Dies führt häufig dazu, dass sich bei der Bewertung von Aufwertungsprozessen »oft stadtentwicklungspolitische und soziale Perspektiven gegenüber«166 stehen, was ein Blick auf die positiven wie negativen Folgen verdeutlicht. Das kriteriologische Problem entsteht dort, wo verschiedene Stadtforscher, Stadtentwickler und Ver-
160 Ebd. 161 Siebel 2015, 239. 162 Vgl. aaO., 237.242. 163 Zur sog. Bilbao-Strategie vgl. aaO., 244f und Wildner 2012, 213. Zur sog. Heritage-Industrie vgl. Siebel 2015, 244–246. 164 Vgl. aaO., 239–245. 165 AaO., 233. 166 Holm 2012, 673.
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treter unterschiedlichster Lobbys die Prozesse von Aufwertung aufgrund ihrer spezifischen Perspektive höchst unterschiedlich bewerten. Damit drücken sie die Ambivalenz aus, die dem Thema innewohnt und zudem ist ihre Bewertung auch ihren Interessen geschuldet und muss sich den Verdacht gefallen lassen, dass sie weniger von Fakten als von Annahmen und Vorentscheidungen geprägt ist. Dass bereits die Erhebung der Fakten schwierig ist, erschwert die Einschätzung und Bewertung des Phänomens umso mehr. Damit zusammenhängend zeigt sich bei der Bewertung dieser Auswirkungen eine gewisse Spannbreite. So verzeichnet der internationale Diskurs167 gewisse Schwankungen von einer überwiegenden Kritik der negativen Effekte von Verdrängung seit den 1980er Jahren168 hin zu einer überwiegenden Fokussierung der positiven Folgen seit der Jahrtausendwende.169 Tom Slater nennt drei Gründe, warum eine kritische Sicht in den Hintergrund getreten ist: 1. »The resilience of theoretical and ideological sqabbles.«170 Slater stellt fest, dass es ein Rückschritt wäre, wenn man eine Debatte aus den 1970er bis 1980er Jahren wiederholte, indem man Autoren, die verschiedene Perspektiven einnehmen und deshalb zu – scheinbar – gegensätzlichen Ergebnissen kommen, gegeneinander in Stellung brächte. Dies ignorierte den Umstand, dass der Diskurs vorangeschritten ist und ein umfassender Zugang zum Thema Gentrifizierung angemessen wäre. Insofern wäre es wichtig, dass Forscher erstens die differierenden Ansätze als Ergänzung betrachten und zweitens anerkennen: »gentrification is an expression of urban inequality and has serious effects, and that academics have a role to play in exposing these effects and perhaps even challenging them«171.172 2. »Displacement gets displaced.«173 Entgegen den Anfängen der Forschung über Gentrifizierung, wo Verdrängung ein zentrales Thema war, sei dieser Aspekt nach und nach aus der Debatte verdrängt worden. Dies habe laut Slater v. a. methodische Ursachen, weil es schwierig bis unmöglich sei, Verdrängung darzustellen, da Menschen, die verdrängt werden, meist schwer auffindbar und entsprechend schwierig zu befragen sind, was eine Untersuchung dieser Gruppe verunmöglicht und so viel bedeutet wie die »Messung des Unsichtbaren«174. Die Folge sei eine große Leerstelle in den meisten
167 Ähnlich der deutsche Diskurs, vgl. aaO., 675 f. 168 Vgl. Holm 2012, 673 f. 169 Vgl. ebd. und Slater 2006, 739 ff. 170 Slater 2006, 746. 171 AaO., 747. 172 Vgl. aaO., 746 f. 173 AaO., 747. 174 So Holm nach Atkinson, Holm 2012, 675.
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Veröffentlichungen zum Thema. Er plädiert deshalb dafür, sich die Mühe zu machen und nach Verdrängung als Folge von Aufwertung zu fragen und dieses Phänomen als ein »Kernelement von Gentrification«175 ernst zu nehmen und empirisch sichtbar zu machen.176 3. »Neoliberal urban policy and ›social mix‹.«177 Die dritte Beobachtung ist die, dass sich in vielen Stadtpolitiken ein neoliberaler Kurs durchgesetzt habe, der eine soziale Mischung der Bewohner als Vorteil und Aufwertung von Quartieren betrachtet – jedoch sei diese Mischung insofern einseitig, als dass diese lediglich von einem Zuzug wohlhabenderer Haushalte in sanierungsbedürftige Gebiete ausgeht, damit diese (kulturell und ökonomisch) aufgewertet werden. Dies hat aber meist eine Verdrängung der bisherigen Mieter zur Folge. Wenn soziale Mischung178 ein Wert an sich wäre, dann müsste man auch einen Zuzug von unterprivilegierten Haushalten in wohlhabende Stadtgebiete fordern und fördern – dies unterbleibt aber und wird nicht als erstrebenswertes Vorgehen bewertet, zumal ein grundlegendes Problem darin bestehe, dass die stadtsoziologischen Untersuchungen teilweise voreingenommen und »zensiert« seien, in dem Sinne, dass sie gewünschte Ergebnisse zutage fördern.179
175 So Florian Koch in seinem Artikel Georg Simmels »Die Großstädte und das Geistesleben« und die aktuelle Gentrification-Debatte. Eine Annäherung vgl. Koch 2011. 176 Vgl. Slater 2006, 747–749 177 AaO., 749. 178 Vgl. dazu Friedrichs 2010. »Die Diskussion darüber, wie ein Wohngebiet sozial gemischt sein sollte, ist ebenso alt wie ungelöst.« (AaO.,319). Die in der Literatur am meisten diskutierten Dimensionen sozialer Mischung sind: »sozialer Status (meist Einkommen), Haushaltsgröße, Wohnstatus (Eigentümer, privater Mieter, Sozialmieter) und Ethnie. Die Mehrzahl der Studien verwendet das Einkommen oder den Wohnstatus als Dimensionen der Mischung.« (aaO., 321). Zu den Effekten von Mischung schreibt er: »Die von der sozialen Mischung unterstellten Annahmen: räumliche Nahe → Kontakte → Interaktion → verringerte Vorurteile sind keineswegs zwingend […]. Damit Nähe überhaupt zu Kontakten führt, müssen die Personen u. a. einen ähnlichen sozialen Status haben.« (AaO. 322). (Dazu: »Nach einiger Wohndauer können Nachbarn zu Freunden werden; dies gilt vor allem dann, wenn sie den gleichen sozialen Status und ähnliche Normvorstellungen haben.« Neef 2011, 243). »Das eigentliche, in der Literatur unzureichend behandelte Problem ist daher, aus welcher Kombination unterschiedlicher Merkmale eine ›soziale Mischung‹ in einem Wohngebiet (neighborhood) oder Stadtteil besteht und bestehen soll.« (Friedrichs 2010, 322 – Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch Dangschat 2014. 179 Vgl. Slater 2006, 749–751: »This also applies to the case of policy research in Britain, where uncomfortable findings and academic criticisms of policy are often watered down by those who fund such research. Furthermore, when the language of gentrification is used in a research proposal, it is very difficult to secure research funding from an urban policy outlet to assess the implications of an urban policy designed to entice middle-class residents into workingclass neighbourhoods! A dirty word has its limits.« (AaO., 751).
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen sollen nun im Folgenden die positiven und negativen Effekte innerstädtischer Aufwertung dargestellt werden – eingedenk der Tatsache, dass diese äußerst ambivalent sind und nur in einer möglichst differenzierten und umfassenden Darstellung angemessen betrachtet werden können.
1.6 Die Ambivalenz von Gentrifizierungsprozessen Bei der Bewertung von Prozessen der Aufwertung stößt man zunächst auf das methodologische Problem, dass bei der Bestimmung der (positiven) Effekte von Gentrifizierung eine Differenz zwischen theoretischer Annahme und empirischem Nachweis besteht. So hat Tim Butler Anfang der 2000er Jahre das soziale Verhalten von Gentrifiern in London-Islington untersucht180 und kommt zu dem Schluss, dass die Angehörigen der Mittelklasse – besonders hinsichtlich der Bildung ihrer Kinder (»despite a strong rhetoric in favour of social integra� tion«181) unter sich bleiben und keine Vermischung mit Angehörigen statusniedrigerer Gruppen stattfindet: The prime example of this was schooling, in which as has been seen, only about half of the middle-class children are attending primary schools in the areas in which they live and none is in the borough’s secondary schools. The children only mix with other middle-class children and the parents’ social and leisure activities overwhelmingly involve people like themselves.182
Ähnliches gilt für eine interethnische Durchmischung innerhalb dieses aufgewerteten Stadtteils: »Whilst, therefore, difference, diversity and multicultur�alism remain important elements of the discourse of belonging, they do not play in the way this is lived out.«183 So bilanziert Butler für diese Untersuchung: »Gentrification has not so much displaced the working class as simply blanked out those who are not like themselves: they do not socialize with them, eat with 180 Aus der Zusammenfassung des Artikels: »The study demonstrates that in their day-to-day lives almost all the respondents [group of 75 gentrifiers in Islington] lived quite apart from nonmiddle-class residents in Islington. This was demonstrated by their educational strategies which involved finding schooling for their children out of the borough in both the private and state sectors. Their children had almost no contact with children from other social backgrounds.« (Butler 2003, 2469). 181 Ebd. 182 AaO., 2484. 183 Ebd.
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them or send their children to school184 with them.«185 Dieses Beispiel offenbart eine empirische Ernüchterung angesichts theoretischer Hoffnung. Gleichzeitig wird – in Erinnerung an die Komplexität des Themas – deutlich, dass diese Ergebnisse nur für diesen spezifischen Kontext gelten und nicht pauschal auf Aufwertungsprozesse per se übertragen werden können.186 Florian Koch entdeckt vier Themenbereiche, in denen noch offene Fragen bestehen, die teilweise seit Beginn der Forschung an Gentrifizierung (1960er Jahre) bekannt sind, aber bisher nicht überzeugend beantwortet werden konnten: 1. Ursachen für Gentrifizierung 2. Messung und Nachweis von Verdrängung 3. Wirkungen und Folgen von Gentrifizierung sowie deren Bewertung 4. Maßnahmen zur sinnvollen Gestaltung von Aufwertung und zur Abfederung möglicher negativer Effekte.187 Eingedenk dieser offenen Fragen können dennoch verschiedene Auswirkungen beobachtet und als eher positiv oder eher negativ beschrieben werden. Als positiv zu bewertende Effekte188 können folgende Auswirkungen gelten: • Aufwertung weitgehend verfallener Räume in der Nähe der Innenstadt – mit und ohne staatlicher Unterstützung, was den Leerstand reduziert • Bindung einkommensstarker Haushalte in der Stadt, was u. a. zu einem Anstieg der Steuereinnahmen führt • Reduzierung einer suburbanen Ausdehnung der Stadt, was Ressourcen schont 184 Vgl. dazu den Artikel Schulwahl von Eltern: Zur Geografie von Bildungschancen in benachteiligten städtischen Bildungsräumen von Anne Jurczok und Wolfgang Lauterbach, in welchem die Autoren anhand einer quantitativen Stichprobe in Berlin aufzeigen, dass Bewohner aus privilegierten Quartieren ihre Kinder auf lokale Schulen schicken (in 84 % der Fälle ist die Wahl lokal), wohingegen Kinder von bildungsnahen Eltern in benachteiligten Gebiete meist auf andere Schulen außerhalb des Bezirks (nicht lokale Entscheidungen liegen hier bei 50 %) abwandern, vgl. Jurczok/Lauterbach 2014. Aus dem Aufsatz: »Für Mittelschichtfamilien ist bekannt, dass mit steigendem Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund in einem Einzugsgebiet die Wahrschein-lichkeit steigt, dass Schulen außerhalb des Einzugsgebietes gewählt werden […]. Eltern aus der Mittelschicht üben so eine ›aktive Distanzierung‹ aus […], worin sich der elterliche Wunsch nach einer milieukonformen Schule ausdrückt. […] Für Deutschland offenbarte sich darüber hinaus, dass sich im Gegensatz zur Mittelschicht Familien mit einem geringen Bildungsstatus ›überzufällig häufig‹ […] an der lokalen, wohnortnahen Schule orientieren.« (AaO., 140f). Zu ähnlichen Tendenz in Berlin, vgl. auch Anheier et al. 2014, 27–29. Zur Wirkung von privaten Schulen auf Segregation vgl. Helbig/Jähnen 2018, 87–90. Über die Tendenz zur Abschottung der Mittelschichten vgl. auch Frank 2014, 168 f. 185 Butler 2003, 2484. 186 Vgl. dazu Keller et al. 2014, 11. 187 Vgl. Koch 2011, 103 f. 188 Vgl. aaO., 101.
1. Soziale Segregation als Gentrifizierung
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• allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung durch Aufwertung • Anreiz zu nachhaltigen Investitionen • Förderung sozialer Mischung durch Zuzug wohlhabender Haushalte Als negativ zu bewertende Effekte189 können folgende Auswirkungen beschrieben werden: • Reduzierung bezahlbaren Wohnraums für ärmere und ältere Bevölkerungsgruppen – vor allem in Innenstadtnähe und somit Verdrängung dieser Bevölkerungsteile durch steigende Mieten und Lebenshaltungskosten • Verursachung von Folgeschäden190 durch Verdrängung (z. B. Obdachlosigkeit191) • Bindung von Wohnraum als Spekulationsmasse • lokale Preissteigerungen und damit Reduktion verfügbaren und preiswerten Wohnraums sowie möglicher Leerstand von Wohnraum • höhere Begleitkosten aufgrund von aufwendigerem Lobbyismus • Förderung von städtischer Entmischung und Polarisierung, was kommunale Spannungen und Konflikte fördern kann • Aufwertungsdruck für umliegende Gebiete (v. a. ärmere Quartiere mit Sanierungsbedarf) Verdrängung – als ein »Kernelement«192 von Gentrifizierung – muss dabei mit Koch193 in vier Hinsichten differenziert werden, die sich jedoch alle empirisch nur schwer nachweisen lassen194: a) Direct last-resident displacement oder ökonomische/physische Verdrängung der bisherigen Bewohner: Aufgrund gestiegener Preise können die bisherigen Bewohner eines Gebiets die Mieten (und Lebenshaltungskosten) nicht mehr zahlen und sind genötigt, das Quartier zu verlassen (ökonomische Verdrängung). Bei physischer Verdrängung werden die Bewohner mit Gewalt gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen bspw., damit sie eine geplante Sanierung nicht verhindern.
189 Vgl. ebd. 190 Für den Zusammenhang zwischen dem Verlust der eigenen Wohnung, einer damit einhergehenden sozialen Verunsicherung und einem daraus resultierenden drohenden sozialen Abstieg, vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 163–168. 191 Vgl. dazu Mayerhofer 2008, besonders 505–508. 192 Vgl. Koch 2011, 97 ff. 193 Vgl. aaO., 97 f. 194 Die Ursachen dafür sieht Koch in a) der Langfristigkeit von Aufwertungsprozessen b) einer schwer zu bestimmenden Unterscheidung von normalen Umzügen und solchen, die durch Verdrängung veranlasst sind und c) eine mangelnde Datenverfügbarkeit, vgl. aaO., 98.
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b) Direct chain displacement oder Ketten-Verdrängung: Nach und neben den ursprünglichen Bewohnern werden auch diejenigen verdrängt, die erst kürzlich in die entsprechenden Wohnungen gezogen sind. Dies betrifft u. a. die sog. Pioniere, die anfangs das Gebiet kulturell aufgewertet haben und nun im Zuge der dadurch ausgelösten Aufwertung selbst verdrängt werden (siehe oben). c) Exklusionary-dicplacement: Hierbei handelt es sich gewissermaßen um eine passive Verdrängung, da dies Haushalte betrifft, die nicht in eine bestimmte Wohnung (oder Wohngegend) ziehen konnten, da dieses Gebiet aufgewertet wurde und somit für diese Haushalte nicht mehr bezahlbar ist. d) Displacement pressure: Durch die soziale und kulturelle Wandlung eines Quartiers wird dieses für bestimmte Haushalte unattraktiv und deshalb verlassen sie dieses. Schließlich kann sich ein Haushalt auch selbst verändern (durch sozialen oder beruflichen Aufstieg) und somit wird ein Urban-Pionier-Haushalt verdrängt, »ohne dass überhaupt ein Umzug stattfindet.«195 Dies ist empirisch jedoch schwer nachweisbar, da solch detaillierte Daten meist nicht vorliegen bzw. aufwendig zu erheben sind. Dies konfrontiert die Stadtforschung mit dem Dilemma, dass Verdrängung einerseits als zentrales Problem von Gentrifizierung identifiziert wird und andererseits empirisch äußerst schwer nachweisbar und somit eine stark hypothetische Annahme ist. Koch schlussfolgert: »Verdrängung wird häufig stärker vermutet als empirisch dargelegt.«196 Diejenigen empirischen Untersuchungen, die dieser Frage explizit nachgehen, bestätigen Kochs Vermutung.197
195 Ebd. 196 AaO., 98 f. 197 Vgl. dazu die kleinräumige Untersuchung in Brüssel (vgl. Van Criekingen 2008 und Van Criekingen/Decroly 2003) in Koch 2011, 99.
2. Soziale Segregation als Marginalisierung
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2. Soziale Segregation als Marginalisierung198 2.1 Einleitung Über die Ambivalenz von Städten schreibt Papst Franziskus: Es gibt Bürger, die die angemessenen Mittel für die Entwicklung des persönlichen und familiären Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr viele ›Nicht-Bürger‹, ›Halbbürger‹ oder ›Stadtstreicher‹. Die Stadt erzeugt eine Art ständiger Ambivalenz. Während sie nämlich ihren Bürgern unendlich viele Möglichkeiten bietet, erscheinen auch zahlreiche Schwierigkeiten für die volle Lebensentfaltung vieler.199
Dabei dient die Stadt gleichsam als Projektionsfläche der sozialen Umstände der Gesamtgesellschaft. Wenn die soziale Spreizung einer Gesellschaft zunimmt, dann ist dies auch in einer zunehmenden Segregation in den Städten zu beobachten.200 Dass soziale Segregation ein Problem ist, wird erst vor dem Hintergrund der sog. »offenen Gesellschaft« mit der Forderung »gleicher Lebenschancen und kultureller und religiöser Gleichberechtigung«201 deutlich, da sie bestimmten Menschen genau diese Möglichkeiten verschließt und somit dem Ideal einer »offenen Gesellschaft« entgegensteht. Die Forderungen der »offenen Gesellschaft« können ebenso theologisch formuliert werden: Mann und Frau als Ebenbild Gottes haben eine unverwechselbare und unantastbare Würde, die für jeden Menschen gilt. Eine pauschale Bevorzugung oder Benachteiligung einer bestimmten Gruppe, aufgrund welcher Faktoren auch immer, ist darum nicht legitim. Ferner ist die besondere Identifikation Jesu mit den Armen und Gefangenen (vgl. u. a. Mt 25,31ff) bleibende Forderung und Anspruch an menschliches und besonders kirchliches Handeln. Insofern muss soziale Segregation auch aus christlich-biblisch-theologischer Perspektive als Problem betrachtet werden; bedeutet Segregation doch letztlich nichts anderes als Ausgrenzung und Benachteiligung – und dies nicht selten ohne Zutun der Betroffenen. Laszlo Vaskovics beschreibt Marginalisierung als ein »Prozess, bei dem Personen, Gruppen, soziale Kategorien (z. B. Arme, ethnisch- religiöse Minderheiten) an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und dadurch ihre 198 Zu alternativen Begriffen s. o. § 6 Abs. 4. 199 Franziskus 2013, 70. 200 Vgl. Farwick 2012, 383ff und Gornig/Goebel 2013, 57 ff. 201 Häußermann/Siebel 2004, 153.
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gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe erschwert oder verhindert wird. Es handelt sich hier um einen Prozess der gesellschaftlichen Ausschließung. Es gibt aber auch Selbstmarginalisierungen.«202 In der bereits zitierten Studie von Helbig/Jähnen zu 74 deutschen Städten (mit mind. 100.000 Einwohnern) zeigen die Autoren, dass soziale (Armuts-) Segregation203 seit den 1990er Jahren stetig zugenommen hat und dies besonders im Osten Deutschlands. Sie schreiben in der Zusammenfassung der Studie: In vergangenen Studien wurde beobachtet, dass die Segregation der Armen ab Mitte der 1990er Jahre bis 2004 zugenommen hat. Wir zeigen, dass sich die Entwicklung auch nach der Hartz-IV-Reform des Jahres 2005 fortsetzt: In vielen deutschen Städten ballen sich Personen mit Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGBII-Bezieher) zunehmend in bestimmten Stadtteilen. Besonders hat sich die Situation in den meisten ostdeutschen Städten verschärft.204
Für die Zeit ab 2005 schreiben sie: Allein zwischen 2005 und 2014 ist es […] durchschnittlich zu einem Anstieg der sozialen Segregation um 10,5 Prozent in den deutschen Städten gekommen. […] 2014 liegt die soziale Segregation in den ostdeutschen Städten bei 32,2, im Westen hingegen bei 25,1. Damit kam es in Ostdeutschland in nur neun Jahren zu einem Anstieg um 23,4 Prozent, im Westen waren es nur 8,3 Prozent. Ferner ist in den westdeutschen Städten spätestens seit 2011 kein bzw. nur ein minimaler Anstieg der sozialen Segregation festzustellen, wohingegen der Anstieg im Osten ungebrochen anhält.205
202 Vaskovics 2014, 280. 203 Zur Datengrundlage: »Aus Gründen der Datenverfügbarkeit konnten wir in sozialer Hinsicht nur die Armutssegregation betrachten, nicht aber die Reichtumssegregation.« (Helbig/Jähnen 2018, 117). 204 AaO., I. Hervorhebung im Original. 205 AaO., 28 f. »Die im Jahr 2005 stärker ausgeprägte soziale Segregation in den ostdeutschen Städten gegenüber westdeutschen Städten ist überraschend, insofern für erstere noch 1995 eine sehr geringe soziale Segregation beobachtet wurde […]. Innerhalb von zehn Jahren hat es in den ostdeutschen Städten demnach eine solch massive Veränderung in der sozialen Architektur gegeben, dass es in den ehemals sozial gemischten Städten eine größere Polarisierung gab als in den westdeutschen Städten. Segregation ist ein zumeist langsam ablaufender Prozess und Segregationsindizes steigen im Allgemeinen nicht sprunghaft an.« (AaO., 29). Zu den Ursachen vgl. aaO., 95–112.
2. Soziale Segregation als Marginalisierung
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Die zehn Städte mit dem höchsten Werten sind (in der Reihenfolge abnehmend – Stand 2014): Schwerin, Rostock, Erlangen, Erfurt, Wolfsburg, Potsdam, Weimar, Kiel, Ingolstadt und Halle/Saale.206 Die zehn Städte mit dem höchsten durchschnittlichen jährlichen Anstieg (zwischen 2005 und 2014) sind: Rostock, Schwerin, Potsdam, Halle/Saale, Erfurt, Weimar, Kiel, Jena, Leipzig, Köln.207
2.2 Ursachen von Marginalisierungsprozessen Jörg Blasius konstatiert, dass die Themen »Armut208 und räumliche Segregation, […] über Jahrhunderte hinweg unmittelbar miteinander verbunden sind.«209 Insofern muss eine Betrachtung von sozialer Segregation als Marginalisierung unter den Gesichtspunkten von Armut210 und Wohlstand sowie Teilhabe und Chancengleichheit betrachtet werden. Dabei sind diese Themen eng miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig.
2.2.1 Gentrifizierung und schwindende Wahlfreiheit Wie oben dargestellt, besteht eine Ursache für Marginalisierung in der Gentrifizierung von Stadtgebieten, da es durch die Aufwertung von Wohngebieten zu einer Verdrängung derer kommt, für die ein Verbleib in einem solchen »gentrifizierten« Quartier nicht mehr finanzierbar ist. Diese Menschen sind dann meist gezwungen, in eine Gegend zu ziehen, deren Wohnraum sie bezahlen können und dies sind häufig Gebiete, die wiederum von solchen Menschen verlassen werden, die sich eine bessere Wohnlage leisten können. Hierbei handelt es sich um Gebiete, die als prekäre Wohnverhältnisse identifiziert werden: »Sozialer
206 Vgl. aaO., 30. 207 Vgl. aaO., 31. »Bezogen auf die räumliche Verteilung von Niedriglohnbeziehern untermauern statistische Kennzahlen, dass Berlin und Hamburg neben Frankfurt und Leipzig zu den am stärksten segregierten Großstädten gehören. München ist dagegen neben Stuttgart und Essen eine der Städte, in denen die verschiedenen Einkommensgruppen am wenigsten getrennt leben.« (Vom Berge et al. 2014, 8). 208 Dazu die Feststellung Annika Müllers: »Armut wird jünger« (Müller 2012, 421). 209 Blasius 2011, 160. 210 Zum Begriff und gängigen Definitionen vgl. Blasius 2011, 159 f.
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Wohnungsbau211 und einfache Mehrfamilienhäuser; Nicht modernisierter Altbau; Älterer sozialer Wohnungsbau; Soziale Brennpunkte.«212 So begegnet auch hier, die oben dargestellte Staffelung von Wahlfreiheit: Haushalte mit einem sehr hohen bis hohen Einkommen können (abgesehen von Diskriminierungen) ihren Wohnraum mehr oder weniger unabhängig vom Mietpreis wählen. Diese Freiheit sinkt213 mit abnehmender Einkommensstärke der Haushalte (eine Zunahme von Restriktionen zuungunsten der Präferenzen214).215 Grundlegend gilt, dass die Mehrheit der Bürger ihren Wohnraum frei wählt und wählen kann (nur einer geringen Zahl von Haushalten wird Wohnraum zugewiesen, wenn Obdachlosigkeit oder sog. Substandardwohnen droht216). Diese Freiheit wird jedoch für einkommensschwache Haushalte zunehmend eingeschränkt, nicht zuletzt dadurch, dass zahlreiche innerstädtische Gebiete durch Sanierung aufgewertet werden und das Angebot bezahlbaren Wohnraums weiter sinkt. Dabei wirkt die zunehmende Nachfrage nach hochwertigem innerstädtischem Wohnraum auf Seiten einkommensstarker Haushalte aufgrund von Prozessen gesellschaftlicher Polarisierung217
211 Zur Rolle des sozialen Wohnungsbaus kommen Helbig/Jähnen zu folgendem Ergebnis: »Das Mantra vom sozialen Wohnungsbau scheint also zunächst keine Wirkung gegen soziale Segregation zu zeitigen, sondern sich sogar segregationsverschärfend auszuwirken.« (Helbig/ Jähnen 2018, 87). Sie präzisieren ihre Ergebnisse jedoch und schränken ein: »Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass Sozialwohnungen kein wirksames Mittel zur Bekämpfung sozialer Segregation sind. Sie sagen lediglich aus, dass die soziale Segregation in jenen Städten höher ist, wo auch der Anteil von Sozialwohnungen besonders hoch ist. Das ist vermutlich auf die Konzentration von Sozialwohnungen in wenigen Quartieren zurückzuführen. Je mehr dieser räumlich konzentrierten Sozialwohnungen es gibt, desto höher ist auch die Armutssegregation in einer Stadt.« (Ebd.), vgl. aaO., 86 f. Vgl. auch aaO., 71 und 94 (H5). Allgemein zum sozialen Wohnungsbau vgl. Kujath 2010. 212 BBSR 2009, 409. 213 Gerade wenn Menschen von unfreiwilliger Segregation betroffen sind, stellt »[d]er Verlust der angestammten Wohnung […] häufig de[n] Beginn eines Ausgrenzungsprozesses [dar], in dem buchstäblich der ›soziale Halt‹ verloren geht.« (Häußermann/Kronauer 2009, 163) Der Tatbestand eines unfreiwilligen Umzugs und damit einhergehender Entmischung ist ein eindrücklicher Hinweis auf Marginalisierung als Entzug von Gestaltungsfreiheit und Teilhabe. 214 Zu diesem Verhältnis schreiben Häußermann/Siebel: »Im Normalfall kommen Wohnstandortentscheidungen in einer Annäherung von Präferenzen und Restriktionen zustande, wobei mit abnehmender Bedeutung von Restriktionen die persönlichen Präferenzen an Gewicht gewinnen«, (Häußermann/Siebel 2004, 154). 215 Wiederum zeigt sich, dass unter den Bedingungen eines entspannten Wohnungsmarktes ein hohes Maß an selektiver Emigration i. S. v. Wanderungsbewegungen sozial besser gestellter Haushalte aus benachteiligten Gebieten zu beobachten ist, da sie über eine größere Optionenvielfalt bei vergleichsweise geringen Kosten verfügen, vgl. Farwick 2012, 386 f. 216 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 154. 217 Vgl. Farwick 2012, 386 und Kronauer/Siebel 2013a.
2. Soziale Segregation als Marginalisierung
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als Katalysator von Gentrifizierung218 und sorgt dafür, dass »die einkommensschwachen Haushalte in immer stärkerem Maße auf diejenigen Wohnungsbestände angewiesen [sind], die von der übrigen Bevölkerung aufgrund ihrer geringen Wohnqualität weitgehend gemieden werden.«219 Somit ist Marginalisierung gleichsam die Kehrseite von Gentrifizierung und zeigt, dass beide Phänomene eng zusammenhängen.
2.2.2 Privatisierung Eine weitere Reduzierung preiswerten Wohnraums und damit eine weitere Einschränkung der Wahlfreiheit geschieht durch eine zunehmende Privatisierung (ehemals) kommunaler Wohnungsbaugesellschaften, was dazu führt, dass Wohnungen meist verkauft werden und somit als bezahlbare Mietwohnungen vom Wohnungsmarkt verschwinden.220 Hinzu kommt der kontinuierliche Rückgang des staatlichen sozialen Wohnungsbaus (Abnahme des Bestands an Sozialwohnungen am Beispiel Westdeutschland: 1987: 4 Mio.; 2003: 2,1 Mio. und Prognose für 2020: 1,2 Mio.221), der ebenfalls einen Rückgang bezahlbaren Wohnraums in innerstädtischen Lagen zur Folge hat und somit Entmischung zusätzlich fördert.222 Mit einer zunehmenden Privatisierung des Wohnungsbaus223 entsteht eine Situation, wie sie für die Zeit vor 1918 typisch war, als »der Wohnungsbau fast ausschließlich in den Händen von Privatpersonen und privatwirtschaftlicher Gesellschaften«224 lag. Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass der Faktor der individuellen Präferenz besonders abhängig von dem Faktor der individuellen finanziellen (bzw. ökonomischen) Restriktion (bzw. Ressourcen)225 ist und dazu führt, dass Angehörige einkommensschwacher Haushalte ihre Wohnsituation zunehmend als unfrei und schicksalhaft erleben, da sie sich in Quartieren wiederfinden, die nicht unbedingt dem entsprechen, was sie bei entsprechenden eigenen Möglichkeiten selbst gewählt hätten und als erstrebenswert betrachten. Diese Gebiete kommen aufgrund ihrer schlechten Lage (z. B. in der Nähe von Gewerbegebieten) und ihrer ungenügenden infrastrukturellen Anbindung sowie ihrer 218 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 154 f. 219 Farwick 2012, 386. 220 Vgl. aaO., 385–387. 221 AaO., 385. 222 Vgl. dazu Kujath 2010, 430f und Préteceille 2013, 33–40. 223 Vgl. Holm 2008. 224 Häußermann/Siebel 2004, 156. 225 Neben finanziellen (ökonomischen) Restriktionen bzw. Ressourcen nennen Häußermann/ Siebel noch kognitive, soziale und politische Ressourcen, die bei der Wahl des WohnOrts entscheidend sind, vgl. aaO., 157 f.
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zunehmend homogenen Bewohnerschaft meist für eine Sanierung und damit eine Aufwertung nicht in Betracht. Somit sind die Bewohner zwar vor Verdrängung geschützt, jedoch sind sie auch in ihrem Viertel und dessen tendenziell prekären Situation »gefangen«.
2.2.3 Prekarisierung der Arbeitswelt Der Begriff der Prekarisierung umfasst »Situationen potenzieller Armut, die an Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses gebunden sind.«226 und kann auch als allgemeine »Prekarisierung der Arbeitswelt«227 beschrieben werden. In der Forschung ist deutlich geworden, dass sich die Arbeitsbedingungen für weite Teile der Gesellschaft verändert haben, was zu einer grundlegenden Situation der Unsicherheit geführt hat und führt, die sich u. a. darin ausdrückt, dass »eine [als] vorläufig gesicherte Position rasch in eine ungesicherte umschlagen kann.«228 Denn einerseits ist das soziale Sicherungsnetz durch die Familie ausgedünnt und somit zunehmend keine schützende Größe mehr und andererseits können die sozialstaatlichen Hilfen neben ihrem Potential zu Hilfe und Selbsthilfe auch zu einem weiteren Faktor der Exklusion werden, da sie selbst auch zu Stigmatisierung und Diskriminierung führen.229
2.3 Verlauf von Marginalisierungsprozessen Häußermann/Siebel sprechen von einem »Fahrstuhleffekt« (»eine Etage tiefer in der Sozial- und Prestigeskala«230 – siehe Abb. 2) nach unten, wenn sie die Entwicklung von sozial marginalisierten, benachteiligenden Gebieten nachzeichnen. Meist begann es damit, dass die Arbeiterviertel der Städte von dem Wandel der Städte (z. B. von »Deindustrialisierung der städtischen Ökonomie
226 Müller 2012, 428. 227 AaO., 431. 228 AaO., 428. 229 Vgl. aaO., 425–428. »Prekarisierung, Exklusion und Stigmatisierung lassen sich als ein postfordistischer Modus von Ausgrenzung verstehen. Dieses geht häufig mit dem Verlust des Arbeitsplatzes einher und beginnt mit der erfolglosen Suche eines Ausbildungsplatzes oder einer Lehrstelle. Verunsicherung, Rückzug aus sozialen Netzen, Apathie, Gefühle des Ausschlusses, des Nicht-Dazugehörens und des Überflüssigseins können die schwerwiegenden Folgen sein. Wenn jeder erneute Versuch des Aktivierens der betroffenen Person durch den Wohlfahrtstaat i. S. v. Partizipation, Empowerment oder Weiterbildung scheitert, folgen vermehrt Gefühle der Verunsicherung.« (AaO., 428). 230 Häußermann/Siebel 2004, 162.
2. Soziale Segregation als Marginalisierung
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sowie den zyklischen Krisen am Arbeitsmarkt«231) in den letzten Jahrzehnten und den damit verbundenen Wirtschaftskrisen härter getroffen wurden als andere Viertel und hier besonders die gering- oder unqualifizierten Industriearbeiter232, die dann zumeist keine alternative Beschäftigung fanden und so in die (Langzeit-)Arbeitslosigkeit233 rutschten: »Aus den Arbeitervierteln wurden […] Arbeitslosenviertel.«234 Die Kaufkraft nahm ab und das ökonomische Niveau der Viertel sank. »Entsprechend nimmt in diesen Gebieten das Ausmaß an Arbeitslosigkeit und Armut überdurchschnittlich zu.«235
Abb. 2: Verlauf von Marginalisierungsprozessen Quelle: Häußermann/Siebel 2004, 161
Der Prozess des sozialen Abstiegs ganzer Viertel führt zu selektiver Mobilität, das heißt, dass diejenigen, die es sich leisten können, wegziehen (i. d. R. Haushalte, die erwerbstätig und sozial besser integriert sind sowie Familien mit Kindern, die Stabilität und lokalen Zugang zu Bildung und Erziehung suchen236)
231 Farwick 2012, 386. 232 Vgl. ebd. 233 Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gehen zunächst »Prekarisierung, Verwundbarkeit und Marginalisierung« einher, welche jedoch auch in »Exklusion enden und sich verfestigen« (Müller 2012, 428). 234 Häußermann/Siebel 2004, 160. 235 Farwick 2012, 386. 236 Vgl. ebd.
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und die übrigen bleiben gezwungenermaßen zurück. Von denen, die nun aber hinzuziehen, sind viele (bzw. die meisten) erwerbslos und häufig Zuwanderer, weil sie in den übrigen Quartieren aufgrund hoher Kosten, mangelnder eigener Ressourcen sowie Diskriminierung237 keinen Wohnraum finden (»selektive Migration«238). Dies wandelt »ehemalig einkommensschwache aber dennoch sozial stabile[…] Arbeitergebiete«239 in »Armutsgebiete mit einem überdurchschnittlichen Anteil einkommensarmer Bevölkerungsgruppen«240 mit der Folge einer Entstehung von Problemgebieten241 bzw. von sozialen Brennpunkten: »Die integrierten Quartiere schließen sich sozial ab und geben die sozialen Probleme in die damit schon besonders belasteten Nachbarschaften weiter. Durch den kollektiven Abstieg und durch die selektive Mobilität […] entsteht ein Milieu der Armut und Ausgrenzung, das für die benachteiligten Bewohner zusätzliche Benachteiligungen zur Folge hat.«242 Da die Bewohner eines Viertels dieses prägen, können sich bei zunehmender Entmischung vorherrschende Milieus verfestigen und zu einer bestimmten Kultur in einem segregierten Quartier führen und deshalb »ist die soziale Zusammensetzung der Quartiersbevölkerung von Bedeutung.«243 So kann die soziale Homogenisierung eines Gebietes, besonders wenn die Mehrheit der Bewohner einem eher sozial schwachen Milieu angehört, ein weiterer Aspekt von Benachteiligung sein. Friedrichs/Triemer legen dar, dass dieser Effekt eine Hypothese zur Erklärung steigender Armut von Wohngebieten ist und »eine stetig zunehmende und überdurchschnittlich starke Verarmung der Bewohner in benachteiligten Gebieten«244 zur Folge hat (Struktureffekt oder Kontexteffekt). Antje Güles und Gabriele Sturm zeigen auf der Grundlage von Daten der Innerstädtischen Raumbeobachtung des BBSR (IRB)245 (sowie des Mikrozensus [2011]), dass die armutsgefährdeten246 Haushalte in verschiedenen Städten an unterschiedlichen Orten zu finden sind:
237 Zu der Erfahrung von Benachteiligung vgl. Destatis 2016, 241 f. 238 Vgl. Farwick 2012, 386. 239 Ebd. 240 Ebd. 241 »Sie sind durch einen hohen Anteil von Haushalten mit multiplen sozialen Problemen gekennzeichnet, die sich auch in auffälligem als störend empfundenem Verhalten im öffentlichen Raum niederschlagen (Alkoholismus, aggressives Verhalten, Vermüllung).« (Häußermann/ Siebel 2004, 162). 242 AaO., 160. 243 Häußermann/Kronauer 2009, 158. 244 Friedrichs/Triemer 2009, 15. 245 Zur Liste der IRB-Städte vgl. Güles/Sturm 2014, 67. Vgl. dazu auch BBSR 2011b, 2. 246 Indikator zur Armutsgefährdung ist primär SGB II-Abhängigkeit. Hinzu kommen die Faktoren Einpersonen- und Alleinerziehendenhaushalt, vgl. aaO., 68ff und 76 ff.
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Die Differenzierung nach regionaler Einbettung und nach innerstädtischer Lage zeigt zudem, dass die Wohngebiete mit armutsgefährdeten Haushalten in recht unterschiedlichen Lagen zu finden sind. So weist die Mehrheit der innenstädtischen Stadtteile der großen altindustriell geprägten Ruhrgebietsstädte einen hohen Anteil von Bedarfsgemeinschaften auf. Dort handelt es sich nahezu durchgängig um im Krieg stark zerstörte Wohngebiete, die Ende der 1940er und in den 1950er Jahren wieder aufgebaut wurden. Sofern diese in der Zwischenzeit nicht für Nachnutzungen abgerissen wurden, zeigen sie mehrheitlich deutlichen Sanierungsbedarf und bieten zugleich günstige Mietpreise. In den ostdeutschen Großstädten leben Bedarfsgemeinschaften hingegen am häufigsten in Wohngebieten des Innenstadtrandes. Dabei handelt es sich mehrheitlich entweder um gründerzeitliche Baustrukturen, die erst zum Teil bzw. teilsaniert sind, oder um nach der Wende sanierte Plattenbausiedlungen, die gleichwohl ihre finanziell potentere Bewohnerschaft verloren haben.247
2.4 Auswirkungen von Marginalisierung als sogenannte Kontexteffekte248 Häußermann/Siebel weisen darauf hin, dass die Annahme eines benachteiligenden Effektes eines Viertels249 (»der Wohnort [ist] als solcher bereits zu einem Faktor der Benachteiligung avanciert«250) umstritten ist und nicht von jedem
247 AaO., 79. Zum Grad der Segregation: »Die Indizes für residenzielle Segregation liegen höher, ohne für die Gesamtheit der Städte bereits auf starke Konzentrationen armer Bevölkerung hinzuweisen. Für Bedarfs-gemeinschaft insgesamt liegt die Spannbreite des IS [Segregationsindex] zwischen.12 und.33 mit einem Median bei.24. Für SGB-II-abhängige Alleinerziehendenhaushalte liegt die Spannbreite des IS zwischen.08 und.54 mit einem Median bei.25.« (AaO., 84). 248 Zu sog. Milieueffekten vgl. auch Häußermann/Siebel 2004, 166–168 und zu dem Hintergrund des Diskurses über Kontexteffekte in US-amerikanischen Städten, vgl. Farwick 2012, 388–390 und Masson 2016, 29–31. Für den Zusammenhang von Netzwerken und sozialer Ungleichheit vgl. Fuhse 2008, besonders zur Wirkung sog. Opportunitätsstrukturen, aaO., 81–83. Zum Einfluss von Armutsgebieten auf die Dauer von Armutslagen vgl. Farwick 2001, 117–171. Zur Kritik an der Annahme von Kontexteffekten (als primärer Faktor der Sozialisation) vgl. Dangschat 2014, 126–129: »Für die besondere Bedeutung der Wohnumgebung für die Sozialisation gibt es nicht nur keine überzeugenden empirischen Belege, sondern in den Köpfen der Stakeholder in Politik und Verwaltung hat sich die Vorstellung festgesetzt, dass man Zugewanderte und/oder Menschen mit niedrigem sozialen Status nur dann in eine Stadtgesellschaft integrieren könne, wenn man diese den Mittelschichten ›untermischt‹.« (AaO., 129). 249 Auch als Verstärkerthese bezeichnet vgl. Müller 2012, 439. 250 Häußermann/Siebel 2004, 162. »Als Sozialisationsagentur hat Nachbarschaft keineswegs ausgedient. Menschen wachsen nach wie vor zwischen Nachbarn auf, aber die Räume des Aufwachsens haben sich erweitert durch Medien und damit mögliche Kontakte weit außerhalb des Wohnumfeldes. […] Je einheitlicher Nachbarschaften in sozialer und kultureller Hinsicht sind, desto stärker schlagen Gemeinsamkeiten des Klassen- Habitus durch im gegenseitigen Um-
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Forscher geteilt wird.251 Sogenannte Kontexteffekte252 werden zwar seit frühesten Zeiten der Stadtforschung beschrieben253, aber es besteht wenig bis keine Klarheit darüber, »inwieweit welche Faktoren der städtischen Umwelt abweichendes Sozialverhalten beeinflussen.«254 So kritisiert z. B. Silke Masson, dass sowohl die empirische Basis als auch die mangelnde methodische Schärfe (und zuweilen auch eine mangelnde Berücksichtigung der spezifischen deutschen Situation im Unterschied zu US-amerikanischen und französischen255 Untersuchungen, deren Resultate eindeutiger sind) die Eindeutigkeit der Untersuchungsergebnisse für europäische und deutsche Städte zweifelhaft machen.256 Zudem betont sie die Unterscheidung von Kontexteffekten, deren Wirkungen in der Nachbarschaft an sich begründet liegen, und Kompositionseffekten, die auf die spezifische Mischung des Viertels zurückgehen.257 Wenngleich diese Frage von hoher Relevanz für die Beschäftigung mit dem Thema ist, so kann sie für diese Arbeit vernachlässigt werden, da der Fokus hier weniger auf der gang, wodurch eine tiefer gehende Norm-Konformität in der Sozialisation der nachwachsenden Kinder hergestellt wird. […] In heterogenen Quartieren ist die Nachbarschaft stärker moralisch orientiert, in homogenen Vierteln sind die Zusammenlebens-Normen stärker habituell bestimmt.« (Neef 2011, 243f – Hervorhebung im Original). 251 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 162–166. Kronauer/Siebel verweisen darauf, dass Nachbarschaftseffekte eine eher untergeordnete Rolle spielen, jedoch nicht zu vernachlässigen sind, vgl. Kronauer/Siebel 2013b, 13–16. Häußermann/Kronauer führen jedoch zahlreiche empirische Belege an, dass ein solcher Zusammenhang besteht und stellen verschiedene Modelle zur Erklärung vor, vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 168–171. Zu dem Zusammenhang von räumlicher Differenzierung und Exklusion vgl. auch Müller 2012, 439–442. Helbig/Jähnen zeigen, dass für die USA und einzelne europäische Länder (Großbritannien, Niederlande, Belgien, Schweden) Daten über die negativen Auswirkungen deprivierter Gebiete vorliegen, vgl. Helbig/Jähnen 2018, 3. Zu den methodischen Schwierigkeiten bei der Untersuchung vgl. Farwick 2001, 117 f. Kritisch dazu vgl. Güntner/Walther 2013, 300 f. Andreas Farwick verweist auf die Bedeutung der Größe der zu untersuchenden Raum-einheit, vgl. Farwick 2001, 125–129. Zudem ist die Art der Haushalte ein wichtiger Faktor, vgl. aaO., 129 ff. 252 Jürgen Friedrichs und Jörg Blasius fragen: »Machen arme Wohnviertel ihre Bewohner ärmer?« (Friedrichs/Blasius 2000, 19). Häußermann et al. beantworten diese Frage mit Bezug auf Farwick 2001 und Friedrichs/Blasius 2000 positiv, vgl. Häußermann et al. 2008, 200. 253 U. a. Georg Simmel und Karl Marx, siehe oben. Vgl. auch Friedrichs/Blasius 2000, 17–19 und 179–196. 254 Häußermann/Siebel 2004, 163. Friedrichs/Blasius konnten nachweisen, dass Gebietseffekte besonders bei denjenigen Bewohnern existieren, die a) überdurchschnittlich viel Zeit im Wohngebiet verbringen und b) nur über wenige Netzwerkpersonen verfügen, vgl. aaO., 191–196. 255 Vgl. Müller 2012, 440. 256 Andreas Farwick: »Bisher liegen jedoch keine Studien vor, die eine vergleichende Quantifizierung der Bedeutung einzelner Effekte erlauben.« (Farwick 2013, 394). Zum Einfluss vom Kontext auf soziale Normen vgl. Friedrichs/Blasius 2000, 87–106. 257 Vgl. Masson 2016, 28–34. Zu einer multivariaten Analyse des Einflusses von Wohnquartieren vgl. Farwick 2001, 136 ff. Zu den Individualeffekten, vgl. Friedrichs/Blasius 2000, 182ff, besonders 191–193.
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Ursachenanalyse als auf der Feststellung und Beobachtung der Tatsache der Entmischung bzw. Marginalisierung liegt.258 Hier muss ein Zitat von Hartmut Häußermann und Martin Kronauer genügen, welches die Ergebnisse verschiedener Studien zusammenfasst (Stand 2009), die sich mit der Frage nach dem Einfluss von Kontext- bzw. Nachbarschaftseffekten auf die Bewohner marginalisierter Viertel beschäftigten259: Es gibt also einen klaren Nachbarschaftseffekt bei nicht-monetärer Armut, die von der längeren Dauer der Armut in den benachteiligten Gebieten herrührt oder von einer Reihe von Hindernissen für die Partizipation und für die Konsumtion in diesen Gebieten. Die Erwartung der Menschen, wieder einen Job zu bekommen, sind niedriger. Die Chancen, die Armut zu verlassen, sind ebenfalls niedriger, und die Wahrscheinlichkeit, wieder in die Armut zu geraten, ist größer. Kontexteffekte haben eine verstärkende Wirkung in einer Biographie, die schon in einer bestimmten Richtung angelegt ist. […] Dauerarbeitslosigkeit und eine gewachsene Bedeutung von Marktprozessen bei der Zuteilung von Wohnstandorten schafft Sozialräume, die Ausgrenzungsprozesse unterstützen und verfestigen.260
Im Hinblick auf andere Studien zeigen sie aber auch, dass Jugendliche mit höherer Bildung und aus sozial besser gestellten Elternhäusern sich dem Einfluss ihres Kontexts entziehen konnten und somit ein fatalistischer Zusammenhang zwischen Wohnumfeld und Prägung durch dieses nicht besteht.261 Auf eine ähnliche Beobachtung verweist Masson mit Blick auf eine Studie von 2004, die zeigte, dass sich die erhöhte Jugendkriminalität eines Viertels nur dann auf dessen Bewohner übertrug, wenn diese keine Freunde außerhalb des Viertels hatten. War dies jedoch der Fall, dann ließ sich kein Kontexteffekt nachweisen.262 Dies ist aber nicht der Fall, wenn sich »Sozialraum und soziale Deklassierung decken«263. Dann sind die Effekte destruktiv und exkludierend.264 Helbig/Jäh258 Zu den Gründen von sozialer Segregation vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 29–34. 259 Siehe dazu auch eine Auseinandersetzung von Andreas Farwick mit den empirischen Befunden zum Thema Kontext- bzw. Nachbarschafts- oder Wohnquartierseffekte, vgl. Farwick 2012, 388–390 sowie die nötige Unterscheidung von Kompositionseffekten und Kontexteffekten, vgl. aaO., 394 f. 260 Häußermann/Kronauer 2009, 170 f. Für Konzepte der Dauer von Armut vgl. Farwick 2001, 121–123. Zur zeitlichen Dimension von Armut vgl. aaO., 118–121. 261 Vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 170 f. 262 Vgl. Masson 2016, 32. 263 Häußermann/Kronauer 2009, 171. 264 Dies entspricht den Ergebnissen der oben erwähnten Studie von Jurczok/Lauterbach über den Zusammenhang von Wohnort, eigener Schulbildung und Wahl der Schule für die eigenen Kinder. Aus dem Fazit der Studie: »Dies bedeutet, dass es in Schulen in benachteiligten Gebieten zu einer Homogenisierung der Schülerschaft auf weiterführenden Schulen kommt: Es gehen
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nen zeigen, dass besonders Kinder265 von sozialer Segregation und ihren negativen Auswirkungen266 betroffen sind: Ähnlich wie in den USA ist die soziale Spaltung der Städte bei Kindern bzw. Familien mit Kindern stärker ausgeprägt als bei der Gesamtbevölkerung. Räumlich besonders ungleich verteilen sich also Kinder in Haushalten mit SGB-II-Bezug. Trotz des Wirtschaftsaufschwungs im letzten Jahrzehnt gibt es mittlerweile in 36 der untersuchten Städte Quartiere, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II leben. Folgt man der Literatur zu Nachbarschaftseffekten, dann hat diese Konzentration sozial benachteiligter Kinder das Potenzial, sich negativ auf die Lebenschancen der jungen Bewohner in diesen Quartieren auszuwirken.267
Kinder auf diese Schulen, die aus bildungsfernen Elternhäusern stammen. Insofern kommt es tatsächlich zu einer Verschlechterung der Lernsituation der Schüler in diesen Schulen, wodurch sie doppelt benachteiligt sind: Sie leben in einem benachteiligten und häufig auch stigmatisierten Stadtteil und sie besuchen eine weiterführende Schule mit einer sozial-materiell verarmten Schülerschaft. Auf Kinder aus Familien mit einem hohen Bildungshintergrund hat der Stadtteil, in dem sie leben, keine negative Wirkung: Sie pendeln aus dem Stadtteil heraus und suchen sich die Schule, die sie für sich als vorteilhaft sehen. Die sozial-räumliche Segregation verstärkt sich noch in den Schulen dieser ohnehin schon benachteiligten Stadtteile. In der Bildungsforschung ist bekannt, dass sich eine ungünstige Klassenzusammen-setzung negativ auf die Lernerfolge und somit die Lebenschancen von Schülern auswirken […]. Die Bildung von ›differenziellen Entwicklungsmilieus‹ […], bei denen es eine Häufung von Schülern aus derselben sozio-ökonomischen Schicht in einer Schule gibt, gilt es zu vermeiden, da sie im ungünstigsten Fall negativ auf den Kompetenzerwerb von Jugendlichen wirken. Wie auch in der Quartiers- und Nachbarschaftsforschung für Stadtteile bestätigt, wirkt sich eine Segregation von Schulen negativ aus.« (Jurczok/Lauterbach 2014, 152f). Vgl. dazu auch Neef 2011, 250ff und 255. 265 Zur sozialen Segregation von Kindern vgl. Helbig/Jähnen 2018, 44–58. »Auch in Deutschland ist die soziale Segregation vor allem ein Thema, das Kinder bzw. Familien mit Kindern betrifft.« (AaO., 57). 266 Jürgen Friedrichs schreibt: »Wenn 40 % der Bewohner Sozialhilfe beziehen oder sogar über 60 %, wie in Stadtteilen nordamerikanischer Städte, dann stellt das eine erhebliche Restriktion für das Handeln der Bewohner dar. Das Wohnen macht die dort wohnenden Armen noch ärmer.« (Friedrichs 2010, 328). 267 Helbig/Jähnen 2018, I. Hervorhebung im Original. Und weiter: »Nach unseren Ergebnissen ist die soziale Segregation von Kindern höher als die allgemeine soziale Segregation. Dies gilt (mit einer Ausnahme) für alle untersuchten Städte. […] In deutschen Städten führt die räumlich ungleiche Verteilung armer Kinder auch zu einer extremen Konzentration dieser Bevölkerungsgruppe in einigen Stadtteilen. Trotz des Wirtschaftsaufschwungs im letzten Jahrzehnt gibt es in 36 der betrachteten Städte Nachbarschaften, in denen der Anteil von Kindern in Haushalten mit SGB-II-Bezug bei über 50 Prozent liegt – also mehr als die Hälfte der Kinder im Quartier arm ist. In 15 deutschen Städten leben über 10 Prozent aller Kinder in diesen von Armut geprägten Quartieren.« AaO., 114. Hervorhebung im Original. Als offene Forschungsfrage formulieren sie: »Warum beobachten wir vor allem in den westdeutschen Großstädten und Berlin
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2.4.1 Ambivalenzen in der Bewertung eines Gebiets Deutlich ist, dass die Bewertung eines Wohnraums je nach Perspektive sehr unterschiedlich sein kann: von außen wird er in der Tendenz deutlich negativer bewertet als von innen. Diese differierende Bewertung spiegelt die Realität wider, denn kein Quartier ist ausschließlich negativ oder ausschließlich positiv zu bewerten: So können Viertel sowohl benachteiligende als auch schützende Wirkung haben. Insofern »sind die Effekte sozialräumlicher Ungleichheit nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit sozialer Ausgrenzung der Armutsbevölkerung.«268 Dies bedarf einer gründlichen und streng auf das jeweilige Viertel bezogenen Prüfung. Wichtige Kriterien sind einerseits die Frage, ob Chancengleichheit zwischen den Bewohnern segregierter Gebiete und Bewohnern anderer Gebiete besteht und ob andererseits die Kultur, die jene Menschen – die dort aufwachsen – umgibt, sie am sozialen Aufstieg hindert oder diesen fördert – also der Frage danach, ob es sich um eine Armutskultur handelt (z. B. in Form einer »ungünstigen Qualifikationsstruktur«269). Eine exakte Feststellung dieser Tatsachen ist freilich nicht ganz eindeutig, da es sich bei diesen Begriffen durchaus um dehnbare und nicht bis ins Detail definierte Beschreibungen handelt. Ob eine Subkultur bspw. schlicht nur abweicht von der Mehrheitskultur oder ob sie Menschen ausschließt und benachteiligt, ist ein schmaler Grat und die Beantwortung dieser Frage würden verschiedene Forscher wohl unterschiedlich vornehmen. Somit ist besonders für Menschen und Gruppen, »die über wenig eigene Ressourcen in Form von materiellem, sozialem oder kulturellem Kapital verfügen«270 der Wohnort ein entscheidender Faktor, wenn es um die Ermöglichung oder Verhinderung von Aufstieg geht. Ebenso ist der Wohnort auch ein verstärkender Faktor bei sozialem Abstieg und bei der Verschlechterung von gesellschaftlicher Teilhabe. Für diese Gruppe ist der Wohnort entscheidender als für andere, da sie über weniger translokale Beziehungen verfügen und ihr Wohngebiet seltener verlassen. Der Wohnraum wird somit zum Sozialraum, was seine Bedeutung deutlich steigert.271 Dabei ist die Rolle des Quartiers als Sozialraum durchaus ambivalent: »Das Wohnen in einem Quartier, in dem sich benachteiligte Haushalte konzentrieren, kann Armut verstärken und Aus-
eine ähnliche Entwicklung wie in den USA, wo der Anstieg der sozialen Segregation eher auf Familien mit Kindern zurückgeführt werden kann? In den ostdeutschen Städten ist das nicht der Fall.« AaO., 121. 268 Häußermann/Siebel 2004, 164. 269 Friedrichs/Triemer 2009, 15 f. 270 Häußermann/Kronauer 2009, 158. 271 Vgl. ebd.
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grenzungstendenzen unterstützen, er kann andererseits aber auch informelle Hilfe bereit stellen, einen respektvollen Umgang sichern und für soziale Einbettung sorgen – die Folgen von Armut also mildern.«272 Dabei ist zu bedenken, dass »mit dem Ende der Subsistenzwirtschaft«273 informelle, auf Verwandtschaft, Freundschaft oder Nachbarschaft beruhende Hilfe und Unterstützung im sozialen Fortkommen massiv an Bedeutung verloren haben. Dies ist die Kehrseite der Individualisierung als Ausdruck eines modernen Lebensstils und dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass sich die finanziellen und materiellen Ressourcen solcher Menschen, die eher zur unteren Einkommensgruppe gehören, in »Krisenzeiten […] rasch erschöpf[en].«274 Dies relativiert die Chancen eines sozial entmischten Quartiers, die Folgen von Armut abzufedern. Die sozialen Rechte, die ein Bürger genießt, werden im Zuge einer Reform der sozialen Sicherungssysteme stärker an individuelle Pflichten gebunden, was diese Rechte wiederum schwächt.275 Soziale Rechte stellen zwar eine grundlegende Absicherung dar, jedoch können sie weder Erwerbstätigkeit garantieren noch soziale, familiäre oder nachbarschaftlich-freundschaftliche Beziehungen stiften oder ersetzen. Dies fördert die »dritte Dimension der Ausgrenzung«276 und verstärkt somit den Abstieg, da Zusammenhänge zwischen der Reichweite und Qualität der Beziehungen und Kontakte sowie der eigenen Erwerbstätigkeit bestehen.277
272 Ebd. 273 AaO., 160. 274 Ebd. 275 Vgl. aaO., 160–163. 276 AaO., 162. 277 Vgl. aaO., 162 f.
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2.5 Formen von Benachteiligung278 Häußermann/Siebel279 beschreiben drei Arten, wie sich ein Wohnquartier benachteiligend auf seine Bewohner auswirken kann.280 1. Die sozialen Lebensbedingungen281: Diese sind im Vergleich zur Gesamtgesellschaft deutlich beeinträchtigt, da meist ein Netzwerk an informellen Beziehungen und Kontakten fehlt bzw. dieses Netz gewisse gesellschaftliche Milieus nicht verlässt. Zudem entstehen durch die Ballung teils unverträglicher Lebensweisen schneller und häufiger Konflikte. Außerdem lehrt das Umfeld seine Bewohner, besonders die Heranwachsenden, negative Verhaltensweisen und solche Normen, die von denen der Mehrheitsgesellschaft deutlich abweichen. Diese Faktoren führen dazu, dass das Verharren in diesen Milieus gefördert und verfestigt wird.282 2. Die materiellen Lebensbedingungen283: Diese sind, verglichen mit der Gesamtgesellschaft, schlechter. Dies betrifft die Infrastruktur, die Qualität der Dienstleistungen, die Qualität der Umwelt, die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden sowie der Anschluss an das Verkehrsnetz der Stadt. »Das Quartier benachteiligt, indem es die Lebensführung erschwert, die Gesundheit der Bewohner beeinträchtigt und ihre Handlungsmöglichkeiten einschränkt.«284 278 Friedrichs/Blasius bilanzieren in der Auswertung ihrer Studie zum Leben in benachteiligten Wohngebieten (in der Stadt Köln) zum Begriff Benachteiligung dies: »Im allgemeinen [sic!] wird unter Benachteiligung eine weit unterdurchschnittliche Ausstattung und ein weit unterdurchschnittlicher Zugang zu Ressourcen verstanden. Wir sehen in unserer Studie, daß [sic!] die Benachteiligung auch darin besteht (nicht: verursacht wird), auf ein lokale Gebiet und dessen Handlungsoptionen angewiesen zu sein. […] Wir können daher bestimmen, worin unserer Theorie zufolge die soziale Benachteiligung besteht. Sie ist hier definiert als Restriktion des Verhaltens auf Ressourcen des Gebiets, gemessen über die Indikatoren: a) kleine Aktionsräume, b) kleine Netzwerke, c) einen hohen Zeitanteil im Wohngebiet.« (Friedrichs/Blasius 2000, 180 – Hervorhebung im Original). Die genannten Merkmal (a–c) hängen ihrerseits von der ökonomischen Position des jeweiligen Haushalts (v. a. Einkommen und kulturelles Kapital) ab, vgl. aaO., 180 f. Zur Auswertung dieser Studie vgl. aaO., 179–196. 279 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 165–170. Zu Pierre Bourdieu vgl. weiterführend Lippuner 2012. 280 Vgl. dazu Andreas Farwick, der ebenfalls drei (ähnlich gelagerte) Effekte herausarbeitet, die benachteiligend auf ihre Bewohner wirken: 1. Mangelnde Ressourcen des Wohnquartiers 2. Prozesse des Erlernens abweichender Handlungsmuster und 3. Die stigmatisierende und diskriminierende Wirkung von Wohnquartieren, vgl. Farwick 2012, 391–394. Für eine detaillierte Übersicht über Ortseffekte, Integrationsaspekte und Funktions-beschreibungen der Quartiere vgl. Dangschat 2014, 127. 281 Vgl. dazu auch Häußermann/Kronauer 2009, 164–167. 282 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 166–168. 283 Vgl. dazu auch Häußermann/Kronauer 2009, 167. 284 Häußermann/Siebel 2004, 165.
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3. Die Symbolischen Beeinträchtigungen285: Diese machen deutlich, dass sich der Zustand und der Ruf des Viertels auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Bewohner des Quartiers auswirkt. Dazu Häußermann/Siebel: [Die symbolischen Beeinträchtigungen] bestehen darin, dass erstens ein verwahrloster öffentlicher Raum den Bewohnern ihre eigene Wertlosigkeit signalisiert, dass zweitens eine schlechte Adresse die Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verschlechtert und drittens das negative Image des Quartiers als negatives Selbstbild von den Bewohnern übernommen werden kann und dadurch Apathie und Hoffnungslosigkeit verstärkt.286
Bei der schematischen Darstellung dieser Effekte muss man davon ausgehen, dass sich diese in der urbanen Wirklichkeit überschneiden, gegenseitig verstärken und in einem Wechselverhältnis zueinander stehen (»Exklusion und Ausgrenzung sind multidimensionale Prozesse.«287), was zu Auswirkungen führt, die hier noch nicht erfasst sind.288
2.5.1 Soziale Benachteiligung Neben den genannten Kontexteffekten (oder Nachbarschaftseffekten gegenüber Individualeffekten, die ein größerer Faktor sind289), sind es zudem die Sozialisationseffekte290, die aus einem benachteiligten Quartier ein benachteiligendes Quartier machen. Zugrunde liegt die Einschätzung, dass der Lebensraum auch ein Lernraum ist, in welchem Einstellungen, Perspektiven, Werte, Selbst- und Fremdwahrnehmung erlernt und verfestigt werden – also allgemein soziales Lernen stattfindet. Dazu zählen neben den Medien, die einen überlokalen Einfluss haben, Orte wie Familie, Schule, Nachbarschaft sowie verschiedene Peergroups, welche eher eine lokale Bindung besitzen. Je nachdem wie das Quartier geprägt ist, sind diese Orte geprägt und diese prägen dann wiederum die Menschen (und besonders Kinder und Jugendliche), die an diesen Orten zugegen sind. »Sowohl durch den sozialen Druck wie durch Imitationslernen werden diese Normen [der jeweiligen Milieus im Quartier]
285 Vgl. dazu auch Häußermann/Kronauer 2009, 168. 286 Häußermann/Siebel 2004, 165. 287 Häußermann/Kronauer 2009, 162. 288 Andreas Farwick bilanziert: »Insgesamt ist festzustellen, dass die jeweils beschriebenen Quartierseffekte nicht isoliert auftreten. Stattdessen ist von Überlagerungen, Wechselwirkungen und gegenseitigen Verstärkungen auszugehen.« (Farwick 2012, 394). 289 Vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 17. 290 Vgl. auch Häußermann/Kronauer 2009, 164–167.
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immer stärker im Quartier verbreitet, eine Kultur der Abweichung [von der Mehrheitsgesellschaft] wird dominant.«291 Durch das Leben im marginalisierten Wohngebiet fehlen Kindern und Jugendlichen zumeist alternative Erfahrungen und Prägungen – sie erlernen gleichsam das Milieu, aus dem sie stammen und somit sinkt die Möglichkeit, dieses zu verlassen. Zudem führt die Erfahrung, dass ihre Verhaltensweisen außerhalb des eigenen Quartiers abgelehnt werden, eher zu einer »reaktiven Verstärkung« dieser Verhaltensweisen und somit zu einer zunehmenden Verfestigung im Quartier und dessen Milieus und (Sub-) Kulturen. Dies fördert eine stärkere Abweichung vom »gesellschaftlichen Mainstream«292. Man kann hier auch von der Opportunitätsstruktur eines Wohngebiets sprechen, welche sich sowohl in der sozialen Infrastruktur als auch bei den Bewohnern selbst niederschlägt und durch diese werden dann die jeweiligen Mitbewohner des Orts beeinflusst und geprägt.293 Somit zeichnet sich eine soziale Benachteiligung nicht nur in »mangelnder Unterstützungsleistung«294, sondern auch in einer aktiven Negativprägung durch das Wohnen und Leben in einem marginalisierten Viertel aus. Häußermann/Siebel beschreiben dies als »Verstärkungseffekt der subkulturellen Qualitäten eines Quartiers«295 und beschreiben damit den Effekt einer zunehmenden sozialen Segregation, kulturellen Homogenität und sozioökonomischen Marginalisierung von Teilen oder gar eines ganzen Viertels, was wiederum zu einer »Dominanz abweichender Normen führt […] [und eine] Kultur abweichenden Verhaltens […] zur dominanten Kultur [wird].«296 Diejenigen, die sich an Normen der gesellschaftlichen Mehrheit (Mittelschicht) orientieren, verlassen das Viertel zunehmend und berauben damit die im Viertel verbleibenden Kinder und Jugendlichen der Möglichkeit Alternativerfahrungen zu machen, welche denen, die im Viertel gängig sind, entgegen stehen. Aufgrund mangelnder positiver Rollenvorbilder, wird ein bestimmter Lebensstil (meist geprägt von Erwerbslosigkeit) geradezu »vererbt«.297 Lebt ein Individuum längere Zeit in einem bestimmten Umfeld und hat keine Möglichkeit, dies zu verlassen, dann passt es sich zunehmend an dieses Umfeld an und dies beinhaltet meist eine Anpassung der eigenen Normen nach unten – dieses Verhalten wird
291 Häußermann/Siebel 2004, 166. 292 Vgl. aaO., 166–168. 293 Vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 17. 294 Farwick 2012, 392. 295 Häußermann/Siebel 2004, 166. 296 Häußermann/Kronauer 2009, 164 f. 297 Farwick kommt in Anschluss einer Studie von George Galster zu dem Schluss, »dass es im Wesentlichen die Effekte sozialen Lernens sind, die einen Hauptteil der negativen Effekte ausmachen.« Farwick 2012, 394.
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mit Reduktion kognitiver Dissonanz beschrieben.298 Die dabei entstehende Kultur mag quartierintern »funktionieren«, wird aber spätestens ein Problem bei dem Versuch, Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft zu bekommen und ein gesundes Verhältnis zu regelmäßiger Erwerbstätigkeit, Zuverlässigkeit etc. zu entwickeln. Dies wiederum führt zu einer sich verstärkenden Distanz zur sog. normalen Gesellschaft und es entsteht so etwas wie eine »Armutskultur«.299 Diese Reduktion kognitiver Dissonanz wird dadurch verstärkt, dass die Kontaktnetzwerke der meisten Bewohner eines marginalisierten Quartiers auf dieses konzentriert sind300: »Insbesondere statusniedrigere Bevölkerungsgruppen sind durch eine stärker lokal orientierte Lebensweise geprägt. […] In benachteiligten Quartieren sind die sozialen Netzwerke der Bewohner jedoch nur schwach ausgeprägt.«301. Diese Verengung wird durch Arbeitslosigkeit noch verschärft. Dabei vermeiden die Betroffenen bewusst oder unbewusst den Kontakt zu solchen Menschen, deren Lebensstil sie nicht mehr führen können. Dies wiederum reduziert die kognitive Dissonanz weiter.302 Zudem gilt: »Wenn die sozialen Netzwerke enger und homogener303 werden, verändert sich gleichzeitig deren Qualität«304 und dies nicht zum Besseren. Diese Netzwerke sind kleiner sowie begrenzter und konzentrieren sich zudem auf solche Menschen, die mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Insofern gilt für Angehörige der sog. Unterschicht eine Relativierung des Netzwerkes Nachbarschaft durch die Aufwertung anderer Netzwerke (in Folge eines Zuwachs an Mobilität und Kommunikation) nicht in dem Maße, wie dies für viele andere Teile der (urbanen) Gesellschaft der Fall ist. Dies ist als Nachteil für das Quartier zu werten, da folgende Einsicht gilt: »Lose geknüpfte Netzwerke, die in ihrer sozialen Zusammensetzung heterogen sind, sind weit produktiver und ertragreicher als eng geknüpfte soziale Netze, die sozial homogen sind.«305 Dies gilt besonders hinsichtlich der Produktivität der Kontakte im Bezug auf Teilhabe am Arbeitsmarkt. Somit gilt aber auch, dass die sozialen Kontakte, die in einem marginalisierten Quartier bestehen und
298 Vgl. auch die »Folgen der Sozialhilfe« in Friedrichs/Triemer 2009, 33 f. 299 Häußermann/Kronauer 2009, 165–169. 300 Vgl. dazu die unterschiedliche Prägung solcher Jugendlicher, die Kontakte außerhalb eines Viertels pflegen und derer, die nicht über solche Erfahrungen alternativer Lebensmodelle verfügen, vgl. Masson 2016, 32. 301 Farwick 2012, 391. 302 Vgl. Studien, die Andreas Farwick anführt, die diese Beobachtungen empirisch untermauern, in aaO., 392 f. 303 Farwick verweist auf Studien, die belegen, »[…] dass Arbeitslose überproportional mit Arbeitslosen verkehren.«, aaO., 392. 304 Häußermann/Siebel 2004, 167. 305 Häußermann/Kronauer 2009, 166.
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durchaus als Chance und Ressource begriffen werden können, sich aufgrund ihrer Homogenität eher als ein Nachteil entpuppen. Der Mangel an sog. »integrierten Bewohnern« – also Familien, Berufstätigen, Menschen mit sozialer Kompetenz306 – führt zu einer Schwächung der sozialen Stabilität des Viertels, da meist ein quartierseigenes Netzwerk an Orten sozialer Interaktion (Sportvereine, Jugendarbeit etc.) fehlt.307 Somit gilt, dass die lokalen Kontakte zwar wichtiger sind als bei anderen Bevölkerungsgruppen, jedoch sind diese u. a. meist aufgrund von einer hohen Fluktuation dennoch durch ein hohes Maß an Anonymität geprägt.308 Friedrichs309 spricht im Anschluss an Farwick310 von endogenen Ursachen ungleicher Verteilung und einer damit einhergehenden Verfestigung dieses Phänomens durch »[e]ine stetig zunehmende und überdurchschnittlich starke Verarmung der Bewohner in benachteiligten Gebieten.«311 Diese Feststellung leitet er aus der Beobachtung ab, dass Personen, die über eine geringere formelle Bildung verfügen, im Fall einer Rezession und einer (damit verbundenen) Anspannung des Arbeitsmarkts ein höheres Risiko tragen, arbeitslos zu werden. Da diese Menschen meist ungleich über die Stadt verteilt sind, steigt die Arbeitslosenquote in bestimmten Gebieten überdurchschnittlich an, was den Standort wirtschaftlich ingesamt schwächt und sich – aufgrund der Konzentration der Bewohner – auf das Viertel als solches auswirkt. An solchen Orten ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein größerer Anteil der Bewohner in Langzeitarbeitslosigkeit fällt und »zu einem späteren Zeitpunkt auf Sozialhilfe angewiesen ist.«312 Ein weiterer Aspekt sozialer Marginalisierung ist die Tatsache, dass dem Viertel einerseits politischer Einfluss verloren geht und andererseits mögliche Führungsfiguren das Viertel verlassen, die sowohl innerhalb des Viertels als auch außerhalb dessen für eine Verbesserung des Lebens in diesem hätten sorgen können. Wenn qualifizierte und integrierte Bewohner eines Wohngebiets dieses verlassen, dann verliert dies seinen Einfluss in der Gesamtgesellschaft sowie in der Verwaltung und im politischen Leben der Stadt. Dieser Verlust sozialer Kompetenz schwächt das Viertel weiter. Herlyn et al. schreiben über die Gruppe der Marginalisierten, »daß [sic!] sie nur begrenzt fähig zu eigener Organisation ihrer Interessen sind«313
306 Vgl. ebd. 307 Vgl. aaO., 165–167. 308 Vgl. Farwick 2012, 391. 309 Vgl. Friedrichs 2011, besonders 57 f. 310 Vgl. Farwick 2001. 311 Friedrichs 2011, 57. 312 AaO., 58. 313 Herlyn et al. 1991, 243.
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2.5.2 Materielle Benachteiligung Die materielle Benachteiligung ist zumeist eine Folge der ökonomischen Schwächung der Bewohner dieses Viertels. »Aufgrund der negativen sozialen Auslese der Bewohnerschaft nehmen die Konflikte mit den und innerhalb der Institutionen zu, die von Wohlfahrtsverbänden und öffentlicher Verwaltung im Quartier betrieben werden.«314 Die Qualität der öffentlichen und privaten Angebote (Bildung, Dienstleistung, Konsum, Gesundheitsvorsorge etc.) nimmt ab und das Angebot verringert sich. Gerade Schulen sind für die jeweilige Situation meist personell und materiell nur unzureichend ausgestattet, was die Lehrkräfte dauerhaft überfordert und dafür sorgt (wie europäische Studien belegen315), dass sich dies benachteiligend auf die Schüler und ihr berufliches Fortkommen auswirkt. Zudem können auch die bauliche Struktur sowie die Lage der Viertel deren prekäre Situation verstärken. Schließlich unterstreicht der (zumeist schlechte) Zustand der öffentlichen Plätze und Grünflächen sowie ein allgemein niedrigeres Niveau der Lebensqualität (»[…] mangelnde Sicherheit und Sauberkeit öffentlicher Räume sowie eine durch Umwelteinflüsse wie Luftverschmutzung [durch Straßenverkehr oder Mülldeponien] und Lärm [durch Straßenverkehr oder Flugschneisen] belastete Wohnumgebung […]«316) die Situation des Viertels. Aufgrund räumlicher Enge und mangelnder Ausweichmöglichkeiten nehmen Konflikte zu. Verstärkt wird dies dadurch, dass diese Viertel durch städtebauliche Barrieren (durch Bahndämme, große Straßen etc.) häufig isoliert sind, was die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Homogenität weiter fördert und sowohl Angebot als auch Vielfalt einschränkt, denn zufällige Kontakte und eine damit einhergehende punktuelle Vermischung nicht stattfindet und den Geschäften (sofern noch vorhanden317) zusätzlich Laufkundschaft fehlt. Da die Kaufkraft in dem Gebiet jedoch gering ist, können Läden und Lokale wirtschaftlich meist nicht überleben. Dies trifft zuerst die besonders spezialisierten Geschäfte (bspw. Buchläden), kann aber auch Supermärkte betreffen.318 Verstärkt wird die Isolation eines Viertels zudem durch eine schlechte Anbindung an den ÖPNV, was sowohl die Verbindung des Viertels mit der restlichen Stadt als auch den Zugang zu Arbeitsplätzen in anderen Teilen der Stadt zusätz-
314 Häußermann/Siebel 2004, 168. 315 Vgl. Farwick 2012, 391. Vgl. auch Jurczok/Lauterbach 2014. 316 Farwick 2012, 392. 317 »Besonders betroffen sind die peripher gelegenen Großwohnanlagen, die wegen ihrer auf das reine Wohnen orientierte Monostruktur seit ihrer Erbauung eine schlechte Ausstattung mit Versorgungseinrichtungen aufweisen.« (AaO., 391). 318 Vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 167.
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lich erschwert.319 Farwick stellt für die grundlegend begrenzte Ausstattung von marginalisierten Vierteln fest, dass dort »ein erhöhter Wettbewerb um diese Ressourcen«320 stattfindet, welcher zu Konflikten innerhalb des Quartiers führt und die Menschen, welche in diesem Wettbewerb unterliegen, in ihrer benachteiligten Situation noch weiter verhaftet und ihre ohnehin geringen Möglichkeiten weiter begrenzt.
2.5.3 Symbolische Benachteiligung All diese Entwicklungen führen zur Abwertung sowie zum Abstieg eines Milieus und dieser sozio-ökonomisch und kulturelle Verlust wird sowohl von der Umwelt als auch den Bewohnern des Quartiers wahrgenommen und spiegelt zudem gesellschaftliche Hierarchien und Machtstrukturen wider.321 Dadurch setzt ein »Stigmatisierungsprozess«322 ein und das Viertel wird mit dem Label »sozialer Brennpunkt« beschrieben. Diese Etikettierung wirkt sich wiederum benachteiligend auf die Bewohner dieser Gegend aus, indem es sowohl das Selbstwertgefühl als auch die Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe der Bewohner negativ beeinflusst. Die Benachteiligung beschreiben Häußermann/ Siebel als symbolische Benachteiligung.323 Dabei führt das »Identifiziert-Werden mit dem negativen symbolischen Gehalt von Problemgebieten vonseiten der außenstehenden Bevölkerung […] zu Diskriminierungen […], welche die sozialen Teilhabechancen […] deutlich einschränken.«324 Zudem findet die Etikettierung i. S. e. Stigmatisierung nicht nur als Fremd-, sondern auch als Selbstzuschreibung325 statt und führt somit zu einer Identifikation mit dem Quartier.326 Dies bedeutet, dass die Bewohner eines marginalisierten Gebiets sich mit der Situation abfinden, sich ihre Lage dadurch verfestigt und die spezifische sozial319 Farwick 2012, 391 f. 320 AaO., 392. 321 Vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 168. 322 Vgl dazu Kühn 2016, 79f: »Stigmata unterscheiden sich von negativen Images dadurch, dass mit den Prozessen der Stigmatisierung eine soziale Diskriminierung und Marginalisierung der Betroffenen einhergeht. […] Stigmatisierte sind deshalb besonders solche soziale Gruppen, die über wenig gesellschaftliche Deutungsmacht verfügen und damit nur einen verminderten Zugang zu gesellschaftlichen Positionen haben oder sogar von diesen ausgeschlossen werden.« (AaO., 80). 323 Vgl. Häußermann/Siebel 2004, 169 f. 324 Farwick 2012, 393. 325 Studien zeigen, dass Bewohner eines marginalisierten Gebiets die Zuschreibungen internalisieren und bei der Frage, wie andere das eigene Viertel einschätzen, eine sehr negative Einschätzung erwartet wird, vgl. aaO., 393 f. 326 Vgl. die drei Typen »exkludierender Sozialverhältnisse« nach Bude/Willisch 2006b in Müller 2012, 430.
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räumliche Situation als Identifikationsangebot auch zu einem stabilisierenden (im Sinne der Verhaftung im Viertel und im Milieu) Faktor werden kann.327 Dieses grundsätzliche Gefühl kann mit den Worten von Häußermann/Kronauer als Ausgrenzung beschrieben werden: »Ausgegrenzt sein heißt dann, in der Gesellschaft keinen Ort zu haben, ›überflüssig‹ zu sein.«328 Für das Quartier bedeutet dies eine Abkoppelung von den übrigen Entwicklungen einer Stadt, die sich v. a. in einer hohen Arbeitslosenquote, einer überdurchschnittlichen Zahl an Sozialhilfeleistungen sowie einem vergleichsweise niedrigen Bildungsstand äußert.329 Dabei wird das Viertel sowohl von außen als auch von innen negativ bewertet und bekommt ein bestimmtes Image, das zuweilen auch der internen Identitätsbildung dient und teilweise von lokalen Künstlern aufgegriffen oder geprägt wird.330 Diese symbolische Marginalisierung von Vierteln nennen Häußermann/Kronauer im Anschluss an Pierre Bourdieu Ghetto-Effekt.331 Das Ghetto schließt seine Bewohner ein, macht sie zu Gefangenen ihres Wohnorts und verringert ihre Chancen dies zu ändern. Silke Masson schreibt über die Arbeit der Ungleichheitssoziologie, welche in der Zeit der 1980er und 1990er Jahre eine wachsende Polarisierung der deutschen Gesellschaft beobachtete, »die sie mit Begriffen wie ›neue Armut‹, ›sozialer Ausgrenzung‹ oder ›Exklusion332‹ zu fassen versuchte.«333 Dies hatte zur Folge,
327 Vgl. Farwick 2012, 393 f. 328 Häußermann/Kronauer 2009, 161. 329 Vgl. aaO., 163. 330 Z. B. Lieder wie Mein Block des Berliner Musikers Sido. 331 Vgl. Häußermann/Kronauer 2009, 168. »Die Bewohner werden Gefangene des Gebiets, ohne daß [sic!] es eine sichtbare Mauer hätte.« (Friedrichs/Blasius 2000, 180.) 332 »Was genau meint nun eigentlich Exklusion? Mit diesem Begriff wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung der Versuch einer deskriptiven und analytischen Thematisierung von gesellschaftlichen Ungleich-heiten vollzogen, der den verschiedenen und vielfältigen Trennlinien in Stadt und Gesellschaft gerecht werden soll. […] Die Wahrnehmung unterschiedlicher Trennlinien in der Gesellschaft geht über den Begriff von Armut hinaus, erweitert und ergänzt ihn. Auf diese Weise lassen sich mehr und komplexere Zusammenhänge von sozialer Ungleichheit thematisieren, die mit einem nur statistisch definierten Armutsbegriff nicht einzufangen wären, da ›Armut‹ in der Regel als Zustand gravierender sozialer Benachteiligung mit der Folge einer ›Mangel-versorgung mit materiellen Gütern und Dienstleistungen‹ verstanden wird […]. Unterschiede zwischen Altersgruppen, Geschlecht, Nationalität, Schulbildung, Religion und Kultur, Lebensstil etc. überlagern die Einkommensunterschiede und sind in erheblichem Maße wichtig, um die Lebenslage von Menschen beschreiben und verstehen zu können.« (Müller 2012, 423). 333 Masson 2016, 29.
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dass diese neue Form von Armut nicht mehr in den Kategorien »Oben und Unten, sondern Drinnen und Draußen«334 beschrieben wird.335
2.5.4 Exkurs: Exklusion und Marginalisierung Der »Anspruch des Begriffs ›Exklusion‹ ist es […], mehr über soziale Ungleichheiten, den Entstehungsprozess und vor allem über ihre Folgewirkungen zu erfahren.«336 Dabei ist den Forschern wichtig, dass nicht einfach alte Erklärungsmodelle der Ungleichheitsforschung wiederholt werden, sondern dass »zugleich eine Veränderung in der Logik der Ungleichheitsentstehung [thematisiert wird]«337. Dabei müssen Veränderungen in ökonomischen Abläufen ebenso berücksichtigt werden wie ein Wandel in familiären Strukturen, in Formen des Wohnens sowie in Fragen der Mobilität.338 »Die Stärke und Besonderheit des Exklusionsbegriffs liegt folglich darin, dass er die entscheidenden Ebenen von Zugehörigkeit und Teilhabe – Erwerbsarbeit, soziale (Nah-) Beziehungen und Bürgerstatus –, auf denen neue soziale Ungleichheiten entstehen können, kombiniert.«339 Dabei sind Marginalisierung und Exklusion voneinander zu unterscheiden, nicht zuletzt aufgrund der subjektiven Einschätzung der eigenen Situation. Dazu ein längeres Zitat von Annika Müller: Wer trotz einer offensichtlichen materiellen Benachteiligung davon überzeugt ist, sein Leben unter den gegebenen Umständen meistern zu können, in die Gesellschaft zu gehören und sich mit seiner Position in dieser wohlfühlt, der ist zwar marginalisiert aufgrund massiver Benachteiligung in der Verteilung materieller Güter, keinesfalls jedoch exkludiert, da für dieses Empfinden das subjektive Element der Selbsteinordnung in das ›Draußen‹ innerhalb eines gesellschaftlichen Systems von ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ notwendig ist. Demnach ist der Marginalisierte sowohl subjektiv als 334 Ebd. 335 Vgl. aaO., 28 f. Vgl. dazu auch Annika Müller: »Zunehmende soziale Polarisierungen und Kinderarmut werden in der öffentlichen Debatte zunehmend als ›soziale Exklusion‹ thematisiert. Im soziologischen Diskurs werden diese Themen heute in einen Zusammenhang mit ›neueren‹ gesellschaftlichen Entwicklungen gestellt. Die Einkommensarmut steht dabei nicht mehr allein, wie in früheren Diskussionen, im Vordergrund. Vielmehr richtet sich der Fokus auch auf Zugangsmöglichkeiten zu verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen Lebens – auf soziale Teilhabe im umfassenden Sinne. Für einen Mangel an ebendieser Teilhabe und den damit verbundenen Entwicklungen hat sich der Begriff der Exklusion in vielen sozialwissenschaftlichen Diskursen und Forschungsdiskussionen etabliert.« (Müller 2012, 421f). Ausführlicher dazu vgl. auch aaO., 423–434. 336 AaO., 423. 337 Ebd. 338 Vgl. aaO., 423–425. 339 AaO., 423.
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auch objektiv zwar massiv benachteiligt, verfügt aber dennoch über eine gewisse gesellschaftliche Einbettung, welche sich über sein Zugehörigkeitsempfinden definiert. Der objektiv Exkludierte, der sich auch subjektiv ausgeschlossen fühlt, gerät dagegen zunehmend ins gesellschaftliche Aus, in eine von ihm empfundene Abseitsposition. […] Nicht die objektiven Sozialfaktoren, nicht die meritokratische Triade oder die objektiv real gegebene Benachteiligung allein, sondern das Empfinden, ›nicht dazuzugehören‹ führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Selbstverwahrlosung – zu Exklusion. Diese schlägt sich oftmals in Abschottung gegenüber der Außenwelt nieder, ganz egal, an welchem spezifischen Ort oder Viertel, unabhängig von materiellem oder finanziellen Standard.340
2.5.4.1 Exklusion und Ghettoisierung Für Gebiete, die von sozialer Segregation betroffen und insofern benachteiligt und benachteiligend sind, gilt, dass durch selektive Abwanderung und Verarmung des Gebiets, eine »sich selbst verstärkende[…] Spirale der Abwärtsentwicklung in Gang«341 kommt, die wiederum zu einer »Spirale der sozialen Auslese«342 führt, welche den Abstieg eines Viertels verschärft und dauerhaft verfestigt und so werden aus Orten, an denen benachteiligte Menschen leben, Orte der Ausgrenzung bzw. »Ghettos ohne Mauern«.343 Dabei zeigt sich, dass steigende Armut zwar die gesamte Stadt betrifft, aber in besonderem Maße die Quartiere, die bereits von Armut betroffen sind.344 Dieser Umstand ist im Grunde das eigentliche Problem sozialer Entmischung: Wenn Wohngebiete mit einem hohen Anteil armer Menschen entstehen, dann wirkt sich dies i. d. R. negativ auf die Bewohner dieser Quartiere aus.345 Dabei zeigt sich aber, dass Phänomene von Exklusion keineswegs auf sozial benachteiligte Quartiere beschränkt sind – sie finden sich auch in der Mitte der Gesellschaft und werden von manchen Forschern mit den Begriffen »Verwundbarkeit und Entkopplung von gesellschaftlicher Teilhabe«346 beschrieben.
340 AaO. 432 f.442. 341 Häußermann/Siebel 2004, 170. 342 AaO., 171. 343 Vgl. aaO., 170 f. Für eine solche Entwicklung in Deutschland vgl. Friedrichs/Blasius 2000 und Farwick 2001 sowie Blasius 2011, 158 f. 344 Vgl. Friedrichs/Triemer 2009, 15. 345 Vgl. aaO., 16–18. »Entscheidend für die Dynamik der Ausgrenzung ist dabei die Verschränkung der Benach-teiligung in verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen: Wenn sich diese verstärken oder gar reproduzieren, dann kann sich Ausgrenzung zuspitzen und zu einer besonders benachteiligten sozialen Lage verfestigen […]. Soziale Ausgrenzung kulminiert entsprechend in einer ›inneren Kündigung‹ gegenüber der Gesellschaft, die sich in Resignation, Apathie und Rückzug äußern kann.« (Müller 2012, 424). 346 AaO., 424f (Hervorhebung FE).
»Or take the Trinity, for example. Even the best definitions end up sounding like a small child trying to play Mozart on pots and pans in the middle of the kitchen floor.«1 Rob Bell
Kapitel III: Theologische Grundlagen urbaner Gemeindeentwicklung: Wesen und Auftrag der Kirche Einleitung Das folgende Kapitel befasst sich mit dem Thema Gemeinde und wählt dazu einen dreifachen Zugang: missionstheologisch, ekklesiologisch und kirchentheoretisch. Damit wird das Thema Gemeinde in einen größeren theologischen Kontext gestellt, indem danach gefragt wird, worin Wesen und Auftrag der Kirche bestehen. Die Gemeinde ist (im evangelischen Verständnis) eine lokal und personal begrenzte und damit quantitativ untergeordnete, aber qualitativ gleichgestellte Form von Kirche. Insofern gelten die Aussagen zu Wesen und Auftrag der Kirche ebenfalls für die Gemeinde. John Flett formuliert folgende Einsicht: »[T]he question of the church’s connection with the world can only be answered by who God is in and for himself.«2 Dies entspricht der Forderung von Michael Herbst, dass sich die Ekklesiologie aus der Missiologie3 ableitet und die Missiologie wiederum aus der Christologie.4 Oder anders: Gottes Offenbarung in Christus enthüllt Gottes Wesen als 1 Bell 2005, 33 f. 2 Flett 2010, 4. 3 Die zentrale Bedeutung der Mission wird auch in einer Feststellung John Fletts deutlich: »[…] many of the contemporary challenges with theology stem from the absence of mission as a theological category.« (AaO., 296). 4 Vgl. Herbst 2011, 82 ff. Damit geht Herbst noch über die Forderung der Autoren des Reports Mission-shaped Church hinaus, die sagen: »Wer Kirche als Ausgangspunkt nimmt und mir ihr startet, dem wird wahrscheinlich die Mission verloren gehen. Wer mit der Mission startet, wird vermutlich die Kirche finden.« (Herbst 2006a, 211).
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Einleitung
Sendender und Gesandter und dies zeigt an, was Wesen und Auftrag der Kirche ist. Dieser Einsicht folgt die vorliegende Dissertation, indem sie das Nachdenken über die Kirche mit einem Nachdenken über Gott selbst, d. h. seiner Offenbarung in der Person Jesus von Nazareth, seinem Wirken als Heiliger Geist sowie dem Zeugnis dieser Offenbarung in der Bibel und dem daraus resultierenden theologischen Nach-denken seit den Anfängen der Christenheit beginnt.5 Oder pointierter: »If Christ has, in fact, made known and effected the goal of universal history, then he cannot merely be a model for the church’s mission. Christ must be the starting point and controlling factor for all thinking about the church and its mission.«6 Aus diesem Grund stellt das folgende Kapitel die Kirche in missionswissenschaftlicher, ekklesiologischer und kirchentheoretischer Hinsicht dar. Damit setzt das Nachdenken über Kirche in dem denkbar weitesten Rahmen ein, um von dort ausgehend zugespitzt zu werden, bis zu dem Zielpunkt der Beschreibung der evangelischen Fassung des Christentums in Deutschland im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Form der EKD und ihrer Gliedkirchen. Der kirchentheoretische Abschluss dieser Arbeit trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich um eine praktisch-theologische Arbeit handelt, die über eine (eher normative) Beschreibung (i. S. v. Bekennen) der Kirche im Rahmen ekklesiologischer Reflexion hinaus geht. Wird die (evangelische) Kirche im letzten Abschnitt in ihrem deutschen Kontext beschrieben, so berühren sich dort bereits das stärker soziologisch beschriebene Thema Stadt mit dem eher theologisch beschriebenen Thema Kirche und bereitet die Zusammenschau dieser zwei Themen zu dem einen Thema dieser Arbeit vor.
5 Michael Goheen schreibt im Anschluss über die Missionstheologie Leslie Newbigins: »Since Jesus is the fullest revelation of the Father’s character and will, our starting point for thinking about God and his mission must be Jesus Christ.« (Goheen 2004, 102). 6 Ebd.
»As Luke and Acts show us, mission starts not as a good idea from the apostles, but as their response to the action of God in raising Jesus from the dead. They did mission not because they wanted to but because they couldn’t do anything else.«1 David Goodhew
§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
Einen missionstheologischen Rahmen für die Frage nach Wesen und Auftrag der Kirche bietet die Konzeption der missio Dei, welche seit den 1950er Jahren den missionswissenschaftlichen Diskurs prägt. Diese theologische Denkfigur steht in enger Verbindung mit der Missionskonferenz in Willingen im Jahr 1952, welche in der Tradition der Weltmissionskonferenzen2 seit Edinburgh 1910 steht, in deren Folge 1921 der Internationale Missionsrat (IMR) gegründet worden ist.3 Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh war das Resultat einer sich seit dem 19. Jahrhundert ausbreitenden internationalen missionarischen Bewegung, die besonders von den protestantischen Kirchen Nordamerikas und Europas ausging.4 Die Entstehung des Begriffs missio Dei selbst sieht David Bosch in enger Verbindung mit der Theologie Karl Barths und arbeitet heraus, dass bei der Entwicklung des Begriffs der missio Dei Barths Einfluss unverkennbar sei: 1 Goodhew et al. 2012, 28 f. 2 Ausführlicher zu den Weltmissionskonferenzen von 1910 bis 1958 vgl. Wrogemann 2013, 71– 83. Für die Zeit von 1961–1968 vgl. aaO., 104–118. Zur Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 vgl. aaO., 121–128. Für den Zeitraum 1980 bis 1996 vgl. aaO.,142–159 und schließlich für die Jahre 2005–2013 (Athen bis Busan) vgl. aaO., 160–169. 3 Vgl. aaO., 46. 4 Für eine konzise Darstellung der Mission der Kirche im Lauf der Kirchengeschichte vgl. aaO., 31–46. Spannend ist Wrogemanns Beobachtung eines integrativen Missionsverständnisses innerhalb des englischen Methodismus: »Diese [die methodistische Betonung einer Wiedergeburt sowie der daraus resultierende methodische christlich-ethische Lebenswandel] führten zu einem missionarischen Bewusstsein, das sich, und dies ist ein Spezifikum des Methodismus bis heute, gleichermaßen auf die Verbesserung sozialer Zustände (Stichwort negative Aspekte der Industriellen Revolution, Massenarmut usw.) wie auch auf die persönliche Bekehrung des Einzelnen bezog.« (AaO., 36).
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
»Throughout, the Barthian influence was crucial.«5 Auf der Missionskonferenz von Willingen (1952)6 erreichte der missionstheologische Einfluss Barths damit seinen Höhepunkt: »It was there that the idea (not the exact term) missio Dei first surfaced clearly.«7 Wenngleich John Flett diese gemeinhin vertretene Betrachtung der Ereignisse hinterfragt8, hält er dennoch fest, dass die Theologie Barths für die theologische Entwicklung und Reflexion von missio Dei hilfreich ist und eine Fülle an richtungsweisenden Gedanken anbietet.9 Insofern setzt das Nachdenken über die missio Dei und die Sendung der Kirche mit einem Vortrag Karl Barths über die Mission ein.
1. Sendung aus dem Wesen Gottes 1.1 Karl Barth: »Die Theologie und die Mission in der Gegenwart« (1932) In seinem Vortrag »Die Theologie und die Mission in der Gegenwart«10, den Karl Barth am 11. April 1932 vor der Brandenburgischen Missionskonferenz in Berlin gehalten hat, definiert er Mission mit folgenden Worten: Was ist Mission? Ein Handeln der Kirche will sie sein, auch wenn das organisatorisch nur indirekt zum Ausdruck kommen sollte. Ein Handeln der Kirche, will sagen: eine bestimmte Gestalt des Bekenntnisses zu Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus, eine bestimmte Gestalt desjenigen menschlichen Handelns, das sich selbst als Gehorsam gegen den Aufruf Jesu Christi als des Herrn verstehen möchte, ein Versuch, seinen Willen zu tun, das heißt, seine Botschaft auszurichten, die Botschaft von ihm als dem Herrn, das heißt von dem Schöpfer, Versöhner und Erlöser des Menschen. Dies, dass Jesus Christus in Wahrheit und Wirklichkeit der Herr ist, ist der Inhalt des Wortes Gottes, das heißt des Wortes, das Gott zum Menschen spricht und dem die Kirche mit ihrem Handeln dienen möchte. Eben das möchte in der Kirche und mit der Kirche auch die Mission. Die bestimmte Gestalt, in der gerade die Mission dem Worte Gottes dienen möchte, besteht aber darin, dass sie sich bei der
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Bosch 2011, 381. Vgl. Wrogemann 2013, 78–81. Bosch 2011, 381. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Richebächer 2003, 186. Vgl. Flett 2010, 11–17. Vgl. aaO., 30–34. Siehe dazu auch den Aufsatz Missionstheologische Grundentscheidungen in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths von Günther Thomas, vgl. Thomas 2013, 11–34. 10 Vgl. Barth 2013, 164–208.
1. Sendung aus dem Wesen Gottes
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Ausrichtung der Botschaft von Jesus Christus an diejenigen Menschen wendet, die sich selber noch nicht in der Kirche befinden, das heißt, die sich noch nicht zu Gottes Selbstoffenbarung in Jesus Christus bekennen, die seine Stimme jedenfalls insofern noch nicht gehört haben und die ihm jedenfalls insofern noch nicht gehören, als ihre freilich auch ohne das feststehende Hörigkeit ihm gegenüber noch nicht durch den auch an ihnen geschehenen Botschafterdienst der Kirche, noch nicht durch ihre eigene Erkenntnis und noch nicht durch das den auch auf sie gerichteten Willen des Herrn bestätigende Zeichen der Taufe sichtbar geworden ist. Die unter diesem ›Noch nicht!‹ stehenden Menschen sind die Heiden. Die Mission ist, sie möchte sein: die Kirche, die sich an die Heiden und insofern nach außen wendet. Dieses Außen ist freilich auch drinnen. Es ist ja gesorgt dafür, daß [sic] der Heide auch in der Kirche, also die Botschaft gehört, die Buße getan, die Taufe empfangen habend, weiterlebt. Insofern ist und bleibt die Kirche selbst Heidenkirche, Sünder- und Zöllnerkirche. Insofern ist alles Handeln der Kirche Mission, auch wo es nicht ausdrücklich so heißt.11
Dieses längere Zitat macht deutlich, dass Barth die Mission nicht als eine Aufgabe der Kirche begreift, die sich diese selbst aussucht und ihr je nach Geschmack mehr oder weniger stark nachkommt. Bei der Mission der Kirche handelt es sich dagegen um ein gehorsames Tun dessen, was der sie begründende und sendende Herr ihr gebietet. Mission ist diejenige Form und Ausdrucksweise von Kirche, die der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus entspricht, da sie dem sendenden Wesen Gottes Ausdruck verleiht. Somit richtet sich Mission auch – aber eben nicht nur – an die dem Glauben noch Fernen. In der Mission ist die Kirche zu allen denjenigen gesandt, die unter dem Vorzeichen des von Barth angeführten »Noch nicht!« stehen. Dies betrifft sowohl diejenigen, welche noch nie vom Evangelium gehört haben als auch diejenigen, die bereits davon gehört haben und ihr Leben eine entsprechende Umkehr erfahren hat. Auch diese Menschen sind zuweilen oder gar bleibend und immer wieder unter dem »Noch nicht!«. Ihr Leben ist immer wieder darin angefochten, der Wahrheit des Evangeliums zu misstrauen.12 Folglich ist nach Barth »alles Handeln der Kirche Mission, auch wo es nicht ausdrücklich so heißt.«13
11 Barth 2013, 165 f. Hervorhebung im Original. 12 Besonders Tim Keller hat auf die Notwendigkeit einer persönlichen Aneignung der Dogmen unter dem Stichwort gospel renewal (Vgl. Keller 2014b, 57–79) hingewiesen. Vgl. dazu auch Reppenhagen 2014. 13 Barth 2013, 166.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
1.2 Gott als das Subjekt von Mission Barth erläutert weiter, dass die Kirche in ihrem Dienst der Mission – wenngleich sie auch Subjekt14 dieser Mission ist – immer an Gottes Handeln in, durch und an (zuweilen trotz) der Kirche verwiesen und davon abhängig ist. Das Entscheidende, welches die Kirche zur Ausübung dieses Dienstes bedarf (»Missionstat, Missionswille und Missionskraft«), kann sie immer nur von Gott erbitten und von ihm erhalten15: »Der Durchbruch, das Geschehen dessen, was in der Kirche geschehen sollte, wird dann […] in schlichter Ausschließlichkeit von dem Herrn der Kirche (und von diesem nur, sofern es sein gnädiger Wille ist) erwartet.«16 Gott ist also das Subjekt17 der Mission und die Kirche ist insofern von seinem Handeln durch sie abhängig – sie kann nicht eigenmächtig missionarisch werden. Im Wesentlichen führt Barth die Mission der Kirche als missio (Sendung) auf die Trinitätslehre zurück: Muss es nicht auch dem treuesten Missionar, auch dem überzeugtesten Missionsfreund zu denken geben, dass ›missio‹ in der alten Kirche ein Begriff aus der Trinitätslehre, nämlich die Bezeichnung für die göttlichen Selbstsendungen, die Sendung des Sohnes und des Heiligen Geistes etwa in die Welt gewesen ist? Versteht es sich etwa von selbst, dass wir es anders halten dürfen?18
Mit diesem Bemühen, sich auf den Ursprung der kirchlichen Mission zu besinnen, verbindet Barth die zwei Themen, die sachlogisch aufs Engste zusammengehören und keinesfalls getrennt voneinander betrachtet werden können: das trinitarische Wesen Gottes und die Sendung der Kirche durch den dreieinigen Gott.19 Dabei kann sich die Kirche nicht selbst in die Sendung stellen – entweder sie ist gesandt oder nicht. Die Sendung durch Gott geht einher
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Zu den Schwächen und Gefahren dieses Ansatzes vgl. Flett 2010, 45–47. Vgl. Barth 2013, 180 f. AaO., 175. »Gott ist der, der in diesem Ereignis Subjekt, Prädikat und Objekt ist, der Offenbarer, die Offenbarung, das Offenbarte, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gott ist der in diesem Ereignis handelnde Herr.« (Barth 1975b, 294). 18 Barth 2013, 187. 19 John Flett sieht diese Einschätzung kritisch: »Barths’s 1932 lecture does not ground missions in the doctrine of the Trinity. His emphasis on God’s subjectivity is a direct consequence of his understanding of the doctrine, but he does not develop a positive account of the Trinity’s missionary economy.« (Flett 2010, 122). Vgl. dazu auch aaO., 120–122.
1. Sendung aus dem Wesen Gottes
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mit der Berufung der Kirche als Herausgerufene (ekklesia)20 und zum Herrn Gehörige (kyriake)21, welche aus der Beauftragung durch den Auferstandenen (Mt 28,18–20) mittels des Heiligen Geistes (Joh 20,21 f.) resultiert. Somit gehört die Sendung zum Wesen der Kirche.22 Daraus folgt, dass das einzig wirklich tragfähige Motiv zur Mission der »jetzt ergehende […] Befehl des Herrn [ist,] auf den man sich nur berufen kann, indem man darum betet, ihn zu empfangen, indem man ihn wiederholt und ausführt, wie man ihn gehört hat […]«23. Die Kirche kann sich ihren Auftrag zur Mission also nicht selbst erteilen oder sich gar selbst senden. Sie ist gesandt und hat diesem Auftrag gehorsam Folge zu leisten, oder sie verliert ihre »wesensnotwendige Funktion«24 sowie ihre »unentbehrliche Lebensäußerung«25 und damit letztlich ihr Sein als ekklesia und kyriake. David Bosch merkt zu Barths26 Aufsatz an: »[Barth] became one of the first theologians to articulate mission an activity of God himself.«27 Wenn Mission als Sendung in Gottes Handeln und in seinem Wesen wurzelt, dann ist eine Beschäftigung mit dem Wesen Gottes unerlässlich. Dabei hält Edmund Schlink fest, dass »[d]ie Lehre von Gottes Taten […] nicht möglich [ist] ohne die Lehre von Gott. Andernfalls würde die Dogmatik nicht G ottes Taten
20 Zum Begriff vgl. Roloff 1980, 998–1011. Außerdem vgl. Schlink 2005, 563 f., 556–569 sowie 578–580, Frey 2014, 32f und Georgi 2009, 144 ff. Vgl. auch Zimmermann 2009,7; Härtner 2016, 94; Kunz 2014; 270–272, Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 272; Grethlein 2016, 338 f.386f und Grethlein 2017, 33 ff. Zu der Reichweite des Begriffs ekklesia: »›Ekklesia‹ bezeichnet im Neuen Testament drei deutlich voneinander unterschiedene Sozial-formen: »›Ekklesia‹ heißen die Christen im ökumenischen, also den ganzen bewohnten Erdkreis umfassenden Sinn (1 Kor 4, 17; Mt 16, 18). ›Ekklesiai‹ (Plural) begegnen in Städten, etwa in Korinth (1 Kor 1, 2) oder in Landschaften, z. B. in Syrien und Zilizien (Apg 15, 41). Mehrfach wird das ›Haus‹, also die soziale Vorform der Familie, ›ekklesia‹ genannt (Röm 16, 5; 1 Kor 16, 19; Phlm 2; Kol 4, 14). ›Ekklesia‹ umfasst also Haus-gemeinden, Orts- und Provinzialgemeinden und die weltweite Ökumene. Dabei gibt es keine Prioritäten oder Nachordnungen. Sachlich haben die drei verschiedenen Sozialformen den Bezug auf Jesus Christus als gemein-samen Grund. Dies findet für jeden einzelnen Menschen persönlich in der Taufe Ausdruck.« (Grethlein 2014a, 147f). Vgl. auch ders. 2018, 33–36 und Markschies 2006, 76–78. Zum Versammlungscharakter der Ekklesia vgl. Karle 2011b, 131–138. 21 Vgl. Schlink 2005, 554 und Kunz 2014, 270. 22 Vgl. Schlink 2005, 569–571. 23 Barth 2013, 189. 24 AaO., 185. 25 Ebd. 26 Dagegen bezweifelt John Flett die enge Verbindung von Karl Barths Theologie und der Entstehung des Konzepts einer missio Dei und hält dies für einen Irrtum aufgrund historischer Ungenauigkeit, vgl. Flett 2010, 11–17. 27 Bosch 2011, 381.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
lehren.«28 Dabei seien es laut Schlink gerade die Taten Gottes,29 die es ermöglichen von Gott zu reden, ohne sich damit etwas anzumaßen, was menschlich nicht möglich wäre. »Denn Gott ist nicht verborgen geblieben, er hat sich durch sein Wort zu erkennen gegeben, ja er ist in Jesus unter uns erschienen.«30 Deshalb kann der Mensch sagen: »[Gott] ist nicht das bloße Woher unserer Existenz geblieben, sondern er hat uns bezeugt, wer er ist.«31 Georg Vicedom spricht von »echter Theologie, die ja nie ein Gedankensystem über Gott sein kann, sondern immer nur das Handeln Gottes in der Geschichte zu beschreiben hat.«32 Dies ist die Grundlage und die Ermöglichung menschlichen Nachdenkens über Gott als Trinität.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes als Ursprung der Mission der Kirche 2.1 Die Lehre von der Trinität als Folge der Selbstoffenbarung Gottes Im Anschluss an die grundsätzliche Feststellung Christoph Schwöbels, dass »[e]s […] zum Grundbestand reformatorischer Theologie [gehört], daß [sic!] sie die Lehre des christlichen Glaubens an den biblischen Überlieferungen als dem paradigmatischen Zeugnis der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus orientiert«33 soll im Folgenden die Frage nach Gottes Wesen und Gottes Sendung unter besonderer Berücksichtigung des biblischen Zeugnisses nachgegangen werden. Fundamental gilt, dass das Wirken Gottes (die ökonomische Trinität: opera trinitatis ad extra) in dieser Welt (sc. seine Offenbarung) mit Überlegungen zum Wesen Gottes (die immanente Trinität: opera trinitatis ad intra) konfrontiert wird.34 Der katholische Theologe Karl Rahner hält dazu fest: »Die ›ökonomische‹ Trinität ist die immanente Trinität und umgekehrt.«35. Die Trinität
28 Schlink 2005, 64. 29 Vgl. dazu den Abschnitt Gottes Sein in der Tat aus KD Band II/1, in Barth 1975b, 288–305. 30 Schlink 2005, 64. 31 Ebd. 32 Vicedom 1958, 15. 33 Schwöbel 2002, 394. 34 Vgl. Leonhardt 2009, 219–238. 35 Rahner 1967, 115.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes
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ist also das Wesen Gottes und das Wesen Gottes ist die Trinität.36 Damit ist die Lehre von der Trinität zum Grundaxiom der christlichen Dogmatik gesetzt (bzw. als »Integral der christlichen Glaubenslehre«37 oder als »Rahmentheorie des christlichen Glaubens«38), von welchem aus die gesamte Dogmatik verstanden werden muss, da sich in ihr (reflektierend) nachvollzieht, wie sich Gott in der Welt heilsschaffend offenbart hat.39 Insofern kritisiert Rahner die Trennung der Traktate 1. De Deo uno und 2. De Deo trino als unzulässig40 und steht damit, zusammen mit Karl Barth (welcher die Lehre der Trinität an den Beginn seiner Dogmatik stellt)41, für eine »Renaissance der Trinitätslehre«42 im 20. Jahrhundert. Diese Trinitätslehre hat ihren Ansatz bei der Offenbarung Gottes als Selbstoffenbarung bzw. Selbstmitteilung Gottes.43 Christoph Schwöbel formuliert den Grundgedanken dieses trinitätstheologischen Ansatzes so: »Gott ist in sich so, wie er für uns ist.«44 Die Konsequenz, so Schwöbel, liege darin, dass »die Rede über die Heilsgeschichte indirekte Trinitätslehre und die Trinitätslehre indirekte Heilsgeschichte ist.«45 Die Identität des Christentums wird durch den Verweis auf Jesus Christus als die Selbsterschließung der Identität Gottes bestimmt. […] Die Frage ›Wer ist Jesus Christus für uns?‹ lässt sich nicht ohne Beziehung zu dem Gott Israels, den Jesus Vater nennt, und nicht ohne Beziehung auf die Gegenwart Gottes für uns, d. h. auf den Geist, beantworten. […] Wem oder an wen im christlichen Glauben geglaubt wird, ist die Voraussetzung für die Bestimmung dessen, was im christlichen Glauben geglaubt
36 Vgl. Bemerkungen zum dogmatischen Traktat »De Trinitate« in Rahner 1967, 115–133, vgl auch Barth 1981, 367–395. 37 Schwöbel 2002, 42. 38 AaO., 51 und vgl. dazu den gesamten Aufsatz Die Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, aaO., 25–51. 39 Vgl. aaO., 29 f. 40 Vgl. Rahner 1967, 110–115. 41 Vgl. Barth 1981, 311–404. Weiterführend vgl. aaO., 404–514. 42 Jürgen Moltmann beklagt eine Vernachlässigung der Trinitätstheologie – nicht nur, aber besonders auch in der protestantischen Theologie – und macht deutlich, dass es v. a. die Inkarnation Gottes und besonders das Kreuz Christi seien, die zu einem trinitätstheologischen Nachdenken nötigen, vgl. Moltmann 1987, 223 ff. 43 Vgl. Schwöbel 2002, 25–30. Rahner betont hierbei die zentrale Rolle der Bibel und einer ihr verpflichteten Theologie: »Daß [sic!] solche und viele Folgerungen, die sich aus dieser These ergeben, gegen den ganzen inneren Duktus der Heiligen Schrift sind, kann wohl nur der bestreiten, der seine Theologie nicht unter die Norm der Schrift stellt, sondern dieser nur zu sagen erlaubt, was er von seiner Schultheologie her schon weiß, und alles andere geschickt und kaltblütig wegdistinguiert.« (Rahner 1967, 120). 44 Schwöbel 2002, 30. 45 Ebd.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
wird. […] Insofern gilt, daß [sic!] die Trinitätslehre die begriffliche Explikation des im Gottesverhältnis des christlichen Glaubens enthaltenen Gottesverständnisses ist.46
Dass es die christliche Theologie beim Nachdenken über die Trinität Gottes mit der Selbstmitteilung Gottes zu tun hat, wird u. a. in der Szene der Taufe Jesu47 in Mk 1,9–11 parr. deutlich. Sie stellt das theologische Denken seit jeher vor die Herausforderung, dass in dieser Szene drei Personen vorkommen: Der Sohn, der getauft wird, der Geist, der wie eine Taube auf ihn herabkommt und der Vater, der spricht: »Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.« Bereits deutlich expliziter finden wir die Vorstellung einer Trinität in den matthäischen Worten des Auferstandenen an seine Jünger in Mt 28,19: »Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«. Weitere Aussagen Jesu aus dem Johannesevangelium unterstreichen die Bedeutung des Themas: »Gott ist Geist« (Joh 4,24a und vgl. auch ähnlich 2Kor 3,17), »Wer mich sieht, sieht den Vater!« (Joh 14,9b) und »Ich und der Vater sind eins« (Joh 10,3048 vgl. dazu auch 10,38, 14,8–11 und 17,21).49 Die Schlussfolgerung: »Wo wir es mit Christus und dem Heiligen Geist zu tun haben, haben wir es mit Gott selbst zu tun.«50
46 AaO., 33.36.37. Hervorhebung im Original. 47 Insofern stellt die Christologie gleichsam die Tür zu einem Nachdenken über die Trinität dar und somit ist die Taufe Jesu als Startpunkt eines Nachdenkens über die Trinität und die missio Dei der richtige Topos. So eröffnet auch Edmund Schlink seine Dogmatik mit dem »Evangelium als Voraussetzung kirchlicher Lehre« und setzt bei der Erkenntnis Gottes beim Evangelium von Jesus Christus ein, vgl. Schlink 2005, 1 ff. 48 Dazu Udo Schnelle: »Basis des joh. Denkens ist die Seins- und Wirkeinheit von Vater und Sohn, kaum zufällig steht Joh 10,30 […] genau in der Mitte des 4. Evangeliums. Das Zentrum der joh. Theologie ist die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus.« (Schnelle 1998, 22). 49 Die vier Bibelstellen, die nach Rochus Leonhardt die eigentliche Schriftgrundlage für die Lehre von der Trinität darstellen sind: 1Kor 12,4–6; 2Kor 13,13; Eph 4,4–6 und Mt 28,19, vgl. Leonhardt 2009, 220. Schwöbel dagegen nennt paradigmatisch Röm 8,11 und 8,14–17, vgl. Schwöbel 2002, 35. Vgl. auch aaO., 39: Hier legt Schwöbel Joh 16,13–15 trinitätstheologisch aus. 50 Leonhardt 2009, 219.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes
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2.2 Kirchen- und dogmengeschichtliche Verortung Die daraus resultierende Lehre der Trinität Gottes51, die in den ersten Jahrhunderten der Kirchen- und Dogmengeschichte herausgebildet worden ist52, unterscheidet die christliche Gotteslehre von nichtchristlichen Auffassungen grundlegend und stellt laut Jürgen Moltmann die »christliche Unterscheidungslehre gegenüber Polytheismus, Pantheismus und Monotheismus«53 dar.54 Ausgehend von der schon früh allgemein verbreiteten Überzeugung, dass Jesus Christus »weder ein bloßer Mensch von außerordentlichen Gaben noch ein Gott mit Scheinleib, sondern ein wirkliches menschliches, aber zugleich göttliches Wesen war«55, begann die Kirche und mit ihr die Theologie an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert n. Chr. mit der Herausbildung einer Lehre von der Trinität Gottes. Der sog. trinitätstheologische Streit des 4. Jahrhunderts entzündete sich ursprünglich an der Frage nach der Stellung von Christus zum Vater. Später wurde die Person des Heiligen Geistes in den Streit einbezogen. Die Klärung der Auseinandersetzung gelang durch die Position56 der drei Großen Kappadozier: Basilius der Große57, Bischof von Caesarea in Kappadozien († 379), Gregor, Bischof von Nyssa († 390er Jahre) und Gregor, Bischof von Nazianz († 390er Jahre). Die Lehre der Kappadozier beinhaltet die volle Göttlichkeit aller drei 51 Karl Barth bezeichnet sie als »Interpretation der biblischen Offenbarung«, Barth 1981, 367. Rochus Leonhardt weist darauf hin, dass allein die Wahl der Begriffe (u. a. Zeugung und Hauchung) dem Gegenstand unangemessen seien und im Bezug auf die Trinität anders gebraucht werden als in menschlichen Zusammenhängen. So beschreibe Zeugung bspw. die Qualität der Beziehung zwischen Vater und Sohn als wesensgleich und nicht einen technischen Vorgang, vgl. Leonhardt 2009, 227. Vgl. auch Barth 1981, 388; Schlink 2005, 751–753 und Theißen 2013, 559–564. Bei all diesen Überlegungen muss man sich klar machen, dass dies menschliche, und damit fehlerhafte, vorläufig-fragmentarische und potentiell unangemessene Beschreibungen dessen sind, was in der christlichen Theologie als »Geheimnis der Trinität« (mysterium trinitatis) (vgl. Rahner 1967, 115) beschrieben wird. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es für die Vorstellung einer Dreieinigkeit keine Analogien gibt (vgl. Barth 1981, 384–388). 52 Vgl. Moeller 2006, 136–143. 53 Moltmann 1987, 222 f. 54 Vgl. auch Rahner, der einen christlichen Monotheismus kritisiert, der weitestgehend ohne eine Trinitätslehre auskommt in Rahner 1967, 105ff: »Man kann den Verdacht haben, daß [sic!] für den Katechismus des Kopfes und des Herzens […] die Vorstellung des Christen von der Inkarnation sich gar nicht ändern müßte [sic!], wenn es keine Dreifaltigkeit gäbe. Gott wäre dann eben als (die eine) Person Mensch geworden, und mehr ergreift der durchschnittliche Christ ausdrücklich bei seinem Bekenntnis zur Inkarnation faktisch ja doch nicht.« (AaO., 105f). 55 Vgl. Moeller 2006, 137. 56 Schwöbel bezeichnet diesen Ansatz im Anschluss an John Zizioulas als »Revolution in der griechischen Philosophie« (Schwöbel 2002, 45). 57 Siehe auch die Ausführungen Basilius’ über den Heiligen Geist und die Verwendung von Wesen und Hypostasen, vgl. Ritter 2004, 175–177.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
Personen der Trinität. Sie betonten jedoch ebenso die Unterschiedenheit der drei Personen. Die – wohl auf Tertullian († nach 220) zurückgehende58 – Formulierung, dass die drei Personen der Trinität ein Wesen (οὐσία), aber drei selbstständige Existenzformen (υπόστασις) (bzw. eine Substanz und drei Personen) haben, geht im Wesentlichen auf die drei Kappadozier zurück.59 Den vorläufigen Abschluss des Streits bildet das Konzil von Konstantinopel (381). Das dort formulierte Glaubensbekenntnis ist das einzige dreigliedrige Credo, das die Kirchen des Ostens und des Westens gemeinsam haben.60 Karl Barth61 spricht von einer Wesensidentität der drei Personen, aus der die Wesensgleichheit folgt. So leugne, nach Barth, eine antitrinitarische Position entweder die Offenbarung Gottes in Christus und durch den Heiligen Geist oder sie verlasse den Boden des Monotheismus. Insofern erweist sich Gottes Einheit gerade in der Lehre von seiner Dreiheit.62
2.3 Gottes Wesen als Liebe Ausgehend von 1Joh 4 wird das Wesen Gottes als Liebe beschrieben und damit nicht ausgesagt, dass Gott Liebe hat, sondern dass er Liebe ist. Liebe gehört zum Wesen Gottes und insofern muss Gottes Sein als ein »Sein-in-Beziehung«63 verstanden werden. Daraus folgt, dass Gott nicht eine Person sein kann, da ohne ein interpersonales Gegenüber keine Liebe möglich ist und Gott bis zur Erschaffung der Welt nur potentiell, aber nicht wirklich geliebt hätte. Dies hätte die Konsequenz, dass Gott des Menschen bedarf, um zu werden was er offenbar ist: Liebe (vgl. die Lehre von der Liebestrinität 64).
58 Vgl. Schlink 2005, 747 f. Bei Tertullian heißt es: »una substantia – tres personae« und »unitas in trinitate«, vgl. dazu Moreschini 2008, besonders 174. 59 Vgl. Moeller 2006, 139–141. 60 Vgl. aaO., 142 f. Zum Problem des filioque vgl. Oberdorfer/Felmy 2000, 119–121, Leonhardt 2009, 229f, 310–314 sowie Schlink 2005, 743f und besonders 755–760 sowie Moltmann 1980, 194–203 und Schirrmacher 2011, 76–93. 61 Karl Barth hat die Trinitätslehre – entgegen Friedrich Schleiermacher (Schluss der Glaubenslehre: Von der göttlichen Dreiheit §§ 170–172, vgl. Schleiermacher 1889, 248ff) und der ihm folgenden Tradition – in die Prolegomena der Dogmatik aufgenommen. 62 Vgl. Die Einheit in der Dreiheit, Barth 1981, 367–373. Vgl. dazu auch die zweite These Christoph Schwöbels zur Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens in Schwöbel 2002, 37–43. 63 Vgl. Schwöbel 2002, 42 f. Vgl. dazu auch den Abschnitt Gottes Sein als der Liebende, in Barth 1975b, 306–334. 64 Vgl. Moltmann 1980, 187–190 und 191–193.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes
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Es besteht jedoch zwischen Gott und der Welt bzw. dem Menschen kein »notwendiges Reziprozitätsverhältnis«65 und »Gott wandelt sich nicht zum Liebenden, wenn er die Welt liebt.«66 Dass Gott einer ist, bedeutet eben gerade nicht, dass er einsam oder einzeln ist.67 Die Schlussfolgerung lautet: Gott muss von Ewigkeit her mehr als eine Person (»Seinsweise«68) sein, um zu lieben und damit Liebe sein zu können69: »Gott tritt damit nicht erst in Beziehung, wenn er die Welt liebt, sondern sein Sein-in-Beziehung als Liebe zwischen Vater, Sohn und Geist wird in Gottes Beziehung zur Welt manifestiert.«70 Eine hilfreiche Denkfigur zur Beschreibung der innertrinitarischen Beziehungen ist die Lehre von der Perichorese.71
2.4 Die Lehre von der Perichorese Johannes Damascenus hat den Begriff Perichoresis72 (lat.: circumincessio oder später circuminsessio)73 (Durchdringung bzw. wörtlich umhertanzen, umtanzen74) geprägt und Timothy Keller spricht im Anschluss an C. S. Lewis75 von einem Tanz der Trinität76, der den Kern aller Wirklichkeit bestimme.77 Dieser Tanz bedeutet, dass die drei Personen der Trinität sich in einem »ewigen Gegenüber, Füreinander und Ineinander, [in] ewiger Gemeinschaft und wechselseitiger Durchdringung […]«78 befinden. »Es ist ein Prozeß [sic!] vollkommener und 65 66 67 68 69 70
71 72 73 74 75 76 77 78
Schlink 2005, 374. Schwöbel 2002, 43. Vgl. Schlink 2005, 373 ff. Vgl. aaO., 374 sowie für das mit der Verwendung des Begriffs »Person« verbundene Problem, vgl. aaO., 375–379. Vgl. aaO., 373–388 und aaO., 751–753. Schwöbel 2002, 43. »Gottes Gottsein erschöpft sich nicht in den klassischen Prädikaten wie Unwandelbarkeit, Einfachheit, Vollkommenheit etc., sondern diese sind umgekehrt vor dem Hintergrund der überströmenden und beziehungswilligen Lebensfülle dieses Gottes durchzubuchstabieren. Gott ist in sich zuhöchst und zuvörderst Lebendigkeit, Beziehung – und er will nicht nur das andere seiner selbst, sondern er will dieses andere als eines, das in Freiheit ja oder nein zu seinem Beziehungsangebot sagen kann.« (Reményi 2017, 384). Vgl. Jüngel 2008. Vgl. dazu aaO., 1109–1111. Als grundlegende Bibelstellen gibt Jüngel Joh 10,30; 10,38; 14,9–11; 17,21 und 1Kor 2,10 f. an. Vgl. dazu auch Moltmann 1980, 191–193 und ders. 1999, 277–283. Zu den Begriffen vgl. Moltmann 1999, 278 f. Vgl. Gemoll 1965, 601 Vgl. u. a. Lewis 2014, 169–239, besonders 169–192. Zum Ursprung der Metapher des Tanzes vgl. Moltmann 1999, 278 f. Vgl. u. a. Keller 2008, 213–226. Schlink 2005, 747.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
intensivster Empathie.«79 Gott ist, so Schlink, »Ich und Wir zugleich«80. Mit anderen Worten: »God is, in essence, relational.«81 Jürgen Moltmann schlussfolgert: Die Lehre von der Perichoresis verbindet auf geniale Weise die Dreiheit und die Einheit, ohne die Dreiheit auf die Einheit zu reduzieren oder die Einheit in die Dreiheit aufzulösen. In der ewigen Perichoresis der trinitarischen Personen liegt die Einigkeit der Dreieinigkeit. Perichoretisch verstanden, bilden die trinitarischen Personen durch sich selbst ihre Einheit im Kreislauf des göttlichen Lebens.82
Weiter Moltmann: »Jede Person findet ihre Existenz und ihre Freude in den anderen Personen. Jede Person empfängt die Fülle des ewigen Lebens von den anderen Personen.«83 Und weiter: »Die trinitarischen Personen bringen sich gegenseitig und gemeinsam zum Leuchten durch die Herrlichkeit. Sie erglühen zur vollkommenen Gestalt durch einander und erwachen zur vollendeten Schönheit aneinander.«84 Nach Hans Urs von Balthasar sei der Ort, an dem sich dieses »innere Liebesgeheimnis« für die Welt öffnet, die Selbstentäußerung Christi als zweite Person der Trinität, denn »genau in der Kenose Christi (und nur darin) erscheint das innere Liebesgeheimnis des Gottes, der in sich selbst ›Liebe‹ ist (1Joh 4,8) und deshalb ›dreieinig‹.«85 Dabei unterstreicht die Tatsache, dass der Vater und der Sohn von Ewigkeit her eins sind, einerseits das Schwere und Verstörende der Selbstentäußerung Christi »bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz« (Phil 2,8) und der sich darin andererseits offenbarenden Tiefe der ewigen und absoluten Liebe Gottes, »weil niemand eine auch nur annähernd so furchtbare Gottverlassenheit erfahren kann als der mit dem ewigen Vater ewig wesensverbundene Sohn«86 und dies dennoch anstelle, für und zu Gunsten der Menschen tut, die zu diesem Zeitpunkt (noch) seine
79 80 81 82 83 84 85 86
Moltmann 1980, 191. Schlink 2005, 753. Keller 2008, 214. Moltmann 1980, 191. AaO., 190. AaO., 192. Balthasar 2011, 57. AaO., 62.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes
217
Feinde waren (vgl. Röm 5,8.10).87 Somit erscheine in Christus die »Liebe als das Absolute, als unfaßlicher Inbegriff des ganz-anderen Gottes […]«.88 Sowohl Theo Sundermeier als auch dessen Schüler Henning Wrogemann betonen die Herleitung des Gedankens der missio Dei aus der Liebe Gottes.89 Sundermeier fokussiert dies in der Formulierung, dass »Gott […] als der Liebende zum Menschen [kommt]«90 und verbindet damit Gottes Wesen als Liebender und die daraus resultierende Handlung als Sendender und Gesandter. Dass mit der Sendung Gottes Wesen zum Ausdruck kommt, beschreibt Wrogemann, indem er den Begriff »Missio amoris Dei« in die Diskussion einbringt.91
2.5 Gottes Wesen und Sendung als Ursprung der kirchlichen Mission In der Beschreibung der »innertrinitarischen Sendungsvorgänge«92 hat der Begriff Missio seinen Ursprung und seine Berechtigung und wurde in diesem Zusammenhang von Augustinus93 geprägt und später von anderen Theologen, u. a. Thomas von Aquin, als Terminus Technicus zur Beschreibung der Sendung des Sohnes durch den Vater und des Geistes durch Vater und Sohn94 sowohl in
87 Vgl. dazu auch die Ausführungen Ingolf Dalferths zum Leiden Gottes am Kreuz, welches er als den Abgrund in Gott selbst beschreibt, in den Gott den Widerspruch (der schärfer als jeder Atheismus und Antitheismus ist) an sich selbst erträgt und in sich selbst aufnimmt, Dalferth 2007, 212–219. Moltmann spricht von der »offenen Trinität«, die den Menschen einlädt, Teil des Lebens der Trinität zu werden, vgl. Moltmann 1999, 282 f. 88 Balthasar 2011, 67. »Deswegen ist die ewige innertrinitarische Liebe der Inbegriff der Liebe und Ausgangs-punkt jeder christlichen Liebe und Ethik. Die Personen der Dreieinigkeit reden miteinander, planen miteinander, gehorchen einander, handeln für einander, sorgen füreinander, ehren einander usw., und alle diese Handlungen sind auf Liebe bezogen.« (Schirrmacher 2011, 64). 89 Vgl. Sundermeier 2002, 1243–1262 und Wrogemann 2003, 295–313. 90 Sundermeier 2002, 1247. 91 Vgl. Wrogemann 2016, 305–322. Vgl. Schirrmacher 2011, 63 f. 92 Schirrmacher 2011, 9. 93 Vgl. Vicedom 1958, 13 f. 94 Georg Vicedom unterscheidet hier eine spezielle missio Dei der Sendung des Sohnes sowie der Gabe des Heiligen Geistes und eine allgemeine Sendung Gottes als missio Dei, die eng verbunden ist mit der Providentia Dei zur Erhaltung der Schöpfung (zur Providenzlehre vgl. Leonhardt 2009, 248–251): »Gott sendet sogar ganz unpersönliche Realitäten und sagt uns damit, daß [sic!] er auch unmittelbar auf die Welt einwirkt. Er sendet z. B. das Schwert hinter seinem Volke her (Jer 9,16). Er sendet Korn und Wein, auch Öl (Joel 2,19), und erweist sich so in seinem Senden als ein Gott der Liebe; darum sendet er speziell seinem Eigentumsvolk Güte und Treue (Ps. 57,4), Güte und Wahrheit (43,3), sein Wort (107,20) und einen Hunger
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
der immanenten als auch der ökonomischen Trinitätslehre verwendet.95 Aus nicht genauer bekannten Gründen war es Ignatius von Loyola, der den Begriff der missio im 16. Jahrhundert zur Beschreibung der Ausbreitung des Evangeliums durch die Kirche gebrauchte. Von hier aus fand der Begriff dann auch Eingang sowohl ins Kirchenlatein (in Anlehnung an den griechischen Begriff Apostel) als auch ins Deutsche und wurde zunehmend zum Standardbegriff, um die Sendung einzelner Christen sowie der Kirche zur Ausbreitung des christlichen Glaubens zu beschreiben.96 Diese Beobachtung macht den engen inneren Zusammenhang von Gotteslehre, Missiologie und Ekklesiologie deutlich. Wenn der Begriff der Mission ursprünglich aus der Gotteslehre stammt, dann unterstreicht dies, dass es sich beim Thema Mission der Kirche als missio Dei um einen Topos handelt, welcher tief im Wesen Gottes als Sendendem und Gesandten verwurzelt ist und dort nicht nur ethymologisch, sondern auch sachlich seinen Ursprung hat. Michael Moynagh verweist auf die Tatsache, dass eine zentrale Konsequenz aus der Lehre von der Trinität Gottes ist, dass sowohl Selbsthingabe als auch Sendung zum Wesen Gottes gehören.97 Moynagh betrachtet diese als vergleichbar grundlegend wie die Liebe, welche eben nicht nur ein Attribut neben anderen ist, sondern zutiefst das Wesen Gottes per se beschreibt.98 Diese Annahme kann auf der Grundlage zahlreicher biblischer Belege99 sowie in Anlehnung an das Bekenntnis von Konstantinopel (381 n. Chr.) erhärtet werden, indem man festhalten kann, dass Gott – in seiner überströmenden Liebe – ein Sendender ist. Dies bedeutet: Gott, der Vater sendet seinen Sohn Jesus, der als inkarnierter Logos Teil dieser Welt wird. Jesus verheißt für die Zeit nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt den Heiligen Geist (Joh 20,22 und Apg 1,8) und somit senden Vater und Sohn den Heiligen Geist in die Welt (Apg 2,1–13). Im Anschluss an diese Sendung des Sohnes durch den Vater und des Geistes durch den Vater
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nach dem Wort (Am 8,11), seine Erlösung (Ps. 111,9). Gott erhält also durch seine Sendung die Welt und führt die Menschen. Er erweist sich als ein Gott, der seine Schöpfung nicht aus seiner Fürsorge entlassen hat.« (Vicedom 1958, 15). Vgl. Schirrmacher 2011, 9 f. Vgl. aaO., 9–13. In der Selbsthingabe entdeckt Moynagh das zentrale Element der Mission Gottes, vgl. Moynagh 2012, 125. Vgl. aaO., 120–128. Wie Gal 4,4a (»Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn […]« vgl. auch Mt 10,40; Lk 10,16; Joh 4,34; 5,24; 14,16–17a; 17,18; 20,21), Joh 15,26 (»Wenn aber der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird Zeugnis geben von mir.«) und Joh 16,7 (»Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, dann kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.«, vgl. auch Gal 4,6). Eine ausführliche Liste mit Bibelstellen zum Thema Sendung findet sich bei Schirrmacher 2011, 25–36.
2. Dogmatischer Exkurs: Die Lehre von der Trinität Gottes
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und den Sohn, sendet nun der Sohn seine Jünger in der Kraft des Heiligen Geistes: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.« (Joh 20,21b; vgl. auch Joh 17,18 und Joh 20,22b).100 Für Moynagh ist Mission folglich kein zweiter Schritt für Gott, welcher sich aus Gottes Wesen ableitet, sondern Mission gehört wesenhaft zu Gott und muss somit auch wesenhaft für die Kirche sein: It follows that just as mission is not a second step for God, it must not be a second step for the church. If mission does not derive from any other divine attribute but is a characteristic of God in its own right, mission should not flow from any other aspect of the church’s life but be an intrinsic dimension of ecclesial life. […] Just as all the divine attributes are bound together and expressed in God’s self-giving, so all aspects of the church’s life will combine when the church gives itself to the world. […] Mission cannot therefore be a second step for the church. The church does not have a mission (which can sound like an afterthought), just as God does not have a mission. The church is missionary in its nature, as God is missionary in his nature.101
2.6 Bündelung Bündelt man das bisher Dargelegte, so wird deutlich, dass sich bei den Überlegungen zur missio Dei drei Themen treffen, die auseinander resultieren und aufeinander bezogen sind: Gottes Trinität, Gottes Liebe und Gottes Sendung. Gottes Wesen ist tripersonal und somit wesenhaft als Liebe beschrieben. Diese innergöttliche Liebe ist sich selbst genug und öffnet sich dennoch durch die Schöpfung auf den Menschen hin und erschafft ihn zum Ebenbild. Dass Gottes Liebe zum Menschen bedingungslos und unverbrüchlich treu ist, konkretisiert sich in der Sendung Gottes als Sohn und Geist. Dies bedeutet, dass Gottes Schöpfungs- und besonders Gottes Heilshandeln Ausdruck seiner Liebe sind, welche seine innertrinitarische Liebesbewegung auf den Kosmos im Allgemeinen und auf den Menschen im Besonderen ausweitet. Dabei schafft Gottes Liebesbewegung auch die Voraussetzungen der menschlichen Antwort, denn »[w]äre die Antwort […] nicht von der einseitigen Gnadenbewegung Gottes zum Menschen mitgebracht und sich-voraus-gesetzt, so wäre das Verhältnis von vornherein zweiseitig, was einen Rückfall in das anthropologische Schema besagen würde.«102 Dazu Flett: »The Father sent his Son and Spirit into the world 100 Über die Untrennbarkeit der Personen im Handeln Gottes als Trinität vgl. Moltmann 1999, 272–274. 101 Moynagh 2012, 124f und zur Diskussion vgl. aaO., 122–126. 102 Balthasar 2011, 50.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
and this act reveals his ›sending‹ being. He remains active today in reconciling the world to himself and sends his community to participate in this mission.«103
3. Die missionstheologische Figur der missio Dei 3.1 Die Missionskonferenz in Willingen (1952)104 »Die Konferenz von Willingen im Jahre 1952 sollte zu einer der theologisch fruchtbarsten Konferenzen in der Geschichte der Weltmissionskonferenzen überhaupt werden.«105 Dies lag vor allem daran, dass die mit dem Begriff missio Dei106 verbundenen theologischen Ausführungen eng mit dieser Weltmissionskonferenz107 in Verbindung stehen, wenngleich der Begriff selbst dort nicht verwendet wurde.108 In der Folge der Missionskonferenz wurde der Begriff missio Dei von den Theologen109 Karl Hartenstein110 und Walter Freytag111 (und später Georg F. Vicedom112) »für den protestantischen Bereich übernommen«113 und 103 Flett 2010, 5. 104 Zu der historischen Großwetterlage schreibt Henning Wrogemann: »Die Frage lautete, wie denn die christliche Sendung noch weiterhin begründet werden könne, wenn doch die westliche Christenheit sich durch den Kolonialismus und Imperialismus, dann aber besonders durch den Ersten und später dann auch durch den Zweiten Weltkrieg gründlich diskreditiert hatte? Waren die Zeichen der Zeit missdeutet worden? Noch 1910 sah man die Menschheit auf eine Einheit hin drängen, geleitet durch die westliche Zivilisation. Hatte sich diese Vision nicht als falsch erwiesen? In den Fokus missionstheologischen Denkens rückten nun Fragen der Geschichtsdeutung und zwar im Zusammenhang mit der Lehre von den letzten Dingen, der Eschatologie. Ein neues Verständnis der Geschichte und mit ihr der Rolle der Mission innerhalb dieser Geschichte wurde gesucht.« (Wrogemann 2013, 60). 105 AaO., 78. 106 Vgl. Flett 2010, 130–133. 107 Vgl. Freytag 1961, 97–110, besonders 107 f. Vgl. auch Wrogemann 2013, 78–81. 108 Vgl. Richebächer 2003, 186. 109 Vgl. Wrogemann 2013, 60. 110 Thomas Schirrmacher verweist darauf, dass »[d]er Ausdruck ›‹Missio Dei […] sich nicht in Willingen selbst [findet], sondern erst in Hartensteins Bericht darüber.«, (Schirrmacher 2011, 11). Das Thema der trinitarischen Begründung von Mission wurde jedoch bereits in Willingen besprochen. Vgl. auch zur früheren Beschäftigung Hartensteins mit dem Thema in dem Buch Die Mission als theologisches Problem, vgl. Hartenstein 1933. Vgl. auch Flett 2010, 123 f. 111 Wrogemann bezeichnet Hartenstein und Freytag als die »wohl einflussreichste[n] Missionstheologe[n]« in der Zeit zwischen 1920 und 1950, vgl. Wrogemann 2013, 62. Ausführlicher zu Freytag vgl. aaO., 66–69. 112 Vgl. Vicedom 1958. Ausführlicher zu Vicedom, vgl. Wrogemann 2013, 101–103. 113 Schirrmacher 2011, 11.
3. Die missionstheologische Figur der missio Dei
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prägte die internationale missionstheologische Debatte der darauffolgenden Jahre wie kein anderer. David Bosch führt aus, dass ein Verständnis der Mission als missio Dei seit Willingen von den meisten Konfessionen (»virtually all Christian persuasions«114) übernommen worden ist und den missionstheologischen Diskurs weitestgehend bestimmt.115 Dabei griffen die Missionstheologen in den 1950er Jahren bei der Verwendung des Begriffs dessen trinitätstheologische Verankerung auf, die Karl Barth bereits in seinem Vortrag vor der Brandenburgischen Missionskonferenz 1932 hervorgehoben hat. So schreibt Hartenstein im Jahr 1952: »Die Mission ist nicht Sache menschlicher Aktivität und Organisation, ›ihre Quelle ist der dreieinige Gott selbst‹. Die Sendung des Sohnes zur Versöhnung des Alls durch die Macht des Geistes ist Grund und Ziel der Mission. Aus der ›missio Dei‹ allein kommt die ›Missio ecclesiae‹ Damit ist die Mission in den denkbar weitesten Rahmen der Heilsgeschichte und des Heilsplanes Gottes hineingestellt.«116 Im Anschluss an den missionstheologischen Impuls von Willingen führte man die Mission auf Gott selbst und seine Initiative zurück und verankerte missionstheologische Überlegungen in der Trinitätslehre statt in den Loci der Ekklesiologie und Soteriologie: »In Willingen wird demnach die christliche Mission nicht mehr, wie noch bei [Gustav] Warneck, durch ein ganzes Bündel von Begründungen gerechtfertigt, sondern allein aus dem Wesen Gottes heraus entwickelt.«117 In der Folge erweiterte man nun die Lehre von der Sendung des Sohnes durch den Vater und des Geistes durch Vater und Sohn um die Sendung der Kirche in die Welt durch den dreieinigen Gott. »Willingen’s image of mission was mission as participating in the sending of God.«118 Dies bedeutet, dass die Kirche nur in Beziehung zum dreieinen Gott selbst und seiner Mission eine Mission hat und haben darf. So lautet die grundlegende Einsicht der missio Dei: Nicht die Kirche, sondern Gott hat eine Mission. Die Kirche kann und darf sich also nicht selbst eine Mission geben bzw. muss all ihr missionarisches Bemühen in Gottes sendendem Handeln gründen und an dieses zurückgebunden sein. Die enge Verbindung zwischen der Sendung Gottes und der Mission der Kirche fasst Georg Vicedom so zusammen: »Jener Vorgang der innergöttlichen Sendung ist für die Mission und für den Dienst der Kirche von eminenter Bedeutung. Ihr Auftrag ist in dem göttlichen vorgebildet, ihr
114 Bosch 2011, 382. Bosch betont dabei, dass die missiones ecclesiae nicht länger als eigenständige Größe betrachtet werden können, sondern nur dann angemessen sind, wenn sie der missio Dei dienen. 115 Vgl. Todjeras 2016, 59–61. 116 Hartenstein 1952, 62. 117 Wrogemann 2013, 79. Hervorhebung im Original. 118 Bosch 2011, 390.
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Dienst durch den göttlichen vorgegeben, Sinn und Inhalt der Arbeit von der Missio Dei her bestimmt.«119 Das bedeutet, die Kirche »wirkt in Gottes Heilsgeschichte mit, in einer Heilsgeschichte jedoch, die Gott selbst führt und unter seiner Regie behält. Das Wesen der Kirche ist demnach durch die Missio Dei bestimmt, denn die Kirche ist ihrem Wesen nach eine missionarische Kirche.«120 Somit führt das Konzept der missio Dei einerseits zum Umdenken (Buße), da es die Kirche und alle menschlich motivierte Mission zur Umkehr i. S. e. »Reinigung der Missionsmotive« führt. Andererseits ist dieses Konzept auch eine Verheißung, da es die Kirche angesichts ihrer Unvollkommenheiten ihrer Teilhabe an Gottes Mission vergewissert.121 Laut Wilhelm Richebächer122 fußt das neue Missionsverständnis seit Willingen auf vier »Eckpfeilern«: 1. Die Sendung des Sohnes durch Vater und Geist sowie die Sendung der Kirche durch den dreieinen Gott werden einander untrennbar zugeordnet und die Sendung Gottes als Ursprungsgeschehen und die Mission der Kirche als Entsprechungshandeln beschrieben. 2. Verbunden damit war die feste Verankerung christlicher Mission in der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Dies bewahrt die Kirche vor einer Mission um ihrer selbst – der Kirche – willen. Mission ist weder Selbsterhalt noch gutes Werk, um das eigene Heil abzusichern, sondern Ausdruck der Liebe, der Sehnsucht und des Interesses Gottes am Menschen. Insofern lädt die Kirche bei der Mission nicht zu sich selbst ein, sondern zu Jesus Christus. 3. Diese Kirche (des Westens bzw. des Nordens) begreift, dass sie in den »jungen Kirchen des Südens« Partner und nicht »Ableger« hat. 4. Die Teilnehmer der Willinger Konferenz waren sich der Tatsache gewiss, dass der auferstandene Christus trotz aller Widrigkeiten regiert und die Geschicke sowohl der Kirche als auch der Welt in seinen Händen hält – selbst dort, wo die Umstände etwas anders suggerieren. Für die Genese des Begriffs missio Dei hält Richebächer fest: »Die Formel ›Missio Dei‹ bezeichnet also ursprünglich den weiteren Zusammenhang des Heilswirkens Gottes auf das Reich Gottes hin, zu welchem das missionarische Handeln der Kirche als unentbehrlicher Bestandteil hinzugehört.«123 Somit ist der Genitiv in missio Dei in dreifacher Hinsicht zu verstehen: Sich von Gott senden lassen (genitivus subiectivus), um dieses Handeln Gottes (genitivus 119 Vicedom 1958, 14. 120 Wrogemann 2013, 80. 121 Vgl. aaO., 79 f. 122 Vgl. Richebächer 2003, 187 f. 123 AaO., 187.
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obiectivus) zu bezeugen und somit Teil der göttlichen Mission zu werden, ist Grundlage (genitivus obiectivus), Auftrag (genitivus subiectivus) und Maßstab (genitivus qualitatis) kirchlichen Handelns. Somit ist die Kirche in dem Maß Kirche Jesu Christi, in welchem sie als von Gott gesandte Zeugin an der Mission Gottes teilnimmt und Menschen, zu denen sie gesandt ist, die Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus ausrichtet und Gottes Handeln in, durch und an Christus bezeugt.124
3.2 Kritik am »Containerbegriff« missio Dei Eine besondere Stärke des missio Dei-Begriffs liegt in seiner begrifflichen Weite und Anschlussfähigkeit. Dies hat jedoch den Preis einer begrifflichen Unschärfe und bedarf einer dringenden theologisch-inhaltlichen Klärung.125 Dass diese Klärung und Füllung zuweilen ausblieb und ausbleibt, kritisiert u. a. Martin Reppenhagen, indem er darauf verweist, dass die Formulierung missio Dei schlechterdings als »Containerbegriff« funktioniert und zuweilen einer klaren Definition und Abgrenzung entbehrt, was ihn zeitweise in Verruf brachte und manche Ablehnung hervorrief.126 Thomas Schirrmacher kritisiert zudem, dass eine theologische Fundierung des Begriffs zumeist selten geleistet worden ist. Das Bemühen der vorliegenden Arbeit, den Begriff der missio Dei trinitätstheologisch zu fundieren und christologisch zu profilieren, ist dieser Kritik geschuldet.127 Denn trotz der vorgebrachten Kritik, bietet die Figur der missio
124 Dieses Verständnis von Mission unterbindet jegliche imperialistische, kolonialistische und triumphalistische Gefährdungen missionarischen Handelns der Kirche. Die Ressourcen für solch ein kritisches Korrektiv lagen vor allem in der Christologie und der Perspektive einer Mission unter dem Kreuz (so die Formulierung im Anschluss an Willingen aus dem Jahr 1953, vgl. Bosch 2011, 381). Jürgen Moltmann nennt Christus das »Subjekt der Kirche« und folgert daraus: »[…] dann wird für die Lehre von der Kirche die Christologie das beherrschende Thema der Ekklesiologie sein. Jeder Satz über die Kirche wird ein Satz über Christus sein. Jeder Satz über Christus enthält auch eine Aussage über die Kirche.« (Moltmann 1975, 19). Vgl. auch Reppenhagen 2011, 158 f. 125 So gab es bereits auf der Konferenz in Willingen zwei unterschiedliche Füllungen des Begriffs missio Dei: Die eine Position erkennt in Gottes erhaltendem Handeln durch den Geist die missio Dei und die andere Position beschreibt die missio Dei als Gottes Wirken durch die Kirche als Fortsetzung der Sendung des Sohnes zum Heil der Welt, vgl. Goheen 2004, 100 f. 126 Vgl. Reppenhagen 2011, 157–162. 127 Vgl. Schirrmacher 2011, 19–21. Dies führte dazu, »dass schließlich in Uppsala 1968 [4. Generalversammlung des ÖRK] die Humanisierung der Welt als Inbegriff der Missio Dei gesehen werden konnte und selbst nicht-evangelikale Missionswissenschaftler unsanft daran erinnern, dass Missio-Dei-Konzepte, die ohne Dreieinigkeit auskommen, ein Unding seien.« (AaO., 20).
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Dei eine anschlussfähige Beschreibung des Verhältnisses von göttlicher und kirchlicher Sendung, welche sich sowohl trinitätstheologisch als auch biblischexegetisch herleiten und entwickeln lässt und somit auf einem theologisch soliden Fundament steht. Unter der Voraussetzung einer solchen Profilierung und Fundierung kann die dem Begriff innewohnende Weite, welche auch anderen grundlegenden theologischen Figuren zu eigen ist, als Stärke betrachtet werden.
3.3 Streit um die Bedeutung des missio Dei-Begriffs Die begriffliche Weite des Konzepts der missio Dei128 äußerte sich nicht zuletzt in dem Richtungsstreit, der in den 1960er und 1970er Jahren um die Füllung des Begriffs ausgefochten wurde. Richebächer bezeichnet die zwei Parteien mit a) heilsgeschichtlich-ekklesiologischem Ansatz129 und b) mit geschichtlich-eschatologischem bzw. verheißungsgeschichtlichem Ansatz130. Das erste Lager »sieht das methodisch gezielte missionarische Handeln der Kirche als dringend zu erneuerndes Instrumentarium im missionarischen Handeln Gottes begründet und sieht für die Kirche noch einen begrenzten letzten Wirkungszeitraum vor der Wiederkunft Christi.«131 Wichtige Vertreter sind Walter Freytag, Karl Hartenstein und Georg Vicedom. Sie beriefen sich besonders auf die Barmer Theologische Erklärung und lehnten eine Quelle der Erkenntnis über Wesen und Auftrag der Kirche außerhalb des biblisch bezeugten Evangeliums ab und betonten die prophetische Aufgabe der Kirche inmitten aller politischer und geschichtlicher Entwicklungen. Die gegenteilige Position »lässt es im Grunde zur ›Auflösung‹ des kirchlichen Missionshandelns kommen und denkt den Zusammenhang von Gottes Heilshandeln in der Welt und der Kirche Handeln in der Welt abgelöst voneinander und nebeneinander.«132 Das Resultat: »Mission wird umfunktioniert vom bestimmten Heilshandeln Gottes durch Jesus Chris-
128 So gab es bereits auf der Konferenz in Willingen unterschiedliche Füllungen des Begriffs missio Dei: Die eine Position erkennt in Gottes erhaltendem Handeln durch den Geist die missio Dei und die andere Position beschreibt die missio Dei als Gottes Wirken durch die Kirche als Fortsetzung der Sendung des Sohnes zum Heil der Welt, vgl. Goheen 2004, 100 f. Dazu Henning Wrogemann: »Schon auf der Konferenz [in Willingen 1952] selbst standen sich drei Auffassungen der missio Dei gegenüber, hinsichtlich derer es jedoch zu keiner Einigung kam.« Wrogemann 2013, 81. 129 Vgl. Sundermeier 1995, 18–21. 130 Vgl. aaO., 21–24. Zu den beiden Modellen und dem damit verbundenen Diskurs vgl. auch aaO., 76–86. 131 Richebächer 2003, 192. 132 Ebd.
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tus in ein Prinzip zielgerichteten Fortschritts.«133 Der wohl bekannteste Vertreter dieser Position war Johann Christiaan Hoekendijk134. Zudem war bereits auf der Konferenz in Willingen der Einfluss der US-amerikanischen Delegation135 wesentlich, die durch die Theologie des social-gospel (Walter Rauschenbach und Helmut Richard Niebuhr) geprägt war und deren Einfluss auch die weitere Debatte prägte.136 Die Folge dieses Richtungsstreits war eine »Spaltung von evangelikalen und ökumenisch ausgerichteten Kirchen und Werken und damit […] [einer] der größten Polarisierungprozesse der westlichen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg mit strukturellen Konsequenzen bis heute.«137 Dass dieser Streit (trotz Annäherungen, s. u.) bis weit in die 1990er Jahre138 hinein eine Rolle spielte, zeigt die Auseinandersetzung zwischen dem indischanglikanischen Bischof und Vordenker der Ökumene Lesslie Newbigin und dem damaligen Sekretär des ÖRK Konrad Raiser, die im Jahr 1994 im International Bulletin of Missionary Research ihren Anfang nahm. Inhalt des Streits war das Ringen um die Füllung der missio Dei in pneumatologischer oder christologischer Hinsicht – eine Auseinandersetzung, die bereits die Teilnehmer der Missionskonferenz 1952 in Willingen beschäftigte (s. o.).139 Auf der einen Seite steht die Position Raisers, der das Ende eines »christozentrischen Universalismus« als den entscheidenden Paradigmenwechsel in der ökumenischen Missionstheologie betrachtet – verbunden mit der Betonung einer missio Dei, die Gottes Sendung primär mit dem erhaltenden Handeln (pro-
133 Ebd. Zu den Grundannahmen dieser Positionen vgl. Wrogemann 2013, 96. 134 Ausführlicher zu Hoekendijk vgl. Wrogemann 2013, 84–101. 135 Zur Charakterisierung dieser Delegation schreibt Richebächer: »Diese war […] mit einer optimistischen Auffassung vom direkten göttlichen Handeln in den Ereignissen der Weltgeschichte zwecks zunehmender Lebensverbesserung und Demokratisierung ausgestattet.« Richebächer 2003, 191. 136 Auf die Einführung dieses Aspekts weist Martin Reppenhagen hin, wenn er von der Verbindung von missio Dei mit dem Begriff des Schalom durch Johannes Christian Hoekendijk in den 1960er Jahren spricht. Vgl. Reppenhagen 2011, 160–162 und Bosch 2011, 384. Jan Hermelink verweist auf die Gefahr, dass sich die Kirche normativ an den »gegenwärtigen Verhältnissen bzw. an den ›Bedürfnissen‹ der Einzelnen« (Hermelink 2011, 167) orientiere, welches den Auftrag der Kirche ersetze. Daraus folgert er: »Zudem stehe […] eine derart nach außen gewendeten Kirchenorganisation in der gleichsam kenotischen oder ›selbstsäkularisierenden‹ Gefahr, sich in jenen Fragen und Nöten der Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit zu verlieren.« (Ebd). 137 Richebächer 2003, 193. 138 David Bosch schreibt über die Jahrzehnte vor den 1990er Jahren: »Zweifellos ist in den letzten Jahrzehnten ein überraschender Anstieg beim Gebrauch des Begriffs ›Mission‹ zu beobachten – überraschend, weil gerade diese Jahrzehnte auch von einer beispiellosen Kritik an der missionarischen Bewegung geprägt waren.« (Bosch 2012, 603). 139 Vgl. Goheen 2004, 97–111.
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videntia Dei) durch den Geist identifizierte.140 Diese Tendenz sieht er besonders seit der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) 1968 in Uppsala141, denn in Uppsala wurde »das verheißungstheologische Modell weitgehend übernommen.«142 In dieser Richtungsentscheidung sieht Raiser den entscheidenden Paradigmenwechsel und formuliert selbst eine Trinitätstheologie, die sich stark auf das Wirken des Geistes konzentriert und den Unterschied zwischen Kirche, Welt und Gesellschaft in den Hintergrund treten lässt.143 Diese Perspektive hält er für anschlussfähiger angesichts von Pluralismus144, sozialer Not und ökologischer Katastrophe145, weil sie u. a. der Gefahr eines Ekklesiozentrismus und Triumphalismus entgegenwirkt, der dem christozentrischen Paradigma innewohnen könne.146 Newbigin stimmt der trinitätstheologischen Begründung sowie der Ableh nung eines Ekklesiozentrismus zu. Ebenso entdeckt er die Welt als die Ökumene und bejaht eine intensive und ernsthafte Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Wirklichkeiten des Pluralismus, der ökonomischen Ungerechtigkeit sowie den ökologischen Herausforderungen. Jedoch kritisiert er die Relativierung der Sühne durch Christi Kreuzestod, die Gleichsetzung der Welt mit der Kirche sowie die Vernachlässigung der missionarischen und evangelistischen Berufung der Kirche. Entsprechend negativ ist das Urteil Newbigins über die Entscheidungen in Uppsala 1968.147 Michael Goheen macht deutlich, dass der pneumatologische Ansatz Raisers es nicht vermag, das Wirken Christi sinnvoll zu rahmen, wohingegen der christozentrische Ansatz Newbigins notwendigerweise zu einer Beschäftigung mit dem Wirken des Geistes führt. Zudem entbehrt der Einsatz beim Wirken des Geistes als Startpunkt für eine Beschäftigung mit der missio Dei sowohl eines Kriteriums zur Unterscheidung der Geister als auch einer Klarheit, zu erkennen, wo Gott wirkt. Dieses Kriterium entdeckt Newbigin beim Bekennt-
140 »The missio Dei was interpreted as the Spirit’s work that embraces both the church and the world« (AaO., 101). 141 Vgl. dazu Wrogemann 2013, 116–118. 142 Wrogemann 2013, 117. »Dennoch wurde nach Meinung etlicher Teilnehmer/innen und vieler insbesondere evangelikaler Beobachter von Uppsala die horizontale Dimension deutlich überbewertet.« (AaO., 118). Diese Tendenz löste zahlreiche evangelikale Kritik aus, vgl. aaO., 118 ff. 143 Vgl. Goheen 2004, 103 f. 144 Vgl. dazu aaO., 107 f. 145 Vgl. dazu auch aaO., 104. 146 Vgl. aaO., 98–100. 147 Vgl. aaO., 99 f.
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nis zu Jesus Christus als dem einen und einzigen Herrn als das Bekenntnis des Geistes des Vater und des Sohnes.148 Noch vor der eben erwähnten Vollversammlung 1968 in Uppsala wurde auf der Vollversammlung der ÖRK in Neu Delhi 1961 – der sich bereits abzeichnende – Entschluss gefasst, den Internationalen Missionsrats (IMR) in den ÖRK einzugliedern.149 Über diesen Entschluss und der damit verbundenen Bedeutung von missio Dei schreibt Wrogemann: Mit der Integration des Internationalen Missionsrates in die Struktur des Ökumenischen Rates der Kirchen wurde mit der theologischen Erkenntnis ernst [sic!] gemacht, dass die Kirche ihrem Wesen nach missionarisch ist, da sie damit dem Wesen des sie begründenden missionarisches [sic!] Gottes entspricht. Die ekklesiologische Konsequenz des Ansatzes der missio Dei ist damit klar benannt. Missionsgesellschaften und Kirchen waren daraufhin befragt, ob sie im Gehorsam gegenüber dieser theologischen Erkenntnis bereit waren, lieb gewordene Strukturen und Machtverhältnisse zugunsten einer neuen Verbindung von Mission(en) und Kirche(n) aufzugeben.150
3.4 Annäherung der Positionen Der oben dargestellte Richtungsstreit ist jedoch nicht das letzte Wort in dem missionswissenschaftlichen Diskurs zum Thema missio Dei und so verweist Richebächer auf den Weg zu einer Konvergenz der ökumenischen Gemeinschaft v. a. durch den Einfluss der Befreiungstheologie (und der damit verbundenen Option für die Armen) und anderer kulturell-geprägter Theologien sowie dem Konzept der Inkulturation des Evangeliums und der Kirche besonders in den Ländern Asiens und Afrikas.151
148 Vgl. aaO., 103. »At each point, the parting of ways between Raiser and Newbigin finds its ul��timate source in their differing assessments of Jesus Christ. A future paradigm of mission depends on the answer given to the question that Jesus posed to Simon Peter: »Who do you say that I am?«( AaO., 109). 149 Vgl. Wrogemann 2013, 105 f. Eine entscheidende Rolle dabei spielte Leslie Newbigin. Angesichts des Streits mit Konrad Raiser (siehe oben) äußert Newbigin jedoch später Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung, vgl. Goheen 2004, 107. 150 Wrogemann 2013, 105. 151 Vgl. Richebächer 2003, 193–195. Vgl. dazu das Bemühen der Inneren Mission zu einem integralen Ansatz (siehe § 12 Abs. 3).
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3.4.1 Die Lausanner Bewegung (1974–2010) Aus evangelikaler Perspektive war die Lausanner Verpflichtung von 1974, welche auf dem Internationalen Kongress für Weltevangelisation im Juli 1974 in Lausanne verabschiedet wurde, ein »Meilenstein« auf diesem Weg. Die Lausanner Konferenz wurde maßgeblich von Billy Graham beeinflusst und stellte die evangelikale Stimme im missionstheologischen Diskurs der weltweiten Kirche dar. Eine evangelikale Missionsbewegung hatte sich schon kurz nach der Weltmissionskonferenz von Edinburgh gegründet (u. a. Gründung der Interdenominational Foreign Missions Association IFMA im Jahr 1917) und sich parallel zum IMR und zum ÖRK entwickelt.152 Protagonist war, neben Graham, John Stott. Das »missionstheologische Grundlagenpapier«153 des Lausanner Kongresses (Lausanner Verpflichtung)154 bindet die Themen Evangelisation und soziale Verantwortung eng zusammen und betrachtet beide als verbindlich: »Die soziale Verantwortung ist gleichermaßen verpflichtend, und sie ist doch nicht das Gleiche wie Evangelisation. Lausanne bedeutet eine Neubewertung des sozialen Aspekts der Mission.«155 Richtungsweisend hinsichtlich dieser integrativen Form von Mission waren die Ausführungen John Stotts auf dem Kongress der Lausanner Bewegung 1974, die von dienender Mission sprechen, welche sich darum bemüht, sowohl Mt 28 (sog. Missionsbefehl) als auch Lev 19 (Liebesgebot) gleichermaßen zu berücksichtigen und damit zu einer Versöhnung von Evangelisation und sozialem Handeln als integralen Bestandteilen der Mission beitragen.156 Henning Wrogemann bezeichnet diesen Ansatz Stotts, in welchem sozialer Dienst und Evangelisation als »Brennpunkte der Mission«157 verstanden werden, als komplementär. Beide wirken in der Mission, sind aber voneinander unabhängig, jedoch untrennbar: »Stott sieht demnach die christliche Mission mit dem Doppelauf152 Vgl. Wrogemann 2013, 128–130. Wrogemann schreibt: »Obwohl in Lausanne deutliche Kritik an der Theologie des ÖRK geübt wurde, kam es nicht zu einem Bruch mit der Genfer Ökumene, denn etliche Teilnehmende waren zugleich auch in die Arbeit des ÖRK involviert.« (AaO., 129). 153 AaO., 130. »Dieser Text bietet seither zweifellos die bedeutendste missionstheologische Standortbestimmung von evangelikaler Seite.« (ebd). 154 Ausführlicher dazu vgl. aaO., 130–138. 155 Herbst 2012b, 19. Hervorhebung im Original. 156 Vgl. Herbst 2012b, 19–22. Die Suche nach dem Verhältnis von Evangelisation und sozialer Verantwortung verlief keineswegs ohne Auseinandersetzungen und Brüche. Besonders Teilnehmer und Theologen aus der sog. Zweidrittelwelt forderten ein stärkeres Bewusstsein für soziale Fragen. vgl. Wrogemann 2013, 136–138. Siehe dazu auch der Abschnitt Evangelisation und sozialer Dienst in evangelikaler Perspektive – eine Übersicht, vgl. Wrogemann 2013, 138– 141. 157 Wrogemann 2013, 140.
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trag von Verkündigung und Dienst versehen. Beide gehören […] unabdingbar zu Mission, wobei Stott dennoch der Verkündigung einen Vorrang einräumt. Mit diesem Ansatz hat Stott die evangelikale Missionsbewegung nachhaltig beeinflusst.«158 Nach einem Vergleich der verschiedenen Positionen innerhalb des evangelikalen Netzwerks bilanziert Wrogemann: »Im Zusammenhang eines komplementären Verständnisses erscheint ein fruchtbarer Dialog meines Erachtens am ehesten möglich.«159 Dass sich diese Perspektive auch in der Lausanner Verpflichtung durchgesetzt hat, zeigen sowohl der vierte Artikel der Lausanner Verpflichtung, welcher vom Wesen der Evangelisation handelt als auch der sich anschließende fünfte Artikel, in welchem die Frage nach der sozialen Verantwortung der Christen thematisiert wird.160 Dass sich das komplementäre Verständnis von Mission mehr und mehr durchsetzt, zeigt sich auch auf dem Zweiten Kongress für Weltevangelisation 1989 in Manila161, wo im Wesentlichen die Position aus Lausanne weiter etabliert und vertieft wurde. Diese Tendenz zeigt sich ebenfalls auf dem Lausanner Forum in Pattaya, auf welchem das Verhältnis von Evangelisation und sozialer Verantwortung das bestimmende Thema war: »Dabei tritt die Integration von Evangelisation und sozialem Engagement immer deutlicher hervor. Aus einem 158 Ebd. Zu der ähnlichen, aber anders akzentuierten Position der sog. Radikalen Evangelikalen schreibt Wrogemann: »Eine andere Gewichtung findet sich – zweitens – bei radikalen Evangelikalen wie Samuel Escobar, René Padilla, Vinay Samuel, Jim Wallis, Ronald J. Sider oder Christopher Sudgen. Auch hier werden soziale Aktion und Evangelisation als komplementär verstanden, wobei eine Vorordnung der Evangelisation abgelehnt wird. Es geht, so schärfen die Autoren ein, nicht nur um das Phänomen der individuellen Sünde des Menschen, sondern auch der strukturellen Sünde, das heißt der Manifestation von Sünde in ungerechten Strukturen, in politischer Unterdrückung und sozialer Benachteiligung, in Ethnozentrismus oder Chauvinismus.« (Ebd. – Hervorhebung im Original). 159 AaO., 141. 160 Vgl. Lausanner Bewegung 2000, 4 f. »Wir tun Buße für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermaßen zu unserer Pflicht als Christen gehören. Denn beide sind notwendige Ausdrucksformen unserer Lehre von Gott und dem Menschen, unserer Liebe zum Nächsten und unserem Gehorsam gegenüber Jesus Christus. Die Botschaft des Heils schließt eine Botschaft des Gerichts über jede Form der Entfremdung, Unterdrückung und Diskriminierung ein. Wir sollen uns nicht scheuen, Bosheit und Unrecht anzuprangern, wo immer sie existieren. Wenn Menschen Christus annehmen, kommen sie durch Wiedergeburt in Sein Reich. Sie müssen versuchen, Seine Gerechtigkeit nicht nur darzustellen, sondern sie inmitten einer ungerechten Welt auch auszubreiten. Das Heil, das wir für uns beanspruchen, soll uns in unserer gesamten persönlichen und sozialen Verantwortung verändern. Glaube ohne Werke ist tot.« (AaO., 5). 161 Vgl. dazu Herbst 2012b, 24f und Wrogemann 2013, 149–153.
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Nebeneinander mit Priorität für die Wortverkündigung wird in Pattaya ein Ineinander ohne besondere Prioritäten.«162 Im Verhältnis von Evangelisation und sozialer Verantwortung besteht jedoch im Anschluss an Mk 8,36f (par.) und Mt 6,33 ein Gefälle, welches der Evangelisation ein kleines sachliches Prae (siehe § 8 Abs. 3.3.6) einräumt. Somit kann im Hinblick auf die Lausanner Verpflichtung mit Wrogemann von einem »Primat der Evangelisation gegenüber sozialem Handeln«163 gesprochen werden.164 Etwas anders akzentuiert argumentierte René Padilla (er wird zur Gruppe der sog. Radikalen Evangelikalen gezählt165) auf dem Lausanner Kongress 1974, der eine stärker präsentisch akzentuierte Eschatologie vertrat und die Gemeinde als Ort beschrieb, an dem die Wirklichkeit von Gottes Reich bereits in Ansätzen erlebt werden kann.166 Der dritte und bisher letzte Kongress für Weltevangelisation der Lausanner Bewegung fand 2010 in Kapstadt statt.167 Die theologische Richtung, in die Lausanne III in Kapstadt weist, stehe laut Michael Herbst stärker in der Tradition von Pattaya als von John Stott und das theologische Profil von Lausanne III werde gut in dem Buch The Mission of God’s People von Christopher Wright168 präsentiert. Herbsts theologische Bewertung des Kongresses in Kapstadt: »Der Trend geht hin zu einem immer stärker holistisch bzw. integral verstandenen Heilsbegriff. Vielleicht steht auch die sich durchsetzende Nutzung des Adjektivs ›missional‹ für diesen Trend.«169 So spiegele dann auch die Kapstadt-Verpflichtung170 »Kontinuität und Bewegung«171 wider. Sie kann gebündelt werden mit der Aussage: »Wir lieben Gottes Mission.«172 Herbst entdeckt darin sowohl Kontinuität (Beteiligung an Gottes Mission) als auch Neues (die Begründung ist Liebe und nicht Gehorsam gegenüber Weisungen der
162 Herbst 2012b, 26. Hervorhebung im Original. Über diese Position schreibt Herbst: »Holistische oder eben integrale Mission hofft auf die Transformation sozialer Verhältnisse aus der Kraft des Evangeliums.« (Ebd.). 163 Wrogemann 2013, 131. Ebenso gilt für die Lausanner Verpflichtung laut Wrogemann »ein Primat der Verkündigung gegenüber dem Dialog«, vgl. aaO., 133 f. 164 Vgl. aaO., 131–133. Zu verschiedenen Gruppen innerhalb der evangelikalen Bewegung (die Neuen Evangelikalen, die Bekennenden Evangelikalen) von denen die Radikalen Evangelikalen eine Gleichrangigkeit beider Aspekte der Mission betonen vgl. aaO., 132f und 136–138. 165 Vgl. aaO., 136. 166 Vgl. Herbst 2012b, 22–24. 167 Vgl. dazu aaO., 26–38 und Winterhoff et al. 2012. Vgl. auch Wrogemann 2013, 165f und Wrogemann 2016, 307 f. 168 Vgl. Herbst 2012b, 30–33 und Wright 2010. 169 Herbst 2012b, 31. 170 Vgl. Birdsall/Brown 2012, 224–286. 171 Herbst 2012b, 34. 172 Siehe dazu die Ausführungen unter der Überschrift Die Leidenschaft unserer Liebe, vgl. Birdsall/Brown 2012, 228 f.
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Bibel). Die Lausanner Bewegung bewahrt sich ihre Leidenschaft für Evangelisation und gleichzeitig folgt die Kapstadt-Verpflichtung dem Trend zur stärkeren Integration von Evangelisation und gesellschaftlichem Engagement als einem untrennbaren Ineinander.173 Wrogemann verweist darauf, dass die KapstadtErklärung Mission einerseits trinitätstheologisch174 verankert und sich andererseits umfänglich mit der Pneumatologie175 befasst – und damit dem allgemeinen Trend der internationalen ökumenisch-missionarischen Bewegung entspricht.176
3.3.2 David Bosch: Transforming Mission (1991) Eine ähnlich integrative Position stellte 1991 David Bosch vor. In seinem Buch Transforming Mission177 zeichnet er zentrale missionstheologische Positionen sowie verschiedene Missionsverständnisse des 20. Jahrhunderts nach (u. a. die Themen missio Dei178, die Frage nach Mission und Gerechtigkeit179 sowie Evangelisation180). Er bilanziert unter der Überschrift Mission in vielerlei Gestalt181 die zahlreichen Aspekte der Mission: »Zeugnis, Dienst, Gerechtigkeit, Heilung, Versöhnung, Befreiung, Frieden, Evangelisation, Gemeinschaft, Gemeindepflanzung, Kontextualisierung und viele[s] mehr.«182 Dabei betont er aber sofort, dass eine umfassende Definition von Mission schwierig ist und stets die Gefahr besteht, »die missio Dei in die engen Grenzen unserer eigenen Vorlieben einzusperren, wodurch wir unweigerlich zur Einseitigkeit und zum Reduktionismus zurückkehren.«183 Eine angemessene Betrachtung von Mission müsse laut Bosch multidimensional sein. Dazu definiert er Mission anhand von sechs neutestamentlich bezeugten christologischen »Heilsereignissen«184:
173 Vgl. Herbst 2012b, 34 ff. So formuliert die Erklärung am Schluss des ersten Teils: »Wir verpflichten uns zur integralen und dynamischen Ausübung aller Dimensionen von Mission, zu denen Gott seine Gemeinde beruft.« (Birdsall/Brown 2012, 249). 174 Vgl. Birdsall/Brown 2012, in: Winterhoff et al. 2012, 229–238. 175 Vgl. aaO., 235–237. 176 Vgl. Wrogemann 2016, 307 ff. 177 Deutsch: Mission im Wandel (2012) hrsg. von Martin Reppenhagen. Vgl. aaO., 432–602. David Bosch fordert, »to overcome the old dichotomies between evangelism and social action« (Bosch 2011, 400). 178 Vgl. Bosch 2012, 457–470. 179 Vgl. aaO., 470–480. 180 Vgl. aaO., 480–494. 181 Vgl. aaO., 603–613. 182 AaO., 604. 183 Ebd. Hervorhebung im Original. 184 Vgl. aaO., 605–611.
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a) Unter dem Stichwort Inkarnation beschreibt Bosch die Notwendigkeit, Gottes Wirken in der Inkarnation Jesu ernst zu nehmen und somit der Gefahr eines Doketismus vorzubeugen, welcher die Tragweite der Inkarnation unterschätzt und das Wirken Christi auf seinen Kreuzestod reduziert. So fordert Bosch die soteriologische Betonung des Handelns Gottes durch das Kreuz (zum Heil) um die praktische Zuwendung Gottes zum Wohl des Menschen zu ergänzen, wie es u. a. die Befreiungstheologie gefordert hat und wie es seit der Weltmissionskonferenz in Melbourne 1980 auf der Agenda steht.185 b) Eine ähnliche integrative Sicht, die sich darum bemüht, die Stärken verschiedener Traditionen fruchtbar zu verbinden, zeigt sich bei der Beschäftigung mit dem Kreuz: Hier betont Bosch die integrative Sicht, welche a) das Sühnehandeln des Kreuzestodes Jesu, b) die Selbsthingabe des Sohnes und die dementsprechend formatierte Mission sowie c) den Aspekt der Vergebung, Versöhnung und Wiederherstellung von verfeindeten Individuen und zerstörten Beziehungen betont.186 c) Die Auferstehung Christi als Überwindung des Todes ist der Deutungsrahmen des Leidens und Sterbens Christi und somit der Grund der Hoffnung der Kirche auf Veränderung und Wiederherstellung. Für die Mission der Kirche bedeutet dies nach Bosch, dass einerseits die Auferstehung Christi die zentrale Botschaft der Mission ist und dass andererseits die Kirche berufen ist, »dieses Auferstehungsleben im Hier und Jetzt zu leben und ein Zeichen des Widerspruches gegen die Mächte des Todes und der Zerstörung zu sein.«187 d) Die Himmelfahrt markiere nach Bosch wie kein anderes Heilsereignis die zentralen Überzeugungen des Calvinismus: Nach Johannes Calvin leiten die Christen ihren Auftrag besonders aus ihrer Existenz zwischen Himmelfahrt und Parusie ab. Christus ist durch die Himmelfahrt inthronisiert und herrscht als König – nicht nur über die Kirche. Somit kommen die Welt, die Geschichte und die Gesellschaft in den Blick und werde als Ort göttlichen Handelns und kirchlichen Engagements identifiziert. Nach Bosch hatte neben der Inkarnation diese Tradition den stärksten Einfluss auf die ökumenische Bewegung, was sich besonders anhand der Verlautbarungen der Weltmissionskonferenz 1980 in Melbourne zeigen lasse.188 e) Die Bedeutung von Pfingsten werde am stärksten von Pfingstkirchen und Charismatikern betont. Sie sehen in der Neuentdeckung des Geistes Gottes im 20. Jahrhundert eine neue Zeit des Geistes, die von machtvollen Zeichen 185 Vgl. aaO., 605. Vgl. dazu Wrogemann 2013, 144–148. 186 Vgl. Bosch 2012, 605–607. 187 AaO., 608. 188 Vgl. aaO., 608 f.
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und Wundern geprägt ist. Darüber hinaus gibt es aber mehr zu sagen: So ist der Geist nach Apostelgeschichte189 vor allem ein Geist des Zeugnisses und des Mutes. Zudem ist das Zeitalter des Geistes das Zeitalter der Kirche, die selbst als »Kirche in der Kraft des Geistes« Bestandteil ihrer eigenen Botschaft ist.190 f) Das sechste und letzte Heilsereignis ist die Parusie. Kirchlich-adventistische Gruppen, welche die zweite Ankunft Christi fokussiert haben, haben insofern einen starken biblischen Haftpunkt, als dass sie durch eine eschatologische Perspektive die Zukunft stärker betonen als die Vergangenheit. Dies decke sich laut Boschs Analyse der paulinischen Briefe191 mit der Theologie des Paulus, für den »Mission eine Reaktion auf die Vision vom kommenden Triumph Gottes«192 ist. Diese eschatologische Perspektive vermöge eine doppelte Klärung: 1. »Die Kirche ist nicht die Welt, weil Gottes Reich bereits in ihr gegenwärtig ist. Daher kann die Einheit von Kirche und Welt nur dialektisch in Hoffnung begriffen und praktiziert werden.«193 Und 2. ist »die Kirche […] auch nicht mit Gottes Reich gleichzusetzen.«194 Das bedeutet: »Sie besitzt kein Monopol auf das Reich Gottes, darf es nicht für sich allein beanspruchen, darf sich gegenüber der Welt nicht als das verwirklichte Reich Gottes darstellen.«195 Denn »[d]as Reich wird niemals vollkommen gegenwärtig sein in der Kirche.«196 Bosch betont, dass diese sechs Heilsereignisse niemals getrennt voneinander betrachtet werden dürfen, sondern nur in ihrer Einheit der Kirche eine hinreichende Orientierung dafür geben, was ihre Mission ist. Dabei ist Mission die Aufgabe der Kirche als missiones ecclesiae, die nur im Rahmen der einen großen missio Dei ihre Berechtigung und Begründung hat. Die äußere Erscheinung der Kirche, so Bosch, sei von frühester Zeit (Jüngerkreis) an von Unzulänglichkeiten, Versagen und Schuld geprägt. Angesichts dieser Tatsache gilt jedoch: »Wir dürfen Mission […] niemals nur auf die empirisch feststellbaren Dinge begrenzen; sie war immer größer als die sichtbare missionarische Unternehmung.«197 Völlig davon getrennt werden kann sie natürlich auch nicht. 189 Vgl. dazu aaO., 97–141. 190 AaO., 609 f. 191 Vgl. aaO., 142–210. 192 AaO., 610. 193 Ebd. 194 AaO., 611. 195 Ebd. 196 Ebd. Siehe dazu auch die Überlegungen zu einer Kingdom-shaped church von Michael M oynagh, vgl. Moynagh 2012, 102–119. 197 Bosch 2012, 612.
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Deshalb ist die Vorstellung einer Mission Gottes, die sich auf ihrem Wege die Kirche schafft198, eine fruchtbare Form kirchliches Handeln als Sendung in die Welt zu beschreiben. Somit »reinigt« die missio Dei die Kirche, denn sie »stellt […] [die Kirche] unter das Kreuz – dem einzigen Ort, an dem sie in Sicherheit ist. Das Kreuz ist der Ort der Demut und des Gerichts, aber es ist auch der Ort der Stärkung und der Neugeburt.«199
3.3.3 Die »Five Marks of Mission« (1996/1998) Ähnlichkeiten in der Annäherung von evangelikalen und ökumenischen Positionen zeigt die Entstehung der five marks of mission der anglikanischen Kirche in den 1980er und 1990er Jahren.200 Diese wurden 1996 von der Generalsynode der Church of England als theologische Grundlage für Mission angenommen und werden von zahlreichen Diözesen (sowie anderen Konfessionen) für missionarisches Engagement und missionarisches Planungen genutzt.201 Im Jahr 1998 von der Lambeth-Konferenz (Vollversammlung der anglikanischen Bischöfe)202 bekräftigt und als die fünf Kennzeichen von Mission in der Gemeinschaft der anglikanischen Kirche bezeichnet.203 Sie verdichten das Thema Mission für den Raum der anglikanischen Kirche in fünf Sätzen und spiegeln die dargestellte integrative Position wider: Die gute Nachricht vom Reich Gottes verkündigen Neue Gläubige lehren, taufen, erbauen Auf menschliche Not durch liebevollen Dienst antworten Ungerechten Strukturen in der Gesellschaft durch Bemühungen um Veränderungen entgegenwirken Die Integrität der Schöpfung achten und um die Bewahrung und Erneuerung des Lebens auf der Erde bemüht sein.204 198 Vgl. Moltmann 1975, 81 f. 199 Bosch 2012, 613. 200 Zur Genese und Gewichtung der Merkmale vgl. Ross 2011, 158–170. 201 Auf der Homepage der Anglican Communion steht dazu folgende Aussage: »The Five Marks of Mission are an important statement on mission. They express the Anglican Communion’s common commitment to, and understanding of, God’s holistic and integral mission.« (http://www. anglicancommunion.org/mission/marks-of-mission.aspx – aufgerufen am 16.07.2018). 202 Zur Lambethkonferenz vgl. Bray 2008. 203 Vgl. Ross 2011, 161 und Richards et al. 2017. 204 Ross 2011, 158. Der Artikel von Cathy Ross wurde deutsch publiziert und aus dieser Übersetzung stammt die Übersetzung der Five Marks of Mission. Im Jahr 2012 wurde auf dem 15. Anglican Consultative Council (ACC-15) das vierte Merkmal inhaltlich erweitert: »Re� solution 15.34: Sixth Mark of Mission revises the Fourth Mark of Mission so that it reads as follows: ›To seek to transform unjust structures of society, to challenge violence of every kind
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Die Five Marks of Mission werfen die Frage auf, ob bei einer integrativen Perspektive auf Mission als untrennbare Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung205 beiden identisches Gewicht zukommt, oder einer der beiden Seiten derselben Medaille ein (wenn auch sehr kleiner) Vorrang zukommt.206 Dabei gilt es zu beachten, dass die Reihenfolge der Five Marks of Mission nicht zufällig oder willkürlich ist, sondern die erste These gleichsam die »Schlüsselaussage über alles sein [soll], was wir in der Mission tun.«207 Dies wird unten bei der Darstellung des »kleinen sachlichen Prae der Evangelisation« vertieft. Insgesamt gilt aber, dass die Five Marks of Mission die Themen Evangelisation und soziale Verantwortung »zusammenhalten«. Cathy Ross208 entdeckt trotz der Kürze und Unvollständigkeit (es fehlt bspw. ein Bezug zum Gottesdienst) der Five Marks, dass diese aus dem »dualistischen Dilemma« herausführen, denn: »Sie drängen uns zu einer ganzheitlichen Vorgehensweise in der Mission.«209
3.3.4 »Mission in Context« (2004) Auf die allgemeine Durchsetzung eines »integralen Missionsverständnisses«210 mit einer besonderen Betonung des Wirkens des Heiligen Geistes als eine »breite missionstheologische Strömung«211 verweist Henning Wrogemann mit Blick auf das Papier Mission in Context: Transformation, Reconciliation, Empowerment212 des Lutherischen Weltbundes (LWB), welches das Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses ist und ein Grundlagendokument zum Thema Mission darstellt. Der Text entwickelt ein trinitätstheologisch fundiertes, integratives und holistisches Missionsverständnis i. S. v. missio Dei. Dabei werden die drei Schwerpunkte Veränderung, Versöhnung und Bevollmächtigung mit den drei Personen der Trinität identifiziert (als Schöpfung, Erlösung und Heiligung) und bilden eine and to pursue peace and reconciliation‹.« http://www.anglicancommunion.org/structures/instruments-of-communion/acc/acc-15/resolutions.aspx#s34 (aufgesucht am 25.10.2017). Vgl. auch Ross 2011, 168 f. 205 Bzgl. des Themas Gemeinwesenarbeit hält der katholische Theologe Leo Joseph Penta fest: »Den biblischen Imperativ für einen sozialen Einsatz der Kirche in Bezug auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sowie den inklusiven Charakter des Reiches Gottes halte ich für exegetisch unstrittig.« (Penta 2009, 192). 206 Cathy Ross verweist darauf, dass der Mission-Shaped Church Report der Anglikanischen Kirche von 2004 auf den fünf Kennzeichen von Mission aufbaut, diese rezipiert und modifiziert, vgl. Ross 2011, 163 f. 207 AaO., 162. Hier die Aussagen im Anschluss an das ACC-6. 208 Vgl. aaO., 166–168. 209 AaO., 168. 210 Wrogemann 2016, 305. 211 Wrogemann 2013, 164. 212 Vgl. Lutheran World Federation 2004.
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Bandbreite an verschiedenen Themen wie Zuwendung zu den Armen, einem prophetisch-kritischen Dialog sowie Heilungshandeln ab. Dabei wird – trinitarisch eingebettet – das Wirken des Heiligen Geistes stark betont. Insgesamt werden die drei zentralen Themen christologisch formatiert und mit einem dreifachen Weg beschrieben: der Weg der Inkarnation als Veränderung, der Weg des Kreuzes als Versöhnung und der Weg der Auferstehung als Bevollmächtigung. Insgesamt eröffnet der Text ein breit gefasstes Verständnis von Mission, welches sich sowohl um einen interreligiösen Dialog, als auch um Frieden und Bewahrung der Schöpfung bemüht, ohne die Einzigartigkeit der Offenbarung Gottes in Christus zu leugnen oder zu relativieren.213
3.3.5 »Together Towards Life« (2013) Für die jüngsten ökumenischen Erklärungen bilanziert Henning Wrogemann: »Alle Erklärungen fokussieren auf die Trinitätslehre mit einem besonderen Akzent auf der Lehre vom Heiligen Geist.«214 Dazu passt die erste Weltmissionskonferenz des 21. Jahrhunderts, die 2005 in Athen stattfand: Come Holy Spirit, Heal and Reconcile: Called in Christ to be Reconciling and Healing Communities.215 Laut Wrogemann macht die Tatsache, dass durch die Betonung der Pneumatologie erstmals Themen wie Heilungen, Exorzismus und Dämonologie auf einer breiten ökumenischen Basis diskutiert wurden, diese Konferenz zu einem Meilenstein. Diese Betonung öffnete ein Gespräch mit den Pfingstkirchen und der charismatischen Bewegung und stellt eine »radikale Akzentverschiebung«216 innerhalb der theologischen Reflexion des ÖRK dar.217 Die pneumatologische Orientierung zeigt sich auch in dem Papier Together Towards Life – Mission and Evangelism in Changing Landscapes218, welches zur Vorbereitung der Vollversammlung des ÖRK 2013 in Busan (Südkorea) verfasst wurde. Thematische Schwerpunkte sind laut Wrogemann der Begriff des Lebens (als Teilhabe am Leben des dreieinen Gottes)219, die Unterscheidung der Geister220, die (geisterfüllte) lokale Gemeinde als Trägerin der Sendung (besonders 213 Vgl. Wrogemann 2013, 164f und ders. 2016, 306 f. So zitieren die Autoren die Weltmissionskonferenz des ÖRK 1989 in San Antonio (vgl. Wrogemann 2013, 149–153): »We cannot point to any other way to salvation than Jesus Christ; at the same time we cannot set limits to the saving power of God.« (Lutheran World Federation 2004, 40). 214 Wrogemann 2016, 310. 215 Vgl. Wrogemann 2013, 160–164. 216 AaO., 164. 217 Vgl. aaO., 163 f. 218 Vgl. Keum 2013. 219 Vgl. Keum 2012, 7ff und 37 ff. 220 Vgl. aaO., 11 ff.
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im Anschluss an Joh 10,10)221 und eine Kritik an »einer Ideologie des freien Marktes«222 sowie die Forderung einer eco-justice. Zudem erscheinen prominent die Themenfelder Ökologie, wirtschaftliche Macht und Migration – und dies in einer stark missionstheologischen Zuspitzung. Diesen Herausforderungen werden sowohl prophetische Kritik als auch Spiritualität (»des Widerstandes, der Kreativität und Inklusivität«223) entgegengesetzt. Zudem wird das Thema Evangelisation als ausdrückliche und intentionale Weitergabe des Evangeliums mit dem Ziel der (persönlichen) Umkehr, des Glaubens, der Taufe und der Nachfolge Christi verhandelt.224 Die Ausführungen sind von der Einsicht getragen, dass dem Heiligen Geist die entscheidende Rolle bei der Evangelisation zukommt. Dabei können die Autoren auch mögliches Wirken des Geistes in anderen religiösen Traditionen würdigen, sofern es lebensförderlich ist.225
3.3.6 Anmerkung: Das kleine sachliche Prae der Evangelisation Michael Herbst verweist im Anschluss an Mt 16,25 f. par.226 darauf, dass hinsichtlich des integrativen Missionsverständnisses der missio Dei ein kleines sachliches Prae der Evangelisation besteht: Es nützte dem Menschen gar nichts, die ganze Welt und alles Wohl zu gewinnen und Schaden an seiner Seele zu nehmen – das ist das kleine sachliche ›Prae‹ der Einladung zum persönlichen Glauben –, aber darum verliert es nicht an Gewicht und
221 Vgl. aaO., 26 ff. 222 Wrogemann 2013, 167. 223 AaO., 168. 224 Vgl. Keum 2013, 29–36. 225 Vgl. Wrogemann 2013, 166–169 und vgl. auch Wrogemann 2016, 308 f. 226 »Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse?« (Mt 16,25f). Im Bezug auf Mt 4,4 schreibt Lesslie Newbigin: »Christliches Denken und Handeln muss immer wieder mit Gottes Handeln und Taten in der Geschichte Israels und besonders in Jesus Christus beginnen. Es muss fortgesetzt werden, indem wir diese Geschichte in uns aufnehmen und sie zu unserer Geschichte machen, also zu der Art und Weise, wie wir die wirkliche Geschichte verstehen. Und erst danach ist es entscheidend, sich mit offenem Herz und Verstand um die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen zu kümmern, und zwar, wie Jesus es tat, in dem Wissen, dass die wirklichen Bedürfnisse nur durch das alles befriedigt werden können, was aus dem Munde Gottes kommt (Mt 4,4).« )Newbigin 2017, 175).
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Bedeutung, dass es Jesus um Erbarmen und Gerechtigkeit für Menschen geht, deren Leben in einer gefallenen Welt schwer und riskant und bedrohlich und notvoll ist.227
Herbst subsummiert: »Folgen wir Jesus, dann findet das zusammen, nicht additiv, sondern integrativ, nicht wie zwei friedlich nebeneinander her lebende Nachbarn, sondern wie ein Fleisch, das Gott zusammenfügt und wir nicht scheiden sollen.«228 Folglich kann eine Vorstellung von Mission, die hinter die Integration von Evangelisation und sozialer Verantwortung zurück möchte, keine angemessene Form sein, um zu beschreiben, was mit dem Begriff einer missio Dei zum weitestgehenden Konsens in missionswissenschaftlicher Forschung geworden ist. Dabei ist jedoch wichtig, dass – aus theologischen Gründen – ein Prae des Heils des Menschen vor dessen Wohl229 steht. Angesichts der umfassenden Art und Weise wie Gott den Menschen in Christus begegnet, muss das Wohl jedoch integraler Bestandteil von Mission sein und kann von dieser nicht getrennt werden.230 Johannes Zimmermann spricht in diesem Zusammenhang von Evangelisation231 als dem Zentrum der Mission: »Während ›Mission‹ in umfassendem Sinn die Sendung der Kirche in die Welt bezeichnet und sich auf alle Bereiche dieser Sendung bezieht, auf die Martyria ebenso wie auf die Diakonia, markiert ›Evangelisation‹ die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums als das Zentrum der ›Mission‹, sprachlich wie inhaltlich abgeleitet vom neutestamentlichen εὐαγγελίζεσθαι.«232 Dietrich Bonhoeffer reflektiert eine ähnlich gelagerte Frage, indem er in seinem Ethik-Entwurf das Verhältnis von Vorletztem und Letztem diskutiert233 und die Lösung dieser Spannung in Christus selbst entdeckt.234 Das Letzte ist 227 Herbst 2011, 87. Hinsichtlich der theologischen Trends der Lausanner Bewegung schreibt Herbst: »Dass in einer Welt voller Armut, Gewalt und Unfreiheit Jesus nicht bezeugt werden kann ohne ein prophetisches Nein gegen die Sünde und ohne Bemühungen um persönliche wie strukturelle Gerechtigkeit, ist keine Frage. Aber dass wirklich alles dem Menschen nicht hilft, wenn er ›Schaden an seiner Seele‹ nimmt, wenn er also nicht zu einem persönlichen Vertrauensverhältnis zu Jesus findet, ist m. E. eine unverzichtbare Überzeugung und Motivation der evangelistischen Bewegung.« (Herbst 2012b, 37). 228 Herbst 2011, 87. Hervorhebung im Original. 229 Siehe dazu die Ausführungen zum Verhältnis von Heil und Wohl im 4. Kapitel (»Missio Dei«: Für den Menschen als Seele in jeder Beziehung sorgen) in Michael Herbsts Seelsorgelehre, vgl. Herbst 2013b, 151–216, besonders 159–162 und 209–213. 230 Vgl. auch Herbst 2010, 518–521 und Schlegel 2012, 28 f. 231 Ausführlicher zum Thema Evangelisation vgl. Werth 2004 und Clausen 2010, 6–34. 232 Zimmermann 2009, 16. Ähnlich Eberhard Jüngel: »Mission und Evangelisation: beide Begriffe sind biblischen Ursprungs. Missio heißt Sendung. Evangelisieren bedeutet nichts anderes als das Evangelium verkündigen. Die missio geschieht um des evangelizzesthai willen, das seinerseits aufgrund von missio geschieht.« (Jüngel 2003, 123) Hervorhebung im Original. 233 DBW 6, 137–162. 234 Vgl. aaO., 147 ff.
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die Rechtfertigung des Sünders und von diesem Letzten her sei das Vorletzte zu beschreiben: »Das Vorletzte ist also nicht ein Zustand an sich, sondern ein Urteil des Letzten über das ihm Vorangegangene.«235 Aus der Rechtfertigung des Sünders werde laut Bonhoeffer zweierlei als Vorletztes angesprochen: das Menschsein und das Gutsein. Bonhoeffer folgert: »Das Vorletzte muss um des Letzten willen gewahrt bleiben. Eine willkürliche Zerstörung des Vorletzten tut dem Letzten ernstlich Eintrag. Wo also zum Beispiel ein menschliches Leben der Bedingungen, die zum Menschsein gehören, beraubt wird, dort wird die Rechtfertigung eines solchen Lebens durch Gnade und Glauben wenn auch nicht unmöglich gemacht, so doch ernstlich gehindert. […] Aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit, mit der Verkündigung des letzten Wortes Gottes, der Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein, auch für das Vorletzte Sorge zu tragen, in dem Sinne, daß [sic!] nicht das Letzte durch Zerstörung des Vorletzten verhindert werde. Der Verkündiger des Wortes, der nicht zugleich alles dafür tut, daß [sic!] dieses Wort auch gehört werden kann, wird dem Anspruch des Wortes auf freien Lauf […] nicht gerecht. Es muß [sic!] dem Wort der Weg bereitet werden. Das verlangt das Wort selbst.«236
Diese Ausführungen Bonhoeffers unterstreichen die unbedingte Zuwendung zu den als vorletzte Dinge beschriebenen Gütern um der letzten Dinge willen und dies unterstreicht die Annahme eines sachlichen Prae der Evangelisation. Michael Herbst beschreibt den integrativen Charakter237 der Mission vom Ziel der missio Dei her, indem er festhält: Das Ziel der Mission Gottes ist die Versöhnung »in jeder Beziehung«, mithin das Heilwerden der gesamten Schöpfung mit allen ihren Kreaturen. In der ökumenischen Debatte über die Struktur missionarischer Gemeinden wurde hier häufig vom »Schalom« gesprochen. Freilich hat dieser Schalom ein »Herzstück«; es ist die Versöhnung des Menschen mit Gott, die Heimkehr des aus dem Grundvertrauen gefallenen und heimatlos gewordenen Menschen, das »Finden« des Menschen, der Gott verloren ging. Es geht also um ein integratives Missionsverständnis, welches das Wohl des Menschen und der Schöpfung im Blick hat, dabei aber nicht vergisst, dass das zerbrochene Gottesverhältnis die Wurzel des Übels ist und darum das Heil des
235 AaO., 151. 236 AaO., 152. 237 Mit Blick auf den diakonischen Auftrag der Kirche zitiert die EKD-Denkschrift Herz und Mund und Tat und Leben aus der Satzung des Diakonischen Werkes: »Da die Entfremdung von Gott die tiefste Not des Menschen ist und Heil und Wohl untrennbar zusammengehören, vollzieht sich Diakonie in Wort und Tat als ganzheitlicher Dienst am Menschen.« (Kirchenamt 1998).
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Menschen und der Schöpfung nicht gedacht werden kann, ohne dass der Mensch wieder in das rechte Verhältnis zu Gott zurückfindet. Gleichwohl schließt die missio Dei alles ein, was Gott zum Wohl der Welt tut und getan wissen will: medizinische Fürsorge und Bildungsarbeit, politisches Engagement und Seelsorge, Friedensarbeit und Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung, Diakonie und Evangelisation. Sie ist Präsenz, Konvivenz, Dialog, Begegnung mit dem Fremden – und sie kann in alledem nicht schweigen von Jesus Christus, bezeugt sein Heil, das jedem gilt und von dem niemand ausgeschlossen bleiben darf, sie wirbt um Vertrauen, lädt zum Glauben ein und hofft auf Konversion (in allem, was sie tut).238
4. Missio Dei und Kirche: Bündelung Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass missio Dei nicht nur eine weithin anerkannte und stark rezipierte Denkfigur ist, sondern auch eine in vielerlei Hinsicht fruchtbare Form, den Begriff Mission mit all seinen Implikationen zu beschreiben: Sie ist sachlich angemessen, da sie der Mission ihren Ort bei Gott und der Kirche ihre Rolle239 in dieser Mission zuweist: Mission ist zunächst und letztendlich das Werk des dreieinigen Gottes, Schöpfers, Erlösers und Heiligenden, zum Wohl der Welt, ein Dienst, bei dem die Kirche das Privileg besitzt, daran teilzuhaben […]. Die Mission hat ihren Ausgangspunkt im Herzen Gottes. Gott ist ein Brunnen sich verströmender Liebe. Das ist die tiefste Quelle der Mission. Es ist unmöglich, noch weiter vorzudringen; es gibt Mission, weil Gott die Menschen liebt. […] Es ist undenkbar, dass wir zu einer enger gefassten, ekklesiozentrischen Anschauung der Mission zurückkehren könnten.240
Somit ermöglicht missio Dei eine integrative Sicht auf Mission, welche verschiedene Stränge der christlichen Tradition miteinander versöhnt und verbindet:
238 Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 8.4.2016, 10. 239 »Nicht sie [die Kirche] hat eine Mission des Heils an der Welt zu erfüllen, sondern die Mission des Sohnes und des Geistes durch den Vater hat sie und schafft sich auf ihrem Wege Kirche. […] So ist das ganze Sein der Kirche durch Teilnahme an der Geschichte Gottes mit der Welt gekennzeichnet. Das apostolische Glaubensbekenntnis drückt diese Wahrheit dadurch aus, daß [sic!] es das credo Ecclesiam in das Credo in Deum triunum integriert. Unter dieses Niveau sollte keine Ekklesiologie sinken.« (Moltmann 1975, 81f –Hervorhebung im Original). 240 Bosch 2012, 461.
5. Ausblick: der ökumenische Aspekt der Doxologie
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Mission ist kein Wettbewerb mit anderen Religionen, keine Bekehrungsaktivität, kein Ausbreiten des Glaubens, kein Errichten des Reiches Gottes; sie ist auch keine soziale, ökonomische oder politische Aktivität. Und doch haben alle diese Projekte ihren Verdienst. Denn das Anliegen der Kirche ist Bekehrung, Wachstum der Gemeinden, das Reich Gottes, die Ökonomie, Gesellschaft und Politik – aber auf eine ganz andere Weise!241
Trotz seiner möglichen Schwächen, sind der Begriff missio Dei und seine Implikationen unverzichtbar, da er wie kein anderer die Überzeugung betont, dass weder die Kirche noch eine andere menschliche Initiative Urheberin und Trägerin der Mission sein kann242 und somit dauerhaft mit der unhintergehbaren Tatsache konfrontiert, dass Mission Gottes ureigenste Sache ist und seinem Wesen als Liebe entspringt und somit von seinem Wesen nicht zu trennen ist.243 Missio Dei schützt die Mission davor, lediglich eine menschliche Initiative zu sein, die aus dem Mitgliederschwund der Kirche oder aus gesellschaftlichen Gegebenheiten resultiert oder der Erhaltung und Ausweitung kirchlichinstitutionellen Einflusses dient.
5. Ausblick: der ökumenische Aspekt der Doxologie Den Abschluss soll eine Warnung Hans Urs von Balthasars bilden, der vor einer funktionalen Verzweckung der an die Kirche ergangenen Gnade und Offenbarung der Liebe Gottes warnt: Liebe fordert Gegenliebe und diese in Tat und Wahrheit (1Joh 3,18). Aber »[d]iese Tatliebe primär und gar ausschließlich in ein apostolisches Weitertun von Mensch zu Mensch verlegen, hieße, die Offenbarung der absoluten Liebe rein funktional, als Mittel oder Impuls zu einem menschlichen Zweck, und nicht personal und selbst absolut verstehen […]«244. Dieses Prä einer »zweckfreien« Liebesbeziehung zwischen Gott und seiner Kirche, muss bei allem Nachdenken über die Sendung der Kirche mitgedacht und angemessen berücksichtigt werden: »Joy is the wellspring of the missionary act. It is an involuntary cry that results from finding that pearl of great price.«245 Diese Freude ist der zentrale Aspekt einer angemessenen kirchlichen 241 Bosch 2012, 613. Hervorhebung im Original. 242 Vgl. Bosch 2011, 382–384 und Richebächer 2003, 186–188. 243 Man kann Gottes Akt nicht von Gottes Sein trennen. Erkenntnis Gottes leitet sich folglich aus dem ab, was Gott tut, vgl. Schlink 2005, 59–65. 244 Balthasar 2011, 72. 245 Flett 2010, 297.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
Mission, da sie die Liebe und Freude der Trinität widerspiegelt. Die Antwort des Menschen auf Gottes Handeln kann somit nur in Lob und Anbetung Gottes bestehen, welches aus einer tiefen Freude über Gottes erneuerndes Wirken entspringt: »Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.« (Mk 2,12) John Flett246 entdeckt in der Gemeinschaft der Kirche den Ort, an dem die Versöhnung zwischen Gott und Welt konkrete Gestalt gewinnt, also erlebt, reflektiert, gelobt und meditiert wird und sich damit ein doxologischer Raum öffnet, in welchem Gott wirkt und die in Christus geschehene Versöhnung dem Individuum sowie der Gemeinschaft zueignet. Bringt man diese Überlegungen mit Edmund Schlinks Gedanken zur Aufgabe der Theologie als Doxologie247 in Verbindung, dann stellt man fest, dass der Doxologie eine zentrale Aufgabe sowohl in der Theologie (als Grund und Ziel) als auch in der Mission der Gemeinde (als gemeinschaftlichem Tun und als Ziel) zukommt. Doxologie ist nach Schlink »[d]ie Struktur, in der die Anerkennung Gottes selbst zur expliziten Aussage gelangt.«248 Dies heißt nicht weniger, als dass die Kirche in ihrer Gemeinschaft und ihrer Verkündigung die Taten (sc. das Evangelium) des dreieinigen Gottes (und damit Gott selbst) zur Aussage bringt, indem sie in die Doxologie einstimmt und ebenso diejenigen Menschen, zu denen die Kirche gesandt ist, Gott und seine Taten für sie und an ihnen anerkennen, indem sie ihrerseits ebenfalls in die Doxologie einstimmen. Die Doxologie stellt also sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft ein zentrales und unersetzliches Geschehen dar, welches dem Auftrag der Kirche zur Evangelisation Form und Richtung gibt. Die Aufgabe der Evangelisation liegt in der Verantwortung der gesamten Gemeinschaft der Kirche (bzw. der jeweiligen Gemeinde), aber dies eben gerade in der und durch die Gemeinschaft, die Gott lobt. Denn in der Gemeinschaft konstituiert sich die Kirche als creatura verbi und erkennt die Wahrheit des Evangeliums durch das Zeugnis des Evangeliums in Verkündigung und Sakrament (CA VII). Die Gemeinde hört das Evangelium im Wort der Bibel (v. a. als Predigt) als das an sie ergehende Wort Gottes und sie empfängt Christus in der Gemeinschaft des Abendmahls. Durch diese Vorgänge schafft Gott in den einzelnen Menschen Glauben ubi et quando visum est Deo. (CA V). Als Antwort auf dieses Handeln Gottes lobt die Gemeinde Gott für seine Taten (Akt) und für seine Person als Liebe (Sein). Was mit Doxologie gemeint ist, formuliert Schlink so: »Sie ist Gebet, und doch
246 Vgl. Flett 2010, 24–30. 247 Vgl. Schlink 2005, 64 f. 248 AaO., 64. Hervorhebung im Original.
5. Ausblick: der ökumenische Aspekt der Doxologie
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ist sie nicht Bitte. […] Aber sie nennt allein Gott und gibt ihm die Ehre. Sie gibt ihm die Ehre aufgrund seiner Taten und rühmt diese Taten, aber sie bleibt nicht beim Lobpreis dieser Taten stehen, sondern rühmt Gott als den, der vor und nach diesen Taten ist, – der der Heilige, der Allmächtige und Liebende von Ewigkeit zu Ewigkeit ist.«249 In dem Wissen um die kontextuelle Prägung von Missionstheologie250 bemüht sich Henning Wrogemann darum, Mission möglichst ökumenisch und interkontextuell anschlussfähig zu beschreiben und nennt diese (mit Fokus auf die deutsche Diskussion) oikumenische Doxologie und bemüht sich damit um einen theologischen Neuansatz.251 Es geht Wrogemann jedoch um mehr als einen kleinsten gemeinsamen Nenner: »Meines Erachtens ist Missionstheologie nach wie vor möglich, denn es gibt ›Gehalte‹, die in verschiedenen Kulturen ihre Wirkung erkennen lassen, dazu zähle ich das Gotteslob, die Anrufung des Namens Christi oder die Frage von christlicher Gemeinschaftlichkeit als Resonanzraum des Geistes Gottes.«252 Bei diesem Ansatz zeigt sich, dass die Dimension der Doxologie nicht nur das Ziel kirchlicher Sendung ist, sondern auch auf dem Weg der Mission als ein verbindendes und Einheit stiftendes Element dient. Wrogemann stellt in seinen Ausführungen253 einen engen Zusammenhang zwischen dem Rühmen der Taten und Person Gottes und dem Bezeugen dieser Taten sowie der dahinterstehenden Person her: »Das Gotteslob ereignet sich hier [vgl. 2Kor 10–13] als das ›Sich-Rühmen‹ eines Zeugen, der sich vor einem Dritten der Taten Gottes rühmt. Nicht das Selbst des Zeugen steht damit im Mittelpunkt, sondern die Kraft dessen, dem er Erfahrungen von Heil und Rettung verdankt.«254 Somit ist »Grund und Ziel der missionarischen Sendung«255 die Verherrlichung Gottes, die darauf zielt, »Menschen an dem Versöhnungs-, Erlösungs- und Befreiungshandeln Gottes Anteil gewinnen zu lassen.«256 Dabei verbinde, so Wrogemann, das Gotteslob die diesseitige Wirklichkeit mit der jenseitigen und weise somit über diese Welt hinaus.257 Wrogemann summiert: »Vom neutestamentlichen Zeugnis her kann man Mission als das Geschehen der Ver249 Ebd. 250 »Missionstheologie kann heute nur noch kontextuell betrieben werden.« (Wrogemann 2013, 411 – Hervor-hebung im Original). 251 Vgl. aaO., 405–412 und 413–432. 252 AaO., 411. 253 Vgl. aaO., 415–417. 254 AaO., 416. Später spricht Wrogemann vom »Verweischarakter« des Dankes an Gott und des Rühmens seiner Taten, vgl. aaO., 426. Hervorhebung im Original. 255 AaO., 417. Hervorhebung im Original. 256 AaO., 431. 257 Vgl. aaO., 417 f.
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§ 8 Missionstheologische Zugänge zur Kirche
herrlichung Gottes durch das Lebenszeugnis der von Gott versöhnten, erlösten und befreiten Kreaturen verstehen, das als Vermehrung des Gotteslobes in die Welt hinein ausstrahlt.«258 Somit soll »[a]lle durch das göttliche Heil veränderte Kreatur […] zum Resonanzboden des Gotteslobes werden.«259 Wrogemann entdeckt im Lob Gottes sowohl den Modus als auch das Ziel der Mission und dies in umfassender Perspektive: Das Ziel der göttlichen Mission ist das Heil für die ganze Erde. Indem er dies ermöglicht und wirkt, verherrlicht Gott sich selbst. Er verherrlicht sich durch das Lob aus dem Munde seiner erlösten Schöpfung, und dies kann erschallen ebenso aus dem Munde der kleinen Kinder (Ps 8,3) wie auch seinen Ausdruck finden im Klatschen der Bäume auf dem Felde (Jes 55,12), es erschallt aus der Vielfalt der Völker, wie das Bild von der Völkerwallfahrt zum Berge Zion erwartet (Jes 2,2ff.; Mi 4,1ff.) und übersteigt alle Grenzen von Alter, Geschlecht und Milieu (Joel 3,1–5). Dem ausstrahlenden Gotteslob eignet also eine missionarische, eine grenzüberschreitende Kraft, meint es doch auch das Übersteigen von ethnischen, kulturellen, sozialen und anderen Grenzen. Das Ziel der Werke Gottes ist die Verherrlichung Gottes im Namen Jesu Christi, da nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes in diesem Namen die Geschichte Gottes mit den Menschen zusammengefasst ist.260
258 AaO., 422. Hervorhebung im Original. 259 AaO., 430. Hervorhebung im Original. 260 AaO., 426 f.
»Um das Wesen der Kirche zu bestimmen, muß [sic!] man über das reden, was die Kirche begründet, d. h. das Wort Gottes, und über das, was in der Kirche möglich gemacht wird, d. h. wahrhafter Glaube. Beide Aspekte zusammen bilden die Communio sanctorum. Von dieser Kirche können die Wesenseigenschaften der Kirche ausgesagt werden, die in den altkirchlichen Bekenntnissen formuliert werden.«1 Christoph Schwöbel
§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche Einleitung Nach dieser Annäherung an die Kirche über Wesen und Sendung Gottes soll nun als zweiter Schritt die dogmatische Beschreibung der Kirche selbst dargestellt werden, welche sich darum bemüht, dem Wesen der Kirche als der zum Herrn Gehörigen gerecht zu werden. Es handelt sich um ein doppeltes Bemühen, nämlich um »die Entwicklung eines Verständnisses der Gestalt der Kirche, das ihrer theologischen Wesensbestimmung entspricht und als Leitvorstellung der Gestaltung der empirischen Wirklichkeit der Kirche dienen kann.«2 Die Betrachtung der empirischen Seite der Kirche findet dann in einem dritten Schritt statt, der mithilfe der Kirchentheorie die Kirche als Größe zwischen göttlicher Berufung und empirischer Wirklichkeit bzw. Kirche in der »Wechselbeziehung von Wesen und Wirklichkeit«3 beschreibt.
1 Schwöbel 2002, 354. Hervorhebung im Original. 2 AaO., 385. Christoph Schwöbel betrachtet diese Aufgabe als eine noch ungelöste Aufgabe reformatorischer Theologie vgl. aaO., 384–388. 3 AaO., 385.
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§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche
1. Biblische Zugänge zur Kirche Was die Verkündigung Jesu angeht, spricht Rochus Leonhardt von einer impliziten Ekklesiologie.4 Infolge der Begegnung mit dem Auferstandenen und des Pfingstgeschehens »verstanden sich die ersten Christen als endzeitliche Heilsgemeinschaft«5 Zu dieser neuen Gemeinschaft gehörten fortan Juden und Heiden (Apg 10; Eph 2; 1Petr 2,9 f.), ohne dabei den »heilsgeschichtlichen Vorrang Israels«6 in Frage zu stellen (Röm 9–11). Dabei wird diese Gemeinschaft unterschiedlich beschrieben: als Leib Christi (1Kor 12; 1Kor 10,14–17; Kol 2,19; Eph 1,22 f. etc.), als Bauwerk auf dem Fundament Jesus Christus (1Kor 3), als Haus Gottes (1Tim 3,15) oder als wanderndes Gottesvolk (Hebr 3,7–17).
2. Die altkirchlichen Bekenntnisse zur Kirche Eine der ältesten dogmatischen Aussagen zur Kirche findet sich im apostolischen Glaubensbekenntnis (erste Fassungen im 2. Jh. n. Chr.).7 Dort wird der Glaube an die Kirche mit den Worten: »Ich glaube an die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen.«8 (»Credo in Spiritus sanctum, sanctam ecclesiam catholicam, sanctorum Communionem …«9) Dabei ist die Kirche von dem Bekenntnis an den dreieinigen Gott abgesetzt. Sie wird zwar geglaubt, aber nicht in dem Sinne, wie Menschen an Gott als den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist glauben: »Vielmehr stellt der Glaube an die Kirche eine Auslegung des Glaubens an die dritte Person Gottes dar: Zur Präsenz des Heiligen Geistes in der Welt gehört zentral die Kirche.«10 Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten als die »Geburtsstunde der Kirche«11 bezeichnet wird.12 Jürgen Moltmann verweist darauf, dass das Apostolikum »nach der Kirche sofort ›die Gemeinschaft der
4 Vgl. Leonhardt 2009, 357 f. 5 AaO., 357. 6 Ebd. 7 Vgl. Markschies 2008, 648f; ders. 2005, 504f; Andresen/Ritter 1999, 84–88 und Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 25f sowie allgemeiner Markschies 2006, 73–86. 8 Rat der Evangelischen Kirche 1982, 21. 9 Ebd. 10 AaO., 26. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Leonhardt 2009, 358. 11 Vgl. Ebner 2006, 17–22. 12 Vgl. Schlink 2005, 561 ff.
2. Die altkirchlichen Bekenntnisse zur Kirche
247
Heiligen‹ [nennt].«13 Die Formulierung sanctorum Communio hat eine doppelte Bedeutung: die Gemeinschaft der Heiligen14 oder die Gemeinschaft mit den heiligen Dingen.15 Das Merkmal der Heiligkeit begegnet (ebenfalls im Kontext des heiligen Geistes)16 auch im Bekenntnis von Konstantinopel (381 n. Chr.)17, welches die sog. vier notae ecclesiae formuliert: »Und an den Hl. Geist, der da Herr ist und lebendigmacht, der vom Vater [und vom Sohn] ausgeht, der mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und gepriesen wird, der durch die Propheten geredet hat; an eine heilige katholische und apostolische Kirche [una sancta catholica et apostolica ecclesia]18.«19 Diese vier Wesensmerkmale der Einheit20, Heiligkeit21, Katholizität22 und Apostolizität23 stellen die altkirchlichen Merkmale zur Beschreibung des Wesens der Kirche dar.24 Die Beschreibung der Heiligkeit sowohl im Apostolicum als auch im nicäno-konstantinopolitanischen Bekenntnis verdeutlicht, dass die Kirche »einen besonderen Raum dar[stellt], als in und bei ihr das Heil (salus = das gute Leben, die Rettung, Seligkeit25) gefunden werden kann.«26 Dieser Gedanke knüpft an die Worte des Bischof von Karthago, Cyprian,27 an, der 251/252 n. Chr. in De ecclesiae catholicae uni-
13 Moltmann 1975, 341. 14 Vgl. Leonhardt 2009, 358: »In der Bezeichnung Gemeinschaft der Heiligen kommt darüber hinaus zum Ausdruck, dass die in der Kirche versammelten Christen, die nach neutestamentlichem Sprachgebrauch als Heilige bezeichnet werden können (vgl. Röm 1,7; Eph 1,1 u.ö.), nicht nur je einzeln durch den geistgewirkten Glauben auf Christus bezogen sind, sondern zugleich auch miteinander eine Gemeinschaft bilden.« (Ebd). 15 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 27; Zimmermann 2009, 8–10 und Moltmann 1975, 341. 16 Vgl. Leonhardt 2009, 358 f. 17 Vgl. Ritter 2004, 179–181. 18 Leonhardt 2009, 358. 19 Ritter 2004, 180. 20 »Eine ist die Kirche also durch ihre Bindung an den einen Herrn Jesus Christus (vgl. IKor 8,6).« (Leonhardt 2009, 359). 21 »Heilig ist die Kirche also aufgrund der [durch den Geist Gottes gewirkten] Glaubenszuversicht der einzelnen Christen.« (Ebd.). Zur Spannung von heiliger und sündiger Kirche vgl. Reményi 2017, 392–394. 22 »Katholisch ist die Kirche also aufgrund der Übereinstimmung ihres Glaubens mit dem Glauben der Gesamtheit der Christen.« (Leonhardt 2009, 359). 23 »Apostolisch ist die Kirche also aufgrund der Treue zu den Ursprüngen [und zum Auftrag] ihres Glaubens.« (Ebd.). Matthias Reményi entdeckt in der »Bereitschaft zur geistesgegenwärtigen Christustransparenz« das entscheidende Kriterium für die Apostolizität der Kirche i. S. v. »Ursprungstreue«. Diese Bereitschaft entscheidet zudem über die »Fruchtbarkeit ihrer Sendung«. (Reményi 2017, 388). 24 Vgl. auch Schlink 2005, 585–589 und Härtner 2016, 95–98. 25 Zur Kirche als Institution der Heilsvermittlung vgl. Leonhardt 2009, 371–377. 26 Hauschildt/Pohl-Patalong 2014, 26. 27 Vgl. Wischmeyer 2008, 508f und Ritter 2004, 93–98.
248
§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche
tate schrieb: »extra ecclesia nulla salus est«28, denn: »Gott kann nicht zum Vater haben, wer die Kirche nicht [mehr] zur Mutter hat«29.30
3. Einheit der Kirche in Vielfalt und Spaltung Cyprian hat angesichts eines kirchlichen Schismas geschrieben und die Zugehörigkeit zur einen wahren Kirche betont, um das Heil zu erlangen. Dies konfrontiert mit der Einheit der Kirche angesichts einer Fülle an christlichen Kirchen, die alle beanspruchen, die wahre Kirche zu sein. Aus der nota ecclesiae der Einheit leitet sich von daher die Vorstellung ab, dass die Kirche eine ist und nicht geteilt werden kann. So formuliert etwa Edmund Schlink: »Die Einheit der Kirche und die uneinige Christenheit«31. Dieser Satz ist ein Bekenntnis und entspricht nicht der irdischen Realität konfessioneller Wirklichkeiten.32 Allein: Dieser Satz beschreibt die größere, weil göttliche Wirklichkeit kirchlicher Existenz.33 Zwei dogmatische Einsichten in das Wesen der Kirche sind hilfreich zum Verständnis der Spannung zwischen theologischer und empirischer Wirklichkeit der Kirche: Einerseits wird die Kirche als corpus permixtum (Augustinus und CA VIII)34 beschrieben. Dies bedeutet, dass die Kirche sowohl aus Sündern als auch zum Heil gelangten Sündern besteht. So unterschied Augustinus die irdische Kirche von der himmlischen, indem er deutlich machte: »Die reine Kirche ist nicht möglich […] [und]: Die Kirche steht nicht außerhalb der Sünde.«35 Die andere dogmatische Einsicht ist die reformatorische Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche36, die besonders von
28 29 30 31 32 33
34 35 36
Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 26. Ritter 2004, 93. Zum Kirchenverständnis des römischen Katholizismus vgl. Leonhardt 2009, 360–365. Schlink 2005, 673. Vgl. Leonhardt 2009, 359 f. »Damit ist die Frage der Kirche (im Sinne der Bekenntnisse [die ein Idealbild vor Augen malen]) zu den verschiedenen vorhandenen Kirchen gestellt.« (AaO., 360). Vgl. Schlink 2005, 673–685. »Die Spaltungen der Christenheit können zwar diese Einheit [der Kirche] entstellen, verdunkeln, ja schier unsichtbar machen, aber sie können sie nicht beseitigen. Denn die Einheit ist von Gott gegeben. Von dieser Voraussetzung her ist die eine Kirche inmitten der gespaltenen Christenheit zu suchen.« (AaO., 684) Christian Möller spricht im Anschluss an Martin Luther von einem »Erglauben von Kirche« (Vgl. Möller 2004, 63ff). Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 27 und Ritter 2004, 203–202. Hintergrund der Rede vom corpus permixtum ist die Auseinandersetzung Augustinus mit dem Donatismus in Nordafrika, vgl. Leonhardt 2009, 366. Vgl. auch CA VIII. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 27. Bzw. verborgene (lat. absconditas) und sichtbare Kirche, vgl. Hermelink 2011, 34–36.
3. Einheit der Kirche in Vielfalt und Spaltung
249
Huldrych Zwingli37 (aber auch von Martin Luther38) vertreten wurde. Dabei geht es nicht um eine Abwertung der sichtbaren Kirche und das Postulat einer rein spiritualistischen Kirche.39 Es handelt sich stattdessen um »zwei Aspekte oder Dimensionen der Gemeinschaft der Glaubenden«40 und um die Einsicht, dass die unsichtbare (oder mit Martin Luther die verborgene)41 Kirche aus den »wahrhaft Gläubigen«42 besteht, »die ausschließlich Gott selber bekannt sind«43 und sich die sichtbare Kirche sowohl aus Gläubigen als auch aus Ungläubigen (i. S. e. corpus permixtum) zusammensetzt.44 »Wahrer Leib Christi [ist] die Gemeinschaft der Glaubenden, die zwar innerhalb der sichtbaren Kirche besteht, aber bis zum Endgericht nicht identifizierbar ist«45 (vgl. Mt 13,24–30). Jan Hermelink verweist darauf, dass bei Luther die äußeren Formen der sichtbaren Kirche (Versammlung der Gläubigen, Predigt, Sakrament) die verborgene Kirche
37 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 29, Campi 2008, 1945–1955 und Wallmann 1993, 58–63. 38 Vgl. Hermelink 2011, 34–36. 39 »Luther vermeidet eine Spiritualisierung des Kirchenverständnisses dadurch, daß [sic!] er das Wirken des Geistes an die äußeren Zeichenhandlungen der Verkündigung und der Darreichung der Sakramente bindet. Die Communio sanctorum wird so in ihrer Konstitution und in ihrem Vollzug durch die communicatio evangelii beschrieben. In dieser Weise wird die Evangeliumsverkündigung und die Darreichung der Sakramente zum Instrument des Sich-gebens Gottes und schafft so die Communio sanctorum, die ihr Wesen als Kommunikations-gemeinschaft des Evangeliums hat. Die Kirche ist also nur und insoweit geistliche Communio als sie auch Gemeinschaft des äußeren Wortes, der zeichenvermittelten Kommunikation des Evangeliums in Wort und Sakrament ist. Wo dieses Wort Glauben findet, kommen in der Communio sanctorum beide Bewegungen zusammen, das Sich-geben Gottes und das Zu-sich-bringen der Glaubenden, das sich darin vollzieht, daß [sic!] der Geist die Glaubenden zu Christus und so zu Gott dem Vater bringt, so daß [sic!] die Gemeinschaft der Glaubenden zur Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott wird.« (Schwöbel 2002, 416). Vgl. auch aaO., 412–419. 40 Hermelink 2011, 35. Hervorhebung im Original. 41 Vgl. Schwarz 2004, 93–97. 42 Campi 2008, 1952. 43 Ebd. 44 Vgl. dazu auch Schwöbel 2002, 365 ff. »Das Konstituierende kann nicht vom Konstituierten getrennt, das möglich und wirklich Gemachte nicht von seinem Ermöglichungsgrund losgelöst werden. Die ›Unsichtbarkeit‹ der Kirche bezieht sich auf Gottes Handeln in der Konstitution der Kirche, welches als die Macht, eine sichtbare Zeugnisgemeinschaft zu schaffen, selbst unsichtbar ist. Die Unterscheidung zwischen der ›unsichtbaren‹ und der ›sichtbaren‹ Kirche kann angemessener interpretiert werden, wenn wir sie auf die Frage beziehen, wie die Kirche ein Glaubensgegenstand sein kann, der im Glaubensbekenntnis bekannt wird, und zugleich ein menschliches Handlungsfeld. Nur als creatura verbi divini ist die Kirche ein Glaubensgegenstand, da nur Gottes Handeln in der Begründung und Erschließung der wahren Beziehung zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung als Gegenstand des Glaubens bekannt werden kann.« (AaO., 357). 45 Leonhardt 2009, 366.
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§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche
nicht nur signifikativ repräsentieren, sondern »eine kausative oder konstitutive Bedeutung für die geistliche Dimension haben.«46 Mit Edmund Schlink wäre dann die Aufgabe der Christen, »innerhalb der ganzen Christenheit […] nach der einen Kirche zu suchen.«47 Dabei ist die »Voraussetzung allen Suchens nach der einen Kirche in der zerrissenen Christenheit […] der Glaube, daß [sic!] die Kirche zu allen Zeiten ›die eine heilige katholische und apostolische Kirche‹ ist.«48 Und dies gilt: »Weil der dreieinige Gott sie geschaffen hat, erhält und ihr verheißen hat, daß [sic!] sie bis zum Ende der Welt bleiben wird.«49 Deshalb »können keine Spaltungen der Christenheit die Einheit der Kirche letztlich aufheben […] Denn die Kirche ist wesensmäßig die eine.«50 So sei laut Schlink die Erkenntnis der von Gott gestifteten und garantierten Einheit der Kirche einerseits sowie das Wirken des Heiligen Geistes andererseits nötig, damit die eine Kirche in der gespalteten Christenheit gesucht, gefunden und dargestellt werden könne.51
4. Die Kirche als Geschöpf des Wortes Dass die Kirche kein menschliches Werk ist, wird in der auf Martin Luther52 zurückgehenden Beschreibung der Kirche als creatura verbi deutlich gemacht. Die Kirche ist ein Geschöpf Gottes, der sich durch sein Wort offenbart und somit kommt der Bibel die höchste (und letzte) Autorität in Lehr- und Glaubensfragen
46 Hermelink 2011, 36. Hervorhebung im Original. 47 Schlink 2005, 684. 48 AaO., 684. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl. aaO., 684 f. Schlink sieht zwei Aufgaben, um die wesensmäßige Einheit der Kirche angesichts ihrer Spaltung zu suchen: 1. Die Erkenntnis der einen Kirche in der uneinigen Christenheit (vgl. aaO., 694–700) und 2. Die Darstellung der erkannten Einheit in der Herstellung der Kirchengemeinschaft (vgl. aaO., 700–708). Die Grenze dieses menschlichen Bemühens zeigt Christoph Schwöbel auf, indem er schreibt: »Eine ökumenische Praxis, die die Unterscheidung zwischen der Heilsökonomie Gottes und der ökumenischen Arbeit der Kirchen respektiert, kann dadurch ihre Freiheit üben, daß [sic!] sie gemeinsame Regeln und Handlungsvollzüge für das ministerium verbi divini in den hörbaren Worten der Predigt und in den sichtbaren Worten der Sakramente findet. Nur wo diese Unterscheidung verwischt wird und das menschliche Werk ökumenischer Verständigung die Einheit der Kirche, die nur ein Werk Gottes sein kann, herbeizuführen beansprucht, muß [sic!] die Zeugnisgemeinschaft auf der Grundlage der reformatorischen Ekklesiologie von einer solchen ökumenischen Praxis Abstand nehmen.« (Schwöbel 2002, 376). 52 Vgl. Schwöbel 2002, 345–377.
4. Die Kirche als Geschöpf des Wortes
251
zu (sola scriptura)53 und relativiert damit die kirchliche Tradition, das Primat des Papstes sowie die Verbindlichkeit von Konzilen (und die subjektiven und innerlichen »Offenbarungen« der sog. Schwärmer54).55 Zu diesem Verständnis und den Implikationen für die Darstellung von Kirche und christlicher Gemeinschaft schreibt Christoph Schwöbel: Die Kirche ist creatura verbi divini, Geschöpf des Wortes Gottes. Sie ist durch Gottes Handeln und nicht durch das Handeln der Menschen konstituiert. So ist sie weder eine Vereinigung von Menschen, die durch ihren gemeinsamen Geschmack an der Religion zusammengeführt werden, noch das Geschöpf irgendeines menschlichen Gemeingeistes. Sie ist keine Gemeinschaft, die durch den gemeinsamen Einsatz für ein Programm oder die Realisierung gemeinschaftlicher Ziele geschaffen wird, und ist dadurch unterschieden von anderen Organisationen. Als Geschöpf des Wortes Gottes wird die Kirche durch Gottes Handeln konstituiert. […] Wo das äußere Wort der Schrift durch das innere Zeugnis des Geistes im Herzen gewiß gemacht wird, wird es Gottes Wort, viva vox Dei. Diese Gewißheit [sic!], die durch die Bewahrheitung des Wortes der Schrift geschaffen wird, ermöglicht den Glauben als unbedingtes Vertrauen auf Gott den Schöpfer, Versöhner und Vollender. Dieser Glaube ist die einzig angemessene Antwort auf das Wort Gottes, durch das Gott die Kirche schafft, indem er den Glauben schenkt.56
Christoph Schwöbel setzt die vier notae ecclesiae in Beziehung mit der Vorstellung der Kirche als Geschöpf des Wortes und als Ort des Glaubens. Daraus folgt, dass sich die Einheit der Kirche aus dem einen Handeln Gottes in Schöpfung, Offenbarung und Vergewisserung (»Gewissmachung«57) konstituiert. Die Katholizität der Kirche begründet sich aus der Universalität der Wahrheit der Offenbarung Gottes in Christus, welche die wahre Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung offenbart und so die Wirklichkeit erschließt. Apostolisch ist die Kirche, »weil sie die Identität und Universalität von Gottes Offenbarung in Jesus Christus bezeugt.«58 Denn: »Der Apostel wird nicht durch seine Stellung 53 Was mit sola scriptura gemeint ist, bringen Hauschildt/Pohl-Patalong auf den Punkt: »Es besagt, dass es in der Kirche einen Konsens darin gibt, auf das biblische Wort zu hören als gemeinsame Basis, die den Ursprung des Evangeliums wiedergibt.« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 27). 54 Zur sog. radikalen Reformation vgl. Moeller 2008, 280–288. 55 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 27 f. und Leonhardt 2009, 183–186. 56 Schwöbel 2002, 350 f. Die Fähigkeit göttliches von menschlichem Handeln zu unterscheiden, ist für Schwöbel (im Anschluss an Luther und Calvin) geradezu das Alleinstellungsmerkmal reformatorischer Theologie, vgl. dazu besonders aaO., 344–372. 57 Vgl. aaO., 354 f. 58 AaO., 355.
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§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche
in einem menschlichen Traditionsprozeß [sic!] definiert, sondern durch den, der den Apostel sendet.«59 Schließlich beschreibt die Heiligkeit der Kirche nicht eine ihr eigene Eigenschaft, sondern leitet sich aus dem heiligen und heiligenden Wirken des Geistes Gottes ab.60 »Wo immer und wann immer das menschliche Zeugnis der Christusbotschaft durch den Heiligen Geist gewiß [sic!] gemacht wird, ist die Glaubensgemeinschaft, die auf diese Weise konstituiert wird, eine Gemeinschaft der Heiligen.«61
5. Die Kirche in der Confessio Augustana Der siebte Artikel (Jan Hermelink bezeichnet CA VII als die »Grundformel der lutherischen Kirchentheorie«62) der Confessio Augustana (CA) (1555)63 formuliert sehr knapp64, was die Kirche konstituiert – nämlich Gemeinschaft65, Verkündigung und Sakramentsverwaltung66: »Es wird auch gelehret, daß [sic!] alle Zeit musse [sic!] eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen [sic!], bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden. Dann dies ist genug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen.«67 Somit hängt die »Einheit der einen apostolischen heiligen christlichen Kirche«68 nicht an äußerlichen Formen, Ordnungen, Ämtern oder einem einheitlichen liturgischen Vollzug, sondern es ist genug (»satis est«)69, dass das Evangelium (welches in CA V »als Lehre von der Rechtfertigung ›non propter nostra merita, sed propter Christum‹ präzisiert«70 wird) rein gepredigt und die Sakramente gemäß dem Wort Gottes
59 Ebd. 60 Vgl. aaO., 353–356. 61 AaO., 356. 62 Hermelink 2011, 36. 63 Vgl. aaO., 36–38. »CA 7 bezeichnet die Kirche in ihrer verborgenen wie in ihrer sichtbaren Dimension zugleich.« (AaO., 37). 64 Vgl. Schwöbel 2002, 419 ff. 65 Zur Communio in der CA, vgl. auch aaO., 419–423. 66 Winkler beschreibt diese zwei Merkmale (neben anderen) als notae ecclesiae, vgl. Winkler 1997, 19 f. 67 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1982, 61. 68 Herbst 2010, 58. 69 Vgl. dazu auch Hermelink 2011, 37 f. 70 AaO., 37.
5. Die Kirche in der Confessio Augustana
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gereicht werden, um die Einheit der Kirche zu konstituieren und zu sichern.71 Dort, wo dies geschieht, wird »die wahre Kirche als irdisch-geschichtliche Realität greifbar.«72 »Die Kirche wird damit als personale Kommunikationsgemeinschaft bestimmt, die durch die Predigt des Evangeliums und die Darreichung der Sakramente konstituiert wird.«73 Dies bedeutet aber nicht, dass diese Realität selbst die wahre Kirche ist.74 Dass die so bekannte Kirche ebenso ein corpus permixtum ist, macht CA VIII deutlich.75 Dass christlicher Glaube nach lutherischer Überzeugung an der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinschaft hängt, bedeutet aber nicht, dass kirchliche Ämter und Ordnungen absolut wären – im Gegenteil: Sie sind zwar nötig, um eine geregelte Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu gewährleisten (CA XIV), bleiben aber menschliche Ordnungen (vgl. CA XV), die weder heilig noch unveränderlich sind. Die Amtsträger haben keinen anderen geistlichen Status als die übrige Gemeinde, sondern sie nehmen lediglich in besonderer Weise (als von der Gemeinde Beauftragte) das dem allgemeinen Priestertum innewohnende Recht wahr, dass jedem Getauften gilt, weil Gott die Getauften heilig macht und ihnen diese Würde zueignet.76 Somit hat die lutherische Theologie mit CA VII die Erscheinungsformen der Kirche zu sog. Adiaphora erklärt, also zu Äußerlichkeiten, die für das Heil nebensächlich sind und je nach Situation und Umstand individuell gestaltet werden können. Dies eröffnete einen großen Freiraum bei der konkreten Darstellung kirchlichen Lebens zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten unter sich wandelnden Bedingungen.77 71 Michael Herbst verweist darauf, dass die Formulierung zunächst zur Sicherung der Einheit gedacht war und erst im Zuge der Verfestigung der konfessionellen Spaltung zum Bekenntnis des Wesens der Kirche avancierte: »Dabei ist jedoch zu bedenken, daß [sic!] CA VII keineswegs eine Beschreibung oder Definition der christlichen Gemeinde anbieten wollte. Die Confessio Augustana als ganze ist Ausdruck eines Bekenntnisses: Wir sind keine Ketzer! Wir gehören zur wahren Kirche! Auch will CA VII nicht vollständig beschreiben, was eine christliche Gemeinde ist, sondern nur herausarbeiten, was zur Einheit der einen apostolischen heiligen christlichen Kirche genug (satis!) ist. Erst später, als alle Hoffnungen auf die ›unitas eclesiae‹ zerbrochen waren und damit die Notwendigkeit einer eigenen Definition von Kirche unabweisbar geworden war, bediente man sich dieses Artikels der CA, um das Wesen der Kirche zu beschreiben. Dabei wurde die Formel, die einst die Einheit ermöglichen helfen sollte (satis!), zu einer Ausschließungsformel (als stünde dort: necesse). Von da an wurde die Formel aus CA VII […] bis in die Gegenwart zur evangelischen Definition der Gemeinde.« (Herbst 2010, 58). 72 Leonhardt 2009, 368. 73 Schwöbel 2002, 421. 74 Vgl. Leonhardt 2009, 368f und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 28. 75 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1982, 62. 76 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 28 und Leonhardt 2009, 368 f. Anders Johannes Calvin, in dessen Theologie die Ämterordnung der Kirche eine zentrale Rolle bei Identifikation der wahren Kirche spielt – das allgemeine Priestertum dagegen nicht, vgl. aaO., 369–371. 77 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 28 f.
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§ 9 Ekklesiologische Zugänge zur Kirche
Schwöbel verweist im Anschluss an Martin Luther darauf, dass die Kennzeichen der Kirche nach CA VII zwar notwendige und »in ihren Implikationen erfaßt [sic!], sogar hinreichende«78 Merkmale der Kirche sind, »aber keineswegs eine vollständige Aufzählung dessen, was diese Gemeinschaft charakterisiert.«79 Das Leben der Kirche wird (und muss) mehr als diese Kennzeichen umfassen, jedoch sind diese Kennzeichen die minimale Definition dessen, was reformatorisch als Kirche beschrieben werden kann und spiegelt das Bemühen wider, eine dem Handeln Gottes »angemessene menschliche Zeugnispraxis«80 zu gewährleisten.
6. Die Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung Dass die Kürze und Prägnanz von CA VII eine große Stärke ist, ist unbenommen (Notger Slenczka spricht von einer »spartanischen« Ekklesiologie81 und Hermelink von einer »Minimaldefinition«82). Jedoch entsteht dadurch auch eine gewisse Leerstelle bei der Frage, welche Form der Kirche angemessen ist und welche nicht bzw. ob es Formen der Kirche gibt, die dieser nicht angemessen sind – die CA lässt dies offen. Dass dies aber wichtig ist, hat die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 deutlich gemacht.83 Denn in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus84 drängte sich die Frage auf, ob die Art und Weise, wie Kirche gestaltet wird (neben Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung) beliebig oder ob die äußere Form und außergottesdienstliche Praktiken auch Teil des evangelischen Zeugnisses der Kirche ist. Oder anders gefragt: Gibt es eine »weltliche Seite« der Kirche, für die die ethischen Implikationen des Evangeliums nicht gelten und die sich je nach gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen anpasst? Die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung verneint dies:
78 Schwöbel 2002, 361. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Dieser Hinweis findet sich bei Michael Herbst: »Von einer ›spartanischen‹ lutherischen Ekklesiologie sprach Notger Slenczka in einem Vortrag im Theologischen Ausschuss der VELKD (2014).« (Herbst 2017, 114). 82 Hermelink 2011, 37. 83 Zur Barmer Theologischen Erklärung vgl. Kaiser 2007, 225–230 und Nicolaisen 2008, 1111– 1115. Für Michael Herbst sind neben der dritten noch die vierte und sechste These »als Auslegung der ausschließlichen Herrschaft Jesu Christi in bezug [sic!] auf die christliche Gemeinde zu verstehen.« (Herbst 2010, 57). Vgl. ausführlicher auch Herbst 2010, 56–66. 84 So z. B. die Einführung eines sog. Reichsbischofs und des sog. Arierparagraphen in der Kirche, vgl. Kaiser 2007, 210–237.
6. Die Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung
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Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte. Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.85
Hauschildt/Pohl-Patalong86 weisen im Anschluss an Martin Abraham87 darauf hin, dass die Formulierung »Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung …« nicht als Gleichsetzung und damit Aufhebung von CA VII verstanden werden sollte, sondern i. S. v. »wie auch mit ihrer Ordnung« und damit als eine Ableitung (»[…] im Sinne einer abgestuften Addition, nicht aber parallelisierend […]«88) aus dem Glauben, dem Gehorsam sowie der Botschaft des Evangeliums. Insofern ist die Ordnung der Kirche nicht gleichgültig, sondern muss der Verkündigung der Kirche entsprechen: »Bei strukturellen Regelungen der Kirche ist immer zu prüfen, in welchem Maße sie dem geistlichen Auftrag der Kirche zur Bezeugung der Botschaft in einer bestimmten Situation eher förderlich oder eher hinderlich sind.«89 Damit betrachtet die Barmer Theologische Erklärung die Kirche in ethischer Hinsicht90, stellt die Frage nach der konkreten Gestalt und Qualität der Handlungen der Kirche und derer, die zu ihr gehören.91 Hauschildt/PohlPatalong unterscheiden dabei zwischen der ethischen Perspektive nach innen: Von der Orthodoxie zur Orthopraxie92 und der Perspektive nach außen: Politische und moralische Effekte93.
85 Nicolaisen 2009, 39. 86 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 29 f. 87 Laut Abraham sei der reformierte Einfluss Karl Barths hier deutlich und die vorgeschlagene Deutung sei demzufolge eine lutherische Deutung dieser Perspektive, die Abraham aus der – vielleicht nur zufällig – gewählten Reihenfolge ableitet, die aber s. E. die korrekte ist, vgl. Abraham 2007, 89–100. 88 AaO., 99. 89 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 30. 90 Dass Dogmatik und Ethik unmittelbar zusammengehören, hat besonders Karl Barth pointiert zum Ausdruck gebracht. Vgl. Barth 1975a, 875–890. 91 Moltmann zu Barmen 3: »Mit der ›Gemeinde von Brüdern‹ ist die sichtbare, neue Lebensweise gemeint.« (Moltmann 1975, 342). 92 Vgl. Hauschild/Pohl-Patalong 2013, 31 f. 93 Vgl. aaO. 32 f.
»Offenkundig machen es die tief greifenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts unmöglich, Kirche ohne schwerwiegenden Realitätsverlust exklusiv bzw. vorwiegend von der theologischen Tradition her zu bestimmen. Im Zuge der Aufnahme empirischer Theorien stellt sich einer praktisch-theologischen Kirchentheorie die Aufgabe, die gegenwärtigen Erscheinungsformen von Kirche und theologische Inhalte miteinander zu vermitteln.«1 Christian Grethlein
§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche Einleitung Reiner Preul beschreibt Kirchentheorie2 wie folgt: »Kirchentheorie bezieht den dogmatischen Lehr- oder Wesensbegriff auf einen gegebenen kirchlichen Zustand mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gegebenenfalls Verbesserung dieses Zustandes.«3 Dies bedeutet, dass sich kirchentheoretische Überlegungen zwischen einer (eher normativen und eher überzeitlichen und überkontextuellen) dogmatischen Reflexion der Kirche (Ekklesiologie) und einer (eher empirisch-deskriptiven) Darstellung der faktischen Gestalt der Kirche in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit und unter spezifischen Bedingungen (Praktische Theologie4) verorten. Insofern ist ein
1 Grethlein 2018a, 16. Hervorhebung im Original. 2 Eine konzise Einführung in die historische Genese und die Inhalte verschiedener kirchentheoretischer Ansätze vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 34–45. Zur Entstehung des Begriffs vgl. aaO., 49 f. Zur Einführung vgl. auch Hermelink 2011, 13–30. 3 Preul 1997, 3. Jan Hermelink betrachtet die Kirchentheorie auch als ein Produkt der seit den 1960er Jahren andauernden Krisen der evangelischen Kirche, vgl. Hermelink 2017. 4 »Der Schwerpunkt der praktisch-theologischen Perspektive [auf die Kirche] liegt aber in der Frage: Wie ist die faktische jetzige Kirche? – die jetzige und nicht die Gewesene der Exegese und Kirchengeschichte, die faktische und nicht die ideale oder kategoriale der Dogmatik, die Kirche, wie sie ist und nicht so sehr, welche moralischen und ethischen Perspektiven ihr Handeln regieren und welche Effekte es hat, wie es eine ethische Perspektive nahelegt.« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 33). Vgl. auch aaO., 16–19.
1. Kirche als Bewegung (in Gruppe und Gemeinschaft)
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kirchentheoretischer Zugang zur Kirche also eine »Theologie der Kirche, die systematische und empirische Sachverhalte bewusst verknüpft.«5 Damit wird nicht zuletzt der Einsicht Rechnung getragen, dass Kirche stets nur in historisch und kontextuell bedingter Gestalt existiert.6 Die vier deutschsprachigen kirchentheoretischen Gesamtdarstellungen stammen von Reiner Preul (1997)7, Jan Hermelink (2011)8, Hauschildt/Pohl-Patalong (2013)9 und Christian Grethlein (2018)10. Für einen kirchentheoretischen Zugang zum Thema Kirche kombiniert die vorliegende Arbeit das Modell eines Hybrids von Kirche von Hauschildt/Pohl-Patalong mit dem Ansatz Grethleins, der die Kommunikation des Evangeliums zum Paradigma für praktisch-theologisches und kirchentheoretisches Denken erhebt.
1. Kirche als Bewegung (in Gruppe und Gemeinschaft)11 Hauschildt/Pohl-Patalong unterscheiden bei der Kirche als Bewegung drei Formen, die einander sehr ähnlich sind und Gemeinsamkeiten sowie Überschneidungen, aber auch Differenzen aufweisen: Kirche als Gruppe12, Gemeinschaft13 und Bewegung14. Dabei ist die Sozialform der Gruppe von Beginn an (Jesus und die Gruppe der zwölf Jünger) ein Charakteristikum des christlichen Glaubens (wie für
5 AaO., 49. Hervorhebung im Original. 6 Hauschildt/Pohl-Patalong schreiben, dass sich ihre Kirchentheorie »auf die protestantische Fassung des Christentums, und zwar in derjenigen kulturellen Form, wie sie sich im deutschsprachigen Bereich und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland findet« (aaO., 18.), beziehe. 7 Vgl. Preul 1997. Zusammenfassung vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 50 f. 8 Vgl. Hermelink 2011. Zusammenfassung vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 51 f. 9 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013. Als konzise Version vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2016. 10 Vgl. Grethlein 2018a. 11 Vgl. Hermelink 2011, 110–115. Hermelink spricht von der Interaktion statt der Bewegung. Später formuliert er: »Schließlich spiegelt sich in kirchlichen Strukturen und Erscheinungsbildern auch die Prägung des moderngesellschaftlichen Wandels durch diverse soziale Bewegungen, die ihre jeweiligen thematischen Anliegen mit einer prägnanten Symbolik und hohem gemeinschaftlichem Engagement verfolgen. So stehen etwa die kirchliche Frauenbewegung, die christlichen Aktivitäten für globale Gerechtigkeit oder für Migranten und Flüchtlinge jeweils im engen Wechselverhältnis zu anderen gesellschaftlichen Initiativen und Gruppen, die ähnliche Ziele verfolgen.« (Hermelink 2017, 96). 12 Vgl. Witte 2014, Bellebaum 2001, 26–35 und Bahrdt 2000, 86–106. 13 Vgl. dazu Gebhardt 2014. 14 Zu sozialer Bewegung vgl. Endruweit 2014 und Schimank 2007, 218–225.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
Religion allgemein) sowie der Kirche.15 Michael Herbst schreibt über diese Form der Kirche – mit Betonung auf Gruppe und Gemeinschaft: »Man könnte sagen: das ist die anfängliche und älteste Weise des Kircheseins. Kirche begann als Kreis von Gewonnenen und Überzeugten. Lesen Sie das Neue Testament. In der Gruppe wird besonders der Gemeinschaftsaspekt des Christseins, seine soziale Dimension gelebt.«16 An der Bedeutung von Gruppen (für Religion) hat sich bis in die Moderne grundsätzlich nichts geändert. Dabei zeigen kirchliche Gruppen vergleichbare Merkmale wie Gruppen allgemein und es wird deutlich, dass die Gruppe als Ort der Erfahrung und der Gestaltung von Glauben große Chancen (Glaube als geteilte soziale Erfahrung und Gelegenheit zur gegenseitigen Plausibilisierung) und zugleich Gefahren (menschliche Konflikte um die Deutungen der religiösen Erlebnisse sowie die Form und Verbindlichkeit von Normen) besitzt.17 Unabhängig von der Größe ist der Faktor Gemeinschaft konstitutiv für jede Gruppe. Dass dieses Thema für den christlichen (und evangelischen) Glauben zentral ist, zeigt u. a. die Tatsache, dass im Apostolischen Glaubensbekenntnis der Glaube an die Gemeinschaft der Heiligen (Communio sanctorum) festgehalten ist und für CA VII die Versammlung (congregatio) der Gläubigen grundlegend für Kirche ist. Zudem ist der zentrale Begriff paulinischer Ekklesiologie das Wort κοινωνία, was die Gemeinschaft (i. S. v. enger Verbindung und inniger Beziehung18 sowie Teilhabe19) derer beschreibt, die durch ihre Zugehörigkeit zu Jesus Christus dem Leib Christi verbunden sind.20 Soziologen verweisen darauf, dass sich eine Bewegung i. d. R. verstetigt und zu einer Organisation oder Institution wird und die Bewegung somit eine Art soziales Durch- oder Übergangsphänomen darstellt. Dies gelte laut Hauschildt/ Pohl-Patalong auch für die Kirche, was nicht zuletzt ein Blick in die (auch jüngere) Kirchengeschichte zeige.21 Ähnlich Michael Herbst zur Gruppe/Gemeinschaft der ersten Christen als Bewegung:
15 Zur ekklesiologischen Bedeutung der Gemeinde vgl. Karle 2011b, 131–138. 16 Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 15.4.2016, 28. Herbst betont, dass die Gruppe (i. S. e. Hauskirche) als Form von Kirche historisch vor der größeren Einheit der Parochie stehe: »Damit sage ich: Da war etwas vor der uns vertrauten Gestalt von Kirche. Das ist eine historische Auskunft, aber ob man das hier auch für erwähnenswert hält oder nicht, ist auch eine konzeptionelle Positionierung.« (Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 15.4.2016, 41). 17 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 139–141. Kirchliche Gruppen differenzieren die Autoren hinsichtlich ihrer Zielstellung, ihrer Dauer und ihrer Beziehung zur Umwelt, vgl. aaO., 145–148. 18 Vgl. Bauer 1988, 892f, Bierhoff 2014 und Bellebaum 2001, 14–18. 19 Vgl. Hainz 1981, 749–755. 20 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 141–144. 21 Vgl. aaO., 144 f.
1. Kirche als Bewegung (in Gruppe und Gemeinschaft)
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Zugleich war diese Gemeinschaft auch Bewegung. Sie breitete sich aus, wirkte nach außen, wuchs, relativ schwach organisiert, aber mit hoher Dynamik. Das ist typisch für und oft nur für Anfangszeiten oder für Zeiten großer Umbrüche, Neuanfänge und tiefer Reformen – also etwas, das sich immer wieder einmal einstellt. Man könnte etwas arg nüchtern sagen, dass der Charakter als Bewegung ein »Durchgangsphänomen« ist.22
Kirche als Gruppe, Gemeinschaft und Bewegung ist eine überaus häufige Sozialform von Kirche (zumindest in protestantischen Kirchen), die an Bedeutung »eher zu-, jedenfalls alles andere als abnimmt.«23 Die eher kleine und überschaubare Gruppe ermöglicht lebens- und alltagsnahe Glaubenserfahrung und somit einen persönlichen Zugang zum christlichen Glauben. Die theologische Frage für europäische evangelische Mehrheitskirchen lautet: »Wie kann sich gelebte christliche Gruppen-Gemeinschaft konstruktiv auf die individualisierte Gesellschaft und auf die mit der Gruppe nicht identische Großkirche beziehen?«24 Dabei entsteht hier die Spannung zwischen Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur Großkirche auf der einen und der (normativen) Differenz gegenüber diesen Größen auf der anderen Seite. Wie lässt sich dieses ambivalente Verhältnis fruchtbar und produktiv gestalten? Und dies weder so, dass die Gruppe in der Gesellschaft oder der Großkirche einfach aufgeht noch so, dass sie sich völlig von diesen abgrenzt und jegliche Interaktion aufgehoben wird. Es geht letztlich um die Frage nach dem Verhältnis von bonding social capital und bridging social capital.25
1.1 Kirche als urbane Bewegung Kirche als urbane Bewegung besitzt (als Gemeinschaft bzw. als Gruppe) sowohl brückenbildendes (bridging) als auch bindendes Kapital (bonding).26 Beide Kapitalformen bieten je für sich Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung sowie für das Gemeinwesen.27 22 Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 15.4.2016, 28. 23 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 150. 24 AaO., 151. Hervorhebung im Original. 25 Vgl. aaO., 150 ff. Original vgl. Putnam 2000, 22–24. Vgl. auch Traunmüller 2018, besonders 912 f. 26 Zu den deutschen Begriffen vgl. Traunmüller 2018, 912. 27 Zur Ambivalenz der Bedeutung von Religion für das Sozialkapital vgl. aaO., 915 f. Für einen Überblick über den Diskurs, vgl. aaO., 914–921. Traunmüller untersucht elf Länder empirisch, vgl. aaO., 921–928.
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Richard Traunmüller beschreibt brückenbildendes Sozialkapital28 als »soziale Netzwerke, in denen Menschen miteinander in Beziehung stehen, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Merkmale, also hinsichtlich ihres Status oder ihrer Identität, unterscheiden.«29 Die christliche Gemeinde als Netzwerk bzw. als Gruppe von solchen unterschiedlichen Menschen, die in Jesus Christus eine neue – diese Unterschiede transzendierende – Gemeinschaft sind, kann einen integrativen Beitrag leisten, indem sie die unterschiedlichen Milieus, Sozialgruppen etc. eines Viertels mindestens punktuell miteinander verbindet und somit eine Alternative zu sozialer Segregation darstellt und eröffnet. Somit besitzt die Kirche als Gemeinde einen umfassenden Zugang zu einem Viertel oder Quartier, da sie mit einzelnen Vertretern bestimmter sozialer Gruppen, Milieus und Kulturen in Kontakt steht und sowohl deren Sichtweise als auch deren Situation kennt. Dies ermöglicht ihr als »zivilgesellschaftliche Vereinigung«30 i. S. e. Vermittlerin zwischen unterschiedlichen – teils stark segregierten – Gruppen zu fungieren und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Die intentionale Zuwendung zu »allem Volk« (Barmen VI) macht potentiell alle Bewohner (und Nutzer) eines Quartiers zu Kommunikationspartnern der Gemeinde. Niemand ist per se ausgeschlossen. Neben der Kommunikation des Evangeliums – als primärer Aufgabe der Gemeinde – ist die Integration verschiedener sozialer Gruppen ein gemeinwesenorientiertes Anliegen, welches die Gemeinde im Rahmen einer integrativen missio zum Heil und Wohl der Menschen verfolgt. Somit besitzt die Kirche als Gruppe in der Stadt sowohl in der Orientierung nach außen als auch in der Stärkung nach innen brückenbauendes Sozialkapital. Dabei stellt die Mission der Kirche keineswegs eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder für die Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen oder Religionen dar. Im Gegenteil: Andreas Feldtkeller31 hat auf den engen Zusammenhang sowie die wechselseitige 28 Zum Begriff Sozialkapital vermerkt Traunmüller: »Der Soziologe James S. Coleman (1988, 1990) gehörte zu den ersten, welche den Begriff Sozialkapital prägten, um damit jene Ressourcen zu beschreiben, die sowohl individuelle als auch kollektive Akteure aus den sie umgebenden Sozialstrukturen ziehen und zu ihrem Nutzen einsetzen können.« (AaO., 914). Zur Kritik am Begriff vgl. aaO., 915. 29 AaO., 912. 30 Vgl. aaO., 914 ff. 31 Vgl. Feldtkeller 2002 und ders. 2008, 38–44. Zur engen Geschichte des mitteleuropäischen Christentums und der in Mitteleuropa entstandenen Religionsfreiheit schreibt Feldtkeller: »So ist die Religionsfreiheit, die wir heute haben, nicht einfach auf Papier geschrieben, sondern sie ist die geschichtlich wohl hintergründigste Kultur von Religionsfreiheit, die es auf der ganzen Welt gibt. Jede einzelne Mitteleuropäerin, jeder einzelne Mitteleuropäer hat eine Mutter und einen Vater, Großmütter und Großväter und viele Generationen von Vorfahren davor, deren Schicksal zutiefst in die lange Geschichte auf dem Weg zur Religionsfreiheit verwoben ist.« (Feldtkeller 2008, 39).
1. Kirche als Bewegung (in Gruppe und Gemeinschaft)
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Beziehung und Beeinflussung von Mission und Religionsfreiheit32 hingewiesen. Eine christliche Mission im Geiste von 2Kor 5,20 wird niemals die Freiheit des anderen einschränken und den Modus der Bitte verlassen. Zum Verhältnis von sinkenden Mitgliedszahlen und kirchlicher Mission schreibt Feldtkeller: In den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewegungen ist es ein ganz entscheidender Lackmustest auf das Bekenntnis der Evangelischen Kirche zur Religionsfreiheit, dass sie Ausgetretene nicht implizit behandelt als Menschen, die ihr eigentlich »zustehen« würden, sondern dass sie dem ersten Schritt zur Verwirklichung von Religionsfreiheit vollen Respekt entgegenbringt – und dass sie einen zweiten Schritt anbietet, der ganz auf dem Boden einer vollständig bejahten Kultur der Religionsfreiheit geschehen kann, der keinerlei verstecktes Pathos von Rückgewinnung des christlichen Abendlandes hat. In diesem Punkt kann evangelische Missionstheologie nur gewinnen von dem glücklichen, aber auch nicht ganz zufälligen Zusammentreffen zwischen der gewachsenen mitteleuropäischen Kultur der Religionsfreiheit und der Freiheit, von der das Evangelium spricht.33
Stattdessen gilt für die nach außen wie nach innen plurale Gemeinde, was Traunmüller schreibt: »Der regelmäßige soziale Kontakt mit Menschen, die andere religiöse Ansichten haben oder einer gänzlich anderen religiösen Tradition angehören, legt außerdem die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen und fördert Werte wie Toleranz und die Akzeptanz religiöser Vielfalt.«34 Was für religiöse Ansichten und Traditionen gilt, trifft ebenso auf den sozialen Status, das Milieu sowie den Wohnort zu. Gelingt es der Kirche als Bewegung, Gruppe und Gemeinschaft sowohl in ihren Beziehungen zum urbanen Umfeld als auch in ihrer inneren Struktur die Pluralität des Kontexts abzubilden, kann sie durch ihre Existenz und Präsenz im urbanen Raum zu einer brückenbildenen, das Gemeinwesen bereichernden und das Gemeinwohl fördernden Größe werden. Die Gemeinde kann sich im Quartier soziales Vertrauen i. S. e. generalisierten Vertrauens erwerben.35 Partikulares Vertrauen als Vertrauen, das nach innen – zu konkreten Personen der eigenen Gruppe – entsteht, entspricht bindendem Sozialkapital. Neben dem brückenbauenden stellt das bindende Sozialkapital ebenfalls eine wich-
32 Zur Freiheit aus christlicher Perspektive schreibt Feldtkeller: »In der Botschaft des Evangeliums ist enthalten, dass dem letzten Grund der Freiheit gegenüber sich Freiheit nicht in Bindungslosigkeit verwirklicht, sondern in Bindung: ›Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!‹ (Gal 5,1).« (AaO., 43). 33 AaO., 41 f. 34 Traunmüller 2018, 913. Empirische Untersuchungen bestätigen dies, vgl. aaO., 927 f. 35 Vgl. aaO., 913f und 925–927.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
tige Ressource für das Gemeinwesen dar: »Natürlich tragen auch die Sozialbeziehungen, die die Beteiligten aufgrund von Ähnlichkeit aneinanderbinden, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Gerade Religions-gemeinschaften, in denen alle Mitglieder einen gemeinsamen Glauben teilen, stellen eine wichtige Quelle von Gruppensolidarität, Geborgenheit und sozialer Unterstützung dar«36, denn solche Netzwerke haben eine »normverstärkende und vertrauensgenerierende Wirkung.«37 Dieses bindende Potential kann besonders angesichts sozial ausdifferenzierter Quartiere eine wertvolle Ressource sein, welche Städtern eine stabilisierende Gemeinschaft eröffnet, die sie sowohl geistlich als auch sozial unterstützt. Die urbane Gemeinde darf die Städter jedoch nicht vom Umfeld isolieren oder Misstrauen, Intoleranz oder Ähnliches fördern.38 Dies widerspräche dem Wesen des Evangeliums und der missio Dei. Die Entstehung von religiösen Parallelgesellschaften ist kirchlicherseits – zumindest theologisch und theoretisch – undenkbar.39 Die bindende Funktion der Gemeinde beschreibt Johannes Zimmermann im Anschluss an Peter L. Berger als »Plausibiliätsstruktur« für den Glauben.40
36 AaO., 913. 37 AaO., 915. 38 Subjektiver Glauben und brückenbildendes Sozialkapital haben ein ambivalentes Verhältnis, vgl. aaO., 924 f. 39 Im Anschluss an Robert Putnam und Francis Fukuyama weist Traunmüller darauf hin, dass der (liberale) Protestantismus mit seiner eher horizontalen Netzwerkstruktur über ein höheres Sozialkapital verfügt als bspw. der Katholizismus oder fundamentalistische Gruppierungen. Dieses sozialkapitale Potential protestantischer Gemeinde stellt eine Ressource für das urbane Gemeinwesen dar. Urbane Gemeindeentwicklung sollte diese Ressource zur Reduktion von Segregation nutzen. Vgl. Traunmüller 2018, 918–920. Zu abweichenden Ergebnissen anderer Forscher vgl. ebd. Traunmüllers eigene empirische Untersuchung bestätigt die These von Putnam und Fukuyama für zehn von elf untersuchten Ländern, vgl. aaO., 922 f. Hinsichtlich religiöser Minderheiten ist die deutsche Situation eine besondere, denn Deutschland »ist das einzige Land in unserem Sample, in dem Angehörige religiöser Minderheiten eine deutlich, und zwar um 15 Prozentpunkte, geringere Wahrscheinlichkeit haben, sich in Vereinen und Freiwilligenorganisationen zu engagieren. Dies deckt sich mit den in Traunmüller (2009) berichteten Ergebnissen, wonach vor allem die beiden großen Konfessionen ihre Mitglieder in zivilgesellschaftliche Strukturen integrieren. Der hier präsentierte internationale Vergleich zeigt die Besonderheit der deutschen Situation auf.« (AaO., 923). 40 Vgl. Zimmermann 2009, besonders 321 ff. Ausführlicher dazu s. u. § 13 Abs. 3.4.
2. Kirche als Institution (Volkskirche)
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2. Kirche als Institution41 (Volkskirche)42 Wie bereits oben erwähnt, verändern sich Gruppen und Bewegungen, wenn sie Erfolg haben. Sie stabilisieren sich, indem sie eine Tradition und eine (feste und verbindliche) Lehre herausbilden, denen Autorität zugesprochen und von denen Orientierung erwartet wird. Die Kirche bildet hier keine Ausnahme.43 Dabei stellen ritualisierte Handlungen eine Entlastung für den einzelnen dar, weil u. a. zahlreiche Entscheidungen nicht mehrfach getroffen werden müssen, sondern bereits feststehen. Dies gilt besonders für den Grundbestand dessen, was zu glauben und zu tun ist (und auch von wem) – dies muss nicht (in jeder Generation?) neu definiert werden. Dabei sind Institutionen44 wie die Kirche eine Einrichtung der Gesellschaft: »Kirche als Institution bildet einen Teil der Kultur und Gesellschaft ab, in der sie sich befindet und deren Ausdruck sie zugleich ist.«45 Die Funktion der Institution Kirche kann dabei unterschiedlich beschrieben werden: z. B. als darstellendes Handeln individuellen Symbolisierens (Friedrich Schleiermacher), als Interaktionsordnung der Reflexion im Bezug auf menschliche Handlungsziele (Eilert Herms) oder als Bildungsinstitution mit der Besonderheit, dass sie ein »System der Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses« ist46 (Reiner Preul).47 Dabei ist das Verhältnis der Institution Kirche zur Gesamtgesellschaft in den letzten Jahren unter dem Eindruck von Säkularisierung und Individualisierung eher schwieriger geworden
41 Vgl. Stachura 2014 und Weymann 2007, besonders 127–130. 42 Vgl. auch Hermelink 2011, 103–110. 43 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 157 f. Johannes Zimmermann: »Zum Verhältnis von Individualität und Sozialität hinzu tritt in der Ekklesiologie ein dritter Aspekt: derjenige der Institutionalität. Zunächst ist Institutionalität notwendig mit der Gestaltwerdung von Gemeinde verbunden. Will man Gemeinde nicht auf kontingente Zusammenkünfte beschränken, sondern mit dem ›Bleiben in Christus‹ verbinden, so erfordert diese eine Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit von Gemeinde, die einen Prozess der Institutionalisierung unumgänglich macht. Freilich ist dieser Prozess ambivalent: Die Institutionalität, die der Gestaltwerdung von Gemeinde in der Spannung von Individualität und Sozialität dienen soll, unterliegt der Gefahr der Verselbstständigung und ist daher stets an ihrer Zweckdienlichkeit zu messen. Ziel ist eine kritische Vermittlung von Individualität, Sozialität und Institutionalität in gegenseitigem Aufeinander-Bezogensein.« (Zimmermann 2009, 12). 44 Hauschildt/Pohl-Patalong beschreiben die Logik der Institution als eine vorneuzeitliche Entwicklung, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 181. 45 AaO., 160. Christian Grethlein spricht von »Kirche im Übergang von einer staatsanalogen Institution zu einer zivilgesellschaftlichen Organisation« vgl. Grethlein 2013. Vgl. auch ders. 2018b. 46 Preul 1997, 153. Vgl. auch aaO., 153–177. 47 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 160–163.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
und die Kirche hat gesellschaftlich an Plausibilität verloren und die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit der Kirche erodiert zunehmend.48 Die besondere Form der Institution Kirche als Volkskirche drückt dabei eine enge wechselseitige Beziehung zwischen der Kirche und dem Volk (Kindertaufe, flächendeckendes Parochialsystem, kirchliche Präsenz in staatlichen Institutionen wie Schulen, Kirchensteuer etc.) eines Landes aus – besonders, nachdem der Staat als Plausibilitätsstruktur49 infolge der Trennung von Kirche und Staat wegfällt. Diese Form des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Kirche ist ein (nicht ausschließlich) deutsches Phänomen, welches in der deutschen Kirchengeschichte wurzelt.50 Kritische Anfragen an den Begriff verlaufen in zwei Richtungen: a) kann aufgrund der faktischen Passivität vieler Mitglieder tatsächlich von Kirche die Rede sein und kann b) aufgrund er hohen Zahl der Nichtmitglieder (rund 30 % der Gesellschaft51 bzw. rund 60 % aus evangelischer Perspektive) von einer Kirche des Volkes die Rede sein?52 Statt eines quantitativ gefüllten Begriffs der Volkskirche verspricht ein qualitativ konnotierter Volkskirchen-Begriff sowohl gesellschaftlich als auch theologisch angemessen und anschlussfähig zu sein.53 Um einen reformatorisch angemessenen Begriff von Volkskirche zu bilden, müssen laut Hauschildt/PohlPatalong zwei reformatorische Elemente gegeben sein: Erstens ist die Beziehung zum Staat als dem Gesamten notwendig, aber eine Beziehung in Freiheit und Differenz und zweitens ist die Kirche nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern sucht und dient dem Wohl anderer: »Dann kann ›Volk‹ nicht auf Ethnie beschränkt werden und auch nicht nur auf die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sondern meint die gesamte Bevölkerung einer Region.«54 Dabei geht es nicht um eine Unterordnung der Kirche unter die Interessen des Volkes, sondern ein Bemühen um Zuwendung und Dienst an dem Volk als Gesamtem und nicht nur einzelner Gruppen. »Die Kirche bezieht sich auf die Größe ›Volk‹, ohne mit ihr identisch zu sein.«55 Die integrative Kraft des
48 49 50 51
Vgl. aaO., 163. Vgl. dazu Zimmermann 2009, 321ff und s. u. § 13 Abs. 3.4. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 163–171. Die anderen zwei Drittel verteilen sich relativ gleich auf Mitglieder der evangelischen und katholischen Großkirchen, vgl. aaO., 64 und 164. 52 Vgl. aaO., 165. Vgl. Reimers 2003, 160–162. 53 Vgl. dazu Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 172 f. 54 AaO., 167. 55 Ebd.
2. Kirche als Institution (Volkskirche)
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Modells der Volkskirche entdecken die Autoren in der Vermittlung der Gegensätze von Bekenntniskirche und Zivilreligion.56 Statt von Volkskirche sprechen Hauschildt/Pohl-Patalong im Anschluss an Wolfgang Huber57 von der »öffentlich wahrgenommenen und öffentlich wirkenden pluralen«58 intermediären Großkirche59 im »mediären Sektor zwischen Staat, Markt und Familie.«60 Deren Aufgabe ist es, in einen gesellschaftlichen Diskurs über die Werte einzutreten und eigene christliche Werte einzubringen, ohne diese verordnen zu können, aber zu wissen, dass diese Werte ein Proprium darstellen und in solch einer Form nicht einfach vom Staat generiert und bereitgestellt werden können. Dabei hat die Kirche eine integrative Funktion, die verschiedene Ebenen (vor allem durch Kommunikation) miteinander verbindet: Individuum, Gruppe, Großkirche und Gesellschaft. Zugleich verbindet die Kirche die gegenwärtige Gesellschaft mit ihrer spezifischen Geschichte sowie ihren aktuellen Bedingungen, Fragen und Herausforderungen mit der Tradition des christlichen Glaubens (Kommunikation des Evangeliums), wie er über viele Jahrhunderte überliefert und tradiert ist. Damit sichert dieser Ansatz sowohl das private (Gemeinschaft) als auch das öffentliche (Präsenz in und Teilnahme an Diskursen in der Öffentlichkeit) Moment der Institution Kirche. Diese beiden Orte dienen der Wertbildung und -profilierung (Gemeinschaft) sowie der Wertvermittlung61 (Öffentlichkeit).62 56 Vgl. aaO., 166–170. »Einerseits pluralisiert sie [Volkskirche] den Bezug auf das Bekenntnis, ohne dessen orientierende Bedeutung aufzugeben. Andererseits integriert sie die Funktion von Religion als Bewusstsein von den Grenzen des Politischen und als die eine ganze Gesellschaft umfassende Gemeinschaft vor Gott, ohne die Religionsdifferenzen unsichtbar zu machen.« (AaO., 170). Weitere Spannungsfelder sind: institutionalisierte Volkskirche und Gemeinschaft, traditionelle Volkskirche und Protestbewegung sowie Volkskirche als Amtskirche und Beteiligungskirche, vgl. aaO., 168–171. 57 Vgl. Huber 1999, 267–283 und Huber/Schröer 2003. 58 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 172. 59 Mit dem intermediären Bereich meinen die Autoren den Bereich »der zwischen Staat, Markt und dem privaten Bereich liegt.« (AaO., 187). Vgl. dazu auch Zimmermann 2009, 355–357: »Beschränkt man die ›intermediäre Institution‹ nicht auf die Sinnfrage, so tut sich eine Möglichkeit auf, wie christliche Gemeinden in der pluralistischen Gesellschaft dem ›Sektendilemma‹ entgehen und die unfruchtbare Alternative zwischen Abschottung und kognitiver Selbstaufgabe überwinden können. Die entscheidende Frage ist dann: Wie kann Gemeinde so gestaltet werden, dass sie für den Einzelnen eine stabile Plausibilitätsstruktur darstellt, indem sie eine von ihrer Umwelt unterschiedene Sinngemeinschaft bildet, und sich zugleich nicht in ein Ghetto zurückzieht, sondern als kognitive Minderheit in die Gesellschaft hinein wirkt?« (AaO., 357). 60 Hauschildt 2007, 57. 61 Unter Werten verstehe ich sowohl dogmatische als auch ethische Aspekte des Evangeliums von Jesus Christus. In diesem Sinne verstehe ich auch die Ausführungen der Autoren. 62 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 172–174. Zur Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags in der Gesellschaft können innerkirchliche Rechte (Recht auf Zugang zum Glauben, auf Gewissens- und Meinungsfreiheit, auf Integrität, Gleichheit und Teilhabe) und Pflichten (Kirchen-
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?63 Der (fast ausschließlich in Deutschland gebrauchte)64 Begriff der Volkskirche65 lässt sich mit Eberhard Winkler entweder deskriptiv66 oder normativ67 verstehen.68 Deskriptiv wäre er die vorfindliche empirische Gestalt von Kirche und norma-
63 64 65 66
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steuer als innerkirchliche Grundpflicht des einzelnen Mitglieds gegenüber der Kirche) der Einzelnen einerseits und Rechte und Pflichten der Kirche gegenüber der Gesellschaft andererseits unterschieden werden (vgl. aaO., 176–178). Die Rechte und Pflichten der Kirche gegenüber dem Staat und der Gesellschaft leiten sich besonders aus ihrem Status als Körperschaft öffentlichen Rechts ab (vgl. aaO., 178f). Zur Diskussion des Begriffs hinsichtlich urbaner Gemeindeentwicklung vgl. Grünberg 2004, 97–111. Vgl. Huber/Schröer 2003, 249. Der Begriff taucht erstmals 1822/1823 bei Friedrich Schleiermacher im Gegenüber von Staatsund Freiwilligkeitskirche auf, vgl. Hein 2008a, 1184 und Huber/Schröer 2003, 249 f. Vgl. auch Grethlein 2016, 392 f. In sozialwissenschaftlicher Hinsicht kann Volkskirche hinsichtlich folgender Aspekte beschrieben werden: »a) Praxis der Kindertaufe als überwiegende Zugangsvoraussetzung, b) flächendeckendes Parochialsystem, c) staatl. Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts (v. a. Erhebung von Kirchensteuern). Inhaltlich verbinden sich hiermit d) der Anspruch auf Öffentlichkeitsrelevanz und Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs […] sowie e) die Tolerierung und Ermöglichung einer innerkirchl. Pluralität: Den unterschiedlichen Erwartungen der Kirchenmitglieder sucht die V[olkskirche] durch Ausfächerung ihrer Angebote zu entsprechen. Dies führt zur prinzipiellen Akzeptanz eines differenzierten Teilnahmeverhaltens.« (Hein 2008b, 1185). »Wird V[olkskirche] in einem normativen Sinn als handlungsorientierende Leitvorstellung aufgefaßt [sic!], die in der pluralen Gesellschaft der Kirche Ort und Funktion zuweist, stellt sich die Notwendigkeit einer ekklesiologischen Bestimmung: Der Bezug der V[olkskirche] als Gemeinschaft der getauften Kirchenglieder zum dogmatischen Verständnis der Kirche liegt darin, daß [sic!] die V[olkskirche] die Voraussetzung und den institutionellen Rahmen bildet, dem Evangelium Gehör zu verschaffen, damit Glauben entstehen kann und die ›Gemeinschaft der Glaubenden‹ perpetuiert. Als sichtbare Sozialgestalt ist die V[olkskirche] die konkrete, leibhafte Außenseite ihres inneren Lebensprinzips, nämlich der Kirche des dritten Glaubensartikels, die aber gerade nicht losgelöst von äußeren Strukturen, sondern nur in ihnen existiert.« (Ebd). Vgl. auch Huber/Schröer 2003, 249. Jan Hermelink unterstreicht den »globalen« Anspruch, der mit dem Begriff Volkskirche einhergeht: »Einen klassischen Versuch, diese vielfältigen Bezüge zur Gesellschaft theologisch-programmatisch zu fassen, stellt der Begriff der ›Volkskirche‹ dar. Ungeachtet seiner verschiedenen, auch widersprüchlichen Verwendungsweisen, […] betont das Programm der Volkskirche durchgehend – etwa mit Barmen II und VI – den Bezug auf sämtliche Lebensbereiche sowie – etwa mit Rekurs auf die Rechtfertigungslehre – den Respekt vor den vielfältigen, je eigensinnigen Ausprägungen des Christentums, in denen sich die Freiheit des Glaubens realisiert.« (Hermelink 2017, 96f).
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
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tiv wäre er eine gewünschte oder hinterfragte Zielvorstellung.69 Somit kann – je nach Perspektive – unter dem Begriff Volkskirche mit Wolfgang Huber folgendes verstanden werden: • Kirche durch das Volk: Anstelle staatlicher Bevormundung wird die kirchliche Selbstgestaltung betont. Der Begriff Volkskirche fungiert als Reformbegriff (u. a. Friedrich Schleiermacher). • Kirche hin zum Volk: Angesichts der religiösen Entwurzeln im Zuge der Industrialisierung wird die volksmissionarische Struktur mit dem Ziel der Durchchristlichung des Volkes betont (u. a. Johann Wichern). • Kirche eines Volkes: Im Zuge der Einigung Deutschland 1871 (und später in de Weimarer Republik und im Dritten Reich) entsteht der Gedanke einer Nationalkirche mit der Aufgabe, das Volksganze zur repräsentieren (u. a. Deutscher Evangelischer Kirchenbund und Deutsche Christen). • Offene Volkskirche: Neben die Betonung der nationalen Einheit tritt die Vorstellung von pluralen Frömmigkeitsformen innerhalb der Volkskirche, welche als Ort der Entstehung und Förderung religiöser Individualität betrachtet wird (u. a. Ernst Troeltsch). • Volkskirchlicher Positivismus: Eine Würdigung, Achtung und Bewahrung der Volkskirche in ihrer gegebenen Struktur (u. a. Otto Dibelius) durchzieht das gesamte 20. Jahrhundert. Der einst als Reformbegriff entstandene Begriff Volkskirche dient nun zur Sicherung des status quo. • Kirche für das Volk: Im Anschluss an die Barmer Theologische Erklärung (besonders These III und IV) wird die Aufgabe der Kirche als die Ausrichtung der Botschaft von Gottes freier Gnade an alles Volk beschrieben. Laut Huber bahne die Barmer Erklärung einem Kirchenverständnis den Weg, welches beide Aspekte miteinander verbindet: Kirche für das Volk und Kirche durch das Volk.70 Entgegen diverser Anfragen (vor allem) an die mit dem Begriff Volkskirche verbundenen Ansprüche und Zuschreibungen an die Kirche versteht Kristian Fechtner den Begriff positiv und füllt ihn eher pragmatisch im Sinne einer bestimmten Wahrnehmung der gegenwärtigen Gestalt kirchlichen Christentums71 im spätmodernen Deutschland: »Mit dem Begriff ›Volkskirche‹ wird die spezifisch institutionelle Dimension oder Verfassung der gegenwärtigen 69 Vgl. Winkler 1997, 15. Vgl. dazu auch Preul 1997, 178ff: »Volkskirche versteht sich als Kirche für alle, für das ganze Volk, für alle Sozial- und Bildungsschichten, für alle Altersstufen, für Männer und Frauen, für aktive und distanzierte Mitglieder.« (AaO., 189). 70 Vgl. Huber/Schröer 2003, 249–252. Vgl. auch Nicol 2000, 39. 71 Fechtner unterscheidet drei Dimensionen von Christentum: gesellschaftlich, kirchlich und individuell, vgl. Fechtner 2014, 164–167.
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Gestalt von Kirche charakterisiert und beschrieben.«72 Dem Ansatz Fechtners wohnt eine eher normative bzw. zuschreibende Komponente inne, indem er den Begriff Volkskirche als Auftrag versteht, welcher eine Ortsangabe für Kirche in einer pluralen Gesellschaft beschreibt, in der die Kirche den Auftrag hat, das Evangelium zu kommunizieren.73 Ähnlich wie Nicol unterscheidet Fechtner verschiedene Ebenen74, auf denen die Kirche als Volkskirche beschrieben werden kann: Auf der strukturellen Ebene beschreibt er die Kirche als Organisation nach dem Ende des Staatskirchentums. Auf der praktischen Ebene wird die Pluralität der praktizierten Mitgliedschaft sowie der Frömmigkeiten innerhalb der Kirche dargestellt. Schließlich befasst sich die konzeptionelle Ebene mit dem Begriff Volkskirche als Gestaltungsaufgabe, die das Ziel hat, dass das Evangelium für das Individuum relevant und in der Öffentlichkeit wahrgenommen75 wird.76 Die Ausführungen machen deutlich, dass der Begriff Volkskirche – besonders (aber nicht nur) im Osten Deutschlands – keineswegs (mehr) quantitativ verstanden werden kann und muss. Oder anders: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sind über 70 % der Bevölkerung konfessionslos. Somit befindet sich Kirche faktisch in der Minderheit und die Beschreibung dieser Kirche als Volkskirche in quantitativer Hinsicht schwankt zwischen Realitätsverlust und Anmaßung. Aber auch in Gesamtdeutschland ist die Evangelische Kirche keine Bewegung, welche die Mehrheit des Volkes repräsentiert, da sie sich auch hier mit 28,5 % Mitgliedern (2013) bzw. 27,1 % (2015)77 in der gesellschaftlichen Minderheit78 befindet (selbst die Mitglieder beider Großkirchen zusammen kommen nicht
72 AaO., 161. 73 Vgl. aaO., 162. Zur Kommunikation des Evangeliums als Auftrag der Kirche s. u. § 10 Abs. 5.1. 74 Vor Nicol und Fechtner hat Dietrich Rössler diese Ebenen bereits unterschieden, vgl. Rössler 1986, 79–83. 75 »Beides erst – die individuelle Relevanz und die gesellschaftliche Resonanz – zeichnen das volkskirchliche Christentum aus und machen das Konzept Volkskirche wechselseitig plausibel: Dass der Kirche zugetraut wird, von sich aus etwas Substantielles zu öffentlichen Angelegenheiten beizutragen, gründet darin, dass sie lebensweltlich präsent ist und von Fall zu Fall persönlich bedeutsam wird. Und umgekehrt: Dass man sich in unterschiedlichen, individuell bemessenen Graden von Nähe und Distanz zur Kirche hält und sie persönlich Bedeutung gewinnen kann, hängt daran, dass sie als Teil des öffentlichen Lebens wahrgenommen wird.« (AaO., 163f). 76 Vgl. aaO., 162–164. 77 Vgl. Grethlein 2016, 230. und vgl. https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeitendeutschland-2015 (aufgesucht am 26.07.2017). 78 Dazu der Abschnitt Auf dem Weg in die Minorität von Michael Herbst, vgl. Herbst 2018c, 3–7.
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
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mehr auf 60 %79).80 Man kann also – in quantitativer Hinsicht und im Blick auf die Evangelische Kirche – in Deutschland u. a. mit Paul Zulehner81 von einer nachkirchlichen Zeit 82 bzw. mit Michael Herbst83 von einer spät- oder nach-volkskirchlichen Zeit (oder nachchristentümlichen Gesellschaft 84 oder Kultur 85) sprechen. Das bedeutet aber nicht, dass die Kirche damit ihre Bedeutung oder gar ihren Auftrag verloren hätte – im Gegenteil: Angesichts einer nicht mehr selbstverständlichen Mitgliedschaft in der Kirche ist eine kompetente und anschlussfähige, aber auch pointierte Kommunikation des Evangeliums umso wichtiger, damit dieses einerseits im gesellschaftlichen Diskurs vorkommt und anderer-
79 Im Jahr 2013 gehörten der Evangelischen Kirche 28,5 % und der Katholischen Kirche 29,9 % der Deutschen an. Die übrigen 41,6 % entfallen auf die sog. Sonstigen, d. h. Freikirchen, andere Religionsgemeinschaften und Konfessionslose, vgl. Grethlein 2016, 230 f. Im Jahr 2015 waren 27,1 % evangelisch, 28,9 % römisch-katholisch, 36 % konfessionslos, 4,4 % Muslime und 3,6 % Mitglieder sonstiger Religionsgemeinschaften, https://fowid.de/meldung/religionszugehoerigkeiten-deutschland-2015 (aufgesucht am 26.07.2017). 80 Vgl. Destatis 2010, 577–583. Vgl. auch Herbst 2010a, 11–15. 81 Vgl. Zulehner 2005, 18–29 und ders. 2008, besonders 31 ff. Den Begriff nachchristlich benutzt auch Hinrich Stoevesandt, vgl. Stoevesandt 2005, 207. 82 Vgl. Clausen et al. 2013 und Dannowski 2009, 164 f. Zum englischen Variante dieses Terminus: »Post-Christendom refers to the culture that emerges when the churches and the Christian story lose their central place in the society they did much to shape. The church is now on the edge of society, needing to reach out to people whose cultures are very different to the cultures that shaped the Western Church.« (Moynagh 2012, 116). 83 Vgl. Herbst 2013b, 9–12 und Herbst 2014, 129–133. 84 »Der christliche Glaube ist ein sozialer Glaube. Er stellt den Glaubenden nicht nur in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott, sondern auch in eine verbindliche Beziehung zu denen, die mit ihm diesen Glauben an Gott teilen. Der Glaube lebt von dem, was sich kein Mensch selbst sagen kann, also von dem ›verbum externum‹, das den Angefochtenen tröstet. Keiner kann sich selbst taufen oder die Gaben des Altars an sich nehmen. Dazu kommt, dass der Glaube verbindlich ist: Er ist auch Berufung zur geschwisterlichen Gemeinschaft, zum Tragen des Anderen (1 Thess 5,12–15), zur Betätigung der eigenen Gaben in der Ergänzungsgemeinschaft des Leibes Christi (Röm 12,1–8) und zur Liebe, mindestens auch gegenüber ›des Glaubens Genossen‹ (Gal 6,10). Diese Verbindung mit Christus und den Christen ist die Bedingung der Möglichkeit zu vitalem und fruchtbaren Glauben. Dies wird gestützt durch die Einsicht Peter L. Bergers, dass der (christliche) Glaube in Kontexten, in denen er nicht mehr kulturgestützt existiert, also eher Ausnahme als Regel ist, eine ›Plausibilitätsstruktur‹ braucht. Dieses glaubensförderliche Klima entsteht durch die für den Einzelnen relevanten Anderen, mit denen der Glaube geteilt wird. Reden wir in diesem Band [Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung 19] von ›nachkirchlichen Zeiten‹, dann ist genau dieses Ende der ›christentümlichen‹ Gesellschaft gemeint. Hier gilt: Noch dringender als eh und je hängt nun der Glaube des Einzelnen am dünnen Faden des regelmäßigen Austauschs.« (Herbst 2013b, 24f). Ausführlicher über den Zusammenhang von christlicher Sozialität und individuellem Glauben vgl. Zimmermann 2009, besonders 321 ff. Zu einer ähnlichen Debatte in der englischen Kirche vgl. The Archbishop’s Council 2004, 11f; Lings 2012 und Moynagh 2012, 116 f. 85 Vgl. Herbst 2014, 129–131. Charles Taylor spricht von einer »postchristlichen Gesellschaft« (Taylor 2009, 15).
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
seits im Leben einzelner Menschen zu Glauben führt. Eine sachgerechte Einschätzung der kirchlichen Situation sowie eine pointierte Beschreibung des Begriffs »nachkirchlich« liefern Matthias Clausen und Thomas Schlegel: Um nicht missverstanden zu werden: Dass traditionell volkskirchliche Strukturen auch in Deutschland vielerorts noch funktionieren, ist unbestritten. Die Mitgliedschaft der Großkirchen ist in den letzten Jahrzehnten geschrumpft, aber in absoluten Zahlen immer noch beachtlich. Kirchliche Angebote in Kasualien, Seelsorge und Diakonie haben zunehmend Konkurrenz bekommen, werden aber nach wie vor geschätzt und abgefragt. Und doch ist Entkirchlichung längst kein Randphänomen mehr. In manchen deutschen Regionen liegt der Anteil der eingetragen [sic!] Kirchenmitglieder unter dem Schnitt klassischer Missionsgebiete. Von schönen alten Gebäuden auf die Prägekraft des Glaubens zu schließen, wäre hier reines Wunschdenken. Da kann selbst die Anknüpfung an Kritik und Missverständnissen ins Leere laufen – denn wo kaum noch Bilder von Christsein in den Köpfen existieren, gibt es nicht einmal mehr Zerrbilder. Damit sind wir bei unserer eigenen Definition des Begriffs ›nachkirchlich‹: Gemeint ist ein gesellschaftliches Umfeld, in dem die Stabilität und Reichweite traditioneller kirchlicher Strukturen, die Resonanz auf christliche Glaubensinhalte und schon die Kenntnis solcher Inhalte rapide im Schwinden sind. ›Nachkirchlich‹ beschreibt so bewusst einen Ausschnitt der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland im Jahr 2014 – allerdings einen Ausschnitt, der sich vergrößert. Dabei ist der Blick – wie gesagt – nicht nach hinten, sondern nach vorne gerichtet. Wir wünschen uns nicht vermeintlich goldene Zeiten zurück (die es so nie gab), sondern träumen von einer missionarisch belebten Zukunft. Jede grundlegend veränderte Ausgangslage ist ja nicht nur Herausforderung, sondern auch Ermöglichung. Mit der Erosion alter Strukturen werden ganz neue Ansätze möglich; das gilt etwa für die Pluralität von Gemeindeformen. Umso wichtiger ist die Gewinnung theologischer Kriterien für missionarisches Handeln unter den neuen Bedingungen.86
Für die deutsche Situation spricht Gert Pickel von einer (für ganz Europa zutreffenden) weitgehenden gesellschaftlichen Säkularisierung auf der Ebene der institutionellen Bindung. Auf der individuellen Ebene ist diese Bindung in Form einer Mitgliedschaft in einer der zwei Amtskirchen stark geschrumpft. Dabei ist diese Erosion in Ostdeutschland deutlich fortgeschrittener als in den alten Bundesländern. Für den Westen spricht Pickel noch von einer »Kultur der Konfessionszugehörigkeit«87 – wogegen im Osten faktisch eine »Kultur der
86 Clausen/Schlegel 2013, 3 f. 87 Pickel 2013, 17.
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
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Konfessionslosigkeit«88 vorherrschend ist. Der Westen liegt im europäischen Vergleich im Mittelfeld, was den Anteil Konfessionsloser angeht – der Osten hingehen ist hier der europäische89 und internationale90 Spitzenreiter. Beide Teile Deutschlands verbindet jedoch der gleichmäßige Anstieg der Konfessionslosigkeit.91 Neben dem Anstieg der Konfessionslosigkeit ist auch der Besuch des Gottesdienstes seit Jahren konstant rückläufig.92 Pickel zeigt zudem, dass die Zugehörigkeits-Mehrheiten zwischen Ost und West gravierend sind. Sind es im Westen größtenteils »Randmitglieder mit einer geringen Bindung an die Kirche und ihre Praktiken, aber eben religiöser Sozialisation und faktischer Zugehörigkeit«93 so sind es »im Osten nur noch begrenzt religiös sozialisierte Konfessionslose mit Distanz zur Kirche.«94 Gerade die ausbleibende religiöse Sozialisation ist es, die im Osten zu einer sich verhärtenden und nachhaltigen Säkularisierung auf allen Ebenen führt.95 Konfessionslosigkeit ist hier der Normalfall und bedarf keiner Rechtfertigung. Pickel spricht im Blick auf die ostdeutsche Situation davon, dass es angemessener ist, von einer Religionslosigkeit96 statt einer Konfessionslosigkeit zu sprechen.97 Damit ist die Besonderheit der ostdeutschen Situation beschrieben, welche nicht nur in der großen Zahl konfessionsloser Menschen oder der Schnelligkeit der Entkirchlichung während der DDR-Zeit, sondern auch in der Nachhaltigkeit dieser religiösen Entwurzelung besteht. Thomas Schlegel beschreibt die Situation in Ostdeutschland
88 Ebd. 89 Vgl. auch die Ausführungen Miklós Tomkas am Ende des Bandes Gott nach dem Kommunismus. Religion und Kirchen in Ost(Mittel)Europa: Deutschland-Ost, wo er die Situation in den neuen Bundesländern mit denen in anderen west-, nord- und osteuropäischen Ländern vergleicht, vgl. Tomka 2003. Vgl. auch Geller et al. 2003. 90 Vgl. dazu die Studie von Tom W. Smith, der den Glauben an Gott in 30 Ländern in dem Zeitraum von 1991 bis 2008 untersucht hat und zu dem Ergebnis kommt, dass Ostdeutschland eine der atheistischsten Regionen der Welt ist, vgl. Smith 2012. So bilanziert er für die postkommunistischen Staaten Europas: »Even within the former Socialist states, the range is enormous with East Germany of course anchoring the secular pole and Poland near the top for believers.« (AaO., 6). 91 Im Osten ist der Anteil seit 1990 um rund 10 % gewachsen und hat sich im Westen im gleichen Zeitraum sogar verdoppelt, vgl. Gabriel et al., 2003, 18. 92 Bspw. Rückgang des Gottesdienstbesuchs in Westdeutschland von 13-mal/Jahr (1980) auf 9-mal/Jahr (2010), vgl. ebd. 93 AaO., 19. 94 Ebd. 95 Vgl. aaO., 17–30. 96 Vgl. auch der Artikel Das stabile Drittel jenseits der Religiosität. Religionslosigkeit in Deutschland von Monika Wohlrab-Sahr, vgl. Wohlrab-Sahr 2008. 97 Vgl. Pickel 2013, 30–34.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
so:98 »Man gehört hier normalerweise nicht dazu«99 und deshalb »scheint das Wissen und Glauben an die Transzendenz so gering ausgeprägt, dass man es für eine Mehrheit der Bevölkerung schlicht nicht voraussetzen kann.«100 Für Deutschland gilt grundsätzlich, dass die religiöse Sozialisation101 mit sinkendem Alter abnimmt. Dies ist im Westen noch drastischer als im Osten, wo höhere Werte (über 50 %) ohnehin nur bei Personen, die älter als 60 Jahre (hier sind es 60 %) sind, vorkommen. Die übrigen Alterskohorten sortieren sich bei Werten um die 25 % ein. Im Westen hingegen sinkt der Wert stufenweise von 86 % bei den über 60-Jährigen zu 44 % bei den 18–25-Jährigen. Ähnliches zeigt die Abbildung 9, welche deutlich macht, dass sich – hinsichtlich religiöser Sozialisation – Ost- und Westdeutschland zunehmend annähern.102 »Mit der Abwendung von der Sozialform Kirche (verstanden als Gemeinschaft) erfolgt auch ein Abbruch der Sozialität des Christentums.«103 Fehlt jedoch ein Ort, wo Glaube erfahren, geteilt, ergänzt und korrigiert (oder bereichert) sowie tradiert und weitergereicht wird, so trägt dies zur Verflüssigung und Diffusität des christlichen Glaubens bei und fördert letztlich Säkularisierung. Gert Pickel schlussfolgert: Mit dem Verlust von religiösem Wissen und religiösen Praktiken verbleibt dann aber auch ein eher diffuses Verständnis von Religion. Damit kann sich aber Religion, ihre
98 Vgl. auch Huber et al. 2006, 89–110. 99 Schlegel 2013, 125. 100 AaO., 128. 101 »Christlicher Glaube wird immer weniger durch die familiäre Erziehung und die Bildungsbemühungen der Gemeinde als selbstverständlich weitergegeben. Das gilt zunächst im Blick auf den Lebenslauf: Der lange Zeit selbstverständliche Weg einer in die Gemeinde hineinführenden Sozialisation ist heute nicht mehr selbst-verständlich. Verstanden sich von ihren Ursprüngen her die Angebote der Kirchengemeinde als Ergänzung zur christlichen Erziehung in der Familie, so sind sie heute mit dem weitgehenden Wegfall letzterer häufig die einzigen Berührungspunkte mit Gemeinde, die jedoch immer weniger ausreichen, um zu einem selbstständigen und diasporafähigen Christsein zu führen. Daran ändern auch die Versuche einer (interpretativen) Verein-nahmung aller Kirchenmitglieder als mündige Christen wenig.« (Zimmermann 2009, 446). Zum Verhältnis von Sozialisation und Kirchenmitgliedschaft vgl. Pollack 2014, 20 ff. 102 Johannes Zimmermann beschreibt die Auswirkungen einer als staatsanalogen Betreuungskirche bzw. Expertenkirche verstandenen Kirche auf die Sozialisation so: »Geblieben ist die Mentalität passiver Inanspruch-nahme, häufig verbunden mit stark eingeschränkter Fähigkeit zu aktiver Glaubenskommunikation. Diese wieder-um wirkt sich negativ auf die Reproduktionsfähigkeit der Kirche insgesamt aus: Die eigenen Kinder sind die ersten, die von der nicht vorhandenen bzw. nicht wahrnehmbaren Glaubenskommunikation betroffen sind. In aller Regel ist damit eine Distanz zur Kirche verbunden, die sich in der Generationenfolge vergrößert.« Zimmermann 2009, 411. Vgl. auch aaO., 415–419. 103 Pickel 2013, 35.
273
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
Inhalte und ihre Traditionen, nur begrenzt weitervererben. Ohne eine Rückbindung an religiöses Wissen und religiöse Netzwerke bleibt Religiosität diffus und fluide. Zudem scheint jede andere Form von Religiosität eher ein Übergangsstadium denn eine Alternative zur traditionellen, verfassten Religion darzustellen.104 Westdeutschland
Ostdeutschland
70
52,5
35
17,5
0
> 66
56-65
46-55
36-45
26-35
16-25
Abb. 3: Religiöse Sozialisation nach Alter Quelle: Bertelsmann 2013, 15105
Diese Zahlen bestätigen sich in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU)106 aus dem Jahr 2012 (so haben z. B. 83 % der über 60-Jährigen Kirchenmitglieder eine religiöse Sozialisation erfahren, aber nur 55 % der unter 20-Jährigen107) und verdeutlichen, dass nicht nur für Konfessionslose gilt, dass sie mit abnehmendem Alter zunehmend areligiös sozialisiert und somit tendenziell religionsfern bzw. -los sind, sondern, dass dies ebenfalls für die jüngeren Kirchenmitglieder gilt und dieser Prozess einer »schleichenden Säkularisierung«108 (Pickel) sich auch innerhalb der Kirche findet. Dazu die
104 Pickel 2013, 24. Zu den Ursachen der Entstehung von Religiosität, verweist Stefan Huber auf die doppelte Bedeutung von a) Sozialisation und b) religiöser bzw. spiritueller Erfahrung und spricht von einer »Zwei-Quellentheorie« der Religiosität, vgl. Huber 2014, 78 f. 105 Frage: »Sind Sie religiös erzogen worden?«; 3er-Skala (ja – nein – teils/teils); Anteil derjenigen, die mit »ja« antworten, in der jeweiligen Altersgruppe, Bertelsmann 2013, 15. 106 Vgl. Hermelink et al. 2015 und Evangelische Kirche 2014, 10–12. 107 Vgl. Evangelische Kirche 2014, 10. 108 Vgl. Pickel 2013, 23–30.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
Schlussfolgerung der Autoren der ersten Veröffentlichung zur KMU V (Engagement und Indifferenz): Eine Verstärkung dieser Tendenz ist zu erwarten, besteht doch zwischen der eigenen religiösen Sozialisation, der eigenen Religiosität und der Bedeutung, die man der religiösen Erziehung von Kindern beimisst, ein statistisch signifikanter Zusammenhang. So befürwortet nur knapp die Hälfte der Evangelischen unter 30 Jahren eine religiöse Kindererziehung. Diese Absichtserklärung ist zu unterscheiden von der tatsächlichen Realisierung der Absicht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in niedrigerem Maß stattfindet (analog zu den Differenzen zwischen der Absicht, einen Gottesdienst zu besuchen, und dem realisierten Gottesdienstbesuch).109
Die veränderten (gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen – und diese gelten besonders auch für die stark von Säkularisierung betroffenen urbane Räume110 – konfrontieren die Kirche somit (erneut) mit ihrem Auftrag und so mit ihrem Wesen und ihrer Sendung durch den dreieinigen Gott. Michael Herbst spricht im Anschluss an Wolfgang Huber111 von einem Transfer von einer Volkskirche zu einer Missionskirche.112 Im Rahmen der Reflexion dieser Sendung der Kirche kann der Begriff Volkskirche die Richtung der Sendung angeben und somit Orientierung für den Auftrag der Kirche geben: Die Kirche ist gesandt (missio) zum ganzen Volk113, welches sie umgibt.114 Somit ist klar, dass es sich dabei weder nur um die Mitglieder der Kirche noch nur um staatsbürgerlich definierte Mitglieder des Volks115 handelt, sondern um alle Menschen, die im Umfeld der Kirche (lang-, mittel- oder kurzfristig) zugegen sind und dadurch (potentiell) Kontakt zur Kirche und zum Evangelium haben.116 Damit dies gelingen kann, muss die Kirche so gestaltet sein, »daß [sic!] alle, sofern sie nur ein positives Verhältnis zur Verkündigung der Kirche haben, Mitglieder sein und sich in der Kirche heimisch fühlen könnten – unbeschadet 109 Evangelische Kirche 2014, 10. 110 S.u. § 12 Abs. 4. 111 Vgl. Huber/Schröer 2003, 252 f. 112 Vgl. Herbst 2013b, 11 f. 113 Reiner Preul spricht von der Volkskirche als »Kirche für das ganze Volk«, Preul 2008, 1187. 114 Zu Johann H. Wicherns Formulierung »Kirche für das Volk«, vgl. Hein 2008a, 1185. 115 Zum Volks-Begriff vgl. aaO., 1184 f. 116 Zu einer Volkskirche in der Diaspora schreibt Michel Herbst: »Auch eine kleine, aber vitale Kirche kann in diesem Sinn Kirche für das ganze Volk sein, ein Ort, an dem auf den offenen Himmel verwiesen wird, Volkskirche in einem präskriptiven, wenn auch nicht mehr deskriptiven Sinn. In diesem Sinn ist Kirche dann Volkskirche, wenn sie vom Volk Gottes, dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen getragen ist, wenn sie für das ganze Volk, für das Gemeinwohl aller da zu sein beabsichtigt und wenn sie das alles mit dem Anspruch auf Öffentlichkeit verbindet. In diesem Sinn kann sie Volkskirche selbst in der Diaspora sein.« (Herbst 2018c, 6).
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
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aller sozialen, bildungsmäßigen, kulturellen und natürlichen Unterschiede.«117 Man kann Reiner Preul noch etwas konkretisieren, indem man ernst nimmt, dass ein positives Verhältnis zu Verkündigung (i. S. v. Kommunikation des Evangeliums) auch das Ergebnis eines (längeren) Prozesses ist und die Kirche auch denjenigen einen Zugang zum Evangelium eröffnen sollte, denen dieser (aus welchen Gründen auch immer) verstellt ist. Dabei gilt, dass sowohl zentrifugale als auch zentripetale Bewegungen der Kirche innerhalb der Gesellschaft austariert und in ein fruchtbares Miteinander gebracht werden müssen. Hinsichtlich der dritten118 und der sechsten119 These der Barmer Theologischen Erklärung ist dabei stets zu fragen, ob die vorfindlichen Strukturen der Kirche das Evangelium bezeugen und dazu dienen, »die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.«120
2.1 Kirche als urbane Institution Christian Grethlein beschreibt den Wandel der Kirche als »Übergang von einer staatsanalogen Institution zu einer zivilgesellschaftlichen Organisation.«121 Wenngleich die evangelische Kirche de iure seit 1919 keine Staatskirche ist, so sei ihre Struktur laut Grethlein dennoch staatsanalog (u. a. durch den Status der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts122 oder die vom Staat eingezogene Kirchensteuer123). Trotz eines starken Rückgangs der Kirchenmitglieder (siehe der vorangegangene Exkurs124) und der damit verbundenen sinkenden Verbundenheit weiter Teile der Gesellschaft mit der Kirche (sowie der abnehmenden Vertretung der Gesellschaft durch die Kirche), ist die »kirchliche Verwaltungsstruktur […] jedoch gleich geblieben.«125 Grethlein vergleicht die Situation der Kirche mit der Deutschen Post und Deutschen Bahn: Beides sind
117 Preul 2008, 1186. 118 Siehe oben § 9 Abs. 6. 119 »Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.« (Nicolaisen 2009, 42). 120 Vgl. Hüffmeier 2008, 1186. Dort auch das Zitat von Barmen 6. 121 Grethlein 2013, 36. 122 Vgl. dazu auch Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 178 f. 123 Vgl. Grethlein 2013, 38f und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 176–178. 124 »Der Anteil der Mitglieder einer christlichen Kirche ist auf unter zwei Drittel der Bevölkerung abgesunken. In manchen Regionen, vor allem in Ostdeutschland und in den norddeutschen Großstädten, sind die Kirchenmitglieder deutlich in der Minderzahl.« (Grethlein 2013, 38). 125 Ebd.
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ehemalige Institutionen, die »ihres staatlichen Zwangscharakters entkleidet und jedenfalls grundsätzlich in marktförmige Organisationen überführt wurden.«126 Die beiden wesentlichen Merkmale sind sowohl der Verlust der Monopolstellung als auch der Verlust der Möglichkeit, den Beamtenstatus zu verleihen. Grethlein entdeckt das Hauptproblem einer staatsanalogen Institutionsförmigkeit der Kirche darin, dass aufgrund der Regelung kirchlicher Mitgliedschaft (und der damit verbundenen Regelungen der Kirchensteuer) kirchenrechtliche und seelsorgliche Handlungslogiken in Konflikt miteinander geraten: »Tatsächlich steht hier die kirchliche Mitgliedschaftsregel einer liturgischen Partizipation von Menschen bzw. anders formuliert: an der Kommunikation des Evangeliums entgegen.«127 Grethlein weist darauf hin, dass besonders im Osten Deutschlands und in den Städten (v. a. im Norden) die Mitglieder der Kirche(n) deutlich in der Minderzahl sind (s. u. § 12 Abs. 4 und Abb. 3). Zudem sind die beschriebenen Prozesse der Modernisierung in urbanen Räumen besonders deutlich und sind i. d. R. erstmalig in größerem Umfang beschreibbar (s. o. § 3). Die Darstellung Grethleins macht deutlich, dass sich die Kirche in einem Übergang von einer Institution zu einer Organisation befindet und dass dieser Übergang durchaus zu begrüßen ist und neben der Kirche auch andere Institutionen erfasst. Dennoch ist die Kirche faktisch in vielerlei Hinsicht – auch in der Stadt – (noch) eine Institution. Urbane Gemeindeentwicklung darf diese Tatsache nicht unterschätzen und sollte – bei aller Kenntnis der Grenzen dieser Logik – die darin liegenden Möglichkeiten zur Kommunikation des Evangeliums (s. u. § 10 Abs. 5.1) nutzen. Ein Ausdruck der kirchlichen Institution ist die parochiale Struktur (siehe dazu unten § 15 Abs. 1), welche auch urbane Räume flächendeckend erfasst und eine »geistliche Zuständigkeit« für alle Menschen eines bestimmten Gebiets (i. S. e. Kirche für das Volk) sowie einen einfachen Zugang zu den Mitgliedern der Kirche mit sich bringt. Dies macht Kirchengemeinden zu den ersten Ansprechpartnern und prinzipiell zuständigen Einrichtungen in Fragen von Kasualien und Lebensbegleitung. Außerdem sind Citykirchen (s. u. § 15 Abs. 2) sichtbare Repräsentationen der urbanen Kirche als einer geistlichen Institution, die in geistlichen und religiösen Fragen eine bewährte und vertrauenswürdige Einrichtung und dabei selbst Teil der Stadtgesellschaft ist und das soziale Leben der Stadt bereichert. Somit kommt der Kirche in funktionaler Hinsicht128 die Funktion einer religiösen Institution in der Stadt zu, die sowohl in Form eines dauerhaften Angebots (wöchentlicher Gottesdienst) als auch bei
126 AaO., 39. 127 AaO., 39 f. 128 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 160 f.
Exkurs: Volkskirche in nachkirchlicher Zeit?
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Bedarf (Kasualien) sowie in krisenhaften Ausnahmesituationen (öffentliche Trauerfeiern und Gottesdienste nach Katastrophen) das Evangelium an alles Volk ausrichtet. Die Aufgabe der Kommunikation des Evangeliums kann auch als »Verwirklichung einer Idee in der Gesellschaft«129 verstanden werden und beschreibt das rechtsphilosophische Verständnis130 einer Institution. Der Auftrag einer so verstandenen Kirche ist es, die Botschaft des Evangeliums in den öffentlichen Diskurs und in das Leben von Städtern hinein zu kommunizieren und somit sichtbar und hörbar zu machen. Die Herausforderung für die Kirche als urbane Institution besteht darin, unter den urbanen Bedingungen ihre sich wandelnde Rolle als religiöse Institution so zu gestalten, dass sie die Potentiale dieser Rolle (parochiale Struktur, vertrauensvoller Anbieter geistlicher Begleitung, weithin anerkannter Vertreter einer »Zivilreligion«131 etc.) nutzt und zugleich den durch die Institutionslogik entstehenden Spannungen zum urbanen Umfeld begegnet und sich dem Wandel ihrer Funktion nicht verschließt. Dies bedeutet z. B., dass Kirche (sowohl in der gesamten Gesellschaft als auch in besonderem Maße in der Stadt) mit der Tatsache konfrontiert ist, dass sie nicht mehr der eine – von Staat und Gesellschaft anerkannte und unhinterfragte – Anbieter von geistlicher und religiöser Begleitung ist, sondern sich auf einem religiösen Markt befindet, auf welchem sie keine Vorrangstellung inne hat. Die Kirche kann diesen Umstand betrauern oder die Chance wahrnehmen, die von Zwang und Bevormundung befreiten Städter als Kommunikationspartner des Evangeliums ernst zu nehmen und sich um eine gelingende Kommunikation mit ihnen zu bemühen und ihnen das Handeln Gottes in und durch Jesus Christus zu bezeugen.132 Dies eröffnete den Städtern die Chance, das Evangelium von Jesus Christus als Anrede und Einladung Gottes zu hören und mit Glauben zu antworten.133
129 AaO., 161. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. 161f und 169 f. 132 Vgl. dazu der Vortrag Dienstleistung an artikulierter Religionsfreiheit. Ein Diskussionsvorschlag zur Frage nach der präzisen Sendung der Kirche heute von Matthias Sellmann, welchen er auf dem Greifswalder Symposium Kirche[n]gestalten im Mai 2018 gehalten hat, vgl. Sellmann 2019. 133 Vgl. dazu auch Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 179–181.
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3. Kirche als Organisation134/»Unternehmen«135 Entsprechend der bisherigen Ausführungen kann festgehalten werden: »Die evangelische Großkirche ist eine Institution auf dem Weg dazu, organisationsförmiger im Sinne moderner Organisationen zu werden.«136 Diese seit den 1990er Jahren zu beobachtende Wahrnehmung der Kirche als Organisation – was einer zeitlich versetzten, parallelen Entwicklung in der Gesellschaft entspricht137 – ist ein weiterer Modernisierungsschub der Kirche138 und mit Christian Grethlein kann die evangelische Kirche als »Kirche zwischen Institution und Organisation«139 beschrieben werden. Diese Wahrnehmung folgt der Einsicht, dass Kirche nicht nur dogmatisch, sondern auch nach betriebswirtschaftlichen140 Gesichtspunkten beschrieben werden kann und die Gestaltung von Kirche (neben Institutionslogiken141)142 auch Organisationslogiken143 folgt.144
134 Vgl. Schimank 2007, 225–237. Zu religiösen Organisationen vgl. Petzke/Tyrell 2012. 135 Vgl. dazu auch Hermelink 2011, 89–103. 136 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 213. Hermelink spricht von der (evangelischen) Kirche als einer »sozialen Organisation«, vgl. Hermelink 2017, 96. Vgl. auch Lindner/Herpich 2010, 20–37. 137 »In der Gesellschaft hat ein Wandel von der Prädominanz der Institutionen zu den Organisationen stattgefunden.« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 182). 138 Vgl. aaO., 182f und Hauschildt 2007. 139 Vgl. Grethlein 2016, 385–422, besonders 396–399. 140 Zu der Debatte über eine betriebswirtschaftliche Perspektive auf die Kirche vgl. Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 185–187. Zur Beschreibung der Kirche in betriebswirtschaftlicher Hinsicht vgl. aaO., 194–211. In einer betriebswirtschaftlich geprägten Wahrnehmung der Kirche spielen für die Gestaltung von Kirche Themen wie: Ziele, Qualität, Leitbilder, Strategien, Management, Marketing, Portfolio-Analyse, Personalmanagement, Controlling, Finanzmanagement, Projektmanagement etc. eine Rolle. Ein Ansatz, der theologische und betriebswirtschaftliche Ansätze zu verbinden versucht, ist das Spirituelle Gemeindemanagement, welches die drei Schwerpunkte Spiritualität, Gemeinde und Management eng aufeinander bezieht, vgl. Abromeit et al. 2001, besonders Abromeit 2001 und außerdem Herbst 2003: »Spirituelles Gemeindemanagement ist der Versuch, Spiritualität (›Ora‹) und Management (›Labora‹) für den Aufbau der Kirche von morgen fruchtbar zu machen.« (Herbst 2003, 182). 141 Dazu zählt Hauschildt u. a.: »Kirchenleitung allein durch rechtliche und inhaltliche Rahmensetzungen, automatische kirchliche Sozialisation der Mitglieder, Normalfall distanzierten Institutionsbezugs der Mitglieder, bereitstehende Dienste der Institution für alle« (Hauschildt 2007, 62). 142 Vgl. aaO., 61–63. Hauschildt weist der Institutionslogik dem Begriff »Volkskirche« und der Organisationslogik der Formulierung »missionarische Kirche« (aaO., 62). 143 Dazu zählt Eberhard Hauschildt u. a. »zielorientierte Unternehmensleitung, Werbung durch Zielgruppen-angebote zur Einbindung der Mitglieder in die aktive Zielerreichung« (AaO, 62). 144 Dieser Wandel der Kirche wird auch kritisiert und so hat sich in den letzten Jahren ein Diskurs darüber entwickelt, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 185–187; Lindner/Herpich 2010, 27–29, Herbst 2003, 186–190 und Kretzschmar 2007, 61–79. Weiterführend vgl. u. a. Fleßa/
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Organisationen können als »Erscheinungen zweckrationalen Denkens und Handelns«145 beschrieben werden. Organisationen verfolgen Ziele: »Ein Ziel soll auf Dauer gewährleistet werden, darum wird eine Struktur geschaffen und festgelegt und werden die Aktivitäten der Organisationsmitglieder und die verfügbaren Mittel koordiniert. Organisationsstrukturen sind zweck- und zielgerichtet.«146 Die Wahrnehmung der Kirche als Organisation hängt eng mit drei Faktoren zusammen: a) Der automatische und lebensweltlich-natürliche (bspw. über die Familie) Kontakt zur Kirche nimmt ab, b) Die Kirche befindet sich in Konkurrenz mit anderen Anbietern auf dem Freizeitmarkt und c) sieht sich die Kirche – angesichts des demographischen Wandels – einem enormen Veränderungsdruck ausgesetzt.147 Eberhard Hauschildt zeigt auf, dass ein solches Verständnis der evangelischen Kirche kein neues Phänomen darstellt: »Es setzte in Deutschland bezeichnenderweise zeitgleich mit der Entwicklung der modernen Unternehmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein.«148 So »entstanden […] von Einzelnen und Gruppen initiierte Organisationen mit missionarischen und diakonischen Zwecken neben der Amtskirche.«149 Das Neue ist, dass mit Erscheinen des Reformpapiers Kirche der Freiheit (2006) »eine entsprechende Programm- und Zielorientierung die Kirche als Ganze erfasst – das Ideal von einer missionarischen Kirche, die gegen den Trend wächst.«150 Aufgrund ihrer intermediären Position kann die Kirche organisationslogisch und systemtheoretisch gut mit Non-Profi-Organisationen (NPO) verglichen werden.151 Dabei besitzt die Großkirche aufgrund ihrer Struktur eher eine Verwaltungsnähe und durch die jüngst stärker organisationslogisch konnotierte Beschreibung kommt zudem eine größere Nähe zur Wirtschaft hinzu. Die Basisnähe kann innerhalb der Großkirche dann am ehesten von den Gemeinden geleistet werden. Steffen Fleßa und Traugott Jähnichen weisen darauf hin, dass die Rezeption betriebswirtschaftlicher Einsichten und Managementtechniken zu einem innerkirchlichen Diskurs darüber geführt haben, ob und inwiefern diese Perspektive auf kirchliches Handeln theologisch vertretbar und angemessen ist.152 Fleßa/ Jähnichen 2005 und Weyen 2018. Zu einer kritisch-konstruktiven Adaption betriebswirtschaftlicher Techniken für kirchliches Handeln vgl. Reményi 2017, 393 f. 145 Hauschildt 2007, 61 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 181. 146 Hauschildt 2007, 61. 147 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 183 f. 148 Hauschildt 2007, 61. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 187–189 und Abromeit 2001, 13–15. 152 Vgl. Fleßa/Jähnichen 2005, 201–209. Vgl. dazu auch der Aufsatz Muss das Marketing vor der Kirchentür Halt machen? von Kristin Butzer-Strothmann, vgl. dies. 2001.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
Jähnichen kommen zu dem Schluss, dass eine Rezeption betriebswirtschaftlicher Einsichten und die Nutzung dementsprechender Instrumentarien für die evangelische Kirche möglich bzw. sogar geboten ist, wenn dies unter der Voraussetzung geschieht, dass sich diese Rezeption auf jene Dimensionen kirchlichen Handelns beschränkt, die in menschlicher Verantwortung liegen und all die Dimensionen davon ausnimmt, die in den Bereich göttlichen Wirkens fallen (z. B. die Entstehung von Glauben).153 Sie plädieren für eine »Kirchenbetriebslehre« und betonen, dass diese Form von Betriebslehre keine Aussagen über die unsichtbare Kirche treffen kann: »Ihr Erfahrungsobjekt ist vielmehr die sichtbare, in ihren weltlichen Bezügen stehende Gemeinschaft von Christen, speziell deren wirtschaftliches Handeln«154. Eine kirchlich formatierte Betriebslehre »ist rechenhaft155 und rational ausgerichtet wie jede Betriebswirtschaftslehre; sie steht aber im Horizont der Erinnerung und Erwartung auf das Handeln Gottes«156. Fleßa/Jähnichen resümieren, dass eine Kirchenbetriebslehre dann einen fruchtbaren Beitrag zur Kirchentheorie sowie zur Gemeindeentwicklung leisten kann, wenn »Wirtschaftswissenschaftler die Priorität und die normativen Vorgaben des in der Theologie artikulierten kirchlichen Selbstverständnisses anerkennen und die Grenzen ihrer eigenen Wissenschaft benennen«157. In diesem funktionalen Sinn ist es für die Kirche angemessen, handlungstheoretische Einsichten anderer Wissenschaften zu nutzen und sich für das kirchliche Handeln zu eigen zu machen. Dabei ist die Kirche aber nicht primär den rezipierten betriebswirtschaftlichen Einsichten verpflichtet, sondern dem Evangelium von Jesus Christus. Insofern schätzt eine kirchliche Adaption betriebswirtschaftlicher Einsichten diese realistisch ein und weiß darum, dass solch eine Adaption – funktional verstanden – äußerst hilfreich sein kann. Sie erwartet jedoch keines-
153 »Allerdings gehört es in den Bereich menschlicher Verantwortung, die kontrollierbaren Faktoren dieses Geschehens [Glaubenskommunikation] angemessen zu analysieren und zu gestalten.« (Fleßa/Jähnichen 2005, 208). 154 AaO., 205. 155 Dazu Kristin Butzer-Strothmann: »Den Gemeinden stehen nur begrenzte Ressourcen an Finanzmitteln, aber auch an Arbeitskräften, zur Verfügung. Gemeinden wirtschaften zwar nicht des finanziellen Gewinns wegen, müssen aber dennoch, um langfristig ihr Überleben zu sichern, wirtschaftlich handeln. ›Wirtschaftlichkeit‹ wird hier freilich nicht mit Gewinnerzielung gleichgesetzt, sondern bedeutet Optimierung des Mitteleinsatzes mit Blick auf vorhandene Ressourcen.« (Butzer-Strothmann 2001, 39). 156 Fleßa/Jähnichen 2005, 205. 157 AaO., 209. Butzer-Strothmann schreibt dazu: »Für die konkrete Ausgestaltung eines kirchlichen Marketing für Gemeinden kann die Lösung nicht darin bestehen, dass man das Marketing von Unternehmen, die Güter und Dienstleistungen anbieten, im Maßstab 1:1 auf die Institution Kirche überträgt. Eine stimmige Lösung besteht vielmehr allein in einem Marketing-Konzept, in das die Besonderheiten einer kirchlichen Organisation von Anfang an einfließen und Berücksichtigung finden.« (Butzer-Strothmann 2001, 35).
3. Kirche als Organisation/»Unternehmen«
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wegs zu viel davon und ist sich dessen bewusst, dass das entscheidende Handeln der Kirche darin besteht, Gottes Handeln zu erbitten und zu erwarten.158 Eingedenk dessen, kann man mit Hans-Jürgen Abromeit resümieren: Wie wir in den 60er- und 70er-Jahren haben lernen müssen, dass wir nicht unpolitisch sein können, so gilt es für die evangelische Kirche heute wahrzunehmen, dass sie nicht unwirtschaftlich sein kann. Jede Aktivität der Kirche sollte geistlich und theologisch begründet sein. Sie hat aber auch immer einen ökonomischen Aspekt. Diesen auszublenden hat eher etwas mit blinden Flecken als mit theologischer Redlichkeit zu tun.159
Hauschildt/Pohl-Patalong bilanzieren: So eindeutig die Wandlung der Kirche in Richtung Organisation ist, so unklar ist, wie genau sich diese vollziehen und welche grundsätzliche Richtung dabei eingeschlagen wird und auf welcher Ebene der Wandel am stärksten sein wird. Im Anschluss an einen früheren Beitrag Hauschildts160 prognostizieren sie drei mögliche Szenarien: a) Kongregationalisierung mit dem Schwerpunkt auf den lokalen Ortsgemeinden b) Filialisierung mit dem Fokus auf der Organisationswerdung der Kirche als Gesamter und c) Regionalisierung mit dem Hauptaugenmerk auf der Region (i. S. v. Kirchenkreisen) als dem Ort, an dem Kirche Organisation wird.161
3.1 Kirche als urbane Organisation Angesichts urbaner Ausdifferenzierung und Pluralisierung befindet sich die evangelische Kirche als NPO auf dem urbanen Markt, welchen sie sich mit anderen NPOs teilt. Sie ist nicht mehr der unhinterfragte und den Markt bestimmende Anbieter religiöser, geistlicher und seelsorglicher Begleitung. 158 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 211–213. 159 Abromeit 2001, 27. Ähnlich das Fazit Butzer-Strothmanns: »Die Kirche ist kein erwerbswirtschaftliches Unternehmen. Eine nahtlose Anwendung des kommerziellen Marketingkonzepts auf eine Gemeinde ist daher nicht möglich. Allzu große Berührungsängste gegenüber der Übernahme von Marketinggedanken und -instrumenten sind aber fehl am Platz. Kirchenmarketing kann zwar keine neuen Inhalte bei der Verkündigung des Evangeliums schaffen, sehr wohl aber dabei helfen, die christliche Botschaft den Menschen wirksamer zu vermitteln. Ein kirchengerecht entwickeltes Marketing-Management kann nach alledem einen wertvollen Beitrag dazu leisten, dass die traditionsreiche Institution Kirche weiter besteht, ihren Auftrag besser wahrnimmt und sich weiter ausbreitet. Kirchenmarketing ist deshalb kein Irrweg, sondern dringendes Gebot der Vernunft.« (Butzer-Strothmann 2001, 41). Vgl. auch Herbst 2003, 180 f. 160 Vgl. Hauschildt 2007, 63–65, besonders 64. 161 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 213–215.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
Die evangelische Kirche ist im urbanen Raum nicht einfach per se die einzige überkommene religiöse Einrichtung, die für Fragen des (christlichen) Glaubens bzw. Religion und Spiritualität zuständig ist, sondern sie muss sich zunächst als kompetenter Ansprechpartner erweisen und etablieren. Dieser Umstand wird besonders in den nord- und ostdeutschen Städten deutlich, gilt aber auch zunehmend für andere Städte in Deutschland.162 Diese Situation konfrontiert die urbane Kirche mit mehreren Aufgaben, welche als Chancen zur kontextuellen Gestaltung urbaner Gemeindeentwicklung zu begreifen sind: • Zunächst ist die Kirche herausgefordert ihre konstituierende Botschaft des Evangeliums (als das »Wort vom Kreuz« nach 1Kor 1,18 – s. u. § 10 Abs. 5.2.1) als das ihr eigene inhaltliche Proprium zu beschreiben und darzustellen sowie daraus ihren Auftrag und ihre Sendung abzuleiten. Diese grundsätzliche sachlich-theologische und existentiell geistlich-seelsorgliche Klärung ist ein andauernder Prozess, von welchem die Kirche zu keiner Zeit entbunden ist. Eine solche Klärung betrifft sowohl die Kirchenleitung als auch die angestellten sowie die ehrenamtlichen und die nicht-aktiven Mitglieder der Kirche und Gemeinde. Jeder getaufte Priester ist – zumindest potentiell – mit der Aufgabe konfrontiert, ein »geklärtes« i. S. v. eigenständig angeeignetes Verhältnis zur Botschaft des Evangeliums und dem sich darin äußernden Zuspruch und Anspruch Gottes zu entwickeln. Urbane Kirche als Organisation muss ihren »Markenkern« kennen und beschreiben können, wenn sie ihren Auftrag – ihre Mission bzw. Sendung – definieren und erfüllen möchte. Denkt man diesen Prozess vom Kontext her, könnte man – etwas salopp – fragen, »inwiefern es attraktiv ist, seine Zeit bei der Kirche zu verbringen.«163 • Nachdem sich die Kirche ihres Propriums und ihres Auftrags in der Stadt vergewissert hat, besteht eine zweite Aufgabe darin, das Evangelium mit dem urbanen Umfeld in Quartier, Region und gesamter Stadt zu kommunizieren und so den Zuspruch und Anspruch Gottes in den städtischen Diskurs einzutragen. Um dies zu ermöglichen muss die urbane Gemeinde Orte, Anlässe, Gelegenheiten und Möglichkeiten der Kommunikation des Evangeliums schaffen und nutzen. Dazu muss sie den urbanen »Markt« analysieren und klären, wie die Städter kommunizieren, was ihre Fragen, Bedürfnisse und Vorurteile sind und in welchem Verhältnis diese zum »Wort vom Kreuz« stehen. Ziel dessen ist es keineswegs, die Inhalte des Evangeliums an den Kontext anzupassen, sondern – gemäß der vier Dimensionen von Kontextualisierung (s. o. § 2 Abs. 2.1) – das Gelingen der Kommunikation so
162 Vgl. Grethlein 2013, 38. 163 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 184.
3. Kirche als Organisation/»Unternehmen«
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wahrscheinlich wie möglich zu gestalten, ohne dabei die kontrakulturelle Dimension des Evangeliums zu verlieren. Dies schließt den Austausch und Diskurs mit anderen urbanen NPOs ausdrücklich ein. • Ausgehend von dem skizzierten integralen Missionsverständnis der missio Dei engagiert sich die urbane Kirche für das Wohl der Städter und leistet so einen Beitrag zum Gemeinwesen. Worin der kirchliche Beitrag konkret besteht, orientiert sich einerseits an dem Bedarf des Kontexts und andererseits an den (personellen, zeitlichen, materiellen etc.) Ressourcen der Kirche. Angesichts sozialer Segregation kann der Beitrag darin bestehen, dass die urbane Kirche Partei für verdrängte Bürger ergreift und sich mit ihnen solidarisiert und auf ihre Situation aufmerksam macht sowie betroffene Menschen unterstützt. Zudem können urbane Gemeinden Initiativen gegen Verdrängung und negative Kontexteffekte von Anwohnern unterstützen bzw. Menschen zu solchem Engagement ermutigen und eine bürgerschaftliche Bewegung initiieren. Solch ein Engagement kann die Kirche in der Stadt i. d. R. nicht allein leisten. Sie braucht Partner, mit denen sich sie gemeinsam um das Gemeinwohl müht. Solche Partner können Sozialverbände, lokale und kommunale Regierungen und Verwaltungen, andere Kirchen oder Religionsgemeinschaften, Vereine und Nichtregierungsorganisationen (NRO oder Non-governmental organizations – NGO) etc. sein. Auf die dargestellte Weise kann sich die Kirche als christlicher Anbieter auf dem urbanen Markt der NPOs profilieren und damit sowohl dem eigenen Auftrag als auch dem Kontext gerecht werden und beide Größen aufeinander beziehen. Die Chancen, die in dem kirchlichen Wandel von einer Institution zu einer Organisation liegen, sind ausdrücklich zu begrüßen, da sie zur Klärung, Beschreibung und Gestaltung des kirchlichen Auftrags führen. Zudem bildet die marktförmige Situation der urbanen Kirche die zunehmend eintretende ausdifferenzierte und pluralisierte religiöse Wirklichkeit der Gesellschaft ab. Der urbane Kontext konfrontiert die Kirche mit dieser Tatsache und fordert von ihr, weder die Situation zu leugnen noch sich dieser zu entziehen. Der beschriebene Wandel umfasst alle Ebenen der Kirche – beginnend bei dem einzelnen Christen über die lokale Gemeinde über die kirchliche Region bis hin zur gesamten Kirche einer Stadt. Die gesamte Kirche befindet sich auf dem urbanen (Religions- und Freizeit-)Markt und muss sich mit dieser Situation auseinandersetzen und Wege finden, diesem Umstand zu begegnen und gerecht zu werden. Sie muss sich dazu profiliert auf ihren Kontext einlassen und das Handeln Gottes in Jesus Christus bezeugen. Dies tut sie primär in Wort und Sakrament in der versammelten Gemeinde und konstituiert sich so als Kirche (CA VII – s. u. § 10 Abs. 5, besonders Abs. 5.3). Auf dieses Tun beschränkt sich der kirchliche Auftrag jedoch nicht, sondern nimmt dort seinen Anfang,
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
da hier die Kirche als congregatio sanctorum konkrete Gestalt annimmt, welche sich in die Alltagsbeziehungen der Gemeindeglieder hinein verlängert, indem diese dort als Zeugen des Evangeliums das Tun Gottes bezeugen und zur Sprache bringen und somit – über die congregatio hinaus – Zuspruch und Anspruch Gottes kommunizieren. Ein wichtiger Bestandteil der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags besteht in der Befähigung der Christen zu diesem Zeugnisdienst. Ort dieser Befähigung ist die Zeugnisgemeinschaft der Kirche als Communio (s. u. § 10 Abs. 5.4).
4. Kirche als Hybrid aus Bewegung, Institution und Organisation Hauschildt/Pohl-Patalong bündeln die Darstellung des kirchlichen Hybrids164 mit der Feststellung, dass die drei Formen, in denen Kirche gegenwärtig erscheint, auf Logiken beruhen, die sich formal widersprächen und faktisch nicht in einen sinnvollen Einklang zu bringen seien, ohne dass sich eine der Formen auf Kosten der anderen durchsetzt. Theoretisch können diese drei Erscheinungsformen nicht in eine sinnvolle Einheit übertragen werden. Was jedoch in der Theorie anscheinend nicht gangbar ist, erscheint bei einem Blick in die empirische Kirche in Deutschland in einem anderen Licht. Denn in der Praxis der Kirche existieren diese drei Formen von Kirche nebeneinander und dies bereits seit ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts. Insofern ist die Durchsetzung einer der drei Logiken auf Kosten der anderen weder notwendig noch wünschenswert, da die Kirche einerseits offenkundig in einer hybriden Form existieren kann und andererseits diese hybride Form die Chance bietet, dass die verschiedenen Logiken sich wechselseitig ergänzen und bereichern. Dabei verstehen Hauschildt/Pohl-Patalong das Nebeneinander der drei Formen von Kirche nicht als etwas Statisches, sondern als »dynamische[s] Gleichgewicht, bei dem sich von Fall zu Fall und im Laufe der Zeit Gewichtsverschiebungen ergeben können.«165 Sie sprechen dann systematisch von einem Oszillieren, das ein System organisatorisch entweder über- oder unterdeterminiert. Dies relativiert die Debatte um ein richtiges oder falsches Kirchenbild und zeigt die Bandbreite eines möglichen Zugriffs auf das Phänomen Kirche in kirchentheoreretischer Perspektive auf.166
164 Vgl. auch Grethlein 2018a, 12–16. 165 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 218. 166 Vgl. aaO., 216–219.
5. Kirchlicher Auftrag
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5. Kirchlicher Auftrag zwischen göttlicher Berufung und empirischer Wirklichkeit Verbindet man die dogmatischen Beschreibungen von Kirche mit der Darstellung ihrer empirischen Gestalt, so kann man diese Beziehung als Spannung167 der Kirche zwischen dogmatischer Beschreibung bzw. göttlichem Auftrag168 auf der einen Seite sowie empirischer Realität und soziologischer Wahrnehmung auf der anderen Seite beschreiben. Es handelt sich um eine Spannung, die soziologisch beschrieben und (praktisch-)theologisch reflektiert wird und sich überdies unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen kirchlich konkretisiert und als solche ausgehalten werden muss.169 Der Auftrag der Kirche kann mit Christian Grethlein so beschrieben werden: »In der Nachfolge des Auftretens und Wirkens Jesu ist die Förderung der Kommunikation des Evangeliums […] die grundlegende Aufgabe der Kirche.«170 Somit ist Grund und Inhalt der Kommunikation171 der Kirche das Evangelium von Jesus Christus.172 Über den Zusammenhang zwischen dem Wesen Gottes und der Kommunikation des Evangeliums schreibt Christoph Schwöbel: »Durch die Kommunikation des Evangeliums manifestiert sich das kommunikative Sein des trinitarischen Gottes. Damit ist die Kommunikation des Evangeliums, durch die die Kirche entsteht, in der Selbstkommunikation Gottes begründet, in der Gottes trinitarisches Sein sich Ausdruck gibt.«173 Wilfried Härle formuliert im Anschluss an CA VII den Auftrag der Kirche als »die
167 Christiane Tietz spricht von »Grundspannungen«, vgl. Tietz 2014, 54 f. 168 Vgl. Schlink 2005, 561–566 und Härle 2007a, 577 f. 169 Vgl. Härle 2007a, 578–582. Vgl. Grethlein 2014a, 136. 170 Grethlein 2018a, 41. Vgl. dazu auch Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 409–420. 171 Zum Kommunikationsbegriff: Hauschildt/Pohl-Patalong betonen bei Kommunikation das wechselseitige Verhältnis zwischen zwei Entitäten, die unterschiedlichen Ebenen, auf denen kommuniziert werden kann, die verschiedenen Medien, in denen sowohl in der Geschichte der Kirche als auch in der Gegenwart das Evangelium kommuniziert wurde und wird, den spezifischen Grund sowie Inhalt (das Evangelium von Jesus Christus) der kirchlichen Kommunikation, die Entsprechung des Kommunikationsbegriffs mit dem Kirchenbegriff nach CA VII, die Absicht und das Ziel der Kommunikation sowie die Unverfügbarkeit der Erreichung dieses Ziels, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, 412–415. Vgl. dazu auch Grethlein 2016, 146–159 und Maurer 2003, 95–100. 172 Wilfried Härle beschreibt den Auftrag der Kirche in einem Dreischritt: a) die Kirche bezeugt das Evangelium, b) die Kirche hört das Evangelium und c) in der Auferbauung der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden dient die Kirche der Welt zum Heil und versteht dabei Dienst an der Welt und Dienst an der Kirche als untrennbar, vgl. Härle 2007a, 577 f. 173 Schwöbel 2002, 425.
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ihrem Ursprung entsprechende Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Darreichung der Sakramente.«174 Härle verschränkt die beiden Aspekte miteinander, wenn er schreibt, dass dieses »keine zwei unterschiedlichen Aufgaben, sondern zwei Weisen [sind], wie die eine Aufgabe der Kirche wahrgenommen wird, das Evangelium von Jesus Christus als Heil der Welt zu bezeugen.«175 Er schlussfolgert: »Damit bezeugt die Kirche das, wodurch sie selbst konstituiert wird.«176 Sowohl ihr Woher als auch ihre Botschaft ist also die Offenbarung Gottes im Menschen Jesus von Nazareth als inkarnierter Logos (Joh 1,1–14), mit dessen Ankunft das Reich Gottes nahe kommt (Mk 1,15), der gekreuzigt (Röm 4,25) und auferweckt worden ist (1Kor 15,1–5) und in dessen Nachfolge (Joh 8,12) sowie im Glauben an ihn (Röm 10,10) Menschen Anteil an Gottes Reich (Mk 10,15), an Gottes Liebe (Joh 14,21.23), an Gottes Heil (Eph 2,1–8) und an Gottes Mission (Joh 20,21) in der Welt bekommen.177 »Dieser Inhalt ist Gegenstand des Auftrags der Kirche. Von ihm her sind die Kommunikationsvorgänge der Kirche zu betrachten, und seine Relevanz im und für das Leben der Kommunikationspartner […] stellt das Kriterium für gelungene Kommunikation dar.«178 Mit der sechsten These der Barmer Theologischen Erklärung kann auch die Frage nach den Adressaten der Kommunikation beantwortet werden: Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.179
174 Härle 2007a, 577. Hervorhebung im Original. 175 Ebd. Hervorhebung im Original. 176 Ebd. Hervorhebung im Original. 177 Zur grundsätzlichen Reflexion des Themas Evangelium vgl. Schlink 2005, 1–10; Grethlein 2016, 159–172, Härle 2007a, 303–307 und Keller 2014b, 27–56. Zur kommunikativen Dimension der Offenbarung Gottes schreibt Matthias Reményi: »Offenbarung meint keinen unilinearen Informationstransfer, sondern ein kommunikatives, dialogisches und prozessuales Geschehen, da die Adressaten mit einbezieht – und das dann wiederum eine Rückkoppelung auf Gott hin zur Folge hat, deren äußerster Ausdruck das Kreuz ist. Göttliche Offenbarung setzt gottmenschliche Interferenzen frei.« (Reményi 2017, 384f). 178 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 414. Hervorhebung im Original. 179 https://www.ekd.de/Barmer-Theologische-Erklarung-Thesen-11296.htm. Aufgerufen am 02.06.2017.
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Die Kommunikation des Evangeliums ist folglich nicht absichtslos, sondern hat die Intention, dass die Kommunikationspartner das Evangelium für sich und ihr Leben als relevant und hilfreich erkennen und selbst Anteil an der Freiheit des Evangeliums bekommen. Ziel ist es also, dass »alles Volk« (Barmen VI)180 »zur Erkenntnis der Wahrheit kommt« (1Tim 2,4), umkehrt (Mk 1,15) und sich Gott in seiner Gnade und Liebe anvertraut (Joh 14,1). Es steht aber nicht in der Macht der Kirche, dieses Ziel eigenmächtig herbeizuführen. Es gilt der theologische Vorbehalt, dass Glaube durch den Geist Gottes gewirkt wird und eine Frucht dessen Wirken ist, so dass »[d]as Ergebnis der Kommunikation des Evangeliums […] für die Kirche nie machbar und planbar [ist], sondern ihre Wirkung muss sie Gott überlassen.«181 Dabei ist es aber nicht gleichgültig, wie die Kirche ihre Aufgaben wahrnimmt, da sie ihrem Auftrag mehr oder weniger angemessen nachkommen kann. Dieses wechselseitige Geschehen kann mit Rudolf Bohren als theonome Reziprozität182 beschrieben werden. Bei der Wahrnehmung des Auftrags der Kirche unterscheiden Hauschildt/Pohl-Patalong zwischen dem Auftrag selbst, den Aufgaben, die sich daraus ableiten und den Handlungsfeldern, auf denen die Kirche diese Aufgaben wahrnimmt.183 Dabei identifizieren sie drei Bezugs- und Orientierungspunkte kirchlicher Aufgaben: a) das Thema184 (Evangelium von Jesus Christus), b) die Subjekte185 des Handelns (Empfänger und Überbringer der Botschaft und somit Träger des kirchlichen Handelns) sowie c) die Welt186 (als Ort des kirchlichen Handelns und als »Ort, an dem Gott sein Reich Wirklichkeit werden lassen will«187). Im Bezug auf diese drei Größen kann die Kirche dann direkt oder indirekt handeln, was zur Identifikation von sechs Aufgabenbestimmungen führt.188 Folgende Tabelle zeigt sechs Aufgabenfelder schematisch:
180 Dazu Eberhard Jüngel: »In der Lehre von der Kirche beginnt sich allerdings erst in unseren Tagen jene Lücke zu schließen, und das auch nur sehr zögerlich, die in der überlieferten Ekklesiologie unübersehbar klaffte. Die sechste Barmer These, der gemäß es zu den Konstitutiva der Kirche gehört, die Botschaft von der freien Gnade Gottes an alles Volk auszurichten, wartet noch immer auf eine hinreichende ekklesiologische Rezeption.« (Jüngel 2003, 118 – Hervorhebung im Original). 181 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 415. 182 Vgl. Bohren 1986, 65–88, besonders 76–82. 183 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, 410 f. 184 Ausführlicher vgl. aaO., 420–426. 185 Ausführlicher vgl. aaO., 426–431. 186 Ausführlicher vgl. aaO., 431–437. 187 AaO., 416. 188 Vgl. aaO., 415–420. Zu einer kritischen Würdigung der Unterscheidung kirchlicher Aufgaben nach den Kriterien von Martyria, Leiturgia, Diakonia und Koinonia, vgl. aaO., 420.
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Tab. 4: Kirchliche Aufgabenfelder (Quelle: Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 419) Liegt der Fokus auf der …
… so lautet die Aufgabe:
1. Kommunikation des Themas in einer direkten Orientierung
Die Kirche bewahrt, vermittelt und deutet die christliche Botschaft.
2. Kommunikation des Themas indirekt angelegt
Die Kirche eröffnet Räume für Religion.
3. Kommunikation des Evangeliums auf Die Kirche bietet individuelle Lebensden Subjekten und wird diese wiederum begleitung an. direkt am Leben der Einzelnen orientiert 4. Kommunikation des Evangeliums auf den Subjekten indirekt im Sinne eines Zusammenhangs zwischen Menschen begriffen,
Die Kirche eröffnet Gemeinschaft.
5. Kommunikation des Evangeliums auf der Welt,
Die Kirche hilft Menschen in ihren Lebensverhältnissen.
6. Kommunikation des Evangeliums auf der Welt in einer indirekten Orientierung
Die Kirche erhebt die christliche Stimme in der Gesellschaft.
5.1 Kommunikation des Evangeliums als Aufgabe der Kirche Den Diskurs um die Figur der Kommunikation des Evangeliums aufnehmend, soll die zentrale Aufgabe der Kirche an dieser Stelle etwas eingehender diskutiert werden. Ernst Lange hat die Formulierung in den praktisch-theologischen Diskurs eingebracht und die Wahl dieser folgendermaßen begründet: Wir sprechen von Kommunikation des Evangeliums und nicht von ›Verkündigung‹ oder gar ›Predigt‹, weil der Begriff das prinzipiell Dialogische des gemeinsamen Vorgangs akzentuiert und außerdem alle Funktionen der Gemeinde, in der es um die Interpretation des biblischen Zeugnisses geht – von der Predigt bis zur Seelsorge und zum Konfirmandenunterricht – als Phasen und Aspekte ein und desselben Prozesses sichtbar macht.189
189 Lange 1981, 101. Zur Kritik an Ernst Langes Predigen als Beruf vgl. Bohren 1981.
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Christian Grethlein hat diese Formulierung Langes aufgenommen190 und beschreibt in seiner Praktischen Theologie191 die in seinem umfangreichen Werk dargestellte theologische Disziplin als »Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart«192 und weist damit auf seine inhaltliche Zuspitzung des Begriffs hin. Angesichts des Bedeutungsverlusts der christlichen Kirchen193 und des protestantischen Christentums, entdeckt Grethlein in dem Begriff der Kommunikation des Evangeliums die »Bezeichnung des Gegenstandsbereichs der Theologie«194, denn: »Auf die Gegenwart bezogen weitet und präzisiert er das Forschungsfeld Praktischer Theologie.«195 Zugleich beschreibt er (anders als »gegenüber einer an einem funktionalen Religionsbegriff orientierten diffusen thematischen Ausdehnung«196) damit das »Zentrum christlichen Glaubens«197. Bei dem Rückgriff auf die Formulierung Langes führt Grethlein diese weiter, indem er einerseits die (a-)religiöse Pluralisierung der Gesellschaft sowie andererseits die elektronischen (digitalen) Medien und die dadurch neu entstandenen und sich weiterentwickelnden Kommunikationsformen in den Blick nimmt. Dabei setzt Grethlein (ähnlich wie Lange) den Begriff der Kommunikation kritisch von dem der Verkündigung ab198 und betont den symmetrischen und ergebnisoffenen (somit auch rezeptionsästhetischen oder zuweilen missverständlichen) Charakter kommunikativer Prozesse199 (Ablösung des Verkündigungsparadigmas durch das Kommunikations-paradigma)200. Dazu Hau schildt/Pohl-Patalong: »Gegenüber dem Begriff der ›Verkündigung‹ […] betont der Kommunikationsbegriff, dass die Kirche in ihrer Auftragserfüllung Menschen nicht als Empfänger einer Botschaft oder Objekte von Belehrung, son-
190 Vgl. u. a. Grethlein 2003, 130ff; ders. 2009, 4ff und ders. 2012a, 144 ff. 191 Vgl. Grethlein 2016. 192 AaO., 5 und 11. Zudem trägt Grethleins Kirchentheorie den Untertitel Kommunikation des Evangeliums im Kontext, vgl. Grethlein 2018a. 193 Angesichts der postsäkularen Gesellschaft beschreibt Lutz Friedrichs folgende notwendige pastorale Aufgabe: Die Reflexion der Bedingung der Möglichkeit zur Kommunikation des Evangeliums. Diese Reflexion sei nötig, da die Bedingung der Möglichkeit nicht mehr »automatisch« gegeben sei, vgl. Friedrichs 2014, 118 ff. 194 Grethlein 2016, 333. 195 Ebd. Durch den Gebrauch der Figur der Kommunikation de Evangeliums spricht Grethlein von einer »Neuformatierung der Kirchentheorie.« (Grethlein 2014a, 150) Dies bedeutet: »Sie wird in der Perspektive der Kommunikation des Evangeliums in eine Theorie der Sozialformen transformiert, innerhalb deren das Evangelium kommuniziert wird.« (ebd.). 196 Lück 2014, 206. Vgl. dazu auch Gräb 2014. 197 Vgl. Grethlein 2016, 10. 198 Vgl. dazu auch Schröder/Domsgen 2014, 8–10. 199 Vgl. aaO., 8 ff. Wilfried Engemann lehnt ein Verständnis des Begriffs als Genitivobjekt, als partitiver Genitiv und als genitivus subjektivus ab, vgl. Engemann 2014, 15 f. 200 Vgl. Gräb 2014, 61 und Meyer-Blanck 2014, 101.
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dern als (von Gott geschaffene und geliebte) Subjekte wahrnimmt.«201 Für die Aufgabe der Kommunikation des Evangeliums sieht Grethlein die Gemeinde im Allgemeinen und die Pfarrpersonen im Besonderen verantwortlich und bezeichnet diese folglich als Kommunikatoren des Evangeliums.202 Die Entscheidung Grethleins, das Konzept203 der »Kommunikation des Evangeliums« zur zentralen Kategorie (»Programmformel«204 bzw. »Leitbegriff«205 oder »Leitformel«206) (praktisch-)theologischen Forschens und Arbeitens zu machen, hat zu einem Diskurs über den Begriff im Allgemeinen und die Position Grethleins im Besonderen geführt. Gebündelt findet sich die Diskussion in dem Aufsatzband Kommunikation des Evangeliums von Michael Domsgen und Bernd Schröder (2014).207
5.1.1 Kommunikation und Evangelium »Allgemein gesprochen, bezeichnet der Begriff der Kommunikation (von lat. communicare: gemeinsam machen, vereinigen, mitteilen) den Austausch sprachlicher und nicht-sprachlicher Äußerungen zwischen Menschen.«208 Bei der Klärung des Begriffs Kommunikation209 bezieht sich Grethlein auf zentrale sozial- und kulturwissenschaftliche Einsichten der letzten Jahrzehnte und erschließt sich Kommunikation multiperspektivisch als »ein mehrfach komplexes Geschehen der Verständigung von Menschen«210 und stellt den Begriff so in einen größeren Diskurs.211 Die praktisch-theologische Konsequenz dieser 201 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 412. 202 Vgl. Grethlein 2016, 5. 203 So bezeichnet Grethlein selbst die theologische Figur, vgl. Grethlein 2014a, 144. 204 So Wilhelm Gräb, vgl. Gräb 2014, 61. 205 Vgl. aaO., 68. 206 Vgl. Meyer-Blanck 2014, 101. 207 Vgl. dazu besonders Domsgen/Schröder 2014. 208 Vollberg 2014, 52. 209 Vgl. Schwöbel 2003, 109–112. Engemann nennt acht Themenbereiche (Schwerpunkte), die es zu erarbeiten gilt, um den Vorgang der Kommunikation des Evangeliums zu untersuchen und zu beschreiben, vgl. Engemann 2014, 22. 210 Grethlein 2016, 158. Dazu Bernhard Kirchmeier: »Dass die Frage nach dem Zweck (und der Wirkung) der Kommunikation des Evangeliums für konkrete Menschen bei Christian Greth lein zu wenig im Blick ist, liegt wohl auch daran, dass er Kommunikationsprozesse als etwas zu verstehen gibt, das primär auf bestimmte Weise zwischen Menschen abläuft und weit weniger als etwas, das unmittelbar durch sie geschieht.« (Kirchmeier 2014, 37). 211 Vgl. Grethlein 2016, 146–159. Vgl. auch Grethlein 2014a, 145 f. Eine Klärung der hermeneutischen Rahmenbedingungen für die Kommunikation des Evangeliums erfolgt bei Grethlein – ausgehend von der Feststellung der pluralen Rezeption des Evangeliums – einerseits in der Darstellung der Ambivalenz von Religion(-serfahrungen) sowie durch die Unterscheidung von primärer und sekundärer Religionserfahrung. Er entdeckt in der Wertschätzung beider reli-
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Begriffsanalyse liegt für ihn darin, dass das Evangelium als Inhalt der Kommunikation keine feststehende, sondern eine im Kommunikationsprozess generierte Größe und somit ergebnisoffen ist. Dies soll kein Ausdruck von Beliebigkeit sein, sondern lediglich die Offenheit als kommunikations-theoretische Voraussetzung »für den innovativen und personenbezogenen Charakter des Evangeliums«212 darstellen.213 Grethlein geht davon aus, dass das Evangelium »als Inhalt von Kommunikation keine feststehende Größe, unabhängig von der Kommunikation [ist] […] [und deren] genaue Bedeutung […] erst im Kommunikationsprozess generiert [wird] und […] grundsätzlich ergebnisoffen bis hin zur Erschließung neuer Wirklichkeiten [ist].«214 Laut Grethlein folge dies der Logik der Ko-Konstruktion.215 Im Blick auf den aktuellen Stand der Kommunikationsforschung216 resümiert er: Schon diese kurzen Andeutungen zeigen, dass Begriffe wie ›Wort Gottes‹ oder ›Verkündigung‹ heutigen kommunikationstheoretischen Standards nicht mehr genügen. Zwar weisen sie zu Recht auf einen Bereich bei Kirche hin, der sich der Organisation entzieht. Doch suggerieren sie eine gleichsam vorkommunikative Eindeutigkeit, die gerade das verfehlt, was die multiperspektivische Kommunikationsforschung ergibt: die Ergebnisoffenheit jeder Kommunikation, die auf Verständigung in Fragen der Daseins- und Wertorientierung zielt.217
giöser Erfahrungen eine fruchtbare Spannung, die für die Kommunikation des Evangeliums einen hilfreichen Rahmen bietet, indem die Kommunikation sowohl Redundanz (primäre Religionserfahrung) als auch Selektion (sekundäre Religionserfahrung) bietet, vgl. Grethlein 2016., 183–190. 212 Grethlein 2016, 159. 213 Michael Meyer-Blanck fordert bei der Rezeption des Kommunikationsbegriffs in der Gegenwart die Erweiterung dieses Begriffs »auf das Ästhetische, also über das Informierende und Ethische hinaus.« (Meyer-Blanck 2014, 102). 214 Grethlein 2016, 159. 215 Vgl. aaO., 158 f. 216 Vgl. Grethlein 2012a, 145 f. und ausführlicher vgl. ders. 2016, 146–159. 217 Grethlein 2012a, 146. Laut Wilfried Engemann gehe Grethlein folglich »davon aus, dass sich die Frage nach der Kommunikation des Evangeliums primär nicht als Inhaltsfrage stellt, sondern als Frage nach einer auf ganzheitlicher Lebensdeutung basierenden Lebenspraxis.« (Engemann 2014, 23) Ziel dieses Ansatzes sei weniger der Transfer von Inhalten, sondern eine »Sinnarbeit aus Interesse an der Stimmigkeit des eigenen Lebens, zu deren Referenzrahmen das Deutungspotential der christlichen Tradition gehört.« (Ebd.) Damit werde – so Engemann – der Ansatz Ernst Langes um die Dimension der Deutung erweitert. Nimmt man wiederum die Formulierung Langes ernst, dass der Prediger mit den Menschen über ihr Leben im Licht der Verheißung (bzw. des Evangeliums) spricht (vgl. Lange 1976, 52–67), so denkt Lange m. E. die Kategorie der Deutung bereits mit. Zur Kritik an Lange vgl. Bohren 1981.
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Kulturhermeneutisch unterscheidet er die bereits oben (siehe § 2 Abs. 2.1) beschriebenen vier Dimensionen als »Grundperspektiven« auf die Kommunikation des Evangeliums (kulturübergreifend, kontextuell, kulturkritisch und kulturell wechselwirksam).218 Dabei sei es wichtig, den gesellschaftlichkommunikativen Rahmen zu kennen, in welchen hinein das Evangelium kommuniziert wird.219 Bei der Frage danach, was mit Evangelium gemeint ist220, plädiert Grethlein für eine »sorgfältige Klärung der leitenden Begriffe in biblischer Perspektive.«221 Folglich greift er auf die biblischen Formulierungen und Berichte zurück und fokussiert hierbei besonders die paulinischen Briefe und die Evangelien (v. a. die Synoptiker). Das neutestamentliche Verb zur Beschreibung der Kommunikation des Evangeliums (εὐαγγελίζομαι)222 erscheint im genus verbi als Medium und ist somit zwischen aktiver und passiver Form anzusehen: »So bildet bereits diese grammatische Form die Besonderheit von Kom-munikation als Mit-teilung ab, insofern wechselseitig gesendet und empfangen wird.«223 Inhaltlich identifiziert Grethlein die Gottesherrschaft als das zentrale Thema von Jesus.224 Drei aufeinander bezogene und weder zu trennenden noch zu hierarchisierende225 Modi der jesuanischen Kommunikation entdeckt Grethlein: a) Lehren und Lernen b) Gemeinschaftliches Feiern und c) Helfen zum Leben.226 Er betont, dass bei der kirchlichen Weiterführung dieser Kommunikationsmodi das kirchliche Handeln (im Gegensatz zu Jesu Handeln) ein vermitteltes sei, weshalb kirchlicher Kommunikation grundsätzlich ein symmetrisches Profil zukomme.227 Folglich gilt: »Kommunikation des Evangeliums ist also stets auf Jesus bezogen.«228 Die Kommunikation geschieht verbal und nonverbal und, »[d]eren Inhalt erschließt sich durch den Rückbezug auf Jesu Auftreten, Wirken und Geschick.«229 Grethlein betont den doppelten medientheoretischen Sinn
218 Vgl. Grethlein 2016, 190–195. 219 Vgl. aaO., 198–255. 220 Vgl. dazu Keller 2014b, 27–86, besonders 27–48. 221 Grethlein 2016, 160. 222 Vgl. Stecker 1981a, 173–176 223 Grethlein 2012a, 146. 224 Vgl. Grethlein 2016, 161–165. 225 Vgl. Grethlein 2018a, 44. 226 Vgl. Grethlein 2016, 165–169. Grethlein nimmt eine theologische Grundbestimmung der drei Modi der Kommunikation des Evangeliums anhand dieses Schemas vor: 1. Anthropologischer Hintergrund, 2. Biblische Grundlagen, 3. Historische Formen, 4. Zusammengang mit anderen Modi der Kommunikation des Evangeliums und 5. Grundfragen, vgl. aaO., 256–327. 227 Vgl. aaO., 169–171. 228 AaO., 170. 229 AaO., 171.
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von Evangelium als Übertragungs- und als Speichermedium230, welche stets eine aufeinander bezogene Interaktion fordern.231 Jan Hermelink ergänzt, dass bei der Identifikation des Evangeliums mit Wirken und Geschick Jesu nicht übersehen werden darf, dass neutestamentlich die Person Jesu und der Inhalt des Evangeliums untrennbar miteinander verbunden sind: »Seine [Jesu] Kommunikation der Gottesherrschaft impliziert – durchaus ausdrücklich – eine Kommunikation der eigenen Rolle, sie ist eine Art Christologie im (Selbst-)Vollzug.«232 Die drei jesuanischen Kommunikationsmodi erhalten für die Beschreibung der Kommunikation des Evangeliums als kirchliche Aufgabe bei Grethlein paradigmatischen Charakter, denn: »Lehr- und Lernprozesse, gemeinschaftliches Feiern und Helfen zum Leben bilden seitdem die wesentlichen Ausdrucksformen der Kommunikation des Evangeliums und damit der Nachfolge Jesu.«233 Dabei knüpft dieser Dreischritt an »allgemein menschliche Praxis und bestehende Traditionen an, rückt diese jedoch in den neuen Horizont der anbrechenden Gottesherrschaft.«234 Das Ziel der Kommunikation des Evangeliums beschreibt Grethlein so: Sie zielt darauf, die Gegenwart auf Gott hin durchsichtig zu machen, und zwar: • in Lehr- und Lernprozessen hinsichtlich der Wahrnehmung seines gegenwärtigen Wirkens und der Hoffnung auf sein zukünftiges Handeln, • im gemeinschaftlichen Feiern auf die Gleichheit der Menschen hin, die in deren Geschöpflichkeit und ihrem gemeinsamen Schüler-Verhältnis zu Jesus zum Ausdruck kommt, • im Helfen zum Leben durch die Entdeckung, dass in dem/der hilfsbedürftigen Nächsten Jesus Christus selbst begegnet.235
230 Zu den Begriffen vgl. aaO., 239 und 279. 231 Vgl. 171 f. 232 Hermelink 2014, 134. Hervorhebung im Original. Perry Schmidt-Leukel entdeckt in Greth leins Entwurf eher die Rückfrage nach dem Glauben Jesu selbst statt eine Orientierung an dem (neutestamentlich bezeugten) Glauben an Jesus, vgl. Schmidt-Leukel 2014, 162 ff. 233 Grethlein 2016, 171. 234 AaO., 182. 235 AaO., 328. Hervorhebung im Original. Macht die Praktische Theologie diese allgemeinen und basalen Vollzüge zu ihrem Thema, dann habe sie laut Wilhelm Gräb kein Thema mehr, das für sie spezifisch wäre. Formatiere man die Kommunikation des Evangeliums wiederum als religiöse Kommunikation, dann »können wir sie in ihrer allgemeinen, zum Menschsein führenden Bedeutung beschreiben und zugleich das Spezifische ausmachen, das der religiösen Kommunikation durch den Grundimpuls des Christentums zuwächst.« (Gräb 2014, 66), vgl. aaO., 66 f.
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Die Stärke dieser drei Modi beschreibt Michael Domsgen so: Kommunikation des Evangeliums betrifft den Menschen in allen seinen Dimensionen und ist nicht auf ein Sprachgeschehen zu beschränken. Zugleich wird Christsein ganz nah an das Menschsein gerückt. Die Kommunikationsmodi des Evangeliums sind nicht ganz andere als die grundlegenden menschlichen Kommunikationsmodi. Vielmehr gehören sie aufs Engste zusammen.236
Ähnlich wie Domsgen begrüßt auch Wilfried Engemann die Zuordnung zu den drei Modi der Kommunikation (»Meilenstein«), weil damit Vollzüge genannt sind, die jedem Menschen zugänglich und erreichbar sind. Dieser Ansatz, so Engemann, überwinde »binnenkirchliche Konzepte und auf pastorale Handlungsfelder begrenzte Methoden.«237 Engemann kritisiert jedoch, dass Grethlein die Bedeutung von Evangelium inhaltlich nicht fülle, sondern lediglich historisch-kritisch rekonstruiere und sich mit der Darstellung einer ergebnisoffenen Kommunikation begnüge, statt zu klären, was die Auswirkungen sind, die man von einer Kommunikation des Evangeliums erwarten kann (bzw. können sollte).238 Domsgen präzisiert »Notwendig wäre eine Zielbestimmung, die inhaltlich profiliert werden kann und gleichzeitig dynamisch genug ist, um unterschiedliche menschliche Verfasstheiten aufzunehmen.«239
236 Domsgen 2014, 78. 237 Engemann 2014, 26. Ähnlich vgl. Schröder 2014a, 141 f. 238 Vgl. Engemann 2014, 25 f. Ähnlich auch Domsgen 2014, 79 ff. Zur Frage nach dem Inhalt schreibt Kirchmeier: »Inhaltlich gibt mir Grethlein in der zuvor skizzierten Sprachgestalt u. a. zu verstehen, dass abseits konkreter Kommunikationssituationen nicht festgelegt werden kann, was Evangelium bedeutet. Für ihn ist ›Evangelium‹ als Inhalt von Kommunikation zunächst ein Fluidum, stets im Wandel begriffen, keinesfalls feststehend. Ohne die stetige Transformation der Inhalte sei Kommunikation des Evangeliums schlichtweg undenkbar. Die Bedeutung des Signifikanten ›Evangelium‹ realisiert sich stets erst bzw. immer wieder neu in konkreten Kommunikationssituationen, sodass lehrmäßige, inhaltliche Fixierungen von ›Evangelium‹ geradezu dessen Kommunikation behindern.« (Kirchmeier 2014, 41f – Hervorhebung im Original). 239 Domsgen 2014, 81. Im Folgenden reflektiert Domsgen das Konzept des »Empowerment« als mögliches Ziel der Kommunikation des Evangeliums vor dem Hintergrund von Lebensbegleitung, vgl. aaO., 81–85. Der Kritik an Grethlein könnte man zumindest entgegenhalten, dass dieser sich über die besondere Profilierung der drei Kommunikationsformen als Kommunikation des Evangeliums bereits 2011 geäußert hat: »Lehren und Lernen, Feiern und Helfen sind aber keine spezifischen christlichen Tätigkeiten. Vielmehr ist das Besondere am Wirken Jesu, dass er im Verbund dieser Kommunikationsformen die Erfahrung der Nähe der Gottesherrschaft eröffnete. Hier stellt sich in seiner Nachfolge eine eminent theologische Aufgabe: die genannten allgemein menschlichen Kommunikationsformen auf die Nähe der Gottesherrschaft hin durchsichtig zu machen.« (Grethlein 2011, 5).
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5.2 Was ist das Evangelium und was bewirkt die Kommunikation dessen? Die dargestellte Zurückhaltung bei der Darlegung von Inhalten des Evangeliums bei Grethlein dürfe laut Engemann nicht dazu führen, dass eine Reflexion darüber ausbleibt, was die Konsequenzen (oder Wirkungen) für einen Menschen sind, der an der Kommunikation des Evangeliums Anteil hat bzw. welche Implikationen und Parameter ebendieser spezifischen Kommunikation entsprechen und gerecht werden.240 So sehr diese Forderung Engemanns zutreffend ist, stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf eine inhaltliche Füllung des Begriffs Evangelium so selbstverständlich ist, wie die von Engemann beschriebene Einsicht, dass »unter den zahllosen und facettenreichen Wirkungen der Kommunikation des Evangelium in unterschiedlichsten Situationen kein[…] Einzelinhalt heraus[ge]filter[t] […] [werden] [kann], um ihn als ›das Evangelium‹ zu deklarieren.«241 (Ähnlich Michael Domsgen: »Denn letztlich geht es im Evangelium nicht um Inhalte«.242)243 Man kann hier kritisch einwenden, dass ein völliger Verzicht auf eine inhaltliche Bestimmung die Antwort schuldig bleibt, was überhaupt kommuniziert werden soll und nicht nur wie und wer mit wem kommuniziert. Denn so zutreffend die von Grethlein konstatierten kommunikationstheoretischen Beobachtungen sind, werfen sie dennoch theologische Fragen auf: Kann der Inhalt des Evangeliums in dem Modus der Kommunikation aufgelöst werden (i. S. v. »the medium is the message«244)? Oder anders: Was wird kommuniziert, wenn vorher nicht feststeht, was kommuniziert (i. S. v. mitgeteilt) werden soll? Gilt die Ko-Konstruktion radikal, d. h. dass die Kommunikanten den Inhalt des Evangeliums im Zuge ihrer Kommunikation (stets) neu entstehen lassen? Diese Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass der Begriff der Kommunikation die Deutungshoheit über den Begriff Evangelium gewonnen hat 240 Engemann vermisst die Reflexion des Zwecks der Kommunikation des Evangeliums bei Grethlein, vgl. Engemann 2014, 26 ff. Kirchmeier widerspricht und entdeckt diese in dem Modus Helfen zum Leben – da dieser Modus das Ziel »Leben« angibt, vgl. Kirchmeier 2014, 46 ff. Konkreter beschreibt er den bei Grethlein dargestellten Zweck: »Grethlein beschreibt den christlichen Grundimpuls hier als etwas, das Menschen neu auf ihr Leben hin ausrichtet.« (AaO., 47). 241 Engemann 2014, 27. 242 Domsgen 2014, 77. 243 Lutz Friedrichs schreibt: »Nicht das, was mit der Lehre der Kirche übereinstimmt, zählt, sondern das, was der eigenen Sinnsuche förderlich ist.« (Friedrichs 2014, 117). Damit beschreibt er durchaus einen Konsens, den Michael Domsgen so ausdrückt: »Gleichwohl lässt sich festhalten, dass die Kommunikation des Evangeliums ihren Zweck nicht in sich selbst trägt, sondern anthropologisch bestimmbar sein muss.« (Domsgen 2014, 81). 244 Maurer 2003, 96. Hervorhebung im Original.
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und letzterer von ersterem her beschrieben wird. Die folgende Aussage Greth leins macht deutlich, dass eine inhaltliche Beschreibung des Evangeliums in dem von ihm präsentierten Kommunikationsparadigma nicht intendiert ist: »[D]as Evangelium von der liebenden und wirksamen Gegenwart Gottes erschließt sich Menschen nur im gegenseitigen Austausch und ist keine feststehende Doktrin, der gegenüber Wissende und Unwissende unterschieden werden können.«245 Dies führt zu der Frage, was mit dem Begriff Evangelium eigentlich ausgesagt ist. Dieser Frage soll sich im Folgenden angenähert werden. Hierzu soll –mit Engemann – zwischen dem Evangelium an sich und den Auswirkungen der Kommunikation des Evangeliums unterschieden werden. Wilhelm Gräb betont in seiner Kritik an Grethleins Entwurf, dass der Begriff Evangelium deshalb nicht zur Beschreibung des Gegenstandes der Praktischen Theologie geeignet sei, da dieser »nur unter offenbarungstheologischen Voraussetzungen und somit nur im Kontext einer ganz spezifischen Theologieformation«246 funktioniere. Diese Beobachtung hilft den Begriff Evangelium näher zu bestimmen. Denn nur unter Berücksichtigung seiner Herkunft247, kann der Begriff auch inhaltlich angemessen gefüllt werden – was m. E. zwingend notwendig ist, wenn man klären möchte, wie eine Kommunikation des Evangeliums sowohl dem Gegenstand als auch den Beteiligten gegenüber angemessen geschehen kann. Dazu Michael Meyer-Blanck: »›Kommunikation des Evangeliums‹ ist zwar damit psychologisch, soziologisch und medial eine sinnvolle Beschreibung; bei dieser muss jedoch immer deutlich sein, dass der dabei kommunizierte Inhalt ein spezifischer ist.«248 Die dargestellten Beobachtungen legen eine notwendige inhaltliche Beschreibung des Evangeliums nahe, die als Orientierung dafür dient, in welchem Licht man das Leben der Menschen sieht, wenn man es im Licht des Evangeliums sieht. Dazu sollen im Folgenden drei Fragen erörtert werden: 1. Wie lässt sich der Inhalt des Evangeliums beschreiben? 2. Was ist eine dem Evangelium angemessene Kommunikation? 3. Wie lassen sich die Auswirkungen einer gelungenen Kommunikation des Evangeliums beschreiben?
245 Grethlein 2016, 169. 246 Gräb 2014, 65. 247 Vgl. Koester 2008, 1735f; ders. 2008, 1736–1741; Strecker 1981b, 176–186. Zum Evangelium als Literaturgattung vgl. Schnelle 2005, 175–185. Zum Evangelium als Proklamation und Vergegenwärtigung des Heils vgl. Hahn 2011b, 413–439 und zur Verkündigung des Evangeliums vgl. aaO., 625–658. Zum Offenbarungs-begriff vgl. Hahn 2011b, 144–167 und Leonhardt 2009, 146–161. Zu dem Paar Gesetz und Evangelium vgl. Leonhardt 2009, 334–343. 248 Meyer-Blanck 2014, 105.
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5.2.1 Wie lässt sich der Inhalt des Evangeliums beschreiben? Hauschildt/Pohl-Patalong unterstreichen, dass »[s]innvolle Kommunikation […] immer auf bestimmte Inhalte bezogen«249 und somit kein »Selbstzweck« ist. Folglich könne der Kommunikationsbegriff nicht vom Genitiv »des Evangeliums« gelöst werden, ohne »sowohl Ursache wie Gegenstand der Kommunikation«250 zu verlieren und inhaltsleer zu werden. Hauschildt/Pohl-Patalong beschreiben den Inhalt des Evangelium so: Mit ›Evangelium‹ wird die Botschaft bezeichnet, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, gekreuzigt und auferweckt wurde und auf diesem Weg in der Perspektive seines Reiches alle Menschen, die an ihn glauben, hinein nimmt in seine Liebe und seinen Heilswillen für die Welt. Dieser Inhalt ist Gegenstand des Auftrags der Kirche. Von ihm her sind die Kommunikationsvorgänge der Kirche zu betrachten, und seine Relevanz im und für das Leben der Kommunikationspartner stellt das Kriterium für gelungene Kommunikation dar.251
Wilfried Härle beschreibt einleitend zur Christologie den christlichen Glauben als »Glaube an das Evangelium von Jesus Christus«252. Dabei unterscheidet er zwischen der »Botschaft von Jesus Christus als Evangelium«253 und dem »Evangelium als der Botschaft von Jesus Christus«254. Härle betont, dass bei aller Vielfalt, mit der der Inhalt des Evangeliums beschrieben wird (Reich Gottes, Heil, Gerechtigkeit Gottes etc.), das Evangelium selbst (als die Botschaft Jesu [Mk 1,14] bzw. als die christliche Botschaft [Röm 1,1]) untrennbar mit dem Namen Jesus Christus verbunden sei. Dabei ist die Doppeldeutigkeit des Genitivs als Anzeige von Ursprung (genitivus auctoris) und Inhalt (genitivus obiectivus) des Evangeliums sachgemäß. Die untrennbare Verbindung mit Jesus von Nazareth als historischer Person zeigt, dass der christliche Glaube sich »der Begegnung mit
249 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 413. Hervorhebung im Original. 250 Ebd. 251 AaO., 413 f. Hervorhebung im Original. Ähnliches schreibt Lesslie Newbigin: »Der Inhalt des Evangeliums ist Jesus Christus in seinem ganzen Wirken, seinem Tod und seiner Auferstehung. Dies ist das Evangelium und nichts Anderes. Jesus ist, wer er ist, und obwohl unsere Wahrnehmung von ihm durch unsere eigene Situation und die geistige Bildung unserer Kultur geprägt ist, müssen wir ihn sehen, wie er wirklich ist. Deshalb müssen wir dem Zeugnis der ganzen Kirche an allen Orten und zu allen Zeiten zuhören. Sein Wort von Gericht und Gnade kommt auf einzigartige und oft geheimnisvolle Weise zu jeder Person.« (Newbigin 2017, 177). 252 Vgl. Härle 2007a, 303–307. 253 Vgl. aaO., 303 f. 254 Vgl. aaO., 304 f. Edmund Schlink setzt noch grundsätzlicher an und bezeichnet das Evangelium als »Voraussetzung kirchlicher Lehre«, vgl. Schlink 2005, 1 ff.
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einer Person verdankt, von der gesagt werden konnte und kann: In ihr hat Gott sich – als Liebe – erschlossen.«255 Die Heilsbedeutung Jesu liegt sowohl in seinem Werk als auch seiner Person und diese Einheit ist unauflöslich. Dabei besteht ein sachliches Gefälle von der Person zum Werk und ein erkenntnistheoretisches Gefälle vom Werk zur Person.256 Insofern ist ein Nachzeichnen der Verkündigung, des Wirkens und Geschicks Jesu (Härle), wie auch Grethlein es vorschlägt, sachgemäß und angemessen, kann jedoch von der Person Jesu und seiner Heilsbedeutung nicht getrennt werden.257 Oder mit Worten von Michael Herbst: »Jesus selbst ist das Evangelium in Person.«258 Dies bedeutet, dass bei aller Vielfalt, die dem Evangelium innewohnt und bei aller Individualität, mit der sich das Evangelium unterschiedlichen Menschen zu unterschiedlicher Zeit erschließt, gilt, dass »in jedem Fall, ohne Ausnahme, […] uns das Evangelium, wenn es denn Evangelium ist, in Verbindung mit Jesus [bringt].«259 Edmund Schlink setzt bei der Beschreibung des Evangeliums bei einem der ältesten christlichen Bekenntnisse überhaupt ein: »Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.« (1Kor 15,3–5). Dieses Bekenntnis, welches sehr wahrscheinlich vor der Konversion des Paulus verfasst wurde260, bündelt den zentralen Inhalt der Christusbotschaft und somit des Evangeliums. Schlink hält im Anschluss an 1Kor 15,2 (»Ich erinnere euch […] an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet.«)261 fest, dass das Evangelium die Botschaft von Gottes Taten in und durch Jesus von Nazareth ist. Es ist aber »zugleich Gottes Tat an denen, die das Evangelium hören.«262 Es ist also nicht nur der Bericht über das Wirken und Verkündigung Jesu, sondern »es ist zugleich das Wort, durch das Jesus Christus heute als der Lebendige handelt. […] So ist das Evangelium Gottes tätiges Wort.«263 Schlink schließt den Kreis, indem er darauf hinweist, dass das Evangelium als die Botschaft von
255 Härle 2007a, 305. 256 Vgl. aaO., 306 f. und 307–339 (zum Heilswerk Jesu Christi) und 339–356 (zur Person Jesu Christi). Vgl. auch Leonhardt 2009, 278–296 und Schlink 2005, 258–260 und 320–327. 257 Vgl. Herbst 2017b, 6 f. 258 AaO., 6. Als die zwei Themen des Evangeliums entdeckt Herbst: a) der einzelne Mensch (sowie seine Rettung und Umkehr) und b) das Reich Gottes als Erneuerung der Erde, vgl. ebd. 259 AaO., 9. 260 Vgl. dazu Schrage 2001, 18–25. 261 Schlink formuliert im Anschluss an Paulus: »Durch das Evangelium werdet ihr gerettet« (Schlink 2005, 3). 262 Ebd. 263 Ebd.
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Jesus Christus deutlich macht, dass Gott die Menschheit durch das Evangelium anspricht und dass das Wort Gottes, das an die Menschen ergeht, Jesus Christus selbst ist.264 Das Evangelium ist aber nicht ein guter Ratschlag oder eine Aufforderung, sondern eine gute Botschaft, nämlich diejenige von der liebevollen und rettenden Zuwendung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus und damit der Erfüllung der Verheißungen und der Forderungen Gottes.265 Oder wie es Christoph Schwöbel formuliert: »Das Evangelium ist in seinem Kern die Zusage, daß [sic!] Gott seine Beziehung zur Menschheit in Jesus Christus schöpferisch wiederhergestellt hat.«266 Somit ist das Evangelium das Wort von Inkarnation, Leiden, Sterben und Auferstehen Christi oder kurz: das Wort vom Kreuz267 (vgl. 1Kor 1,18 ff.).268 Die Anrede Gottes ist dabei eine doppelte: Rettung und Gericht. Zuspruch und Anspruch. Einladung und Warnung.269 Die Rede von der Kommunikation des Evangeliums weist darauf hin, dass das Evangelium eine Botschaft ist, die per264 Vgl. aaO., 3 f. und 277–288. 265 Vgl. Keller 2014b, 28–49 und Herbst 2017b, 7–10. 266 Schwöbel 2002, 349. Hervorhebung im Original. 267 Vgl. dazu Theißen 2013, 535–540. Henning Theißen schreibt über die Rekursivität des Wortes vom Kreuz: »Mit Barth kann man den Zeit-Raum, den das Wort vom Kreuz der Kirche eröffnet, als sakramentales Kontinuum zwischen dem christologischen und dem ekklesiologischen Wort vom Kreuz vom Kreuz bezeichnen. Die Kirche steht in solch sakramentaler Kontinuität in der Nachfolge des Gekreuzigten, der sie selbst dazu beruft, ohne dass der kategoriale Unterschied zwischen Christi eigenem vom Wort und dem der Kirche je aufzuheben wäre. Der Zeitstruktur nach bedeutete dies, dass das Wort vom Kreuz in die Zukunft der es zu tradierenden Zeugnisgemeinschaft weist, indem es auf die unvordenkliche Vergangenheit des Bezeugten verweist.« (AaO., 539f – Hervorhebung im Original). Zum trinitarischen Zeugnis Gottes und dem Zeugnis des Geistes im Bezug auf die Gemeinde und die »Welt« (in johanneischer Tradition) vgl. Assel 208, 1853. 268 »›Evangelium‹ ist die Botschaft von Jesus Christus, im Entscheidenden das Wort vom Kreuz, das immer zugleich das Wort von dem auferstandenen Gekreuzigten ist.« (Schlink 2005, 519f). Vgl. auch Herbst 2017b, 6f und Söding 1997: »Der Angelpunkt der paulinischen Theologie ist die Verkündigung des Gekreuzigten als Sohn Gottes. In der Berufung vor Damaskus grundgelegt (Gal 1,15f), kristallisiert sich das ›Wort vom Kreuz‹ (1Kor 1,18) in den Kontroversen, die der Apostel mit seinen Gemeinden über die Wirksamkeit des Geistes und die Geltung des Gesetzes zu führen hat, als Zentrum seines theologischen Denkens heraus. Es ist zugleich die Antriebsfeder seines missionarischen und das Kriterium seines pastoralen Wirkens. Die Kreuzestheologie, pneumatologisch aufgeschlossen und rechtfertigungstheologisch ausgedeutet, steht einzigartig im Neuen Testament da, weil sie in schonungsloser Offenheit nicht nur das Daß [sic!], sondern auch das Wie des Sterbens Jesu am Fluchholz (Gal 3,13) bedenkt. Gerade wegen seiner Anstößigkeit (vgl. 1Kor 1,23) ist das ›Wort vom Kreuz‹ aber auch von singulärer Relevanz in der Glaubenssituation der Gegenwart, die sich mit dem ›Lernen unter dem Kreuz‹ so schwer tut und dringend auf jene Lektionen angewiesen ist, die vom gekreuzigten Jesus selbst erteilt werden und in der Theologie zur Sprache kommen müssen.« (AaO., Vorwort. Hervorhebung im Original). 269 Vgl. Schlink 2005, 5 ff.
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formative Kraft besitzt, denn »[d]as Evangelium ist Botschaft und Vollzug der Versöhnung des von Gott entfremdeten Menschen mit Gott und so Zusage der Heilung der zerbrochenen Beziehung zwischen Gott und Mensch.«270
5.2.2 Was ist eine dem Evangelium angemessene Kommunikation? Die von Christian Grethlein (und anderen) gewählte Formulierung »Grundimpuls des Christentums«271 (oder »Christusimpuls«272 bzw. »Jesusbewegung«273), ist insofern auffällig, da sie deistisch anmutet, so als ob Christus vor zweitausend Jahren einen Impuls ausgesandt hat, der seither seine Kreise zieht. Die Bedeutung des Auferstandenen und im Heiligen Geist gegenwärtigen Herrn wird von Grethlein nicht weiter reflektiert und damit entweder schweigend von ihm vorausgesetzt oder sie spielt als Kategorie keine Rolle bei seiner Darstellung der Kommunikation des Evangeliums. Anders verhält es sich bei Michael MeyerBlanck, der betont, dass das kommunikative Proprium einer Kommunikation des Evangeliums darin besteht, dass dieses anamnetisch, epikletisch und performativ ist, da diese Kommunikation auf den Urheber derselben verweist und mit dessen Anwesenheit274 rechnet: »Die Predigt ist nicht Information oder Instruktion, sondern Kommunikation. Das bedeutet aber im theologischen Zusammenhang für die kommunikative Rede vom Evangelium her: Wie der Ritus ist auch die Predigt Anamnese und Epiklese mit performativer Qualität.«275 Eine Kommunikation, die von dieser Tatsache absieht, ist dem Evangelium nicht angemessen, da sie Gefahr läuft, göttliches Wirken durch menschliche Aktivität zu ersetzen, denn: »Die Gotteserkenntnis ist nicht unser Werk.«276 Die
270 Schwöbel 2002, 425. Zur »närrischen Berufsperspektive« des Pfarrberufs vgl. Deeg 2018, 76– 79. 271 Vgl. Grethlein 2016, 160 u.ö. 272 Vgl. Gräb 2014, 69 u.ö. 273 Vgl. aaO., 68 f. 274 Ähnlich Martin Nicol: »Predigt ist primär Information über den christlichen Glauben, nicht Instruktion zu christlichem Leben, sondern Reden und Hören in der Gegenwart des auferstandenen Herrn.« (Nicol 2005, 52). 275 Meyer-Blanck 2014, 105. 276 Schlink 2005, 9. Dazu Newbigin: »Wir sind natürlich immer wieder aufgefordert, aufmerksam auf die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen zu hören, und wir sollen versuchen, ihre Situation zu verstehen. Aber weder diese Wünsche und Bedürfnisse noch irgendeine auf irgendwelchen Grundsätzen basierende Situationsanalyse, deren Quelle nicht die Bibel ist, können der Ausgangspunkt für Mission sein. Der Ausgangspunkt ist die Offenbarung Gottes selbst, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Die Dynamik der Mission ist die Gegenwart des Heiligen Geistes mit der Kraft, der Welt die Augen für die Sünde zu öffnen und die Wahrheit des Evangeliums in jedes menschliche Herz zurückzubringen. Die richtige Kontextualisierung findet statt, wenn es eine Gemeinschaft gibt, die treu nach dem Evangelium und in der gleichen
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Performanz der Evangeliumskommunikation ist den Kommunikanten insofern entzogen, als dass die Erkenntnis des Evangeliums als göttliches Wort und Anrede eine Tat Gottes ist. Die Erkenntnis Gottes und seines Evangeliums ist ein Werk des Heiligen Geistes (vgl. 1Kor 2,11 ff. und Joh 16,13), der Ohren, Augen und Herz öffnet und den Menschen aus der Selbstverkrümmung und somit zur Antwort auf die göttliche Anrede befreit.277 Folglich gehören »Gotteserkenntnis und Buße […] untrennbar zusammen.«278 (vgl. auch Mk 1,14) Also ist die Erkenntnis Gottes ein Akt des Glaubens: In der Annahme des Evangeliums, die Umkehr und Selbsthingabe an Christus beinhaltet, erkennt der Mensch die Realität Gottes und somit entsteht der Glaube durch das Zeugnis des Evangeliums in Wort und Sakrament.279 Perry Schmidt-Leukel spricht von der Kommunikation einer Realität, die im Glauben als Realität erfahren wird.280 Dabei ist die anabatische Bewegung des Menschen stets nur die Reaktion auf die katabatische Bewegung Gottes: »Die Gotteserkenntnis erhebt sich nicht vom Menschen empor zu Gott, sondern sie ist in Jesus Christus durch den Heiligen Geist zu uns Menschen herabgekommen. Sonst könnten wir Gottes nicht gewiß [sic!] sein.«281 Somit ist Gottes Werk ein inneres und ein äußeres: »In demselben Akt redet er uns an durch sein Wort von außen und schließt uns für sein Wort auf von innen durch den Heiligen Geist.«282 Dass sich diese Begegnung ereignet, ist nicht verfügbar und entzieht sich letztlich dem Zugriff des Menschen – unabhängig von aller gelungenen Kommunikation. Diesen theologischen Vorbehalt muss eine Theorie der Kommunikation des Evangeliums berücksichtigen, um ihrem Gegenstand angemessen zu sein. Insofern rechnet und verweist eine dem Evangelium angemessene Kommunikation auf das Handeln Gottes in Vergangenheit,
aufwendigen Identifikation mit den Menschen in ihren tatsächlichen Situationen lebt, wie wir es in dem irdischen Wirken Jesu sehen. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, vollbringt der souveräne Geist Gottes sein eigenes überraschendes Werk.« (Newbigin 2017, 178). 277 Zur notwendigen Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Tun vgl. Schwöbel 2002, 345–377. Zum Werk des Heiligen Geistes vgl. besonders aaO., 350–353. Vgl. auch die Ausführungen von Matthias Clausen zu Menschliche Kommunikation und das Wirken des Heiligen Geistes, vgl. Clausen 2010, 52–55. 278 Schlink 2005, 8. 279 Vgl. aaO., 8–10 und 21–27. »Die Kirche wird durch das Wort Gottes geschaffen, weil dieses die menschliche Antwort des Glaubens provoziert. ›Das Wort weckt den Glauben. Der Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Wort.‹ Das Wort Gottes schafft die Gewißheit [sic!], die den menschlichen Akt des Glaubens möglich macht. […] Dieser Glaube ist die einzig angemessene Antwort auf das Wort Gottes, durch das Gott die Kirche schafft, indem er den Glauben schenkt« (Schwöbel 2002, 350f). 280 Vgl. Schmidt-Leukel 2014, 164 ff. 281 Schlink 2005, 9. 282 Ebd.
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Gegenwart und Zukunft und ruft bei der Einladung zum Glauben zugleich zur Umkehr auf. Schlink fängt diese theologische Einsicht ein, indem er das Erkennen Gottes als ein Erkannt-werden (oder Ergriffen-werden) durch Gott beschreibt. Im Erkannt-werden durch Gott kann sich der Mensch »in seiner geistig-leiblichen Ganzheit mit seiner Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft Gott anvertrauen und sich in Gottes rettender Liebe geborgen wissen«283 und diese Geborgenheit gründet in der Sendung Gottes. Folglich kann Bekenntnis und Lob des dreieinen Gottes als Folge und Auswirkung der gottgewirkten Erkenntnis Gottes durch die menschliche Kommunikation des Evangeliums beschrieben werden.284 »So antwortet die Kirche Gott mit dem Lobpreis des dreieinigen Gottes.«285
5.2.3 Wie lassen sich die Auswirkungen einer gelungenen Kommunikation des Evangeliums beschreiben? Hauschildt/Pohl-Patalong betonen im Anschluss an Martin Luther, dass die Kommunikation des Evangeliums nicht von ihren Resultaten zu trennen sei, sondern dass Ziel der Kommunikation darin bestehe, dass das Evangelium mit den Menschen so kommuniziert wird, dass sie dieses als relevant für ihr Leben und Handeln identifizieren. Dies bedeutet: »Entscheidend ist also nicht, ob die Botschaft ausgerichtet wird, sondern ob sie ankommt.«286 Wilfried Engemann identifiziert die Auswirkungen der Kommunikation des Evangeliums mit einem »Leben aus Glauben« in dem Sinne, dass der Mensch als Mensch zum Vorschein kommen soll und sich ein positives Lebensgefühl der Freiheit, Gelassenheit und Hingabe aneignet. Engemann sieht im Glauben eher ein Selbst- und Lebensverhältnis denn die Bejahung bestimmter Inhalte des kirchlichen Bekenntnisses.287 In Anlehnung an Engemann hat sich für Bernhard Kirchmeier die Kommunikation des Evangeliums dann ereignet, wenn von einem Menschen »›plötzlich‹ die Erfahrung gemacht wird, wieder Subjekt des eigenen Lebens (und Glaubens) zu sein.«288 Die beschriebenen Folgen gelungener Kommunikation des Evangeliums sind sehr allgemein, was ihnen eine hohe Anschlussfähigkeit verleiht, jedoch sind sie dadurch auch sehr
283 AaO., 10. 284 Vgl. aaO., 9 f. 285 AaO., 10. 286 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 414. 287 Vgl. Engemann 2014, 28–32. 288 Kirchmeier 2014, 44. Oder Bernd Schröder: »Die Assistenz der Kirche an den Getauften […] zielt primär […] auf die Subjektwerdung der Getauften in ihrem Verhältnis zu Gott, zu Anderen und sich selbst.« (Schröder 2014a, 159).
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unspezifisch. Freiheit wovon? Hingabe an wen? Wie angemessen ist die Rede vom Subjekt des eigenen Glaubens angesichts der Tatsache, dass der Glaube eine Gabe Gottes ist? Insgesamt fällt die Abwesenheit von theologischen Bezügen auf. Gerade angesichts der Pluralisierung der weltanschaulich-religiösen Orientierungen in der Gesellschaft steht die Kirche »vor der Herausforderung ausdrücklich zu machen, worin die spezifische Identität ihrer Botschaft […] besteht.«289 Konkreter formuliert Michael Herbst die Folgen der Begegnung mit dem Evangelium: Wenn mich das Evangelium erreicht, meinen Kopf aufklärt und mein Herz berührt, dann kann ich aufatmen und anpacken. Ich kann aufatmen: Ich darf sein. Mit allem. Trotz allem. Mein Platz im Leben und bei Gott ist außer Gefahr. Ich darf einfach sein. Und darum kann ich anpacken, wo es nötig ist, dem anderen zum Guten. Um mich muss ich nicht mehr besorgt sein, um mich muss sich nicht mehr alles drehen. Ich bin frei und darum kann ich anpacken. Und falls mir das Anpacken wieder einmal zu wichtig wird, dann werde ich erinnert: Ich darf aufatmen. Mein Anpacken ist es nicht, das mir erlaubt aufzuatmen, aber mein Aufatmen ist es, das mir möglich macht anzupacken. Am Anfang und am Ende steht Aufatmen: Ich darf bei Jesus einfach sein.290
Sowohl die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium291 sowie der Bezug auf die Person Jesus Christus liefern Kriterien zur Bewertung der kommunikativen Auswirkungen. Erkennt ein Mensch, dass er durch den dreieinigen Gott erkannt und durchschaut ist, wird ihn diese Erfahrung aus seiner Verkrümmung in sich selbst befreien und ihn aufrichten als geliebtes und gerechtfertigtes Geschöpf Gottes, welches sich die Zuwendung Gottes nicht verdienen292, sondern ihrer aufgrund des Handelns Gottes in Jesus Christus gewiss wird. Diese Gewissheit ist ein Produkt des pneumatischen Zeugnisses im Herzen des so angesprochenen Menschen (vgl. Röm 5,5 und 8,16), der dadurch Anteil an Gottes Liebe bekommt und befähigt wird, auf Gottes Anrede zu reagieren und darin seine Bestimmung als Ebenbild Gottes (der Mensch kommt als Mensch zum Vorschein) findet. Dieses (neu-schöpferische) Wirken Gottes (vgl. 2Kor 5,17) öffnet die Augen für die Realität der Trinität (erkenntnistheoretisches Gefälle von Werken zur Person),
289 Schwöbel 2002, 384. 290 Herbst 2017b, 7. 291 »Da, wo das Gesetz mich trifft, da wartet Jesus und überrascht mich mit dem Evangelium. Und mehr kann das Gesetz auch nicht leisten. Es treibt uns in die Arme Jesu, der am Kreuz auf uns wartet.« (AaO., 10). Zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vgl. auch Schlink 2005, 518–524. 292 Siehe dazu die Ausführungen von Michael Herbst unter der Überschrift Unser inneres »Betriebssystem« ist vom Gesetz geprägt und nicht vom Evangelium, vgl. Herbst 2017b, 9 f.
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mit der Folge der Anbetung Gottes. »Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus überwindet die Verblendung der Sünde und erschließt die Wahrheit über Gottes Beziehung zu seiner Schöpfung als seine Gnade und Treue, durch die er dem menschlichen Widerspruch der Sünde widerspricht.«293 Die persönliche und existentielle Erfahrung der Realität von Gottes Liebe und Treue angesichts menschlicher (persönlicher) Sünde und die damit einhergehende Erkenntnis der Taten Gottes294 äußert sich in der Anerkennung des göttlichen Handelns sowie in Dankbarkeit und Anbetung Gottes.295 Insofern kann die Anbetung des dreieinigen Gottes aufgrund existentieller Betroffenheit als Auswirkung der Kommunikation des Evangeliums beschrieben werden. Diese Ausführungen verdeutlichen freilich, dass das positive Resultat der Kommunikation des Evangeliums nicht verfügbar und somit menschlichem Wollen, Planen und Handeln entzogen ist. Es ist ein Resultat des Wirkens des Heiligen Geistes und es ist der Ambivalenz der Rezeption durch den Kommunikationspartner unterworfen.296 »Diese – klassisch als Gegenüber von Gotteswerk und Menschenwerk beschriebene – Spannung […], die für den kirchlichen Auftrag in der Welt grundsätzlich kennzeichnend ist, lässt sich mit dem Kommunikationsbegriff anschlussfähig und plausibel machen.«297
5.3 Kommunikation des Evangeliums als Bezeugung des Handelns Gottes Die grundsätzliche Orientierung Grethleins an den drei Modi, in denen Jesus kommuniziert hat, weist (bei aller theologischen Berechtigung und Angemessenheit!) eine Schwäche auf: Sie tendiert dazu, Jesus als kommunikatives Vorbild zu verstehen, als ob die richtige Art der Kommunikation die Gegenwart Gottes erzeugt. Dazu Grethlein: »Erst gemeinsam machen sie [die drei Modi der Kommunikation] die liebende und wirksame Gegenwart Gottes erfahrbar.«298 Dieser Satz legt nahe, dass die liebende und wirksame Gegenwart Gottes erst dann erfahren werden kann, wenn alle drei Modi vorhanden sind. Bedeutet dies, dass Gott von menschlichen Kommunikationsbemühungen abhängig ist? Jesus als kommunikatives Vorbild unterschätzt die Bedeutung der Person Jesu Christi als Wort Gottes und Retter: »Nur ist Jesus eben nicht zuerst und nicht 293 Schwöbel 2002, 350. 294 Vgl. dazu Schlink 2005, 59–64. 295 Vgl. auch aaO., 64 f. 296 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 414 f. 297 AaO., 415. Hervorhebung im Original. 298 Grethlein 2016, 172.
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vor allem ein Vorbild oder Beispiel. Er ist zuerst und vor allem eine Gabe und ein Geschenk an uns. Nimm hin und iss, glaube, empfange, atme auf, nimm hin und iss: Jesus für Dich gegeben, das sagt das Evangelium.«299 Christoph Schwöbel weist auf die reformatorische Notwendigkeit hin, streng zwischen menschlichem und göttlichem Handeln zu unterscheiden: Gottes Handeln in der Schöpfung, der Offenbarung und der Inspiration begründet die Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen, in dem Gott der schöpferische Grund ihrer Existenz ist und durch die er die Wahrheit über sein Verhältnis zur Menschheit erschließt und es Menschen ermöglicht, die Wahrheit der Offenbarung als Gewißheit [sic!] des Glaubens anzunehmen. Das Handeln Gottes des Vaters, des Sohnes und des Geistes macht menschliches Handeln möglich und befähigt Menschen in Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers zu handeln, der in Christus durch den Geist erschlossen und gewiß [sic!] gemacht wird. Aufgrund dieser Unterscheidung können göttliches und menschliches Handeln niemals auf derselben Ebene konkurrieren oder kooperieren. Gottes Werk ist immer die Bedingung der Möglichkeit allen menschlichen Handelns.300
Aus diesem Grund eignet sich für die Kommunikation des Evangeliums der Modus der Bezeugung301 des göttlichen Wirkens und Tuns.302 Wie in § 8 dargestellt wurde, hat Gott eine Mission: Er erbarmt und offenbart sich, rettet, erneuert und beauftragt dann die Kirche als das »von ihm erworbene[…] und
299 Herbst 2017b, 8. 300 Schwöbel 2002, 347 f. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Benjamin Stahl. 301 Henning Theißen unterscheidet zwei Eben der Zeugnismetaphorik: Zeugnis ist einerseits Themabegriff, welcher den von der Kirche vertretenen Wahrheitsanspruch bezeichnet und anderseits Reflexionsbegriff, der darstellt, dass Kirche durch einen zeugnishaften Vorgang kon stituiert wird, »in dem das für die Kirche grundlegende Bezugsgeschehen des Kreuzes Christi in hermeneutischer, d. h. Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit dieses Kreuzes verbindender, Weise als Wort vom Kreuz repräsentiert wird.« (Theißen 2013, 17 – Hervorhebung im Original). Ausführlicher zum Zeugnis als Reflexionsbegriff vgl. Assel 2008, 1852 f. Theißen schreibt, dass die Zeugniskategorie vor die hermeneutische Aufgabe stellt, »die Kirche sowohl in der Binnenrelation zu der sie konstituierenden Wahrheit als auch in der Außenrelation darzustellen, in der sie diese Wahrheit bezeugt.« (Theißen 2013, 18). 302 »Die Natur des Zeugnisses ist dabei beispielhaft an der Zeitstruktur zeugnishafter Aussagen abzulesen. Wiederum am Beispiel des Wortes vom Kreuz gesprochen: Indem es das Kreuz bezeugt, befolgt es eine Art der Vergegenwärtigung, die durch die Unhintergehbarkeit der vergangenen Wirklichkeit, die dabei vergegenwärtigt wird, nämlich durch das Kreuz, dauerhaft in der Schwebe gehalten wird. Das verleiht der Wirklichkeit des Kreuzes den Status eines eschatologischen Vorbehalts und macht so seine unvordenkliche Vergangenheit zugleich zu seiner radikalen Zukünftigkeit. Das Wort vom Kreuz beschreibt damit eine Zeitstruktur, die für die auf dieses Wort gegründete Kirche kennzeichnend ist.« (AaO., 539).
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
gesammelte[…] Volk der Kinder Gottes«303 dieses sein Tun als Evangelium zu bezeugen und davon weiterzusagen.304 Die Martyria ist also die Aufgabe der Kirche, die berufen ist, an der Sendung Gottes teilzunehmen. Dabei generiert sie das heilvolle Geschehen des Evangeliums nicht selbst, sondern bezeugt dies als das Gott eigene Tun und bittet darum, sich mit Gott versöhnen zu lassen (vgl. 2Kor 5,20).305 Ein Zeugnis ist mit Hans-Christoph Askani als eine Rede zu beschreiben. »die sich auf einen Über-Schuß [sic!] bezieht, der ein – der Rede eigenes – Über-Maß erfordert.«306 Laut Henrich Assel »qualifiziert das Zeugnis die Wahrheit und Bewährung des Evangeliums und das Selbstverständnis christl. Existenz (als Glaube, Liebe, Hoffnung).«307 Dabei antworte das »Existenzzeugnis […] auf das Selbstzeugnis Jesu: Zukünftigkeit wie Ursprung der neuen Menschheit und des neuen Menschen werden durch den auferweckten Gekreuzigten als wahrhaftiger Zeuge […] und Bürge […] offenbart.«308 Über das Verhältnis von Bezeugtem und Zeugin schreibt Henning Theißen: »Die Kirche ist als (passives) Geschöpf des Wortes zugleich dessen (aktive) Verkündigerin, und beides zusammen drückt der Zeugnisbegriff aus, denn als Zeugin ist die Kirche sowohl Subjekt, das einen Zeugnisakt vollzieht, als auch ein Objekt, das von dem darin Bezeugten abhängig ist.«309 Das Zeugnis der Kirche ist dabei von zentraler Bedeutung, denn »Gott gebraucht das menschliche Evangeliumszeugnis in Freiheit, um Glaubensgewißheit [sic!] zu schaffen.«310 (Vgl. CA IV, V und VII)311 Schwöbel gibt zu bedenken, dass »[d]as menschliche
303 Schlink 2005, 7. 304 Siehe dazu Das Jesus-Evangelium weitersagen von Michael Herbst, vgl. Herbst 2017b, 10–12. Zum Thema Zeugenschaft vgl. Kettling 1994, 148–191, besonders 153ff und Guder 2015. Theißen unterscheidet hermeneutisch zwischen dem Adressanten und dem Adressaten des Zeugnisses, vgl. Theißen 2013, 114–118 und 541 f. Für einen entsprechenden homiletischen Entwurf vgl. Clausen 2010, 238 f. 305 Vgl. dazu Herbst 2010b, besonders 218ff und 224 ff. 306 Askani 2012, 434. Diesen Hinweis verdanke ich Knud Henrik Boysen. 307 Assel 2008, 1852. 308 Ebd. 309 Theißen 2011, 449. Hervorhebung im Original. Zur christlichen Genese des Begriffs »Zeuge/ Zeugnis« und den damit verbundenen Problemen, die Theißen mit »Problematik von Schriftlichkeit und Mündlichkeit« umreisst, vgl. aaO., 446–452. 310 Schwöbel 2002, 352. 311 »Es ist naheliegend, die beiden Kriterien des pure docere und des recte administrare so zu interpretieren, daß [sic!] sie die Differenz und Beziehung von menschlicher Kommunikationspraxis und dem Wirken des Geistes zum Inhalt haben. Die Evangeliumsverkündigung genügte dann dem Kriterium des pure docere, wenn sie streng als Zeugnispraxis gehandhabt wird, die darauf verzichtet, das zu bewirken, was sie bezeugt. In gleicher Weise könnte das recte administrare der Sakramente, ›dem göttlichen Wort gemäß‹, nur den Zuspruch der Gemeinschaft mit Gott und der Vergebung der Sünde in der Gemeinschaft der Glaubenden zum Inhalt haben, deren Verwirklichung Werk Gottes ist.« (AaO., 423). Hervorhebung im Original.
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Zeugnishandeln […] der Erschließung der Wahrheit von Gottes Offenbarung durch Christus im Geist entsprechen [muss], die das menschliche Zeugnis fordert und möglich macht.«312 Und er schränkt ein: »Ausgeschlossen ist, daß [sic!] die Bezeugung der Wahrheit der Offenbarung das lebendige Geschehen der Offenbarung selbst jemals ersetzen oder real repräsentieren könnte.«313 Deshalb kann mit Schwöbel von der Kirche als einer Zeugnisgemeinschaft gesprochen werden, die eben nicht sich selbst und die eigenen Möglichkeiten zum Thema hat, sondern das göttliche Handeln bezeugt, welches die Kirche selbst überhaupt erst konstituiert und als universaler göttlicher Heilswille der gesamten Menschheit gilt und dadurch dem Zeugnis der Kirche eine missionarische Grundrichtung verleiht: Weil der Wille Gottes, so wie er in Jesus Christus erschlossen ist, sein ewiger Wille für alle seine Geschöpfe ist, darum ist die Gemeinschaft derer, die Christus als ihren Herrn bekennen, die Zeugnisgemeinschaft, die die Wahrheit des Evangeliums als eine Wahrheit verkündet, die für die ganze Schöpfung gilt. Der missionarische Charakter dieser Gemeinschaft ist in der Universalität des Willen Gottes des Schöpfers begründet, die der Grund für die fundamentale Solidarität der Kirche mit der ganzen Menschheit ist.314
Die Aufgabe des Zeugnisses (als ministerium verbi divini) kommt dabei jedem einzelnen Christen als von Gott berufenem Priester i. S. d. allgemeinen Priesteramtes zu (vgl. 1Petr 2,9).315 Dabei betont Schwöbel, dass dieses Amt das gesamte Leben eines Christen umfasst, da der Glaube an das Evangelium eine »Basisorientierung« ist, die nicht nur einige Teilaspekte des Lebens, sondern das gesamte Leben betrifft.316 Diese grundlegende Aufgabe im Verhältnis von göttlichem und menschlichem Tun skizziert Schwöbel wie folgt: Die fundamentale Form des Amtes des Wortes in der Kirche ist die Bezeugung der Wahrheit der Offenbarung Gottes in Christus, so wie sie durch den Heiligen Geist gewiß [sic!] gemacht wird. Sie ist die Verkündigung von Gottes Gnade als Wahrheit über seine Beziehung zu seinen Geschöpfen. Diese Verkündigung kann nie312 AaO., 360. 313 AaO., 352 f. Theißen weist der Kirche eine doppelte Aufgabe zu, die darin besteht, »dass die Kirche, sobald sie als Tradentin des Wortes vom Kreuz und damit als Zeugin des Kreuzes Christi betrachtet wird, […] die beanspruchte Wahrheit dieses Kreuzes einerseits (assertorisch) behauptet und andererseits zugleich (argumentativ) bewährt.« (Theißen 2013, 541 – Hervorhebung im Original). 314 Schwöbel 2002, 358. 315 Vgl. dazu auch Hermelink 2011, 38–40. 316 Vgl. Schwöbel 2002, 358 ff.
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mals Glauben schaffen oder die Gnade Gottes zur Wirkung bringen. Dies ist immer Gottes Werk. Die Verkündigung als ein menschlicher Akt ist das Zeugnis vom Handeln Gottes des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Sie kann nur dann ein Werk des Glaubens sein, wenn diese Unterscheidung dauernd beachtet und bewahrt wird.317
So greifen das Handeln Gottes und des Menschen beim Bezeugen des Evangeliums ineinander und Gott wirkt durch das Handeln von Menschen Glauben und Gewissheit des Evangeliums. Dies bedeutet, dass »[d]urch Gottes freie Gnade […] die menschliche Zeugnisgemeinschaft eine notwendige Bedingung für die Konstitution der Kirche als Geschöpf des Wortes Gottes [wird]. Das menschliche Wort des Zeugnisses wird zum Instrument für das göttliche Werk der Konstitution der Kirche.«318 Dabei muss aber die vorausgehende Souveränität von Gottes Handelns beachtet werden, denn »diese Instrumentalität wird nur durch Gottes freie Gnade gewährt, und jeder Versuch, das menschliche Wort und das Wort Gottes zu identifizieren, bedeutet, der Freiheit Gottes vorzugreifen.«319 Die Einführung eines Amtes zur Evangeliumsverkündigung und zur Sakramentsverwaltung ist dabei eine notwendige Maßnahme, die Angemessenheit der kirchlichen Zeugnispraxis sicherzustellen.320 Die Autorität des Amtes ist wiederum abgeleitet von Gott, den die Kirche bezeugt. Es handelt sich somit um »eine Autorität, die im Zeugnis besteht und nicht darin, den Grund der Autorität wirkungsmächtig zu repräsentieren.«321 Ergo gilt für die Kommunikation des Evangeliums, dass die Kirche die Limitierung ihrer Aufgabe und ihre Abhängigkeit von Gott akzeptiert und als Rahmenbedingung für ihr kommunikatives Handeln respektiert322 sowie darauf hofft und vertraut, dass Gott das Seine tut, um Glaubensgewissheit zu schenken und so seine Kirche zu schaffen, die ihrerseits die Aufgabe hat, das Evangelium zu bezeugen und so zu kommunizieren: »Nach reformatorischem Verständnis können wir nur darauf hoffen und vertrauen, daß [sic!] Gott unser menschliches Handeln und unsere menschlichen Institutionen, die nichts tun können, als von Gottes Handeln Zeugnis abzulegen, gebraucht, um sein Werk in der Konstitution seiner Kirche zu tun.«323
317 AaO., 359. 318 AaO., 360. 319 Ebd. 320 Vgl. aaO., 360–362. 321 AaO., 369. Diesen Gedanken formuliert Schwöbel im Anschluss an Johannes Calvin, vgl. aaO., 362–372. 322 Eine ähnliche Spannung beschreibt Karl Barth in seinem Aufsatz Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, vgl. Barth 1962. 323 Schwöbel 2002, 373.
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Schwöbel beschreibt diese Einsicht als befreiend, da sie die Kirche von der Sorge um sich selbst entbindet und sie der Zusage Gottes vergewissert, die Kirche zu erhalten und somit die Konstitution der Kirche als Werk Gottes ein Artikel des Glaubens ist.324 Die von Schwöbel beschriebene Freiheit besteht auch darin, die äußeren Formen der Kirche, die nicht konstitutiv für die Kirche sind, als menschliche Werke zu gestalten, zu kritisieren und wenn nötig zu korrigieren und dies besonders in evangelistischer Perspektive: Die Zeugnisgemeinschaft, die die Freiheit Gottes respektiert, das menschliche Zeugnis zu gebrauchen, ist dazu befreit, die menschlichen Formen so zu organisieren, daß [sic!] sie in die Lage versetzen, ihren Auftrag in der angemessensten Weise zu erfüllen. Hier sollte alle verfügbare Kompetenz und Phantasie genutzt werden, um eine authentische, glaubwürdige und anziehende Zeugnispraxis für die zu ermöglichen, die außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehen.325
Konstitutiv für die Zeugnisgemeinschaft der Kirche ist dagegen das Zeugnis des Evangeliums in der Verkündigung des Wortes Gottes und in der Feier der Sakramente. Dies bindet alle Christen ein, denn »[d]urch die Zeugnispraxis des Evangeliums werden einzelne Glaubende in der Zeugnisgemeinschaft versammelt. Die Zeugnisgemeinschaft besteht nur in konkreten, erfahrbaren Gemeinschaften, die die universale Communio sanctorum als creatura verbi divini bezeugen und so an ihr teilhaben.«326 Dies unterstreicht den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Kommunikation des Evangeliums und der Sozialgestalt der Kirche als Zeugnisgemeinschaft. So betont Jan Hermelink, dass die »Nennung der Sakramente verhindert […], dass die den Glauben ›bildende‹ Kommunikation rein verbal und kognitiv (miss-)verstanden wird. Zur Austeilung des Gotteswortes gehören nichtsprachliche Medien, die ihm eine mit allen Sinnen erfahrbare Gestalt verleihen.«327 Denn den Sakramenten komme eine soziale Dimension zu: »Zugleich markieren die Sakramente die konkrete soziale Gestalt der Kirche. Mit der Taufe wird die individuelle Zugehörigkeit, mit der Teilnahem am Mahl wird die leibliche Präsenz in der ›Versammlung
324 Vgl. aaO., 373 f. 325 AaO., 375. 326 AaO., 374. Vgl. auch 374–377. Die ökumenischen Konsequenzen der Unterscheidung von Gottes Werk und menschlichem Tun beschreibt Schwöbel so: »Geschichtlich bedingte, unterschiedene Gottesdienstformen und verschiedene Formen der Kirchenorganisation müssen einer Gemeinschaft von Zeugnisgemeinschaften nicht im Wege stehen, die die universale Kirche bezeugen, die durch Gottes Wort geschaffen wird, mit der sie sich aber nie identifizieren können.« (AaO., 376). 327 Hermelink 2011, 37.
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der Heiligen‹ und deren Gemeinschaft zur Darstellung gebracht.«328 Oder mit den Worten Hans-Jürgen Abromeits: Das Kerngeschehen, personale Partizipation an der lebendigen Christusperson, ist prinzipiell unanschaulich. Es ist aber verbunden mit einem Randgeschehen, der sozialen Partizipation in einer konkreten, sichtbaren Gemeinschaft. Der wahrnehmbare Rand des Kerns des Geschehens, das wir insgesamt Gemeinde nennen, macht Geschmack auf die Erfüllung der Verheißung.329
5.4 Die Koinonia330 der Kirche als Zeugnisgemeinschaft331 des Evangeliums Zur Frage nach der Sozialgestalt der Kirche hält Christoph Schwöbel (im Anschluss an John Zizioulas) ganz grundsätzlich fest: »Die Basis für ein Verständnis der Kirche als Koinonia ist insofern ein trinitarisches Gottesverständnis, in dem Gottes Sein als Sein in Koinonia verstanden wird«.332 Die zentrale Bedeutung der Trinität für die Sendung Gottes sowie die Mission der Kirche wurde ausführlich in § 8 Abs. 2 dargelegt. Die dort als Trinität beschriebene Koinonia Gottes öffnet sich in dem Sich-geben Gottes in dessen Werken der Schöpfung, Versöhnung und Heiligung. »Die Glaubenden empfangen diese Gabe durch den Geist, der sie zu Christus bringt, damit er sie zum Vater bringt.«333 Daraus folgt: »Die Koinonia mit dem Vater und dem Sohn, die in der Beziehung von Vater und Sohn ihren Grund hat, kann und muß [sic!] ihren Ausdruck finden in der Koinonia der Glaubenden untereinander.«334 Was sind die theologischen Gründe für diese Schlussfolgerung?
328 Ebd. Hervorhebung im Original. 329 Abromeit 2001, 23. 330 Schwöbel verwendet die Begriffe Koinonia und Communio weitestgehend analog und die vorliegende Arbeit schließt sich diesem Gebrauch an. 331 Zum Verhältnis von Offenbarung, kirchlicher Gemeinschaft, Verborgenheit und Zeugnis der Kirche vgl. auch Theißen 2013, 547–564. Zur Gemeinschaft der Kirche als versammelte Gemeinde vgl. Karle 2011b, 131–138. 332 Schwöbel 2002, 391. 333 AaO., 413 f. 334 AaO., 402. Vgl. ähnlich Keller 2014b, 288–297.
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5.4.1 Biblische Anhaltspunkte zur Zeugnisgemeinschaft Nach einem kurzen Verweis auf die Bedeutung der biblischen Überlieferung für die Lehre des christlichen Glaubens335 verweist Christoph Schwöbel in einer Reflexion über die Sozialgestalt der Kirche als Communio336 auf die Tatsache, dass in den neutestamentlichen Zeugnissen »das Evangelium von Jesus Christus, das Geschehen der Gerechtigkeit und Heil schaffenden Nähe Gottes in Wort, Werk und Person Jesu, nie ohne Bezug auf ein durch dieses Geschehen ermöglichtes und gefordertes Sozialleben zur Sprache«337 gebracht wird. Dabei konstituiert einerseits das Handeln Gottes in Jesus Christus die Gemeinschaft der Glaubenden und andererseits wurde in eben dieser Gemeinschaft der Übergang von der Verkündigung der Gottesherrschaft durch Jesus als dem Verkündiger zur Darstellung von Jesus als dem Verkündigten vollzogen, da »sie das Kommen der Gottesherrschaft in seiner Person zusammengefaßt [sic!] sah und sie zum Mittelpunkt ihres Glaubens machte.«338 Die Konsequenz dieser Beobachtung ist, dass »die Gemeinschaft derer, die durch ihre Beziehung zu Jesus in Beziehung zum heilschaffenden Wirken Gottes gesetzt werden, integraler Bestandteil des Christusgeschehens und so des Evangeliums von Jesus Christus«339 ist. Die enge Verbindung von Botschaft und Sozialgestalt drückt sich besonders in dem Bild vom Leib Christi aus (Röm 12,5; 1Kor 10,7; 12,12–14 u.ö.). Ähnliches gilt für die Begriffe Volk Gottes (z. B. Dtn 27,9) und Gemeinschaft des Geistes (besonders 2Kor 13,13).340 Die im Neuen Testament bezeugten, grundlegenden Verbindungen zwischen dem Handeln Gottes im Christusgeschehen und im Wirken des Geistes zur Konstitution der Kirche als 335 Vgl. Schwöbel 2002, 394–398. »Die Geschichte des Christentums ist als Geschichte christlicher Gemeinschaften und als Geschichte christlicher Lehre immer auch die Auslegungsgeschichte der biblischen Überlieferungen. Die neutestamentlichen Konzeptionen der Koinonia sind darum immer wieder Anlaß [sic!] und Gegenstand der kirchen-praktischen und kirchentheoretischen Versuche zur Bestimmung der Identität und Gestalt der Gemeinschaft der Christen und Christinnen. Sie sind insofern einerseits der Text, auf den sich die Bestimmung von Identität, Gestalt und Auftrag der Christen in ihren unterschiedlichen geschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten bezieht. Auf der anderen Seite sind sie in der christlichen Kirche als Interpretationsgemeinschaft der in den biblischen Schriften bezeugten Christusbotschaft Kontext für den Text kirchlicher Identitätsdefinition. Die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von Koinonia in den biblischen Überlieferungen prägen dabei in verschiedener Weise die Bestimmung von ekklesiologischen Grundformeln wie das Verständnis der christlichen Gemeinschaft als Communio sanctorum.« (AaO., 403f – Hervorhebung im Original). 336 Vgl. aaO., 379–435. 337 AaO., 394. 338 AaO., 395. 339 Ebd. 340 Vgl. aaO., 394–398.
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einer Gemeinschaft von Menschen, die durch dieses Handeln angesprochen und geprägt sind, beschrieben, so Schwöbel, »daß [sic!] das durch das Christusgeschehen, das im Evangelium bezeugt wird, ermöglichte Sozialleben des Glaubens ein integraler Bestandteil des christlichen Glaubens ist.«341 Und weiter: »Deutlich wird daran, daß [sic!] es im christlichen Glauben kein Gottesverhältnis und kein Heilsverständnis gibt, das die Sozialität menschlichen Lebens nicht einbezieht, so daß [sic!] das Gottesverhältnis ein Gemeinschaftsverhältnis der Glaubenden begründet, in dem das Heil Gottes in Christus in Gemeinschaft bezeugt und erfahren wird.«342 Im Neuen Testament begegnet der Begriff der Koinonia in verschiedener Bedeutung, die weder Wurzeln im Alten Testament noch in der Verkündigung Jesu hat, sondern Ergebnis urchristlicher Beschreibung der Gemeinschaft der Glaubenden im Kontext des Hellenismus ist.343 Trotz der Bedeutungsvielfalt des Begriffs ist jedoch »eine strukturierte Familie von Bedeutungsdimensionen und Anwendungsformen dieses Wortes«344 zu erkennen.345 Bei Paulus346 begegnet Koinonia als integrativer Begriff, der verschiedene Ebenen der Zugehörigkeit miteinander verbindet: • auf der theologischen-pneumatischen Ebene die Gemeinschaft mit Christus durch Gottes Berufung und die Konstitution dieser Gemeinschaft durch den Geist (2Kor 13,13), • auf der sakramentalen Ebene die Tischgemeinschaft mit Christus beim Herrenmahl und somit die Teilhabe am Leib Christ (2Kor 10,16), • auf der sozialen (und ethischen) Ebene in (lokaler und regionaler) Gemeinschaft mit anderen Gläubigen, weil »die Gabe der Koinonia, die Aufgabe, in allen Bereichen des Lebens Koinonia zu halten, beinhaltet.«347 Dazu gehört das Teilen von materiellen und geistlichen Gütern (Röm 15,26f). Die überregionale (und globale) Zusammengehörigkeit der Glaubenden verdeutlicht die ökumenische Dimension348 des Koinonia-Begriffs. Schwöbel unterstreicht die doppelte Bedeutung der Koinonia als Gabe und Aufgabe, die aufgrund ihrer integrativen Funktion das Potential besitzt, in verschiedenen Kontexten und Herausforderungen angewendet zu werden:
341 AaO., 396. 342 Ebd. 343 Vgl. aaO., 396–398. 344 AaO., 398. 345 Zum Koinonia-Begriff im Neuen Testament vgl. aaO., 398–403. 346 Vgl. aaO., 398–400. 347 AaO., 399. 348 Vgl. zur ökumenischen Bedeutung des Begriffs Koinonia aaO., 388–394.
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»Koinonia ist insofern die Gabe der Gemeinschaft, die durch Teilhabe konstituiert wird, und darum die Aufgabe der Gestaltung von Koinonia als umfassende Lebensgemeinschaft beinhaltet.«349 Die Beziehung der Glaubenden zu Gott und zueinander ist folglich eng verknüpft. Eine Betrachtung von 1Joh 1,2–7 führt zu demselben Ergebnis, wie die Reflexion paulinischer Theologie, wenn auch mit anderen Akzenten: Hier wird die Bezeugung des Christusgeschehens mit der Einladung zur Koinonia miteinander und mit Gott verbunden: »[…] was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.« (1Joh 1,3) Mit dieser Einladung sind ethische Implikationen (»im Licht wandeln«) verbunden, denen die Rolle eines Prüfsteins des Glaubens zukommen.350 Die Beschreibung der Gemeinde als einer in Gottesdienst und Herrenmahl351 erfahrenen Koinonia mit Gott und miteinander, welche soziale, ethnische und religiöse Unterschiede transzendiert, lässt sich auch in der Apostelgeschichte (v. a. 2,37–47 und 4,23–37) – besonders in der Gütergemeinschaft – finden. Diese konkreten ethischen Auswirkungen, können als Ergebnis des Wirkens Gottes bei der Konstitution dieser Art von Gemeinschaft beschrieben werden. Auch wenn man im Neuen Testament keine systematische Koinonia-Ekklesiologie findet, so finden sich zumindest zahlreiche Gemeinsamkeiten bei der Beschreibung der sozialen Implikationen des Evangeliums im Verhältnis des einzelnen zu Gott und zu seinem Nächsten. Die Leistung des Begriffs Koinonia liegt darin, dass sie universal »zur Bezeichnung der Sozialgestalt des in diesem Evangelium begründeten christlichen Glaubens«352 dient. Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt Johannes Zimmermann. Unter der Überschrift »Die prinzipielle Gemeindlichkeit des christlichen Glaubens […]«353 erörtert er die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Gemeinde und Glaube in theologischer Hinsicht.354 Nach einer neutestamentlichen Reflexion bilanziert er: »Evangelium und Gemeinde bzw. Volk Gottes, Leib Christi, Tempel Gottes gehören also für das Neue Testament untrennbar zusammen. Der Ruf zum Glauben ist gleichbedeutend mit der Berufung zur Gliedschaft im Volk
349 AaO., 400. Hervorhebung F.E. 350 Vgl. aaO., 401 f. Vgl. dazu auch Guder 2015, 121–141 und 142–164. 351 Zum Abendmahl als ein Kernelement gottesdienstlicher Spiritualität vgl. Kerner 2003, 53 f. »Im gemeinsamen Mahl haben alle Getauften Anteil am Heil. Sie nehmen sich untereinander als Gemeinschaft wahr. Sie stärken sich für ihre Alltagsverantwortung. Sie richten sich auf den himmlischen Gottesdienst aus, den sie einst mitfeiern dürfen.« (AaO., 53). 352 Schwöbel 2002, 403. 353 Zimmermann 2009, 3. 354 Vgl. aaO., 3–37.
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Gottes, am Leib Christi.«355 So zeigt Zimmermann, dass sowohl die biblischen Zeugen als auch die Bekenntnisse der Kirche verdeutlichen, dass Sozialität nicht ein sekundäres Merkmal christlicher Gemeinde, sondern konstitutiv zur Beschreibung von Gemeinde gehört: »Aus diesem Grund ist auch die Analogie zum Vereinsgedanken nicht sachgemäß: Die christliche Gemeinde ist kein Interessenverband gleichgesinnter religiöser Individuen. Vielmehr ist von einer im Christusgeschehen wurzelnden Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität in der christlichen Gemeinde auszugehen.«356 Die biblische Metapher von einem Leib mit vielen Gliedern (1Kor 12) drückt für Zimmermann das Verhältnis von Individualität und Sozialität pointiert aus. Henning Theißen entdeckt in der Zeugnisgemeinschaft der Kirche gar ihren Ursprung: Der Ursprung der Kirche liegt im hermeneutischen Sinne in der Zeugnisgemeinschaft, die das Kreuz zeugnishaft als Wort vom Kreuz vergegenwärtigt. Wenn diese Vergegenwärtigung nach evangelischem Verständnis nur in der Verborgenheit des Kreuzes geschieht, so ist das kirchengründende Wort vom Kreuz betontermaßen Wort vom Gekreuzigten in dem doppelten Sinne, dass es sowohl vom Gekreuzigten ausgeht als auch von ihm handelt.357
5.4.2 Bündeldung: Theologische Reflexionen und soziale Implikationen Die Ausführungen Schwöbels für die Sozialgestalt der Kirche lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das heilsökonomische Sich-geben Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung zielt auf die Gemeinschaft zwischen dem dreieinen Gott und dem Menschen als versöhntem Sünder (das Zu-sichBringen). Dieses Handeln Gottes schafft die Kirche, denn die mit Gott (durch
355 AaO., 11. 356 Ebd. 357 Theißen 2013, 565. Hervorhebung im Original. Theißen bündelt, »dass die hermeneutische Korrelation von Offenbarung und Zeugnis den Gemeinschaftsbegriff mitsetzt und so diese Hermeneutik des Zeugnisses auch den Begriff der Kirche als Zeugnisgemeinschaft aus sich heraussetzt. Eine unvordenkliche Offenbarung ruft die ihr nachdenkende Zeugnisgemeinschaft der Kirche […] hervor.« (AaO., 563f). Durch den Bezug auf das Wort vom Kreuz gewinnt die evangelische Kirche i.S.d Apostolikums »allumfassende« Bedeutung: »[D]ie evangelische Kirche [ist] im Sinne der Zeugnisgemeinschaft für das Wort vom Kreuz […] ›allumfassend‹ (katholisch) in dem doppelten Sinne, dass die Reichweite des Wortes vom Kreuz über den Geltungsbereich der konfessionellen Kirchen hinausreicht und dass mit diesem Wort vom Kreuz zugleich alles umfasst ist, worauf die Kirche sich gründet.« (AaO., 534). Diesen Hinweis verdanke ich Kolja Koeniger.
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die Annahme des Evangeliums)358 verbundenen Menschen wissen sich auch miteinander verbunden als Gemeinschaft der Glaubenden. Diese Gemeinschaft ist Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott. Somit gilt, dass, die »Beziehung zwischen Gott und Menschen […] die Grundlage aller Beziehungen ist, in denen menschliches Dasein besteht, [und somit] ist diese Beziehung als gestörte wie als geheilte für die menschliche Sozialität grundlegend.«359 Die Kirche als Gemeinschaft der mit Gott versöhnten Glaubenden »bezeugt darum in ihrem Dasein als Gemeinschaft den Willen Gottes des Schöpfers zur Gemeinschaft mit seinen Geschöpfen.«360 Heilsökonomisch ist damit ein doppelter Horizont aufgespannt: die Wiederherstellung der Sozialität des Menschen als versöhnte Gemeinschaft und die vollendete Gemeinschaft Gottes mit seiner Schöpfung.361 Dies hat verschiedene Konsequenzen für die Kirche und ihre Sozialgestalt: • Für die Gestalt der Kirche bedeutet dies, dass sie eine Gemeinschaft des Glaubens ist und somit alle anderen gemeinschaftskonstituierenden Größen (gemeinsame Interessen, bestimmte Fähigkeiten, Ethnien, Kulturen, Programme etc.) transzendiert sind. Allein der Glaube ist konstitutiv und dieser als Frucht des Wirkens Gottes durch die Kommunikation des Evangeliums in Wort und Sakrament. Deshalb muss die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens alle ihre Lebensvollzüge auf das Evangelium beziehen. Diese besondere Form der Gemeinschaft »ist darum sowohl konstruktives wie kritisches Prinzip ihres Soziallebens.«362 Diese Tatsache verleiht der Kirche (als congregatio sanctorum nach CA VII) das Potential Segregation entgegenzuwirken und diese mindestens zu dämpfen oder sogar punktuell zu überwinden. Der Glaube an das Evangelium von Jesus Christus eröffnet die Chance, Ursachen von Segregation zu transzendieren und somit deren Einfluss zu reduzieren. Glaube, der eine soziale Gestalt annimmt, ermöglicht 358 Ermöglicht wird die Annahme des Evangeliums durch dessen Kommunikation in Wort und Sakrament: »Durch die Kommunikation des Evangeliums manifestiert sich das kommunikative Sein des trinitarischen Gottes. Damit ist die Kommunikation des Evangeliums, durch die die Kirche entsteht, in der Selbstkommunikation Gottes begründet, in der Gottes trinitarisches Sein sich Ausdruck gibt.« (Schwöbel 2002, 425). 359 AaO., 425 f. Matthias Reményi zeigt auf, dass in johanneischer Tradition (vgl. Joh 13,1–20) Gottesliebe und Nächstenliebe, »Eucharistie und Diakonie, Gottesdienst und Nächstendienst, vertikale und horizontale Dimension der Kirche« (Reményi 2017, 385) zusammengehören: »Aus dem ›Nicht-aus-uns-selbst‹ der Kirche – communialer Aspekt – erwächst wie von selbst ihr diagonales ›nicht-für-uns-selbst‹.« (Ebd.). 360 Schwöbel 2002, 426. 361 »Die Kirche verweist in ihrem Dasein auf die Vollendung der Gemeinschaft Gottes mit seiner Schöpfung, indem sie sich vom Reich Gottes unterscheidet, in dem die Wahrheit, die die Kirche als Glaubensgewißheit [sic!] hat, universal offenbar und so universal verwirklicht ist.« (Ebd.). 362 AaO., 427.
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die Teilhabe an einer Gemeinschaft, die Menschen verschiedener sozio-kultureller Gruppen miteinander verbindet und somit Segregation reduziert. • Damit begründet das Evangelium den Auftrag der Kirche. In der Bindung an diesen Grund, hat die Kirche Anteil an der Zuwendung Gottes zur Welt (missio Dei). Die Verankerung des Auftrags der Kirche im Grund des Evangeliums, bestimmt die Gestalt der Kirche, da Wesen und Funktion nicht getrennt werden können. Zugespitzt bedeutet dies: »Das Wesen der Kirche ist ihre Funktion und ihre Funktion ist ihr Wesen.«363 Diese beiden Aspekte konvergieren in der Beschreibung der Kirche als Zeugnisgemeinschaft des Evangeliums. Die Aufgabe des Zeugnisses kommt dabei der gesamten Gemeinschaft der Kirche zu (und nicht nur bestimmten Ämtern). »Der Auftrag der Kirche ist somit das, was die Kirche als Zeugnisgemeinschaft ist.«364 Damit gilt, dass Grund, Gestalt und Auftrag der Kirche in Beziehung zueinander stehen und integral zum Sein der Kirche gehören.365 • Aus dem dargestellten Indikativ des Seins der Kirche, können nun – so Schwöbel – »Imperative für die Gestaltung des kirchlichen Soziallebens abgeleitet werden, die aber keinen anderen Zweck haben, als den der Kirche vorausliegenden Grund ihres Gemeinschaftslebens in der Gestaltung ihres Gemeinschaftslebens deutlich zu machen«366 Schwöbel schlägt vier Charakterisierungen vor, die exemplarisch statt vollständig sind: a) Die Kirche ist in der Kommunikation des Evangeliums begründet und wird durch dieses Geschehen konstituiert. Deshalb muss sie ihr Sozialleben als Kommunikationsgemeinschaft367 gestalten. »Darum ist die Pflege, d. h. Stärkung, Entwicklung und Erneuerung, der Kommunikationsstrukturen kirchlichen Lebens die primäre Aufgabe der Gestaltung der Kirche.«368 Die Besonderheit besteht darin, dass Inhalt und Vollzugsform bzw. Sach- und Beziehungsebene eng miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind, »insofern der Inhalt des Evangeliums eine kommunikative Beziehung ist und die kommunikativen Beziehungen in der Kirche ihr Kriterium am Evangelium haben.«369 Die Kommunikation des Evangeliums als Bezeugen des Handelns Gottes in Wort und Sakrament ist also Richtschnur und Prüfstein für alle kirchlichen Aufgaben und Beziehungen.
363 AaO., 428. 364 AaO., 428. Hervorhebung im Original. 365 Vgl. aaO., 427 f. 366 AaO., 429. 367 Vgl. aaO., 429 f. 368 AaO., 429. 369 AaO., 430.
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b) Da das von der Kirche zu kommunizierende Evangelium primär im Zeugnis der biblischen Schriften gegeben ist, muss sich die Kirche als Interpretationsgemeinschaft des Evangeliums verstehen und konstituieren. Dabei besteht ihre Aufgabe darin, das Evangelium auf die Welt und die Welt auf das Evangelium zu beziehen. Zudem muss die Kirche sich selbst im Spiegel der Schrift kritisch prüfen und vom Evangelium hinterfragen lassen. Schließlich findet die Kirche in den (das Evangelium bezeugenden) Schriften das Wirklichkeitsverständnis des Evangeliums, welches sowohl für die Deutung und Gestaltung der kirchlichen Wirklichkeit als auch für den Dialog mit der Gesellschaft und deren pluralen Wirklichkeitsdeutungen entscheidend ist.370 c) Der Glaube, der durch die Kommunikation des Evangeliums entsteht, begründet die Handlungsfähigkeit der Glaubenden und gibt ethische Orientierung.371 Dies macht die Kirche zu einer Handlungsgemeinschaft, in welcher die ethischen Implikationen des Evangeliums reflektiert und eingeübt bzw. umgesetzt werden. Diese Reflexion betrifft das Leben der Kirche nach innen (der Gläubigen untereinander) und nach außen (zu Menschen anderer/keiner religiösen Überzeugung und zur Gesellschaft als ganzer).372 d) Die letzte Charakterisierung verbindet die drei zuvor genannten und besteht in der Beschreibung der Kirche als Sozialisationsgemeinschaft, die es ihren Mitgliedern ermöglicht, einen eigenen Glauben auszubilden, welcher das Prinzip dieser Gemeinschaft ist. Die Kirche ermöglicht dies, indem sich ihre Sozialisationspraxis auf drei Funktionen ihrer Gemeinschaft bezieht: Kommunikation, Interpretation und Handlung. Werden die Mitglieder an diesen Funktionen beteiligt, eröffnet dies die Möglichkeit, dass sie einen eigenständigen, lebendigen, reflektierten und somit mündigen Glauben entwickeln können. Die Grenze dieses Unternehmens ist freilich die bereits dargestellte Einsicht, dass die Kirche »nur die Bedingungen für das Entstehen des Glaubens bereitstellen, […] aber nicht die Entstehung des Glaubens gewährleisten«373 kann.374 370 Vgl. aaO., 430 f. 371 Schwöbel verweist im Anschluss an einen Entwurf von Stanley Hauerwas darauf, dass der Begriff der Koinonia dazu dient, die Verankerung alles christlichen Sollens im Sein der Kirche nachzuweisen und schlussfolgert: »Insofern ist die Kirche eine Sozialethik.« (Schwöbel 2008, 1479 – Hervorhebung im Original). Die Aufnahme des Begriffs Koinonia in den ethischen Diskurs zeigt, dass der Sozialgestalt der Kirche (aufgrund des göttlichen Handelns in der Konstitution dieser) eine ethische Dimension zukommt. Vgl. ebd. 372 Vgl. Schwöbel 2002, 431 f. 373 AaO., 433. 374 Vgl. aaO., 432–434.
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§ 10 Kirchentheoretische Zugänge zur Kirche
• Summa: Was die vier dargestellten Charakteristika gemeinsam haben ist, »daß [sic!] sie die Gestalt der Kirche als den Zusammenhang erfassen, in dem der Grund der Kirchen [sic!] vergegenwärtigt wird und die Gestalt der Kirche auf ihren Auftrag bezogen wird.«375 Daraus folgt, dass »der Auftrag der Kirche, Zeugnisgemeinschaft des Evangeliums zu sein, nicht eine selbstständige Dimension der Sozialgestalt der Kirche«376, sondern gleichsam der gemeinsame Nenner aller Charakteristika ist. »Kirche ist Zeugnisgemeinschaft des Evangeliums als Kommunikationsgemeinschaft, Interpretationsgemeinschaft und Sozialisationsgemeinschaft [sowie Handlungsgemeinschaft].«377 Jürgen Moltmann begründet die Sozialität des christlichen Glaubens mit dem Ruf Gottes: »Das Sichversammeln und Zusammenkommen auf Grund des gemeinsam gehörten Rufes Gottes ist der Grundakt der Kirche.«378 Moltmann beschreibt Kirche folglich als das »versammelte Gottesvolk«379. Moltmann fordert angesichts der Krise der Kirche380 (1975), dass sich die Kirche aus ihrer Gemeinschaft vor Ort erneuern muss, damit sie ihre Krise überwindet: »Der Ausgangspunkt [für die Reform der Gemeinde] liegt in der Gemeinde und ihrer Gemeinschaftsgestalt.«381 Diese Gemeinschaft umfasst: »Gemeinschaft an Wort und Sakrament, Gemeinschaft im Bekenntnis, Gemeinschaft in der Institution und der Hierarchie«382. Aber diese »werden geistlos und erstarren zu Formalitäten, mit denen man sich nicht mehr identifiziert, wenn die Gemeinschaft an der Basis verloren geht und die Freundschaft [mit Jesus Christus und miteinander] nicht von unten her wiedergewonnen wird.«383 In einem konzisen historischen Abriss skizziert Moltmann die Entstehung der Staats- bzw. Volkskirche und die Bildung von (welt-)kirchenkritischen Sekten, die meist in Opposition zur etablierten Kirche standen und stehen.384 Die Lösung dieser Spannung zwischen etablierter Großkirche und Sekte sieht Moltmann im »Entwurf einer gegenwärtig glaubwürdigen Gemeinschaftsgestalt der
375 AaO., 434. 376 Ebd. 377 Ebd. 378 Moltmann 1975, 338. 379 Ebd. 380 Im Wesentlichen ähnelt die Beschreibung der Krise, dem was man unter dem Begriff der Säkularisierung besonders in Städten und im Osten Deutschlands beobachten kann. Vgl. aaO., 352 f. 381 AaO., 344. 382 Ebd. 383 Ebd. 384 Vgl. aaO., 344–348.
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Kirche Christi.«385 Dabei befand (und befinde) sich die Kirche stets in einem Spektrum, das von einer (staatsanalogen)386 Institution bis hin zu monastischen Lebensgemeinschaften in Armut, Gehorsam und Zölibat reicht(e). Letztere Gruppierungen waren und seien eine Erinnerung an die Einladung Jesu zur radikalen Nachfolge und zur Aufgabe aller bisherigen (sozialen) Beziehungen – ein Merkmal, das sich in der staatsanalogen Landeskirche zu verlieren drohe.387 Dieses Verhältnis wurde durch die Reformation grundsätzlich verändert, indem »[a]n die Stelle der zweifachen Lebensform der Christenheit im Kloster und in der Welt […] das Prinzip der einen Gemeinde [trat].«388 Dabei wollten die Reformationskirchen keine Verweltlichung der Kirche, sondern ein Leben der Nachfolge in der Welt. Dies sei nicht gelungen – besonders, weil die Abgrenzung vom Staat nicht vollzogen wurde; im Gegenteil: die reformatorische Kirche hat sich noch enger an den Staat gebunden. Erst die pietistische Gemeinschaftsbewegung habe versucht, diesen Umstand zu ändern. Moltmann resümiert, dass radikale Nachfolge-Gruppe existieren werden, solange eine Großkirche besteht. Beide bedürfen einander und »solange das Prinzip Gemeinde nicht realisiert werden kann«389, bilden sie so etwas wie eine Doppelstrategie der Kirche. Sollte sich die Kirche für diese Doppelstrategie entscheiden, dann stellt sich die Frage: »[D]ient die Aktivierung der Gemeinde den traditionellen kirchlichen Organisationen oder umgekehrt?«390 Dabei kritisiert Moltmann die Trennung der Kirche in »Ereignis« (oder »Gemeinschaft« und »Aktion«) und »Institution« als etwas der Sache Unmögliches, da beide immer zugleich seien und sich nicht getrennt voneinander beobachten lassen.391 Damit unterstreicht Moltmann – mit etwas anderen Begrifflichkeiten – 385 AaO., 348. 386 Zum Begriff vgl. Grethlein 2013. 387 Moltmann über diese Gruppen: »Ohne sie hätte sich vermutlich die weltoffene Kirche ohne Widerstand in eine Religion der Gesellschaft verwandelt.« (Moltmann 1975, 350). 388 Ebd. Hervorhebung im Original. 389 AaO., 352. Dabei hat die Reform der Kirche i. S. e. Pluralisierung aber vorrangig die Ämter und nicht die Gemeinde betroffen. Als Reformschritt »von unten« – also auf Gemeindeebene – nennt Moltmann die (besonders in Südamerika lokalisierten) Basisgemeinden. Moltmann entdeckt in ihnen eine Form von Volkskirche i. S. e. des Volkes (im Gegensatz zu den Eliten/Klerus) und für das Volk. (Vgl. aaO., 354–357). Als zweites Modell nennt Moltmann die Gemeinwesenarbeit i. S. v. Hilfe zur Selbsthilfe und einer aktiven Gestaltung des eigenen Nahraums und eine Ermächtigung des Einzelnen zur Eigeninitiative. Vgl. aaO., 357 f. Für eine kirchliche Rezeption vgl. Borck et al. 2016. 390 Moltmann 1975, 359. 391 »Die komplementär miteinander vermittelten Begriffe wie Institution und Ereignis decken sich mit keiner Realität. Es gibt keine Institutionen ohne Ereignisse und keine Ereignisse ohne Institutionen. Ebensowenig kann man das Statische und das Dynamische voneinander scheiden und dann komplementär aufeinander beziehen. Die Kirche ist, wie andere Sozialkörper auch, ein lebendiger Prozeß [sic!].« (AaO., 359).
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den hybriden Charakter der Kirche, also den unauflöslichen Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen.392 Diese doppelte Sicht auf die Kirche stellt für Moltmann deshalb ein Problem dar, weil sie sich bemüht die Doppelstrategie kirchentheoretisch einzuholen, dabei aber stets dem Paradigma der Staatskirche (staatsanaloge Institution) unterworfen bleibt und die Gemeinde als Nachfolge-Gemeinschaft in dieses Modell einzupflegen versucht. Dabei weist eine Reform der Territorialkirche »von unten« auf »deren Mangel von Anfang an hin: auf den Mangel an Gemeinschaftsbildung.«393 Denn: »Die Ekklesia […] ist ihrer Bestimmung und ihrem Wesen nach die Gemeinde, die sich versammelt.«394 Und deshalb: »Ohne den konkreten, sichtbaren Vorgang der Versammlung gibt es die Kirche nicht.«395 Wiederum, als versammelte Gemeinschaft, ist die Gemeinde Zeugin des Evangeliums und Botschafterin an Christi Statt (vgl. 2Kor 5,20) sowie Vorbotin des Reiches Gottes. »Der Sachverhalt ist einfach genug: ohne Versammlung keine Gemeinschaft, ohne Gemeinschaft keine Freiheit, ohne Freiheit keine Handlungsfähigkeit.«396 Diese Gemeinschaft ist ihrem Wesen nach freilich keineswegs abgeschlossen und selbstbezüglich – im Gegenteil: Sie ist gesandt in die Stadt und lädt dort ein zum Glauben an das Evangelium (Mk 1,15) – dies ist ihr Auftrag: Evangelisation. Moltmann bündelt seine Ausführungen: Würde die versammelte Gemeinde keine ›offene Kirche‹ sein, dann wäre sie nicht Christi Gemeinde und nicht das Volk des kommenden Reiches. Würde sie sich um ihrer Weltoffenheit willen aber nicht mehr versammeln, dann wäre sie keine Gemeinde und kein Volk. Um die Offenheit des Evangeliums und der Liebe zu praktizieren, braucht es nicht das Institut der allgemeinen Volkskirche. Deren unqualifizierte Offenheit für jedermann hat nur entfernt etwas mit der qualifizierten Offenheit Christi und des Reiches Gottes zu tun.397
Angesichts der Tatsache, dass »sich die alte Einheit von Bürgergemeinde und Christengemeinde aufzulösen [beginnt]«398 bzw. zunehmend schon aufgelöst hat, fordert Moltmann das Prinzip der versammelten Gemeinde.399 Somit ist die Gründung, Förderung, Gestaltung und Pflege von christlichen Gemeinschaften 392 Vgl. dazu Hauschildt/Pohl-Patalong 2013. 393 Moltmann 1975, 360. 394 Ebd. Hervorhebung im Original. 395 Ebd. 396 Ebd. 397 AaO., 360 f. 398 AaO., 353. 399 Vgl. aaO., 352–354 und 360–362. Neben der Abnahme in Quantität entdeckt er eine Zunahme an Qualität und schlussfolgert: »In dem Maße, wie die Betreuungskirche ineffektiver wird […],
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die conditio sine qua non für urbane Gemeindeentwicklung als Kirchenentwicklung, denn »Kirchenreformen und der Neuaufbau der Kirche werden an jener Basis einsetzen, wo Menschen in überschaubaren Gemeinden das Evangelium hören, besprechen und bekennen, wo sie am Tisch des Herrn zu Freunden werden und in gegenseitiger Teilnahme ihre Aufgaben verwirklichen.«400 Dabei ist die Gemeinde der Ort der Vergewisserung und Stärkung des Glaubens401 mit dem Ziel der Mündigkeit der Gemeinde und des Einzelnen.402 Folglich ist weniger entscheidend zu fragen, an welchen Orten das Evangelium kommuniziert wird (Grethlein) sondern, wo sich Kirche (in der Logik des Hybrids) als Gruppe und Bewegung ereignet, indem sich Menschen versammeln und das Handeln Gottes in der Predigt des Evangeliums und der Feier der Sakramente bezeugt wird. Dies kann und wird sich nicht nur auf die Ortsgemeinde beschränken, sondern eben auch an anderen Orten wie Familie, Schule und Diakonie ereignen, wie es Grethlein ausführt und es im Folgenden kurz dargestellt wird.
5.5 Orte der Kommunikation des Evangeliums Folgende konkrete Orte der Kommunikation des Evangeliums identifiziert Grethlein: Neben Kirchengemeinden, Landeskirchen und anderen kirchlichen Einrichtungen (als Kirche zwischen Institution und Organisation403) sind diese die Familie als grundlegender Kommunikationsraum404, die Schule als Lebens-
entstehen offenbar Prozesse der Verselbstständigung, und werden die Möglichkeiten der Verantwortung von vielen Christen ergriffen.« (AaO., 353). 400 AaO., 361. 401 »Die Privatisierung des Glaubens führt zur Ohnmacht des Glaubens im Einzelnen und ist eine ständige Quelle des Zweifelns.« (Ebd.). 402 Vgl. aaO., 361 f. Ähnliches forderte bereits 1891 Emil Sulze im Blick auf städtische Großparochien (s. u. § 11 Abs. 1). 403 Vgl. Grethlein 2016, 385–422. Die Kirche beschreibt Grethlein als eine sich im Übergang von einer Institution zu einer Organisation befindlichen Größe und spricht an anderer Stelle von »Kirche im Übergang von einer staatsanalogen Institution zu einer zivilgesellschaftlichen Organisation« (vgl. Grethlein 2013). Die gegenläufige Entwicklung stellt Grethlein im Blick auf die Kirchengeschichte als »Problemgeschichte: von der Bewegung zur staatsanalogen Institution« (vgl. Grethlein 2018a, 51–123) dar. 404 Vgl. Grethlein 2016, 340–363. Familie definiert Grethlein im Anschluss an die Beschreibung der Begriffe Haus (weit) Familie (enger) als »multilokale Mehrgenerationenfamilie« (vgl. aaO., 342). Zum »Haus« als praktisch-theologischer Kategorie vgl. Zimmermann 2009, 465–485.
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raum für Heranwachsende405, die Diakonie als Organisation am Markt406 und die Medien als offener Kommunikationsraum407.408 Obwohl der Anteil an Singlehaushalten in Städten größer als auf dem Land ist (s. o. § 3 Abs. 4.4), wohnen aufgrund der neuen Attraktivität von Städten (zur Reurbanisierung, s. o. § 3 Abs. 2) zunehmend Familien in (zentralen) urbanen Räumen. Aufgrund dieses Trends muss eine urbane Gemeindeentwicklung die Familie als urbanen Ort der Kommunikation des Evangeliums sowie als zentralen Ort der Weitergabe und Einübung in den Glauben (s. o. der Exkurs unter § 10 Abs. 2) berücksichtigen. Angesichts sozialer Segregation stellen Schulen so etwas wie einen Spiegel der urbanen Gesellschaft dar, welcher die sozialen Wirklichkeiten eines Quartiers reflektiert und abbildet (siehe dazu oben § 7 Abs. 2.4).409 Schule als Ort der Evangeliumskommunikation bietet die Chance einer milieusensiblen Kommunikation, die den Kindern sowie den Lehrkräften und anderen an der Schule Beschäftigten gerecht wird.410 Anderseits ist in Städten wie Berlin oder Bremen der Religionsunterricht keine selbstverständliche Lehrveranstaltung, was eine Kommunikation des Evangeliums nicht ausschließt, aber zumindest in dieser spezifischen Form erschwert. Hinsichtlich der sozialen Folgen von Entmischung (bspw. als Kontexteffekte, s. o. § 7 Abs. 2.4) kommt der Diakonie als »Organisation am Markt« in urbanen Räumen eine hohe Relevanz zu. Die Bedeutung von Diakonie für urbane Gemeindeentwicklung wird ausführlicher 405 Vgl. Grethlein 2016, 363–385. Bei der Klärung des Begriffs Schule weist Grethlein auf die Pluriformität der Größe Schule, hinsichtlich des Alters der Schüler, der Lernformen, der Schulgröße, der sozio-ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft sowie der Trägerschaft von Schulen hin. Gleichzeitig besitzen alle Schulen gemeinsame Merkmale, die unabhängig der genannten Unterschiede gelten: Lehr- und Lernprozesse sind in Schulen raumzeitlich begrenzt, Lernen wird symbolisch vermittelt und die Lernprozesse finden in einem formalisierten, besonderen sozialen Setting statt. Vgl. aaO., 364 f. 406 Vgl. aaO., 422–439. Bei der Beschreibung von Diakonie unterscheidet Grethlein zwischen Gemeinde-diakonie, verbandlicher Diakonie sowie unternehmerischer Diakonie (vgl. dazu auch aaO., 430f) und weist darauf hin, dass der im Neuen Testament gebrauchte griechische Begriff diakonein ursprünglich eine deutlich größere Bedeutung hatte als die Beschreibung von Liebestätigkeiten im weitesten Sinne. Zentral war dabei die Beschreibung vermittelnder Tätigkeiten, vgl. aaO., 422–425. 407 Vgl. aaO., 439–459. Bei den Ausführungen zu Medien beschränkt sich Grethlein auf sekundäre und tertiäre Medien und greift insgesamt auf bereits unter § 12 Vorgetragenes zurück (vgl. aaO., 234 ff.), vgl. aaO., 440. 408 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong plädieren dafür, kirchliches Handeln nicht nur direkt mit der Kommunikation des Evangeliums zu identifizieren, sondern auch solche Orte, welche die Rahmenbedingungen für Evangeliumskommunikation schaffen, als solche ernst zu nehmen (v. a. Dienste und Werke), vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 249 f. 409 Vgl. dazu auch Jurczok/Lauterbach 2014. 410 Für eine historische Einführung, ausführliche Untersuchung von Chancen und Grenzen sowie Darstellung aktueller Herausforderungen von kirchlicher Jugendarbeit an Schulen vgl. Ocker 2019.
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unten (§ 12 Abs. 3) dargestellt. Unter § 13 Abs. 4.4 wird zudem die Stadtmission als urbaner »Hybrid« aus Diakonie und Gemeinde vorgestellt. Die Verbindung von Medien und Städten ist insofern eng, als dass viele Medienunternehmen (Presseverlage, TV-Stationen, Nachrichtenagenturen etc.) ihren Sitz bzw. wichtige Büros in Städten haben und somit in hohem Maß mit dem urbanen Leben verbunden sind und gewissermaßen eine urban geprägte »Perspektive« verbreiten.411 Zudem sind die meisten europäischen Städte hochgradig mediatisiert, d. h. von Medien durchzogen und durch Medien geprägt.412 Grethlein definiert den Begriff Kirche von ihrer Funktion der Kommunikation des Evangeliums theologisch sehr weit: »Insofern Kirche […] den Bereich der Kommunikation des Evangeliums bezeichnet, ereignet sich – in theologischer Perspektive – auch in diesen Sozialformen [Familie, Schule, Diakonie, Medien] Kirche.«413 Somit wird die spezifische Sozialform Kirche in die übrigen genannten Sozialformen als Orte der Kommunikation des Evangeliums einsortiert bzw. gleichgestellt und aufgrund ihres Kommunikationspotentials beschrieben und bewertet.414 Die Kommunikation des Evangeliums selbst findet innerhalb der genannten Sozialformen in den drei vorgestellten Modi statt.415 Die Mitarbeitenden der Kirche (in diesem weiten Sinn) sind dabei die ehren-, neben- und hauptamtlich Beschäftigten, deren Engagement auf dem Fundament des allgemeinen Priestertums ruht und darin gründet, dass sie als getaufte Christen416 zur Kommunikation des Evangeliums berufen und bevoll-
411 Vgl. Saldern 2018 und Keller 2014b, 148–153. 412 Weiterführend zum Verhältnis von Stadt und Medien vgl. den Sammelband Die mediatisierte Stadt von Hepp et al. 2018. Zum Begriff der Mediatisierung: »Im Kern geht es demnach um eine hochgradige quantitative und qualitative Durchdringung und Prägung der Stadt und ihrer Gesellschaft durch Medienkonglomerate.« (Saldern 2018, 19). 413 Grethlein 2016, 334. Hervorhebung im Original. 414 Dies unterstreicht nicht zuletzt der Aufbau des 6. Kapitels, in welchem der Kirche keine besondere Stellung zukommt bzw. die Familie und die Schule der Kirche vorgeordnet werden (so Grethlein aaO., 461). Mit der Entdeckung, dass Kommunikation des Evangeliums auch an anderen Orten als der organisierten Kirche geschieht, »geht eine Relativierung von (organisierter) Kirche im wörtlichen Sinn einher. Sie wird in Beziehung zu anderen Sozialräumen gesetzt und hat ihre Funktion darin, die Kommunikation an diesen Orten zu unterstützen. Kirche agiert als Assistenzsystem für Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens in unterschiedlichen Sozialformen.« (AaO., 422 – Hervorhebung im Original). Zur »Relativierung der verfassten Kirche« vgl. auch Schröder 2014a, 143–146. 415 Die Darstellung der drei Modi in Konkretion folgt der Logik der Kommunikation: a) Lehren und Lernen als Kommunikation über Gott (v. a. Erzählen, miteinander Sprechen, Predigen) b) Gemeinschaftliches Feiern als Kommunikation mit Gott (Beten, Singen, Abendmahl feiern) und c) Helfen zum Leben als Kommunikation von Gott her (Segnen, Heilen, Buße und Beichte sowie Taufen). Vgl. Grethlein 2016, 528–586. 416 »[…] wobei der Prozesscharakter der Taufe auch die einschließt, die sich zur Taufe einladen lassen bzw. auf dem Weg zu ihr sind.« (AaO., 335).
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mächtigt sind.417 Bei Ehrenamtlichen418 ist der Bezug zum Alltag stärker und bei den Hauptamtlichen419 (v. a. dem Pfarrberuf420) spielt die fachliche Qualifikation sowie die Profession421 eine größere Rolle.422 Die von Grethlein beschriebenen Orte der Kommunikation des Evangeliums sind richtungsweisend, da sie der tatsächlichen Pluralität dieser Kommunikation Rechnung tragen und ernst nehmen, dass christliches Leben sich nicht auf den Kontext der Gemeinde beschränkt. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt auf der Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis und versteht die Gemeinde als Communio. Die alternativen Orte der Evangeliumskommunikation werden dort berücksichtigt und gewürdigt, wo sie die Perspektive der Gemeindeentwicklung ergänzen und in einem Zusammenhang sowie in Verbindung mit der Gemeinde als der congregatio sanctorum stehen.423
6. Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis424 Da die vorliegende Arbeit die Stadt als konkreten Sozialraum fokussiert, liegt der Schwerpunkt hinsichtlich der urbanen Kirchen- und Gemeindeentwicklung auf der Ebene der Gemeinde425, denn sie ist der konkrete Ort des kirchlichen Lebens, auf den die urbane Situation den stärksten Einfluss hat. Mit Gemeinde ist die Ortsgemeinde als lokale Gemeinschaft von Christen (im Sinne von CA VII als »Basis der Kirche, als ihre zentrale und grundlegende Einheit«426)
417 »Es gibt in der evangelischen Kirche von ihrem tauftheologischen Ansatz her keine Tätigkeit, von der grundsätzlich ein Getaufter ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist die Kommunikation des Evangeliums in ihren drei Modi Ausdruck und Aufgabe jedes christlichen Lebens, im Alltag und in den Kirchen (gemeinden).« (AaO., 472). 418 Vgl. aaO., 462–473. 419 Für die anderen Berufe neben dem Pfarrberuf vgl. aaO., 492–507. 420 Vgl. aaO., 473–492. 421 Vgl aaO., 489 f. Weiterführend und ausführlicher vgl. Karle 2011a. 422 Vgl. Grethlein 2016, 333–337. 423 Wie dies bspw. Johannes Zimmermann tut, der das Haus als »Bindeglied zwischen dem Einzelnen und der (Orts-)Gemeinde« (Zimmermann 2009, 467) beschreibt. 424 Vgl. Kunz/Schlag 2014, 13. Ähnlich formulieren Michael Meyer-Blanck und Birgit Weyel, wenn sie von Kybernetik als »Hermeneutik christlicher Praxis« sprechen vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008, 97. Zum Ursprung dieser Formulierung bei Friedrich Schleiermacher vgl. Kretzschmar 2007, 79. 425 Für eine grundlegende Reflexion zu Gemeinde vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 271–284. 426 AaO., 271.
6. Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis
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und nicht eine Parochialgemeinde427 gemeint, sondern es wird an die zahlreichen verschiedenen Formen von Gemeinde gedacht.428 Dabei sind viele Ortsgemeinden parochiale Gemeinden, aber eben nicht alle – zumal in der Stadt.429 Da die Gemeinde nicht ohne die Kirche gedacht werden kann, wird Kirchenentwicklung, als übergeordnete Kategorie, an den passenden Stellen in den Blick genommen. Somit beschreibt die vorliegende Dissertation Kirchen- und Gemeindeentwicklung im Anschluss an Kunz/Schlag als Theorie der Gemeindepraxis.430 Bevor also mit der Beschreibung von Wesen und Auftrag der Kirche dieses Kapitel abgeschlossen wird, soll zunächst der Begriff Gemeindeentwicklung selbst geklärt werden, damit dieser im 5. Kapitel der Arbeit für den urbanen Kontext entsprechend fruchtbar gemacht werden kann. Dabei ist die bereits zu Beginn des Kapitels dargestellte Einsicht leitend, dass die Gemeinde431 (im evangelischen Verständnis) eine lokal und personal begrenzte und damit quantitativ
427 Vgl. dazu Pirson 2008, 945f, Schöllgen 2008, 946, Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 256–260 und 273–275. Siehe dazu auch den Aufsatz Gemeinde im sozialen Nahraum von Christoph Sigrist (vgl. Sigrist 2014). Zusammenfassend kann man zitieren: »Dass die Entwicklungsdynamiken kirchlicher Gemeindebildung in Zukunft eine deutlich größere Rolle spielen werden, zeichnet sich jetzt schon punktuell ab.« (Sigrist 2014, 330). Vgl. auch Herbst 2013b, 25–33 und ders. 2018b, 121. 428 Andere Gemeinde-Formen wären z. B. Profilgemeinden (vgl. Gundlach 2014, Rother 2005 und auch Löwe 1999, 365–388), Funktionsgemeinden (vgl. Löwe 1999, 389–444), Schulgemeinden (vgl. Schröder 2014), Akademie-Gemeinden (vgl. Schaede 2014), Netzwerkgemeinden (vgl. Nord 2014 und Bedford-Strohm/Jung 2015), Jugendkirchen (vgl. Freitag 2014), Migrationskirchen bzw. Internationale Gemeinden (vgl. Dümling 2011, Herbst 2013c und Schubert 2014), fresh expressions of Church (vgl. Müller 2014, dies. 2016 sowie Pompe et al. 2016), Kasualgemeinden (vgl. Klie 2014) oder Kirche bei neuen Gelegenheiten und an neuen kirchlichen Orten (vgl. PohlPatalong 2014, dies 2016 und dies. 2003 sowie Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 300–310). Für eine grundlegendere Betrachtung der Kirche in parochialen und nichtparochialen Formen vgl. Hauschildt/PohlPatalong 2013, 256–310. Summieren lassen sich die Formen in sog. »nichtparochiale« Gemeinden als a) funktionale, b) konfessionellen und c) personale Gemeinden, vgl. Löwe 1999, 353–451; Pohl-Patalong 2003, 24–28 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 260–263. 429 Zur Ortsgemeinde als Vielfalt von Gemeindeformen in der Stadt vgl. Pohl-Patalong 2016. 430 Vgl. Kunz/Schlag 2014, 13 431 Zur Bestimmung von Gemeinde vgl. Hermelink 2017, 97f: »Diese meist emphatische, hoch engagierte Rede von ›der Gemeinde‹ geht darauf zurück, dass dieser Begriff seit der Reformation für die soziale Erfahrbarkeit des Glaubens steht: In der Gemeinde wird für Beteiligte wie Außenstehende in besonderer Weise sichtbar, wie das Evangelium in regelmäßiger, persönlicher Begegnung zur Wirkung kommt. Allerdings ist diese Erfahrbarkeit hier immer schon dialektisch verfasst: Verbürgt die Gemeinde einerseits, v. a. in ihrer territorialen Gestalt, eine Vorgegebenheit des Glaubens, an der man auf ganz unterschiedliche Weise teilhaben kann, so impliziert der Begriff andererseits ein aktives Moment genossenschaftlicher, selbstorganisierter und -verantworteter Teilnahme.« (AaO., 97).
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untergeordnete, aber qualitativ gleichgestellte Form von Kirche ist.432 Insofern ist eine Gemeinde nicht die ganze Kirche, aber ganz Kirche (»Die Einzelgemeinde ist für ihren Teil das Ganze.«433). Folglich gelten Aussagen über Wesen und Auftrag der Kirche ebenso für die Gemeinde. Damit eindeutig ist, was die Begriffe je für sich meinen, soll zunächst kurz zwischen Kirche und Gemeinde unterschieden werden.434
6.1 Kirche als Gemeinde435 Johannes Zimmermann plädiert dafür, dass Verhältnis von Kirche und Gemeinde in einer soziologischen Vorordnung der Gemeinde vor der Kirche zu bestimmen: »Sofern sich dies nicht gegen die Zugehörigkeit zur universalen Kirche wendet und im Blick bleibt, dass die einzelne Gemeinde das Ganze nur für ihr Teil ist, kann man – zumindest auf einer soziologischen Ebene – durchaus von einer relativen Priorität der Gemeinde reden: Gäbe es keine Gemeinden, gäbe es keine Kirche«436 – zumal die Gemeinde konkreter 432 Ralph Kunz und Uta Pohl-Patalong beschreiben Gemeinde so: »Theologisch […] meint Gemeinde eine christliche Gemeinschaft, die sich bei Gelegenheit oder in regelmäßigen Kadenzen unter dem Dach der Kirche versammelt und bestimmte Merkmale erfüllt: Bezug auf Christus als Grund der Gemeinde, Selbstverständnis als zugehörig zur heiligen christlichen Kirche, Bereitschaft zu Vergemeinschaftung Verschiedener sowie Bezug zur Welt. Eine regelmäßige Feier des Gottesdienstes und weitere Aspekte des kirchlichen Auftrags in der Welt sind erkennbar; sie eröffnet Raum zum Glauben, fördert und begleitet ihn. Sie wird durch Amt und allgemeines Priestertum geleitet und eröffnet die Möglichkeit zur Partizipation ihrer Mitglieder. Sie hat eine eigenständige Leitungsstruktur und versteht sich in wechselseitiger Steuerung mit der Gesamtkirche.« (Kunz/Pohl-Patalong 2013, 29). 433 Zimmermann 2009, 6. 434 Vgl. dazu auch aaO., 3–7. 435 Zum Thema Kirche als Gemeinde vgl. Karle 2011b, 125 ff. Mit Blick auf Apk. 3,8 beschreibt Michael Herbst Gemeinde folgendermaßen: »Was ist eine Gemeinde? Ein Ort, an dem die Tür offen steht. Ein Ort, an dem die Welt einen Riss hat und ein Zugang zu einer anderen Welt offen steht. Hin und her kann darum kommuniziert werden. Das ist nichts, was mit der Größe der Gemeinde, ihrem Einfluss, dem Fleiß der Mitglieder, dem finanziellen Vermögen oder dem gesellschaftlichen Einfluss zu tun hat. Es kommt ihr von Christus her zu und ist ihr tiefes Geheimnis. Diese Gemeinde ist ein Ort, an dem die Tür zum Himmel offen steht.« (Herbst 2018c, 2). 436 Zimmermann 2009, 6 f. Hauschildt/Pohl-Patalong verweisen auf die zentrale Rolle und Hochschätzung der Gemeinde in der Reformation, welche jedoch nicht mit einer theologischen Präferenz der Parochie verwechselt werden dürfe, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 272– 275 (vgl. dazu auch Pohl-Patalong 2003, 81ff). Sie konstatieren, dass eine fast konkurrenzlose Priorisierung der Parochie eine faktische Entfernung kirchlicher Praxis von reformatorischer Theologie darstelle, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 275.
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Ort der für die Kirche konstitutiven Elemente Versammlung, Sakramentsverwaltung und Predigt (CA VII) ist.437 Als Ergebnis exegetischer Betrachtung neutestamentlicher Aussagen zur Kirche macht Zimmermann deutlich, dass Kirche und Gemeinde in einem engen Wechselverhältnis stehen und beide gleichermaßen legitime Formen dessen sind, was im Neuen Testament mit ekklesia beschrieben wird.438 Beide Begriffe beschreiben also sowohl institutionelle (z. B. Amtskirche) als auch funktionale Größen (z. B. Körperschaft des öffentlichen Rechts). Dabei trägt der Begriff Kirche darüber hinaus auch einen stärker dogmatisch-ekklesiologischen und der Begriff Gemeinde eher einen soziologisch-empirischen Charakter.439 Die evangelische Landeskirche stellt gewissermaßen den Mittelweg zwischen einem eher hierarchisch-organisierten Zentralismus (römisch-katholisch) und einer starken Betonung der (mehr oder minder autonomen) lokalen Gemeinde i. S. e. Kongregationalismus (einige evangelische Freikirchen in Deutschland) dar.440 Entsprechend der Beschreibung von Kirche in CA VII wird Gemeinde – als konkrete Ausdrucksform (bzw. kleinste Einheit441) dieser – im Folgenden als congregatio sanctorum beschrieben und somit der Aspekt auf der Versammlung einer bestimmten Gruppe von Menschen mit der Absicht, das Evangelium in Wort und Sakrament zu bezeugen. Dabei wird sanctorum bewusst in doppelter Hinsicht verstanden: als die Versammlung der Christen als Heilige und der Versammlung um das Heilige i. S. v. Gottes Gegenwart. Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als dass sich nicht nur Christen versammeln können, um 437 Vgl. Zimmermann 2009, 5–7. Peter Bubmann et al. schreiben im Anschluss an CA VII: »Praktisch-ekklesiologisch ist der Begriff der Gemeinde in sich spannungsvoll und verknüpft drei Dimensionen: Er bezeichnet ein geistliches Geschehen (›Gemeinde entsteht, wo …‹), eine empirische Gestalt (›Kirche organisiert sich in Form von …‹) und ein kritisches Anliegen (›Von Gemeinde im evangelischen Sinn ist zu sprechen, wenn …‹).« (Bubmann et al. 2014, 136). 438 Vgl. Zimmermann 2009, 7. 439 Vgl. Winkler 1997, 17 f. Über das Verständnis von Gemeinde angesichts einer zunehmenden Vielfalt von Gemeindeformen schreiben Kunz/Pohl-Patalong: »Der Blick in die Kirchenlandschaft vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt der gegenwärtigen Gemeindebewegung. […] Inwiefern kann aus der Vielfalt auch ein Verständnis der Gemeinde abgeleitet werden? Wir halten die Verwendung des Begriffs ›Gemeinde‹ weiterhin für sinnvoll, meinen aber, nur Verständnis für die Vielfalt zu haben, reiche nicht aus. Es braucht ein Verstehen dieser Pluralität, das begleitet ist von der Verständigung darüber, was die Einheit der Kirche ausmacht. Weil Kirche mehr ist als ein Gemeindeverbund, verpflichten sich ihre Glieder zu einem konziliaren Prozess der Verständigung. Als neu und herausfordernd nehmen wir wahr, dass die innerevangelische Auseinandersetzung über Einheit und Universalität der Kirche in, über und durch Gemeindetypen in Gang kommt und sie sich nicht mehr oder nur teilweise in der Rechts- und Sozialgestalt der Parochie abbilden lassen. Das heißt aber auch, dass auf dem Hintergrund der parochialen Gestalt die Vielfalt nicht hinreichend erfasst wird.« (Kunz/Pohl-Patalong 2013, 34). 440 Vgl. Winkler 1997, 17 f. 441 Vgl. Zimmermann 2009, 5.
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Gemeinde (und Kirche) zu sein, sondern auch Nichtchristen daran Anteil haben können. Mit den Worten Wilfried Härles: »Die Kirche [und somit die Gemeinde] ist also die Gemeinschaft der Menschen, die durch das Evangelium von Jesus Christus erreicht und bewegt werden.«442 Dabei bewegt sich Gemeinde zwischen den Bezugsgrößen Gemeinschaft (bzw. Versammlung) als Ereignischarakter und Kirche als dauerhafte Zugehörigkeit. Hauschildt/Pohl-Patalong schlagen drei Ebenen vor, auf denen sich Kirche als Gemeinde beschreiben lässt, ohne dabei zwangsläufig parochial zu denken. Demnach ist Gemeinde a) ein geistliches Geschehen, b) eine Institution und c) eine Organisation.443 Aufgrund dieser drei Ebenen identifizieren sie anhand von Grundlagen und Kennzeichen Kriterien dafür, was Gemeinde ist: • Die geistlichen Grundlagen sind das grundlegende und dauerhafte Bezogensein auf Jesus Christus, welcher Grund der Gemeinde ist (christologische Grundlage), die Zugehörigkeit zu der einen, heiligen, christlichen (und apostolischen) Kirche (ökumenische Grundlage), die unterschieds- und bedingungslose Vergemeinschaftung aller ohne Ansehen der Person (rechtfertigungstheologische Grundlage) sowie die Sendung in die Welt (missionarische Grundlage). Diese Grundlagen gelten laut Hauschildt/Pohl-Patalong für jede christliche Gemeinde.444 • Die institutionellen Kennzeichen sind der regelmäßige Gottesdienst mit Wort und Sakrament (explizite liturgische Kennzeichen), die über den Gottesdienst hinausgehenden Aufgaben der Verkündigung des Evangeliums durch Begleitung, Bildung, Hilfestellung und Gerechtigkeitshandeln (soziokulturelle implizite Kennzeichen), die Eröffnung, Förderung und Begleitung der Entdeckung und Aneignung des Glaubens (Individualitätskennzeichen), die Leitung durch Allgemeines Priestertum und Amt (Leitungskennzeichen) sowie eine situationsadäquate Struktur, die es Menschen ermöglicht, am gemeindlichen Leben teilzuhaben (Strukturkennzeichen). Diese Kennzeichen gelten nur für reformatorische Gemeinden.445 • Die organisatorischen Kennzeichen sind das Vorhandensein einer eigenständigen Leitungs- und Vertretungskultur (Prinzip der organisatorischen Einheit) und die gegenseitige Leitungs- und Steuerungspartizipation lokaler und regionaler Kirche (Prinzip der organisatorischen Wechselseitigkeit).
442 Härle 2007a, 570. Härle betont hier das Prozesshafte der Kirche als creatura evangelii, vgl. aaO., 570 f. 443 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 275f und ausführlicher vgl. aaO., 275–284. 444 Vgl. aaO., 277 f. 445 Vgl. aaO., 278–281.
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Die Kennzeichen bezeichnen die Autoren als »kulturell abhängig, jedoch theologisch angemessen.«446
6.2 Gemeindeaufbau oder Gemeindeentwicklung? Dass der Begriff der Entwicklung der praktisch-theologischen Beschäftigung mit der Kirche von Beginn dieser theologischen Disziplin an eingestiftet ist, zeigt Albrecht Grözinger mit Verweis auf Friedrich Schleiermacher447 und dessen Beschreibung von Theologie als »positiver Wissenschaft«448, welche »der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln [ist], ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.«449 Diese Beschreibung des Gegenstandes der praktisch-theologischen Forschung impliziere, so Grözinger, die Annahme einer Entwicklung, da einerseits der je gegenwärtige Zustand nicht zureichend und deshalb einer Änderung bedarf (weshalb um diesen gerungen werden muss) und andererseits die »Wege und Methoden dieser Änderung stets umstritten sind.«450 Ein Prozess der Änderung wiederum unterliegt einer Entwicklung, die provoziert, zugelassen bzw. gestaltet und gesteuert werden muss und dieser Prozess kann wiederum niemals abgeschlossen sein, da der theologische Diskurs fortschreitet und die gesellschaftliche Wirklichkeit sich ebenfalls wandelt. Summa summarum: »Kirche und Praktische Theologie gibt es ohne den Gedanken der Entwicklung nicht.«451 Dabei macht der Diskurs452 über die Begrifflichkeit der Kirchen- und/ oder Gemeindeentwicklung (Kybernetik453, Oikodomik454, Gemeindeaufbau455 etc.) deutlich, dass »sich die Zielsetzung der Kirchen[- und Gemeinde]ent446 AaO., 282. Zur Darstellung vgl. aaO., 282–284. 447 Schleiermacher gilt als Begründer der neueren Praktischen Theologie, vgl. Grözinger 2014, 57 f. 448 Schleiermacher 2007, 12. 449 AaO., 13. 450 Grözinger 2014, 58. 451 Ebd. 452 Für eine Übersicht der aktuelleren Diskussion vgl. Zimmermann 2009, 38 ff. 453 Vgl. Grethlein 2007, 494 und Seitz 2001, 1915 f. Vgl. auch Herbst 2010, 71f und 307ff sowie Kunz 2014, 272–274. 454 Vgl. Grethlein 2007, 494f, Möller 2004, 45–71. 455 Vgl. Winkler 1997, 25–29, Herbst 2003, 179 f. und ders. 2010, 49–73 sowie Kunz 2014. Weiterführend vgl. Möller 1987 und ders. 1990. Vgl. auch »Gemeindeaufbau« als Aufgabe der praktischen Theologie in Zimmerman 2009, 25–30.
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wicklung nicht auf eine Linie bringen lassen.«456 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Beschäftigung mit Kirchen- und Gemeindeentwicklung mehr oder minder alle Themen der Praktischen Theologie berührt (»die Summe aller Teilbereiche der Praktischen Theologie«457) und somit quer zur Disziplin insgesamt liegt. Die Komplexität des Themas macht den Zugriff, die Beschreibung und die Darstellung überaus schwierig bzw. unmöglich.458 Hier zeigt sich die oben beschriebene Spannung zwischen göttlichem Auftrag und empirischer Wirklichkeit der Kirche: »Im Hin und Her von Ideal und Wirklichkeit wird Gemeinde ständig pluraler und die Prognose, wohin sie sich entwickeln soll, immer schwieriger.«459 Diese Spannung zeigt sich z. B. bei den zwei Begriffen Gemeindeaufbau und Gemeindeentwicklung. Christian Grethlein führt aus, dass der Begriff Gemeindeaufbau im Anschluss an den neutestamentlichen Begriff οἰκοδομή460 (vgl. u. a. Mt 16,18; 24,1; Mk 13,1 f.; Apg 9,31; Röm 15,20; 1Kor 3; 14,26; Gal 2,18; 1Petr 2,5.7) das Wirken Gottes als Bedingung und Voraussetzung für das Leben der Gemeinde in Sammlung und Sendung461 betont. Dabei unterstreichen bspw. Michael Herbst462 und Christian Möller463, dass es Jesus Christus selbst ist, der seine Gemeinde (u. a. im Sinne der creatura verbi) baut (vgl. Mt 16,18). Herbst definiert: »Gemeindeaufbau ist das Werk des erhöhten Herrn Jesus Christus, der selbst eine ›Gemeinde von Brüdern‹ zusammenruft, ihrem Leben Gestalt gibt und sie in seinem Auftrag aussendet.«464 Möller beschreibt Oikodomik demzufolge als »diejenige Lehre, in der es um die theologischen Bedingungen für Aufbau und Wachstum der christlichen Gemeinde geht.«465 Dabei geschieht Gemeindeaufbau auf dem Fundament, welches Christus selbst ist (1Kor 3,11) und dies macht die Gemeinde (also die Menschen) zu Gottes Ackerfeld und
456 Kunz/Schlag 2014, 13. 457 Ebd. 458 Vgl. aaO., 14. 459 Ebd. »Je prägnanter ›Entwicklung‹ gedacht wird, desto deutlicher treten divergierende Leitinteressen zutage. Es wäre darum nicht nur unrealistisch, angesichts der vielfältig zerklüfteten Diskurslandschaften eine unité de doctrine oder einen kybernetischen common sense zu erwarten. Mehr noch: Dies wäre angesichts der unter-schiedlichen Positionen, Perspektiven und den zu bearbeiteten Themen theoretisch überaus fragwürdig.« (AaO., 10 – Hervorhebung im Original). 460 Vgl. Pfammatter 1981. 461 Cornehl/Grünberg sprechen von der Zweiphasigkeit des gemeindlichen Lebens, vgl. Cornehl/ Grünberg 2004, 295. 462 Vgl. Herbst 2010, 66 f. 463 Vgl. Möller 2004, 57 f. 464 Herbst 2010, 66. 465 Möller 2004, 45.
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Bau und zugleich zu Gottes Mitarbeitern (1Kor 3,9).466 Herbst hält fest: »Dieses Werk des Gemeindeaufbaus vollbringt Jesus Christus aber nicht ohne menschliche Mitarbeit. Von uns aus gesehen ist darum Gemeindeaufbau ein planmäßiges Handeln im Auftrag Jesu Christi mit dem Ziel, dem Zusammenkommen, Gestaltgewinnen und Gesandtwerden der ›Gemeinde von Brüdern‹ zu dienen.«467 Im Rückgriff auf Rudolf Bohren468 fährt Herbst fort: »Gemeindeaufbau geschieht also in theonomer Reziprozität: Jesus Christus ist das erste Subjekt des Gemeindeaufbaus; ihm entspricht aber ein entschiedenes und gezieltes menschliches Mit-Tun.«469 Grundsätzlich gilt, dass die Unterschiede zwischen den Begriffen graduell sind und die grundsätzliche Spannung zwischen theologischer und empirischer Wirklichkeit der Kirche aufzeigen.470 Entsprechend betrachtet Ralph Kunz den Begriff Gemeindeaufbau als fest umrissenes Programm und somit als »bestimmten Typus der Gemeindeentwicklung«471, welcher »sich einerseits mit dem Prozess und andererseits mit dem theologischen Prinzip und geistlichen Profil der Gemeinschaftsbildung [beschäftigt], das Paulus im Korintherbrief mit der Formel ›alles diene der Erbauung‹472 (1Kor 14,26) bedacht hat.«473 Der Ansatz von Kunz betont damit den Aspekt der Gemeinschaftsbildung als fokussiertes Thema des Gemeindeaufbaus sowie als allgemeines und grundlegendes Thema der Gemeindeentwicklung. Die Grenze des Begriffs liege laut Grethlein in der Assoziation
466 Vgl. dazu Meyer-Blanck/Weyel 2008, 95. 467 Herbst 2010, 66 f. 468 Vgl. Bohren 1986, 65–88, besonders 76–82. 469 Herbst 2010, 67. »Wird aber die Autorenschaft Jesu Christi in der Geschichte des Gemeindeaufbaus hervorgehoben, so soll doch nicht – in doketischer oder quietistischer Weise – das menschliche Tun herabgewürdigt werden. Es ist Gottes Entschluß [sic!], so und nicht anders Gemeinde zu bauen. Darum werden Christen und Gemeinden auch nicht davon dispensiert, in der Bewegung der Umkehr auf die verheißene ›Gemeinde von Brüdern‹ zuzugehen. Jesus Christus als das Haupt seiner Gemeinde, aber doch nicht ohne seinen Leib, ohne die vielen, mit Charismen begabten Glieder als seine irdische Existenzweise. Gerade das menschliche MitBauen im Gemeindeaufbau will vielmehr als Frucht und Ergebnis des Handelns Jesu Christi verstanden sein. Gemeindeaufbau geschieht, indem Menschen ihre Hände rühren, sie aber auch falten oder gelegentlich einfach in den Schoß legen und sich wundern, daß [sic!] der Bau wächst.«( AaO., 67f). Zum Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln beim Gemeindeaufbau vgl. auch Zimmermann 2009, 25–27. 470 Vgl. Grethlein 2007, 494 f. Grethlein verweist darauf, dass Autoren, die eher »unmittelbar biblisch argumentieren« (aaO., 494) vorzugsweise den Begriff Gemeindeaufbau verwenden, während Autoren, die einen eher sozialwissenschaftlichen Zugang haben, zur Verwendung des Begriff Gemeindeentwicklung tendieren, vgl. ebd. 471 Kunz 2014, 269. 472 Zu Gemeindeaufbau und Erbauung sowie den »Schwierigkeiten« mit dem Begriff Erbauung vgl. Herbst 2010, 70 f. 473 Kunz 2014, 269.
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des Begriffs Aufbau mit Neubau, was bereits bestehende Strukturen etc. vernachlässigen würde.474 Zudem kann Gemeindeaufbau als Programm starr und unflexibel bzw. kulturell einseitig sein.475 So setzt sich der Begriff des Wachstums476 bzw. der Entwicklung zunehmend durch und ist – in Ergänzung durch Gemeindeaufbau mit seinem Fokus auf dem Aspekt der Erbauung477 und des Aufbauen als grundlegendem Auftrag der Gemeinde und der ganzen Kirche – ein vielversprechender Terminus, der einer pluralen und hybriden Kirche am ehesten entspricht.478 Dem Begriff Gemeindeentwicklung wohnt eine deutliche Flexibilität inne. Zudem erscheint dieser soziologisch und theologisch angemessener, da er eher eine Weiterentwicklung (Weiterbau)479 von Bestehendem beschreibt und dies durchaus im Sinne einer Entfaltung (mehr als Eigendynamik und weniger unter Einwirkung von außen480) dessen, was bereits (empirisch) vorhanden bzw. von Gott verheißen und im Glauben zu ergreifen ist.481 Dies bedeutet auch, dass Gemeinde weder statisch noch fertig ist, sondern sich im Werden befindet.482 Entgegen dem Bild des Baus, welcher im Normalfall irgendwann abgeschlossen ist, betont der Begriff Entwicklung das Unabgeschlossene und Prozesshafte des Vorgangs. Kunz/Schlag halten fest, dass der Begriff Entwicklung in normativer Hinsicht als eine »Entwicklung zum Besseren«483 beschrieben werden kann. Wenn der Zweck und das Ziel von Entwicklung die verbesserte Praxis ist, so wird Entwicklung zu einer handlungstheoretischen Kategorie, die einen Prozess beschreibt, der einen Anlass, Akteure, einen Ablauf und ein Resultat hat. Dabei besteht zwischen diesen Größen eine Interdependenz und eine wechselseitige kausale Verbindung. Ganz grundsätzlich kann mit Kunz/Schlag gesagt werden: »Entwicklung ist das, was durch Veränderung angestoßen wird, aber auch das, was Veränderungen anstößt, weil sich Dinge, Sachverhalte und Personen ent-
474 Vgl. Grethlein 2007, 494 f. Ähnlich auch Kunz, vgl. ders. 2014, 274 f. 475 Herbst widerspricht dieser Annahme und präzisiert den Begriff Gemeindeaufbau, um das Adjektiv missionarisch, um die Dynamik und die missionarische Ausrichtung nach vorn zu unterstreichen. Zudem betont Herbst, dass sich der missionarische Gemeindeaufbau zuerst nach innen an die Gemeinde selbst richtet und somit keine bloße Außenorientierung darstelle, vgl. Herbst 2010, 67–69. 476 Vgl. Kunz 2014, 272 und Herbst 2010, 69 f. 477 Zu dem Ineinander von Wachstum und Erbauung (Eph 4,16) vgl. Herbst 2010, 69 f. 478 Vgl. Kunz 2014, 271 f. 479 Vgl. Winkler 1997, 25 f. 480 Vgl. Meyer-Blanck/Weyel 2008, 95. 481 Vgl. dazu auch Fechtner 2014, 165 f. 482 Herbst betont diesen Aspekt auch im Hinblick auf den Terminus Gemeindeaufbau, vgl. Herbst 2010, 69. 483 Kunz/Schlag 2014, 11.
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wickeln und zugleich programmatisch entwickelt werden.«484 Gemeindeentwicklung ist dann die Beschreibung von Gemeinde als handelnde, behandelte und verhandelte Größe und somit befasst sich Gemeindeentwicklung mit »Handlungen, die Gemeinde entwickeln, erzeugen oder erschaffen, [und diese] erschließen sich theoretisch als Kommunikation.«485 Dass Gemeinde ein dynamisches Gebilde ist, macht nicht zuletzt die evangelische Formulierung »ecclesia semper reformanda«486 deutlich. Eine gelungene Kirchen- und Gemeindeentwicklung besteht sowohl in gründlicher ekklesiologischer Reflexion (z. B. zu Wesen, Sendung und Auftrag der Gemeinde im Ganzen der Kirche als Leib Christi) als auch in möglichst exakten empirischen Erhebungen (z. B. in Form von Sozialraumanalysen487 und Congregational Studies488). Somit ist eine dem Gegenstand angemessene Kirchen- und Gemeindeentwicklung eine solche, die zwischen ihrem eigenen Beitrag und ihrer eigenen Begrenzung bei der Entwicklung von Kirche und Gemeinde zu unterscheiden weiß. Dabei wird sie sich bemühen, die eigene – Gott gegebene – Kompetenzgrenze nicht zu überschreiten und gleichzeitig im Rahmen ihrer Aufgabe das Bestmögliche zur Entwicklung beizutragen.489 Im Folgenden wird der Begriff der (Kirchen- und) Gemeindeentwicklung gebraucht, da dieser sowohl die theologische Dimension der Kirche i. S. v. Entfaltung und das Erglauben490 des göttlich verheißenen geistlichen Potentials (u. a. durch Gebet) als auch die empirische Seite der Kirche betont und das Zusammenspiel beider als theologische und soziologische Fortentwicklung der bereits gegebenen Entität Kirche bzw. Gemeinde beschrieben wird. Erneut erweist sich der Begriff Leib Christi gut geeignet, diese Ambivalenz der Kirche zum Ausdruck zu bringen, da dieser sowohl die empirisch zu beschreibende und gestaltende Dimension von Gemeinde (Leib)491 als auch die theologischgeistliche Dimension beschreibt, die sich menschlichem Zugriff und menschlicher Gestaltung entzieht (Christi). In dieser Spannung muss eine urbane
484 AaO., 12. 485 Ebd. 486 Vgl. Tietz 2014, 49 f. 487 S. o. § 2 Abs. 2.5. 488 Vgl. dazu Kunz 2014, 276. 489 Kunz/Schlag beschreiben dies im Anschluss an eine radikale Theologie als Spannung von Glaube und Werk, welche sich erst dann als fruchtbar (bzw. als »Entwicklungsgenerator«) erweist, »wenn es gelingt, die Einsicht in die Grenzen der Organisierbarkeit mit der Aussicht auf eine gelingende göttlich-menschliche Kooperation zu koppeln und dabei für die Emergenz der Prozesse aufmerksam zu bleiben.« (Kunz/Schlag 2014, 18). 490 Vgl. Möller 2004, 63 ff. 491 Die Feststellung dieser Tatsache war den Reformatoren, gegenüber den sog. Schwärmern, wichtig, vgl. Tietz 2014, 50.
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Gemeindeentwicklung als Theorie kirchlicher Praxis492 die kirchlichen Aufgaben und Herausforderungen in Sammlung und Sendung493 unter urbanen Bedingungen (besonders der Segregation) beschreiben und dabei sowohl Handlungs-anweisungen und Gestaltungsvorschläge geben (die im Sinne der Barmer Theologischen Erklärung dem Wesen des Evangeliums entsprechen), als auch die Unverfügbarkeit des göttlichen Wirkens bei dem Bau der Gemeinde als creatura verbi betonen und diese Grenzen menschlicher Einflussnahme und Gestaltung respektieren und als Chance für die Kirche achten (i. S. v. 2Kor 12,1–10).
6.3 Gemeindeentwicklung als Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln Göttliches und menschliches Tun in ein angemessenes Verhältnis zu setzen, ist somit die grundsätzliche Herausforderung einer Theorie der Gemeindepraxis.494 Christiane Tietz verweist darauf, dass für die Reformatoren sowohl die Konstitution der Kirche495 als auch ihre Erhaltung und selbst ihre Reform letztlich Gottes eigenes Werk sei496 und stete Umkehr zum Evangelium von Jesus Christus bedeute.497 Das Ineinander von göttlichem und menschlichem Tun zeigt sich besonders im gottesdienstlichen Geschehen, in welchem menschliches Handeln (predigen, musizieren, beten etc.) und göttliches Handeln (Gottes Geist spricht Menschen durch sein Wort an und schafft Glauben und Heiligung) ineinander verwoben sind und als Einheit begegnen. Die Entwicklung einer Gemeinde ist dann die wirkungsvolle Kommunikation des Evangeliums und das daraus resultierende Wachstum in der Erkenntnis Gottes, der Erkenntnis des Selbst sowie dem Glauben an das Evangelium. 492 Vgl. Kunz/Schlag 2014, 13. 493 Siehe weiter unten und vgl. dazu Kunz 2014, 270–272, Herbst 2010, 69f und Zimmermann 2009, 16 f. 494 Zum Ansatz der sog. radikalen Theologie, vgl. Kunz/Schlag 2014, 17 f. Weiterführend zur Radikalen Theologie vgl. Dalferth 2010, besonders 235 ff. 495 »Ihrem Ursprung nach verdankt sich die Kirche nicht dem Entschluß [sic!] der Menschen, die ihr angehören, sondern dem Evangelium von Jesus Christus, das durch Wortverkündigung und die Feier der Sakramente bezeugt wird und – durch das Wirken des Heiligen Geistes – Menschen beruft, erleuchtet und versammelt. […] Die Kirche ist also ein ›Geschöpf des Evangeliums‹.« (Härle 2007a, 570). 496 Vgl. Tietz 2014, 49 f. 497 Vgl. dazu die Ausführungen zu den vier notae ecclesiae, die Gegenstand des Glaubens sind und nicht empirisch nachweisbar, sondern insofern Teil der verborgenen Kirche, vgl. Schlink 2005, 683–685 und Tietz 2014, 49.
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Dabei geht für reformatorische Theologie der »entscheidende Entwicklungsimpuls vom Wort Gottes aus, welches die in der Kirche zusammenkommenden Menschen ihre Sündhaftigkeit erkennen lässt und ihre Rechtfertigung und Heiligung bewirkt.«498 Dies bedeutet, dass aus reformatorischer Perspektive »[j]ede Entwicklung von Kirche und Gemeinde […] darauf [zielt], dem Wort Gottes Raum zu verschaffen.«499 Dass die Kirche Gottes Wort hört, ist angesichts der oben beschriebenen Spannungen zwischen ihrem von Gott gestifteten Wesen und ihrer empirischen Wirklichkeit umso wichtiger: »Sichtbare und geglaubte Wirklichkeit sind nicht voneinander zu trennen. Die geglaubte Wirklichkeit soll aber nicht nur geglaubt, sondern immer wieder auch erfahren werden. Daraus ergibt sich die grundlegende Entwicklungsdynamik der Kirche.«500 Damit dies geschieht, »sind Glaube und Leben der Kirche auf das stets neue Hören des Wortes Gottes angewiesen.«501 Das Heilige an der Kirche ist nicht sie selbst, sondern das an sie ergehende Wort, das Gott offenbart, Sünde aufdeckt, Vergebung zuspricht und Glauben schenkt sowie Heiligung bewirkt. Dabei richtet sich das Wort nicht nur an die Kirche502, sondern an alle Menschen und mit dieser Aufgabe ist die Kirche in der Welt betraut: »Gemeindeentwicklung muss beide Dimensionen im Blick behalten, den Aufbau der Gemeinde durch das Wort und das Ausrichten des Wortes an alle.«503 Ähnlich betont Michael Herbst, dass Gemeinde im Neuen Testament stets wachsende Gemeinde ist und dieses Wachstum sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur bzw. intensiv und extensiv ist. Intensiv meint das Wachstum der Gemeinde nach innen, indem diejenigen, die bereits zu ihr gehören, das Wort Gottes als erneute oder erstmalige persönliche Anrede an sie hören und umkehren und dem Evangelium Vertrauen schenken und in Glaube, Liebe und Hoffnung wachsen. Dieser Aspekt wird gemeinhin mit dem Begriff Sammlung beschrieben und ist insofern ein steter Prozess, in welchem sich Gemeinde entwickelt. Dem gegenüber steht das extensive Wachstum der Gemeinde, das mit dem Begriff Sendung beschrieben wird und die Zuwendung zu und die Einladung an diejenigen beschreibt, die (noch) nicht zur Gemeinde gehören. Schenken diese so Angesprochenen und Eingeladenen dem Evangelium Gehör und Vertrauen, dann werden Menschen zur Gemeinde hinzugefügt (vgl. Apg 2,47)
498 Tietz 2014, 49. 499 Ebd. 500 AaO., 54. 501 Ebd. 502 Ralph Kunz betont dabei, dass für die Kirche und den Gemeindeaufbau dasselbe gilt, wie für den einzelnen Christen: Eine Existenz in der Spannung des simul iustus et peccator, vgl. Kunz 2014, 275. 503 Tietz 2014, 55.
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und diese wächst extensiv. Beides gehört eng zusammen und das eine bedingt das andere.504 Beide »müssen einander entsprechen; keines für sich genommen genügt. […] Extensives und intensives Wachstum gehören vielmehr zusammen, wie Ein- und Ausatmen; beides zusammen beschreibt die Bewegung des missionarischen Gemeindeaufbaus.«505 Zusammenfassend kann mit Johannes Zimmermann im Bezug auf Wesen und Auftrag der Kirche innerhalb der missio Dei und den daraus resultierenden Konsequenzen für die (Kirchen- bzw.) Gemeindeentwicklung von einer funktionalen Ekklesiologie506 gesprochen werden, deren »Funktion« (oder »Zweck«507) die Kommunikation des Evangeliums in Sammlung und Sendung ist und folglich »sind funktionale Fragestellungen berechtigt, ja notwendig: Ihre Gestalt ist daran zu messen, ob sie dem Auftrag der Kirche dient. Die Gestalt der Gemeinde ist damit weder sakrosankt noch beliebig, sondern funktionalen Kriterien zu unterwerfen, an denen sich auch menschliches Handeln im Dienst der Kirche auszurichten hat.«508 Wie bereits oben angemerkt, ist die Grenze einer solchen Funktionalität die Doxologie. Oder mit den Worten Michael Moynaghs: »The
504 Vgl. Herbst 2010, 69 f. 505 AaO., 70. 506 Vgl. Zimmermann 2009, 19 ff. Zimmermann unterscheidet drei Formen funktionaler Ekklesiologie: a) individuelle Zielsetzung, die auf einzelne Subjekte bezogen sind, b) universale Zielsetzung, die sich auf die Größe »Reich Gottes« bezogen wissen und c) die Schaffung von Sammlung (Communio bzw. Gemeindeaufbau) als Ziel der Kirche. Vgl. aaO., 21–24. in der Theorie, nämlich bei der Definition der Kirche, darüber hinwegsehen, daß [sic!] das sie konstituierende Evangelium nicht nur der Kirche, sondern allem Volk, aller Welt gilt, folglich also auch die als Kreatur des Evangeliums existierende Kirche schlechterdings kein Selbstzweck sein kann, sondern in die Welt hinaus muss [sic!], um dieser von ihr – noch – unterschiedenen Welt im recht verstandenen Sinne des Wortes Bescheid zu sagen über Gott und die Welt.« (Jüngel 2003, 117f). 507 Zimmermann markiert den »relativen Selbst-Zweck« der (sichtbaren) Kirche als Grenze der funktionalen Ekklesiologie: »Damit ist aber auch schon eine Grenze funktionaler Ekklesiologie im Hinblick auf die erfahrbare Kirche markiert: Wenn individuelle und universale Zielsetzungen nicht unabhängig vom ›Gemeindeaufbau‹ denkbar sind, kann Kirche nicht ausschließlich als Instrument und Funktion von etwas außerhalb ihrer selbst Liegendem gesehen werden, sondern besitzt einen ›relativen Eigen-Wert‹, eine ›Selbstzwecklichkeit‹, die ihr als sich dem Wort Gottes verdankende Gemeinschaft ebenso wie als proleptischer Realisierung der Gottesherrschaft zukommt.« (AaO. 23). 508 AaO., 22. »Die sichtbare Gestalt der Kirche muss sich immer auch daran messen lassen, ob ihre Gestalt ihrem ›Wesen‹, ihrer Identität und ihrem Auftrag angemessen und in dieser Hinsicht ›funktional‹ ist. Funktionales Denken hat dort seinen Ort und seine Notwendigkeit, wo es um die empirische Seite der Kirche geht, um menschliche Verantwortung und menschliches Handeln. Da ist Funktionalität gefragt, im Bild von 1Kor 3,9ff: Es ist nach der Funktionalität und Beschaffenheit der beim ›Gemeindeaufbau‹ verwendeten Materialien zu fragen (1Kor 3,12ff). Im Hinblick auf die verborgene bzw. geglaubte Kirche hingegen sind funktionale Fragestellungen unangemessen – sie hat ihren Wert in sich selbst.« (AaO., 24f).
7. Bündelung: Wesen und Auftrag der Kirche
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church is the foretaste of the kingdom – of something far more expansive and wonderful than exists in the church (or world) now. As a foretaste, the church mediates the future to the world […]. But it does this imperfectly.«509
7. Bündelung: Wesen und Auftrag der Kirche Bezüglich der Frage nach Wesen und Bedeutung der Kirche angesichts einer zunehmend als säkular zu beschreibenden Kultur hält Christoph Schwöbel fest: Kann sich die Bestimmung und Gestaltung der Sozialgestalt kirchlichen Lebens nicht mehr an den brüchig gewordenen Einbindungen der Kirche in die gesellschaftliche Organisation orientieren, müssen die Kriterien der Gestaltung kirchlichen Lebens aus dem Verständnis von Wesen und Auftrag der Kirche gewonnen werden. Umgekehrt stellt die pluralistische Situation der Gesellschaft die Kirchen vor die Aufgabe, die Identität der christlichen Botschaft auch in der Gestaltung ihres sozialen Lebens identifizierbar zum Ausdruck zu bringen. Was die Kirche zu sagen hat und wer die Kirche ist, läßt [sic!] sich nicht voneinander trennen, und beides muß [sic!] darin zum Ausdruck kommen, wie die Kirche ihr Sozialleben gestaltet.510
Mit Wilfried Härle kann für den Wesensbegriff festgehalten werden, dass dieser das Unaufgebbare und Unverzichtbare einer Sache beschreibt.511 Dies gilt dann sowohl in Abgrenzung zu anderen Sachen und deren Wesen sowie in Unterscheidung zur dem Wesen einer Sache und den verschiedenen und vielfältigen (zuweilen dem Wesen widersprechenden) Erscheinungsformen dieser Sache.512 Für Wesen und Auftrag der Kirche kann als Fazit des bisher Dargestellten Folgendes ausgesagt werden: • Im Anschluss an die Figur der missio Dei gilt, dass die Kirche nicht getrennt von der Sendung, der sie sich verdankt, beschrieben werden kann. Wenn nun die Kirche als die Gesandte Gottes ihre eigene Existenz dieser Sendung verdankt, dann gilt für die Kirche dasselbe wie für Gott: Man kann Sein und Akt nicht trennen.513 Die Kirche muss in ihrer Form ihre Sendung als den Grund ihrer Existenz widerspiegeln: »As there is no breach in the being and act of God, so there can be no breach in the being and act of his 509 Moynagh 2012, 103. 510 Schwöbel 2002, 384. 511 Vgl. Härle 2007a, 49–55. 512 Vgl. aaO., 54. 513 Vgl. Barth 1975b, 288–305 und Schlink 2005, 59–65.
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community. The Christian community is a missionary community, or she is not the Christian community.«514 Somit ist die bleibende Orientierung an der Sendung Gottes als Mission der Kirche für diese das Unaufgebbare und Unverzichtbare. Martin Reppenhagen betont, dass die Mission der Kirche nicht ein Bereich ihres Arbeitens und Lebens, sondern Grundlage und Ausgangspunkt allen Ausdrucksformen kirchlichen Lebens ist.515 Sie ist (mit Eberhard Jüngel516 formuliert) als »Herzschlag« der Kirche zu beschreiben und ihr Unterlassen würde zu »Herzrhythmusstörungen« führen. • Im Anschluss an das Bekenntnis der Kirche als creatura verbi gilt, dass die Kirche sich nicht selbst konstituiert, d. h. weder Sympathie, gemeinsame Interessen, Programme oder irgendeine andere menschliche Agenda ruft die Kirche ins Sein. Dies geschieht allein durch das Wort Gottes, indem in der congregatio sanctorum das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird (CA VII) und der Heilige Geist durch dieses Handeln Glaube schenkt, wo und wann er will (CA V). Somit bezeugt (Martyria) die Kirche als Zeugnisgemeinschaft in ihrer Sozialgestalt als Koinonia das Evangelium von der liebevollen Zuwendung und Gegenwart Gottes als göttliche Tat. • Im Anschluss an die Beschreibung der Doxologie als Grenze eines funktionalen Kirchenbegriffs lädt die Kirche als Zeugnisgemeinschaft zur Anbetung Gottes ein. Das Lob des dreieinen Gottes verbindet die Christen aller Zeiten, Kulturen und Konfessionen und ist als Leiturgia das ökumenische Band der universalen Christenheit. • Im Anschluss an das integrative Missionsverständnis der missio Dei bezeugt die Kirche das Evangelium neben Wort und Sakrament ebenso in der praktischen Tat als Diakonia. Dies ist Ausdruck der ganzheitlichen Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung, welche u. a. in den Heilungen und Exorzismen Jesu zum Ausdruck kommt. Dabei gilt (mit Mk 8,36f par.) das kleine sachliche Prae der Evangelisation. Summa: Die missionarische Existenz und Tat der Kirche ist Ausdruck der Wirklichkeit christlicher Hoffnung517, die sich aus dem Handeln Gottes in Christus ergibt.518 Mission beschreibt folglich nicht eine Aktivität der Kirche, sondern das Wesen dieser Herausgerufenen (ekklesia) und zum Herrn Gehörigen (kyriake),
514 Flett 2010, 292 f. 515 Reppenhagen 2011, 159. 516 Vgl. Jüngel 2003, 115 f. 517 »Missionary action is the reality of hope.« (Flett 2010, 291). 518 »Because mission is located in the doctrine of the Trinity, it must again return to theological curricula, must become central to the teaching ministry of the local congregation, and must inform liturgical practice.« (AaO, 296f).
8. Ausblick: Gemeindeentwicklung
339
da sie aus der Mission Gottes geboren wurde und Gott wesenhaft missionarisch ist. Daraus resultiert, dass jeder einzelne Christ Anteil an der göttlichen Sendung hat und dazu berufen ist, sich als Botschafter Gottes (vgl. 2Kor 5,20) in die Welt senden zu lassen und das Evangelium mit den Menschen des persönlichen Umfeldes zu kommunizieren und ihnen die Taten Gottes zu bezeugen. Wenn die Gemeinde ganz Kirche ist, so gelten die Aussagen über Wesen und Aufgabe der Kirche ebenfalls für die Gemeinde. Folglich gilt, was Michael Herbst über die gesandte Gemeinde sagt: Dieser ist die Nähe und der Beistand des erhöhten Christus zugesagt und dies bedeutet auch, dass die Kirche wachsen muss und soll. Dieses Wachstum ist qualitativ (Glaube, Liebe, Hoffnung) wie quantitativ gemeint (Gemeindewachstum auf allen Ebenen). Insofern kann eine christliche Gemeinde nicht ohne missionarischen Auftrag gedacht und entwickelt werden, will sie Gemeinde und damit Teil der Kirche sein. Sie muss wesenhaft Anteil an der Mission Gottes haben oder sie löst sich aus ihrer göttlichen Berufung und Sendung.519 Diesen Anteil hat die Gemeinde in dem gleichen asymmetrischen Verhältnis, welches zwischen Gott und Mensch generell besteht.520 Die Entstehung der Gemeinde als Resultat von Gottes Handeln in der Welt und Gottes Berufung an die Gemeinde als seine Dienerin sowie die Treue Gottes zu seiner Schöpfung sind die Grundlagen für die Sendung der Gemeinde in die Welt. Sie entspricht damit dem Handeln und Sein Gottes.
8. Ausblick: Gemeindeentwicklung als Martyria, Koinonia, Leiturgia und Diakonia In der Darstellung von Wesen und Auftrag der Kirche sind bereits die Begriffe zur Beschreibung der Lebenszeichen bzw. Grundfunktionen521 der Kirche aufgegriffen worden: Martyria, Koinonia, Leiturgia und Diakonia. Sie sollen gleichsam den Übergang von der Darstellung der Kirche in einem eher allgemeinen Sinn zur konkreten Beschäftigung mit dem Thema urbaner Gemeindeentwicklung dienen. Diese vier Grundfunktionen522 der Kirche binden Wesen und Auftrag der Gemeinde eng zusammen und dienen zur Orientierung dafür, was Gemeinde in der Stadt konstituiert und was ihr aufgetragen ist. Dazu dürfen
519 Vgl. Herbst 2010, 485. 520 Flett 2010, 291. 521 Vgl. Zimmermann 2009, 140–142. 522 Vgl. Richter 2014, 190 f.
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die vier Lebenszeichen aber nicht getrennt voneinander betrachtet, sondern müssen als Einheit verstanden werden. Durch die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente (Martyria) in der congregatio sanctorum (Koinonia) wird die Kirche als Communio konstituiert (Koinonia), denn durch diese doppelte Bezeugung des Evangeliums schafft Gott Glauben in denen, die daran teilhaben. Die Folge der Begegnung mit dem Evangelium vom Sich-geben Gottes führt wiederum zu zweierlei: Erstens zur Anerkennung Gottes als des Herrn und damit zu Dank und Lob, also zur Anbetung Gottes (Leiturgia)523 und zweitens dazu, dass auch der zum Glauben bewegte Mensch sich dem Nächsten schenkt und nicht mehr für sich lebt, sondern im Dienst an seinem Nächsten (Diakonia). Dieser Dienst besteht dabei auch in der Martyria des Evangeliums als Aufgabe des von Gott berufenen Priesters (i. S. d. Allgemeinen Priestertums). Somit konfrontiert die Gabe der Gemeinschaft mit Gott zur Aufgabe der Gemeinschaft mit dem Nächsten in Martyria, Koinonia, Leiturgia und Diakonia.524 »Damit ist die Koinonia der Glaubenden untereinander mit ihren ethischen Implikationen der Bewährungsfall für die Wahrheit der Behauptung von Koinonia mit Gott und so das paradigmatische Beispiel des Tuns der Wahrheit.«525 Die Begegnung mit der selbstlosen Liebe Gottes ist es, die den Menschen befähigt, von sich und seinen Interessen abzusehen und hin zum anderen und dessen Interessen zu schauen und sich dem anderen nicht zu entziehen, sondern sich dessen Situation etwas angehen zu lassen. »Das freie Geben Gottes ermöglicht so die Spontaneität der Praxis der Liebe, die sich in den Dienst des Nächsten stellen kann.«526 Dies macht deutlich, dass die Bezeugung des Evangeliums die Antwort auf dieses durch Glauben in Anbetung und der Dienst am Nächsten auf Engste zusammengehören und keinesfalls getrennt werden dürfen. Insofern kann die Konkretion der missio ecclesiae als Teil der missio Dei mit Koinonia, Martyria, Leiturgia und Diakonia beschrieben werden. Jürgen Moltmann schreibt, dass »eine Kirche […] nicht ohne Verkündung des Evangeliums, ohne Taufe und Herrenmahl, ohne Versammlung und Diakonie ihrer Sendung durch Christus gerecht werden [kann].«527 Timothy Keller spricht von einem »Need for Gospel Renewal«528. Dies beschreibt, dass die Veränderung eines Lebens dann stattfindet, wenn ein
523 Oder wie es Klemens Richter formuliert: »Liturgie als ›Dialog zwischen Gott und Mensch‹.« (AaO, 189). 524 Vgl. Schwöbel 2002, 399. 525 AaO., 402. 526 AaO., 411. 527 Moltmann 1975, 334. 528 Vgl. Keller 2014b, 57 ff.
8. Ausblick: Gemeindeentwicklung
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Mensch die Lehren des Evangeliums bzgl. Sünde und Gnade nicht nur intellektuell versteht, sondern wenn er diese existentiell erlebt. Dieses Geschehen nennt Keller Revival529 und versteht darunter: »[…] intensification of the normal operations of the Spirit (conviction of sin, regeneration and sanctification, assurance of grace) through the ordinary means of grace (preaching the Word, prayer, and the sacraments).«530 Revival ist also im Grunde die Entdeckung der Dogmen des christlichen Glauben auf persönlicher Ebene, was eine Veränderung des Verhaltens zur Folge hat.
529 Vgl. zur Kritik an Revival, aaO. 57–60 sowie eine biblical Theology of Revival, aaO., 59 f. 530 Keller 2012a, 54.
Die Kapitel §§ 11–14 sind unter: www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/kirche-fuer-die-stadt oder dem QR-Code abrufbar. Das benötigte Passwort lautet: sXb9GF
»So stellt sich die Frage, wie die Melodie des Evangeliums im pluralen Stimmengewirr unserer Städte hörbar, wie Kommunikation und Zusammenspiel zwischen Stadt und Glaube gelingen, wie die Stadt zum authentischen Ort der Vergegenwärtigung Gottes werden kann.«1 Markus-Liborius Hermann · Hubertus Schönemann
Kapitel V: Vier Dimensionen und drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung Einleitung Die bisherigen Ausführungen haben sich mit zwei großen Themenkomplexen befasst: 1. Nach einer Einführung in die Dissertation, ihrem Thema und ihrer Methode (Kapitel I) befasste sich das zweite Kapitel mit der Stadt als Kontext urbaner Gemeindeentwicklung. Nach dem Versuch einer Definition anhand der (europäischen) Geschichte der Stadt lag der Schwerpunkt auf der deutschen Stadt mit dem Fokus auf dem Phänomen der sozialräumlichen Segregation. Mit Gentrifizierung und Marginalisierung wurden zwei Varianten sozialer Entmischung eingehender vorgestellt. Dabei wurde deutlich, dass Segregation ein zentrales Thema von Stadtentwicklung ist, welches in allen urbanen (sowie selbst in ländlichen) Räumen beobachtet werden kann. Eine biblische Reflexion des Topos Stadt hat das Kapitel abgeschlossen. 2. Das dritte Kapitel hat sich mit der christlichen Gemeinde im Rahmen der missio Dei befasst. Der Ursprung dieses Theologumenons wurde in der Trinitätslehre verortet und von dort her entfaltet. Die missio Dei wurde als Ursprung der Kirche und als orientierender Bezugsrahmen ihres Auftrags identifiziert. Eine missionstheologische Betrachtung hat verdeutlicht, dass der verheißungs- und der heilsgeschichtliche Aspekt der missio Dei nicht voneinander getrennt werden können. Eine Vertiefung des Gegenstands Kirche wurde mittels ekklesiologischer und kirchentheoretischer Reflexion
1 Hermann/Schönemann 2014, 9.
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Einleitung
geleistet. Dabei wurde Kirche beschrieben als eine hybride Größe (Gruppe, Institution und Organisation) mit dem Auftrag der Kommunikation des Evangeliums in der Spannung zwischen göttlicher Verheißung und empirischer Wirklichkeit. In dem nun folgenden und abschließenden Kapitel der Dissertation sollen Konsequenzen für eine urbane Gemeindeentwicklung gezogen werden, die sich zwischen theologischen und soziologischen Wirklichkeiten befindet und durch beide geprägt wird. Es geht gewissermaßen darum, den Auftrag der Kirche vor dem Hintergrund urbaner Wirklichkeit zu aktualisieren, wie es Jan Hendriks2 beschreibt: »Auf beides kommt es eben an. Es geht um ein realistisches und relevantes Bild der Gesellschaft, in der wir leben, und um eine Vision zu Wesen und Auftrag der Gemeinde unter der Berücksichtigung der Möglichkeiten einer Gemeinde. […] Es geht nicht darum, Wesen und Auftrag der Gemeinde anzupassen, sondern darum, sie zu aktualisieren.«3 Um diese Aktualisierung bemüht sich das folgende Kapitel im Spannungsfeld von missio Dei und urbaner Wirklichkeit sozialer Segregation. Das Kapitel besteht aus einem Dreischritt: Zunächst werden die vier in Kapitel III dargestellten Lebenszeichen der Kirche (Martyria, Leiturgia, Diakonia und Koinonia) als vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung entfaltet.4 Diese altkirchlichen Bezeichnungen für die Grundvollzüge bzw. Grundfunktionen der Kirche und Gemeinde dienen zur Orientierung und Ordnung des kirchlich-gemeindlichen Lebens und Engagements. Anschließend wird die Aufgabe eines doppelten Hörens urbaner Gemeinde als ein Hören auf a) Gott und seine Mission sowie b) den urbanen Kontext und das Phänomen sozialer Segregation dargestellt und anhand der vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung konkretisiert. Schließlich werden (ähnlich wie im EKD-Text 93)5 verschiedene Ausdrucksformen urbaner Gemeinde vorgestellt und auf ihr Potential, die Lebens-
2 Vgl. Hendriks 2001, 20 ff. Johannes Eurich formuliert es so: »Im Allgemeinen besteht für Kirchengemeinden die Herausforderung, ihren eigenen Sozialraum zu erkunden und anzueignen […]. Dabei bietet sich Kirchengemeinden die Gelegenheit, ihr zivilgesellschaftliches Engagement als Teilhabe an Gottes Handeln zu verstehen und in diesem Sinn Räume und Möglichkeiten für die geistliche Befähigung des Einzelnen zur Teilhabe an Gott und zur Entwicklung seines inhärenten Potenzials vorzuhalten.« (Eurich 2014, 266). 3 Hendriks 2001, 21. 4 Die Autoren des EKD-Texts 93 orientieren sich bei der Beschreibung des Auftrags der Kirche für die Stadt am dreifachen Amt Christi, vgl. Kirchenamt 2007b, 47 ff. 5 Die drei im Bericht genannten Beteiligungsformen sind: a) parochiale Beteiligungsformen (Kirche im Quartier) (vgl. aaO., 52–55) b) netzwerkartige Gemeindebildungen (vgl. aaO., 55 f.) und c) eine situativ-missionarische Gemeindearbeit (vgl. aaO., 57–60).
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äußerungen der Kirche gemäß ihrem göttlichen Auftrag in der skizzierten urbanen Wirklichkeit darzustellen und auszudrücken, untersucht. Die drei gewählten urbanen Gemeindeformen sind 1. Ortsgemeinden i. S. v. Parochialgemeinden, 2. Citykirchen und 3. Fresh Expressions of Church (fxC). Den Abschluss des Kapitels bildet die Darstellung eines eigenen Entwurfs unter der Überschrift Pluriforme Gemeindeentwicklung als Mischung aus Quartiersgemeinden, Citykirchen und Fresh Expressions of Church. Ein finaler Ausblick i. S. e. Doppelpunkts beendet das nun folgende Kapitel und die vorliegende Arbeit.
»Einheit ist nicht der Anfang. Ohne milieuspezifische Gemeindeformen wird uns der Schritt über die Milieugrenzen nicht gelingen. Aber Einheit ist längst in Christus gegeben, auch wenn Menschen aus verschiedenen Milieus in verschiedenen Gottesdienstformaten und unterschiedlichen Gemeindeformen Jesus folgen und Gott anbeten. Diese geistliche Einheit wird sich aber auch verleiblichen: in gemeinsamem Dienst, in gelegentlichen großen Festgottesdiensten und auf viele andere Weisen.«1 Michael Herbst
§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung Einleitung Nachdem in § 13 die vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung der Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia dargestellt und in einen ersten Austausch mit dem Thema soziale Segregation gebracht wurden, soll nun anhand konkreter Orte urbaner Gemeindeentwicklung diese Darstellung vertieft werden. Somit wird gewährleistet, dass sich das Nachdenken über urbane Gemeindeentwicklung nicht im »luftleeren Raum« ereignet, sondern die konkreten Gegebenheiten von Gemeinden in urbanen Räumen berücksichtigt werden.2 Dabei soll eine doppelte Fragestellung leitend sein: Inwiefern dient der beschriebene Ort a) der Verwirklichung der vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung und was sind b) die spezifischen Chancen und Begrenzungen hinsichtlich sozialer Segregation?
1 Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript der Vorlesung im Sommersemester 2016 am 10.6.2016, 184. 2 Zur Beschreibung von Orten kirchlichen Handelns merken die Autoren des EKD-Textes 93 an: »Diese typisierten Angebots- bzw. Beteiligungsformen kommen niemals ungetrennt und unvermischt vor, sie überlappen sich in fast allen kirchlichen Handlungsfeldern und stärken sich gegenseitig. Sie zu unterscheiden, dient aber der Klarheit für alle Strategie- und Maßnahmendefinitionen.« (Kirchenamt 2007b, 52).
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Aus folgenden Gründen werden drei Orte dargestellt und kritisch geprüft: • Die Parochie stellt quantitativ den »Normalfall«3 gemeindlichen Lebens in der evangelischen Landeskirche dar und deshalb ist eine Darstellung urbaner Gemeindeentwicklung ohne eine Berücksichtigung dieser Form der Organisation rudimentär und realitätsfern. • Die Bewegung der Citykirchen hat sich in den letzten Jahrzehnten als eine genuin urbane Form von Gemeindeentwicklung etabliert. Sie entstammt der städtischen Lokalisierung des Kirche- bzw. Gemeindegebäudes und muss bei der Erforschung urbaner Gemeindeentwicklung beachtet und auf ihre Potentiale und Hindernisse hin geprüft werden. • Fresh Expressions of Church (fxC) bieten besonders angesichts urbaner Vielfalt eine Grammatik für die Gemeindeentwicklung an, die sowohl Wesen und Auftrag der Kirche als auch dem Kontext gerecht wird und beide auf sehr sinnvolle Art miteinander verbindet. Diese sehr junge Form von Gemeindeentwicklung ist für eine Beschäftigung mit urbaner Gemeindeentwicklung richtungsweisend und verdient es, näher untersucht und für den urbanen Kontext fruchtbar gemacht zu werden. Andere Formen, wie zum Beispiel Migrationskirchen, Vesperkirchen oder Stadtmissionen werden dort, wo sie die Darstellung bereichern und ergänzen, berücksichtigt. Dies liegt v. a. daran, dass diese Formen von Kirche nicht in allen Städten existieren und auch nicht existieren werden. Ähnliches gilt für mögliche weitere Ausdrucksformen urbaner Kirche (Gebetshäuser, diakonische Einrichtungen, Café-Kirchen, Hauskirchen etc.). Wo diese für die vorliegende Arbeit von Interesse sind, werden sie unter dem Stichwort frische Ausdrucksformen urbaner Kirche (§ 16 Abs. 2.3) berücksichtigt. Die Bahnhofs- und Stadtmissionen wurden in diesem Kapitel bereits als Exkurs behandelt (§ 13 Abs. 4.4). In Kapitel IV wurde ebenfalls knapp auf das Phänomen der Vesperkirche verwiesen. In ihrer Bedeutung (u. a. aufgrund ihrer regionalen Begrenzung) sind Vesperkirchen jedoch nicht mit Parochien, Citykirchen oder Fresh Expressions of Church vergleichbar, weshalb ihre kurze Erwähnung für die Arbeit ausreichend ist. Da sich die Arbeit nicht speziell mit dem Thema ethnischer Entmischung befasst, wird ebenfalls auf die Darstellung von Migrationskirchen verzichtet, wenngleich diese für die urbane kirchliche Landschaft wichtig sind
3 Vgl. dazu Lange 1966, 289–308; Cornehl/Grünberg 2004 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 256 f.
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§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung
und ihre Bedeutung in den nächsten Jahren eher zu- als abnehmen dürfte.4 Andere Arbeiten haben aber eine entsprechende Darstellung bereits geleistet.5 Wenngleich das Thema Digitalisierung6 für Stadtentwicklung7 und somit auch für urbane Gemeindeentwicklung von Bedeutung ist und die Frage nach den digitalen Orten urbaner Gemeindeentwicklung spannend wäre, vertieft die vorliegende Arbeit dieses Thema dennoch nicht. Dies liegt daran, dass der Fokus dieser Arbeit – sowohl im Hinblick auf die Stadt (Sozialraum und soziale Entmischung) als auch hinsichtlich der Kirche (Communio und congregatio sanctorum) – auf dem Aspekt physisch-räumlicher Teilhabe legt und diese Perspektive an digitalen Orten unterbestimmt ist.8 Johannes Zimmermann schreibt dazu: »Gemeinde ist congregatio sanctorum (CA VII), die Zusammenkunft derer, die sich nicht virtuell, sondern an einem konkreten Ort um Wort und Sakrament versammeln. […] Die Betonung der Ortshaftigkeit will nicht die Gestalt der Parochie festschreiben, sondern wendet sich gegen ein spiritualistisches Gemeindeverständnis.«9 Zudem ist eine seriöse Beschäftigung mit dem Thema Digitalisierung im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten und dies würde zudem das eigentliche Thema mindestes überdehnen, wenn nicht sogar verlassen.
4 Zur Begegnung mit den »Fernen und Fremden« schreiben die Autoren des EKD-Texts 93: »Von den Aussagen des Deuterojesaja über den ›gesalbten Cyrus‹ (vgl. Jesaja 44, 24ff) bis zu den Überlegungen des Theologen Dietrich Bonhoeffer über die Rolle der Religionslosen in der säkularen Welt hat die evangelische Theologie davon gewusst, dass Christus seine befreiende Herrschaft auch unter Fremden und Fernen, unter Nichtchristen und Andersglaubenden ausübt. Es ist daher der Grundsatz jeder Begegnung zwischen Christen und Nichtchristen, den anderen nicht als gottfern oder christusledig zu verstehen, sondern als Menschen, in dem der Auferstandene sein Antlitz spiegeln kann. Missionarisch formuliert geht es seit den Zeiten des Pietismus daher nicht darum, Christus zu den Fernen und Fremden zu bringen, sondern es geht darum, ihn dort zu entdecken und zu bezeugen.« (Kirchenamt 2007b, 50f). 5 Vgl. weiterführend Dümling 2011; Schubert 2014 und Herbst 2013d. 6 Zu Stadt und Digitalisierung vgl. Etezadzadeh 2015, 39–47. 7 In der jährlichen Umfrage des Deutschen Instituts für Urbanistik (DifU) »OB-Barometer 2018« gaben 63 % der befragten Oberbürgermeister an, dass Digitalisierung (neben Integration mit 72 % und Mobilität mit 44 %) zu den drei wichtigsten Herausforderungen für Deutschlands Städte gehören, vgl. Deutscher Städtetag 2018, 5. Aus kirchentheoretischer Perspektive vgl. Schlag 2018. 8 S. o. § 10 Abs. 5.4 sowie 5.4.1 und vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 271–284; 305–310 und 429–431; Sigrist 2014 und Herbst 2018b, besonders 212. 9 Zimmermann 2006, 188. Hervorhebung im Original. Dazu Gerhard Ebeling: »Denn vom Taufgeschehen muß [sic!] die Rede sein und von der Einführung in eine ununterbrochene Kette geschichtlicher Sukzession der Glaubenden, sowie von dem Mitleben, Mittun, Mittragen, Mitleiden, Sichmitfreuen in einer bestimmten, konkreten Gemeinde, wenn recht vom Glauben die Rede sein soll.« (Ebeling 1993, 24). Ähnlich Isolde Karle: »Christlicher Glaube bewährt sich in der gelebten und den lokalen Bedingungen angepassten Praxis der ekklesia und ist unabhängig von Gemeindezugehörigkeit nicht zu denken.« (Karle 2011b, 134 – Hervorhebung im Original).
1. Parochien als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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1. Parochien als Orte urbaner Gemeindeentwicklung 1.1 Einleitung Wenngleich theologisch verschiedene Formen von Gemeinde möglich sind10, so ist die parochial (gr. παροικία11 – Fremde, Fremdlingschaft)12 organisierte Form von Gemeinde (i. S. e. Ortsgemeinde) für den Bereich der deutschen evangelischen Landeskirchen die (quantitativ und rechtlich)13 dominante Form14 und dies etwa seit dem 4. Jahrhundert auf dem Land und (teilweise deutlich – »oft bis zum Tridentinum«15) später auch in der Stadt.16 Dies wird bspw. in der Beschreibung von Gemeinde bei Bubmann et al. deutlich: Unter Gemeinde wird in kirchentheoretischer Perspektive vielfach zunächst eine auf Dauer gestellte, kirchenrechtlich legitimierte und um Wort und Sakrament sich versammelnde, parochial verfasste Ortsgemeinde verstanden. Andere Formen religiöser Sozialität werden (explizit oder implizit) im Verhältnis zum territorialen Gemeindekonzept bestimmt, sei es, dass sie sich innerhalb oder auch außerhalb der Parochie konstituieren. Vielfach gelten solche Formen als defizient, da sie nicht als Sozialität eigener Prägung verstanden, sondern am Konstrukt des ›Normalfalls‹ Ortsgemeinde gemessen werden.17
Dieses grundsätzlich territorial orientierte Prinzip teilt alle in einem bestimmten Bezirk lebenden Mitglieder der evangelischen Kirche einer bestimmen Paro-
10 11 12 13
14 15 16 17
Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 263 ff. Vgl. Balz 1983, 99. Vgl. Schöllgen 2008. Vgl. Hermelink 2011, 126–134. Vgl. Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 256 f. Eine ekklesiologische Betrachtung von parochialen und nicht-parochialen Gemeindeformen vgl. Pohl-Patalong 2003, 170–185. » In den meisten Landeskirchen kalkuliert man als Richtwert ein Verhältnis des Ressourcenaufwands zwischen Kirchengemeinden und anderen kirchlichen Diensten von 70 zu 30. Einige Kirchenverfassungen, wie beispielsweise in der rheinischen Landeskirche, verorten die Basis der Kirche auch rechtlich in den Kirchengemeinden. Damit reklamieren sie einen noch höheren Stellenwert der Kirchengemeinden für die Kirche insgesamt.« (Spieß/Wegner 2015, 50). Vgl. Pohl-Patalong 2003, 22–24 und Löwe 1999, 313 ff. Hermelink 2011, 128. Vgl. auch aaO., 128 f. Vgl. aaO., 127–129. Bubmann et al. 2014, 132.
350
§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung
chie zu (außer, diese lassen sich »umgemeinden«18). Leitend ist der Gedanke der flächendeckenden sakramentalen Versorgung (i. S. e. »flächendeckenden Allzuständigkeit«19) der zur Kirche gehörigen Christen in einem bestimmten Gebiet.20 Eine formale Pluralität ist dabei nicht intendiert, sondern das parochiale Prinzip beansprucht, dass »alle Gemeinden tendenziell die gleichen Angebote vorhalten.«21 Als Stärken dieser Struktur können mit dem EKD-Zentrum für Mission in der Region (ZMiR) festgehalten werden22: • Präsenz am Ort – das Evangelium kann in den Lebenswelten der Menschen inkarnieren; • Nähe leben – Erreichbarkeit wie gesellschaftliche Verwurzelung sind gegeben; • lokale Feier des Gottesdienstes – an so gut wie allen größeren Orten sind evangelische Gottesdienste erreichbar.23
Dieser, historisch gewachsene24, rechtlich-organisatorische Rahmen25 (die Landeskirche als Körperschaft von Ortsgemeinden) bildet die Wirklichkeit der evangelischen Gemeinden dabei nur idealiter ab.26 Einerseits partizipieren nicht alle Mitglieder der Kirche aktiv am Leben ihrer Ortsgemeinde (wie es 18 Vgl. Löwe 1999, 59–63: »Die Möglichkeit der Umgemeindung ist wenig bekannt und fordert wiederum, daß [sic!] man sich längerfristig an eine Gemeinde bzw. einen Geistlichen bindet, wenn es sich dabei auch um den Ort eigener Wahl handelt.« (AaO., 62, Hervorhebung im Original). Vgl. auch Pohl-Patalong 2003, 128–131; Hermelink 2011, 130–132; Karle 2011b, 125 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 256–271. 19 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 259. Dazu Wolfgang Grünberg: »Die erst im 19. Jahrhundert fixierte Parochialstruktur erinnert also als Grundmuster kirchlicher ›Versorgung‹ an die religiöse Durchdringung aller Lebensvollzüge und Lebensbereiche.« (Grünberg 2004, 205). 20 Jan Hermelink entdeckt im Parochialsystem, welches sich im europäischen Mittelalter herausgebildet hat, sechs ineinandergreifende Strukturelemente: 1. Territorialprinzip 2. Ortskirche 3. Ortspfarrer 4. Kindertaufe 5. Pfarrzwang 6. Diözesanrecht, vgl. Hermelink 2011, 130. Im Blick auf die Gegenwart schreibt Hermelink: »Dieses Strukturmodell lebt offenbar von heute nicht mehr gegebenen Voraussetzungen: von der engen Verflechtung politischer und religiöskirchlicher Herrschaft, von der Immobilität einer Bevölkerung, die sämtliche ökonomischen, sozialen und religiösen Bedürfnisse am Wohnort decken muss, und kirchlicherseits von der Vorstellung einer wesentlich passiven Mitgliedschaft, die seitens der Organisation vor allem ›versorgt‹ und daher ›erfasst‹ werden muss.« (Ebd.). 21 Pohl-Patalong 2003, 22. 22 Jan Hermelink würdigt die Parochie in praktisch-theologischer Hinsicht auf fünffache Weise, vgl. Hermelink 2011, 132–134. 23 Ebert/Pompe 2014a, 128 f. 24 Vgl. Pohl-Patalong 2003, 65–128 und Löwe 1999, 313–320. 25 Vgl. Pirson 2008 und Ebert/Pompe 2014a, 123–127. 26 Jan Hermelink verweist darauf, dass aufgrund der gewandelten Voraussetzungen (siehe oben) die »heutige Ortsgemeinde jedenfalls nicht mit dem skizzierten Parochialsystem gleichzusetzen« sei. (Hermelink 2011, 130 – Hervorhebung im Original) Folglich existiere laut Her-
1. Parochien als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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bspw. die u. a. durch den Eindruck der Verstädterung entstandene Gemeindebewegung [besonders Emil Sulze – siehe oben], gefordert hat)27 und andererseits entscheiden sich einige Mitglieder für ein Engagement in einer Gemeinde, die außerhalb der Parochie liegt, in der sie selbst wohnen.28 Dieses (»vor allem in Großstädten, aber nicht nur dort zu beobachtende«29) Prinzip der Wahl unterminiert das Prinzip der Zuweisung.30 Aufgrund dieser Tatsache, kommt Parochien gegenwärtig eine doppelte Aufgabe zu: »Einerseits bieten sie die religiöse Versorgung für alle in ihrem Bezirk lebenden Kirchenmitglieder, andererseits sind sie Gemeinden von Menschen, die aktiv am Leben der christlichen Gemeinschaft teilnehmen.«31 Besonders für den Osten Deutschlands gilt zudem, dass eine flächendeckende Struktur nur noch theoretisch existiert, da die schrumpfenden Gemeindemitgliederzahlen mit flächenmäßig größer werdenden Parochien korrelieren und das parochiale Netz zunehmend dünner wird. Als die drei »genetischen Grenzen« der Parochie identifiziert das ZMiR die Begrenzung durch a) das Territorium, b) die Autarkie und c) das Vollangebot.32 Dabei gab und gibt es neben der Parochie andere »nichtparochiale«33 Formen von Gemeinde (z. B. Funktionsgemeinden34, Personalgemeinden35, Bekenntnisgemeinden36, Dienste und Werke37, Sonderdienste38), die prinzipiell in einem spannungsvollen Verhältnis zur Parochie stehen, da sie als Konkurrenz wahrgenommen werden.39 Dieses mehr oder minder grundsätzliche Konfliktpotential liegt nicht zuletzt an der dominanten Stellung der Parochie, die als Monopol kirchlicher Organisation eine alternative Form zwangsläufig als Konkurrenz
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
melink das »reine« Parochialsystem nicht mehr. Diese Tatsache werde s. E. in den Diskursen über Kirchenreform nicht ausreichend berücksichtigt. Vgl. aaO., 130–132. Vgl. Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 95–98.257f und Löwe 1999, 320–340. Vgl. Hermelink 2011, 129. Pohl-Patalong 2003, 23 und 160–164. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 256 ff. Vgl. auch die Ausführungen zu netzwerkartigen Gemeinde-bildungen in Kirchenamt 2007b, 55 f. Pohl-Patalong 2003, 23. Vgl. Ebert/Pompe 2014a, 129 f. Zu dem Terminus vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 259 f. Zu dem Thema vgl. Pohl-Patalong 2003, 24–27. Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 260–262 und Löwe 1999, 389–444. Vgl. Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 262f und Löwe 1999, 353–365. Vgl. Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 263 und Löwe 1999, 365–388. Uta Pohl-Patalong verweist darauf, dass sich auch um solche Formen von Kirche, die sich primär nicht explizit als Gemeinde verstehen, faktisch Gemeinden bilden, vgl. Pohl-Patalong 2014, 202–205. Vgl. Pohl-Patalong 2003, 24–27. Vgl. Hauschildt-Pohl-Patalong, 2013, 258–260 und weiterführend Pohl-Patalong 2003, besonders 27 ff. In historischer Perspektive vgl. aaO., 64–131 und in aktueller Perspektive aaO., 132–211.
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betrachten muss. Um den etwas diffusen Diskurs über parochiale und nichtparochiale Strukturen zu ordnen, hat sich im Anschluss an Frank Löwe40 die Unterscheidung in eine parochiale Form und drei nichtparochiale Formen (funktional, personal, konfessionell)41 durchgesetzt, wobei diese Systematisierung nicht mehr ausreichend ist, um das komplexe Bild alternativer Gemeindeformen darzustellen.42 Dabei stehen die drei nichtparochialen Formen dem Parochialprinzip in vielerlei Hinsicht nach und können keineswegs (in rechtlicher und quantitativer Hinsicht) als gleichwertig betrachtet werden. Insgesamt kann man mit Uta Pohl-Patalong subsumieren: Die nichtparochialen Strukturen sind jedoch immer nur zahlenmäßig das nachgeordnete Prinzip geblieben, und auch in den kirchlichen Macht- und Mitbestimmungsstrukturen haben sie nie den gleichen Stellenwert erreichen können wie das Parochialprinzip. In den Kirchenordnungen werden sie als Ausnahme-Möglichkeit neben dem dominanten Parochialprinzip gekennzeichnet.43
Diese Darstellung ist aus historischen sowie funktionalen Gründen nachvollziehbar und spiegelt die Wirklichkeit der landeskirchlich verfassten Evangelischen Kirche wider. In theologischer Hinsicht ist eine derartige Vorrangstellung der Parochie zumindest insofern schwierig, da mit CA VII nicht die Strukturen die Kirche konstituieren, sondern die inhaltlich qualifizierten Vollzüge (s. o. § 9 Abs. 5 und § 10 Abs. 6.1).44 Die Form der kirchlichen Struktur muss den inhaltlichen Vollzügen als congregatio um Wort und Sakrament dienen. Erscheint die dominante Struktur eher als ein Hindernis statt einem Zugang zur Teilhabe, so muss sie reformiert werden. Diese Perspektive relativiert die zentrale Stellung der Parochie und eröffnet die Chance, diese als eine Gestalt urbaner Gemeindeentwicklung kritisch zu würdigen und dabei Potentiale sowie Hindernisse gleichermaßen in den Blick zu nehmen.
40 Vgl. Löwe 1999, 313–444. 41 So bei Pohl-Patalong 2003, 24–28 und Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 260–263. 42 Vgl. Pohl-Patalong 2014, 199 f. Allein für Kirche bei neuen Gelegenheiten unterscheidet Uta Pohl-Patalong exemplarisch fünf verschiedene Formen, vgl. aaO., 200. 43 Pohl-Patalong 2003, 26 f. Vgl. auch weiter aaO., 27–33. 44 Dazu Johannes Zimmermann: »Die Parochie ist nicht notwendig aus dem Evangelium abzuleiten. Ihre Entstehung verdankt sich vielmehr der Situation und ihren Erfordernissen. Die Parochie ist geschichtlich gewachsen, sie unterliegt Veränderungen und ist daher auch weiter veränderbar. Die Frage an die Parochie ist an jede Sozialform christlicher Gemeinde zu richten: Dient sie der sichtbaren Gestalt der congregatio sanctorum, ermöglicht und fördert sie die oikodome und die Wahrnehmung des missionarischen Auftrags?« (Zimmermann 2006, 184 – Hervorhebung im Original).
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Besonders im Bezug auf marginalisierte Wohngebiete gibt die kritische Frage von Michael Göpfert (1981) angesichts einer parochialen »Verengung« zu denken: In Gedanken an Kirchen, die sich abmühen, auch nur den allerelementarsten Nöten und Gebrechen von Menschen in städtischen Elendsgebieten abzuhelfen, stellt sich unweigerlich die Frage, ob unsere StadtKirchen nicht zu viel Zeit, Energie und bürokratischen Aufwand der Selbstdarstellung und Selbstbedienung der eigenen kernund gottesdienstgemeindlichen parochialen Struktur widmen; dadurch zu viel Bewegungsenergie gebunden ist und zu wenig übrigbleibt [sic!] für die Präsenz der StadtKirche in Handlungsfeldern, die durch die Einrichtung von Sonderpfarrämtern, z. B. für Krankenhäuser, Gefängnisse, Gastarbeiter, Drogenabhängige, Alkoholiker nicht »abgedeckt« wird.45
1.2 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung46 Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass die parochiale Struktur der Landeskirche ein großes Potential für Gemeindeentwicklung insgesamt darstellt.47 Das mehr oder minder flächendeckende Netz an Gemeinden bietet die Chance, dass jeder potentiell an jedem Ort des Landes an Gemeinde und somit an Kirche teilhaben kann. Dazu trägt die schlichte Präsenz von Gemeinden als auch die regelmäßige Feier von Gottesdiensten bei. Prinzipiell muss niemand unzumutbar weit fahren (dies kann sich zuweilen in sehr peripheren länd-
45 Göpfert 1981, 128. 46 Ein starkes Plädoyer für die Ortsgemeinde gibt Isolde Karle ab, vgl. Karle 2011b, 124 ff. Zu den Stärken der Ortsgemeinde im Anschluss an die Fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) vgl. dies. 2015, 121–123. Für eine Gegenüberstellung von parochialen Chancen und Grenzen in regionaler und personaler Hinsicht vgl. Zimmermann 2006, 198 f. 47 Für eine Darstellung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (Pluralisierung, erhöhte Mobilität, Individualisierung, gewachsene Bedeutung von Subjektivität und Ausdifferenzierung) und der Passung kirchlicher Strukturen unter parochialen und nichtparochialen Vorzeichen vgl. Pohl-Patalong 2003, 144–170. Insgesamt fällt auf, dass die Befürworter der nichtparochialen Struktur die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eher (unkritisch) positiv betrachten und eine Anpassung der kirchlichen Organisation fordern. Dagegen bewerten die Befürworter der parochialen Struktur diese Entwicklungen eher negativ und fordern einen kirchlichen Kontrapunkt. Besonders die Kritik an den sozialen Auswirkungen urbanen Lebens scheint von einer grundsätzlich positiven Einschätzung ländlichen Lebens (entgegen dem städtischem Leben) geprägt zu sein, welche für die frühe Großstadtkritik charakteristisch war (vgl. Häußermann/Siebel 2004, 26–28) und wirkt zudem normativ. Zur Auswertung der Diskussion vgl. Pohl-Patalong 2003, 185–211.
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lichen Räumen anders darstellen), um Zugang zu christlicher Gemeinschaft als congregatio sanctorum zu finden und das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt zu bekommen. Folglich besteht flächendeckend die Möglichkeit, dass Menschen durch Teilhabe an der christlichen Communio und durch das damit erhoffte und geglaubte Wirken des Heiligen Geistes auf das Evangelium mit Glauben antworten und selbst Teil des Leibes Christi werden. Dieses Potential sollte keineswegs gering geschätzt werden. Ebenfalls haben sowohl angesichts der vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung als auch angesichts sozialer Segregation parochial verfasste Gemeinden ein Potential für urbane Gemeindeentwicklung. Neben diesem flächendeckenden Potential zum Glauben ist es auch die Kontinuität und Stabilität, durch die sich eine parochiale Struktur auszeichnet. Gerade vor dem Hintergrund von CA VII und der Annahme, dass sich Kirche in der Versammlung und dem Zeugnis des Evangeliums in Wort und Sakrament ereignet, bietet die Parochie eine stabile und zuverlässige Struktur, die den äußeren, organisatorischen »Rahmen« zum Kirche-Sein gewährleistet. Dieses Potential der Parochie leitet über zu den vier Grunddimensionen urbaner Gemeindeentwicklung und verdeutlicht, dass die Parochie für deren praktische kirchliche Umsetzung ebenfalls einen guten Rahmen bietet. Aufgrund ihrer verlässlichen Struktur dient sie als Ort der regelmäßigen Versammlung (Koinonia) zu öffentlichen Gottesdiensten (Leiturgia), in denen das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird (Martyria) und somit besteht die Möglichkeit, dass die Anwesenden auf das Evangelium mit Glauben antworten, welcher sich in der Zuwendung zum Nächsten (innerhalb und außerhalb der Gemeinde) ausdrückt (Diakonia). Zudem hat die Parochie durch ihre hohe lokale Vernetzung und Ortsbezogenheit ein hohes Maß an Ortskenntnis und verfügt somit über Kenntnis der Bedürfnisse, Herausforderungen und Chancen des Kontexts. Diese dauerhafte Nähe zum Kontext macht die Parochie zu einem geeigneten Werkzeug für eine gemeinwesenorientierte Gemeindeentwicklung. Die Kombination aus Öffentlichkeit und lokaler Verankerung ist definitiv die Stärke der Parochie und entspricht einer Gemeindeentwicklung, die sich in der Kunst, eine Stadt zu lesen, übt.48
48 Jan Hermelink entdeckt in der Parochie ein großes Potential besonders für diejenigen, die man als »Verlierer der gesellschaftlichen Modernisierung« beschreiben kann (Ernst Lange spricht vom »Ensemble der Opfer« vgl. Lange 1966, 295–300. Vgl. dazu auch Cornehl/Grünberg 2004, 282–285. Die Autoren fordern die Erweiterung der von Lange genannten Gruppen um Frauen und Fremde, vgl. aaO., 290). Die Möglichkeiten »wechselseitiger Selbsthilfe« und »nachbarschaftlicher Diakonie« seien hier besonders vielfältig gegeben. Hermelink unterstreicht das Potential der »nahräumlichen Organisationsform« der Parochie zur »intensiveren christlichen Gemeinschaftsbildung«, besonders für diejenigen, die weniger mobil sind und für
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Was die Sendung der Gemeinde in die Stadt angeht, hilft eine Modifikation der Zuständigkeiten der Parochie49 nochmals, das Potential der Parochie zu heben. Eine parochiale Gemeinde entspricht dann dem göttlichen Auftrag in höherem Maß, wenn sie sich zu allen Menschen gesandt (missio)50 weiß, die in ihrer Parochie leben und nicht nur denen verpflichtet ist, die ohnehin bereits qua Mitgliedschaft zu ihr gehören (Volkskirche als »Kirche für das Volk«51 – siehe auch oben § 10 Abs. 2). Diese Haltung entspräche ihrer missionarischen Aufgabe und dem damit verbundenen Auftrag, das Evangelium mit allem Volk zu kommunizieren und allen zu bezeugen (Barmen VI). Da keine Ortsgemeinde immer alle Menschen im Blick haben kann, beschreibt dieser Gedanke auch eher eine grundsätzliche Haltung als eine stets vollkommen umsetzbare Praxis. Es ist zumindest ein Unterschied, ob eine Gemeinde lediglich von ihren Mitgliedern her denkt, plant, strategisch entscheidet etc. oder ob sie die anderen Bewohner der Parochie zumindest berücksichtigt und als potentielle Kommunikationspartner ernst nimmt. Die Struktur der parochialen Ortsgemeinde stellt angesichts sozialer Segregation zusätzlich eine große Stärke dar, denn die parochialen Grenzen orientieren sich nicht an den Grenzen sozialräumlicher Entmischung, sondern folgen einer eigenen Logik, die deutlich älter ist als die Dynamiken aktueller soziadie Partizipation an gemeindlichem Leben keine größeren Entfernungen überwinden können, vgl. Hermelink 2011, 133. 49 Hermelink beschränkt die geistliche Zuständigkeit der Ortsgemeinden auf die am Ort ansässigen Christen und Kirchenmitglieder, vgl. aaO., 133 f. 50 Ausgehend von dem königlichen Amt Christi ziehen die Autoren des EKD-Texts 93 folgende Konsequenzen für den Auftrag der Kirche in der Stadt: »Das königliche Amt Christi kann der evangelischen Kirche Berührungsängste nehmen. Sie wendet sich mit ihrer Arbeit an die Armen und Einsamen ebenso wie an die Reichen und Mächtigen. Denn es gibt ›den reichen Armen und den armen Reichen‹ (Hubertus Halbfas). Es gehört zu den babylonischen Gefangenschaften der Kirche unserer Zeit, zu klein und zu ängstlich von diesem königlichen Amt Christi zu denken und ihn nur noch in den eigenen Reihen, in den etablierten Gemeinden und den hochverbundenen Gruppen zu vermuten. Mit der Erinnerung an das königliche Amt verbindet sich ein Aufbruch in die Welt, der die ganze evangelische Kirche und alle ihre Aktivitäten durchzieht. Ohne Mission, ohne den Wunsch, Christus auch außerhalb der Kirchenmauern zu entdecken, verkümmert die evangelische Kirche in sich selbst und schmälert die Erkenntnis der Gegenwart Christi in unserer modernen Welt. Die oft festzustellende ›Milieuverengung‹ der evangelischen Gemeinden wird dem weitreichenden königlichen Amt Jesus Christi nicht gerecht. Deswegen wird es eine der wichtigsten Aufgaben für die Kirche in der Stadt sein, ihre Kräfte besonders in Arbeitsformen und Initiativen zu lenken, die die klassischen kirchlichen Milieus überschreiten.« (Kirchenamt 2007b, 51). 51 Lindner/Herpich 2010, 60. Anders akzentuiert bei Stefan Huber: »Die inhaltliche Arbeit an einem pluralen Profil ist nicht zuletzt auch dann notwendig, wenn der Anspruch, Volkskirche zu sein, erhoben oder aufrechterhalten werden soll. Denn die theologischen Gestalten, die die Religiosität in der Gegenwart – und damit die Religiosität des ›Volkes‹ – prägen, sind zutiefst plural. Daher kann die Volkskirche der Zukunft nur plural sein.« (Huber 2014, 76).
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ler Entmischung. Diese Tatsache birgt das Potential, die sozial fragmentierten Quartiere als (parochiale) Einheit zu betrachten. Die Zuwendung zu allen, die dort leben, arbeiten und feiern, ist dann ein erster Schritt zur Überwindung von Segregation. Urbane Gemeindeentwicklung muss die Chance entdecken, die in der segregationsübergreifenden Perspektive der Parochie steckt. Wendet sich die Ortsgemeinde ihrer gesamten Parochie zu, so kann sie ein Ort werden, an dem sich entmischte Milieus und Gruppen wieder begegnen und mischen. Die besondere Chance liegt dann darin, dass sich die Menschen nicht gezwungenermaßen treffen (wie dies bspw. bei Begegnungen auf Ämtern der Fall sein kann), sondern die christliche Communio ist freiwillig und besitzt mit dem Evangelium eine Ressource, die ernsthafte und dauerhafte Begegnung ermöglicht. So kann eine Gemeinschaft entstehen, welche Trennendes transzendiert und damit relativiert. Die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, ist ein Resultat des Glaubens, welcher wiederum Antwort auf die Kommunikation des Evangeliums ist. Antworten Menschen mit Glauben auf die Martyria der urbanen Gemeinde und werden Teil der Koinonia, eröffnet sich ihnen die Teilhabe am Leben des dreieinen Gottes in der Leiturgia. Dies fordert sie heraus, ihr Leben in den diakonischen Dienst am Nächsten zu stellen, dem sie sich fortan nicht mehr entziehen können. Urbane Gemeindeentwicklung wird angesichts sozialer Segregation diesen Prozess fördern und intentional die Mitglieder der Gemeinde anleiten, Trennungen zu überwinden, auf Menschen zuzugehen und darin Jesus Christus nachzufolgen. Dieses versöhnende Handeln der Gemeinde ist Teil ihrer Sendung in die Stadt und stellt selbst schon ein Bezeugen des Evangeliums dar. Zudem ist dieses versöhnende Handeln ein wesentlicher Beitrag der Gemeinden zum Gemeinwohl und kann sozialer Entmischung entgegenwirken. So kann z. B. die Begegnung von jenen Menschen, die in sanierten und von Gentrifizierung betroffenen Gebieten wohnen, mit solchen, die von dort verdrängt wurden, ein erster Schritt zu gegenseitigem Verständnis, zur Anteilnahme und Kommunikation sein. Die parochiale Ortsgemeinde kann der Katalysator für solche Prozesse sein und dabei helfen, dass Gruppen, die keinen Zugang zueinander haben, diesen in der Gemeinde wieder eröffnet bekommen und sich begegnen und kennenlernen. Voraussetzung dafür ist, dass die Ortsgemeinde den Kontakt zu den verschiedenen Gruppen, Milieus und Nachbarschaften ihrer Parochie hält. Dabei gilt: Je mehr Gruppen der Parochie in der Gemeinde vertreten sind, desto höher die Chance, dass diese Gruppen von der Gemeinde angesprochen werden wollen und können und dass sich diese Gruppen in der Gemeinde und durch deren Engagement begegnen.
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1.3 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung Neben den Potentialen der Parochie für urbane Gemeindeentwicklung weist diese Form gemeindlicher Organisation auch Schwächen auf, die als Hindernis für urbane Gemeindeentwicklung angesehen werden können. Grundsätzlich gilt, dass die große Stärke der Parochie zugleich ihre größte Schwäche ist.52 Ihre flächendeckende Präsenz hat einerseits Voraussetzungen, die nicht mehr für alle Menschen gegeben sind (dauerhafte lokale Bindung) und nötigt andererseits zu einer strukturellen, liturgischen und kulturellen Vergleichbarkeit. Diese Vergleichbarkeit fördert die Entwicklung einer Monokultur, die einer Kontextualisierung gemeindlichen Handelns abträglich ist.53 Oder anders – mit den Worten Heinzpeter Hempelmanns: Das parochiale Netz, das die lokal orientierten Kirchengemeinden über Deutschland legen, hat sich über Jahrhunderte bewährt als eine geniale Weise, nahe bei den Menschen zu sein. Es setzt freilich eine im Grundsatz statische, ortsbeständige Lebensweise voraus. Es kann von seinem Ansatz her kaum anders, als zu unterstellen: Menschen leben kontinuierlich an einem Ort. Hier werden sie geboren, hier arbeiten sie, hier leben sie, hier sterben sie. Genau deshalb sind sie mit dieser Struktur zu erreichen. Das parochiale Konzept von Gemeindeleben setzt genau diese Statik im Leben voraus und spinnt unter dieser Voraussetzung ein teilweise sehr dichtes Netz von Kontaktstellen und Andockmöglichkeiten. Im Idealfall verknüpft sich das kirchliche Leben mit dem bürgerlichen und bildet mit diesem eine Einheit. […] Genau die vom Konzept der Parochie aber unterstellte Beständigkeit und Erreichbarkeit des Lebens ist durch den Wandel der Lebensverhältnisse radikal in Frage gestellt. Sie kann eigentlich nur noch für Teile des ländlichen Raumes vorausgesetzt werden und ist weithin eher nicht Kennzeichen gelingenden Lebens, sondern verlorener Lebensqualität. Das gilt etwa für die Regionen in Ostdeutschland, die als strukturschwach gelten und in denen Menschen bleiben, weil sie keine besseren Lebensmöglichkeiten realisieren können. Wer kann, zieht weg. Wer vorwärts kommen will, kann das nur, wenn er flexibel ist.54
52 Vgl. dazu auch Lange 1981, 183 ff. Lange spricht angesichts der Lokalgemeinde von einem Funktionswandel. 53 Vgl. auch hier die oben bereits erwähnte Darstellung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Passung kirchlicher Strukturen unter parochialen und nichtparochialen Vorzeichen bei Pohl-Patalong 2003, 144–170. 54 Hempelmann 2012, 103. Zur abnehmenden Relevanz von Ort und Region bei gleichzeitiger Bedeutungs-zunahme der familiär-nachbarschaftlichen und weltweit-ökumenischen Ebene, vgl. Grethlein 2013.
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Angesichts der pluralen Wirklichkeit urbanen Lebens in funktionaler Ausdifferenzierung und sozialer Segregation ist ein »one-size-fits-all«-Modell völlig unangemessen und ungeeignet, den sozialen Wirklichkeiten des städtischen Lebens auch nur annähernd gerecht zu werden. Wenn sich urbane Gemeindeentwicklung mit einer solchen strukturellen, kulturellen und sozialen Monokultur arrangiert, dann wird sie zu weiten Teilen der urbanen Bevölkerung nicht nur den Kontakt verlieren, sondern diesen niemals aufbauen. Gemeinde, die sich in die Stadt als Ganze gesandt weiß, muss sich darum bemühen, zur Stadt als Ganzer Kontakt zu haben – zumindest potentiell. Dies bedeutet, dass Gemeinde plural, dezentral und kleinteilig sein muss, um den ausdifferenzierten und sich weiter ausdifferenzierenden sozialen Wirklichkeiten urbanen Lebens gerecht zu werden. Dies wird unter parochialen Vorzeichen nicht gelingen, da die Parochie einer anderen Logik folgt, welche sich für urbane Gemeindeentwicklung als Hindernis erweist. Einer auf flächendeckende Versorgung ausgerichteten Gemeindestruktur wohnt die Tendenz inne, Quantität über Qualität zu stellen und den Einzelnen zugunsten der größeren Struktur zu vernachlässigen. Das kann bedeuten, dass dem Erhalt der Parochie als struktureller Größe eine höhere Priorität zukommt, als der tatsächlichen Versorgung des einzelnen – als faktischem oder potentiellem Gemeindemitglied. Solange die Struktur theoretisch funktioniert (also vor allem in finanzieller Hinsicht) kann die Frage nach ihrer tatsächlichen Funktion von sekundärem Interesse sein. Die Gewährleistung einer Grundversorgung kann außerdem die situative Anpassung an die spezifischen Gegebenheiten des jeweiligen Quartiers bremsen, da das Ziel eine basale, flächendeckende und uniforme Versorgung und nicht eine situativ-spezifische Zuwendung ist. Eine Ortsgemeinde ist zudem mit der Versorgung der eigenen Mitglieder i. d. R. stark ausgelastet, was die Zuwendung zum gesamten Viertel aus praktischen Gründen häufig verunmöglicht, zumal eine auf flächendeckender Versorgung ausgerichtete Parochialgemeinde bestimmte Aufgaben wahrnehmen und Dienstleistungen anbieten muss, auch wenn diese faktisch nicht zum größeren – die Gemeinde umgebenden und übersteigenden – Kontext passen und für diesen nur von geringer Relevanz sind. Somit entsprechen parochiale Ortsgemeinden in missionstheologischer Hinsicht eher dem Modell der attraktionalen Mission55, d. h. die Gemeinde bietet Gottesdienste, Programme, Veranstaltungen, Dienstleistungen etc. an und lädt andere dazu ein. Die Menschen –Mitglieder und Gäste – kommen zur Gemeinde und nicht umgekehrt. Das heißt auch, dass Gemeinde – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung – dort ist, wo sich das Gemeindegebäude (Kir-
55 Zur Unterscheidung von attraktional, engagiert und inkarnatorisch vgl. Weimer 2016, 31 f.
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che, Gemeindehaus etc.) befindet.56 Diese Sicht kann die größere Bedeutung von Gemeinde als congregatio sanctorum, die unabhängig von einem Gebäude oder spezifischen Ort existiert, verengen und stellt somit eine Praxis dar, die sich »von der Theologie der Reformation entfernt«57 hat. Ein weiteres Hindernis der parochialen Struktur für urbane Gemeindeentwicklung kann in der potentiellen »Nichtzuständigkeit« für Bewohner anderer Parochien liegen: Dies bedeutet, dass eine Ortsgemeinde die Grenzen ihrer Zuständigkeit für Menschen mit den Grenzen ihrer Parochie identifiziert. Dabei könnte es sein, dass gerade die Mitglieder einer bestimmten Gemeinde einen guten Kontakt zu Bewohnern eines Viertels haben, welches aber außerhalb der Parochie liegt. Streng genommen ist die Ortsgemeinde für diese Menschen nicht »zuständig«. Diese Strenge wird in der Praxis selbst kaum angewandt werden, verdeutlicht damit aber auch, dass die parochiale Praxis sich selbst relativiert, wo ihre Ordnung in Widerspruch zu dem Leben der Menschen steht. Eine strenge Beachtung parochialer Grenzen würde die Relevanz von Netzwerken (s. u. § 16 Abs. 4) und die Ambivalenz von multilokaler und somit sowohl lokaler als auch regionaler Beheimatung urbaner Menschen ignorieren.58 Das hohe Maß an Mobilität als Kennzeichen urbanen Lebens wird durch die statische – dauerhaft 56 Vgl. Schlegel 2012, besonders 23ff und Moynagh 2008, besonders 178 ff. Wenn Kirche wesensgemäß gesandte Kirche ist, dann erweitert dies den Fokus und die Blickrichtung: Attraktion und Inkarnation. Oder anders gesagt: Die Kirche bemüht sich sowohl um attraktive Angebote, zu denen sie Menschen einlädt, als auch darum, sich zu den Menschen auf den Weg zu machen und sich auf ihren Kontext und ihr Leben einzulassen (dies gilt für solche, die schon zur Gemeinde gehören ebenso wie für jene, die dies noch nicht tun). Der Zweck dieser Bewegung ist es, die Botschaft des Evangeliums zu bezeugen und den Menschen mit allem, was nötig ist, zu dienen. Das Ziel ist aber nicht, die Menschen, denen Kirche dort begegnet und die Vertrauen in die Botschaft des Evangeliums fassen, nun zurück zu vertrauten Formen von Kirche zu führen. Vielmehr geht es darum, dass neue Formen von Kirche in einem Kontext und für diesen Kontext entstehen. (Vgl. dazu der Abschnitt Von der »attraktionalen« zur »inkarnatorischen« Mission, in Herbst 2010, 514–518. Vgl. auch Schlegel 2012, 23–25.) Dabei geht es keineswegs um ein strenges Entweder-oder von Attraktion und Inkarnation, sondern um ein Sowohl-als auch: »Man wird also in der Missionstheologie gut daran tun, das ODER aufzulösen und ein UND einzufügen: Wir brauchen für die Mission der Kirche beide ›Modi‹: attraktionale und inkarnatorische Mission.« (Schlegel 2012, 25). Vgl auch Frost/Hirsch 2013, besonders 51ff und Zimmermann et al. 2011, 98. 57 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 275. Zur theologischen Diskussion vgl. aaO., 271–275. Zu verschiedenen Kriterien für »Gemeinde« vgl. aaO., 275–284. 58 Daniel Hörsch resümiert mit Blick auf eine netzwerkorientierte Gemeindeentwicklung: »So gesehen dient der Ansatz einer netzwerkorientierten Gemeindeentwicklung der Erschließung des kirchlichen Binnenraums als Netzwerk, bedarf aber noch der Weitung auf den Sozialraum an sich. Darüber hinaus lädt die Netzwerk-perspektive dazu ein, den Diskurs über die kirchliche Praxis und künftige Sozialformen nicht mehr in den sich ausschließenden Polaritäten von parochialen und nicht-parochialen Strukturen zu führen, sondern entlang der Netzwerklogik.« (Hörsch 2018, 112).
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an einem Wohnort orientierte – Struktur nicht abgebildet. Die Beschäftigung mit sozialer Segregation hat gezeigt, dass der urbane Wohnungsmarkt einem starken und schnellen Wandel unterliegt. Diese Tatsache steht in Spannung zur parochialen Gemeindestruktur, welche das langfristige Wohnen an einem Ort zur Grundlage hat. Auch aus finanziellen Gründen erweist sich die Parochie als hinderlich für urbane Gemeindeentwicklung, da sie a) sehr teuer ist und b) die vorhandenen Mittel langfristig bindet – unabhängig davon, wie viele Menschen durch den Dienst der Ortsgemeinde tatsächlich an der Kommunikation des Evangeliums teilhaben.59 Außerdem ist die Zuweisung von Mitteln nach Anzahl der Mitglieder ein potentielles Konfliktfeld, da sich jene Parochien – nicht ganz zu Unrecht – benachteiligt fühlen, die sich um Menschen kümmern, die jenseits der eigenen und damit auf dem Gebiet einer anderen Parochie wohnen. Insofern gilt, was die Autoren im EKD-Text 93 angesichts langfristig schrumpfender kirchlicher finanzieller Mittel und Ressourcen festhalten: »Ein Aufbruch der Kirche in der Stadt wird ohne Loslassen von überkommenen Aufgaben und Strukturen nicht gelingen können; nur eine Konzentration erlaubt die Hoffnung auf eine Stärkung der Kirche in der Stadt.«60 Schließlich kann die Parochie soziale Segregation verstetigen oder sogar verstärken, statt ihr entgegenzuwirken. Dies ist dann der Fall, wenn sich die Grenzen einer Parochie mit den Grenzen eines sozial entmischten Quartiers decken oder wenn die große Mehrheit einer Ortsgemeinde einem bestimmten Milieu angehört und sich anderen Milieus und Gruppen gegenüber verschließt und nur »unter sich« bleibt. Auf diese Weise würde die soziale Entmischung des Viertels in die Gemeinde hinein verlängert und diese würde zu einem Spiegel der sozialen Wirklichkeit des sie umgebenden Kontexts werden, ohne ein konterkulturelles Potential zu entfalten. Im Hinblick auf den urbanen Kontext plädiert Philipp Elhaus für eine Pluralisierung des Gemeindebegriffs.61 Mit dem Begriff »Gemeinde am gegebenen Ort« beschreibt er die nötige und geforderte Pluralität von Gemeinde. Gemeinde ist eben keineswegs nur in der Parochie vorhanden, sondern sie »ist vielmehr überall dort, wo das Evangelium verkündigt, wo Gottesdienst gefeiert und christliche Gemeinschaft gelebt wird.«62 Elhaus fordert, von hier aus zu fragen, wo kirchliche Strukturen und Formen die Kommunikation des Evangeliums fördern und wo sie hindern. Hier bedarf es eines nüchternen und kritischen Blicks. Es geht um die Frage, wie Kirche durch Profilierung und Regionalisierung ihre 59 60 61 62
Vgl. Pohl-Patalong 2003, 27–33 und 216–219. Kirchenamt 2007b, 52. Vgl. Elhaus 2011, 103–119. AaO., 111.
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Kontakte zu Menschen vergrößern und die Botschaft des Evangeliums vielen Menschen zugänglich machen kann. Elhaus: »Besonders das städtische Umfeld eignet sich für Projekte und Experimente im Bereich von Netzwerken, die ortsgemeindlich gebundene Arbeit flankieren sowie ergänzen und noch einmal ganz andere kulturelle und soziale Zugänge zur Wirklichkeit Christi bieten.«63 Dabei ist Elhaus zweierlei wichtig: Es gilt a) das Evangelium – um Gottes willen – in die unterschiedlichen Lebenswelten hineinzutragen und um der Menschen willen gilt es, sich b) bei der Gestaltung von Strukturen und Sozialformen nicht an den Bedürfnissen der Kirche, sondern der Menschen, die erreicht werden sollen, zu orientieren. »So bleibt die Kirche ganz bei Gott und ganz bei den Menschen.«64 Was die Parochie angeht, schlägt er ein »Sowohl-als-auch« von parochialen und profilierten sowie netzwerkorientierten Gemeinden, statt eines »Weder-noch« von Parochie als Allheilmittel oder als zu überwindende Krankheit vor.65
1.4 Exkurs: Regionalisierung und regiolokale Kirchen- und Gemeindeentwicklung Ausgehend von Reformbemühungen der evangelischen Kirche wurde in den letzten Jahren neben der Parochie die größere Einheit der Region66 (oder des Kirchenkreises)67 in den Blick genommen (Jan Hermelink spricht von einer »regionalen Mittelebene«68 bzw. von einem »Zwischen-Raum«69 und identifiziert dies eng mit der Superintendentur70). Ausgehend von dem Wunsch, die eher lokale Perspektive der Ortsgemeinde zu erweitern, wurde bereits in den 1970er Jahren die Region als größerer Lebensraum der Menschen untersucht und in
63 64 65 66 67
68 69 70
AaO., 114. AaO., 115. Vgl. aaO., 114–118. Zum Begriff Region vgl. Hermelink 2012, 49–56 und 58–79. Weiterführend vgl. Hörsch/Pompe 2012. Vgl. Lindner/Herpich 2010, 37–39. Dazu Jan Hermelink: »Bis heute bleiben Dekanate/Kirchenkreise daher eine sachlich wie territorial ausgesprochen bewegliche, fluide Größe – die neueste, gewiss nicht letzte Welle von Kirchenkreisfusionen ist dafür das aktuelle Beispiel.« (Hermelink 2012, 62). Vgl. Hermelink 2012, 58–63. Vgl. aaO., 50f und 61. Vgl. aaO., 60–63. Ähnlich Jochen Cornelius-Bundschuh, der mit Blick auf das Dekanat (und den Kirchenbezirk – in badischer Diktion) von einem »Dazwischen« spricht, vgl. CorneliusBundschuh 2018.
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die Überlegung zur Reform der Kirche einbezogen.71 Aus finanzieller Sicht dient Regionalisierung einer Erweiterung des Radius zur Erfassung der Verteilung der Kirchenmitglieder und der damit verbundenen Zuwendung von Mitteln. Aus inhaltlicher Sicht folgt Regionalisierung der Einsicht, dass die Gemeinden als sich ergänzende Partner mit verschiedenen Schwerpunkten mehr Menschen erreichen, als wenn jede einzelne Gemeinde versucht, sowohl ein parochiales Voll- als auch ein regionales Extraprogramm anzubieten. Die mit dem Begriff verbundenen Ansätze haben sich in den letzten Jahren ausdifferenziert und zu einer großen Bedeutungsbreite und einer damit verbundenen Unschärfe des Begriffs geführt. Im Folgenden wird deshalb der grundlegende Ansatz sowie die besondere Form einer regiolokalen Kirchen- und Gemeindeentwicklung vorgestellt. Insgesamt geht es bei Regionalisierung72 darum, Kirchen- und Gemeindeentwicklung »in einem größeren Rahmen«73 zu denken, ohne dabei die lokale Struktur der Ortsgemeinde zu vernachlässigen.74 So können es entweder Personalfragen sein, bei denen Gemeinden regional kooperieren (Kantoren, Gemeindesekretäre, Katecheten etc.), eine inhaltliche Profilierung oder regionale Themen und gemeindliche Angebote. Mit Blick auf Berlin-Wilmersdorf nennen Herbert Lindner und Roland Herpich folgende Bereiche: Gottesdienst, Kasualien, Spiritualität, Seelsorge, Kultur, Ökumene und interreligiöser Dialog sowie die Arbeit mit verschiedenen Altersgruppen (Kinder, Jugendliche, mittlere Generation und Senioren).75 Projektorientierte Kooperation hat sachgemäß einen geringeren Grad an Verbindlichkeit als eine gemeinsame Personalstelle oder sogar ein gemeinsamer Haushalt, bei denen eine Gemeindepartnerschaft i. d. R. auf einen langen Zeitraum angelegt ist. Besonders bei der Ausbildung von bestimmten Gemeindeprofilen und einer entsprechenden Aufgabenteilung in einer Region wird das parochiale Modell relativiert, da die Allzuständigkeit sowie das Nebeneinander identischer Angebote zugunsten der Profilierung (mindestens partiell) aufgegeben wird. Denkt man den Ansatz der Profilierung konsequent zu Ende, so müsste dies Folgen für die Zugehörigkeit der einzelnen Personen sowie für die Verteilung der finanziellen Zuwendungen haben.76 Der Fokus von Regionalisierung ist bestenfalls ein doppelter: auf der einen Seite die Pflege, Versorgung und Anbindung der Kirchenmitglieder an eine
71 72 73 74
Zum Verhältnis von Parochie und Region vgl. Ebert/Pompe 2014a, 119ff und 128 ff. Vgl. dazu Hermelink 2012, 56–71. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 298. »Region tendiert zur Technokratie der Fachleute, Parochie zum Kirchturmdenken – davor bewahren können sie sich nur wechselseitig.« (Ebert/Pompe 2014a, 131). 75 Vgl. Lindner/Herpich 2010, 173 ff. 76 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 297–300.
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Ortsgemeinde ihrer Wahl und auf der anderen Seite die Gewinnung oder Wiedergewinnung derer, die einst oder noch nie zur Kirche gehört haben durch ein für sie attraktives Angebot, welches ihnen einen Zugang zum Glauben und zur Gemeinde eröffnet. Die Autoren des EKD-Textes 93 entdecken vor dem Hintergrund schrumpfender finanzieller Mittel hinsichtlich der Größe des Quartiers in der Regionalisierung eine Chance für eine integrative urbane Gemeindeentwicklung: Es gehört zu den problematischen Erbschaften aus finanziell besseren Zeiten, dass viele Parochien die gemeinsame Aufgabe für ein Quartier, für einen Stadtteil oder für einen Gestaltungsraum aus den Augen verloren haben. Die durch die Ressourcenknappheit ausgelöste Regionalisierung mit Fusionen und Zusammenlegungen muss vor diesem Hintergrund auch als ein Schritt ins Freie betrachtet werden. Die Zusammenarbeit der einzelnen Kirchengemeinden, die Stärkung des Ensemblegedankens und die Steigerung des Teamgeistes unter den Mitarbeitenden der Kirche – auch zwischen Kirche und diakonischen Einrichtungen – werden im Blick auf ein Quartier oder einen Stadtteil immer wichtiger. Die Koordination von Angeboten und die Entwicklung von profilierten Gemeinden für ein Quartier sind positive Effekte eines zunehmenden Sparzwanges.77
Im Anschluss an das EKD-Reformpapier Kirche der Freiheit (2006) skizziert Eberhard Hauschildt die Chancen und Grenzen von Regionalisierung angesichts der Beschreibung von Kirche als einem Hybrid aus Institution und Organisation: Das Szenarium der Regionalisierung ist am schwierigsten zu erreichen. Es setzt die Bereitschaft zu einem deutlichen Umsteuern jetzt voraus. Es müssen dafür nämlich die Entscheidungsfindungsprozesse zwischen einer überschaubaren Anzahl von Gemeinden verändert werden; es muss eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die evangelische Kirche einer Region wie einer Stadt oder eines Landeskreises gelernt werden. Es muss eine Kultur dafür entwickelt werden, dass neben der Partizipation bei der Findung von Lösungen dann die Entscheidungen für die Rahmenbedingungen tatsächlich auf jeweils der nächsthöheren Ebene getroffen werden – auf der Ebene der Kirchenkreise etwa die Entscheidungen für Zuschnitt und grundsätzliche Schwerpunkte und Hauptamtlichen-Stellenplan der kirchlichen Orte. Dieses Modell ist strukturverändernd – mit dem Ziel, möglichst viel vom status quo des Hybrid Kirche aus Institution und Organisation zu erhalten. Es kombiniert Institutionslogik und Organisationslogik so, dass auf der Ebene der Region distanzierte Kirchenmitgliedschaft ein Angebot für alle vorfindet, während auf der Ebene ausdifferenzierter, aber
77 Kirchenamt 2007b, 53.
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mit der Ausdifferenzierung gemeinsam verantworteter kirchlicher lokaler Orte22 Möglichkeiten zielgruppenorientierter Schwerpunktsetzung und vereinähnlicher Geselligkeit geboten werden. Es setzt intensive Kommunikationen zwischen den Vertretern einer überschaubaren Gruppe von lokalen Gemeinden voraus. Dass dieses partizipationsorientiert gelingt, ist keineswegs ausgemacht, aber immer noch wahrscheinlicher als auf der überregionalen Ebene.78
Ein (zu reiner Regionalisierung) alternativer und in dieser Hinsicht sehr fruchtbarer und vielversprechender – weil kombinierter – Ansatz ist der einer regiolokalen Kirchen- und Gemeindeentwicklung (oder kirchlicher Regionalentwicklung79), welcher prominent von Michael Herbst vertreten wird.80 Dieser Ansatz geht davon aus, dass die Kirche für eine sinnvolle Zukunftsperspektive, die sowohl den Bedürfnissen der Gemeinden als auch den sozialen Wirklichkeiten kirchlichen Lebens gerecht wird, der Einsicht folgen muss, dass es Kirche sowohl auf regionaler als auch auf lokaler Ebene geben muss. Beide Formen von Kirche dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sollten sich in wechselseitig unterstützender Art und Weise ergänzen. Herbst schreibt: »Für mich schält sich immer stärker heraus, dass unsere Zukunft als Kirche vorwiegend regiolokal verfasst sein wird, also im Zusammenspiel von Region und lokaler Glaubensgemeinschaft leben wird.«81 Dabei geht es Herbst darum, dass die strategische Planung der Kirche eher auf regionaler Ebene82 erfolgt, aber »zugleich lokal geistliches Leben in Gemeinschaft lebt.«83 Insofern muss die Kirche das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dabei kann eine Kirche, die sich derart organisiert, sowohl denen gerecht werden, die vor Ort sind und deren Lebensradius primär den Nahbereich des Wohnens umfasst. Andererseits kann diese Kirche aber auch auf regionaler Ebene – durch Kooperationen – deutlich mehr anbieten als die lokalen Gemeinden, denen dazu schlicht die nötigen Ressourcen fehlen. Auf diese Art und Weise wäre sowohl ein Grundangebot gesichert als auch Profilierung möglich. Die Folge wäre, dass mehrere Gemeinden einer Region in der Frage der Wahrnehmung geistlicher Verantwortung für ihre Region kooperieren und gemeinsam planen, sich ergänzen und je eigene Schwerpunkte entwickeln. Dabei werden sie unnötige Doppelungen im Angebot vermeiden, das Profil
78 79 80 81 82
Hauschildt 2007, 65. Weiterführend zu diesem Begriff vgl. Ebert/Pompe 2014a. Vgl. u. a. Herbst 2016a und Herbst/Pompe 2017. Vgl. auch Herbst 2018a und ders. 2018c, 13–17. Herbst 2016a, 199. Zur Aufgabe der Region schreibt Herbst: »Die Region müsste hier regulieren und deregulieren: also Freiräume schaffen und zugleich das Miteinander verbindlich regeln.« (Herbst 2018c, 16). 83 Herbst 2016a, 200.
1. Parochien als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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der anderen Gemeinden wertschätzen, aber auch wissen, worin sie vor Ort unvertretbar sind und deshalb lokal handeln müssen. Dabei hält Herbst Profilierungen nicht nur für unvermeidbar, sondern für wünschenswert und sinnvoll. Sie sind der »Abschied vom parochialen Vollprogramm«84 und damit eine sinnvolle und hilfreiche lokale Entlastung, die zudem – freilich im Idealfall – zu einer Wertschätzung, Solidarität und Kooperation auf regionaler Ebene führt. Der Abschied vom parochialen Vollprogramm bedeutet auch eine realistische Einschätzung der sich erschöpfenden Möglichkeiten, die parochiale Struktur weiter im Vollprogramm aufrechtzuerhalten, bei gleichzeitiger personeller Ausdünnung. »Zentral ist das Vertrauen, die Absprache, die gemeinsame Planung der Leitungen in einer Region. Das zu unterstützen ist wiederum geistliches Leiten auf der mittleren Ebene.«85 Neben einer zu diesem Vorgehen entschlossenen mittleren Leitungsebene (u. a. auch Verkündigung und Seelsorge) ist das allgemeine Priestertum von zentraler Bedeutung. Als mögliche Form solch einer Kirchenentwicklung verweist Herbst auf die sog. Erprobungsregionen des Kirchenkreises Mecklenburg86 bzw. die Erprobungsräume der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM)87.88 Die Folgen des regiolokalen Ansatzes für die kirchliche Landschaft beschreibt Herbst so: »Was man dabei sehen kann, ist eine Veränderung der kirchlichen Landkarte. Sie wird sicher unübersichtlicher. Das herrschende Prinzip der Parochie wird nicht aufgegeben, aber kirchliches Leben sortiert sich nicht mehr nur nach einem geographischen Muster, bei dem lauter Vollprogramm-Anbieter sich das Gelände teilen.«89 Besonders angesichts der Absicht, einen kirchlichen Beitrag zum Wohl des urbanen Gemeinwesens zu leisten, ist eine regionale bzw. regiolokale Kooperation angezeigt, da eine einzelne Gemeinde allein dieser Aufgabe schwerlich begegnen kann, ohne sich möglicherweise dauerhaft zu überfordern oder die Dimensionen der Martyria und Leiturgia zugunsten der Koinonia und Diakonia zu vernachlässigen. Zudem bietet die Orientierung an größeren geographischen Einheiten die Chance, Gemeindeentwicklung über Segregationsgrenzen hinweg zu reflektieren, Entmischungstendenzen frühzeitig zu erkennen und diesen entgegenzuwirken. Besonders der regiolokale Ansatz hat das Potential, die lokalen Herausforderungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, ohne ihre spezifische Bedeutung darin aufzulösen. Schließlich entspricht die Orientierung sowohl am Nahraum als auch am Stadtganzen dem Lebens84 85 86 87 88 89
AaO., 201. AaO., 202. Vgl. Ev.-Luth. Kirchenkreis Mecklenburg: Erprobungsregionen im Kirchenkreis Mecklenburg. http://www.erprobungsraeume-ekm.de (aufgerufen am 11.01.2017). Vgl. Herbst 2016a, 202–204 und Herbst 2013d, 89–96. Herbst 2016a, 205.
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stil der Städter, die ja in vielen Fällen genau in dieser Spannung leben (anders ist dies bei den Immobilen, wie z. B. ältere Menschen, deren Bewegungsradius deutlich eingeschränkt ist).
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung 2.1 Einleitung Frank Löwe definiert Citykirchen90 als »Sakralgebäude […], die in einem urbanen Kerngebiet mit hoher Konzentration von Dienstleistungseinrichtungen stehen, die von ihrer baulichen Gestalt her öffentlich91 ausstrahlen und in denen parochieübergreifende Funktionen wahrgenommen werden.«92 Löwe beschreibt damit den Konsens innerhalb des Diskurses93, wonach der Lage der Kirchen eine zentrale Rolle bei der Beschreibung als Citykirche zukommt. Dabei beschreibt die »City« neben anderen Bedeutungen (soziologisch, historisch-politisch, wirtschaftlich, kulturell) zumeist die geographische Lage im Zentrum einer Stadt. Merkmale der Innenstadt sind: a) hohe Konzentration tertiärer Wirtschaft, b) hohes Maß an baulicher Verdichtung, c) hohe Bodenpreise und dementsprechend hohe Mieten, d) Schrumpfung des Anteils der Wohnbevölkerung und e) dichter Verkehr.94 Folglich können jene Kirchen, die sich in einem Umfeld mit besonders hoher Konzentration von Büros und Einrichtungen des Dienstleistungsgewerbes (also von kommerzieller, kultureller, politischer, medizinischer und pädagogischer Infrastruktur) befinden, als Citykirchen charakterisiert werden, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem Citybereich einer Stadt lokalisiert sind. Die Menschen, die hier verkehren, wohnen zumeist woanders: es sind häufig Pendler,
90 Zum Thema StadtKirche vgl. Grünberg 2004, 139–246. Grünberg gebraucht die Begriffe StadtKirche und Citykirche i. d. R. analog (vgl. aaO., 139) und differenziert dort, wo eine betonte Unterscheidung und Darstellung geschieht (vgl. aaO., 201ff). Zur Abgrenzung des Begriffs Citykirche von alternativen Begriffen vgl. Löwe 1999, 20–24. Löwe beschreibt den Begriff StadtKirche in historischer Perspektive und rät zur Trennung der Begrifflichkeiten im Rahmen des Fachdiskurses. 91 Zum Kirchengebäude als öffentlichem Raum vgl. Keller 2016, 24–35. 92 Löwe 1999, 19. Hervorhebung im Original. 93 Vgl. Löwe 1999, 13–24. 94 Vgl. aaO., 17 f. Löwe verweist darauf, dass die Merkmale 2–5 als Folge von Merkmal 1 gelten können, die deshalb nur bedingt hinreichende Kriterien sind, da ihre negativen Auswirkungen durch politische Maßnahmen möglichst reduziert werden (sollen).
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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Konsumenten und Touristen. Die Zuwendung zu diesen Menschen weitet den Fokus von Citykirchen über ihre eigene Parochie und erweitert ihre Zuständigkeit für den gesamten Bereich der City (oder zuweilen der gesamten Stadt, da Menschen aus der gesamten Stadt potentiell und punktuell hier zugegen ist). »Sie nimmt Funktionen wahr, die weit über die Grenzen der Parochie hinausgehen.«95 Citykirchen wissen sich somit auch denjenigen verpflichtet, die keine feste Bindung an ihre bzw. eine Ortsgemeinde im Besonderen und zur Kirche im Allgemeinen haben.96 Neben der geographischen Lage kommt den Citykirchen zumeist eine besondere Bedeutung für die Stadt zu (Wolfgang Grünberg spricht von Symbolkirchen, welche s. E. einen integralen Bestandteil der Stadtkrone darstellen)97. Dazu gehören die Faktoren Alter, historische Bedeutung, Größe, bauliche Beschaffenheit, ästhetisches Erscheinungsbild, architektonische Qualität, Präsenz in den Medien und allgemeine Bekanntheit in der lokalen und überregionalen Bevölkerung sowie Charakter eines Wahrzeichens. Aufgrund dieser Kriterien schließt Löwe die in den 1950er bis 1970er Jahren gebauten kombinierten Gemeindezentren deshalb als Citykirchen aus. Die Bedeutung des Orts als Sakralgebäude betont die Nutzung des Gebäudes als Ort für Gottesdienste, was Kirchen, die säkularisiert wurden, ebenfalls ausschließt.98 Diese Beschreibung macht deutlich, dass es Abstufungen und Differenzierungen zwischen einzelnen Citykirchen gibt und geben muss. Dies betrifft sowohl ihre Bedeutung als auch ihre Lage: Löwe unterscheidet zwischen »zentralen« und »marginalen« Citykirchen.99 Folglich gibt es auch Stadtteil-Citykirchen, die v. a. für das Quartier und den Stadtteil von Bedeutung sind, aber nicht zwingend für die gesamte Stadt. Demzufolge soll in dieser Arbeit der Definition von Löwe gefolgt werden, jedoch mit der Erweiterung, dass es auch lokal bedeutende StadtKirchen geben kann, die nicht vollumfänglich den Kriterien von Citykirchen entsprechen, jedoch in ihrer Funktion eine vergleichbare Rolle spielen.
95 AaO., 18. 96 Als Beispiel für eine Kirche, deren Bedeutung die Grenzen der eigenen Parochie bei weitem übersteigt, nennt Wolfgang Grünberg den Berliner Dom, vgl. Grünberg 2004, 204. Vgl. auch ders. 1995, 165 f. 97 Vgl. aaO., 193–199. Zur Beschreibung von Citykirchen als StadtKirchen vgl. aaO., 206 f. Eine ähnliche Strategie verfolgt das EKD-Reformpapier Kirche der Freiheit in seinem dritten und zwölften »Leuchtfeuer«, vgl. Kirchenamt 2006, 59–61 und 97–100. Diesen Hinweis verdanke ich Michael Herbst. 98 Vgl. Löwe 1999, 18 f. 99 Vgl. aaO., 19f und 445 ff.
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Wolfgang Grünberg verortet bei der Beschreibung von Citykirchen-Arbeit100 die Citykirchen ebenfalls im Stadtzentrum, wo diese neben zahlreichen – in der Regel kommerziell genutzten – Häusern insofern eine Besonderheit darstellen, bei der sich die Frage stelle: »Werden sie zu Museen oder Denkmälern?«101 Zur Beschreibung von Rolle und Funktion der Citykirchen schlägt Grünberg vor, zunächst phänomenologisch das Umfeld Innenstadt, die (alltäglichen) Besucher einer Citykirche und die Rolle dieser selbst zu beschreiben. Bei der phänomenologischen Beschreibung der Citykirchen weist Grünberg darauf hin, dass Kirchen in der Innenstadt als besondere Räume wahrgenommen und genutzt würden. Sie würden als Persönlichkeiten wahrgenommen und öffneten einen neuen, zuweilen fremden, aber wohltuenden Raum, der den eigenen Alltag übersteigt.102 Dabei sollte man neben der Nutzung der Kirchen am Tag auch deren Öffnung an Abenden, in der Nacht und am Morgen entdecken, ernst nehmen und gestalten. Generell gelte, dass Citykirchen geöffnet sein müssen, damit unterschiedliche Menschen zu ganz verschiedenen Zeiten und Anlässen diese aufsuchen, wahrnehmen und nutzen können.103 So gilt, dass die beiden o. g. missionstheologischen Kategorien einer attraktionalen oder inkarnatorischen Mission, sich an diesem Ort überschneiden: Einerseits suchen die Menschen die Kirche auf und begeben sich an einen bestimmten Ort und andererseits ist die Kirche in der Innenstadt präsent und Menschen kommen mit diesem Ort in Berührung, ohne dies geplant zu haben, gleichsam als Nebenprodukt eines Besuchs der Innenstadt. Die Verantwortlichen in Citykirchen nehmen ihren besonderen gemeindlichen Ort als Aufgabe ernst und wahr, wenn sie danach fragen, was Teil dieser Aufgabe angesichts von Wesen und Sendung der Kirche ist. Viele Citykirchen organisieren sich in dem ökumenischen und internationalen Netzwerk Citykirchenprojekte.104 Zur Wahrnehmung der urbanen Situation gehört auch die Verhältnisbestimmung von Citykirchen und Parochialgemeinden. Laut Grünberg besäßen letztere einen höheren Grad der Nachbarschaftlichkeit und damit einen engeren Bezug zum Wohnumfeld, während Citykirchen als StadtKirchen eher die Stadt in Gänze »als Repertoire vieler Lebenswelten in religiöser Umsicht«105 im Blick hätten. Dabei repräsentiere eine StadtKirche (im Gegensatz zum Dom
100 Vgl. Grünberg 2004, 201–213. 101 AaO., 201. 102 Zu Beschreibung von Kirchen als Symbol- und Erinnerungsraum vgl. Keller 2016, 12–18. 103 Vgl. Grünberg 2004, 202–204. 104 Vgl. dazu die Homepage des Netzwerks: https://www.citykirchenprojekte.de (aufgesucht am 14.11.2017). 105 Grünberg 2004, 206.
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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als Herrschaftskirche)106 die »Bürgergemeinde als Ganzes«107, was bedeute, dass diese Kirchen nicht einer jeweiligen Gemeinde, sondern allen Bürgern »gehören«.108 Somit charakterisiert Grünberg StadtKirchen in doppelter Hinsicht: Sie sind als StadtKirchen Orte, an denen sich plurales (und allgemeines) religiöses Interesse aller Bewohner entwickelt und gestaltet werden kann. Als StadtKirchen wiederum sind sie auch christliche Gotteshäuser, also Orte, »die in Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung die Präsenz Gottes spiegeln wollen.«109 Zum Gelingen dieses wechselvollen Verhältnisses, bedarf es guter Nachbarschaft mit anderen urbanen Akteuren, damit die Kirche das ihr je eigene (das Bezeugen der Taten Gottes als Evangelium) in einen fruchtbaren Austausch mit Vertretern und Repräsentanten anderer Institutionen, Religionsgemeinschaften und Lebenswelten einbringen kann.110 Von diesen Beobachtungen ausgehend, fragt Grünberg, wo und wie die urbanen Lebensstile und -welten eine Heimat in der Kirche bekommen könnten. Hier beobachtet Grünberg zunächst eine Individualisierung und Ausdifferenzierung der Lebensrhythmen der Menschen, welche sich zunehmend voneinander unterschieden und sich immer weniger mit den kirchlichen Rhythmen (auf Tages-, Wochen- und Jahresebene) synchronisieren ließen. Ein erneutes Anknüpfen an die Lebensrhythmen der Stadtbewohner – besonders im Anschluss an die christliche Tradition – sei somit eine Aufgabe der Citykirchen. Analog zu dieser Vielfalt sind auch die Radien, in denen sich das Leben der Menschen bewegt, sehr weit und unterscheiden sich je nach Alter, sozialer Situation, Lebensstil etc. Citykirchen können hier als Fenster fungieren, die einen Blick in eine andere Wirklichkeit ermöglichen. Der Einsicht folgend, dass die Menschen einer Art »subjektivem Stadtplan« folgen, müssen sich Citykirchen darum mühen, als einladende und gastfreundliche »fremde« und »heilige« Räume wahrgenommen und genutzt zu werden (»Gastlichkeit des Gotteshauses«111). Unter dem Stichwort Ritualisierungen wendet sich Grünberg dem Gottesdienst als der christlichen Form des »Kultes« zu und fordert, dass »der Zusammenhang zwischen Ritualisierung und Kult als theologische
106 Wobei Dome durchaus auch als Citykirchen verstanden und genutzt werden können. 107 Grünberg 2004, 206. 108 Dies ist eher eine weiche und subjektive Kategorie, welche den Citykirchen aufgrund ihrer Lage und Bedeutung zugesprochen wird. Rechtlich haben diese Kirchen i. d. R. durchaus eine Gemeinde und eine Parochie. Ihre Bedeutung geht aber über diese hinaus. Ausnahmen bilden sog. Hauptkirchen, die i. d. R. auch als Citykirchen fungieren, vgl. Löwe 1999, 20 f. 109 Grünberg 2004, 207. 110 Vgl. aaO., 204–207. 111 Grünberg 1995, 162. Der Artikel findet sich unter teils geändertem Titel auch in Grünberg 2004, 201 ff.
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§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung
Herausforderung begriffen und liturgisch konstruktiv aufgenommen«112 werden muss. Dabei entdeckt er ein weites Feld an Innovationen für einen urbanen Gottesdienst.113 Bei der Frage nach den Ressourcen schlägt Grünberg vor, an die lokalen Traditionen anzuknüpfen und zu entdecken, was den Ort und die jeweilige Citykirche geprägt hat und inwiefern diese Citykirche ihrerseits (bzw. der durch sie repräsentierte christliche Glaube) den Ort geprägt hat. Daneben gelte es, die Spannung zwischen der Tradition des Raumes (und seiner Erinnerung an die Katholizität der Citykirche) und der (eher protestantisch gefärbten) personalen und individuellen Repräsentanz der einzelnen Akteure sowie die individuelle Zukunft des Orts (und deren Citykirche) konstruktiv zu gestalten. Als letzte Ressource beschreibt Grünberg die Bergpredigt als ermöglichende und begrenzende Hausordnung der Kirche, die einen Vorgeschmack auf das Reich Gottes gebe.114
2.2 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung Aufgrund ihrer zentralen und zumeist prominenten Lage, ihrer Bekanntheit und ihrer identitätsstiftenden Kraft verfügen Citykirchen über ein großes Potential für urbane Gemeindeentwicklung. Durch ihre doppelte missionstheologische Anschlussfähigkeit als attraktionale und zugleich im Stadtteil verankerte (inkarnierte) Gemeinde kombinieren Citykirchen zwei zentrale Ausdrucksformen kirchlicher Mission und eine sinnvolle Nutzung beider Potentiale kann dabei helfen, dass Citykirchen sowohl dem Auftrag der Kirche in der missio Dei als auch dem Dienst am Gemeinwesen der entmischten Stadt gerecht werden. Durch ihre »natürliche« Präsenz in einem bestimmten Gebiet der Stadt verfügen Citykirchen über eine »organische« Einbindung in das Quartier und dessen Leben. Häufig sind diese Quartiere durch die hohe Präsenz tertiärer Wirtschaft an den Sonntagen deutlich menschenleerer als werktags. Die Citykirchen können hier für eine Belebung an Sonn- und Feiertagen sorgen und das Viertel zusätzlich zu seiner primären Nutzung attraktiv machen. Zugleich stellt die spezifische Nutzung der Innenstadtgebiete für die Gemeinden der Citykirchen eine große Herausforderung dar, da es für Gottesdienste oder andere
112 Grünberg 2004, 211. 113 Vgl. aaO., 208–211. 114 Vgl. aaO., 211–213.
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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Veranstaltungen an Sonn- und Feiertagen sowie an Abenden wenig Potential für »Laufkundschaft« oder »zufällige Gäste« gibt. Neben ihrer Verbundenheit mit dem Quartier sind Citykirchen aber i. d. R. über dieses hinaus bekannt und ziehen Menschen an, die nicht in diesem Quartier wohnen oder arbeiten. Somit kommen äußerst heterogene Bevölkerungsgruppen mit Citykirchen in Kontakt: lokale Berufstätige, Anwohner, Touristen, Obdachlose, zufällige Flaneure etc. Diese natürliche »Mischung« derjenigen, die in Citykirchen zugegen sind, ist eine einmalige Chance angesichts urbaner Segregation, da hier ein Ort existiert, der für alle – unabhängig von Herkunft, sozialem Status etc. – offen ist und Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht, die sich ansonsten wahrscheinlich nicht begegnen würden. Inwiefern dieses Potential einen Mehrwert für das Quartier bedeutet, liegt nicht zuletzt daran, ob es den Citykirchen gelingt, dieses Potential zu erkennen und zu nutzen. Dazu gehört auch die Einsicht, dass dieses Potential zunächst ein rein theoretisches ist und die gemeinsame Nutzung eines Raumes nicht zwangsläufig eine Begegnung oder einen sozialen Kontakt generiert. Aber die Möglichkeit ist gegeben und urbane Gemeindeentwicklung angesichts sozialer Segregation muss fragen, wie dieses Potential gehoben und gestaltet werden kann.115 Dies könnte gelingen, wenn Citykirchen Zugang und Teilhabe zu einer Koinonia eröffnen, in der sich die vielfältigen Gruppen der Innenstadt wiederfinden, bspw. in einer Art von Gottesdienst (Leiturgia), die den verschiedenen Gruppen gerecht wird und mit ihnen das Evangelium kommuniziert (Martyria) und ihnen einen Zugang zum Glauben an Jesus Christus eröffnet, welcher wiederum eine Ressource für ein Miteinander ist. Sollte dies gelingen, stellt die große Bandbreite der sozialen Herkunft derer, die in Citykirchen zugegen sind, eine diakonische Herausforderung dar, da die Gemeinde einer Citykirche mit den sozialen Herausforderungen der Menschen konfrontiert ist, die bereits Teil der Gemeinde sind (wenn auch punktuell und passager). Andere Orte, die eine ähnliche Vermischung von heterogenen Menschengruppen ermöglichen, gibt es kaum, da selbst jene Orte – die prinzipiell offen für alle sind (z. B. Shopping Malls) – auch für jene verschlossen sind, die sich eine aktive Nutzung dieser nicht leisten können (obdachlose Menschen). Die Nutzung von Citykirchen (bspw. zum Verweilen, zur Stille oder zum Besuch eines Gottesdienstes) stellt keine derartigen Bedingungen. Wobei man ernst nehmen muss, dass der Raum als »religiöser Raum« keineswegs voraussetzungsfrei ist und Menschen, die sich nicht sicher in diesem Raum bewegen, den Zugang durchaus als voraussetzungsreich empfinden können. Citykirchen, die
115 Zum integrativen Potential von Kirchen in der Stadt vgl. Keller 2016, 28–31.
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als »Andersort« (oder Heterotopien nach Michel Foucault)116 fungieren wollen117, müssen über den Zugang zu diesem Ort i. S. v. Gastlichkeit118 bzw. Gastfreundschaft reflektieren. Die Bedeutung von Citykirchen als »Andersorte« besteht bereits hinsichtlich der soziodemographischen Situation vieler Innenstadtgebiete und der sozialen Wirklichkeit vieler Citykirchen, die in gewissem Kontrast zu dem die Citykirchen umgebenden Kontext steht. Die genannten Gruppen, die i. d. R. die Innenstadt bevölkern, sind zumeist streng voneinander getrennt und schließen sich wechselseitig aus den jeweiligen sozialen Systemen aus (ein obdachloser Mensch hat keinen Raum in einem Bürogebäude und eine Mitarbeiterin im Dienstleistungssektor wird schwer Zugang zu einer Gruppe obdachloser Menschen haben). Citykirchen haben das Potential, diese Trennungen und sozialen Unterscheidungen (zumindest punktuell) zu transzendieren. Sie bilden damit einen Kontrast zur sozialen Wirklichkeit des Quartiers und stellen so eine Bereicherung dar. Dieser Kontrast kann gemäß Gal 3,28 ein Vorgeschmack des Reiches Gottes sein. Voraussetzung ist freilich die Antwort des
116 Vgl. Foucault 2017. Für Foucault ist Friedhof »der absolut andere Ort.« (AaO., 13). Daneben nennt er u. a. noch Schulen, Altenheime, Gärten (als die älteste Heterotopie), Theater, Kinos, Museen, Bibliotheken, Gefängnisse, aber auch Kolonien und Schiffe, vgl. aaO., 11–22. »Es gibt wahrscheinlich keine Gesellschaft, die sich nicht ihre Heterotopie oder ihre Heterotopien schüfe. Hier handelt es sich ohne Zweifel um eine Konstante aller menschlichen Gruppen. Aber in Wirklichkeit können die Heterotopien äußert vielfältige Formen annehmen und tun dies auch. […] So besitzen die sogenannten primitiven Gesellschaften privilegierte oder heilige oder verbotene Orte, wie man sie übrigens auch heute noch bei uns finden kann.« (AaO., 11f) »Heterotopie bedeutet zunächst einmal ›anderer Ort‹, doch diese anderen Orte erfüllen eine ganz bestimmte Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Wichtig hierbei ist, dass jede Gesellschaft ihre ganz eigenen Heterotopien hervorbringt, weshalb man eine Gesellschaft beschreiben kann, indem man ihre Heterotopien analysiert. Sie sind Teil der Gesellschaft, gleichzeitig jedoch außerhalb von ihr, denn sie sind anders, anders als alle anderen Orte. Allerdings stehen sie in Beziehung zu allen übrigen, nämlich, indem sie die anderen Orte spiegeln, reflektieren (der Reflexion zugänglich machen), suspendieren, neutralisieren oder sogar in ihr Gegenteil verkehren. Foucault behauptet, dass durch die Auseinandersetzung mit den Heterotopien einer bestimmten Gesellschaft wichtige Aussagen über diese Gesellschaft als Ganze gemacht werden können.« (Schäfer-Biermann 2016, 15). Jürgen Hasse schreibt: »Michel Foucault verwendet den Begriff der ›Heterotopien‹, um auf jene ›anderen Räume‹ aufmerksam zu machen, die gesellschaftliche Widerspruchsverhältnisse vergessen machen. Heterotope Räume sind mythisch aufgeladen, weil sie eine scheinbare Sonderwelt ›tatsächlich realisierter Utopien‹ (Foucault) erlebbar machen – so den Friedhof als Raum ewigen Lebens (entgegen der Gewissheit der biologischen Endlichkeit des Lebens) oder das Altenheim als Wohnraum, in dem die ›Alten‹ mitten in der Gesellschaft sind, obwohl sie doch gerade durch die Institution und Räumlichkeit des Altenheims aus deren Mitte herausgeschnitten worden sind.« (Hasse 2012, 479). Vgl. auch Steinmann 2008. 117 Ähnlich vgl. Höner 2017, 204 f. 118 Vgl. Grünberg 1995, 162.
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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Menschen auf das Zeugnis des Evangeliums mit Glaube und Taufe sowie das »Anziehen Christi« (Gal 3,27) bzw. das Sein als Kind Gottes (Gal 3,26). Diese oben als »prophetische Bedeutung« der Koinonia beschriebene Facette urbaner Gemeindeentwicklung findet in der Citykirche einen wichtigen Ort, da sich diese Form von Kirche aufgrund ihrer spezifischen Lage durch ein hohes Maß an Heterogenität auszeichnet und somit hier die Relevanz, aber auch das Potential zum Kontrast besonders hoch sind. Ein weiteres Potential von Citykirchen liegt ebenfalls in der Pluralität und Heterogenität der Besucher, da hier Menschen zugegen sind, die sonst eher keinen Zugang zur Kirche haben und somit u. a. solche Milieus, die wenig bis kaum in der Evangelischen Kirche auftauchen.119 Aufgrund der Bekanntheit vieler Citykirchen sowie ihrer kunsthistorischen, kulturellen, politischen oder historischen Bedeutung kann man davon ausgehen, dass viele Menschen, die sie besuchen, dies weniger aus einer religiös-geistlichen Motivation, sondern aus allgemeinem Interesse an Kunst, Geschichte oder Architektur tun. Somit kommen durch Citykirchen auch Menschen in Kontakt mit dem Evangelium, die möglicherweise keinen anderen Zugang zum Glauben an Jesus Christus haben. Diese Kontaktfläche ist eine große Chance citykirchlicher Arbeit, jedoch beinhaltet der reine Besuch einer Citykirche noch nicht zwingend eine Begegnung mit dem Evangelium i. S. d. Martyria – diese muss aktiv gestaltet werden. Die Funktion der Citykirchen als »Veranstaltungskirchen«120 besitzt das Potential, Menschen das Evangelium zu bezeugen, deren Kontakt zur Kirche (und zum Evangelium) sehr begrenzt ist. Das Interesse an Gebäude und Ort kann als Anknüpfungspunkt dienen. Die besondere Form von Öffentlichkeit, die Citykirchen eigen ist, kann ebenfalls als Potential für Gemeindeentwicklung betrachtet werden, denn Citykirchen sind (nicht immer, aber) häufig Orte, welche für die Geschichte und die Identität einer Stadt eine besondere Rolle spielen. Somit komme ihnen laut Wolfgang Grünberg eine doppelte Rolle zu: Zum einen sind sie »Kristallisationsorte, in denen sich stadtbürgerliches, also plurales religiöses Interesse artikulieren und qualifizieren kann.«121 Zum anderen sind sie »zugleich Gotteshäuser, d. h. Orte, die in Erinnerung, Vergegenwärtigung und Erwartung die Präsenz des Geistes Gottes spiegeln wollen.«122 Hier gilt Ähnliches wie für die Heterogenität der Besucher von Citykirchen. Die Verbindung ihrer städtischen Öffentlichkeit mit ihrer Funktion als verdichtete Orte des Glaubens macht Citykirchen zu einmaligen Orten der Begegnung von (zumindest potentiell) 119 Vgl. Hempelmann 2011 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 341–353. 120 Vgl. Grünberg 2004, 204. 121 AaO., 207. 122 Ebd.
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einem Teil der kirchenfernen oder konfessionslosen Bevölkerung mit dem Evangelium. In der Nutzung der Citykirchen durch die urbane Öffentlichkeit entstehen Orte der Kommunikation des Evangeliums jenseits der etablierten ortsgemeindlichen Formen. Urbane Gemeindeentwicklung im Rahmen einer Citykirche muss bei jedem Angebot und jeder Interaktion mit den Besuchern und Nutzern der Citykirche danach fragen, inwiefern hier das Evangelium kommuniziert werden kann und was die jeweiligen Grenzen eines spezifischen Formats sind. Aufgrund der großen Pluralität der Besucher und des hohen Maßes an Öffentlichkeit muss jedes Handeln in einer Citykirche, durch welches das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird, darum bemüht sein, allen Menschen, die daran teilhaben, die Möglichkeit der aktiven Kommunikation des Evangeliums zu bieten. Das heißt, dass die Sprache verständlich, möglichst voraussetzungsfrei und wo nötig erläuternd ist. Gottesdienste, Andachten, Vespern etc. die in Citykirchen stattfinden, können deshalb niemals eine bloße Gemeindeveranstaltung sein, sondern sie müssen stets mit der Teilnahme ungeübter Besucher rechnen und diese bereits bei der Vorbereitung berücksichtigen Die Gottesdienste müssen gastlich sein und der (kirchen-)fremde Besucher muss als möglicher Gast wahrund ernstgenommen werden. So sollten für die Predigt bspw. folgende Fragen leitend sein: »(1) Ist das für unsere Hörer interessant und relevant? (2) Und hilft das unseren Hörern, das Evangelium zu hören und zu verstehen?«123 Gelingt es Citykirchen gastlich zu sein, können sie mit Wolfgang Grünberg als »›Fenster‹, d. h. Orte, die auf andere Wirklichkeiten verweisen«124, beschrieben werden. Grünberg beschreibt die Ausbildung eines »subjektiven Stadtplans«, der all diejenigen Orte beinhalte, die für das eigene Leben in der Stadt von Bedeutung sind. »City-Kirchenarbeit, die diesen Zusammenhang durchschaut, wird gerade die Fremdheit bestimmter ›heiliger Räume‹ neu nut123 Herbst 2010c, 189. Michael Herbst schreibt ausführlicher dazu: »Evangelistische Predigt ist gastliche Rede: Albrecht Grözinger [Grözinger 2004] forderte in einem Essay zur Predigtlehre ausgehend vom religiösen Traditionsabbruch und von der Entkirchlichung in mitteleuropäischen Kirchen eine gastliche Predigt, die den Fremden und Ungeübten zum ›impliziten Hörer‹ macht, an den der Prediger vorrangig bei seiner Vorbereitung denkt. Die gastliche Predigt begrüßt die fremden Gäste und den ankommenden Gott. Ihre Sprache ist freundlich und höflich. Sie zielt nicht sogleich auf Übereinstimmung, sondern eröffnet einen Freiraum, in den die Hörer eintreten können. […] Der Fremde wird zum ›impliziten Mitfeiernden‹. Es wird z. B. möglichst wenig an Vorkenntnissen vorausgesetzt. Alles, was uns sonst selbstverständlich ist, wird auf den Prüfstand gestellt, ob es auch für unsere ›impliziten Hörer‹ selbstverständlich oder auch nur halbwegs verständlich ist, bis hin zu typischen, unausgesprochenen Verabredungen (etwa, dass bei uns Bibeltexte selbstverständlich Autorität genießen, dass wir uns bei bestimmten Teilen der Feier erheben, oder dass wir bestimmte abkürzende Redeweisen problemlos übersetzen […]).« (Herbst 2010c, 188f). Vgl. auch Keller 2014b, 277–287. 124 Grünberg 2004, 209.
2. Citykirchen als Orte urbaner Gemeindeentwicklung
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zen, um einzelne Menschen, aber auch Institutionen usw. in diese Räume einzuladen.«125 Machen Menschen hier eine positive Erfahrung und empfinden das Erlebte als relevant, anregend und bereichernd, dann besteht die Chance, dass »auch dieser Ort in das lebensweltliche Beziehungsnetz eines subjektiven Stadtplans eingegliedert«126 wird. Die Aufgabe für Citykirchen ist folglich eine doppelte: A) Die Gestaltung und Feier von Gottesdiensten (Andachten, Vespern etc.), die für jene Menschen relevant sind, die sie nutzen sowie die intentionale Verknüpfung citykirchlicher Angebote mit der Martyria des Evangeliums. Dies sind – wie oben gezeigt – häufig Menschen, die nicht zwingend über eine umfangreiche Erfahrung mit Gottesdiensten verfügen. B) Die Schaffung der Möglichkeit, die – hoffentlich als relevant erlebte – Begegnung mit dem Evangelium zu vertiefen, u. a. durch die Teilhabe an der Communio der Kirche sowie durch die persönliche Einführung in die Grundlagen des christlichen Glaubens z. B. durch einen Kurs zum Glauben oder anderer Formen der Partizipation und Bildung. Geschieht Letzteres, dann kann von Gemeindeentwicklung gesprochen werden.127 Die Öffentlichkeit der Citykirchen ist schließlich eine Chance, auf (geistliche, soziale, kulturelle) Missstände des Quartiers hinzuweisen und den damit verbundenen Herausforderungen, Problemen sowie Ungerechtigkeiten, eine Öffentlichkeit zu verschaffen und somit zur Veränderung der entsprechenden Situation beizutragen. Eine Citykirche als Kennerin des Quartiers auf der einen Seite und als über dieses Quartier hinausreichende Größe auf der anderen Seite, kann eine vermittelnde Position zwischen lokalen und regionalen Interessen einnehmen – und dies in städtischer sowie in kirchlicher Hinsicht. Die Ausführungen zu Citykirchen als Ausdrucksform urbaner Gemeinde haben deutlich gemacht, dass Citykirchen angesichts urbaner Entmischung großes Potential hinsichtlich der Reduktion von Segregation durch die Ermöglichung der (persönlichen und informellen) Begegnung von Menschen verschiedenster sozialer, milieutheoretischer und ethnischer Zugehörigkeiten besitzen. Lage, Bedeutung, Offenheit sowie die barrierearme Zugänglichkeit und die Möglichkeit voraussetzungsfreier Partizipation machen Citykirchen zu einer wertvollen Ressource in zentraler städtischer Lage zur Verringerung von
125 AaO., 210. 126 Ebd. 127 Anders Wilhelm Gräb, welcher in Citykirchen die Chance entdeckt, statt eines dogmatisch normativen und starren Christentums eine synkretistische Form des »Zusammen-Glauben dessen, was lange miteinander unverträglich schien«, zu fördern (vgl. Gräb 2005, 282ff). Diese Einschätzung mag einem gewissen urbanen Pluralismus (zu Beginn des 21. Jahrhunderts) entsprechen, ist theologisch i. S. d. missio Dei jedoch unterbestimmt und unzureichend, da es das Faktische zum Normativen erhebt.
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sozialer Segregation. In ihrer Funktion als Heterotopien können Citykirchen einen wertvollen Beitrag zum urbanen Gemeinwesen leisten, indem sie Räume öffnen, die es in dieser Form in der Stadt wenige gibt. Eine proaktive Identifikation, Reflexion und Nutzung dieser Ressourcen muss deshalb zentrale Aufgabe citykirchlichen Engagements sein. Gemäß ihrem Auftrag ist es dabei unverzichtbar, dass sie sich darum bemühen, das Evangelium mit all jenen zu kommunizieren, die Kontakt zu ihnen haben und am Leben der Citykirchen teilhaben. Dabei ist die Vielfalt ihrer Besucher ebenfalls eine große Chance, da es sich u. a. häufig um Menschen handelt, die wenig bis keinen Kontakt zur Kirche und zum Evangelium haben. Ihnen das Handeln Gottes zu bezeugen, ist integraler Bestandteil des Auftrags von Citykirchen. Die Herausforderung besteht zweifellos darin, den heterogenen Gruppen, welche die Innenstädte bevölkern, gerecht zu werden. Das stete Bemühen um eine für diese diversen Gruppen anschlussfähige Leiturgia und Martyria, die sich als verständlich und relevant erweisen sowie die Möglichkeit zur Teilhabe an Koinonia bieten, welche ihrerseits zu einer Wahrnehmung und Zuwendung zur Not des Nächsten befähigt (Diakonia), muss Kennzeichen urbaner Gemeindeentwicklung in Citykirchen sein.
2.3 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung Ähnlich wie bei der Parochie gilt für die Citykirchen, dass ihre großen Stärken und Potentiale für Gemeindeentwicklung ebenfalls Schwächen und Hindernisse darstellen (können). Zunächst ist die in missionstheologischer Hinsicht doppelte Rolle der Citykirchen (attraktional und inkarnatorisch zugleich) potentiell eine Überforderung128, da dieser doppelte Zugang zur Stadt sich selbst neutralisieren kann, denn die naheliegende Entscheidung, beiden Formen gerecht zu werden, kann eine halbherzige Zuwendung zum Quartier und dessen Menschen (bzw. zur Stadt als Ganzer und ihren Gästen) zur Folge haben. Eine Citykirche muss sich aktiv darum bemühen, in ihrem gemeindlichen Engagement sowohl den Städtern, Touristen etc. als auch dem Quartier sowie dessen Menschen gerecht zu werden. Die Vielfalt der Bezüge zur Stadt darf nicht zu Einseitigkeit oder Passivität führen. Ähnliches gilt für die große Heterogenität der Besucher und Nutzer von Citykirchen: Diese ist Chance und Herausforderung zugleich. Die Vielfalt der Menschen, die sich in einer Citykirche begegnen, kann eine (dauerhafte) Teil-
128 Vgl. ähnlich Grünberg 2004, 211 f.
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habe und Partizipation aller erschweren und manche Besucher möglicherweise auch abschrecken oder von der Kommunikation des Evangeliums ablenken bzw. diese beeinträchtigen. Gerade in einer entmischten Stadtgesellschaft, in der sich Menschen für gewöhnlich in ihrem vertrauten, eher homogenen sozialen Umfeld bewegen, kann die Begegnung mit Menschen anderer gesellschaftlicher Gruppen und Milieus zumindest ungewohnt oder sogar überfordernd sein. Diese doppelte Herausforderung – sich auf das Evangelium und auf soziokulturell heterogene Menschen einzulassen – kann eine gelingende Kommunikation des Evangeliums erschweren. So sehr die Mischung, Begegnung und Anteilnahme verschiedenster Menschengruppen und Milieus ein Ausdruck des Glaubens an Jesus Christus ist (Gal 3,28), kann diese Haltung bei einer ersten Begegnung mit dem Evangelium eher Unsicherheit oder Überforderung auslösen. Dies muss nicht zwingend ein Nachteil für die Kommunikation des Evangeliums sein, aber diese Möglichkeit muss den Protagonisten einer Citykirche bewusst sein. Eine weitere Hürde für Gemeindeentwicklung ist die passagere Zufälligkeit, mit der viele Besucher von Citykirchen diese frequentieren, denn »sie richten sich konzeptionell an einer anonymen Veranstaltungs- und Touristengemeinde aus.«129 Für eine nachhaltige Gemeindeentwicklung, für die Entstehung und Förderung von Koinonia ist dieser Umstand abträglich und muss als Herausforderung reflektiert werden.130 Wollen Citykirchen sich ernsthaft um Gemeindeentwicklung bemühen, so müssen sie klären, welche Form von Gemeinde als Vergemeinschaftung, als congregatio und als Communio sie darstellen können und wollen. Ein punktueller Besuch und ein gelegentliches Nutzen der citykirchlichen Angebote dient als Anfang und Einstieg, ist aber auf Dauer hinsichtlich der Bemühung um Gemeindeentwicklung nicht ausreichend. So stellt sich ganz praktisch die Frage, ob Menschen, deren Getauft- oder Nichtgetauftsein einer gastgebenden Gemeinde nicht bekannt ist, am Abendmahl teilnehmen können, damit ihnen auf diesem Wege das Evangelium bezeugt wird. Können sie nicht teilnehmen, weil sie nicht getauft oder weil sie nicht geübt sind im Abendmahl, so entbehren sie ein zentrales Element der Bezeugung des Evangeliums. Besuchen diese Menschen nun regelmäßig den Gottesdienst, erleben diesen als relevant für sich und entsteht dadurch eine Partizipation am Leben der Gemeinde, so eröffnet dies die Chance, ihnen einen Zugang zum 129 Zarnow 2018, 207. Vgl. dazu auch Karle 2011b, 142 f. 130 »Gleichwohl ist festzuhalten, dass nicht alle kirchlichen Teilhabeformen eine gemeindliche Prägung haben müssen, da der Begriff ansonsten unkenntlich wird. Nicht jeder individuell seelsorgliche Kontakt, nicht jeder Besuch einer StadtKirche als Flaneur und auch nicht jeder Besuch kirchenmusikalischer Veranstaltungen lässt sich als Gemeindebildung fassen.« (Bubmann et al. 2014, 137).
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Abendmahl zu eröffnen. Dies kann auf zweierlei Weisen geschehen: entweder sie werden (erneut) in das Sakrament des Abendmahls eingeführt (bei Getauften) oder sie werden getauft (bei Ungetauften). Die Taufe als eigenes Sakrament ist ebenso ein zentrales Element der Martyria und kann gleichsam am Anfang des je persönlichen Glaubenswegs sowie am Ende einer intensiven Suche stehen. Sowohl für eine Einführung in den Glauben i. S. e. Katechese als auch für eine Förderung des Glaubens hin zu einem lebendigen und mündigen Christsein, ist eine gewisse Dauerhaftigkeit und Verbindlichkeit nötig, welche in Citykirchen tendenziell wenig gegeben ist. Dieses Malum kann eine Citykirche durch ihre Prominenz oder ihre öffentliche Bedeutung nicht kompensieren. Aber gerade angesichts der sehr wahrscheinlichen Möglichkeit, dass kirchenferne oder konfessionslose Besucher die Angebote von Citykirchen nutzen, müssen diese über eine katechetische Kompetenz verfügen. Für viele Besucher ist der Besuch einer Citykirche ein Erstkontakt (oder ein erneuter Kontakt nach langer Zeit) mit Kirche und Evangelium und nicht zwingend suchen oder erwarten die Besucher eine geistlich-spirituelle Erfahrung. Gerade, wenn Menschen Konzerte oder Kunstausstellungen besuchen, ist eine solche Erwartung eher unwahrscheinlich. Ignoriert man mögliche Erwartungen der Besucher, so besteht die Gefahr, dass man die Menschen vor den Kopf stößt und ihnen die Kommunikation des Evangeliums aufnötigt, was dem Wesen des Evangeliums widerspricht. Andererseits wäre eine Reduktion des Angebots einer Citykirche auf Kunst und Kultur ein Defizit hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung von Citykirchen für urbane Gemeindeentwicklung. Das Proprium citykirchlicher Angebote gegenüber anderen Anbietern von Kunst, Kultur, Begegnung und sozialer Hilfe besteht in der Kommunikation des Evangeliums und der damit verbundenen Möglichkeit, Glauben zu wecken und zu fördern. Citykirchen, die sich auf ihre Rolle als Träger von Stadtgeschichte und -kultur beschränken, verabschieden sich von ihrer Aufgabe und ihrem Beitrag zur Gemeindeentwicklung in der Stadt. Christen, die sich in Citykirchen engagieren, brauchen ein feines Gespür dafür, sowohl der Berufung der Gemeinde als Zeugin des Evangeliums als auch der Bedeutung der Gemeinde im öffentlichen Raum gerecht zu werden. Beides schließt sich keineswegs aus, aber die Gefahr einer Über- oder Unterkontextualisierung ist hoch. Citykirchlich geprägte Gemeindeentwicklung muss deshalb einen besonderen Fokus auf aktive und reflektierte Kontextualisierung legen, um sowohl dem Auftrag als auch dem Kontext entsprechend zu handeln und zu leben. Von ihrer Struktur, ihrer Lage und ihrer Bedeutung für das Gesamte einer Stadt her ist es zweifelhaft, ob es Citykirchen gelingt, dauerhaft für die Vielzahl höchst unterschiedlicher Menschen eine Gemeindeform zu sein, die zu deren Lebensstil, Bedürfnissen, Ansprüchen, Fragen und Nöten passt. Möglicherweise
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müssen sich Citykirchen damit begnügen, dass sie Ort für einen Erstkontakt bzw. für eine punktuelle Begegnung mit dem Evangelium aus der Halbdistanz sein können. Die Anerkennung dieser Tatsache ist sicher nicht leicht, aber notwendig, da sie die Möglichkeit einer zielführenden Wahrnehmung und Nutzung der Potentiale von Citykirchen für die Entwicklung urbaner Gemeinde eröffnet, statt einem (möglicherweise) unrealistischem Ideal nachzutrauern und so die tatsächlichen Möglichkeiten zu unterschätzen. Damit Citykirchen ihrer göttlichen Berufung nachkommen können, ist eine Kooperation mit anderen Gemeinden der Stadt unbedingt erforderlich. Eine regiolokale Partnerschaft, welche die Vielfalt der urbanen Gemeinden als Chance und als Stärke begreift sowie eine Profilierung einzelner Gemeinden nicht bedauert, sondern fördert, wäre ein großer Gewinn für urbane Gemeindeentwicklung. Somit können Citykirchen freigestellt und entlastet werden, dem göttlichen Auftrag in der Teilhabe an der missio Dei ihren spezifischen Mitteln gemäß nachzukommen (s. u. § 16 Abs. 4).
3. Fresh Expressions of Church als Orte urbaner Gemeindeentwicklung 3.1 Einleitung131 Spätestens seit dem kirchlichen Report Mission-Shaped Church132 (MSC) aus dem Jahr 2004 sind Fresh Expressions of Church (fxC) ein fester Bestandteil anglikanischer Kirchentheorie und Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis. Theologisch haben fxC ihre Wurzeln in den Five Marks of Mission der Anglikanischen Kirche133, welche ihrerseits wiederum tief in der Denkfigur der missio Dei gegründet sind.134 Die praktischen Wurzeln von fxC liegen einerseits in der Wahrnehmung und Reflexion des gesellschaftlichen
131 Die Darstellung von fxC erfolgt an dieser Stelle ausführlicher, da diese kirchliche Ausdrucksform im deutschen Diskurs deutlich weniger etabliert ist und da die Themen Parochie und Citykirchen andernorts in dieser Arbeit bereits behandelt und in Teilen dargestellt wurden. Für fxC geschieht dies hier gebündelt. 132 Vgl. The Archbishop’s Council 2004 und deutsch vgl. Herbst 2006a. 133 Vgl. Ross 2012. 134 Vgl. dazu Müller 2016, 65–70.
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Wandels135 sowie in der Gemeindepflanzungsbewegung der Church of England (CofE), welche in dem Report Breaking New Ground136 (1994) breit rezipiert wurde. Im Grunde sollte der MSC-Report eine Art Zwischenbilanz nach zehn Jahren kirchlich geförderter Gemeindepflanzung (siehe dazu den Exkurs zu Gemeindepflanzungen unten § 15 Abs. 3.2) sein.137 Was die Autoren im Zuge der Erstellung dieses Berichtes entdeckten, war eine Vielfalt sehr unterschiedlicher Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens, welche in dieser Breite nicht unbedingt intendiert war.138 In dem MSC-Report wurden die ersten fxC beschrieben und in zwölf verschiedene Kategorien eingeteilt.139 Im Verlauf der letzten Jahre hat sich die fxC-Bewegung in vielen Denominationen im Vereinigten Königreich etabliert und ist somit eine ökumenische Bewegung.140 Definiert werden fxC so: »A fresh expression is a form of Church for our changing culture established primarily for the benefit of people who are not yet members of any church.«141 Und weiter: »It will come into being through principles of listening, service, incarnational mission and making disciples. It will have the potential to become a mature expression of Church shaped by the gospel and the enduring marks of the Church and for its cultural context.«142
135 Vgl. The Archbishop’s Council 2004, 1–15. So beschreiben die Autoren die englische Gesellschaft mit dem Begriff post-Christendom (vgl. aaO., S. 11f) und entdecken in den Umbrüchen eine Gelegenheit zur Umkehr (a moment of opportunity and the gift of repentance, vgl. aaO., 13f) und fordern: »But this is also a moment for repentance. We have allowed our culture and the Church to drift apart, without our noticing. We need the grace of the Spirit for repentance if we are to receive a fresh baptism of the Spirit for witness. If the decline of the Church is ultimately caused neither by the irrelevance of Jesus, nor by the indifference of the community, but by the Church’s failure to respond fast enough to an evolving culture, to a changing spiritual climate, and to the promptings of the Holy Spirit, then that decline can be addressed by the repentance of the Church. For true repentance involves turning around and living in a new way in the future. A diocese or parish, which, out of repentance, grows a new relevance to the contemporary world, may also grow in numbers and strength, because the Spirit of Jesus has been released to do his work.« (AaO., 13f). 136 Vgl. Church of England 1994. 137 Vgl. Müller 2016, 71–82. Vgl. dazu auch Croft 2006. 138 Vgl. Paas 2016, 43–49, Müller 2016, 52f und 80–91 sowie Moynagh 2012, 51–72. 139 Vgl. The Archbishop’s Council 2004, 43ff und Paas, 46 f. Das Church Army’s Research Unit hat die Liste auf 19 Formen erweitert, vgl. dazu Müller 2016, 50 f. 140 Vgl. Goodhew et al. 2012, 70–75. 141 Goodhew et al. 2012, 75. Zur Abgrenzung: What fresh expressions are not, vgl. aaO., 102–105. 142 Ebd. Andrew Roberts ergänzt: »The full definition offered by the Fresh Expressions team says that a fresh expression of Church will come into being through incarnational mission, a central theological principle so well captured by The Message translation of John 1.14: ›The Word became flesh and moved into the neighbourhood.‹ Whether those planting a fresh expression are moving into the neighbourhood – or network – or are already part of it, they need to meet
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Zur Bewertung, ob es sich bei einer gemeindlichen Ausdrucksform um eine fxC handelt, wurden vier Kriterien erarbeitet143: 1. Missional (missional144): Zur Beschreibung von Wesen und Auftrag der Kirche und damit der fxC orientiert sich das Merkmal missional eng an dem Gedanken der missio Dei.145 Eine fxC orientiert sich an Menschen, die außerhalb der Kirche stehen und wenig bis keinen Bezug zum Evangelium haben. Sie erkennt in diesen Menschen ein Ziel der göttlichen Sendung. Das Bemühen von fxC besteht darin, Spuren göttlichen Handelns in dem Leben der Menschen und ihrer Welt zu identifizieren. Dieser Aspekt wird auch mit der nota ecclesiae der Apostolizität der Gemeinde in Verbindung gebracht. Für die englische Situation gilt, dass die Kirche nur noch zu rund 40 % der Menschen einen Kontakt hat. Bei den übrigen 60 % spielt Kirche keine Rolle und die Kirche verliert zunehmend den Kontakt zu dieser Gruppe.146 2. Kontextuell (contextual147): Der MSC-Report beschäftigt sich umfassend mit dem Wandel der britischen Gesellschaft und beschreibt die stark ausdifferenzierte gesellschaftliche Wirklichkeit als nach-christlich. Aufgrund dieser Tatsache bemühen sich fxC darum, erstens die verschiedenen Kontexte wahrzunehmen und zweitens in diese einzutauchen, um mit den Menschen der verschiedenen Milieus und Kontexte das Evangelium zu kommunizieren. Dies soll sich in einer kulturellen Form ereignen, die den Menschen zugänglich und verständlich ist.148 Theologisch folgt dieses Vorgehen dem, was Paulus in 1Kor 9,19ff ausführt.149 Andrew Roberts verweist darauf, dass Christ in others (Matt. 25.31-40) and to make Christ known in themselves by being or becoming fully part of that context. They need to listen as well as to speak, to receive as well as to give, to share the needs of those they seek to serve.« (AaO., 82). Hervorhebung im Original. 143 Vgl. Müller 2016, 43–46 und Weimer 2016, 36–38. 144 Vgl. Goodhew et al. 2012, 76–86. 145 Zum integrativen Missionsverständnis im Anschluss an missio Dei schreibt Andrew Roberts: »For many years and across the denominations there has been a deliberate embracing of a spectrum of understanding of what mission is in practice. Mission is both social and evangelistic. It is about individuals, communities and creation. Mission is holistic. This spectrum of missional understanding and practice is evident both within and across fresh expressions. One of the gifts of fresh expressions to the wider Church may be the discovery of fresh ways in which this holistic understanding of mission can be realized in practice.« (AaO., 81). 146 Vgl. Weimer 2016, 37. Zur kirchlich-religiösen Situation in England vgl. u. a. Brown 2009, besonders 170–233; The Archbishop’s Council 2004, 1–15 und Goodhew et al. 2012, 41–69. Weiterführend vgl. Woodhead/Catto 2012; Davie 2015 sowie Brown/Woodhead 2017. 147 Goodhew et al. 2012, 86–92. 148 Vgl. Weimer 2016, 37. 149 Andrew Roberts weist auf zwei mögliche Gefahren von Kontextualisierung hin, die er als »twin dangers« bezeichnet: »Planting fresh expressions into cultures that, for whatever reason, are absent or under-represented in most existing churches is no easy task. Two equal and opposite dangers are readily apparent. The first is imperialism – the risk that the founders will impose
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ein Einlassen auf den Kontext ein »two-way-process« ist, bei dem sich eine fxC darum bemüht, sich ernsthaft auf einen Kontext einzulassen und diesem zu dienen (incarnation). Zugleich wird die entstehende Gemeinde jene Elemente einer Kultur und eines Kontexts kritisieren und konfrontieren, die menschenverachtend sind und den Werten des Evangeliums widersprechen (reconciliation, redemption, salvation).150 3. Lebensverändernd (formational151): Der Anspruch von fxC ist es, Menschen in die Nachfolge Jesu einzuladen, sodass ein lebendiges, mündiges Christsein entstehen und wachsen kann, welches lebensverändernd wirkt. Laut Roberts sind fxC in dreierlei Hinsicht formational: »They form disciples, they form leaders and they form communities.«152 Und dies soll sich weiter auswirken: »To share fully in God’s mission they also need to be transformational of the contexts in which they are set and the wider society and wider world of which they are part.«153 Die Transformation einzelner Menschen wirkt sich auf den Kontext aus und soll auch diesen verwandeln. Dabei bemühen sich fxC um eine Verbindung von alltäglichem Leben und Glauben: »[The] pattern of discipleship that is emerging in fresh expressions is one of wholelife discipleship enabling Christians to be effective in Christian lifestyle and witness in the home, work and leisure contexts where they spend most of their time.«154 Dies aktiv und intentional zu fördern, ist ein Ziel von fxC: »To further this it will be essential that fresh expressions develop rhythms of life and patterns of worship and teaching that really do honour and support the lives people lead and the work they do, seeing these contexts as places of transformational mission and avoiding the age-old temptation to see mission only as the things that the Church does corporately.«155
their cultural preferences on a newly forming church rather than allowing contextually fitting forms of service, learning, worship and evangelism to develop. These cultural preferences may be derived from society or from the structures and practices of denominations or church traditions that once were fitting but may not be now. The second danger is syncretism – the risk that the values, forms and behaviours of a particular cultural context, some of which may be at odds with the gospel, are adopted uncritically in the shaping of the fresh expression.« (Goodhew et al. 2012, 88). 150 Vgl. aaO., 89. 151 AaO., 93–99. Roberts bezieht sich in seiner Argumentation zentral auf den sog. Missionsbefehl in Mt 28,19 f. Zur deutschen Diskussion um die Begriffe und deren Implikationen vgl. Reinbold 2012; Zimmermann 2016 und ders. 2017. 152 Goodhew et al. 2012, 93. Zur Ausführung vgl. aaO., 94–98. 153 Ebd. 154 AaO., 99. 155 Ebd.
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4. Gemeindebildend (ecclesial156): Das Merkmal ecclesial ist Anspruch und Zuspruch zugleich: fxC sind weder zeitlich limitierte Projekte noch dienen sie als »Brücke« zu einer etablierten Form von (Orts-)Gemeinde. Sie sind eigenständige Ausdrucksformen von Kirche mit allen Rechten und Pflichten. Ihr Anliegen ist es, in einem bestimmten Kontext, in dem Kirche keine relevante Größe mehr ist, eine neue und dauerhafte Form von Kirche für diesen Kontext und seine Bewohner zu sein. Für eine entstehende fxC gilt, dass sie im vollen Sinne Kirche ist, mit all den ihr zukommenden Attributen und Merkmalen. Sie ist damit – analog zur Ortsgemeinde – ganz Kirche, aber keineswegs die ganze Kirche.157 Mit den Worten von Roberts: »Fresh expressions of Church […] are intended to become precisely that: new churches. They are not intended to be some form of halfway house or stepping stone en route to another church but to become mature expressions of Church themselves in due time – mature expressions shaped by the gospel and the enduring marks of the Church.«158 Diese vier grundlegenden Kriterien lassen sich um zehn weitere Indikatoren (parameters) erweitern, die das Church Army Research Unit aufgestellt hat.159 Dies geschah im Zuge der empirischen Untersuchung von neuen Gemeindeformen in England für den Zeitraum von 1992 bis 2012: 1. Was something Christian and communal brought to »birth« that was new and further, rather than an existing group modified? 2. Has the starting group tried to engage with non-churchgoers? There was intention to create a fresh expression of Church, not begin an outreach project from an exist-
156 Vgl. aaO., 99–102. 157 Vgl. Weimer 2016, 38. 158 Goodhew et al. 2012, 99. 159 In Appendix Four stellen die Forscher noch »Alternative criteria for fxC« vor: Diese stammen aus The working party report: FRESH EXPRESSIONS in the mission of the Church von D. Walton and A. Smith und lauten: »A community of people who are called by God to be committed disciples of Jesus Christ and to live out their discipleship in the world. 2 A community that regularly assembles for Christian worship and is then sent out into the world to engage in mission and service. 3 A community in which the Gospel is proclaimed in ways that are appropriate to the lives of its members. 4 A community in which the Scriptures are regularly preached and taught. 5 A community in which baptism is conferred in appropriate circumstances as a rite of initiation into the Church. 6 A community that celebrates the Lord’s Supper. 7 A community where pastoral responsibility and presidency at the Lord’s Supper is exercised by the appropriate authorised ministry. 8 A community that is united to others through: mutual commitment, spiritual communion, structures of governance, oversight and communion and an authorised ministry in common.« (Church Army Research Unit 2013).
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ing church. The aim was for the Christians to change, to fit a culture and context, not make the local/indigenous people change, to fit into an existing church context. 3. Does the resultant community meet at least once a month? In cases of monthly meetings further questions about how to deepen community, build commitment and increase discipleship follow. 4. Does it have a name that helps to give it an identity? An active search, not yet yielding a name, is allowed. 5. Is there intention to be Church? This could be from the start, or by discovery on the way. This admits the embryonic fxD (fx of developing community) and cases of fxE (fx of evangelism) and even some fxW (fx of worship). The key is that they are not seen as a bridge back to »real church«. 6. Is it Anglican, or an Anglican partner in an Ecumenical project? »Anglican« here means the bishop welcomes it as part of the diocesan family, not whether it only uses centrally authorised worship texts, or has a legal territory such as a parish. 7. There is some form of leadership recognised within, and also without. 8. At least the majority of members (who are part of the public gathering) see it as their major expression of being church. 9. There is aspiration for the four creedal »marks« of church, or ecclesial relationships: »up/holy, in/one, out/apostolic, of/catholic«. We question validity in an absence of »mission/out«. (Our Church Army team see the two dominical sacraments as a given consequence of the life of a missional community which follows Jesus, but not the sole or even best measure of being church.) 10. There is intent to become »three self« (self-financing, self-governing and self-reproducing). These factors need contextualisation, but are some marks of advancing maturity. They are not to be interpreted as indicators of congregationalist independency, or breakaway tendencies.160
Aufgrund der Erfahrung mit der Entstehung zahlreicher fxC wurde eine idealtypische Entwicklung (»Reise«) als Serving-first-journey beschrieben (Abb. 7), um diesen Prozess methodologisch darzustellen161. Markus Weimer überschreibt diesen Prozess mit »Priorisierung der Lebenswelt«162 und meint damit, dass fxC – anders als Gemeindepflanzungen – nicht von Anfang an wissen, was das 160 AaO., 9. Vgl. dazu auch Müller 2016, 44–46. Sabrina Müller schreibt zu diesen Kriterien: »Gemeinschaften, welche sich in den Punkten eins bis sechs nicht qualifizieren können, sind keine fxC. Die Kriterien sieben bis zehn werden als Gesundheitsmerkmale betrachtet, nicht als Exklusivitätskriterien.« (AaO., 46). 161 Vgl. Moynagh 2012, 208–210; ders. 2017, 44 und Weimer 2016, 34–36. Markus Weimer schreibt: »Unter der Federführung von Bischof Graham Cray und Michael Moynagh wurde der hoch komplexe Entstehungsprozess elementarisiert und in eine idealtypische Schrittfolge gebracht, die sich als zentral herausgestellt haben [sic!].« (Weimer 2016, 34). 162 Weimer 2016, 34.
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exakte Ergebnis der Bemühungen sein wird. Es soll Gemeinde entstehen, aber wie genau, ist zunächst offen und soll sich aus der göttlichen Mission und dem Kontext ableiten.163 Anders als bei einer worship-first-journey164 (Abb. 8), welche den meisten Gemeindepflanzungen zugrunde liegt, startet das Nachdenken über fxC nicht mit dem Gottesdienst oder der Gemeinde165, sondern mit der göttlichen Mission und dem Kontext.166 Bevor die Entstehung einer fxC ausführlicher dargestellt wird, soll zunächst der Begriff Gemeindepflanzung erläutert werden.
Abb. 7: Serving-first-journey
Quelle: Eigene Graphik nach Moynagh 2012, 208 und ders. 2017, 45
163 Vgl. aO., 34–36 und vgl. Müller 2014, besonders 454 ff. 164 Vgl. Moynagh 2012, 206–208. 165 Dazu Weimer: »Bei diesem Ansatz wird der Start der neuen Gemeinde mit der Feier des ersten Gottesdienstes gleichgesetzt.« (Weimer 2016, 34). 166 Zur Darstellung der sog. Worship-first-journey vgl. Moynagh 2012, 206–208, ders. 2017, 44–58; Weimer 2016, 33f und Müller 2016, 46–49. Über Chancen und Grenzen dieses Modells hält Weimer fest: »In England zeigt sich, dass dieser Zugangsweg vor allem für Neuzugezogene, für Menschen, die die Ortsgemeinde wechseln oder einen erneuten Versuch der Kontaktaufnahme unternehmen, Bedeutung hat. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass dieser Zugangsweg für Menschen aus kirchenfernen Milieus weniger erfolgsversprechend [sic!] ist.« (Weimer 2016, 34).
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3.2 Exkurs: Gemeindepflanzung167 Der anglikanische Report Breaking New Ground definiert Church Plants (Gemeindepflanzungen) so: [A] group of Christians predominantly drawn from a discernible neighborhood, culture or network who are led by those with authorization from the wider Church, whose worship and common life includes regular commitment to preaching the Word and to the celebration of the two dominical sacraments.168
Die Autoren des Reports nennen sechs allgemeine Merkmale für Gemeindepflanzung: Eine Gemeindepflanzung entspringt a) der evangelistischen Motivation, eine Gemeinde zu gründen/eröffnen/etablieren. Sie beinhaltet b) die Aussendung einer Gruppe von Menschen aus einer bestimmten Gemeinde (oder mehreren Gemeinden), mit dem Ziel eine bereits existierende Gemeinde zu beleben bzw. eine neue Gemeinde entstehen zu lassen. Diese (neu) entstehende Gemeinde hat c) eine bestimmte Identität und einen bestimmten Stil und verfügt d) über eine bevollmächtigte und intern wie extern anerkannte Leitung sowie e) über identifizierbare pastorale Strukturen. Schließlich verfolgt sie f) die Absicht einer beschreibbaren Personengruppe, soziokulturellen Milieu oder Nachbarschaft zu dienen.169 Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass keine zu strengen Kriterien aufgestellt werden können, da die Pflanzung einer Gemeinde ein organischer Prozess sei. Mit Blick auf die englische und die deutsche Situation legt Matthias Bartels (2006) dar, dass die Pflanzung neuer Gemeinden sowohl der Entfremdung weiter Teil der Gesellschaft von Kirche und Glauben als auch der allgemeinen Ausdifferenzierung der Gesellschaft geschuldet ist. Die Gesellschaft wird pluraler, säkularer und es entstehen zahlreiche gesellschaftliche Segment und in »solche Segmente […] hinein ›pflanzt‹ eine Gemeinde oder ein Gemeindeverbund eine neue gemeindliche Struktur.«170 Im Bericht Breaking New Ground werden vier Arten von Gemeindepflanzung unterschieden, welche sich landwirtschaftlicher Metaphern bedienen: Runner, Graft, Transplant und Seed. Welche Form eine Gemeindepflanzung annimmt, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst: »the size of the planting team,
167 Weiterführend zum Thema vgl. Bartels/Reppenhagen 2006 und Paas 2016. Zum Thema Kirchengründung (oder Ekklesiogenese) vgl. Reményi 2017. 168 Church of England 1994, 5. 169 Vgl. aaO., 6. 170 Bartels 2006, 15.
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what partnerships are involved, whether team members relocate and what gap gab has to be bridge in order to produce effective outreach.«171 • Die engste Verbindung zwischen einer sendenden Gemeinde (i. d. R. die Parochialgemeinde) und einer Pflanzung besteht beim Runner, welcher von der Ortsgemeinde innerhalb des parochialen Gebiets der Ursprungsgemeinde ausgesandt wird, um dort eine neue Gemeinde(-form) aufzubauen. Das Team besteht dabei ausschließlich aus Mitgliedern der sendenden Gemeinde und andere Parochien sind nicht beteiligt. • Bei einem (eher seltenen) Graft wird ein Team von einer Gemeinde in eine andere Parochie entsandt, um dort eine neue Gemeinde zu pflanzen. • Ein Transplant bedeutet, dass eine Gemeinde ein Team in eine andere Parochie aussendet, welches selbst groß genug ist, um bereits als Gemeinde zu gelten. Dies geschieht i. d. R. in Absprache mit der lokalen Gemeinde. • Ein Seed ist laut dem Report die seltenste Form von Gemeindepflanzung (Stand: 1994) in der Anglikanischen Kirche. Dabei handelt es sich um ein kleines Team, welches sich auf einen neuen geographischen oder kulturellen Ort einlässt und lockere bis keine Verbindungen zur sendenden Gemeinde unterhält. Es entsteht eine autonome, neue Ausdrucksform von Kirche an einem neuen Ort bzw. in einer (Sub-)Kultur. • Die Autoren schlagen vor, die drei Formen Runner, Graft und Seed nochmals in zwei Unterkategorien zu unterteilen. Das Adjektiv pioneer beschreibt die Pflanzung einer Gemeinde an einem Ort, an dem bis dato keine Anglikanische Gemeinde existiert bzw. in einem Netzwerk, zu dem die Anglikanische Kirche bisher keinen Zugang hat Dagegen knüpft ein progression plant an bereits bestehende Strukturen und Beziehungen an und etabliert neue Gemeindeformen an den »Rändern« bereits etablierter Ortsgemeinden.172 Gemeindepflanzung stelle laut Bartels nicht in erster Linie den Versuch dar, die (spät-)moderne Pluralität in der strukturellen Vielfalt der Gemeinden widerzuspiegeln. Sondern »Gemeindepflanzung ist […] Teil der missionarischen Bemühungen um die Ausbreitung des Evangeliums.«173 Dies bedeutet, dass die Pflanzung neuer Gemeinden »Teil des Auftrages von Kirche [ist], möglichst vielen Menschen möglichst viele Gelegenheiten zu geben, sich vom Evangelium von
171 Church of England 1994, 6. 172 Vgl. aaO., 6–8. »Classically, the seed category meant to 1–2 people moving house to a new location, transplants often took 20–50 people taking the lead in another church/parish, while grafts were usually smaller and in more equal partnership with the receiving church. Runners, which stayed within the sending parish, could vary between 3 to 20+ people.« (Lings 2016, 65). 173 Bartels 2006, 16.
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Jesus Christus berühren zu lassen.«174 Dabei entwickeln die neu entstehenden Gemeinden vielfältige Formen, die zu den jeweiligen Kontexten passen, in die sie gepflanzt werden, das Bemühen um Gemeindepflanzung ist das Resultat der »Einsicht, dass das Evangelium niemals kontextlos ist, sondern in jeweils konkrete soziale und kulturelle Kontexte hinein ver-sprochen und ver-textet wird.«175 Als neue und vielfältige Ausdrucksformen von Kirche sind sich Gemeindepflanzungen und fxC prinzipiell ähnlich und nicht zuletzt sind fxC aus der Pflanzung neuer Gemeinden und Gemeindeformen entstanden. Dies wird u. a. daran deutlich, dass die Studie The Day of Small Things (2016) bei der empirischen Untersuchung von fxC in 21 Anglikanischen Diözesen bei der Beschreibung der Mission support dynamics for fxC176 auf die vier genannten Formen von Gemeindepflanzung zurückgreift, die Breaking New Ground unterscheidet. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nur 6,4 % aller als fxC identifizierten Gemeindepflanzungen Grafts (1,8 %) und Transplants (4,6 %) sind.177 Seeds hingegen machen 7,7 % aus und die deutliche Mehrheit besteht in Runners mit 84,7 %.178 Dies zeigt zweierlei: Erstens kann man fxC als eine weiterentwickelte Form von Gemeindepflanzung beschreiben. Zweitens: Die Mehrheit der fxC verbleibt innerhalb einer Parochie und steht in engem Kontakt zur lokalen Gemeinde. Worin die Unterschiede zwischen Gemeindepflanzungen und fxC bestehen, verdeutlicht folgendes Zitat: Im Anschluss an die englischen Entwicklungen zwischen den beiden Reports Breaking New Ground (1994) und Mission-shaped Church (2004) beschreibt Michael Herbst179 Gemeindepflanzung folgendermaßen:
174 Ebd. 175 Ebd. 176 Vgl. Lings 2016, 64–67. 177 Die Autoren schreiben über diese beiden Formen: »Our team holds no view that they are in any way wrong, but we think that the opportunities for them and the range of factors or resources needed are not common. The classic kind require an urban context, a church building and congregation in need of some level of rescue, a large team of committed and prosperous volunteers, and the income from the start for a full time ordained leader, all of which require a large sending church and support from the diocese to steer a path should there be any injured local parish church feelings. There are not likely to be more than a few cases where all of these factors are present in any given diocese, but it is an option where these features do exist.« (AaO., 66). 178 Wobei nur ein knappes Viertel der in 21 englischen Diözesen untersuchten fxC die Grenzen einer Parochie verlassen, vgl. aaO., 193 f. »Very broadly, runners nearly always stay in the sending parish, grafts and transplants nearly always move beyond it and often seeds move into it.« (AaO., 193). 179 Vgl. Herbst 2006b, 52–63.
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Gemeindepflanzung in den 1990er Jahren sah so aus, dass eine lebendige Gemeinde beschließt, für ein bisher nicht erreichtes Segment im eigenen Parochialbereich ein neues Gemeindeprogramm aufzulegen. In dieses Segment hinein pflanzt die Gemeinde meist durch Entsendung eines mehr oder weniger großen Teams von Ehrenamtlichen eine neue gemeindliche Struktur, oft in säkularen Gebäuden.180
Abb. 8: Worship-first-journey
Quelle: eigene Graphik nach Weimer 2016, 34; Moynagh 2012, 206 und ders. 2017, 39
Der entscheidende Unterschied zu fxC besteht in der Ausbildung »neuer gemeindlicher Strukturen«, die ihren Ausgangspunkt meist in einem Gottesdienst haben. Wenn der erste Gottesdienst gefeiert ist, gilt die Gemeinde als gegründet. Dieses Vorgehen wird als worship-first-journey beschrieben und ist in Abb. 8 idealtypisch dargestellt. Das Gründungsdatum einer Gemeindepflanzung fällt meist mit dem ersten öffentlichen Gottesdienst zusammen und lässt sich folglich klar benennen.181 Dies ist bei fxC anders, da deren Entstehung eher einem Prozess entspricht als einer planbaren und überprüfbaren Abfolge von strategischen Schritten und Zwischenschritten. Zu Beginn einer Gemeindepflanzung steht in wesentlichen Punkten bereits fest, welche Form und Struktur die entstehende Gemeinde haben soll bzw. haben wird. Bei einer fxC ist dies anders, da die konkrete Form der fxC stark von den Bedingungen des Kontextes abhängig ist. Die Unterschiede bestehen also in der Art und Weise, wie fxC entstehen und wie groß dabei der Einfluss des Kontextes auf die tatsächliche Gestalt der sich entwickelnden Gemeinde ist.182 Die Entstehung einer fxC wird idealtypisch mit dem Begriff der serving-first-journey (s. o. Abb. 7) beschrieben und soll nun ausführlicher vorgestellt werden.
180 AaO., 52. 181 Vgl. Weimer 2016, 33 f. 182 Vgl. dazu auch Moynagh 2012, 206–208; ders. 2017, 39–41; Goodhew et al. 2012, 102–105 und Herbst 2016c, 140–143.
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3.3 Die (idealtypische) Entstehung einer Fresh Expression of Church Die oben eingeführte serving-first-journey soll nun ausführlicher dargestellt werden: • Doppeltes Hören183 (listening): Zentral für diesen Prozess ist das sog. »double listening«184. Dabei geht es um eine grundlegende Haltung, welche die gesamte Reise bestimmen und prägen soll. Doppeltes Hören bedeutet einerseits auf Gott, sein Wort, seine Verheißungen und die Implikationen des Evangeliums zu hören sowie Gottes Wirken in dem Kontext zu entdecken und wahrzunehmen.185 Andererseits bedeutet doppeltes Hören, dass die Christen auf den Kontext, dessen Kultur und dessen Menschen mit ihren Erfahrungen, Haltungen und Sichtweisen hört. Als erstem Schritt zur Entstehung einer fxC muss diesem Prozess eine angemessene Dauer eingeräumt werden, welche im Schnitt den Zeitraum eines Jahres umfasst.186 Laut Michael Volland gehören dazu u. a.: Gebet, Aufmerksamkeit, Präsenz vor Ort, Fokus auf Gott und den Kontext sowie Demut.187 Sowohl die Erwartung, dass Gott in einem Kontext bereits wirkt, als auch das Bemühen um einen Kontext, korrespondieren mit den Einsichten der missio Dei. • Liebevoller Dienst (loving and serving): Die Voraussetzung, um Menschen sinnvoll und ihnen angemessen zu dienen, ist es diese zu kennen. Deshalb ist dieser Schritt der zweite und bemüht sich darum, die Bedürfnisse, Fragen, Nöte und Herausforderungen der Menschen des Kontexts zu kennen, um diesen – im Rahmen der Möglichkeiten – zu begegnen. Dies entspricht dem integrativen Missionsverständnis der missio Dei. Als Vorbild dieses Schrittes nehmen sich die fxC den Dienst Jesu, welcher zunächst – völlig voraussetzungsfrei – den Nöten und Anliegen der Menschen begegnet ist (besonders betont wird Mk 10,45)188. Sabrina Müller schreibt: »Charakteristisch für den zweiten Prozessschritt, loving and serving, ist der Aufbau von
183 Zu den deutschen Begriffen vgl. Weimer 2016, 34. 184 Vgl. u. a. The Archbishop’s Council 2004, 104f; Moynagh 2012, 252 und ders. 2017, 321 und 323. 185 Sabrina Müller zitiert mögliche Fragen, welche im Rahmen des doppelten Hörens gestellt werden: »Where do we see change happening? In which groups do we recognise significant need? Which groups are we most and least connected to? What resources do we have to share? Which groups are we best able to serve? What can we learn from other groups and other churches? What promptings do we feel as we read scripture and pray together?Where do we see gospel connections?« (Müller 2016, 47). 186 Vgl. Goodhew et al. 2012, 164 ff. 187 Vgl. aaO., 161–173. 188 Vgl. Müller 2016, 47.
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liebenden, tiefen und authentischen Beziehungen und diakonischen Diensten.«189 Dabei könne dieser Dienst so vielfältig sein, wie die Kontexte und die Menschen, denen er gilt. Über die vielfältigen Formen, welche dieser Schritt annehmen kann, schreibt Michael Moynagh: »›Loving and serving‹ can take many forms, such as creating a ›third space‹ (in addition to home and work) in which people can hang out together, offering an opportunity for people to share an interest or hobby, alleviating loneliness through a community café, organizing a foodbank, campaigning for environmental or social justice, and providing an opportunity for people to explore spirituality.«190 Die Protagonisten von fxC betonen, dass Vertrauen, Beziehungen und Freundschaften auf Gegenseitigkeit beruhen und deshalb Beziehungen, die einseitig sind und in Abhängigkeit führen, unbedingt zu vermeiden sind.191 • Aufbau von Gemeinschaft (building community): Ergebnis der Zuwendung zu Menschen und des Dienstes an ihnen sind Beziehungen, die von Vertrauen und Verlässlichkeit geprägt sind und sich in Formen von Vergemeinschaftung ausdrücken, welche wiederum zu einem Gefühl der Zugehörigkeit führen. Über die Voraussetzungen zur Entstehung von Gemeinschaft schreibt Markus Weimer im Anschluss an Michael Moynagh192, »dass (1) es etwas gibt, das die Gruppe verbindet, (2) entsprechend viel Zeit investiert wird, (3) die Gruppe eine eigene Identität entwickelt und (4) die unterschiedlichen Charismen zum Nutzen aller zum Einsatz kommen.«193 Über den Wert dieses Aspekts der Entstehung einer fxC schreibt Moynagh: »›Buil�ding community‹ is valuable in its own right.«194 Denn: »Loving relationships reveal something of Christ, they give people a partial (though important) experience of church and they create a climate of trust within which to share the gospel.«195 Bei der konkreten Ausgestaltung der Gemeinschaft gibt es ebenfalls eine Bandbreite an Formen: »The community can take many forms – from a loose network (increasingly common today) to a tight association.«196 Die entstehende Gemeinschaft soll eine solche Qualität haben, dass sie als Raum dient, in welchem Glaube entdeckt werden kann: »FxC gehen über den individuellen Beziehungsaufbau hinaus und verfolgen das
189 Ebd. 190 Moynagh 2017, 46. 191 Vgl. Müller 2016, 48. 192 Vgl. Moynagh 2012, 208 f. 193 Weimer 2016, 35. 194 Moynagh 2012, 209. 195 Ebd. 196 Moynagh 2017, 46.
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Ziel, Gemeinschaft zu kreieren, in der vertieft über den christlichen Glauben nachgedacht werden kann und Diskussionen stattfinden können.«197 • Einüben von Nachfolge (exploring discipleship): Dieser Schritt ist sowohl sehr intentional als auch äußerst vielfältig und individuell sowie überaus herausfordernd.198 Die persönliche Entdeckung des Evangeliums und die Antwort des Glaubens geschieht auf sehr unterschiedliche Weise sowie in unterschiedlicher Intensität und Dauer.199 Deshalb ist es wichtig, dass Menschen in ihrer jeweiligen »Geschwindigkeit« und entsprechend ihrer Persönlichkeit den Glauben entdecken und sich aneignen. Dies sollte aber nicht zufällig geschehen, sondern aufgrund einer reflektierten und den Menschen angemessenen Kommunikation des Evangeliums. Moynagh weist darauf hin, dass Nachfolge kein einmaliger Akt, sondern ein Lebensstil bzw. eine grundsätzliche Ausrichtung des Lebens sei: »Some people may come to faith quickly, others more slowly. Once they start to believe, they will be encouraged to see discipleship as a lifelong process affecting the whole of their lives.«200 In seiner jüngeren Veröffentlichung (2017) beschreibt Moynagh das Bemühen um Einübung von Nachfolge in dem weiteren Horizont des Reiches Gottes: »Evangelism and forming disciples are intrinsic to the journey, but they are set within the broader kingdom horizon of attending to the wide range of people’s concerns, loving people with acts of kindness, justice and ecological care, and forming community that – at its best – starts to feel like home. ›Exploring discipleship‹ and ›church (or a congregation) taking shape‹ grow out of this kingdom soil and fertilize it further.«201 197 Müller 2016, 48. 198 Vgl. aaO., 48 f. 199 Vgl. dazu Zimmermann et al. 2011, 77–89. 200 Moynagh 2012, 209. 201 Moynagh 2017, 46 f. Unter der Überschrift travelling to faith stellt Michael Moynagh drei unterschiedliche Wege zum Glauben vor, die Gründer von fxC innerhalb der Worship-firstjourney ausgebildet haben: »The first involves, alongside the community’s main activity, a se�parate group for those wanting to explore the gospel. […] A second pathway is illustrated by a neighbourhood community in Gloucester, an English cathedral city. Soon after they moved in, Ian and Ali offered hospitality to anyone in the neighbourhood they met. ›Listening‹ happened while making friends. A ›mums and tots‹ group and a men’s soccer team were formed as people got to know each other. Ali and Ian hosted a community breakfast in their home one Sunday morning a month. Alongside it other social events sprang up like a summer icecream party and a winter chocolate party. These activities were forms of ›loving and serving‹. They enabled people in the neighbourhood to enjoy each other. They also ›built community‹ as relationships formed and friendships deepened. One-to-one conversations pointed individuals to Christ. So did simple introductory courses, which rolled over into follow-up courses like ›The Big Story of the Bible‹ (in four weeks). As individuals moved towards faith they were invited to worship with the core team, which met regularly to eat, plan, pray and study the Bible. […] A third approach is all together. Most Messy Churches are an example. Typically,
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• Neue Ausdrucksform von Kirche (church taking shape): Nachdem Menschen den Glauben entdeckt haben (bzw. entdecken), ergibt sich nach Moynagh daraus diese Konsequenz: »They will also consider what it would mean for them to be church in their context. Church guided by the gospel and appropriate to the culture will take shape around them.«202 Die Entstehung von Kirche deckt sich mit den Aussagen in CA VII: Dort, wo sich Menschen (als Heilige oder um das Heilige) versammeln, ihnen das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird und sie in gottgewirktem Glauben antworten, ist Kirche. Um das Merkmal »gemeindebildend« zu erfüllen, ist es wichtig, dass die entstehende fxC nun nicht in eine bestehende Gemeinde inkorporiert wird, sondern dass sie als eigenständige und vollwertige Form von Kirche in und für ihren Kontext existiert und als solche in diesem das Evangelium bezeugt. Dies ist von Beginn an das Ziel: »Eine fxC hat von Beginn an die Absicht und das Ziel, Kirche zu sein und die Notae ecclesiae, inklusive Sakramenten, auszubilden. Dies ist entscheidend, damit eine christliche Gemeinschaft über einen Projektcharakter hinauswachsen kann.«203 Das oben dargestellte Merkmal ecclesial (gemeindebildend) meint, dass die entstehenden fxC Kirche im Vollsinn sind: »Eine fresh expression ist eine neue Ausdrucksform von Kirche. Sie ist kein temporäres Projekt, um Menschen den Weg in die traditionelle Ortsgemeinde […] zu erleichtern. Sie lebt vielmehr mit Menschen in ihrem Kontext, ist geprägt vom Evangelium und wird zur ›ekklesia‹. Damit ist sie ganz Kirche, aber nicht die ganze Kirche.«204 • Wiederholung (doing it again): Der letzte Schritt ist zugleich der erste, denn nachdem sich eine fxC gebildet und ggf. sogar etabliert hat, beginnt der Prozess von vorn und die Christen wenden sich erneut in doppeltem Hören once a month families gather for craft activities on a biblical theme, worship geared for notyet believers and a meal. The emphasis is on all ages jointly participating. Where this ethos is cultivated carefully, the community as a whole is encouraged to journey towards Jesus, with individuals travelling at their own pace. People of different ages learn from each other on the way.« (AaO., 47f). Moynagh summiert: »Whatever the pathway (separate group, join the core team or all together), putting in signposts to Jesus will help people who want to do so to move from ›Building community‹ to ›Exploring discipleship‹.« (AaO., 48). Diese signposts beinhalten: Acts of kingdom kindness, Prayer, Missional worship, Talks about God, Participation, Personal witness, vgl. aaO. 48 f. 202 Moynagh 2012, 209. 203 Müller 2016, 49. Sabrina Müller zitiert von der englischen fxC-Homepage einzelne Merkmale zur Entstehung von Kirche im Entstehungsprozess von fxC: »Members of the group would slowly become church as they: grow through worship, personal devotions and study; become more sacrificial in their love for people outside the group; develop deeper relationships between themselves; increase their commitment to the whole body of Christ« (Müller 2016, 49). 204 Weimer 2016, 38. Hervorhebung im Original. Vgl. auch Goodhew et al. 2012, 99–102.
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und liebevollem Dienst dem Kontext bzw. neuen Kontexten zu: »›Doing it again‹ repeats the process, but in a way that suits the new context«205, wobei das doppelte Hören den gesamten Prozess begleitet und insofern eine Art Metaebene im Prozess der Entstehung einer fxC darstellt. Dieses Schema ist als methodologische Typisierung natürlich eine idealtypische und theoretische Darstellung, die in der Wirklichkeit deutlich ungeordneter, komplexer und auch in anderer Reihenfolge geschieht. Moynagh stellt in seinem 2017 erschienenen Buch Church in Life die einzelnen Kreise graphisch etwas anders dar: Die rechte Seite des Kreises ist jeweils gepunktet. Damit zeigt er die prinzipielle Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit der einzelnen Schritte an.206 »In practice, the process was seldom so neat. The stages nearly always overlapped, quite often they piled on top of each other and sometimes they were taken in a different order. Typically they rested on a carpet of prayer.«207 Deshalb empfiehlt Moynagh: A serving-first journey is not a pattern to slavishly follow. It is a strategic skeleton that founders can use to structure their thinking. As they follow the journey, the Spirit will bring into the present flavours of the coming kingdom – respect for others (›listening‹), acts of mercy and justice (›loving and serving‹), ›building community‹, being found by Jesus (›exploring discipleship‹) and ongoing mission (›do it again‹). God’s future will be more visible in the here and now.208
Man kann auch von einer fxC-Grammatik209 sprechen, also von grundsätzlichen Einsichten, Haltungen und Zugängen zum Thema Kirchen- und Gemeindeentwicklung und nicht von Konzepten oder Blaupausen für eine Franchise-Kirche. Es geht darum, die Erfahrungen sowie Einsichten, welche aus theologischer und soziologischer Reflexion gewonnen wurden sowie die daraus generierten Prinzipien a) zu verstehen und b) in einem spezifischen Kontext (bspw. einem Quartier in einer bestimmten Stadt) anzuwenden bzw. umzusetzen.
205 Moynagh 2017, 47. 206 Vgl. aaO., 44 ff. »Like the other circles, listening continues for the rest of the journey, which is why the right-hand sides of the circles are drawn in dots.« (AaO., 45). 207 AaO., 44. 208 AaO., 57. Hervorhebung im Original. 209 Diese Formulierung wird im Rahmen des Greifswalder Studienprogramms Mission & Kontext, welches am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung angeboten wird, gebraucht: https://ieeg.uni-greifswald.de/lehre-und-weiterbildung/lehre/fresh-x/ (aufgerufen am 15.12.2017). Volker Roschke spricht von einem »Betriebssystem«, vgl. Roschke 2011.
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Neben dem bereits erwähnten grundsätzlichen Prinzip des doppelten Hörens legen die Protagonisten von fxC Wert darauf, dass die Entstehung einer fxC in Beziehung zum weiteren Leib Christi geschieht. Damit sind mindestens drei Ebenen gemeint: a) die christlich-kirchliche Tradition, b) der größere Leib Christi in Form der Gesamtkirche der eigenen und anderer Konfessionen sowie c) andere Gemeinden, welche in dem Kontext bereits existieren. Dies bildet die katholische Dimension (bzw. Beziehung) der Kirche ab, welche betont, dass eine einzelne Gemeinde nie die ganze Kirche sein kann und sich stets in einem größeren Zusammenhang befindet.210 Voraussetzung für die Entstehung von fxC ist die Erwartung, dass sich Kirche in vielfältigen Ausdrucksformen verwirklicht und kein Einheitsmodell davon existieren kann, was und wie Kirche ist. So schreibt der damalige Erzbischof von Canterbury Rowan Williams im Vorwort des MSC-Reports: If ›church‹ is what happens when people encounter the Risen Jesus and commit themselves to sustaining and deepening that encounter in their encounter with each other, there is plenty of theological room for diversity of rhythm and style, so long as we have ways of identifying the same living Christ at the heart of every expression of Christian life in common. This immediately raises large questions about how different churches keep in contact and learn from each other, and about the kinds of leadership we need for this to happen.211
Die aus der fxC-Initiative erwachsene potentielle Vielfalt an kirchlichen Ausdrucksformen ist hinsichtlich der Beschreibung von Kirche in CA VII auch für eine evangelische Kirchentheorie anschlussfähig. Um das Verhältnis von etablierten Formen von Kirche und fxC zu beschreiben, wird in der Anglikanischen Kirche die Formulierung »mixed economy« verwendet, welche auf Williams zurückgeht und von ihm bereits während seiner Zeit als Erzbischof von Wales getätigt wurde und im MSC-Report zitiert wird: »We may discern signs of hope. These may be found particularly in the development of a mixed economy of Church life … there are ways of being church alongside the inherited parochial pattern.«212 Ebenso zeichnet Bischof Graham Cray bereits in der Einführung zum MSC-Report das Bild einer »Mixed-economy Church«: It is clear to us that the parochial system remains an essential and central part of the national Church’s strategy to deliver incarnational mission. But the existing paro210 Vgl. u. a. Goodhew et al. 2012, 91 f. 211 The Archbishop’s Council 2004, vii. 212 AaO., 26. Vgl. auch Müller 2016, 94 und The Archbishops’ Council/Trustees for Methodist Church Purposes 2012, 7.
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chial system alone is no longer able fully to deliver its underlying mission purpose. We need to recognize that a variety of integrated missionary approaches is required. A mixed economy of parish churches and network churches will be necessary, in an active partnership across a wider area, perhaps a deanery. In addition, our diverse consumer culture will never be reached by one standard form of church.213
Diese Formulierung hat sich durchgesetzt214 und dient zur Beschreibung eines fruchtbaren Miteinanders von etablierten bzw. bewährten Formen von Kirche und von fxC als wechselseitige Ergänzung und Bereicherung in dem Bemühen, als Kirche in einer pluralen Gesellschaft Anteil an der missio Dei zu haben. Michael Moynagh beschreibt die hinter dem Begriff liegende Idee so: The mixed economy – some prefer the phrase ›blended church‹ – contains the idea of bringing Christian communities to birth in different ways for different people within the denomination. Often these new communities are connected to an existing local church. As the new are grafted into what is already growing, the qualities of the former combine with the roots of the latter so that the whole gains in strength and attractiveness.215
Moynagh weist hier auf den alternativen Begriff »Blended Church« hin. Er zeigt zudem die Entwicklung innerhalb des Diskurses auf: Ging es anfangs darum, fxC zu ermöglichen und zu fördern, so richtet sich das Bemühen zunehmend darauf, die Idee einer »Mixed economy Church« zur allgemeinen Beschreibung von Kirche zu etablieren: »Whereas at the beginning all the talk was about starting fresh expressions, now the goal is more about supporting the mixed economy, with conferences on themes like ›blended church‹.«216 Noch grundsätzlicher ist der Versuch, die gesamte Kirche mitsamt aller Gemeinden als »mission-shaped Church« zu beschreiben und alle Entscheidungen und kirchlichen Aktivitäten von diesem Paradigma her zu denken bzw. darauf auszurichten.217 So schreibt Graham Cray im Vorwort des MSCReports: »We have entitled this report Mission-shaped Church. This echoes two themes within this report: that the Church is the fruit of God’s mission, and
213 The Archbishop’s Council 2004, xi. 214 Vgl. Moynagh 2008; ders. 2012, 431–447; ders. 2017, 99–120 und 250 ff. Vgl. auch Müller 2016, 94–96. Für eine Übersetzung in den deutschen Kontext vgl. das Konzept einer regiolokalen Kirchen- und Gemeinde-entwicklung (s. o. § 15 Abs. 1.4). 215 Moynagh 2017, 254. 216 AaO., 109. 217 Vgl. Krebs 2016, 79.
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that as such it exists to serve and to participate in the ongoing mission of God.«218 Die Entstehung von fxC als Teil einer »Mixed-economy-Church« erscheint dann gleichsam als praktische Konsequenz dieser grundsätzlichen Haltung im Ringen um eine von der missio Dei geformte Kirche in einer pluralen Gesellschaft.
3.4 Potentiale für urbane Gemeindeentwicklung Das Grundanliegen von fxC – sowohl dem göttlichen Auftrag der Gemeinde als auch dem Kontext gerecht zu werden – spiegelt das Anliegen der vorliegenden Arbeit wider. Besonders in dem sich ständig und zügig wandelnden Kontext urbaner Räume ist es von zentraler Bedeutung, dauerhaft aufmerksam für den Kontext zu sein und diesen methodisch sowie multiperspektivisch wahrzunehmen mit dem Ziel, das Evangelium angemessen zu kommunizieren. Bei der Wahrnehmung des Kontexts handelt es sich im Grunde um das, was Wolfgang Grünberg als Stadthermeneutik (s. o. § 2 Abs. 2.2) beschrieben hat: Den Versuch, die Stadt zu lesen. Um sinnvoll über Gemeindeentwicklung als Theorie der Gemeindepraxis nachzudenken, muss diese Haltung um eine ekklesiologische Hermeneutik ergänzt werden, also um die Frage: Was ist der Auftrag und die Sendung der Kirche? Die Beantwortung dieser Frage leitet sich aus einer christologischen, missionstheologischen und ekklesiologischen Reflexion ab (s. o. §§ 8–9). Es geht darum, dass Gemeinden ihren Auftrag für den sich stetig wandelnden urbanen Kontext stets reflektieren und so neu entdecken und die Frage beantworten: Wie äußert sich unser Auftrag angesichts dieser Situation? Für dieses Vorgehen bieten die kirchentheoretischen Einsichten von fxC einen guten methodischen Rahmen. Eine um ekklesiologische Reflexion ergänzte Stadthermeneutik kann auch mit der Figur des doppelten Hörens beschrieben werden: Dieses methodische Vorgehen, welches Gemeindeentwicklung konsequent sowohl vom göttlichen Auftrag als auch vom konkreten Kontext her denkt, verleiht fxC ein großes Potential für urbane Gemeindeentwicklung: Besonders angesichts der großen Pluralität sowie der schnellen Veränderung des Kontexts ist dieser Zugang zu Gemeindeentwicklung richtungsweisend, da er das Potential besitzt, den spezifisch urbanen Gegebenheiten zu entsprechen. Die Stärke des doppelten Hörens liegt besonders in der Dauerhaftigkeit dieses Vorgehens – es ist nicht ein Schritt auf dem Weg zu einer fxC, sondern es ist ein grundsätzliches Element, welches konstitutiv für eine fxC ist. Diese radikale Fokussierung auf den Kontext ist
218 The Archbishop’s Council 2004, xiii. Hervorhebung im Original.
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ein eigenständiger und zu anderen Formen alternativer Zugang zum Thema Gemeindeentwicklung, da in einem parochialen Ansatz von einer Struktur her gedacht und geplant wird und bei dem Konzept der Citykirchen das Gebäude eine zentrale Rolle spielt. Der Ausgangspunkt Kontext entspricht dabei den theologischen Einsichten der missio Dei und ist selbst bereits Ausdruck des Hörens auf Gott in der Beschreibung von Wesen und Auftrag der Kirche. Somit stellt fxC eine ernsthafte Bemühung um kontextualisierte Gemeindeentwicklung dar. Diese – am Beginn dieser Arbeit als Schlüsselkompetenz beschriebene – Haltung, sich als Kirche ernsthaft auf den Kontext einzulassen, bedeutet, den Kontext zu analysieren, zu erforschen, sich auf diesen einzulassen, diesen zu kennen und zu verstehen, mit dem Ziel ernst- und dauerhaft Teil dessen zu werden und Kirche mit und für die Menschen dieses Kontexts zu sein. Eine Gemeindeentwicklung, die diesem Paradigma folgt, bildet die Ausdifferenzierung der Gesellschaft als Ganzer und der urbanen Räume als am stärksten ausdifferenziertem Kontext ab und ist Ausdruck der christlichen Grundhaltung »allen alles« sein zu wollen, um möglichst viele mit der rettenden Botschaft des Evangeliums in Kontakt zu bringen (vgl. 1Kor 9,19ff). Eine Gemeindeentwicklung tut damit nichts Außergewöhnliches, sondern folgt lediglich ihrer Berufung als Gesandte Gottes zu allen Menschen und zu allen Kontexten – es ist der praktische Ausdruck ihrer Mission als Teilhaberin an der missio Dei. Verweigert sich Gemeindeentwicklung diesem Prozess und begnügt sich mit der Sicherung dessen, was sie bereits ist, so läuft sie Gefahr, ihre Berufung zu verlassen und ihre Teilhabe an der missio Dei aufzugeben. Ändert sich ein Kontext, so muss sich die Kirche als Gesandte dieser Änderung annehmen und sich ggf. selbst ändern. Um des unwandelbaren göttlichen Auftrags willen muss sich die empirische Wirklichkeit von Kirche stets wandeln und so an den Kontext anpassen, dass eine Kommunikation des Evangeliums mit möglichst vielen Menschen dieses Kontexts gewährleistet und ermöglicht wird. Eine Gemeindeentwicklung, die dies tut, wird darum ringen, im besten Sinne des Wortes eine »Kirche für die Welt«219 zu sein. Folglich denkt fxC im urbanen Kontext Gemeindeentwicklung konsequent von der Stadt her und unternimmt den Versuch, Gemeinde in und für die Stadt zu sein. Die oben als »Grammatik« beschriebenen theologischen und soziologischen Einsichten von fxC helfen urbaner Gemeindeentwicklung die Stadt zu lesen, um Stadt und Evangelium in einen für beide Seiten angemessenen Austausch zu bringen. Der Zugang zur Stadt ist dabei insofern ergebnisoffen, als dass – außer dem Ziel, dass Gemeinde entstehen soll – nichts vorgegeben ist. Dies bietet die Chance, dass eine Ausdrucksform von Gemeinde entstehen kann,
219 Vgl. Lange 1981.
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die den Menschen des Kontexts entspricht und ihnen hilft, das Evangelium sowohl selbst zu verstehen als auch den Menschen ihres Umfelds zu bezeugen. Die Grammatik von fxC eröffnet eine Perspektive auf Gemeindeentwicklung, in welcher das Evangelium in einem pluralen Kontext für vielfältige und sich in einem steten Wandel, Wechsel und Austausch befindliche Gruppen bezeugt werden kann. Geschieht dies, so wird das Anliegen von fxC, eine eigenständige und vollwertige Ausdrucksform von Kirche für einen spezifischen Kontext zu sein, verwirklicht. Sie sollen keine Brückenfunktion haben, sondern beanspruchen Kirche i. S. v. ekklesia220, auf der Ebene von lokaler Gemeinde, zu sein. Das Potential von fxC für urbane Gemeindeentwicklung ist folglich ein doppeltes: Zum einen befähigt diese Form von Gemeindeentwicklung urbane Gemeinden dazu, »Kenner des urbanen Lebens«221 zu werden. Zum anderen forcieren fxC eine kontextuelle Ausdrucksform von Kirche, die nachhaltig und von Dauer sein soll. Da fxC keine Projekte oder »Übergangskirchen« sind, sondern als Orte der Versammlung und Evangeliumsbezeugung Ausdrucksformen von Kirche (CA VII) mit allen Rechten und Pflichten, entstehen mit ihnen quartierseigene, kultursensible und milieuorientierte Gemeinden. Sie sind Kirche vor Ort (bzw. im Netzwerk oder für eine bestimmte soziale Gruppe etc.) für die Menschen dieses Orts (oder Netzwerks, Gruppe etc.) – sowohl für die, die bereits Christen sind als auch für jene, die dies noch nicht sind.222 Gemeinden, die dieser Grammatik entsprechend entstehen, bringen mit ihrer äußeren Gestalt (oder Ordnung i. S. v. Barmen III) und ihrer inneren Haltung die Ausrichtung der Botschaft von der freien Gnade an alles Volk (Barmen VI), aufgrund der Hinwendung Gottes zu allen Menschen, zum Ausdruck. Da doppeltes Hören eine grundlegende und fortwährende Aufgabe urbaner Gemeindeentwicklung als fxC ist, ist die konkrete Gestaltung einer urbanen fxC niemals abgeschlossen, sondern befindet sich – in Anlehnung an die Dynamiken des Kontextes – stets im Wandel. Die Vielfalt der möglichen fxC entspricht der urbanen Pluralität kultureller Ausdrucksformen, möglicher Lebensstile, Arbeitsverhältnisse, familiärer Situationen sowie sozialer Milieus etc. Gemeinden, die sich am Paradigma von fxC orientieren, versuchen nicht, eine Form für alle darzustellen, sondern tragen dem Umstand Rechnung, dass Menschen in urbanen Räumen in großer Vielfalt ihren familiären, beruflichen und wohnlichen Alltag gestalten 220 Vgl. Grethlein 2014a, 147 f. 221 Vgl. Cox 1966, 148. 222 Die Kritik an fxC und besonders an der Beschreibung der Kirche als mixed economy (vgl. Davison, Milbank 2010, 73–75) verdeutlicht auch, dass für eine anglikanisch formatierte Ekklesiologie die Vorstellung einer pluriformen Kirche deutlich schwieriger ist als für eine Ekklesiologie im Anschluss an CA VII.
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und ihr Zugang zum Evangelium nicht nur in einer möglichen Form bestehen kann. Dieser Zugang muss ebenfalls vielfältig sein, damit er den vielfältigen Menschen an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten, in vielfältigen kulturellen Ausdrucksformen und auf unterschiedlichen Wegen das Evangelium bezeugt und ihnen so die Möglichkeit einer Antwort im Glauben eröffnet. Mit ihrem Ansatz bei einem bestimmten Quartier, einer Bevölkerungsgruppe, einem sozialen Problem oder einer Nachbarschaft usw. bieten fxC die Chance, zielgruppenorientiert und gleichsam »maßgeschneidert« Menschen einer bestimmten Gruppe, Region oder in einer spezifischen Situation (bspw. junge Familien oder alleinerziehende Mütter) das Evangelium zu bezeugen. Das Einlassen auf einen bestimmten (Mikro-)Kontext bezieht sich auch auf die Vorbildung bzw. das Vorwissen und die Vorerfahrungen der Menschen in Bezug auf das Evangelium, den christlichen Glauben und die Kirche. Dies bedeutet, dass bei der Entstehung einer fxC berücksichtigt wird, was die geistlich-religiöse (oder areligiöse) Prägung derer ist, denen sich die fxC zuwendet und denen sie beabsichtigt zu dienen. Umso mehr bekannt ist, welche Erwartungen oder Befürchtungen die Menschen haben, desto wahrscheinlicher ist, dass diesen begegnet werden kann und Menschen ein Zugang zum Evangelium eröffnet wird, der ihnen und ihrer spezifischen Situation entspricht und sie weder über- noch unterfordert, weil er Vorurteilen oder Befürchtungen begegnet und Menschen einlädt, eine eigene – möglichst neue – Erfahrung mit dem Glauben an Jesus Christus zu machen. Wird das doppelte Hören als Grunddimension urbaner Gemeindeentwicklung im Sinne einer fxC konsequent umgesetzt, so hat dies für die entstehenden Gemeinden die Folge, dass diese niemals »fertig« sind, sondern sich immer »im Werden«223 befinden und entsprechend des Kontexts einem dauerhaften Wandel unterworfen sind.224 Dieser Anspruch ist idealiter richtungsweisend, da er die Gemeindeentwicklung mit der bleibenden Sendung in die Welt konfrontiert.225 Dies erfordert sowohl ein hohes Maß an persönlichem Engagement sowie einer eigenständig verantworteten christlichen Existenz (i. S. e. lebendigen und mündigen Christseins) der einzelnen Mitglieder der fxC. Diese Folgen und Anforderungen sind Herausforderung und Chance 223 Vgl. u. a. Müller 2016, 170 f. 224 Vgl. dazu die Ausführungen zur prinzipiellen Unabgeschlossenheit von Gemeindeentwicklung oben § 10 Abs. 6.2 und Grözinger 2014; Winkler 1997, 25f sowie Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript zur Vorlesung im Sommersemester 2016 am 8.4.2016, 1–6. 225 Siehe den fünften Indikator des Church Growth Research Project: »Is there intention to be Church? This could be from the start, or by discovery on the way. This admits the embryonic fxD (fx of developing community) and cases of fxE (fx of evangelism) and even some fxW (fx of worship). The key is that they are not seen as a bridge back to ›real church‹.« (Church Army Research Unit 2013, 9). Vgl. dazu auch Reményi 2017.
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zugleich, da sie intentional, planmäßig und dauerhaft umgesetzt werden müssen und für alle Beteiligten ein hohes Maß an Identifikation, Hingabe und nachhaltiger Beteiligung erfordern. Insofern gilt, was Michael Volland fordert: Bevor man ernsthaft beabsichtigt, eine fxC ins Leben zu rufen, sollte man die Kosten überschlagen und sorgfältig prüfen, was einerseits die wahrscheinlichen Anforderungen und der Aufwand und was andererseits die eigenen Potentiale und Ressourcen sind sowie worin mögliche Unterstützung durch andere besteht.226 Diese Anforderung an das Engagement in einer fxC ist eine Chance für Gemeindeentwicklung, da sie mit der Frage nach ehrenamtlichem Engagement unter der Überschrift des Allgemeinen Priestertums konfrontiert.227 Neben der grundsätzlichen Bedeutung dieses Themas für evangelische Gemeindeentwicklung ist dies aus mehreren Gründen für Fragen urbaner Gemeindeentwicklung von Interesse: Erstens wird die Kirche die ausdifferenzierten, vielfältigen (und zahlreichen) Formen von Gemeindeentwicklung nicht mit hauptamtlichen Mitarbeitern gestalten können. Dies ist weder finanziell noch personell zu leisten und somit wird urbane Gemeindeentwicklung, die in pluralen Ausdrucksformen geschehen soll, elementar auf ehrenamtlichem Engagement aufbauen – auch in Fragen der Leitung und verantwortlichen Zuständigkeit für Gemeinden.228 Über die Rolle von Ehrenamtlichen in verantwortlicher Tätigkeit existieren in englischen fxC bereits repräsentative empirische Daten. So zeigt zweitens die Studie The Day of Small Things (2016) des Research Unit der Church Army, dass einerseits zahlreiche fxC von sog. lay-lay geleitet werden und dass sie dies sehr erfolgreich tun.229 Lay-lay werden so beschrieben: »We invented this shorthand term to mean people with no centralised formal training, or official authorisation for this specific task, although a number bring significant work and life experience, including skills with people.«230 Die Studie hat gezeigt, dass 36,4 % der Leiter der untersuchten fxC sog. lay-lay leader
226 Vgl. Goodhew 2012, 169–173. 227 Vgl. Herbst 2013b, besonders 33–40 und Hofmann 2014. Dazu Alexander Deeg:»Alle sind Priester, und manche sind Pfarrer.« (Deeg 2018, 63). 228 George Lings bilanziert in der Studie The Day of Small Things: »Writers in the field of fxC have urged that the size of the mission task facing the Church of England will require many lay leaders and this is evidence that it is already occurring. The wider Church may need the difficult combination of humility to learn from them, as well as wisdom to give them the kind of support, training and recognition that does not lead to any unintended emasculation of their essential contribution.« (Lings 2016, 189). 229 Vgl. aaO., 181–190. 230 AaO., 181.
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sind.231 Die Frage, welcher die Studie nachging, lautet: »How did the young churches, that were lay-lay led, perform compared to those led by the rest of the leaders who were, in some sense, professional?«232 Die zentralen Ergebnisse sind diese: 72 % der lay-lay-leaders sind weiblich, wohingegen 63 % aller übrigen Leiter männlich sind. 59 % der lay-lay-leaders leiten eine fxC in ihrer Freizeit und 71 % aller lay-lay leader tun dies ehrenamtlich. Beachtenswert sind die Ergebnisse zur Zusammensetzung derer, die Teil einer von lay-lay geleiteten fxC sind: In einer nicht lay-lay geleiteten fxC stammen 43 % der Teilnehmer aus der Gruppe der Churched (also Mitglieder der Kirche), 28,2 % De-Churched (ehemalige Mitglieder der Kirche) und 28,6 % Non-Churched (Menschen, die vorher keinerlei Kontakt zur Kirche hatten)233. Bei fxC, die von lay-lay geleitet werden, weichen die Zahlen ab: 38,6 % sind Churched, 24,5 % sind D e-Churched und 38,8 % sind Non-Churched. Dieser Wert ist beachtlich, da er die Vermutung nahelegt, dass es lay-lay geleiteten fxC besser gelingt, Menschen für den Glauben und die Kirche zu gewinnen, die bisher keinen Zugang dazu hatten.234 Die Autoren summieren am Ende des Kapitels: Yet this chapter substantiates that by most measures, lay-lay leaders of fxC are performing as well as their formally recognised and officially trained counterparts. It is hard to doubt that they have a significant part to play in the future. This evidence is particularly impressive given that broadly lay-lay leaders lead fresh expressions of Church on a voluntary basis in their spare time.235
Drittens ist das Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter deshalb von großer Bedeutung, da Menschen, die nicht hauptamtlich bei der Kirche tätig sind, allein aufgrund ihres Berufs mehr Kontakt zu Menschen der Stadt haben, die nicht 231 »Their efforts deserve recognition and their leadership merits support. There is a need to honour what the lay-lay group have done, bearing in mind from section 10.3 that this is the single largest group who are leading fxC.« AaO., 189. 232 AaO., 181. 233 Zu den Begriffen vgl. The Archbishop’s Council 2004, 36–41 und Müller 2016, 86 f. 234 Dazu Lings: »Another marker of the missional effectiveness of lay-lay-led fxC is not just num�� bers attending but the kinds of people reached by the fxC they lead, as shown in chart 41 below. The data shows the lay-lay-led initiatives are more effective at reaching those with no previous church connection, but are slightly less effective at reaching out to Christians and the de-churched. We wonder if this suggests that the lay-lay-led fxC are more linked to, and thus more effective with, those outside of Church, or it could be that non-churched people are more attracted to a group with lay-lay leadership. Equally these figures may disclose that ›professional‹ leaders have less contact with those outside the church community and that strangers see existing church leaders as part of the cultural distance they feel from the Church.« (Lings 2016, 185f). 235 AaO., 190.
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Mitglieder der Kirche sind und bisher keine Kenntnis vom Evangelium haben. Ihre Aufgabe ist es, an den Orten ihres alltäglichen Lebens (Beruf, Freizeit, Familie, Konsum, Politik etc.) ihren Glauben zu bezeugen und dort als Zeugen des Evangeliums von der Hoffnung zu erzählen, die ihr Leben trägt.236 Ehrenamtliche, die als getaufte Priester geistliche Verantwortung in Gemeinde und Alltag wahrnehmen237, können mit Ernst Lange als »Verantwortliche Gemeinde« und als »Sachkundige der Diaspora« bezeichnet werden.238 Eng mit den Themen Allgemeines Priestertum, Ehrenamt und lay-lay leadership ist die Frage nach Befähigung, Ausbildung, Förderung und Unterstützung eines lebendigen und mündigen Christseins verbunden. Dies entspricht dem vorletzten Schritt auf dem Weg zu einer fxC (exploring discipleship) und wurde bereits oben als der herausforderndste Schritt auf dem Weg zu einer fxC beschrieben. Eine intensive Reflexion dieses Themas in Theorie und eine Erprobung in der Praxis unter Berücksichtigung der urbanen Lebensrhythmen und Gewohnheiten ist eine grundsätzliche Aufgabe für urbane Gemeindeentwicklung.239 Sollte urbane Gemeindeentwicklung zu einer gründlichen Beschäftigung mit diesen Fragen sowie zu einer langfristigen Übertragung von Verantwortung an ehrenamtliche getaufte Priester führen, so wäre dies nicht weniger als die Umsetzung einer zentralen Einsicht und theologischen Überzeugung reformatorischer Theologie.240
3.5 Hindernisse für urbane Gemeindeentwicklung Die oben genannten Folgen des doppelten Hörens (»Sein im Werden«) bzw. Anforderungen zur Umsetzung einer fxC sind keineswegs ein Hindernis für urbane Gemeindeentwicklung, aber zumindest eine mögliche Hürde, da z. B. ein
236 Vgl. Keller/Thompson 2012, 134–160. 237 Eberhard Hauschildt bezeichnet Ehrenamtliche als Brückenbauer zwischen Kirche und Alltag und beschreibt ihren Beitrag zum Kulturaustausch zwischen dem Netzwerk Gemeinde und dem Netzwerk Alltag so: »Ihr Beitrag zum Kulturaustausch hat die Stärke besonderer Glaubwürdigkeit: Sie engagieren sich für die Kirche und ihre Inhalte ohne den Nebenzweck des Broterwerbs, wie das bei den beruflichen Kirchenvertretern der Fall ist. Und anders als bei den nicht in Gruppen Vernetzten ist bei ihnen ganz deutlich erkennbar, dass für sie der Glauben [sic!] einen Unterschied im Alltagsverhalten (nämlich ihrem Gruppenengagement) ausmacht.« (Hauschildt 2018, 88). 238 Vgl. Lange 1981, 76–78. 239 Vgl. Herbst/Stahl 2018. 240 Vgl. dazu u. a. Deeg 2018.
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hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement sowie die Bereitschaft zu Weiterbildung und Vertiefung der für den Gemeindedienst nötigen Fähigkeiten notwendig ist. Dies macht fxC zu einer anspruchsvollen Ausdrucksform von Gemeinde in der Stadt mit der Gefahr, dass diejenigen, die sich in einer solchen engagieren, potentiell überfordert sind. Dies gilt besonders für Menschen, die dies im Ehrenamt und damit zusätzlich zu ihrer beruflichen Tätigkeit tun. Zu einem zentralen Kritikpunkt241 an fxC gehört, dass diese mehr oder minder bewusst dem sog. Homogeneous Unit Principle (HUP) von Donald McGavran242, welches laut Davison/Milbank mit der Church-Growth-Bewegung243 verbunden ist, folgen.244 Dieses Prinzip fasst der MSC-Report so zusammen: The principle states that: ›People like to become Christians without crossing racial/ linguistic/class/cultural barriers.‹ In other words, they prefer to remain who they are culturally while changing to being Christian. Culturally they remain the same, and tend to gather with others from the same culture who share their faith. It is this sameness that marks the group as ›homogeneous‹.245
241 Zur Kritik an fxC vgl. Percy 2008; Hull 2008a und 2008b und Davison/Milbank 2010. Vgl. auch Müller 2016, 99–102. Zur deutschsprachigen Kritik vgl. besonders Koll 2012 und Schüßler 2016. 242 Vgl. McGavran 2005 und McGavran/Anderson 1990. 243 Vgl. dazu Davison/Milbank 2010, 81–84. 244 Vgl. Percy 2008, 35 ff. 245 The Archbishop’s Council 2004, 108. Und weiter führen sie aus: »McGavran devised his Homo�geneous Unit Principle from observation, principally in India. There the gospel spread across whole people groups (such as the conversion of whole villages) who were evangelized by those from that community. In one sense, he simply said ›this is how the gospel travels most easily‹. However, for nearly 50 years, controversy has followed his conclusion. Some are strongly critical of HUP. They argue that the New Testament sees Jesus as reconciler, breaking down barriers between God and human beings, and between human person and human person. So Paul writes to the Galatians: ›There is no longer Jew or Greek, there is no longer slave or free, there is no longer male and female.‹ One reply to this concern is to affirm the diversity of creation. God is creator of all, and is also creator of specific and diverse cultures. Whilst elements of all cultures are damaged by the Fall, like the rest of creation, culture is part of God’s handi work. A second strand is to look at the Incarnation, challenging the church planter to follow Jesus’ example of choosing a specific culture and time into which to be born. The incarnation principle points to the planting of churches that are culture-specific for those being reached. A third factor comes from the theology of Good News for the Oppressed. Sociological study shows that, when two cultures are together in a social context, a healthy heterogeneous mixture does not result – one tends to dominate the other. The culture of those with the educational and economic power tends to come out on top. An attempt at diversity becomes dominance.« (AaO., 108f). Davison und Milbank kritisieren die Haltung des MSC-Reports zum HUP deutlich, vgl. Davison/Milbank 2010, 75–84.
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Die Kritik am HUP fasst Martin Percy so zusammen: »[HUP] was subsequently widely discredited by theologians, and also condemned by missiologists for its focus on on pragmatism, and its willingness to sanction narrowly constituted groups (on the basis of age, gender, race, class, wealth etc.) as ›church‹, which of course the legitimizes ageism, sexism, racism, classism and economic divisiveness.«246 Andrew Roberts schlussfolgert: »Working from this premise, he [McGavran] argued that for the sake of mission it is best to form churches within the different groups that people are already part of.«247 Diese Kritik wurde von Vertretern von fxC aufgenommen und in deren theologischem Anliegen in folgender Frage gebündelt: »The gospel is for all, but how can it be made known to all?«248 Bei der Bewertung der Potentiale und Hindernisse von fxC für urbane Gemeindeentwicklung gilt dieselbe Erkenntnis, die bereits für Parochien und Citykirchen festgehalten worden ist: Die Stärke der jeweiligen Gemeindeform ist zugleich ihre Schwäche. Für fxC gilt: Die intendierte (und potentielle) große Vielfalt von fxC birgt die Gefahr der Entstehung einer sozial und kulturell zersplitterten Kirche, »die sich aufspaltet in lokale milieudifferenzierte Kleinorganisationen«249 und deren soziale Einheit nicht mehr erkennbar ist. Dies droht der in Gal 3,28 beschriebenen Einheit derer, die an Jesus Christus glauben und getauft sind, zu widersprechen. Eine Kirche, die sich in einer unbegrenzten Zahl subkultureller Ausdrucksformen organisiert, droht diese Verheißung und dieses Merkmal von Kirche zu konterkarieren. Wenn sich urbane Gemeindeentwicklung auf die Pluralität des urbanen Lebens einlässt und die soziale Segregation gleichsam nachvollzieht, so besteht die Gefahr, dass die Gemeinde dieses Phänomen selbst abbildet und somit verstärkt statt es prophetisch zu kritisieren und ihm entgegenzuwirken. So werfen Andrew Davison und Alison Milbank der fxC-Bewegung vor, das Phänomen der Segregation zu verstärken, indem darin Zuflucht gesucht wird (»Fresh Expressions: The Flight to Segregation«250). Ihre Grundannahme lautet: »the form of the Church embodies her Faith.«251 Eine (lokale und parochiale) Kirche als »mixed community« drückt für sie den Glauben an das Evangelium als Botschaft der Versöhnung, der Vergebung und des Friedens aus. Weil das Evangelium sowohl Versöhnung mit Gott als auch mit dem Nächsten ist, muss
246 Percy 2008, 38. 247 Goodhew et al. 2012, 89. 248 Ebd. 249 Hauschildt 2007, 64. Vgl. dazu auch Karle 2011b, 140 ff. 250 So lautet der Titel des vierten Kapitels ihres Buches For The Parish, vgl. Davison/Milbank 2010, 64–92. 251 AaO., 64.
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christliche Gemeinde »mixed« sein.252 So attestieren sie dem MSC-Report und den entstehenden fxC: »Mission-shaped Church is a recipe for segregated Christian congregations, and that is what it has produced in Fresh Expressions. Far from breaking down ›the dividing wall‹ (Eph 2.14) the network model of Fresh Expressions is one that builds walls up.«253 Die Kritik zielt dabei weniger auf das Bemühen, unterschiedlichen Menschen einen vielfältigen Zugang zum Evangelium zu eröffnen, sondern darauf, dass Segregation im Widerspruch zum Evangelium stehe, denn: »segregation is segregation and it is in conflict with the Christian gospel.«254 Davison/Milbank kritisieren, dass fxC bei der Hochschätzung der verschiedenen Kulturen und Interessen von Menschen diese in ihrer Bedeutung jedoch überschätzen, indem sie solche zu einem identitätsstiftenden Merkmal stilisieren und eine eigene Ausdrucksform von Kirche darum gruppieren. Für die Parochialgemeinde beanspruchen Davison/Milbank dagegen dies: »The point is that the cultural interests of church members can be valued without having to structure an entire church around it.«255 Unter Verweis auf bestehende fxC für Gestalter von Grußkarten oder für Menschen, deren Hobby Nähen ist, bezeichnen sie eine Gemeindeentwicklung, die solche partiellen Tätigkeiten zum gemeinsamen Anlass für eine eigene Gemeindeform macht, als unreif 252 Vgl. aaO., 64–66. Wolfgang Grünberg schreibt: »Es darf nicht dazu kommen, dass die gesamtgesellschaftliche Segregationstendenz auch von den Institutionen betrieben wird, die im Kern Integration betreiben wollen und können, z. B. die Religionsgemeinschaften.« (Grünberg 2004, 76). 253 Davison/Milbank 2010, 65. Hervorhebung im Original. 254 AaO., 66. Ein Blick in die Texte des Neuen Testaments zeigt, dass die ersten Gemeinden keineswegs sozial homogen waren, sondern eine hohe Pluralität in sozialer, ethnischer und wirtschaftlicher Hinsicht aufwiesen, vgl. Röm 16,3–16 und dazu Lohse 2003, 405–411; vgl. Phm und dazu Stuhlmacher 1981, besonders 70–75 und Gnilka 2002, besonders 17–33 und 71–81. Vgl. Eph 2,11ff und dazu Schnackenburg 1982, 30–34 und 103–127 Vgl. außerdem Hahn 2011a, 161 ff.; Vogler 2001, 111–123 und Conzelmann/Lindemann 2004, 511ff, besonders 526–533 und 534–542 und 549–562. Anders akzentuiert (mit dem Fokus auf Pioneering) vgl. Goodhew et al. 1–40. Vgl zudem Moynagh 2012, 3–27 und 28–31. Dazu Benjamin Schließer: »Lange Zeit galt als unumstößliche Wahrheit, dass sich die frühen christlichen Gemeinden aus sozial Randständigen, Rechtlosen, Armen und Versklavten zusammensetzten. […] Das Christentum galt als ein Unterschichtenphänomen, eine Proletarierbewegung. Für diese Ansicht stehen so bedeutende Forscher wie Friedrich Engels, Karl Kautsky, Adolf Deißmann, Max Weber und Ernst Troeltsch. Seit den 1970er Jahren jedoch bricht sich ein ›New Consensus‹ Bahn, der zum Ausdruck bringt, ›dass die frühen Christen unterschiedlicher sozialer Herkunft waren und dass es unter ihnen einen nicht zu unterschätzenden Anteil an Personen mit höherem gesellschaftlichen Status gab.‹ Unser Wissen über die Zusammensetzung der ersten Gemeinden, über die soziale Lage und den Status ihrer Mitglieder, ist freilich überaus schmal. Am wenigsten nebulös stellt sich die Situation der Christen noch in Rom und in Korinth dar.« (Schließer 2019, 38). 255 Davison/Milbank 2010, 77.
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bzw. als Bevormundung. Stattdessen empfehlen sie, dass sich entsprechende Interessengruppen im Rahmen einer bestehenden (parochialen) Gemeinde ebenso gut bilden können und damit ebenso Teil der Kirche sein können, ohne dass daraus zwangsläufig eine eigene Ausdrucksform von Kirche werden muss. Die Gefahr bestehe laut Davison/Milbank darin, dass die Kirche in zahlreiche Subformen zerfällt: »If it is taken too far [cultural specificity of the church], the Church will fragment and segregate on the basis of micro-cultures: skateboarders, affluent young accountants, Goths of a particular variety in their twenties, the long-term unemployed and so on.«256 Davison/Milbank identifizieren die mangelnde Bereitschaft, sich in eine größere Gemeinschaft zu integrieren sowie die daraus folgende dauerhafte Segregation, als »psychologically unhealthy«, als »psychological disturbance« und als ein Kennzeichen von Unsicherheit. Eine dauerhafte Verhaftung der Menschen in einer Subkultur kann laut den Autoren nicht das Ziel kirchlicher Mission sein, sondern der Wunsch, diesen Menschen zu begegnen und sie aufzusuchen wo sie sind, sollte dem Ziel dienen, sie wieder in eine größere und plurale Gemeinschaft zu integrieren.257 Davison/Milbank schlussfolgern: »It is an argument, once again, for Fresh Expressions as mission initiatives, which are linked to parish churches and feed into them.«258 Damit ist ein weiteres Hindernis von fxC für urbane Gemeindeentwicklung angeführt, welches darin besteht, dass einige fxC aufgrund ihrer äußerst spezifischen Form nur für einen bestimmten Lebensabschnitt als Gemeinde »funktionieren«, d. h., dass ein Mensch in manchen fxC schwer eine Familie integrieren oder alt werden kann, ohne dass der Zugang zu dieser Gemeindeform schwierig wird. Ein Beispiel ist Legacy XS259, welche sicher eine extreme Form von fxC ist, aber gerade darin dem Paradigma von fxC entspricht: Legacy XS ist eine Skatergemeinde, von Skatern für Skater. Dieses sehr spezifische Gemeindeprofil eröffnet Menschen einen Zugang zum Evangelium, der diesen möglicherweise verschlossen geblieben wäre. Anderseits schließt diese Ausdrucksform gemeindlichen Lebens zahlreiche Menschen aus – u. a. potentiell diejenigen, die sich ein neues Hobby suchen oder schlicht zu alt zum Skaten sind bzw. deren Lebenssituation sich geändert hat und infolgedessen Skaten eine weniger bedeutende Rolle in ihrem Leben spielt. Wie nachhaltig fxC sind, hängt nicht zuletzt daran, ob es gelingt, diesen Menschen, den (potentiellen) Anschluss an eine andere Gemeindeform zu eröffnen und sie darin zu begleiten. Damit dies gelingt, ist es wichtig, dass allen Beteiligten klar ist, dass die größere Perspek-
256 AaO. 79. 257 Vgl. aaO., 79 f. 258 AaO., 79 f. 259 Vgl. http://www.legacyxs.com aufgesucht am 5.1.2018.
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tive das Reich Gottes und die Zugehörigkeit zum Leib Christi ist und nicht die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gemeinde(-form). Eng damit zusammen hängt ein weiteres potentielles Hindernis für urbane Gemeindeentwicklung: Das hohe Maß an Pluralität von fxC kann insofern ein Hindernis sein, als dass es den Übergang in eine andere Gemeinde (durch Wandel des Lebensstils, einen Umzug etc.) erschwert, da es eine vergleichbare Gemeinde, wie die fxC, zu der jemand bisher gehörte, schlicht nicht existiert, weil diese spezifische Ausdrucksform von Kirche einmalig ist. Eine kulturell homogenere Form von Kirche, die weite Teile von Liturgie, Musik, Gottesdienst und Partizipation – unabhängig vom konkreten geographischen Ort – gemeinsam hat, ist hier anschlussfähiger für jemanden, der seinen Wohnort wechselt und nun Zugang zu einer neuen Gemeinde sucht. Die Qualität und Nachhaltigkeit von fxC zeigt sich auch hier darin, ob es gelingt, Menschen zu einem lebendigen und mündigen Glauben zu führen, welcher letztlich unabhängig von einer spezifischen Gemeindeform ist, sondern im Glauben an den dreieinen Gott gründet und sich in der Zugehörigkeit zum universalen Leib Christi ausdrückt, welche den Rahmen einer bestimmten lokalen Ausdrucksform von Kirche transzendiert. Dazu gehört auch die basale Einführung eines Menschen in die zentralen Ausdrucksformen des christlichen Glaubens (Bibellektüre, Gebet, Gottesdienst, Gemeinschaft), die ebenfalls nur bedingt Ausdruck einer spezifischen Kultur sind, welche jedoch als kulturübergreifende Dimension die verbindenden kulturtranszendierenden Elemente des Glaubens darstellen, in welchen sich die Einheit der Christen ausdrückt.260 Grundsätzlich muss man festhalten, dass fxC eine sehr junge Bewegung ist und manche Kritik, die momentan berechtigt ist, sich möglicherweise auflösen bzw. dieser begegnet werden wird. Andere Kritik, die bisher nicht geäußert worden ist, da ein bestimmtes Problem bisher (noch) nicht besteht, wird laut werden und auch mit dieser Kritik müssen Protagonisten von fxC sich befassen. Bringt man bspw. die Kritik an fxC aus den Jahren 2007 und 2010 mit den aktuellen Veröffentlichungen der fxC-Vertreter ins Gespräch, so haben sich manche Spannungen und Differenzen aufgelöst oder zumindest an Schärfe verloren. Die fxC-Bewegung – und das ist sicher auch Teil ihrer DNA – ist noch sehr im Fluss und niemand wird zuverlässig vorhersagen können, wie diese Bewegung in fünf bis zehn Jahren aussehen wird. Ergo: Sowohl der Kon260 Man muss einschränkend festhalten, dass diese Kritik kein Hindernis für urbane Gemeindeentwicklung als fxC an sich darstellt, sondern eher mögliche negative Folgen aufzeigt, welche in der Reproduktion und Verstärkung gesellschaftlicher Trends bestehen kann. Dies bedeutet, dass fxC an sich als Form urbaner Gemeindeentwicklung durchaus geeignet sind, jedoch die Entwicklung urbaner Gemeinde nach der Grammatik von fxC ungewünschte, aber eindeutig als negativ zu bewertende Folgen haben kann.
4. Bündelung
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text Stadt als auch die Bewegung von fxC unterliegen einem starken Wandel und sind keineswegs »abgeschlossene« Größen. Deshalb kann gerade in Bezug auf den Kontext Stadt die Beschäftigung mit fxC lediglich einen Status quo abbilden. Dies kann bedeuten, dass einige der Argumente, Positionen und Schlussfolgerungen in einigen – vermutlich wenigen – Jahren einer grundsätzlichen Revision unterzogen werden müssen und dann neu zu bewerten sind. Die Ergebnisse werden dann u. U. anders ausfallen als dies unter den gegenwärtigen Bedingungen der Fall ist.
4. Bündelung Andrew Roberts261 verweist in Auseinandersetzung mit dem Homogenous Unit Principle und der damit verbundenen Kritik an fxC darauf, dass beim ersten Pfingstfest (Apg 2) die Vielfalt der Sprachen (als Ausdruck von kultureller und ethnischer Vielfalt) unter dem Wirken des Heiligen Geistes nicht aufgelöst oder nivelliert wurde: »This was a godly affirmation of cultural diversity.«262 Roberts und seine Co-Autoren entnehmen dieser Beobachtung sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit einer Vielfalt von Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens: »To make the gospel known today, the Church needs to be present within a great variety of cultures and to be able to speak a great variety of languages, cultural as well as national. If the Church is to connect with people where they are, then Church needs to be where they are, and this calls for a variety of forms of contextualized Church.«263 Auf der anderen Seite mahnen Davison/Milbank dazu, die kontrakulturelle Aufgabe der Kirche als Zeugin des Evangeliums nicht in der Hinwendung zur zeitgenössischen Kultur preiszugeben und die gegenwärtigen kulturellen und sozialen Ausdrucksformen des Lebens kritisch am Evangelium zu prüfen. Die Kirche müsse, so die Autoren, die Kultur notfalls kritisieren und in Opposition zu ihr treten bzw. ein Alternativangebot für Themen wie Vergemeinschaftung, Zuverlässigkeit, Selbstlosigkeit etc. anbieten. Sie fordern, das Verständnis von Konversion nicht auf einen einmaligen Akt zu reduzieren, sondern stattdessen die grundlegende Transformation des Lebens durch Konversion sowie die lebenslange Aufgabe der charakterlichen Reifung und Einübung eines christlichen Lebensstils ernst zu nehmen und den Menschen, zu denen
261 Vgl. Goodhew et al. 2012, 89 ff. 262 AaO., 90. 263 Ebd.
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§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung
die Kirche sich gesandt weiß, nicht weniger als dies anzubieten: »Conversion is rebirth, but it is also the reformation of prejudices and the growth of Christian character.«264 Davison/Milbank plädieren dafür, dass die Kirche als lokale Ortsgemeinde eine Darstellung der konterkulturellen Größe des Evangeliums ist, indem sie eine »new, reconciled, truly mixed community«265 ist und durch ihre Erscheinungsform bereits das grenzüberschreitende Potential des Evangeliums abbildet. Dies bedeutet auch, dass spezifische kulturelle Ausdrucksformen nicht neutral sind und die Kirche, die sich um kulturell-anschlussfähige Ausdrucksformen von Kirche bemüht, immer prüfen muss, ob diese auch in ihrer Ordnung dem Evangelium entsprechen (vgl. Barmen III). Diese Forderung der Barmer Theologischen Erklärung bietet in Verbindung mit dem Kirchenbegriff von CA VII eine hilfreiche weil wegweisende Orientierung zur Gestaltung von Kirche, da sie einerseits große Freiheit in der Gestaltung eröffnet, ohne dabei beliebig zu sein, indem Form und Inhalt getrennt würden. Für urbane Gemeindeentwicklung angesichts sozialer Entmischung ermöglicht dies, die Prozesse der Entmischung wahrzunehmen und ggf. nachzuvollziehen, indem sich Gemeinde auf spezifische Kontexte und Gruppen einlässt. Zugleich schützt es urbane Gemeindeentwicklung aber auch davor, sich unkritisch an die gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen und nicht zu prüfen, inwiefern sich die Gemeinde bestimmten Entwicklungen entgegenstellen und diese kritisieren muss. Dass die Folgen von Gentrifizierung und Marginalisierung aus Sicht des Evangeliums eindeutig äußerst schwierige Auswirkungen haben, ist bereits angeklungen. Die Herausforderung einer angemessenen Kontextualisierung266 des Evangeliums beschreibt Timothy Keller mit folgenden Worten: The great missionary task is to express the gospel message to a new culture in a way that avoids making the message unnecessarily alien to that culture, yet without removing or obscuring the scandal and offense of biblical truth. A contextualized gospel is marked by clarity and attractiveness, and yet it still challenges sinners’ self-sufficiency and calls them to repentance. It adapts and connects to the culture, yet at the same time challenges and confronts it. If we fail to adapt to the culture or 264 Davison/Milbank 2010, 86 f. Vgl. dazu ausführlicher aaO., 81–92. 265 AaO., 84. 266 Zu Kontextualisierung schreibt Keller: »Contextualization is not – as is often argued – ›giving people what they want to hear‹. Rather, it is giving people the Bible’s answers, which they may not at all want to hear, to questions about life that people in their particular time and place are asking, in language and forms they can comprehend, and through appeals and arguments with force they can feel, even if they reject them. Sound contextualization means translating and adapting the communication and ministry of the gospel to a particular culture without compromising the essence and particulars of the gospel.« (Keller 2014b, 91).
4. Bündelung
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if we fail to challenge the culture – if we under- or over-contextualize – our ministry will be unfruitful.267
Ähnliches hält Michael Moynagh fest: Contextualizing the church is the attempt to be church in ways that are both faithful to Jesus and appropriate to the people the church serves. It assumes that the shape of church can change according to the situation. Churches will look different because they are engaging with different people. […] if a church is to serve its context, it must connect to it.268
Die grundsätzliche Forderung lautet also: »We must avoid turning off listeners because we are culturally offensive rather than the gospel. Seen in this way, sound contextualization is an expression of unselfishness. It is choosing in love not to privilege yourself or to exercise your full freedom as a Christian so people can hear and follow Christ’s call.«269 Das bedeutet nun wiederum nicht, dass eine Gemeinde den Skandal des Kreuzes (1Kor 1,23) relativieren darf. Dies würde bedeuten: »[W]e have not adapted to the culture; we have capitulated to it.«270 Ergo: »Proper contextualization means causing the right scandal – the one the gospel poses to all sinners – and removing all unnecessary ones.«271 Die Kommunikation des Evangeliums bedeutet also immer, ein intensives und intentionales Bemühen, beiden Größen gerecht zu werden: den Menschen, mit denen kommuniziert wird, und deren spezifischer Situation der Kommunikation auf der einen Seite und dem Evangelium auf der anderen Seite. Dieser Hinweis ist besonders angesichts einer äußerst komplexen und vielschichtigen Situation, wie sie in sozial entmischten urbanen Räumen gegeben ist, wichtig, da er das stete Ringen um ein angemessenes Verständnis des zu bezeugenden Evangeliums sowie das intensive Bemühen um die Menschen des spezifischen Kontexts betont. Dies unterstreicht, dass diese Aufgabe niemals abgeschlossen und somit eine grundlegende Handlung der urbanen Gemeinde ist. Somit kann man summieren: Um des Auftrags der Kirche willen, mit allen Menschen das Evangelium zu kommunizieren (vl. u. a. Barmen VI), ist es notwendig, dass sich die Kirche auf die verschiedenen Gruppen, Milieus, Nachbarschaften, Subkulturen und Sozialformen einlässt und ihnen hilft, das Evangelium auf eine für sie relevante Art und Weise zu hören, damit es Interesse 267 Ebd. 268 Moynagh 2012, 151.153. 269 Keller 2014b, 107. Hervorhebung im Original. 270 Ebd. 271 Ebd.
412
§ 15 Drei Orte urbaner Gemeindeentwicklung
weckt und sie sich aktiv auf eine Auseinandersetzung mit diesem einlassen.272 Alle drei vorgestellten Gemeindeformen haben in dieser Hinsicht Stärken und Schwächen. Besonders fxC erscheinen als eine für den urbanen Kontext äußerst geeignete Form der Gemeindeentwicklung, da ihnen eine große Bereitschaft zur Kontextualisierung und ein entsprechendes Maß an Pluralität innewohnt. Zugleich gilt, dass ein Christ zu etwas Höherem berufen ist (»the Christian is called to something higher«273) und dies besteht in einer Zugehörigkeit zum Leib Christi, welche eine Gemeinschaft eröffnet, die alle »natürlichen« Gemeinschaftsfaktoren transzendiert und Menschen verschiedenen sozialen Status, ethnischer Zugehörigkeit und dergleichen in Christus zu einem Leib macht (vgl. 1Kor 10,16f und 12,12ff; Gal 3,28; Eph 2,11–22 etc.). Dies ist das Ziel aller Gemeindeentwicklung und eine Pluralität von Gemeindeformen ist ein notwendiges und unumgängliches Zwischenziel, welches aber keinesfalls das Ende aller Bemühungen sein darf, da es sonst zu einer gemeindlichen »Apartheid«274 führen würde, welche im Widerspruch zum Evangelium stünde. Das Miteinander von »bewährten« und »frischen« Formen von Kirche beschreibt Martin Percy so: »The challenge for the church will […] lie in main�taining the extensive, utility and parochial forms of mission that go on each day, and are often unsung; yet also allowing the effervescence of new movements […] that will continue to both challenge and feed the institution.«275 Im Folgenden werden als Abschluss der vorliegenden Arbeit die drei dargestellten Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in modifizierter Form dargestellt. Diese Modifikation ergibt sich aus dem Bezug auf den urbanen Kontext und ist dem Bemühen geschuldet, diese drei Strukturen vom Kontext her und auf den Kontext bezogen neu zu formatieren.
272 Michael Herbst schreibt: »Wenn man übrigens behauptet, die Differenzierung der kirchlichen Arbeit in milieusensible Programme, Gottesdienste und neue Ausdrucksformen kirchlichen Lebens gefährde nun die Einheit des Leibes Christi, ja zerteile ihn gar, der muss sich doch bitte die Frage gefallen lassen, ob denn diese Einheit jetzt gegeben ist, wenn große Teile der immerhin teilweise doch auch getauften Menschheit in Deutschland von dieser sogenannten Einheit ferngehalten werden. Es ist die Einheit derer, die in einer Wagenburg hocken, nicht die Einheit derer, die ein Leib mit vielen Gliedern sind.« (Herbst 2016b, Vorlesungsmanuskript der Vorlesung im Sommersemester 2016 am 10.6.2016, 180 f.). 273 Davison/Milbank 2010, 84. 274 Vgl. Goodhew et al. 2012, 89. 275 Percy 2008, 39.
»There is no single way of doing church that employs the right biblical or even the right cultural model. What the Bible tells the Church to do – witness, serve the needy, preach the Word, disciple people, worship – is so rich and multifaceted that no church will ever do all of them equally well, simply because no single church has all the spiritual gifts in equal proportions. While no church should stop trying to do everything God calls it to do, no one church will fulfill these roles perfectly. So the city as a whole needs all kinds of churches.«1 Timothy Keller
§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung aus Quartiersgemeinden, StadtKirchen und frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche 1. Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung Die stadtsoziologischen und theologischen Ausführungen dieser Arbeit haben deutlich gemacht, dass urbane Gemeindeentwicklung keinesfalls als eine uniforme Gestalt urbaner Gemeinde gedacht werden kann. Aufgrund der Sendung der Gemeinde zu allen Städtern sowie aufgrund der hohen Pluralität, Ausdifferenzierung und Individualität der einzelnen Stadtteile sowie deren stetem Wandel muss eine urban formatierte Gemeindeentwicklung kontextuell und plural sein. Mit Michael Ebertz kann angesichts der gesellschaftlichen und urbanen Vielfalt sowie den damit verbundenen Grenzen einer kirchlichen Monokultur Folgendes geschlussfolgert werden: Wenn aufgrund der Vielfalt an Milieus, Kommunikations- und Vergemeinschaftungsformen »die Unwahrscheinlichkeit wächst, alle Milieus gewissermaßen auf einer Ebene […] vereinen bzw. […] erreichen zu können, läge eine entscheidende pastorale und kirchenpublizistische Herausforderung darin, neue Orte und Gelegenheiten der Kommunikation der Frohen Botschaft zu erschließen und die Communio der
1 Keller 2012a, 369.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
Kirche komplexer zu gestalten.«2 Oder mit den Worten von Kunz/Schlag: »Wenn die Mitgliedschaft plural ist, müssen Gemeinden und Kirche polyzentrisch und nicht konzentrisch entwickelt werden.«3 Im Anschluss an Ernst Lange fragen Peter Bubmann et al.4 nach der notwendigen Vielfalt von Gemeindeformen: Wenn Kirche dort geschieht, wo Menschen an der ›Kommunikation des Evangeliums‹ (Ernst Lange) teilhaben, dann sind die Formen kirchlicher und gemeindlicher Praxis nicht vorab festgelegt. Sie haben sich – als dauerhafte ebenso wie als zeitlich begrenzte – daran zu bemessen, ob Menschen heute auch partiell und ihren lebensweltlichen Voraussetzungen entsprechend an ihnen partizipieren (können). Dies geschieht nach wie vor im lokalen, wohnweltlichen Nahbereich, aber auch in den mobilen Welten von Freizeit und Urlaub, in regionalen Bildungseinrichtungen oder überregionalen Kulturereignissen.5
Heinzpeter Hempelmann konstatiert: »Die kirchliche Mitte und Basis weiß, dass sie die milieuübergreifenden Formen von kirchlicher Arbeit braucht, um den Anschluss an das gesellschaftliche Leben wiederzugewinnen und die postmodernen kulturellen Gestalten vom Evangelium her zu kontextualisieren.«6 Die EKD hat im EKD-Text 93 zum Thema Kirche in der Stadt drei Beteiligungsformen der evangelischen Kirche in der Stadt beschrieben: a) parochiale Beteiligungsformen als Kirche im Quartier7 b) netzwerkartige Gemeindebildungen8 und c) situativ-missionarische Gemeindearbeit9. Die Autoren empfehlen eine Komplementarität der verschiedenen Gemeindeformen: Die drei Formen des Gemeindeaufbaues unterstützen sich gegenseitig: die äußere Verbindlichkeit in der quartiersbezogenen und der profilbezogenen Arbeit ist markant größer als in der situativen Arbeit, dort aber werden Menschen neu angesprochen und können Erfahrungen innerer Beheimatung machen. Die profilgemeindebezogene Arbeit kann eine Zielgruppengenauigkeit herstellen und Menschen über ein gemeinsames Anliegen oder einen gemeinsame [sic!] Lebensstil zusammenführen, die die quartiers- und situative Arbeit nicht zu erreichen vermag; und die quartierbezogene Arbeit stärkt die Glaubensentwicklung durch Vertrautheit und Verlässlich-
2 3 4 5 6 7 8 9
Ebertz 2006, 176. Kunz/Schlag 2014, 21. Vgl. Bubmann et al. 2014 und Bubmann et al. 2016. Bubmann et al. 2014, 133. Hempelmann 2012, 106. Vgl. Kirchenamt 2007b, 52–55. Vgl. aaO., 55 f. Vgl. aaO., 57–60.
1. Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
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keit und eine sozialräumlich zusammengehaltene Pluralität, wie es die beiden anderen Formen nicht vermögen. Zwischen den drei Formen der Gemeindearbeit besteht daher keine Hierarchie. Die Stärken und Chancen der jeweiligen Formen müssen im kirchlichen Selbstverständnis stärker als bisher in den Mittelpunkt gestellt und in ein positives Verhältnis zueinander gebracht werden.10
Eine entsprechend pluriforme Mischung verschiedener Ausdrucksformen von Kirche i. S. e. Mixed Economy bzw. Blended Church erscheint angesichts des urbanen Kontexts als die angemessene Beschreibung urbaner Gemeindeentwicklung. Obwohl der Terminus Mixed Economy in England entwickelt wurde, erscheint er für den deutschen und evangelischen kirchentheoretischen Diskurs deutlich anschlussfähiger als für seine anglikanische Heimat, da die evangelisch-lutherische Dogmatik bereits ein Verständnis von Kirche offeriert, welches mit Davison/Milbank so beschrieben werden kann: »The essence of the Church becomes a list of bare minima.«11 Was die englischen Autoren in kritischer Abgrenzung zu einer Vielfalt der Ausdrucksformen kirchlichen Lebens schreiben, stellt ziemlich exakt die Stärke evangelischer Ekklesiologie nach CA VII dar. Die auf das Wesentliche reduzierte Definition von Kirche nach CA VII eröffnet kirchentheoretisch die Möglichkeit, eine urbane Gemeindeentwicklung in pluriformer Gestalt zu entwickeln, die dem entspricht, was die anglikanische Kirchentheorie mit dem Begriff Mixed Economy beschreibt: »The phrase ›mixed economy‹ […] refers to fresh expressions and ›inherited‹ churches existing alongside each other, within the same denomination, in relationships of mutual respect and support.«12 Zur Beschreibung einer pluriformen Mischung unterschiedlicher Gemeindeformen in einer Stadt ist es wichtig das Verhältnis von Vielfalt und Einheit zu reflektieren, um beiden ekklesiologischen Aspekten gerecht zu werden und nicht eins gegen das andere auszuspielen. Wie bereits oben zum Thema fxC beschrieben, bedarf die Kirche um ihrer Mission willen beides: Sie muss so vielfältig wie nötig sein, um auf diese Weise mit möglichst vielen Menschen das Evangelium zu kommunizieren und möglichst niemanden von diesem Zeugnis auszuschließen. Andererseits ist die Einheit der Kirche essentiell, da mit Joh 17,20f die Einheit der Kirche ein Zeugnis für die Sendung des Sohnes und damit für das Evangelium von Jesus Christus ist. Angesichts dieser doppelten Aufgabe fordert Andrew Roberts eine doppelte Perspektive: Bescheidenheit hinsichtlich der lokalen Gemeinde und Hochschätzung hinsichtlich der Katholizi-
10 AaO., 62. 11 Davison/Milbank 2010, 74. 12 Michael Moynagh 2008, 177.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
tät der Kirche.13 Über ein in dieser Hinsicht theologisch angemessenes Verhältnis von Einheit in der Vielfalt gemeindlicher Ausdrucksformen als Mixed Economy schreibt er: What is needed across the mixed economy of fresh expressions and inherited churches is a humble view of the local church and a high view of catholicity. A humble view that recognizes that no local church, however big or small […] is fully representative of the body of Christ. And a high view of catholicity that recognizes that every church, whether the newest fresh expression or the longest established church in town, has something to contribute to the whole body of Christ and is incomplete without all the other parts of the body, no matter how apparently small, new or insignificant. All churches are an expression of the Church. Completeness is found in Christ, and until Christ comes again, all churches will continue to be on a journey to full Communion with Christ and each other. […] In local contexts the mixed economy needs to be a living visible reality if the Church is to be as effective in mission as possible.14
In diesem Abschnitt sollen die drei in § 15 dargestellten und hinsichtlich ihres Potentials für urbane Gemeindeentwicklung gewürdigten Ausdrucksformen Parochie, Citykirchen und fxC als eine pluriforme Mischung urbaner Gemeindeentwicklung dargestellt werden. Liegt das Potential der Parochie eher auf der lokalen Ebene des Quartiers, so überschreiten Citykirchen diesen Raum und verbinden die lokale Ebene mit der regionalen und gesamtstädtischen. FxC wiederum bieten eine flexible und fluide Ausdrucksform von urbaner Gemeinde, welche sich auf die unterschiedlichsten im Wandel befindlichen urbanen Situationen einstellen und sich ihnen anpassen können. Es gilt ein urbanes Netzwerk von Ortsgemeinden, Citykirchen und fxC zu entwickeln und zu etablieren, welches sich als eine Blended Church versteht. Im Rahmen ihres Modells »kirchlicher Orte« beschreibt Uta Pohl-Patalong die notae ecclesiae im Anschluss an CA VII und hält fest: »Im Rahmen eines umfassenden Konzeptes bedeutet dies nicht notwendig, dass an jedem kirchlichen Ort alle notae in gleicher Weise erfüllt sein müssten, wohl aber, dass in einem bestimmten Rahmen alle vorhanden sind und für alle Menschen Zugang zu diesen besteht.«15 Sie fordert, dass »ein besonderes Augenmerk auf die Vermittlung von Wort und Sakrament als explizite notae ecclesiae zu legen«16 ist. Diese notae sollten »an jedem kirchlichen Ort vorhanden sein, wobei dies keine
13 14 15 16
Vgl. Goodhew et al. 2012, 89–92. AaO., 91 f. Hervorhebung im Original. Pohl-Patalong 2003, 220. AaO., 221.
1. Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
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Festlegung in der Form impliziert, sondern eine Pluralität gottesdienstlicher Formen einschließt.«17 Diesem Grundgedanken folgt die vorliegende Arbeit und stellt fest, dass jede Ausdrucksform urbaner Gemeinde folgende Kriterien erfüllen muss: Nach CA VII muss sie eine Versammlung sein, in der das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird. Zudem befindet sie sich in den o. g. vier Beziehungen zu Gott, zum Kontext, zum Leib Christi und zueinander als Gemeinde. Hier gilt, dass eine Gemeinde nicht erst Gemeinde ist, wenn sie alle diese Kriterien vollumfänglich erfüllt, sondern wenn sie die Absicht hat dies zu tun und sich darum bemüht, dass diese notae entstehen und sich entwickeln.18 Dass der Gemeinde als Ort der Konstitution von Kirche sowie als Ort der Kommunikation des Evangeliums (mit einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft) eine herausgehobene Rolle zukommt, wird auch daran deutlich, dass Pohl-Patalong zehn Jahre nach Veröffentlichung ihrer Habilitation eine zentrale Position dieser Arbeit revidiert hat.19 So schreibt sie zusammen mit Eberhard Hauschildt: »Anders als in der ursprünglichen Entwicklung des Modells der ›kirchlichen Orte‹ vertreten, erscheint uns der Gemeindebegriff für die Zukunft der Kirche mittlerweile unaufgebbar.«20 Der im Folgenden vorzustellende eigene Ansatz urbaner Gemeindeentwicklung stellt die drei skizzierten Ausdrucksformen in urbaner Formatierung und in ihrem Zueinander dar. Wie zu Beginn von § 15 begründet (§ 15 Abs. 0), beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die drei oben dargestellten Ausdrucksformen urbaner Gemeindeentwicklung. Die wesentlichen Gründe bestehen einerseits in der Fokussierung der vorliegenden Arbeit auf das Thema Gemeindeentwicklung, was andere kirchliche Ausdrucksformen und -strukturen (freie Werke, diakonische Einrichtungen, Gebetshäuser) in den Hintergrund treten lässt. Dies hängt andererseits damit zusammen, dass derartige Strukturen urbaner Gemeinde gewählt wurden, die in den meisten deutschen Städte bereits existieren. Die soeben aufgeführte Verwendung der notae ecclesiae nach
17 Ebd. 18 »Künftige kirchliche Strukturprinzipien müssen also gewährleisten, dass sowohl die expliziten als auch die impliziten notae ecclesiae erfüllt werden, und zwar in inhaltlich qualifizierter Weise. Damit ist einerseits eine Differenzierung kirchlicher Arbeit gefordert, die nicht an jedem Ort das gleiche Angebot vorhält, andererseits sind die Vorzüge breit gestreuter und unspezifischer Arbeit ebenso wenig aufzugeben wie die breite Sicherstellung gottesdienstlicher Formen.« (Ebd.). 19 Pohl-Patalong forderte in ihrem Modell »kirchliche Orte« eine »Entflechtung der von ›Kirche‹ und ›Gemeindehaus‹ symbolisierten Aufgabenbereiche, also die organisatorische Trennung konkreter inhaltlicher Arbeitsbereiche und des vereinskirchlichen Lebens.« (AaO., 230). Vgl. aaO., 228–252. 20 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 307.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
CA VII bei den »kirchlichen Orten« von Pohl-Patalong eröffnet nun wiederum die Möglichkeit, andere Strukturen urbaner Kirche, welche über die in CA VII genannten Merkmale verfügen, als Orte urbaner Gemeindeentwicklung zu würdigen. Die Darstellung solcher alternativer Formen urbaner Gemeinde soll im Folgenden unter dem Stichwort frischer Ausdrucksformen urbaner Kirche (fAuK) als urbaner Variante von fxC erfolgen. Dazu mehr s. u. § 16 Abs. 2.3.
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde 2. 1 Quartiersgemeinden als quartierbezogene Ortsgemeinden Peter Cornehl und Wolfgang Grünberg fordern bei der Frage nach den Potentialen der Ortsgemeinde nicht nur eine kircheninterne Perspektive einzunehmen, sondern auch nach den gesellschaftlichen und städtischen Bedingungen sowie dem spezifischen Beitrag der Ortsgemeinde angesichts dieser Situation zu fragen.21 Im Anschluss an Ernst Lange22 stellen sie fest: »Die Parochie ist nicht der Idealfall, wohl aber der Normalfall der Kommunikation des Glaubens vor Ort. Diese Einsicht Ernst Langes hat nach wie vor Gültigkeit. Sie ist weiterzuentwickeln. Dabei sind neue Entwicklungen zu berücksichtigen. Vielleicht müssen die Gemeindegrenzen neu gezogen werden.«23 Dieser Forderung schließt sich die vorliegende Arbeit an und entwirft ein alternatives urbanes Modell von Ortsgemeinde, welches von der Logik der Stadt her entwickelt wird und sowohl nach den Potentialen zur Kommunikation des Evangeliums (Martyria) als auch nach den Möglichkeiten zum Dienst am Gemeinwesen (Diakonia) fragt und dabei die Grenzen der Ortsgemeinde neu definiert. Dieses Modell ergänzt die parochiale Logik.24
21 Vgl. Cornehl/Grünberg 2004, besonders 279 f. 22 Vgl. Lange 1966, 289 ff. 23 Cornehl/Grünberg 2004, 287. Zu den Weiterentwicklungen vgl. aaO., 290f und mit Fokus auf das Thema Segregation vgl. aaO., 291 f. 24 Jan Hermelink entdeckt in den sog. Vereinsgemeinden bereits eine regionale Orientierung am Quartier: »In den Vereinsgemeinden begegnen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zudem immer mehr professionelle Akteure: Gemeindeschwestern, Gemeinwesenarbeiter, Diakone etc. Gerade diese Akteure arbeiten von Anfang an regional: im Blick auf die jeweiligen Quartiere oder Kieze ihrer Stadt, und ebenso im Blick auf Regionen weit oberhalb der ortsgemeindlichen Struktur.« (Hermelink 2012, 75).
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde
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Deshalb soll im Folgenden statt von Parochialgemeinden oder (parochialen) Ortsgemeinden von Quartiersgemeinden bzw. von Quartierskirchen25 gesprochen werden. Diese Neu- bzw. Umbenennung zeigt einen inhaltlichen Paradigmenwechsel26 an: Im Anschluss an die Darstellung des urbanen Kontexts sowie der kirchlichen Sendung in die Stadt sind die Schwierigkeiten des parochialen Modells deutlich geworden. Die parochiale Organisation von Gemeinde ist an vielen urbanen Orten kaum bis nicht mehr kompatibel mit der Lebenswirklichkeit der Menschen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass mit der Parochie »das dörfliche Modell von Kirche in den Kontext der Stadt transportiert«27 wurde und somit nicht aus diesem Kontext erwachsen, sondern in diesen importiert worden ist. Die daraus resultierenden Spannungen treten zunehmend deutlicher zutage und die faktische Auflösung parochialer Logiken in vielen urbanen Räumen wurde in den vorangegangenen Paragraphen skizziert. Die vorliegende Arbeit plädiert deshalb für eine Orientierung am Quartier anstatt an der Parochie. Diese Kategorie ist der Parochie durchaus ähnlich, jedoch anders als die Parochie eine genuin urbane Größe. Urbane Gemeindeentwicklung auf der lokal-nachbarschaftlichen28 Ebene muss sich bei der Zuwendung zur Stadt von der Parochie lösen und stattdessen die einzelnen Quartiere als Bezugsgröße wählen und sich – in geographischer und soziologischer Hinsicht – an diesen orientieren. Eine urbane Gemeindeentwicklung,
25 Diese Bezeichnung kann je nach Kontext auch variieren: Bspw. Kiezkirche (Berlin), Veedelkirche (Köln) oder Grätzlkirche (Wien), vgl. Schnur 2014b, 37. 26 Die Darstellung zeigt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel auf, welcher gewissermaßen ein Idealbild zeichnet und zugunsten dessen die ggw. Realität urbaner Ortsgemeinde – als im Wesentlichen parochial organisiert – in den Hintergrund rückt. Eine Umsetzung dieses Modells gelänge demnach freilich nur prozesshaft und wäre für einen größeren Zeitraum angelegt, der sicher nicht kürzer als zehn bis fünfzehn Jahre zu denken ist. Die sozialen Bewegungen einer Stadt sowie die kirchlichen Umbrüche können in diesem Prozess als Katalysator wirken. Dies bedeutet aber auch, dass in solchen urbanen Räumen, in denen eine parochiale Struktur noch funktioniert, diese nicht unnötig durch eine andere Form der Organisation ersetzt werden muss – im Gegenteil: Es wäre in solch einer Situation sinnvoll, die Stärken und Potentiale der Parochie zu nutzen und deren Schwächen mittels Ergänzung durch andere Ausdrucksformen urbaner Gemeinde zu kompensieren. 27 Kirchenamt 2007b, 61. 28 Im Anschluss an George Galster (Vgl. Galster 2001, 2112f) nennt Olaf Schnur zehn Faktoren, die eine Nachbarschaft prägen und über die eine Nachbarschaft beschrieben werden kann: »1. Bauliche Charakteristika (Bautypen, Modernisierungsgrad, Baudichte etc.) 2. Infrastrukturen (Straßen etc.) 3. Demographische Faktoren 4. Sozialer Status der Bevölkerung 5. Lokale Dienstleistungen (Quantität, Qualität) 6. Umweltfaktoren (Topographie, Emissionen etc.) 7. Erreichbarkeit (Topologie, Transportwesen etc.) 8. Politische Faktoren (politische Netzwerke, Partizipation etc.) 9. Soziale Interaktivität (soziale Netzwerke, Normen etc.) 10. Gefühlte Attribute (Ortsbindung, Quartiershistorie etc.).« (Schnur 2014b, 39).
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
die diesen Namen verdient, muss von der Stadt und ihrer Logik her beschrieben werden und nicht eine eigene strukturelle Logik voraussetzen, in welche sich dann mehr oder minder städtische Verhältnisse einpassen müssen. Gemeindeentwicklung, die ihren Kontext ernst nimmt und sich auf diesen einzulassen sucht, muss die Bereitschaft haben, sich ihre Ordnung auch vom Kontext vorgeben zu lassen (kulturell wechselwirksame Dimension von Kontextualisierung).29 Das Quartier dient also, ähnlich wie die Parochie, zur räumlichen Orientierung; nur dass diese Kategorie, da sie von der Stadt vorgegeben wird, auch dem urbanen Wandel unterliegt und sich mit der Stadt ändert. Somit wird sich eine urbane Gemeindeentwicklung, die sich am Quartier orientiert, auf diesen Wandel einlassen und diesen wahrnehmen, gestalten und nachvollziehen. Somit ist eine Gemeindeentwicklung, die sich an der Größe Quartier orientiert, selbst Teil der Prozesse des sozialen Wandels. Gerade unter den Bedingungen sozialer Segregation steigt die Bedeutung des Quartiers, denn Olaf Schnur zeigt im Anschluss an Bernd Hamm, dass die Nachbarschaftsintensität mit der Homogenität der Bevölkerung eines Quartiers zunimmt.30 Der Begriff des Quartiers ist deshalb besonders geeignet, da er grundsätzlich auf die Nachbarschaft und somit auf den sozialen Nahbereich bezogen ist. Er ist eine statistisch beschreibund darstellbare Größe. Neben der grundsätzlichen Stabilität, welche dem Begriff des Quartiers innewohnt, ist er aber auch dynamisch und spiegelt den urbanen Wandel auf lokaler Ebene wider.
2.1.1 Das Quartier als sozio-lokale Größe Schnur definiert Quartier31 so: »Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen
29 Der EKD-Text 93 plädiert – auf der Ebene der Parochie – ebenfalls für eine stärkere Orientierung am Quartier, verlässt dabei aber nicht die Struktur und Logik der Parochie, sondern fordert lediglich eine stärkere Berücksichtigung des Quartiers durch die Parochien und ein Ernstnehmen dieser Größe und eine damit verbundene Rückkehr zu einer stärker lokalen denn regionalen Wahrnehmung der Stadt, vgl. aaO., 52–55. Ebenso Alexander Höner in seinem Aufsatz Theologie der Stadt ist nicht Kirche in der Stadt, vgl. Höner 2017. Unter dem Stichwort Mein Kiez – meine Kirche beschreibt Höner seine Erfahrung als Stadtpfarrer (Hamburg und Berlin) und stellt fest, dass Orientierung an und Identifikation der Städter mit ihrem Kiez (Nachbarschaft, Quartier) hoch ist, vgl. aaO., 203 f. 30 Vgl. Schnur 2012, 457. 31 Zur Beschreibung von Quartier durch die Chicago School vgl. Neef 2011, 238–241.
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde
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Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden.«32 Er verweist darauf, dass man zwischen »Stadtquartieren mit einer Mischfunktionalität (aber durchaus auch mit einem Wohnanteil) und ›klassischen‹ Wohnquartieren mit überwiegender Wohnfunktion unterscheiden [muss].«33 Zudem weisen »Quartiere […] bauliche, physische, soziale, ökonomische, politische, symbolische sowie historische Bedeutungs- und Entwicklungsdimensionen auf.«34 Diese Dimensionen müssen bei der Beschreibung eines Quartiers berücksichtigt werden und helfen dabei, ein bestimmtes Quartier abzugrenzen und darzustellen. Schnur fährt fort: »Ausgehend von dieser Definition muss ein Quartier sozial konstruierbar (und nicht unbedingt administrativ abgegrenzt), überschaubar (also nicht zu groß), auf alltägliche Lebenswelten und soziale Sphären bezogen (also eine interaktive Struktur bereitstellen) und identifikatorisch sein (also ein Potenzial für zumindest eine partielle lokale Identifikation bieten).«35 Dabei kann die Größe eines Quartiers beträchtlich schwanken und von einer Großsiedlung (mit 30.000 Einwohnern) bis hin zu einer Einfamilienhaussiedlung (mit 1.500 Einwohnern) reichen, wobei das entscheidende Kriterium die »Überschaubarkeit« darstellt: »Quartiere müssen einen ›menschlichen Maßstab‹ aufweisen, um eine Identifikation zu entwickeln und damit als ›soziale Landschaft‹ konstruierbar und reproduzierbar zu sein.«36 Legt man dieses Kriterium zugrunde, definiert sich Quartier nicht primär über Einwohnerzahlen oder Flächenangaben. Schnur wählt die Beschreibung eines Quartiers als »Fuzzy Place« und statt harter Eckdaten weist dieses eine gemeinsame Schnittmenge i. S. e. Kerns und einen Randbereich »permanent oszillierender QuartiersGrenzräume«37 i. S. e. Saums auf. (Zur Darstellung eines Quartiers als »Fuzzy Place« dient Abb. 8) Dieser Zugriff auf das Thema Quartier ist unscharf und hat offene Grenzen und ist gerade somit dem Gegenstand angemessen. Folglich definiert sich die Zugehörigkeit zu einem Quartier nicht über ein stringentes Drinnen oder Draußen, sondern eher über »›ein bisschen drinnen‹ (z. B. 32 Schnur 2014b, 43. Vergleicht man die Begriffe Quartier und Region miteinander, so weisen sie in ihrer begrifflichen Unschärfe Ähnlichkeiten auf (»Während Landkreise und Bundesländer in hohem Maße rechtlich verfasst und administrativ definiert sind, ebenso Nationalstaaten, Landeskirche und Gemeinden, stelle Regionen so etwas wie das noch offene, bewegliche ›Zwischen‹ einer rechtlich organisierten und, vielleicht schon überorganisierten Raum-Gliederung dar.« Hermelink 2012, 51). Dies mache, so Hermelink, Regionen zu »Gestaltungs-Räumen«, (vgl. aaO., 51f). In ihrer geographischen Größe sind sie jedoch unterschiedlich, da Regionen (bspw. als Metropolregionen, s. o. § 1 Abs. 1) deutlich größere räumliche Einheiten darstellen als Quartiere, vgl. aaO., 49–56. 33 Schnur 2014b, 43. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 AaO., 44.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
über Nachbarschaftsnetzwerke) und ›ein bisschen draußen‹ (z. B. translokale oder dislozierte soziale Netzwerke ohne Quartiersbezug).«38 Zwischen Quartieren gibt es freilich auch Überlappungen und die Grenzen verschieben sich ständig und können von unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich gezogen werden.39 Ein Quartier ist also potentiell jeder Ort, der von den Bewohnern/ Nutzern als solcher empfunden wird.40 Andererseits gelte laut Schnur, dass es dort, wo sich keine »Schwerpunkte oder Cluster ergeben, […] der Wohnort als Lokalität in den Lebenswelten der Mehrheit der Bewohner eine so geringe Rolle [spielt], dass man nicht von einem Quartier im eigentlichen Sinne sprechen sollte.«41 Stattdessen »handelt [es] sich dann eher um eine ›Residential Area‹.«42 Dabei ist die »Abgrenzung von Quartieren in diesem Sinne […] methodisch anspruchsvoll. Mental Maps43 könnten hier aber ein probates Mittel einer weiteren Annäherung darstellen.«44
Abb. 9: Quartier als »Fuzzy Place« Quelle: Schnur 2014b, 44
38 Ebd. 39 Zur Schwierigkeit eine Nachbarschaft zu definieren vgl. Friedrichs/Blasius 2000, 22 f. 40 Vgl. Schnur 2014b, 43–45. 41 AaO., 44 f. 42 AaO., 45. Hervorhebung im Original. 43 Vgl. dazu Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 71–77 (Subjektive Landkarten). 44 Schnur 2014b, 45. Hervorhebung im Original. Siehe dazu auch die Nadelmethode (vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 59–64) und die Methode des Zeitbudgets (vgl. aaO., 82–86).
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde
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Die oben zitierte Definition eines Quartiers nach Schnur und die Beschreibung dessen als »Fuzzy Place« machen deutlich, dass das Quartier ein komplexes Gebilde ist, welches durch zahlreiche interdependente Faktoren geprägt wird. Schnur benennt die zentralen Kriterien zur Beschreibung eines Quartiers: Dieses müsse sowohl konzipiert, als auch wahrgenommen sowie gelebt werden und dies alles zugleich.45 Für urbane Gemeindeentwicklung auf Ebene des Quartiers folgt daraus, dass sie an diesen Prozessen teilhaben und diese Prozesse wahrnehmen, verstehen und deuten können muss, ganz im Sinne von Wolfgang Grünbergs Forderung nach einer Stadthermeneutik, die eine Stadt zu »lesen« versteht.46
2.1.2 Urbane Gemeindeentwicklung als Wahrnehmung der Quartiersnachbarschaft Quartiersgemeinden bemühen sich dementsprechend darum, ihr Quartier lesen zu können und durch diese »Lektüre« die Dynamiken und Akteure des Wandels47 zu kennen und selbst am Leben des Quartiers teilzuhaben. Ein erster Anlaufpunkt könnte der Austausch mit den Bewohnern des Quartiers sein, denn sie sind die »eigentlichen Quartiersexperten«48. Aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit von Quartieren (Größe, Nutzung, sozio-demographische Zusammensetzung der Bewohnerschaft etc.) wird die Gestalt von Quartiersgemeinden an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeit vielfältig sein und sich gemäß des Wandels eines Quartiers selbst wandeln. Eine Folge dessen ist, dass es keine feste Regel dafür geben kann, wie viele Gemeinden pro Quartier gebildet werden sollen, sondern selbst die Anzahl der konkreten Gemeinden
45 Vgl. Schnur 2012, 458 ff. 46 Vgl. dazu Schnur 2012, 465–467. Über die sog. »Räume der Repräsentationen« schreibt Schnur: »Lefebvre betont, dass derartige Räume durchaus als Text(ur) gelesen oder beschrieben werden können. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass Codierungen, Botschaften wie auch die ›Lektüre‹ des Raums immer nur auf vorher schon produzierte Räume anwendbar seien, wodurch sich daraus kaum ganzheitliche Gewissheiten ableiten ließen.« (AaO., 465). Vgl. dazu Grünberg 2004, 31ff (»Die Stadt als Text«). 47 Zu dem Wandel der Quartiere schreibt Schnur: »Der permanente Wandel – egal ob plötzlich oder stetig – ist systemimmanent, denn ›Quartiere‹ konstituieren sich vor allem durch ihre Bewohner und deren Wertesysteme, deren lokale und translokale soziale Vernetzung, deren Lebenszyklen, -lagen und -stile und die damit verbundenen Wohnstandort- bzw. Umzugsentscheidungen. Dieses Fluidum aus Kommen, Bleiben und Gehen – in der Wohnungswirtschaft treffend ›Fluktuation‹ genannt – und die damit verbundenen Veränderungen im ›Quartier‹ waren von Anfang an der Fundus für nachbarschaftliche Zaungespräche – und gleichzeitig Schwerpunkte der ›Quartiersforschung‹.« (Schnur 2014b, 21f). 48 AaO., 47. Siehe dazu die Methode der Befragung von Schlüsselpersonen als »Lebenswelt expertInnen«, vgl. Spatscheck/Wolf-Ostermann 2016, 55–59.
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pro Quartier (neben der Wahl des Orts, der kulturellen Ausdrucksform, der Notwendigkeit weiterer Mitarbeiter neben der Pfarrperson etc.) durch die konkrete Situation in einem Quartier (neben Größe, Nutzung und Zusammensetzung der Bewohnerschaft, auch Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte etc.) bestimmt werden muss. Die Komplexität des Quartiers wird ebenfalls durch die Pluralität hinsichtlich möglicher Gemeinschaftsformen und -qualitäten in einem Quartier deutlich. Diese reichen von anonymen oder unverbindlichen Beziehungen (community lost) hin zu engen nachbarschaftlichen Kontakten der Solidarität und Zusammengehörigkeit in einem Quartier (community saved) sowie einer Zwischenform (community liberated)49 Letztlich können alle drei »je nach lokalem Kontext auftreten […], ggf. sogar gleichzeitig, benachbart (sic!) oder überlappend.«50 Rainer Neef unterscheidet zwischen »lockeren« und »engen« Beziehungen: ›Lockere‹ Beziehungen zwischen Menschen und Haushalten werden v. a. über Bekanntschaft vermittelt und bringen größeren Nutzen, da und soweit diese Bekannten ›Brücken‹ in andere soziale Gruppen und Erwerbsmöglichkeiten bilden. Aus solchen ›lockeren‹ Beziehungen ergeben sich mehr Chancen von Unterstützung und Erwerb. ›Enge‹ Beziehungen führen zu dichten Netzwerken, die auf häufigen Treffen, persönlicher gegenseitiger Kenntnis und vielseitigen Beziehungsleistungen beruhen. Sie sind verlässlich, sozial und/oder ethnisch relativ homogen, wirken tendenziell einschließend in die Bezugsgruppe und bringen über das Lebensniveau der jeweiligen sozialen Gruppe hinaus wenig zusätzlichen materiellen Nutzen.51
Aufgrund der beschriebenen Komplexität kann man mit Schnur von einem Mikrokosmos oder mit Henri Lefebvre von einer »vielschichtigen BlätterteigCremeschnitte« (millefeuille) sprechen.52 Die Komplexität des Themas spiegelt sich auch in der Forschungsgeschichte53 wider, welche sich durch ein hohes »Ausmaß der Forschungspluralität«54 auszeichnet, was eine allgemeine Definition laut Schnur zu einer anspruchsvollen Aufgabe mache.55
49 Vgl. dazu Schnur 2012, 467–470. 50 AaO., 468. 51 Neef 2011, 247. Für eine Darstellung der jeweiligen Quartiersbeziehungen verschiedener sozialer Gruppe und Schichten vgl. aaO., 247–252. 52 Vgl. Schnur 2012, 463 und 469 f. 53 Vgl. Schnur 2014b, 21–36. 54 AaO., 37. 55 Vgl. dazu aaO., 37–45.
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Schnur bilanziert, »dass Nachbarschaft und Quartier als alltagsweltliches Experimentierfeld für Gemeinschaftlichkeit und Individualismus, Nähe und Distanz, für Öffentlichkeit und Privatheit, Anonymität und Intimität, für Ortsbindung und Entankerung zugleich gelten«56 und damit als ein Ort von Ambivalenzen beschrieben werden können. Was für die Funktion des Quartiers gilt, gilt ebenso für die Sozialkontakte: »Die Beziehungen, die aus einer freiwilligen oder erzwungenen räumlichen Nähe am Wohnort entstehen, können sehr vielfältige Ausprägungen annehmen: freundschaftlich oder konflikthaft, oberflächlich oder intensiv, distanziert oder nah, kontrollierend oder rücksichtsvoll.«57 Neef entdeckt, dass der Rückgang der sozialen Bindekraft von Religionen in Städten und Quartieren durch andere Größen kompensiert werde: »In dem Maße, wie die meisten Religionen in westeuropäischen Städten ihre vergesellschaftende Kraft verloren haben, sind Quartiersbeziehungen heute auch in Deutschland stärker von klassenbestimmten Milieus oder sozialen oder kulturell bestimmten Gruppen geprägt.«58 Zur Beschreibung des sozialen Nahraums gilt, dass sich »[i]n einer Nachbarschaft […] räumliche und soziale Kategorien konkreter als in anderen Situationen [überschneiden], sodass mit gängigen Konzepten wie ›Sozialraum‹ häufig auch ›nachbarschaftliche‹ Kategorien assoziiert werden.«59 Neef beschreibt die soziale Bedeutung des Quartiers für verschiedene soziale Gruppen einer Stadt unterschiedlich: »In bestimmten Lebensphasen oder in Lagen der Nichterwerbstätigkeit – also vor allem bei Kindern und Rentnern, Langzeitarbeitslosen und Hausfrauen – bildet das Quartier einen Mittelpunkt des Alltags. In dem Maße, wie außerhalb gelegene Ankerpunkte wie Schulen, Arbeitsstellen, Freizeiteinrichtungen den Alltag bestimmen, wird das Quartier nachrangig.«60 Daneben gilt aber auch, dass sich »[i]nsgesamt […] in den von Mittelklassen dominierten Quartieren besonders häufig jener ›community spirit‹ [findet] den Menzl für Eigenheimsiedlungen und Jacobs für alteingesessene Innenstadtquartiere so eindringlich geschildert haben – jedenfalls deutlich häufiger als in den von Arbeitern und Unterklassen geprägten Sozialwohnungssiedlungen«.61 Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass bereits die Festlegung, welche Quartiere es gibt, wie sie voneinander abzugrenzen sind und worin sie sich unterscheiden, eine anspruchsvolle Aufgabe ist, die eine gute Kenntnis des urbanen Kontextes voraussetzt. Zur Orientierung können dabei u. a. die oben 56 57 58 59 60 61
Schnur 2012, 451. Schnur 2012, 449. Neef 2011, 252. Schnur 2012, 449. Neef 2011, 247. Vgl. auch Texier-Ast 2018, 122–124 und 129 ff. Neef 2011, 252.
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genannten zehn Faktoren für Nachbarschaft (§ 16, FN 25) dienen. Für einen grundlegenderen Zugang hilft zudem die Konsultation der Publikationen der Quartiersforschung.62 Urbane Gemeindeentwicklung, die sich auf der Ebene von Ortsgemeinden an Quartieren orientiert, muss also über eine sehr gute Kenntnis des sie umgebenden Makro-, Meso- und Mikrokontexts verfügen und insofern intensiv auf den Kontext hören bzw. diesen zu lesen vermögen. Eine quartierorientierte Gemeindeentwicklung ist somit niemals abgeschlossen, da sich Quartiere wandeln und insgesamt fluide sind (das beginnt bereits bei der tendenziell subjektiven Festlegung der Grenzen eines Quartiers)63. Dies zeigt auch, dass diese Aufgabe keineswegs von einzelnen Gemeinden zu leisten ist, sondern nur von allen Gemeinden gemeinsam – was eine Kooperation auf allen Ebenen erfordert. Dies betrifft neben der Ebene eines Stadtteils auch die Region sowie die gesamte Stadt und ggf. die Ebene des Landes oder sogar eine globale Perspektive.64 Auf der regionalen Ebene geht es um die Beschreibung der Grenzen einzelner Quartiere sowie Überschneidungen und Interaktionen zwischen verschiedenen Quartieren. Auf der städtischen Ebene ist die Perspektive zum Stadtgesamten von Interesse und u. a. die Frage danach, wie sich gesamtstädtische 62 Vgl. u. a. Schnur 2014a; Drilling/Schnur 2009; Schnur/Drilling 2011; Drilling/Schnur 2012; Fritsche 2011; Deffner/Meisel 2013; Vogelpohl 2012; Fabian et al. 2017. Zur Relevanz von Quartiersforschung schreibt Schnur: »Allein auf der Basis der ungebrochenen inhaltlichen Relevanz, die sich bis heute in zahlreichen Forschungsansätzen und Studien unterschiedlichster Disziplinen niederschlägt, kann der Quartiersforschung eine Eigenständigkeit bescheinigt werden. So gesehen ist Quartiersforschung längst mehr als eine Subdisziplin in den stadtforschungsrelevanten Geo- und Sozialwissenschaften und deren Explizierung als Forschungsfeld überfällig.« (Schnur 2014b, 45). 63 Vgl. Schnur 2014b, 40–43. »In der Literatur ist kaum ein schlüssiges Konzept der Quartiersabgrenzung zu finden. Das Problem subjektiv und objektiv stark differierender (oft nur virtueller) Grenzziehungen stellt sich häufig im Kontext von Quartierspolitik und entsprechenden Förderprogrammen […] oder dann, wenn auf der Quartiersebene empirisch gearbeitet werden soll und der Container für die Daten fehlt. Ob es sich dabei um quantitative oder qualitative Daten handelt, spielt keine Rolle. Während quantitative Untersuchungen jedoch eine Vorab-Grenzziehung erfordern, können sich Anhänger qualitativer Designs durch bloße NichtDefinition oder Ignoranz des Problems aus der Affäre ziehen. Beides ist gleichermaßen diskussionswürdig, wenngleich hier – nach gründlicher Reflexion – ein gewisser Pragmatismus zweifellos angebracht ist.« (Schnur 2014b, 42). 64 Vgl. auch den EKD-Text 93, in dem die Autoren die Vorteile von Quartierspfarrämtern gegenüber Gemeindepfarrämtern betonen: »Konsequent zu Ende gedacht ist, [sic!] eine ›Kirche im Quartier‹ ein Angebotsensemble von einigen Kirchen in einem städtischen Gestaltungsraum, das koordiniert wird von einem gemeinsamen Verantwortungsträger. Diese Steuerungsebene gestaltet nicht nur die inhaltlichen Angebote und koordiniert die Vielfalt der Profilgemeinden, sondern sie könnte auch als gemeinsamer Anstellungsträger, Gebäudemanager und Ressourcenmanager die Flexibilität der Strukturen erhöhen. Quartierspfarrämter sind teamorientierter gestaltbar und gabenorientierter einsetzbar als Gemeindepfarrämter.« (Kirchenamt 2007b, 54).
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Entwicklungen auf einzelne Quartiere auswirken oder Entwicklungen in Quartieren, die weit von anderen entfernt sind und dennoch auf diese Einfluss haben. Hinzu kommt die nationale und die globale Ebene, um die Bedeutung nationaler und globaler Trends für die Entwicklung eines bestimmten Quartiers zu erfassen und zu verstehen.65 Man spricht hier von der »›Embeddedness‹ von Quartieren.«66 Quer zu all diesen Ebenen liegt die ökumenische Dimension, also die Kooperation, wechselseitige Ergänzung und Hilfe verschiedener Gemeinden des universalen Leibes Christi (Koinonia) als der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, die als Zeugin des Evangeliums (Martyria) in die Stadt gesandt ist.
2.1.3 Segregation und Quartier Schließlich ist für Kenntnis, Beurteilung, Teilhabe sowie Kritik an sozialer Segregation67 eine genaue und individuelle Kenntnis dieser Prozesse nötig. Dies beginnt auf lokaler Ebene und gelingt in Vernetzung und Austausch der verschiedenen städtischen und kirchlichen Ebenen. Nur wenn Gemeinden nah bei den Menschen eines Quartiers sind, können Sie »Kennerinnen des urbanen Lebens« werden und die Prozesse sozialen Wandels und sozialer Entmischung verstehen68, die Dynamiken durchschauen und einen Beitrag zum Gemein65 Vgl. dazu Schnur 2014b, 41. 66 Ebd. 67 Neef bilanziert zum Verhältnis von Quartiersbeziehungen und Segregation: »In großer Übereinstimmung der Forschung gelten Quartiersbeziehungen als durch einzelne soziale Klassen bzw. Klassen-Segmente bestimmt. Dabei ist die sozial-räumliche Segregation in Europa nur mäßig, selten stellt (außer in Oberklassen-Vierteln) eine Klasse die klare Bewohnermehrheit. Es geht aber nicht um Mehrheiten, sondern um die soziale und normative Dominanz einer Gruppe, die das ganze Stadtviertel prägt; dabei erscheint, mit Bourdieu, die Prägekraft höherer Klassen stärker als die unterer Klassen.« (Neef. 2011, 252). Vgl. auch Friedrichs/Blasius 2000, 63–70. 68 Neef betont, dass besonders für soziale Gruppen am Rand der Gesellschaft das Quartier eine wichtige Größe darstellt: »Für Unterklassen gelten enge soziale Bindungen als charakteristisch, die sich – schon wegen einer geringeren Mobilität und einer höheren Arbeitslosigkeit als in höheren Klassen – stärker im Quartiersraum abspielen […]. Beziehungen werden hier hauptsächlich zu Verwandten aufrecht erhalten, die zudem häufig im Quartier wohnen; auch Freunde leben öfter hier als außerhalb. Unterklassen-Netzwerke konzentrieren sich insofern stark auf das Wohnquartier.« (Neef 2011, 247 – Hervorhebung im Original). Dabei unterscheidet er zwei Gruppen innerhalb der Unterschicht: »Das gilt nach unserer Problemviertel-Untersuchung besonders für Armutsmilieus, von denen sich zwei Ausprägungen fanden: 1. Es gibt ›sozial aktive‹ Armutshaushalte mit regen Verwandtschafts- und Freundes-Beziehungen, die eine beträchtliche Geselligkeit und einen erheblichen Tausch kleiner Hilfen tragen, auch und gerade bei Langzeit-Arbeitslosen. Ihre Beziehungen beschränken sich weitgehend auf ebenfalls Arme und Arbeitslose. Das Quartier umfasst hier Großteile des Lebenszusammenhangs. 2. Bei sozial Marginalisierten fehlt die (zwiespältig-bindende) Stütze enger Netzwerke. Diese Gruppe ist sozial isoliert – Kontakte zu Verwandten sind abgebrochen,
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wohl leisten (Diakonia), indem sie mit den Menschen des Kontexts und somit in die Situationen hinein das Evangelium kommunizieren und den Menschen beistehen und eine Alternative bzw. einen Kontrast sowie eine Gegenkultur zu den negativen Folgen dieser Prozesse aufzeigen und eröffnen (Koinonia). Nur aus dieser Position der Nähe kann urbane Gemeindeentwicklung die Glieder des Leibes Christi darin stärken, dieser spezifischen Situation gerecht zu werden und das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen (Martyria, Leiturgia und Diakonia). Außerdem kann urbane Gemeindeentwicklung nur aus dieser Nähe zum Quartier denen sinnvoll und nachhaltig helfen, die Opfer sozialer Segregation geworden sind und einer situationsgerechten Hilfe bedürfen. Diese kann mindestens darin bestehen, Menschen eines bestimmten Quartiers an solche Einrichtungen der Stadt zu verweisen (bzw. sie dorthin zu begleiten), wo ihnen professionelle (u. a. soziale, juristische, psychologische) Hilfe zukommt. Zuletzt kann urbane Gemeindeentwicklung diejenigen, welche soziale Segregation gestalten oder auslösen bzw. beeinflussen können, nur dann mit ihrer Verantwortung konfrontieren, wenn sie weiß, wer diese Personen/Institutionen sind und welchen Anteil sie an den Dynamiken sozialen Wandels und sozialer Segregation haben. Ebenso kann urbane Gemeinde nur dann als Vermittlerin zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen eines Quartiers (oder Stadtteils) fungieren, wenn sie diese Gruppen unterscheiden kann, sie kennt und Kontakt zu ihnen hat und folglich weiß, wie ein solcher Vermittlungsprozess aussehen kann und welche Gesprächsbereitschaft, aber auch welche Vorurteile sowie Ängste bestehen. Zudem weiß urbane Gemeinde auf Quartiersebene, welche anderen Gruppen, Einrichtungen oder Einzelpersonen für solch einen Prozess wichtige, hilfreiche und nötige Partner sind. Rainer Neef unterscheidet bei den Versorgungseinrichtungen im Quartier zwischen zwei Formen: Auf der einen Seite sind dies private Einrichtungen, die sich eher am Markt- und Gewinnprinzip orientieren (Läden, Cafés etc.). Auf der anderen Seite existiert eine soziale Infrastruktur, die »eher vom Prinzip sozialen Ausgleichs«69 geprägt ist und folglich sollten »hier […] Klassen-
verlässliche Freunde hat man nicht. Das Quartier stellt hier eher einen Raum sozialer Ausgrenzung dar, die Marginalisierten sehen es von daher äußerst ambivalent. Eine Lebensstütze geben allenfalls Sozialamt und Sozialarbeiter, vor allem, wenn sie sich vor Ort befinden. […]. In beiden Unterklassen-Milieus bildet das Quartier den wesentlichen Lebensrahmen. Die Bindung ans Quartier ist in der Regel hoch, trotz häufiger Unsicherheits-Erlebnisse im Alltag und obwohl häufig einzelne Bewohnergruppen (›die Ausländer‹ oder ›die Alkoholiker‹) massiv abgelehnt werden. Zum Teil – gerade bei Marginalisierten – hängt dies mit Fremdheitsgefühlen und Verunsicherung in der sonstigen Stadtgesellschaft zusammen.« (AaO., 247f – Hervorhebung im Original). 69 Ebd.
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oder Gruppen-Zugehörigkeiten eigentlich keine Rolle spielen.«70 Quartiersgemeinden gehören demnach zur sozialen Infrastruktur eines Quartiers. Diese folge lau Neef »einer politisch-sozialen Logik«71 und bestehe aus »prinzipiell für die Allgemeinheit bestimmten Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Sporteinrichtungen.«72 So begünstige die soziale Infrastruktur »eine Verständigung über Quartiers-Angelegenheiten, ja, sie bringen sie oft hervor, da sich Interessen- Gemeinsamkeiten zwischen dem Personal und einzelnen Nutzergruppen herausbilden können.«73 Jedoch seien hier periphere Quartiere benachteiligt. Sind bestimmte Quartiere in dieser Hinsicht benachteiligt, sollten Quartiersgemeinden in möglichst allen – also auch besonders in peripheren, depra vierten oder marginalisierten –Quartieren entwickelt werden, damit sie dort als Teil der sozialen Infrastruktur dem Gemeinwesen dienen können. Dass die gezielte Etablierung und Förderung sozialer Infrastruktur besonders in sozial benachteiligten Vierteln einen positiven Einfluss auf das milieuüberschreitende Miteinander haben, konnten Studien belegen: Zur Gegenwart hin scheint sich eine stärkere Gleichverteilung solcher Einrichtungen entwickelt zu haben, nicht zuletzt durch die Vermehrung halb-privater und gemeinnütziger Anbieter und durch Programme der sozialen Förderung benachteiligter Viertel […]. Gerade in Fördergebieten entsteht eine beachtliche halb-öffentliche Kommunikation und damit eine Art ›Quartiersöffentlichkeit‹ über die tiefen kulturellen und sozialen Spaltungen der Bewohner hinweg […]. Die dort erweiterten Sozial- und Kultureinrichtungen und -projekte tragen erheblich zu Kontakten zwischen Nutzern und etlichen Bewohnergruppen bei […].74 Jedoch zeigen sich sowohl bei der Nutzung von als auch bei der Verantwortung für die soziale Infrastruktur Segregationstendenzen75: So werden die Angebote sozialer Infrastruktur (Sportvereine, Kulturvereine, religiöse sowie Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen) gruppen- und klassenspefizisch genutzt.76 Die Initiative und die Verantwortung für soziale Infrastruktur liegt aber eher bei der Mittelschicht und weniger bei den unteren oder obe-
70 Ebd. 71 AaO., 254. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. Vgl. auch Texier-Ast 2018, 122–124. 75 Vgl Neef 2011, 253–257. 76 »Weniger über das Angebot als über das Nutzungsverhalten setzt sich eine klassenspezifische Prägung durch: Einzelne Einrichtungen werden von spezifischen Gruppen sozial dominiert in einer Weise, dass andere Gruppen sie nur im Notfall nutzen, tunlichst auf Alternativen ausweichen, oder ganz verzichten.« (AaO., 254f).
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ren Schichten.77 Für Quartiersgemeinden und urbane Gemeindeentwicklung bedeutet dies, eine doppelte Herausforderung: Sie muss a) offen für eine Kommunikation und Interaktion mit allen Bewohnern eines Quartiers bzw. einer Stadt sein und sie muss b) Menschen verschiedener Schichten und Milieus mit verantwortungsvollen Aufgaben betrauen. Solch ein Vorgehen ist Ausdruck der kontrakulturellen Dimension urbaner Gemeindeentwicklung, welche durch die Botschaft des Evangeliums Zugang zu einer Ressource der Versöhnung und des Miteinanders hat. Eine Nutzung dieser Ressource zur Schaffung von sozialem Kapital78, wäre ein genuin christlich-kirchlicher Beitrag zum Gemeinwesen eines Quartiers. Summa: Einen substantiellen Beitrag zum (segregierten) Gemeinwesen (als Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia) kann urbane Gemeindeentwicklung nur leisten, wenn sie in einem Quartier verwurzelt sowie beheimatet ist und dieses kennt und zu lesen versteht. So bewährt sich die Ortsgemeinde »als Kirche in der Nähe, wenn sie in der Nähe zu den genannten Lebensfragen und im Dialog mit der Bibel ›hart an der Realität‹ bleibt.«79 Die Themen sind dabei sowohl privater (auf das eigene Wohnen und Leben bezogen) als auch öffentlicher (auf die sozio-demographischen Entwicklungen im Quartier bezogen) Natur und beide Dimensionen verbinden sich im Nahbereich des Quartiers. Die Mitte sowie Dreh- und Angelpunkt für das lokale Engagement (Diakonia) einer Quartiersgemeinde ist der Gottesdienst (Leiturgia) als congregatio (Koinonia) zum Zeugnis des Evangeliums in Wort und Sakrament (Martyria).80 Peter Cornehl und Wolfgang Grünberg warnen angesichts von Segregation davor, dass den Segregationstendenzen in gemeindlich struktureller Hinsicht »nicht unbedacht Folge geleistet wird.«81 Gemeinde dürfe sich nicht unkritisch den Logiken und Dynamiken städtischer Entwicklung unterwerfen. Kontextualisierte Gemeinde besitzt immer eine kontrakulturelle Dimension, welche diejenigen Elemente des Kontexts, die im Widerspruch zum Evangelium stehen, identifiziert und kritisiert (s. o. § 2 Abs. 2.1). So wichtig dieser Einwand ist, gilt dennoch zugleich, dass die Kirche, die selbst Teil der Stadt ist, sich diesen Prozessen nicht entziehen kann. Vielmehr 77 Für Vereine und Initiativen schriebt Neef: »Aber Mittelklassen sind hier deutlich stärker engagiert als Unterklassen – und vor allem auch als Oberklassen, welche Selbstorganisation ablehnen und auf ihre individuelle Durchsetzungsfähigkeit vertrauen.« (AaO., 255). 78 Zur Bedeutung von sozialem Kapital im Quartier vgl. aaO., 258 ff. 79 Cornehl/Grünberg 2004, 289. 80 Vgl. u. a. aaO., 288 f.295 und 297. Zum Verhältnis von Territorialität und Mobilität und der Bedeutung von parochialen und nichtparochialen Gemeindeformen vgl. Pohl-Patalong 2003, 221–223. 81 Cornehl/Grünberg 2004, 292.
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gilt, dass sie um ihrer Sendung willen aktiv an diesen Prozessen teilnimmt, diese zu verstehen und zu gestalten versucht. Die Bildung von Quartiersgemeinden ist ein Bemühen darum, dies auf lokaler Ebene zu tun. Dabei können sich Quartiersgemeinden jedoch nicht auf die lokale Ebene beschränken, sondern müssen – der Logik regiolokaler Gemeindeentwicklung (s. o. § 15 Abs. 1.4) folgend – die lokale Ebene einer einzelnen Gemeinde um die regionale Ebene durch Kooperation, Ergänzung und aufeinander abgestimmte Profilierung mehrerer Gemeinden erweitern und so die Aufgabe urbaner gemeindlicher Entwicklung gemeinsam wahrnehmen. Sowohl auf übergemeindlicher als auch auf ökumenischer Ebene müssten Quartiersgemeinden demnach regiolokal kooperieren und ihre je spezifische lokale Expertise auf einer regionalen Ebene der gemeinsamen Kooperation mit anderen Gemeinden einbringen und so auf die ausdifferenzierten und segregierten Bedingungen reagieren, ohne jedoch selbst in der urbanen Entmischung aufzugehen.
2.1.4 Quartiersgemeinden als Kirche im Quartier Indem die versammelte Gemeinde im Quartier Gottesdienst feiert und dort durch Predigt und Sakramente das Evangelium kommuniziert, konstituiert sie sich als Kirche. Diese Vollzüge bilden mit CA VII die Minimalanforderungen, die erfüllt sein müssen, um von Kirche zu sprechen. Die jeweilige Gestaltung dieser Minimalanforderungen orientiert sich strukturell an der Größe Quartier und fragt danach, wo in diesem Quartier Kirche als congregatio existiert und wo dies noch nicht der Fall ist. Die Gestaltwerdung von Kirche im Quartier orientiert sich somit an den notae ecclesiae nach CA VII und an dem Bedarf sowie den Potentialen zur Kommunikation des Evangeliums mit möglichst vielen Menschen des Quartiers. Dient die Feier des Gottesdienstes als Grundmoment des Kirche-Seins zur Orientierung im Quartier, so wirkt sich dies auf die Gebäudestruktur der Kirche aus: Das bestehende Netz an Kirchen und Gemeindegebäuden bildet dabei die Grundstruktur, deren Zuordnung zueinander sich nun aber nicht mehr an der Parochie, sondern an dem Quartier orientiert, in welchem das jeweilige Kirchengebäude steht. Dies kann bedeuten, dass in einem Quartier mehrere Kirchengebäude sind oder ein Quartier kein Kirchengebäude besitzt. Es kann auch zur Folge haben, dass zwei Gemeinden, die bisher keinen näheren Kontakt miteinander hatten, sich nun gemeinsam für ihr Quartier engagieren. Daraus folgt keineswegs, dass neue Kirchengebäude gebaut werden müssten. Ein Gottesdienst braucht kein eigenes Gebäude. Vielmehr ist das Ziel, einen Ort bzw. verschiedene Orte in einem Quartier zu schaffen, an denen regelmäßig und öffentlich Gottesdienst (CA VII und XIV) gefeiert, also das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird, damit Menschen glauben und Anteil
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an der Rechtfertigung durch Glauben bekommen (CA V).82 Die Folge: »Die gottesdienstliche Feier wird zugleich verstärkt organisch in das sonstige Handeln eingebunden und stellt keinen sonntäglichen Sonderbereich mehr dar.«83 Dazu gehört auch, dass Kirchengebäude von verschiedenen Gemeinden unterschiedlicher Konfessionen und Kulturen gemeinsam genutzt werden.84
2.1.5 Quartier und Parochie Die vorangegangene Darstellung unterstreicht die Tatsache, dass ein solcher Paradigmenwechsel von einer primär parochialen Struktur hin zu einer vorrangigen Orientierung am Quartier eine langfristige Aufgabe urbaner Gemeindeentwicklung ist. Dazu muss sich der dargestellte Paradigmenwechsel an den faktisch bestehenden Strukturen orientieren und deren Potentiale und Errungenschaften als Chancen verstehen sowie deren Ressourcen nutzen, denn »Reformen [müssen] die etablierten Strukturen würdigen und an diese anknüpfen […], um sich langfristig durchsetzen zu können.«85 Folglich geht es nicht darum, städtische Parochien einfach aufzulösen und durch Quartiersgemeinden zu ersetzen. Es handelt sich vielmehr um eine sukzessive Weiterentwicklung des parochialen Systems – weg von der Eigenlogik der Parochie hin zur Eigenlogik des Quartiers. Diese Weiterentwicklung ist angesichts der göttlichen Sendung der Kirche und der empirischen Wirklichkeit des Kontextes notwendig und theologisch zudem möglich. Im Zuge dessen ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass manche Parochie in ihrem Zuschnitt weitestgehend erhalten bleibt, weil sie sich mit dem Quartier deckt bzw. weil sie »funktioniert« in dem Sinne, dass sie den Anforderungen sowohl des kirchlichen Auftrags als auch des Kontextes entspricht. Eine so gestaltete Parochie ist ebenso zu begrüßen wie die Neuorganisation kirchlicher Strukturen anhand der Logik des Quartiers. Der Strukturvorschlag von Uta Pohl-Patalong (»Kirchliche Orte«) als »dritter Weg zwischen Parochialität und Nichtparochialität«86 sucht eine Alternative sowohl zu einem Entweder-oder als auch zu einer Binarität kirchlicher Struktur.87 Die vorliegende Arbeit nimmt diesen Gedanken auf, 82 Vgl. dazu auch das Modell kirchlicher Orte von Uta Pohl-Patalong, Pohl-Patalong 2003, 212ff, besonders 228 ff. Pohl-Patalong fordert, dass an jedem kirchlichen Ort die expliziten (nach CA VII) sowie die impliziten notae ecclesiae erkennbar sein sollten, vgl. aaO., 220f und 246 f. 83 AaO., 246 f. 84 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 67. 85 Pohl-Patalong 2003, 215. 86 AaO., 216. 87 Vgl. aaO., 216–218. Später ist Uta Pohl-Patalong skeptischer ob eines Nebeneinanders von Parochie und anderen Gemeindeformen und fordert, dass die Kirche sich entscheiden müsse, da eine mixed economy nicht realistisch sei: »Die Idee, dass neue Gemeindeformen die parochiale
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betont aber, dass die Tauglichkeit und Legitimität kirchlicher Strukturen neben ihrer theologischen Angemessenheit ebenso anhand ihrer Passung zum urbanen Kontext gemessen wird.88 Dort, wo eine Parochie diese Passung hat, wäre es unsinnig, sie aufzulösen. Das Ergebnis der Studie von Pohl-Patalong ist ja gerade, dass sowohl den nichtparochialen als auch den parochialen Strukturen, Potentiale zur Wahrnehmung und Gewährleistung kirchlicher Aufgaben in einem gewandelten und sich wandelnden Umfeld innewohnen.89 Eine Eingliederung und damit verbundene Relativierung der parochialen Struktur (als »flexibler Umgang mit der Territorialität«90) wird ihr – vor dem Hintergrund urbaner Wirklichkeit – am ehesten gerecht und erscheint als eine dem urbanen Kontext gemäße Struktur.91 Weitere konkrete Überlegungen zur Neustrukturierung urbaner Gemeindeentwicklung erfolgen unten in § 16 Abs. 3. Der Beitrag von Pohl-Patalong verweist darauf, dass jede Organisationsform von Gemeinde ergänzungsbedürftig ist und keine kirchliche Ausdrucksform – weder Parochie noch Quartiersgemeinde – die einzige und allgemein gültige Art und Weise darstellt, wie Kirche ihre Sendung in der Stadt wahrnehmen kann: Als ein wesentliches Kriterium für die Suche nach alternativen Organisationsmodellen kann also die Sicherung und Förderung von Pluralität benannt werden, so dass die Auflösung der Binarität von Parochialität und Nichtparochialität nicht durch eine einheitliche Organisationsform ersetzt werden darf, wenn sich Kirche nicht reduktionistisch auf ein bestimmtes Modell mit einer begrenzten gesellschaftlichen Reichweite zurückziehen will. Kirchliche Strukturen der Zukunft müssen also gewährleisten, Unterschiedliches an unterschiedlichen Orten anzubieten, gleichzeitig aber das Angebot eines Ortes in unterschiedlicher Hinsicht zu entfalten.92
Da Quartiersgemeinden der Ergänzung bedürfen, sollen nun noch zwei weitere Formen urbaner Gemeindeentwicklung vorgestellt werden: StadtKirche und frische Ausdrucksformen urbaner Kirche.
88 89 90 91 92
Grundstruktur einfach ergänzen könnten, ohne dass sich diese verändert, ist daher eine Fiktion.« (Pohl-Patalong 2014, 201). Die von Pohl-Patalong genannten acht Kriterien für kirchliche Strukturen (vgl. Pohl-Patalong 2003, 218–227) sind so grundlegend wie universal und können m. E. allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Vgl. aaO. 216–227. AaO., 170. Vgl. aaO., 166–167. Pohl-Patalong 2003, 219.
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2.2 StadtKirchen als lokal erweiterte und inhaltlich profilierte Citykirchen Zur Erinnerung soll hier nochmals die Definition von Citykirchen nach Frank Löwe aufgerufen werden: »Citykirchen sollen Sakralgebäude genannt werden, die in einem urbanen Kerngebiet mit hoher Konzentration von Dienstleistungseinrichtungen stehen, die von ihrer baulichen Gestalt her öffentlich ausstrahlen und in denen parochieübergreifende Funktionen wahrgenommen werden.«93 Oben wurde bereits festgehalten, dass die vorliegende Arbeit der Definition von Löwe folgt, jedoch unter der erweiterten Perspektive, dass es auch lokal bedeutende StadtKirchen geben kann, die nicht vollumfänglich den Kriterien einer Citykirche entsprechen (aufgrund von Lage, Bedeutung, Alter, Bekanntheit), jedoch in ihrer Funktion eine vergleichbare Rolle spielen (sog. »marginale Citykirchen«94).95 Aufgrund dieser Perspektive und angesichts der Tatsache, dass den so beschriebenen Kirchen über ihren konkreten Ort (z. B. die City) hinaus eine Bedeutung zukommt, soll im Folgenden von StadtKirchen gesprochen werden.96 Dieser Begriff bündelt unter der beschriebenen erweiterten Perspektive die Unterscheidung von Citykirchen als zentral und marginal sowie die Beschreibung von Citykirchen als Symbolkirchen mit einer Bedeutung für die gesamte Stadt bzw. Region. Zudem markiert die Schreibweise StadtKirche die doppelte Bedeutung dieser Orte: Sie sind für einen bestimmten Stadtteil bzw. für eine Stadt als Ganze oder sogar eine größere Region von Bedeutung und zugleich sind sie keine »Museen«, »Denkmäler« oder »Antiquitäten«97, sondern Orte der Kommunikation des Evangeliums und der kirchlich-gemeindlichen Teilhabe an der Sendung Gottes in der Stadt. Dabei finden sich solche Kirchen aber nicht nur – wenn auch häufig – in den Innenstädten, also den Cities. Insofern soll der Begriff StadtKirche auch diese größere, weil die City überschreitende, räumliche Perspektive markieren.98 Der göttliche Auftrag dieser Kirchengemeinden als
93 Löwe 1999, 19. Hervorhebung im Original. 94 Vgl. aaO., 19f und 445 ff. 95 »Kirchliche Reformbemühungen sollten diese Funktion architektonischer ›Haftpunkte‹ ernst nehmen, wobei sich diese nicht auf die klassischen alten Kirchen beschränken müssen, sondern im Einzelfall zu entscheiden ist, welche kirchliche Architektur für welche Form der Präsenz sinnvoll ist.« (Pohl-Patalong 2003, 227). 96 Eine gutes Beispiel bietet die Autobahnkirche RUHR der Ev-luth. Epiphanias-Gemeinde in Bochum: Vgl. https://www.autobahnkirche.de/abk/autobahnkirchen/36_A40_EvangelischeAutobahnkirche-Ruhr-Bochum.html#Architektur (aufgerufen am 9.3.2018). Diesen Hinweis verdanke ich Kolja Koeniger. 97 Vgl. Grünberg 2004, 139 und 201. 98 Zur stadtweiten Bedeutung von City-Kirchen als Stadtkirchen vgl. Grünberg 2004, 206 ff. Die Ausführungen Grünbergs sind leider teilweise eher pauschal und assoziativ und markiert hin-
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Gesandte gilt sowohl dem unmittelbaren lokalen Umfeld als auch der Region, der Stadt an sich bzw. der größeren Öffentlichkeit, der diese Kirche bekannt ist bzw. von der diese Kirche aufgesucht und genutzt wird. Träger der göttlichen Sendung kann jedoch nicht das stadtkirchliche Gebäude sein. Stattdessen bedarf es einer Gemeinde, die als congregatio und daraus erwachsende communio von Gott angesprochen und gesandt ist. Diese doppelte Bestimmung des Begriffs StadtKirche ist für die folgenden Ausführungen leitend.
2.2.1 Potentiale von StadtKirchen Aufgrund ihrer lokalen, überlokalen und regionalen sowie ihrer missionstheologisch doppelten Funktion als attraktionale und inkarnatorische Orte von Gemeindeentwicklung bieten StadtKirchen eine Vielzahl an Potentialen für urbane Gemeindeentwicklung. Die englische Studie From Anecdote to Evidence99 hat gezeigt, dass städtische Großkirchen und Kathedralen (in England) zwischen 2002 und 2012 um 35 % gewachsen sind. Das Wachstum betrifft Besucher, die in Kathedralen Gottesdienste feiern: »The research team looked at cathedral service attendance, make up of cathedral congregations and what draws worshippers in. They found that there is overall growth in numbers worshipping in cathedrals – a trend which has continued since the Millennium.«100 Über die Besonderheit dieser Kirchen schreiben die Autoren: »[G]reater churches play a significant role in their dioceses. They often are and could be seen as resourcing communities for nearby churches and parishes. They maintain a strong public and civic profile, and regularly welcome large volumes of visitors though [sic!] their doors. More significantly these churches are recognised as being centres of worship and mission in their dioceses and localities.«101 Die Gründe, welche die Forscher für das Wachstum nennen, sind diese: »Initiating new services and congregations. Increasing civic profile. Improving welcome and hospitality. Developing educational programmes. Cultivating mission intentionality. Promoting inclusion and diversity in worship, membership and outreach.«102 StadtKirchen sind zunächst lokal in einen bestimmten Kontext eingebettet und stehen mit diesem im Austausch. Dabei stellen sie meistens einen besonderen Ort i. S. e. »Andersortes« dar, der sich zumeist von den übrigen Einrichtungen des Kontextes unterscheidet. Diese besondere Funktion stellt eine sichtlich der beschriebenen doppelten Qualifikation von StadtKirchen eher offene Fragen und den Bedarf an Innovation, ohne dies allzu sehr zu konkretisieren. 99 Vgl. The Church Commissioners 2014, hier besonders aaO., 21–24. 100 AaO., 21. 101 AaO., 24. 102 Ebd.
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Ressource für Gemeindeentwicklung dar, denn StadtKirchen verfügen allein durch ihr Gebäude und ihre geographische Lage über ein besonderes Potential i. S. e. Standortvorteils, denn die Lage von StadtKirchen ist i. d. R. an zentralen, bekannten bzw. »bedeutenden« Orten einer Stadt. Folglich sind StadtKirchen selbst meist einer großen Öffentlichkeit bekannt, haben einen hohen touristischen Wert und dienen mindestens einer geographischen Orientierung in der Stadt. Zudem sind sie meist eng mit der Geschichte der Stadt verbunden und nicht selten die ältesten (und größten) Gebäude des unmittelbaren Umfelds. Schließlich ist ihre Lage auch deshalb besonders, da die Grundstückspreise und Mieten in zentralen Lagen meist sehr hoch sind und gewöhnlich nur große Unternehmen oder zentrale städtische Institutionen hier über Gebäude verfügen. Wenn es Wohnungen gibt, dann ist deren Bewohnerschaft meist entsprechend wirtschaftlich gut situiert. Urbane Gemeindeentwicklung in den Strukturen einer StadtKirche bedeutet ein hohes Maß an Öffentlichkeit (Chancen für die Dimension der Martyria und Leiturgia) bei gleichzeitiger lokaler Verankerung und Präsenz (Chancen für die Dimension der Koinonia und Diakonia).103 Somit hat eine StadtKirche die Möglichkeit, beide Ebenen miteinander zu verbinden und miteinander in Kontakt zu bringen. StadtKirchen eröffnen somit die Chance, sowohl lokale Entwicklungen als auch Dynamiken, die für 103 Ein Beispiel für die kreative Nutzung des Potentials einer sowohl lokal verankerten als auch überregional bekannten Kirche ist die silentMOD genannte, multisensorische Gestaltung des Kölner Doms während der Messe gamescom (http://www.gamescom.de – aufgerufen am 28.09.2018) in Köln im August 2016. silentMod wurde von mehr als 50.000 Menschen besucht. Vgl. Swiatkowski et al. 2017. Bei der Gestaltung wurden Elemente der Gamer-Szene mit den Inhalten des christlichen Glaubens, welche im Dom repräsentiert sind, verbunden: »Der Begriff silentMOD setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Mod leitet sich von ›Modification‹ (Veränderung) ab und nimmt Bezug darauf, dass Computerspiele von Usern erweitert oder verändert werden. Das Spektrum der Erweiterungen ist dabei breit gefächert: von einfachen Abänderungen, Ergänzungen, Fehlerbehebungen oder Überarbeitungen bis hin zu einer kompletten Umwandlung eines Games. Liest man ›Mod‹ rückwärts, ergibt sich der Begriff ›Dom‹. silent bezieht sich auf das Anliegen, den Dom in einen Zustand kraftvoller Ruhe zu setzen. Es ging der Formulierung nicht darum, den Dom als leisen Gegenpol zum MesseBusiness der gamescom zu etablieren. Ganz im Gegenteil: silentmod bezeichnet das Herunterfahren umgebender Geräusche (Lüftergeräusche, Zugriffsgeräusche auf Festplatten) mithilfe von Noiseblockern zur intensiven Nutzung bzw. zum konzentrierten Spielen oder Arbeiten am Computer. Profi-Spiele-Rechner arbeiten sogar mit Wasserkühlern im silentmod, um Lüftergräusche zu eliminieren. Der Ruhemodus silentmod ist also eine Hilfe zur Konzentration bzw. Fokussierung auf das Wesentliche. Bezogen auf den Kölner Dom heißt das: die Konzentration und Fokussierung auf Christus am Kreuz in der Apsis. Für drei Nächte zeigt sich der Dom in erweiterter Gestalt: Licht, Sound, Laser, Roboter und Duft heben das hervor, was der Dom an Theologie und Architektur anbietet. Die Oberflächen und der Innenraum erfahren eine Modifikation, um aus Gamer-Perspektive auf die zeitlose Botschaft des Domes zu fokussieren: das Christusmysterium am Kreuz.« (Stelzer 2017, 6).
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das Stadtganze von Bedeutung sind, gleichzeitig wahrzunehmen und diese Wahrnehmung auf das eigene Engagement vor Ort zu beziehen. Sie können so zur Vernetzung der einzelnen Quartiersgemeinden mit der weiteren Stadt beitragen. Zudem können sie die Anliegen, Herausforderungen und Potentiale der lokalen Situation in einem größeren Zusammenhang ansichtig machen und in den öffentlichen Diskurs einbringen.
2.2.2 StadtKirchen und urbane Segregation Die Zusammensetzung der StadtKirchen-Gemeinde wird in vielerlei Hinsicht plural sein und dies birgt angesichts sozialer Segregation große Chancen. Innerhalb einer StadtKirche können mehrere Gruppen unterschieden werden: Einerseits gibt es die eigentliche Gemeinde der StadtKirche, also jene Menschen, die regelmäßig zu den Gottesdiensten und anderen Angeboten einer StadtKirche kommen, sich ehrenamtlich dort engagieren und eine bestimmte StadtKirche als ihre »geistliche Heimat« oder »ihre Gemeinde« beschreiben würden. Eine zweite Gruppe sind jene, die in größeren Abständen regelmäßig am Leben der StadtKirchen teilhaben, sich aber nicht als Teil der Gemeinde der StadtKirchen verstehen, sondern sich als Gäste definieren. Die dritte Gruppe sind Menschen, die eine StadtKirche als temporäres Obdach nutzen und dort regelmäßig für einige Stunden am Tag Zeit verbringen. Schließlich gibt es unregelmäßige Gäste, zufällige Besucher, Touristen und Menschen, die nur einen einmaligen Kontakt zu einer bestimmten StadtKirche haben. Diese Gruppen sind voneinander zu unterscheiden, auch wenn sie sich möglicherweise gelegentlich in ein und derselben Veranstaltung wiederfinden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle potentielle Partner der Kommunikation des Evangeliums in Wort und Sakrament sind. Ihnen allen gilt die Sendung der Kirche sowie das Zeugnis des Evangeliums. Die Art und Weise, in der dies geschieht, wird sich bei den verschiedenen Gruppen unterscheiden. Die vorgestellten Gruppen machen deutlich, dass StadtKirchen ein großes Potential darin haben, das Evangelium mit sehr unterschiedlichen Menschen zu kommunizieren. Dieses Potential ist zugleich eine große Herausforderung, da die große Vielfalt der potentiellen Kommunikationspartner auch eine ausdifferenzierte Pluralität hinsichtlich der Kommunikationsformen und -intensitäten notwendig macht. In vielen Fällen wird die Begegnung mit dem Evangelium ein Erstkontakt sein, was eine evangelistisch-katechetische Kompetenz erfordert. Eine umfassende Einführung in den und eine intensive Begleitung im Glauben betrifft eher die Arbeit mit der »Kerngemeinde«104 der StadtKirche
104 Zum Begriff vgl. Hermelink 2011, 149.
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und potentiell jene, die regelmäßig teilhaben und deren Neugier und Interesse geweckt wurde. Dies kann sicher auch bei einmaligen Kontakten geschehen, ist aber erwartungsgemäß eher die Ausnahme. Bei der Zuwendung und Integration von Menschen aus sozial schwachen Milieus, die sich ebenfalls gelegentlich oder regelmäßig im Umfeld von StadtKirchen aufhalten und dadurch teilhaben, ist eine diakonische Kompetenz unabdingbar. Neben der Pluralität an Kommunikationspartnern findet sich eine ähnliche Pluralität auch hinsichtlich der Formate, Programme und Möglichkeiten der Teilnahme und Teilhabe. Diese reichen von einem Sonntagsgottesdienst, über diakonische Angebote wie bspw. eine Tafel oder die Möglichkeit, in den Wintermonaten in der Kirche zu übernachten, über besondere geistliche Formate wie einen Taizé-Abend oder ein (politisches) Nacht- bzw. Morgengebet unter der Woche bis hin zu kulturellen Angeboten in Form von Lesungen, Konzerten, Theateraufführungen oder Ausstellungen. Hinzu kommen (lokal)politische Austauschs-, Informations- und Diskussionsabende. Dazu können StadtKirchen in vielerlei Hinsicht einen öffentlichen und weitestgehend neutralen Raum bieten, um verschiedene Gruppen zu Gespräch und Dialog zusammenzubringen. Ihre Größe, Lage und Bekanntheit ist dieser Aufgabe zuträglich. Zudem dienen StadtKirchen häufig als zentrale Orte öffentlicher Trauer, öffentlichen Gedenkens oder öffentlicher Feier zu gegebenen Anlässen (Leiturgia). Laut Wolfgang Grünberg105 tragen StadtKirchen somit zur Identitätsstiftung der Bewohner einer Stadt bei und leisten »bibl[isch] begründete, kontextuelle Mitarbeit an Leib, Geist und Seele der S[tadt].«106 Dies ist ein besonderer Beitrag zum Gemeinwesen. Der stadtkirchliche Beitrag zur Identitätsstiftung besteht in der Kommunikation des Evangeliums (Martyria) und birgt angesichts sozialer Spaltung und Entmischung ein kontrakulturelles Potential (Koinonia). Die große Pluralität derer, die mit StadtKirchen interagieren, konfrontiert StadtKirchen einerseits mit der Frage nach einem angemessenen Umgang mit diesen heterogenen sozialen Gruppen. Zudem stellt sich die Frage nach der stadtkirchlichen Rolle angesichts sozialer Segregation dieser Gruppen sowie der Suche nach stadtkirchlichen Potentialen zur Bekämpfung von Segregation und zur Förderung von Vermischung (Diakonia). Aufgrund ihrer primär innenstädtischen Lage wird die vorrangige Form von Segregation, mit der StadtKirchen konfrontiert sind, Gentrifizierung sein, denn Gentrifizierung begegnet besonders »in jenen [Gebieten] mit einer citynahen Lage und einer gegenwärtig statusniedrigen
105 Vgl. u. a. Grünberg 2004, 155–160. 106 Dangschat et al. 2004, 1662.
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Wohnbevölkerung.«107 Zusammensetzung und Status der Bevölkerung wandeln sich freilich im Zuge der Gentrifizierung, denn diese beschreibt einen Prozess, »der sich auf einkommensstarke und gut ausgebildete [und zumeist – aber nicht immer –] kinderlose Single- und Zwei-Personenhaushalte [bezieht], die aufgrund eines spezifischen Lebensstils und bestimmter Konsumgewohnheiten die zumeist innenstadtnahen nutzungsgemischten gründerzeitlichen Quartiere der Städte wiederentdecken und die bisher dort wohnenden einkommensschwächeren Haushalte verdrängen.«108 Die meisten StadtKirchen dürften sich somit in einem gentrifizierten Gebiet wiederfinden und von einer dementsprechend zusammengesetzten Bevölkerung umgeben sein (sofern dieser innenstadtnahe Bereich als Wohnbereich fungiert). Je nach Phase der Gentrifizierung (s. o. § 7 Abs. 1.4.4) kommen StadtKirchen unterschiedliche Aufgaben zu. Bevor ein Gebiet von Gentrifizierung betroffen ist, ist die Bevölkerung i. d. R. statusniedriger und stadtkirchliches Engagement besteht dann vorrangig in diakonischem Handeln und einem sozialen Dienst, der sich an den spezifischen Nöten und Herausforderungen des Kontextes orientiert. Dieser Dienst umfasst von Beginn an eine Solidarisierung sowie das Bereitstellen einer Lobby für diejenigen, die dort leben, da eine Verdrängung dieser Menschen im Zuge einer Aufwertung des Viertels wahrscheinlich ist.109 Sollten Pioniere zuziehen, wird dies die Zusammensetzung des Viertels ändern und eine Aufwertung provozieren. An diesem Punkt wäre es wichtig einerseits die ursprünglichen Bewohner über die rechtlichen Möglichkeiten zum Schutz vor Verdrängung durch Sanierung und Mietsteigerungen zu informieren und die betroffenen Bewohner zu vernetzen. Die StadtKirche könnte i. S. e. »Andersortes« als Treffpunkt im Viertel fungieren, Räume öffnen und Diskussionsforen mit Pionieren, lokalen Politikern und Investoren organisieren. StadtKirchen können ihre Popularität und prominente Lage nutzen, um über die Situation, die zu erwartenden oder faktischen Entwicklungen sowie über Chancen und Herausforderungen aufzuklären und den teils unsichtbaren Dynamiken eine Öffentlichkeit zu geben. Verdrängten Menschen fehlt eine Stimme und eine Lobby. Diese Aufgabe könnten StadtKirchen für solche Menschen ihres Kontextes übernehmen, die (potentiell) von Verdrängung betroffen sind. Ebenso gilt das Engagement einer StadtKirche auch den Verursachern von Verdrängung: den Pionieren, Investoren und der Stadtverwaltung. Mit diesen Personengruppen muss sich eine StadtKirche ebenfalls auseinandersetzen, wenn sie dazu beitragen möchte, die Ursachen und besonders die negativen Folgen
107 Lenz 2007, 30. 108 Farwick 2012, 385. 109 Zu dieser Aufgabe einer öffentlichen Theologie vgl. Schlag 2014, 180–182.
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von Gentrifizierung abzufedern und möglichst zu reduzieren. Dieses Engagement umfasst auch die Verantwortlichen für Gentrifizierung über die sozialen Folgen ihres Handelns aufzuklären und die lokale Situation für die beteiligten Akteure sowie für eine größere Öffentlichkeit ansichtig zu machen. Sollte es zu Verdrängungen kommen, kann eine StadtKirche ihre kirchliche Vernetzung in der Stadt nutzen, um den Menschen, die ihr bisheriges Wohnumfeld verlassen müssen, bei der Suche einer neuen Wohnung, beim Umzug und beim Neuanfang zu helfen. Durch die stadtweite Vernetzung urbaner Gemeinden verfügt die Kirche über ein städtisches Netzwerk, welches mit den lokalen Gegebenheiten und Besonderheiten vertraut ist, und kann Menschen, die auf der Suche nach einer neuen Wohngegend sind, beratend und unterstützend zur Seite stehen. Dies beinhaltet auch, dass die Kirche verdrängte Menschen mit Bewohnern des neuen Stadtteils in Kontakt und Austausch bringen kann und in Kooperation mit den Gemeinden an diesem Ort, eine Vorstellung und Einführung in diesen Stadtteil anbieten kann. Diese Expertise sollte urbane Gemeindeentwicklung um des Gemeinwohls willen nutzen. In alldem bezeugt die StadtKirche das Evangelium, welches als Quelle und Ressource ihres kulturkritischen und diakonischen Engagements dient, und diese Quelle darf nicht verschwiegen, sondern muss als Ressource für die Menschen des Kontextes zugänglich gemacht werden.
2.2.3 StadtKirchen als kirchliche Knotenpunkte und als Orte einer profiliert-pluralen Kommunikation des Evangeliums Angesichts der zahlreichen Möglichkeiten gottesdienstlich-geistlichen, kulturellen, (lokal-)politischen sowie diakonischen Engagements bedarf es einerseits der Kompetenz zu entscheiden, welche Aufgaben zu dem lokalen und regionalen Kontext passen, und andererseits der Fähigkeit, Potentiale zur Kommunikation des Evangeliums zu identifizieren und zu nutzen. Dazu müssen diejenigen, die sich stadtkirchlich engagieren, den näheren und weiteren Kontext gut kennen und wissen, für welche Angebote welcher Bedarf und welches Interesse besteht. Zudem müssen die Verantwortlichen (in Haupt- und Ehrenamt) einer StadtKirche wissen, welche Möglichkeiten der Kommunikation des Evangeliums bestehen, welche Erwartungen Menschen haben, die mit einer StadtKirche in Kontakt stehen und welche Formate sowohl den Menschen als auch dem Evangelium angemessen sind. Dabei geht es keinesfalls darum, jede Begegnung plump und unangemessen »missionarisch zu verzwecken«. Aber es geht um die Bereitschaft und Fähigkeit, das Evangelium kreativ, mutig, vielleicht überraschend und möglicherweise auch unerwartet ins Gespräch zu bringen und so proaktiv und intentional jegliche Aktivitäten der StadtKirchen mit der Kommunikation des Evangeliums zu verbinden. Dies kann gelingen, wenn man den
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Ratschlag Matthias Sellmanns beherzigt: »Dem [Gebäude] wird nichts hinzugefügt. Vielmehr werden seine Kraftlinien verstärkt. Und diese Kraftlinien werden in einer Form angeboten, die wir von denen lernen, zu denen wir sprechen wollen.«110 Sellmann drückt – mit anderen Worten – aus, was die vorliegende Arbeit mit Kontextualisierung meint – ein doppeltes Wahrnehmen: Dessen, was die Kirche als Gebäude, als Institution, als Botschaft zu kommunizieren sucht und dessen, was die Menschen suchen, verstehen können und hören sollen. Eine profilierte Kommunikation des Evangeliums beinhaltet, dass Planung, Gestaltung und Umsetzung jeder Aktivität einer StadtKirche von der Frage bestimmt sein muss, wie das Evangelium mit dem nahen und dem weiteren Umfeld kommuniziert werden kann. Dazu gehört die Klärung folgender Fragen: Wer sind die Personen(-gruppen), mit denen die StadtKirche (potentiell) in Kontakt steht? Was sind Themen, Fragen oder Anknüpfungspunkte bzw. Einlasspunkte111 dieser Menschen, die einer Kommunikation des Evangeliums dienlich sind? Was kann das Evangelium für diese Menschen bedeuten und welche Relevanz hat es für sie? Welche stadtkirchlichen Aktivitäten entsprechen den primären Kommunikationsformen der Menschen? Wie wirkt sich die Kommunikation des Evangeliums auf das Miteinander der zum Teil höchst heterogenen Personengruppen aus, die in einmaligen oder (un-)regelmäßigen Abständen Kontakt zur StadtKirche haben? Durch all ihr (dauerhaftes oder punktuelles) Engagement bezeugt die StadtKirche das Evangelium von Jesus Christus als Gottes Tun zum Heil und Wohl der Menschen. Dieses Zeugnis geschieht in erster Linie durch Wort und Sakrament und in dem Wissen, dass die Entstehung des Glaubens als Antwort auf dieses Zeugnis ein Werk des Heiligen Geistes und somit dem kirchlichen Tun entzogen ist. Dieses Zeugnis stellt die grundsätzliche Aufgabe der Kirche dar und muss – als evangelisches Profil112 – handlungsleitend für die Gestaltung stadtkirchlichen Lebens sein. Neben einer grundsätzlichen inhaltlichen (sc. evangelischen) Profilierung müssen sich StadtKirchen zudem spezifisch profilieren und durch verschiedene Schwerpunktsetzungen im Engagement in und für die Stadt ergänzen. Je nach Standort, Beschaffenheit und Geschichte des Gebäudes, Zusammensetzung der Gemeinde sowie der hauptamtlich und ehrenamtlich Engagierten hat eine StadtKirche ein bestimmtes Profil und somit spezifische Möglichkeiten der Interaktion mit dem lokalen, regionalen bzw. gesamtstädtischen Kontext. Manche StadtKirchen sind eng mit dem Leben einer Universität verbunden (Dom St. Nikolai in Greifswald), andere mit bekannten Sehenswürdigkeiten oder
110 Sellmann 2017b, 9. 111 Vgl. dazu Schlegel 2013. 112 Zu einem evangelischen Profil vgl. Kirchenamt 2006, 32–35.
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attraktiven Orten (z. B. einer Einkaufsstraße) in ihrem unmittelbaren Umfeld (St. Reinoldi in Dortmund), andere durch eine hochwertige kirchenmusikalische Ausstattung oder eine enge Verbindung mit der Politik (für beides Berliner Dom), wieder andere durch die Nähe zu einem »sozialen Brennpunkt« (Liebfrauenkirche in Gelsenkirchen113) oder durch eine besondere Geschichte (Dresdner Frauenkirche) und schließlich sind einige StadtKirchen selbst eine Sehenswürdigkeit (Kölner Dom).114 Die skizzierte Fülle an unterschiedlichen Aufgaben, vielfältigen Gruppen und umfangreichen Möglichkeiten zur Kommunikation des Evangeliums verdeutlichen, dass StadtKirchen in regionaler Hinsicht als kirchliche Knotenpunkte bzw. Hubs oder Hot Spots fungieren. Dies bedeutet, dass sich an StadtKirchen kirchliches Engagement für die Stadt und deren Gemeinwesen in einem höheren Maße als in Quartiersgemeinden bündelt, da StadtKirchen innerhalb einer Stadt und darüber hinaus bekannt sind und somit über ein höheres Maß an Öffentlichkeit verfügen, welches sie i. d. R. nicht erst herstellen müssen, sondern welches sie meist bereits besitzen. Zudem sind die Gruppen, mit denen StadtKirchen interagieren, in sozio-demographischer Hinsicht deutlich komplexer als an anderen kirchlichen Orten115. Aufgrund dieser Tatsache und dem Umstand, dass die Anzahl an StadtKirchen in einer Stadt für gewöhnlich auf wenige begrenzt ist, eröffnet dies die Möglichkeit, StadtKirchen als strategische Kristallisationspunkte für eine umfangreiche Interaktion mit einer größeren Stadtöffentlichkeit sowie einer Vielfalt von Formaten der Kommunikation des Evangeliums mit den Menschen des nahen, mittleren und fernen Sozialraums zu etablieren. Für eine derartige Etablierung von StadtKirchen müssen diese mit ausreichenden Ressourcen versorgt werden.116 Dies umfasst sowohl personelle (Pastoren, Evangelisten, Diakone, Musiker, Gemeindepädagogen, Sozialpädagogen, Streetworker, Kunsthistoriker, Künstler etc.) als auch finanzielle (Finanzierung des personellen, baulichen Bedarfs sowie Gelder für Öffentlichkeitsarbeit u. ä.) Ressourcen. Die Bedarfe solcher Orte dürfen nicht gegen die Bedarfe an anderen Orten kirchlichen Engagements (Quartiersgemeinden etc.) ausgespielt werden, da diese in keinem Konkurrenzverhältnis, sondern in einer Partnerschaft
113 Vgl. dazu http://gleisx.de (aufgerufen am 9.3.2018). Auch hier gilt mein Dank Kolja Koeniger. 114 Zum Kölner Dom s. o. § 16 Abs. 2.2.1 FN 103 und zur Einschätzung der Bedeutung zentraler Kirchen für die Zukunft der Evangelischen Kirche s. o. § 15 FN 88. 115 Zum Modell kirchlicher Orte vgl. Pohl-Patalong 2003, 212 ff. 116 Als Beispiel kann das Modell City Center Resource Church der Church of England dienen, vgl. Church Growth 2015. Vgl. auch https://www.ccx.org.uk/plant-overview/ und eine Fallstudie zum Thema; https://www.churcharmy.org/Groups/297513/Church_Army/ms/Young_Adults_ research/Harbour_Church/Harbour_Church.aspx (beide aufgerufen am 6.12.2019).
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stehen und letztlich alle der Sendung Gottes auf unterschiedliche Weise nachkommen – jede mit ihrem Recht. Urbane Gemeindeentwicklung, die sich der Sendung Gottes in die Stadt verpflichtet fühlt, wird und muss immer sowohl eine lokale, als auch eine regionale sowie gesamtstädtische Perspektive einnehmen und die verschiedenen Orte kirchlichen Engagements als Einheit betrachten und jeden in seinen bestimmten Stärken und Schwächen ernst nehmen und dies in der Zuteilung von Ressourcen würdigen und berücksichtigen. In dieser Arbeit wurde bereits auf die doppelte missionarische Strategie von StadtKirchen hingewiesen: StadtKirchen sind lokal in den Kontext eingebunden und somit verkörpern sie das inkarnatorische Paradigma, wonach Kirche und Gemeinde zu den Menschen geht und bei ihnen ist. Dies trifft auf StadtKirchen zu, da sie in einen konkreten Kontext eingebunden sind und mit diesem interagieren. Dies ist freilich kein zwingender Umstand, aber es ist ein Potential, welches StadtKirchen innewohnt und das es angesichts der Sendung der Kirche in die Stadt auf seine Bedeutung für die Sendung in diesen bestimmten Kontext zu prüfen gilt. Die Besonderheit von StadtKirchen ist aber, dass ihnen – neben der lokalen Verwurzelung – auch eine überregionale und gesamtstädtische Bedeutung zukommt und sie mit Menschen in Kontakt kommen, deren Lebensmittelpunkt weit entfernt von der jeweiligen StadtKirche liegt. Bei ihnen handelt es sich um Pendler, Touristen, Bewohner anderer Bezirke, die zu bestimmten Veranstaltungen die StadtKirchen besuchen etc. Ein eher attraktionaler Zugang zu einer StadtKirche kann aber auch für Menschen aus dem unmittelbaren Umfeld gelten, welche sonst keinen Zugang zur Gemeinde haben, aber punktuell und zu bestimmten Anlässen eine StadtKirche aufsuchen und deren Angebote wahrnehmen. Die Darstellung der doppelten missionstheologischen Anschlussfähigkeit von StadtKirchen verdeutlicht, dass die beiden Zugänge nicht scharf voneinander zu trennen, sondern aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig ergänzen und von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich genutzt werden. Für viele Menschen gilt, dass ihr Zugang zu einer StadtKirche rein attraktional ist und sie deren Angebote aktiv aufsuchen und dafür ggf. anreisen. Für andere gilt eher, dass ihr Zugang aus der Präsenz der Kirche in ihrem Quartier resultiert und sie eher »zufällig« in Kontakt mit einer StadtKirche kommen, weil sich diese in der Nähe ihrer Wohnung befindet und sie aus einem bestimmten Anlass eine Veranstaltung dieser Kirche besuchen und so ein erster Austausch stattfindet. Bei anderen Menschen wiederum ergänzen sich die Formen der Beteiligung und ändern sich je nach Situation und Anlass. Dies gilt besonders für diejenigen, die in unmittelbarer Nähe der Kirche wohnen und jeden Tag an ihr vorbeigehen. Auch sie können eine StadtKirche intentional aufsuchen und ein kirchliches Angebot aktiv nutzen. Der inkarnatorische Zugang gilt so auch für diejenigen, die eigentlich einen Besuch der Innenstadt planen und
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einkaufen oder Sehenswürdigkeiten besichtigen wollen und dabei ungeplant und spontan eine StadtKirche, ein Konzert oder gar eine Andacht bzw. einen Gottesdienst besuchen. Urbane Gemeindeentwicklung in den Strukturen einer StadtKirche muss die vielfältigen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit den Menschen des Quartiers, der Region und der Stadt reflektieren und prüfen, welche Potentiale dieser doppelte Zugang für eine spezifische StadtKirche besitzt. Dazu ist es nötig, dass diejenigen, die eine StadtKirche gestalten, über eine gute Kenntnis der drei genannten Ebenen einer Stadt (Quartier, nähere und weitere Region, Gesamtstadt) verfügen. Sie müssen hinhören und vom Kontext lernen. Sie müssen nach Möglichkeiten fragen, wie sie diesen Mikro-, Meso- und Makrokontext mit dem Evangelium in Kontakt bringen können und welche Ressourcen ihnen dafür zur Verfügung stehen. Dabei spielt neben der Lage der StadtKirche und der Beschaffenheit des Mikrokontexts auch die Größe der Stadt sowie die Anzahl weiterer StadtKirchen und deren Profil eine Rolle. Insofern ist es sinnvoll, wenn die StadtKirchen einer Stadt miteinander kooperieren und eine gemeinsame Strategie entwickeln, wie sie als ökumenische Gemeinschaft ihre Sendung in die Stadt wahrnehmen wollen. Darüber hinaus ist es ebenso wichtig, dass die StadtKirchen auch mit den anderen Ausdrucksformen von Kirche und Gemeinde interagieren und eine, die eigene Gemeinde und Konfession übersteigende, Perspektive für Gemeindeentwicklung in der Stadt als Ganzer einnehmen. Diese Aufgabe kann der Leib Christi einer Stadt nur gemeinsam wahrnehmen. Die Fülle an Möglichkeiten der Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia ist schlicht zu groß, als dass es einer einzelnen Konfession, geschweige denn einer einzelnen Gemeinde möglich wäre, dieser zu begegnen. Die Komplexität und Vielschichtigkeit einer Stadt fordert von den urbanen Gemeinden Vernetzung, Austausch, Kooperation und Ergänzung. Diese Forderung gilt auch für die verschiedenen StadtKirchen einer Stadt. Eine solche Zusammenarbeit beginnt mit der Klärung der Frage, welche Kirchen einer Stadt überhaupt als StadtKirchen zu betrachten sind.
2.2.4 StadtKirchen als Ausdruck von Kirchen- und Gemeindeentwicklung StadtKirchen sind als Teil des Leibes Christi in die Stadt gesandt, um das Evangelium von Jesus Christus und somit die »großen Taten Gottes« (vgl. Apg 2,11) zu bezeugen. Sie nehmen so an ihrem Ort und im Rahmen ihrer Möglichkeiten Teil an der missio Dei. Dies führt zu der grundsätzlichen Erkenntnis, dass StadtKirchenarbeit nicht kirchliche Kulturarbeit (»Veranstaltungskirchen«117)
117 Vgl. Grünberg 2004, 204.
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oder museale Konservierung städtischer Geschichte, sondern Kirchen- und Gemeindeentwicklung ist. Dies drückt sich einerseits in dem Bemühen um ein evangelisches Profil stadtkirchlichen Arbeitens aus. Zudem folgt daraus, dass die vier o. g. Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung (Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia) auch in StadtKirchen Ausdruck finden müssen. Die Folge: StadtKirchen können sich nicht auf die Pflege ihres Gebäudes oder dessen Image beschränken, sondern müssen sich ihrer Verantwortung stellen, das Evangelium zu bezeugen mit dem Ziel, dass Glaube entsteht und wächst. Diesen Auftrag können StadtKirchen nicht optional als eine mögliche Form ihrer Gestaltung betrachten, sondern als ihre ureigenste Aufgabe und Verpflichtung. Folglich kann das Bezeugen des Evangeliums als die primäre und zentrale Aufgabe von StadtKirchen beschrieben werden. Dies geschieht im Rahmen der congregatio einer StadtKirche.118 Daraus resultiert, dass sich StadtKirchen in irgendeiner Form um die Ausbildung und Pflege gemeindlicher Strukturen kümmern, denn Wort und Sakrament in der Versammlung um das Heilige sind der Ort, an dem sich evangelische Kirche konstituiert. Somit ist die Feier von regelmäßigen Gottesdiensten bzw. gottesdienstlichen Veranstaltungen (Andachten, Meditationen etc.) die Grundlage stadtkirchlicher Gemeindeentwicklung. Daneben gilt es weitere Orte der Bezeugung des Evangeliums zu identifizieren und zu etablieren. Diese Orte können im Rahmen diakonischen, kulturellen oder politischen Engagements geschehen, welches sich im Umfeld der StadtKirche vollzieht. Ebenso können (Kunst-)Ausstellungen in der Kirche dem Zeugnis des Evangeliums dienen (s. o. das Beispiel von silentMOD im Kölner Dom). Ziel dieser Aktivitäten und Bemühungen ist, eine Gemeinde der Heiligen um das Heilige zu sammeln und diese zu ihrer Sendung in die Stadt zu befähigen. Die Städter, die teil an einer StadtKirchen-Gemeinde haben, werden dies in unterschiedlicher Intensität und auf vielfältige Weise tun. Darauf kann und muss eine StadtKirche sich einstellen. Neben denen, für die eine dauerhafte und intensive Teilhabe an der communio möglich ist, wird es solche geben, die aufgrund ihrer persönlichen Situation (bspw. kurze Wohndauer in der Stadt) oder aufgrund ihres Kontakts zur StadtKirche (Touristen etc.) nur punktuell Teil der Gemeinde sind. Eine wichtige Aufgabe für stadtkirchliche Gemeindeentwicklung ist es, einen stabile communio zu etablieren, die mit einem hohen Maß an Fluktuation umgehen kann und es Menschen auch ermöglicht, punktuell an der communio teilzuhaben und Zugang zum Evangeliumszeugnis in Wort und Sakrament zu bekommen.
118 Zur Bedeutung der Gemeinde für die Wahrnehmung dieser Aufgabe s. o. § 16 Abs. 1 und vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 305–308.
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2.2.5 Öffnung von StadtKirchen zur Nutzung durch andere städtische Akteure Wolfgang Grünberg schreibt über Stadtkirchen: »Man darf öffentliche Symbole wie diese Kirchen nicht als quasi privates Eigentum einer Kirchengemeinde ansehen, selbst wenn dies grundbuchlich so ist.«119 Diese Feststellung Grünbergs, die sich mit der Darstellung und Beurteilung von StadtKirchen in der vorliegenden Arbeit deckt, konfrontiert mit der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, die Nutzung von StadtKirchen über den Kontext der Gemeinde hinaus zu verstehen und eine gemeinsame Nutzung von StadtKirchen, sowohl durch die Gemeinde selbst als auch durch alle Bewohner der Stadt, zu ermöglichen. Eine solche Öffnung der Nutzung liegt aus mehreren Gründen nahe: Zunächst leistet die Kirche einen praktischen Beitrag zum Gemeinwesen, wenn sie die Möglichkeit der Nutzung einer StadtKirche – über die gemeindlichen Angebote hinaus – eröffnet, denn auf diese Weise wird ein großer Raum in zentraler Lage zugänglich, ohne dass dies mit übermäßigen Kosten verbunden ist. Zudem ist die überregionale Bekanntheit der StadtKirche sowie die möglicherweise lokale Identifikation mit ihr bereits eine Ressource in sich, da diese Tatsache einen Zugang zur StadtKirche erleichtert, denn eine StadtKirche muss sich ihren Status in einer Stadt i. d. R. nicht erst erarbeiten – sie besitzt ihn bereits. Diese Ressource muss auf ihr Potential zur Kommunikation des Evangeliums mit möglichst vielen Städtern und Gästen befragt werden. Denkbar wäre eine Mischnutzung120, die mit den verschiedenen Partnern möglichst genau festgelegt werden sollte. Ein erster Schritt dazu wäre es, mit denen, die politische und soziale Verantwortung für die Stadt tragen, auszuloten, welche Bedarfe und Möglichkeiten es gibt, die Nutzung einer StadtKirche für andere als die Gemeinde/Kirche zu öffnen. So könnte eine StadtKirche zu verschiedenen Tageszeiten von ganz unterschiedlichen Trägern und Institutionen genutzt werden. Ein erster nahe liegender Partner wäre die Diakonie (bzw. die Caritas), welche Sozialberatung, Flüchtlingshilfe oder ein Seniorenprogramm anbieten könnte. Möglich wäre auch die Einrichtung einer Tafel (in städtischer, diakonischer oder sonstiger Trägerschaft), die an bestimmten Tagen der Woche Menschen mit preiswerten Lebensmitteln versorgt. Außerdem könnten verschiedene Künstler die Kirche für Ausstellungen und Vernissagen nutzen. Eine grundsätzlichere, weil mit baulichen Konsequenzen verbundene Nutzung, wäre die Umgestaltung des Inneren des Kirchturms zu einer Kletter-
119 Grünberg 2004, 75. Oder anders: »Die City-Kirchen als Stadtkirchen gehören nicht den Kirchenmitgliedern, sondern den Bürgern der gesamten Stadt.« (AaO., 207). 120 Vgl. dazu Schüßler 2014, 36 f.
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halle121. Weitere Möglichkeiten der Mischnutzung wären die Feier von Abendandachten oder Abendgottesdiensten durch Christen anderer Denominationen. Dies werden zumeist eher kleine Konfessionen sein, die über wenig bis keine Infrastruktur in der Stadt verfügen (z. B. orthodoxe oder freie Gemeinden, Migrationsgemeinden, urbane Kommunitäten). Die wenigen Beispiele zeigen, dass eine solche Öffnung und Mischnutzung einer StadtKirche sehr individuell entschieden und gestaltet werden muss und sich sehr stark an den baulichen Gegebenheiten der Kirche sowie deren Nutzung und Kontext orientiert. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass eine solche Öffnung die Kontaktflächen für eine Kommunikation des Evangeliums stark erhöht und eine große Chance bietet, mit den unterschiedlichsten Menschen von nah und fern in Kontakt zu treten und ihnen sowohl praktisch zu dienen als auch die Möglichkeit zu eröffnen, das Evangelium bezeugt zu bekommen und mit Glauben darauf zu antworten. Dazu gehört folglich die Bereitschaft und Fähigkeit zur proaktiven Gestaltung dieser Kommunikation und somit zum mutigen und kontextuellen Bezeugen des Evangeliums von Jesus Christus.
2.3 Frische Ausdrucksformen urbaner Kirche (fAuK) als urbane Variante von Fresh Expressions of Church »A fresh expression is a form of Church for our changing culture established primarily for the benefit of people who are not yet members of any church.«122 Die Darstellung von fxC unter § 15 Abs. 3 hat gezeigt, dass sich fxC exzellent für eine Orientierung an Netzwerken123 eignen und zugleich nicht darauf reduziert werden können. Ihre Fülle an möglichen Bezugspunkten entspricht der Fülle an Optionen und möglicher Formen urbaner Gemeindeentwicklung und ergänzt somit quartierorientierte und stadtkirchliche Gemeindeentwicklung. Heinzpeter Hempelmanns Metapher einer »Kirche, die sich der Lebenswelt der
121 Vgl. dazu die Kletterkirche H3 in Metzingen (http://h3metzingen.de – aufgerufen am 9.3.2018) und die Kletterkirche Mönchengladbach (http://www.kletterkirche.de/news.php – aufgerufen am 9.3.2018). 122 Goodhew et al. 2012, 75. 123 Ausführlicher zum Thema Netzwerke s. u. § 16 Abs. 4. Zu Gemeinde in Netzwerken vgl. Nord 2014. Für eine empirische Untersuchung im Rahmen der KMU V vgl. Stegbauer 2018. Eine kirchentheoretische Untersuchung der Netzwerkstruktur von Kirchengemeinden im Verhältnis zum Hybrid Kirche vgl. Hauschildt 2018. Weiterführend vgl. auch Lehmann 2018 und Hörsch/ Pompe 2018. Eine konzise Einführung zu Netzwerken aus stadtsoziologischer Perspektive vgl. Häußermann/Siebel 2004, 112–116.
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Menschen so anpasst, wie eine Flüssigkeit eine Form ausfüllt«124 veranschaulicht dieses Potential von fxC. Man könnte davon sprechen, dass fxC (potentiell) für all diejenigen städtischen Orte, Sozialräume und Menschen(-gruppen) Gemeinde sein kann, für die weder Quartiersgemeinden noch StadtKirchen eine geeignete Ausdrucksform von Kirche darstellen. Das hohe Maß an Pluralität ist zweifelsohne das Proprium von fxC. Als Reaktion auf das doppelte Hören stellen fxC eine Form von Gemeindeentwicklung dar, welche Varianten von Gemeinde entwickeln kann, die prinzipiell auf jede mögliche urbane Situation, Personengruppe etc. zugehen und Konkretionen von Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia bilden können, die für diese Menschen oder diese spezifische Herausforderung angemessen und somit hilfreich für die Kommunikation des Evangeliums sein können. Dabei sind fxC aber nicht beliebig, sondern müssen die o. g. vier Merkmale sowie zehn Kriterien erfüllen. Zudem ist die servingfirst-journey mehr als nur ein Vorschlag – sie dient zur strategischen Orientierung und legt Prioritäten zur Herangehensweise und Umsetzung von fxC fest. Die letzte vorzustellende urbane Ausdrucksform von Kirche lehnt sich eng an fxC an und ergänzt die Grammatik von fxC um die Ekklesiologie von CA VII. Der ekklesiologische Fokus liegt somit – ähnlich wie bei den kirchlichen Orten von Uta Pohl-Patalong – auf den notae ecclesiae nach CA VII, unabhängig von Ort (Gebäude), Art (Struktur) oder Größe der Versammlung. Von primärem Interesse ist das, was geschieht: Sammlung um das Heilige zur Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament. Dies kann in einer Hauskirche, einem Café, einer diakonischen Einrichtung, einem Gebetshaus125 oder einem Schulgebäude geschehen. Der Fokus liegt also auf der Gemeinde, die sich versammelt – geplant oder spontan.126 Die Art, wie sich diese congregatio ereignet, folgt dabei der Logik der fxC-Grammatik und buchstabiert diese im urbanen Kontext durch. Diese letzte darzustellende Form urbaner Gemeindeentwicklung wird als frische Ausdrucksform urbaner Kirche (fAuK) bezeichnet. Der Begriff fängt die Kombination von fxC-Grammatik mit evangelischem Kirchenverständnis im urbanen Kontext ein. Diese evangelische Profilierung des Modells von fxC für den urbanen Kontext eröffnet eine formale Pluralität und schließt eine evangelische Kritik an den Bedingungen urbanen Lebens aus-
124 Hempelmann 2012, 100 f. 125 Eines der prominenteste Gebetshäuser ist wahrscheinlich das Gebetshaus Augsburg, vgl. https:// www.gebetshaus.org (aufgerufen am 25.10.2018). 126 Vgl. dazu das Projekt popupchurch, welches von Vikarinnen und Vikaren der Nordkirche initiiert wurde: http://popupchurch.de. Vgl. auch https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/die-kirche-die-da-ist-wo-du-bist/; und https://www.nordkirche.de/ nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/wenn-die-kirche-auf-das-volksfest-kommt/ (aufgerufen am 13.10.2018).
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drücklich ein. Die ekklesiologische Füllung von fxC definiert das Ziel urbaner Gemeindeentwicklung als Glauben an das Evangelium, welcher eine einzelne soziale Gruppe, einen geographischen Ort oder ein urbanes Thema übersteigt. FAuK ergänzen die beiden bisher dargestellten Ausdrucksformen auf hervorragende Weise: Fokussiert die Quartiersgemeinde den lokalen Bereich und kombinieren StadtKirchen den lokalen mit dem regionalen und gesamtstädtischen Raum, so können fAuK als evangelische und urbane Variante von fxC nicht nur an bestimmten Orten (mit lokaler, regionaler und städteweiter Orientierung) entstehen, sondern sich auch um eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder Schicht, um ein Thema bzw. Anliegen oder auch um ein Gebäude herum entwickeln. Somit sind fAuK neben Quartiersgemeinden diejenige Ausdrucksform urbaner Gemeindeentwicklung, deren Konkretion am stärksten vom Kontext geprägt werden kann und soll. StadtKirchen können sich ebenfalls darum bemühen (zumal in dem hier dargestellten Ansatz), sind aber deutlich stärker von Vorgaben abhängig, die sie nicht beeinflussen können. Quartiersgemeinden stellen dagegen bereits selbst den Versuch dar, die formale Ausgestaltung und Organisation einer Gemeinde aus dem Kontext abzuleiten. Jedoch ist der Fokus bei Quartiersgemeinden, durch die Orientierung an der geographischen und sozialen Größe des Quartiers, ein auf diese Aspekte reduzierter Fokus.127 FAuK transzendieren diese Fokussierung, indem sie nahezu voraussetzungsfrei sind und mehrere Fokusse (zugleich) einnehmen können. Die o. g. Stärken von fxC verdeutlichen, dass diese Form von Gemeindeentwicklung eine hohe Anschlussfähigkeit für den urbanen Raum besitzt. Dieses Potential gilt es für urbane Gemeindeentwicklung zu nutzen und kirchliches Leben in der Stadt durch Gemeindeformen zu bereichern, die sich an fxC orientieren. Zugleich stellt das hohe Maß an Pluralität und Ausdifferenzierung von fxC eine Schwäche dar, denn es besteht die Gefahr, dass die urbane Segregation 127 Eberhard Hauschildt verweist darauf, dass die Gemeinschaft einer Gemeinde deutlich komplexer sei, als dass sie sich auf einen geographischen oder sozialen Ort beschränken ließe: »Gemeinde ist ein Netzwerk von Gruppen, die zueinander in stärkerem oder geringerem Maß nicht nur organisatorisch (sie sind alle im Gemeindebrief aufgeführt) oder lokal (sie treffen sich im Gemeindehaus) miteinander formal verknüpft sind. Sondern sie sind erkennbar über konkrete Personen mit Mehrfachzugehörigkeiten vernetzt. Damit wird die kirchentheoretische Idee der ›relativen Vergemeinschaftung‹ noch einmal deutlicher: Eine totale Abgeschlossenheit der Gruppen gegeneinander gibt es nicht nur innerkirchlich nicht, sondern auch nicht als Abgeschlossenheit gegenüber Gruppen außerhalb der Kirchengemeinde. Die Relativität der Vergemeinschaftung besteht auch nicht nur in der Differenz von Gruppe und Individuum, sondern sie ergibt sich auch aus der über Individuen hergestellten Verknüpfung zwischen den Mikrokulturen der Gruppen.« (Hauschildt 2018, 85). Und weiter: »Die Gemeinde als Großgruppe face to face (statt der regionalen und überregionalen Kirche) ist dennoch nicht eine überschaubare Gemeinde; sie besteht vielmehr aus einer ziemlich komplexen und weitgehend recht undurchschaubaren Gemeinschaft.« (AaO., 87 – Hervorhebung im Original).
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in die christliche Gemeinde hinein verlängert wird und die Gemeinde diese Dynamik fördert und verstetigt und so ihr kontrakulturelles Potential verliert.
2.3.1 FAuK und urbane Segregation Um die faktische (geglaubte und bekannte) Einheit der Kirche (s. o. § 9 Abs. 3) angesichts der vielfältigen Formen von fAuK ansichtig zu machen, hilft eine Orientierung an den vier Dimensionen von Kontextualisierung, welche zu Beginn der Arbeit (§ 2 Abs. 2.1) im Bezug auf Christian Grethlein128 eingeführt wurden. Aufgrund der kirchlichen Sendung in den pluralen urbanen Kontext ist es unverzichtbar, dass sich Gemeinde ausdifferenziert. Aber sie erschöpft sich darin nicht. Ihr Ziel muss es sein, die faktische Einheit in Christus (Gal 3,27f) auch materialiter abzubilden. Zunächst weist die kontextuelle Dimension darauf hin, dass eine Kommunikation des Evangeliums nur in Verbindung mit einer bestimmten Kultur geschehen kann. Die kulturell wechselwirksame Dimension beschreibt zudem die Verbindung der Elemente des kirchlichen Lebens mit kulturellen Formen des Kontexts mit dem Ziel einer wechselseitigen Bereicherung. Die »kulturelle Wechselwirksamkeit des Evangeliums eröffnet [sodann] den Weg zu neuen Ausdrucksformen.«129 Diese beiden Dimensionen von Kontextualisierung fordern und ermöglichen die Entstehung von fAuK. Um die urbane Segregation jedoch nicht in die christliche Gemeinde hinein zu verlängern, müssen fAuK die Menschen, die auf das Zeugnis des Evangeliums mit Glauben antworten, in den größeren Rahmen der Zugehörigkeit zum universalen Leib Christi führen. Dies transzendiert eine bestimmte lokale Ausdrucksform von Gemeinde. Dazu gehört die Einführung in zentrale Grundvollzüge christlichen Glaubens (Sakramente, Gottesdienst, Gebet, Lektüre der Bibel, Gemeinschaft, sozialer Dienst), welche als kulturübergreifende Dimension die verbindenden und kulturtranszendierenden Elemente des Glaubens darstellen, in welchen sich die Einheit der Christen praktisch ausdrückt. Wie ökumenisch und nachhaltig die Arbeit von fAuK ist, hängt somit entscheidend davon ab, ob es ihnen gelingt, ihren Mitgliedern einen (potentiellen) Anschluss an eine andere Gemeindeform zu ermöglichen und sie darin zu befähigen, den eigenen Glauben als unabhängig von einer spezifischen Gemeindeform zu gestalten. Rowan Williams schreibt: »To be converted is to discover a common perspective, not dependent on a specific group’s concern or interest.«130
128 Vgl. Grethlein 2016, 190–194 und ders. 2018a, 41–45. 129 Grethlein 2018a, 45. 130 Williams 1994, 8. (Zitiert nach Moynagh 2012, 176).
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Die kulturübergreifende Dimensionen beinhaltet zugleich eine kontrakulturelle Dimension – welche der urbanen Entmischung die Einheit im Glauben an das Evangelium entgegensetzt. Die kontrakulturelle (oder kulturkritische) Dimension folgt der Einsicht, dass einige (bzw. alle) Bestandteile jeder Kultur von Sünde geprägt und entsprechend sündhaft sind und im Widerspruch zum Evangelium und dessen Werten stehen. Im Bezug auf Eph 2,14 und Gal 3,28 kann mit Andrew Davison und Alison Milbank festgehalten werden: »segregation is segregation and it is in conflict with the Christian gospel.«131 Ein weiteres kontrakulturelles Argument bietet die Barmer Theologische Erklärung (s. o. § 9 Abs. 6) an. In der dritten These fordert sie, dass die Kirche »mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder«132 bezeugt, dass »sie allein sein [Christi] Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.«133 Diese positive Forderung verdeutlicht, dass die Kirche neben ihrem Glauben, ihrem Gehorsam und ihrer Botschaft, auch mit ihrer Ordnung ihre Zugehörigkeit zu Christus bezeugt. Die in der Taufe begründete und im Leib Christi als Gemeinde realisierte Gemeinschaft mit Christus (Gal 3,27f), unterscheidet die Kirche von ihrer Umwelt. In negativer Abgrenzung formuliert Barmen: »Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.«134 Dies unterstreicht die Grenze einer Kontextualisierung des kirchlichen Dienstes. Es ist der Gemeinde Jesu Christi verwehrt, sich eine Ordnung vom Kontext vorgeben zu lassen – zumal wenn diese im Widerspruch zum Evangelium steht. So sehr eine gemeindliche Ausdifferenzierung um der Sendung Gottes willen nötig und ekklesiologisch möglich ist, so wenig ist eine Übertragung von gesellschaftlicher Entmischung für die Kirche eine ernsthafte Option. Die vier Dimensionen von Kontextualisierung eröffnen und begrenzen die Einlassung und Interaktion der Gemeinde auf den jeweiligen Kontext. Sowohl angesichts der kirchlichen Sendung als auch angesichts urbaner Segregation lautet die zentrale und leitende Erkenntnis: Kontextualisierung ist unumgänglich, aber begrenzt. Der englische Theologe Michael Moynagh schlägt das Konzept von »focu� sed-and-connected church« vor.135 Mit diesem Ansatz grenzt er sich von dem 131 Davison/Milbank 2010, 66. 132 Nicolaisen 2009, 39. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Vgl. Moynagh 2012, 171–180 und 190–193.
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oben dargestellten Homogenous Unit Principle (HUP) von Donald McGavran ab, indem Moynagh Homogenität und Heterogenität als gleichermaßen wichtig für Gemeindeentwicklung würdigt: »connecting up is as important as being cultural specific.«136 Moynaghs Ansatz beschreibt kulturell fokussierte Gemeinden und Gemeinschaften (focused), welche in enger Verbundenheit und regelmäßigem Austausch mit dem weiteren Leib Christi stehen (connected). Somit ist eine kontextuelle Anpassung durch Homogenität ermöglicht und gleichzeitig eine Einbindung in den weiteren – die konkrete Situation transzendierenden – heterogenen Leib Christi gewährleistet. Moynagh setzt sich auch von Davison/Milbank ab, indem seine Beschreibung die Möglichkeit eröffnet, dass nicht nur einzelne Gruppen innerhalb einer Gemeinde, sondern auch ganze Gemeinden kulturell und sozial homogen sein können.137 Das Zusammenspiel von fokussierter (focused) und verbundener (connected) Gemeinde beschreibt Moynagh so: »Someone is drawn into a church for young adults, and is then invited to a pilgrimage or Christian conference containing a range of age groups. If the person had not been attracted by the homogeneity of the age-based church, they would not have ended up in the more heterogeneous event.«138 Im Bezug auf fAuK besteht das Resultat von Moynaghs Ausführungen darin, dass fAuK sich darum bemühen müssen, mit dem weiteren Leib Christi verbunden zu sein. Dies beginnt damit, dass fAuK ihre Mitglieder in die kulturtranszendierenden Grundvollzüge des christlichen Glaubens einführt und mit diesen vertraut macht. Des Weiteren äußert sich diese Bemühung im Kontakt zu und Austausch mit Christen, Gruppen und Gemeinden der eigenen Konfession. Sie endet dort aber nicht. Die Sendung aller Christen in die Stadt beinhaltet eine ökumenische Orientierung und Kooperation. Solche Kontakte zu fördern ist sowohl Aufgabe der Leitung einer fAuK als auch eines jeden Christen, der daran teilhat.139
136 AaO., 171. 137 Zur Begründung seines Ansatzes bezieht sich Moynagh auf die Texte des Neuen Testaments (vgl. aaO., 171), auf soziologische Erkenntnisse (vgl. aaO., 171–173) sowie auf div. theologische Themen (vgl. aaO., 173–179). Die Qualität der einzelnen Bezüge soll hier nicht verhandelt werden, weil es den Wert des Ansatzes nicht verringert, auch wenn manche Begründung m. E. fundierter hätte sein können. 138 AaO., 173. Moynagh summiert: »In short, focused-and-connected church reflects two human instincts. People naturally gravitate to affinity groups, but they also want to belong to a bigger whole. In certain respects, contemporary developments are making both these aspects of church easier. Better communications help believers to find others of a like mind and associate with them.« (Ebd.). 139 »Culture-specific churches can behave in a similar way. Having received the gospel from one culture, recipients use their ›bridging ties‹ to carry the gospel to a different culture. Someone who comes to faith through church in a leisure centre, for example, might start church in a
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Die theologische Anschlussfähigkeit des Ansatzes von Moynagh zeigt sich im Bezug auf die soziale und geographische Reichweite des neutestamentlichen Begriffs ekklesia: »Ekklesia« bezeichnet im Neuen Testament drei deutlich voneinander unterschiedene Sozialformen: »Ekklesia« heißen die Christen im ökumenischen, also den ganzen bewohnten Erdkreis umfassenden Sinn (1Kor 4,17; Mt 16,18). »Ekklesiai« (Plural) begegnen in Städten, etwa in Korinth (1Kor 1,2) oder in Landschaften, z. B. in Syrien und Zilizien (Apg 15,41). Mehrfach wird das »Haus«, also die soziale Vorform der Familie, »ekklesia« genannt (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Phlm 2; Kol 4,14). »Ekklesia« umfasst also Hausgemeinden, Orts- und Provinzialgemeinden und die weltweite Ökumene. Dabei gibt es keine Prioritäten oder Nachordnungen. Sachlich haben die drei verschiedenen Sozialformen den Bezug auf Jesus Christus als gemeinsamen Grund. Dies findet für jeden einzelnen Menschen persönlich in der Taufe Ausdruck.140
Bereits im Neuen Testament lässt sich ein ausdifferenziertes Verständnis von Kirche (ekklesia) und eine entsprechende Vielfalt an kirchlichen Ausdrucksformen nachweisen. Verbindendes Elements dieser verschiedenen Ebenen und Sozialformen ist die Taufe und somit die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Sie begründet die Einheit der Kirche. Dies bedeutet auch, dass die konkreten Strukturen und Gestalten von Gemeinden nicht ein Kriterium für deren Kirche-Sein darstellen. Verbindet man diese Einsicht mit den Ausführungen Moynaghs, wird ersichtlich, dass urbane Gemeinde um der Menschen und der Mission willen fokussiert und um des Evangeliums und der Einheit der Kirche willen ökumenisch vernetzt sein muss. Somit ist eine kulturelle Ausdifferenzierung sowie eine enge Verbindung der verschiedenen fAuK geboten. Je nach Größe einer Stadt kann dies auf Bezirks- oder Stadtebene geschehen. Eine kirchliche Region wäre dafür ebenfalls geeignet. Was für die fAuK gilt, gilt in größerem Maßstab ebenso für alle Ausdrucksformen urbaner Kirche einer Stadt (s. u. § 16 Abs. 4). Die intentionale und nachhaltige Zuwendung zu entmischten Stadtgebieten, -quartieren und Stadtvierteln sowie zu geschlossenen Gruppen und Milieus kann also als eine missionarische Notwendigkeit beschrieben werden, die selbst nicht das Ziel der Bemühung um einen Beitrag zum Gemeinwesen einer Stadt darstellt. Sie bildet gewissermaßen eine Zwischenetappe bei der Suche nach einer Verbindung verschiedener Gruppen und Personen miteinander ab. Wird workplace. Salvation is transmitted through the relationships between cultures. As Newbigin says, since restored relationships are integral to the goal of salvation, the means fit the end.« (AaO., 175). 140 Grethlein 2014a, 147 f. Vgl. auch ders. 2018b, 89–91. Vgl. auch Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 272.
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dieser Zwischenschritt jedoch unterlassen, besteht die Gefahr einer doppelten Überforderung: eine Überforderung der fAuK auf der einen Seite und eine Überforderung der Städter auf der anderen Seite. Für eine fAuK, die sich darum bemüht mit den Personen ihres Kontexts das Evangelium zu kommunizieren, stellt es eine Erleichterung dar, diese Personengruppe bzw. den Ort oder den Anlass einzuschränken, indem man diese genauer beschreibt und nicht das Ziel verfolgt, »mit allen« kommunizieren zu wollen bzw. zu müssen. Ebenso ist eine Kommunikation des Evangeliums, welche sensibel für den Kontext und dessen Personen(-gruppen) ist, eine Hilfe für jene Menschen, die darin bisher wenig bis keine Erfahrung haben. Eine fAuK, die um die Kommunikationsgewohnheiten, die Vorerfahrungen und Erwartungen derer weiß, die sie als Partner für eine Kommunikation zu gewinnen sucht und deshalb alle unnötigen Schwellen senkt, sorgt für das ihr Mögliche, um eine Begegnung mit dem Evangelium zu eröffnen und zu ermöglichen.
2.3.2 FAuK und die Grammatik von fxC Die fxC zugrundeliegende »Grammatik«141 fungiert als theologische und strukturelle Klammer, welche die Vielfalt an fAuK zusammenhält und sicherstellt, dass nicht jede denkbare Form christlicher Existenz und Aktivität als fAuK etikettiert wird. Noch stärker als bei Quartiersgemeinden und StadtKirchen beginnt die Existenz einer fAuK mit dem doppelten Hören (s. o. § 14). Ohne Kenntnis der Sendung Gottes und des Kontexts mit dessen spezifischen Herausforderungen, Bedarfen, Nöten und Potentialen kann eine fAuK keine Gestalt annehmen, die dem Kontext entspricht und dient. Somit müssen – bei aller Fluidität und Pluralität – die vier Kriterien (missional, contextual, formational, ecclesial) und zehn Indikatoren142 einer fxC als Fixpunkte und Leitlinien zur Entstehung, Gestaltung und Intention einer fAuK gelten (s. o. § 15 Abs. 3.1). Sabrina Müller schreibt zu den zehn Kriterien: »Gemeinschaften, welche sich in den Punkten eins bis sechs nicht qualifizieren können, sind keine fxC. Die Indikatoren sieben bis zehn werden als Gesundheitsmerkmale betrachtet, nicht als Exklusivitätskriterien.«143 Die Indikatoren zeigen deutlich, dass eine fxC nicht
141 Dass die Grammatik von fxC auch die Darstellung der anderen beiden in dieser Arbeit vorgestellten Ausdrucksformen urbaner Gemeindeentwicklung geprägt hat, ist offenkundig. Die hohe Anschlussfähigkeit dieser Grammatik ist zweifellos ihre große Stärke und eine Anwendung der theologischen Grundprinzipien auf andere Ausdrucksformen von Kirche ist sowohl fruchtbar als auch hilfreich und stellt eine Bereicherung für das Nachdenken über Gemeindeentwicklung im Allgemeinen und urbaner Gemeindeentwicklung im Besonderen dar. 142 Vgl. Church Army Research Unit 2013, 9. 143 Müller 2016, 46.
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erst dann als fxC gilt, wenn sie alle Kriterien oder Merkmale erfüllt, sondern dass die Absicht, dies zu tun als ein Sein im Werden gewürdigt wird und der Prozesscharakter der Entstehung einer fxC berücksichtigt werden muss. Der Begriff Indikatoren spiegelt diesen prozessorientierten Zugang. Im Blick auf fAuK können folgende Indikatoren und Kriterien skizziert werden: • Eine fAuK wendet sich intentional solchen Menschen zu, die außerhalb der Kirche sind und bisher keinen oder wenig Kontakt zur Kirche haben. Ziel ist es, mit diesen Menschen das Evangelium in Wort und Sakrament zu bezeugen (Martyria und Leiturgia). FAuK lassen sich dabei kulturell sowie strukturell auf die Lebenswelt dieser Menschen ein. Sie übertragen keine bereits bestehende kirchliche Struktur auf die Lebenswelt der Menschen, die sie zu gewinnen suchen, sondern lassen sich von dem Kontext die nötigen Strukturen vorgeben. Dies entspricht den Merkmalen missional (missional) und kontextuell (contextual). • Die Gründung einer fAuK intendiert die Schaffung einer neuen christlichen Gemeinschaft, die mehr als die Adaption einer bereits bestehenden Gruppe ist (Koinonia). Diese Gruppe trifft sich mindestens einmal pro Monat und vertieft Themen wie Gemeinschaft, Verbindlichkeit und Nachfolge. Sie ist (potentiell) ein Ort, an dem das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird. Sie verfolgt die Absicht eine frische Ausdrucksform von Kirche zu bilden und nicht ein evangelistisches Projekt einer bestehenden Gemeinde. Diese frische Ausdrucksform hat einen Namen und ist somit identifizierbar. Absicht und Anliegen der fAuK ist es, dass Menschen auf das Zeugnis des Evangeliums mit Glauben antworten und in ein lebendiges, mündiges Christsein hineinwachsen. Die sich daraus entwickelnde Sozialgestalt bemüht sich um Verbindlichkeit und gegenseitige sowie auf den Kontext bezogene soziale Verantwortung (Diakonia). Dies entspricht den Merkmalen gemeindebildend (ecclesial) und lebensverändernd (formational). • Das Ziel von fAuK besteht darin, eine Gemeinde zu werden (Koinonia und Diakonia), auch wenn sich die entstehende fAuK noch im Durchgangsstadium befindet und bisher nur in Teilbereichen neue Ausdrucksformen schafft (Formen von Evangelisation oder neue Musikstile und alternative liturgische Ausdrucksweisen). Bei der sich entwickelnden fAuK handelt es sich um eine von der Evangelischen Kirche befürwortete und anerkannte (entstehende) Ausdrucksform von Evangelischer Kirche. Die gestaltgewinnende fAuK bewegt sich im Rahmen geltenden kirchlichen Rechts und befindet sich in engem Austausch mit den für die kirchliche Region bzw. Parochie zuständigen kirchlichen Vertretern. Dieses Merkmal ist gemeindebildend (ecclesial).
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Der serving-first-journey (1. Hören, 2. Liebevoller Dienst, 3. Aufbau von Gemeinschaft, 4. Einüben in Nachfolge, 5. Neue Ausdrucksform von Kirche, 6. Wiederholung)144 kommt nicht im gleichen Maße Verbindlichkeit zu wie den vier Kriterien sowie den zehn (bzw. sechs) Indikatoren. Sie dient jedoch zur Bestimmung erster Schritte und zur Setzung von Prioritäten im Rahmen der Entwicklung und Gestaltung einer fAuK. Zudem hilft sie zur Orientierung, welche Entwicklung sich bewährt hat und wie sich eine gesunde Genese von neuen kirchlichen Ausdrucksformen gestaltet. Dass die Reihenfolge dabei nicht zwingend und die Übergänge fließend sind, wurde oben (§ 15 Abs. 3) bereits dargestellt. Um die Funktion der Grammatik von fxC zu bestimmen, hilft es die Implikationen dieses Bildes darzustellen: Eine Grammatik legt nicht fest, was wem in welcher Lautstärke und welcher Wortwahl, wie oft und mit welcher Intention gesagt wird. Sie legt jedoch eindeutig fest, wie etwas gesagt wird, damit es verstanden und nachvollzogen werden kann. Insofern kann die konkrete Ausgestaltung einer fAuK dem Kontext und den Bedarfen entsprechend sehr unterschiedlich aussehen. Dabei müssen sich fAuK aber entsprechend der notae ecclesiae nach CA VII und der Grammatik von fxC qualifizieren. Die oben (§ 15 Abs. 3.1) genannte Typisierung von fxC145 ist zur grundsätzlichen Orientierung hilfreich, birgt aber die Gefahr, dass noch vor einer Begegnung mit Bibel und Tradition sowie mit dem Kontext festgelegt wird, welche Ausdrucksformen möglich sind und welche nicht; es droht die Gefahr einer kognitiven Reduktion. Für die Arbeit mit fAuK als Form urbaner Gemeindeentwicklung plädiert die vorliegende Arbeit deshalb für eine konsequente Konzentration erstens auf die Sendung Gottes mit all ihren Implikationen und zweitens auf den Kontext mit all seinen Potentialen und Herausforderungen unter Anwendung der oben dargestellten Grammatik von fxC im Rahmen einer evangelisch formatierten Ekklesiologie. Dieses Vorgehen birgt das Potential, Formen von evangelischer Gemeinde zu entwickeln, welche sowohl in der missio Dei als auch im Kontext verwurzelt sind, so dass neue Ausdrucksformen von Kirche entstehen können, welche das Evangelium in den Kontext hinein kommunizieren und die vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung (Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia) für einen bestimmten Ort konkretisieren und sich darin den vier Dimensionen der Kontextualisierung verpflichtet wissen. Dies kann ein Ort in geographischer Hinsicht, aber auch ein »Ort« i. S. e. bestimmten sozialen Netzwerks146 einer gesellschaftlichen Gruppe oder ein urbanes Thema sein. 144 Vgl. Weimer 2016, 34–36. 145 Vgl. Müller 2016, 51. 146 Definition von Netzwerk: »Geflechte oder Strukturen, die aus den Verbindungen einzelner Elemente entstehen. Das heißt, es sind einzelne Entitäten als Knoten identifizierbar und jeweils separierbar. Die Verbindungsstrukturen sind ebenfalls in ihrer Art benennbar und in Qualität
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2.3.3 FAuK an geographischen Orten, in sozialen Netzwerken und anhand thematischer Anlässe In geographischer Hinsicht kann ein solcher Ort ein Quartier, eine Straße, ein (segregiertes) Wohngebiet, ein Verkehrsknotenpunkt147, eine Einkaufsstraße bzw. ein Einkaufszentrum oder ein einzelnes Geschäft, eine Pflegeeinrichtung, ein Bahnhof, eine Schule oder ein Gefängnis, ein Café, ein Friseursalon usw. sein. Im Grunde ist jeder Ort denkbar, an dem Menschen zugegen sind. Selbst Frequenz und Dauerhaftigkeit der Gegenwart von Menschen kann an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich sein, bzw. auch an einem Ort fluktuieren. Dieser Ort muss nur als Ort identifizierbar sein. Bereits die Varianz in Größe und Dauer des Orts verdeutlicht die Pluralität der denkbaren Formen von fAuK in lokaler Perspektive. Neben fAuK, die sich an Orten orientieren, können auch welche in Netzwerken148 (ausführlicher zum Thema Netzwerke s. u. § 16 Abs. 4) bzw. unter besonderen sozialen Gruppen einer Stadt entstehen. Bei den Gruppen kann es sich um Flüchtlinge, alte Menschen, Jugendliche, junge Eltern, obdachlose Menschen, benachteiligte Kinder usw. handeln. Es können aber auch Mitglieder eines sozialen Netzes sein, bspw. die Mitglieder des Fördervereins einer Schule, die Fans eines Sportvereins, die Ehrenamtlichen eines AntirassismusNetzwerks. Analog zur Orientierung unter lokalen Vorzeichen sind auch der Zuwendung zu bestimmten Gruppen keine Grenzen gesetzt. Dabei ist es i. d. R. sehr wahrscheinlich, dass die Christen, die sich zu einer bestimmten Gruppe
und Stärke beschreibbar.« (Zimmer 2017a, 65) Definition von sozialen Netzwerken: »Soziale Netzwerke sind: Beziehungsstrukturen zwischen AkteurInnen. AkteurInnen sind: einzelne Personen, Gruppen oder Organisationen, also handelnde Entitäten.« (Ebd. – Hervorhebung im Original). 147 Unter dem Stichwort Capital Vision 2020 will die Diözese London (Anglikanische Kirche) bis zum Jahr 2020 rund 100 neue worshipping communities in London gründen. Dabei wurde u. a. die Haltestelle Kings Cross in London als relevanter Ort identifiziert, an dem solch eine worshipping community entstehen soll. Da an diesen Ort vier Parochien grenzen und die große Zahl der Menschen, die dort jeden Tag verkehrt, dies nur sehr passager tut, sieht die Diözese London die Notwendigkeit, dort aktiv zu investieren und an diesem Ort eine gemeindliche Ausdrucksform entstehen zu lassen, die zu diesem Ort passt. Diese Information hat Bischof Ric Thorpe auf einer Studienreise im März 2016 in London weitergegeben, als er die Capital Vision der Diözese London vorstellte. Zur Capital Vision vgl. die Lambeth Lecture: New Fire in London von Bischof Richard Chartres vom 30.09.2015: https://www.london.anglican. org/articles/new-fire-in-london-lambeth-lecture/ – aufgerufen am 18.06.2018. Für die deutsche Übersetzung vgl. Chartres 2016. Vgl. dazu auch Kunz 2017. Zur Kirche an Knoten- und Brennpunkten vgl. auch Göpfert 1981, 128 f. 148 Vgl. Zimmer 2018a, 62ff; Bögenhold 2015, 35–37.
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gesandt wissen, selbst zu dieser Gruppe gehören und mit ihr ein gemeinsames Anliegen teilen (schulpflichtige Kinder, Engagement gegen Rassismus etc.). Ebenso kann eine fAuK sich um einen bestimmten (thematischen) Anlass herum gruppieren. Dies kann ebenso von städteweiter Bedeutung als auch lokal begrenzt sein. Die Anlässe sind so plural wie das urbane Leben: der Mangel an gastronomischen Einrichtungen oder Sportstätten in einem Viertel, die Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr, die Integration von Flüchtlingen, die Förderung von Jugendlichen in einem marginalisierten Quartier, der soziale Abstieg eines Wohngebiets, eine Abstimmung über die Umnutzung eines zentralen Platzes in einem Stadtteil etc. Ebenso könnte auch soziale Segregation als Gentrifizierung eines Quartiers solch ein Anlass sein. Wenn sich verschiedene Christen für einen sinnvollen Umgang mit diesem Phänomen einsetzen, nach den Implikationen des Evangeliums und dem kirchlichen Beitrag in dieser Situation fragen, mit lokalen Partnern kooperieren und daraus eine (dauerhafte) Gemeinschaft entsteht, hat diese Initiative das Potential, dass sich daraus eine fAuK entwickelt. Die genannten Orte, Netzwerke/Gruppen und Anlässe können lokal sehr begrenzt, aber ebenso auch ein gesamtstädtisches Phänomen sein. Sie können eine junge Erscheinung darstellen, welche erst seit relativ kurzer Zeit Teil der Stadt ist (z. B. Flüchtlingswohnanlagen), sie können aber auch seit mehreren Generationen existent sein und das Bild einer Stadt seit vielen Jahren prägen (bspw. Obdachlosigkeit). Neben der serving-first-journey können die vier Dimension urbaner Gemeindeentwicklung sowie die vier Formen von Kontextualisierung als Orientierung dienen und helfen, folgende Fragen zu beantworten: Welche Formen von Martyria, Leiturgia, Koinonia und Diakonia sind unter diesen Umständen nötig und worin besteht der Beitrag der christlichen Gemeinde zum Gemeinwesen angesichts dieser Situation? Welche Entwicklungen etc. können – vom Evangelium – unterstützt und gefördert werden und welche sind abzulehnen und als problematisch zu kennzeichnen? An welchem Ort, bei welcher Gruppe und zu welchem Anlass kann eine Gruppe von Christen sich einbringen und sich in den Dienst des Umfelds stellen? Um diese Orte, Netzwerke/Gruppen und Themen zu kennen, muss urbane Gemeindeentwicklung sehr aufmerksam auf ihren Kontext achten und darf diese Aufgabe niemals für abgeschlossen halten. Eine urbane Gemeindeentwicklung, die auf ihren Kontext hört und wahrnimmt, welche Herausforderungen und Probleme, aber auch welche Ressourcen und Partner existieren, kann unter den grammatischen Vorzeichen von fxC Ausdrucksformen von Gemeinde entwickeln, die eine Bereicherung des Lebens in einem Kontext mit der Kommunikation des Evangeliums verbindet, indem Teil der Kommunikation bereits das Bemühen um den Kontext und seine Bewohner ist. Zugleich wird sie Gelegenheiten schaffen, in welchen das Evangelium explizit zur Sprache kommt, bspw. indem sie die Würde der einzel-
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nen Menschen als Geschöpfe Gottes und als Ursache für Gottes Inkarnation zum Thema macht oder indem sie sich solchen Gruppen zuwendet, die von den Sozialeinrichtungen der Stadt – aus welchen Gründen auch immer – vernachlässigt werden oder »aufgegeben« wurden. Allein die intentionale und nachhaltige Hinwendung zu vernachlässigten Gruppen oder Gebieten ist eine Bezeugung des Evangeliums von der Hinwendung Gottes und Ausdruck der Teilhabe an dieser Hinwendung. Die fluiden, flexiblen, teils spontanen fAuK eignen sich hervorragend für diese Art der Wahrnehmung der kirchlichen Sendung in die Stadt, da sie nicht von vornherein auf einen Ort bzw. auf eine Struktur festgelegt sind, sondern sich von ihrem geographischen, personalen oder kulturellen Kontext vorgeben lassen können, wie sie sich organisieren. Sie verfügen über die Fähigkeit, eine Ausdrucksform gemeindlichen Lebens darzustellen, die dem Ort, der Gruppe/Netzwerk bzw. dem Thema entspricht und sich mit diesen wandelt. Die aus dem beschriebenen Prozess hervorgehenden fAuK können in Form von Cafékirchen, Winterspielplätzen, Seniorentreffpunkten, öffentlichen Diskussionsforen und Think-Tanks für die Zukunft eines Quartiers, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangeboten für Jugendliche, einer Essensausgabe und Sozialberatung etc. bestehen. Eine strenge Orientierung an CA VII, an der fxC-Grammatik, an den vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung sowie den vier Dimensionen von Kontextualisierung sichert die evangelische Profilierung der fAuK und somit die Möglichkeit der Entstehung von Kirche und Gemeinde – dies ist aufgrund der hohem formalen Pluralität von fAuK umso wichtiger.
2.3.4 Kooperationen, Vernetzung und Partnerschaften zwischen fAuK Um der urbanen Gemeindeentwicklung willen wäre es zu begrüßen, wenn sich Christen, die in einer fAuK engagiert sind, vernetzen und austauschen. Diese ökumenische Dimension ist nicht zuletzt deshalb wichtig, damit Menschen, die durch die Arbeit der fAuK (neu oder erstmalig) mit dem christlichen Glauben in Berührung gekommen sind, die Möglichkeit bekommen, die Vielfalt und Weite der Ausdrucksformen christlichen Lebens kennenzulernen und über die stark kontextuell geprägte Ausdrucksform einer fAuK hinaus die weitere Tradition des christlichen Glaubens zu entdecken (vgl. die kulturtranszendierende Dimension von Kontextualisierung). Aufgrund des hohen Maßes an Kontextualisierung gilt dies besonders für fAuK, trifft aber ebenso auf die Arbeit von Quartiersgemeinden und StadtKirchen zu, die ja ihrerseits i. d. R. auch eine spezifische theologische und kulturelle Tradition darstellen, welche ebenfalls nicht die Gesamtheit und Vielfalt des Leibes Christi abbildet (zum ökumenischen Netzwerk urbaner Gemeindeentwicklung s. u. § 16. Abs. 4).
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Die besondere Chance von ökumenisch eingebetteten fAuK149 besteht darin, dass sich diese auf die verschiedenen Orte, Gruppen und Netzwerke, Kulturen und Subkulturen, Milieus und Submilieus, auf die Vielzahl sozial entmischter Gebiete und geschlossener Quartier sowie Wohnviertel einlassen und mit den unterschiedlichsten Menschen dieser Sozialräume das Evangelium kommunizieren können. Durch die Zugehörigkeit zum Leib Christi, der diese Orte, Netzwerke, Milieus, Kulturen und Quartiere übersteigt, besteht darin die Möglichkeit, dass fAuK diese (meist geschlossenen) Orte, Milieus und Gruppen transzendieren und mit anderen Gruppen, Milieus, Kulturen und Orten in der Stadt verbinden und so zu einer (mindestens punktuellen) Vermischung beitragen. Dieser Beitrag einer ökumenisch vernetzten urbanen Gemeindeentwicklung stellt eine eigenständige und das Gemeinwesen bereichernde Ressource dar, um die sich die Gemeinden einer Stadt gemeinsam intensiv bemühen sollten. Teil dieser intensiven Bemühung ist das Gebet um Einheit im Anschluss an Joh 17 und die Erwartung sowie das Bewusstsein, dass Einheit nur durch den Heiligen Geist verwirklicht werden kann. Urbane Gemeindeentwicklung muss in dieser Hinsicht eine betende und vom Wirken des Heiligen Geistes abhängige Gemeindeentwicklung sein, die besonders in der Transzendierung entmischter und ausdifferenzierter Gruppen, Gebiete und Milieus ihr kontrakulturelles Potential entdeckt. Zur Gewinnung eines Gesamtüberblicks sowie zur Ermöglichung einer strategischen Planung wäre die Schaffung und Etablierung eines ökumenischen Netzwerks aller fAuK einer Stadt sinnvoll und hilfreich. Auch hierzu gehört die Bereitschaft zu ökumenischer Kooperation und Partnerschaft der verschiedenen fAuK unterschiedlicher konfessioneller Prägung. Die Aufgabe eines solchen Netzwerks bestünde einerseits darin, einem Team, welches den Prozess der Entstehung einer fAuK beginnen möchte, bei den ersten Schritten auf diesem Weg behilflich zu sein, indem es bspw. bei dem Versuch des doppelten Hörens als kritischer Gesprächspartner fungiert und Ressourcen zur Verfügung stellt (Erfahrungen bereits bestehender fAuK; gesichtetes und aufbereitetes Material zur sozio-demographischen Situation der Stadt und einzelner Stadtteile; Fürbitte etc.). Anderseits wäre es ebenfalls wichtig, dass ein solches Netzwerk bereits bestehende fAuK begleitet und durch Beratung, Supervision und Vernetzung unterstützt sowie diese in Umbrüchen, Prozessen des Wandels und bei wichtigen Entscheidungen begleitet und berät. Die Mitarbeiter für ein solches Netzwerk könnten von den beteiligten Kirchen und Werken mit dieser Auf-
149 Als Vorbild können Local Ecumenical Partnerships der Church of England fungieren vgl. www. cte.org.uk/Groups/44369/Home/Resources/Local_Ecumenical_Partnerships/Local_Ecumenical_Partnerships.aspx (aufgerufen am 22.10.2018).
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde
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gabe beauftragt und dafür bezahlt werden. Ein solches Investment wäre dem Gegenstand angemessen und würde die Ernsthaftigkeit der Bemühung um eine pluriforme ökumenische Gemeindeentwicklung zum Ausdruck bringen.
2.3.5 Amt und Ehrenamt in fAuK Die Pluralität und Vielfalt möglicher (und nötiger)150 fAuK lenkt den Blick auf die Rolle von Ehrenamtlichen, welche bereits bei der Einführung in das Thema fxC reflektiert wurde. Ohne das mittel- bis langfristige Engagement von Ehrenamtlichen ist eine pluriforme urbane Gemeindeentwicklung als Vielzahl an fAuK nicht vorstellbar.151 Insofern ist die intentionale Förderung sowie aktive Beauftragung und nachhaltige Begleitung von Ehrenamtlichen eine zentrale Aufgabe für urbane Gemeindeentwicklung, die sich in der Ausbildung von kontextsensiblen und kontextrelevanten fAuK darstellt. Die Notwendigkeit einer lebendigen und mündigen Gemeinde spielt jedoch nicht nur für fAuK eine Rolle, sondern auch die in dieser Arbeit skizzierten Quartiersgemeinden und StadtKirchen sind ohne die Mitarbeit von Ehrenamtlichen nicht realisierbar.152 Bei diesem Thema muss urbane Gemeindeentwicklung einen fruchtbaren Mittelweg zwischen der theologischen Würdigung Ehrenamtlicher als Priester153 und der Tatsache einer vielfachen Überforderung Ehrenamtlicher wählen. Dies ist nötig, um eine möglichst angemessene Vorstellung davon zu bekommen, wie sich ehrenamtliches Engagement in einer urbanen Gemeinde verwirklichen
150 Nötig, um möglichst viele Städter zu Partnern der Kommunikation des Evangeliums zu machen. »Vor dem Hintergrund der Relevanzkrise der Kirche muss der Fokus der Überlegungen auf der Kommunikation des Evangeliums mit aller Welt liegen. Angesichts von Abbrüchen selbstverständlicher Traditionsweitergabe ist die Kirche in besonderer Weise herausgefordert, Organisationsformen zu entwickeln, in denen das Evangelium Menschen nahe kommen kann. Die Gemeindeformen müssen so gestaltet werden, dass möglichst vielen Menschen und Bevölkerungsgruppen die Chance eines Zugangs zur christlichen Botschaft und zur Kirche eröffnet wird. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf Menschen liegen, die bislang von der christlichen Botschaft nicht erreicht worden sind.« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 306 – Hervorhebung im Original). 151 Zumal den Ehrenamtlichen eine besondere Rolle als »Brückenbauer« zwischen kirchlichen und alltäglichen Netzwerken zukommt, vgl. Hauschildt 2018, 88. 152 Zu möglichen Schwierigkeiten bei der Übernahme von Leitungsverantwortung durch Ehrenamtliche (»Hochengagierte«) vgl. Deeg 2018, 71. 153 Vgl. dazu besonders Herbst 2013b, 35–38 und Hauschildt-Pohl-Patalong 2013, 360 ff. Michael Herbst identifiziert vier Unterkategorien des Allgemeinen Priestertums: a) Ordnungsgemäß Berufene nach CA XIV (Haupt-, Neben- und Ehrenamt); b) Hauptamtliche in Kirche und Diakone in verschiedenen Berufen; c) Ehrenamtliche/Freiwillig Engagierte mit unterschiedlichen Gaben und Aufgaben; d) (Momentan) nicht Aktive. (Vgl. Herbst 2013b, 37).
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lässt, ohne Ehrenamtliche als »Lückenbüßer«154 für hauptamtliche Mitarbeiter zu betrachten oder diese dauerhaft mit unrealistischen Erwartungen und Anforderungen zu überlasten.155 Eine intensive Unterstützung, angemessene Beauftragung sowie eine spezifische Befähigung ehrenamtlicher Mitarbeiter ist somit eine zentrale Aufgabe für urbane Gemeindeentwicklung. Um Menschen, die sich engagieren wollen, nicht zu überfordern und ihnen einen für sie umsetzbaren Einstieg in ein ehrenamtliches Engagement zu ermöglichen, müssen fAuK Interessierten die Möglichkeit bieten, sich zunächst probeweise und punktuell zu engagieren, um auf diesem Wege zu prüfen, ob und welche Form von Engagement zu ihnen und ihrer Lebenssituation passt. Ebenso stellt sich die Frage nach dem Amt156, welches die öffentliche157 Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament wahrnimmt und gestaltet. Entsprechend CA XIV158 muss dies jemand sein, der dazu ordentlich berufen wurde (rite vocatus).159 Diese sinnvolle Ordnung soll im Rahmen von fAuK nicht aufgelöst werden. Zugleich stellt sich bei dem Ziel einer Gründung von zahlreichen fAuK in einer Stadt die Frage danach, wer diese Aufgabe übernehmen kann, ohne dass die Kirche hunderte neue Pfarrstellen schafft. Die vorliegende Arbeit plädiert für die ernsthafte Prüfung einer zeitlich und lokal
154 In der Situationsbeschreibung des Verhältnisses von Haupt- und Ehrenamtlichen seitens der EKD wirkt der Einsatz von beauftragten Ehrenamtlichen – entgegen ausdrücklicher Betonung – ein wenig wie »Lückenbüßer-Semantik (Herbst 2013b, 39). Vgl. Kirchenamt 2006, 68. 155 Vgl. Herbst 2013b, 38–40 und Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 357–382. 156 Zum reformatorischen Verhältnis von Allgemeinem Priestertum und ordiniertem Amt vgl. Deeg 2018, besonders 63–76 und 83–85. 157 »Dabei ist der Begriff der Öffentlichkeit (CA XIV[…]) theologisch zu fassen. Gemeint ist der Kommunikationsraum, in dem das Wort Gottes in doppelter Hinsicht verantwortet wird: vor der im Gottesdienst versammelten Gemeinde und gemeinsam mit ihr vor dem Wort der Heiligen Schrift. Um diese Verantwortung übernehmen zu können, ist eine theologische Qualifikation erforderlich, deren notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung das Studium der Heiligen Schrift ist.« (EKiR 2004, 13). 158 »Vom Kirchenregiment wird gelehrt, daß [sic!] niemand in der Kirchen offentlich [sic!] lehren oder predigen oder Sakrament reichen soll ohn ordentlichen Beruf.« »De ordine ecclesiastico docent, quod nemo debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus.« Rat der Evangelischen Kirche 1982, 69. »Die besondere Ordnung bzw. Institution, die mit der Ordination einzelner dazu besonders befähigter Gemeindeglieder hergestellt wird, steht im Dienst des allgemeinen, in der Taufe begründeten Mandats der Kirche (CA XIV ist von CA V her zu interpretieren).« (EKiR 2004, 13). 159 Zur Ordination siehe den Entwurf für die Agende zur Berufung, Einführung und Verabschiedung der VELKD, vgl. Amt der VELKD 2009. Aufgrund der Beteiligung zahlreicher Ehrenamtlicher ist dieses Thema für fAuK noch etwas dringlicher als für Quartiersgemeinden und StadtKirchen, die i. d. R. eher über ein etabliertes Netzwerk an ordinierten Amtsträger verfügen.
2. Urban formatierte Ausdrucksformen christlicher Gemeinde
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(pro loco et tempore)160 begrenzten Beauftragung bzw. Berufung (i. S. e. rite vocatus) einzelner – ausgebildeter und bewährter – ehrenamtlicher Mitarbeiter zur Verkündigung in Wort und Sakrament im Rahmen einer fAuK.161 Bei einer solchen fAuK muss es sich sowohl entsprechend den notae ecclesiae nach CA VII um eine Kirche handeln und zugleich muss sie den oben beschriebenen verbindlichen Elementen der Grammatik von fxC entsprechen. Eine solche Berufung kann als Ordination ins Ehrenamt beschrieben werden, wie dies die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR)162 und die Mitteldeutsche Kirche
160 »Dabei ist es einerseits wichtig, die evangelische Überzeugung derer zu stärken, die zur öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung von der evangelischen Kirche »rite« ordiniert oder beauftragt sind. Andererseits bedarf die evangelische Kirche einer sorgfältigen Regelung für die Ausnahmefälle, in denen das Abendmahl durch nicht ordinierte Haupt- und Ehrenamtliche geleitet wird. Die Delegation »pro loco et pro tempore« im Einzelfall unter Verantwortung einer oder eines Ordinierten, durch die beruflich Mitarbeitende (z. B. in Kindergärten und Jugendarbeit) in Stand gesetzt werden, Gottesdienste mit Feier des Abendmahls zu leiten sowie die Beauftragung der Vikarinnen und Vikare nach ausreichender Vorbereitung und Einübung, gehören zum Selbstverständnis evangelischer Gemeinden im Sinne des allgemeinen Priestertums. Allerdings muss deutlich werden, dass es sich dabei erstens um eine verantwortlich gestaltete Ausnahme von dem grundsätzlich mit der Ordination verliehenen Auftrag zur Sakramentsverwaltung handelt und dass diese Ausnahme zweitens immer innerhalb des Verantwortungsbereiches einer oder eines Ordinierten geschieht.« (EKiR 2004, 20f – Hervorhebung im Original). 161 Das EKD-Impulspapier Kirche der Freiheit beschreibt die Schaffung eines Netzwerks von beauftragten Ehrenamtlichen: »Die Hauptamtlichen in der evangelischen Kirche müssen es deshalb als eine ihrer Hauptaufgaben ansehen, die Ehrenamtlichen für ihren Zeugendienst zu stärken. Wenn jede Pfarrerin und jeder Pfarrer einen Kreis von ehrenamtlich Beauftragten um sich sammelt, wird die Pfarrerin oder der Pfarrer selbst zur oder zum leitenden Geistlichen eines Netzwerkes von Ehrenamtlichen. Der Kirchenvorstand einer Ortsgemeinde wird in Zukunft vielleicht ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen sein, das sich für bestimmte Orte und Kirchen geistlich verantwortlich weiß.« (Kirchenamt 2006, 68). Worin die genauen Aufgaben (»Dieses Netzwerk pflegt als Gottesdienstkern – mit Unterstützung der Kirche und ihrer Hauptamtlichen – besondere gottesdienstliche Formen und Grundformen seelsorgerlicher Betreuung. Dadurch ist die evangelische Kirche bei den Menschen präsent.« – aaO., 69) dieser Beauftragten bestehen (v. a. hinsichtlich Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament), lässt das Papier offen, vgl. aaO., 68 f. 162 Vgl. EKiR 2004, besonders 22 ff. »In der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) können ehrenamtlich und beruflich Mitarbeitende auf Antrag des Presbyteriums nach landeskirchlichen Vorbereitungskursen ordiniert und in den Dienst der Prädikantin oder des Prädikanten berufen werden. […] Etwa 650 ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten gibt es in rheinischen Kirche. Sie kommen aus allen Altersgruppen, Berufen und sozialen Schichten und tun ihren Dienst im strikten Sinne ehrenamtlich. Dabei tragen sie in der Ausübung ihres Predigtdienstes ebenso wie die Pfarrerinnen und Pfarrer den Talar. Auch beruflich Mitarbeitende in Verkündigung, Seelsorge, Bildungsarbeit und Diakonie mit der Anstellungsfähigkeit als Diakon oder Diakonin, Gemeindehelferin oder Gemeindehelfer, Gemeindepädagogin oder Gemeindepädagoge können ordiniert werden und den Dienst als Prädikantin oder Prädikant im
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
(EKM)163 bei Prädikanten und die Berlin-Brandenburgische (EKBO) und sächsische Kirche (EVLKS) bei Gemeindepädagogen praktizieren.164 Eine solche Ordination wäre räumlich und zeitlich nicht begrenzt.165 Eine derartige Begrenzung wäre aber sinnvoll, um die Differenz zum Pfarramt deutlich zu machen und die beiden Beauftragungen inhaltlich dennoch vergleichbar zu gestalten. Die EKM schränkt die Ordination folgendermaßen ein: Ordinierte Prädikanten üben ihren Dienst in Abstimmung mit den mit dem Pfarrdienst Beauftragten aus. Sie können in einem Seelsorgebereich innerhalb einer Kirchengemeinde oder eines Kirchengemeindeverbandes in angemessenem Umfang zum selbstverantwortlichen Dienst beaufragt [sic!] werden. Unbeschadet dieser Beauftragung bleibt die Zuständigkeit und die Leitungsverantwortung bei dem ordinierten Stelleninhaber.166
Eine ähnliche Art limitierter Beauftragung praktiziert die reformierte Protestantse Kerk in den Niederlanden, indem sie bewährte und fähige Mitarbeiter167 für einen konkreten neuen gemeindlichen Ort (sog. Pioniersplekken) ordi-
Rahmen ihrer Anstellung ausüben.« https://www.ekir.de/www/ueber-uns/praedikantinnenund-praedikanten-328.php (aufgerufen am 19.11.2018). Vgl. dazu auch: http://www.praedikanten-ekir.de (aufgerufen am 19.11.2018). 163 Vgl. Kirchengesetz 2009, 5. In Abschnitt 4 § 9 des Kirchengesetzes über den ehrenamtlichen Verkündigungs-dienst der Lektoren und Prädikanten wird die Ordination von Prädikanten zur Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung mit Bezug auf Artikel 17 Absatz 1 und 18 Absatz 4 der Kirchenverfassung seit 1.1.2010 ermöglicht. 164 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 379 f. Die EKBO und die EVLKS »führten auf der Basis der Vorstellungen von Kirche als Lerngemeinschaft […] eine Ordination von Gemeindepädagoginnen und -pädagogen ein, für die nur ein zusätzliches Vikariat erforderlich ist.« (AaO., 379). Hauschildt/Pohl-Patalong verweisen darauf, dass die Empfehlung der Bischofskonferenz der VELKD Ordnungsgemäß berufen (2006) »die Ordination für das Pfarramt [reserviert].« (Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 380). Zur Empfehlung vgl. Lutherisches Kirchenamt 2006, besonders 16–20. 165 »Eine Ordination pro loco et tempore ist abzulehnen« (EKiR 2004, 23), Hervorhebung im Original. 166 Kirchengesetz 2009, 5. 167 Ähnlich die Voraussetzungen, welche die EKM für die Ordination zum Prädikanten stellt: »1. ein vorangegangener Prädikantendienst mit Dienstauftrag von mindestens drei Jahren, 2. ein Antrag mit ausführlicher Begründung und Lebenslauf, 3. die befürwortenden Voten des Superintendenten und des Regionalbischofs, 4. ein Bericht über den bisherigen Prädikantendienst, 5. die Absolvierung des Aufbaukurses II beim Pastoralkolleg der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, 6. die Teilnahme an einer Ordinanden-Rüstzeit und 7. ein Bischofsgespräch zur Ordination.« (Kirchengesetz 2009, 5 – Abschnitt 4 § 9. Abs. 2).
3. Erste Überlegungen zur Reorganisation urbaner kirchlicher Strukturen
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niert und regelmäßig weiterbildet.168 Unter Bezugnahme auf CA XIV ist ein solches Vorgehen ebenfalls für die Evangelische Kirche in Deutschland denkbar, wenn dafür Kriterien sowie ein geordnetes Vorgehen existieren. Die in der EKM festgelegte Bindung des ordinierten Ehrenamtlichen/Prädikanten an einen Amtsträger ist sinnvoll und könnte in einem Netzwerk169 von Ehrenamtlichen unter ephoraler Aufsicht eines hauptamtlichen Ordinierten geschehen. Die lokale (pro loco) Begrenzung einer solchen Beauftragung erlischt mit dem Ausscheiden der beauftragten Person aus der fAuK bzw. mit dem Ende einer solchen Initiative. Wie die zeitliche Begrenzung (pro tempore) zu gestalten ist, muss ebenfalls geregelt werden. Man könnte die Beauftragung auf drei oder fünf Jahre reduzieren und am Ende dieses Zeitraums prüfen, ob sich die Person in dem Amt bewährt hat (Rückmeldungen aus der fAuK, Teilnahme der Person an den angebotenen Weiterbildungen, Einschätzung von Supervisoren, eigene Zufriedenheit der beauftragten Person etc.) und bei positiver Bilanz die Beauftragung um weitere drei bzw. fünf Jahre verlängern.
3. Erste Überlegungen zur Reorganisation urbaner kirchlicher Strukturen Am Beginn dieser Überlegungen soll eine Metapher aus dem Verkehrswesen stehen: In Schweden und den USA existieren bereits Teststrecken für E-LKWs und in Deutschland werden in Hessen und Schleswig-Holstein (eine Strecke von zehn Kilometern auf der A 1 zwischen Reinfeld und Kreuz Lübeck)170 drei solcher Teststrecken gegenwärtig gebaut und sollen als sog. E-Highways der Elektrifizierung des Schwerlasttransports auf der Autobahn dienen.171 Ein Umbau des gesamten Streckennetzes ist dabei weder sinnvoll noch möglich
168 Vgl. Protestant Church 2017, 7. Über die Möglichkeit Ehrenamtliche für die Aufgaben in einer bestimmten neuen Gemeinde zu beauftragen hat mich Bas van der Graaf im Februar 2018 unterrichtet. Er arbeitet für die Protestantische Kirche in Amsterdam. Vgl. auch https://www. protestantsekerk.nl/themas/missionair-werk/pionieren/pioniersplekken, https://www.protestantsekerk.nl/over-ons/protestant-church/church-order (aufgerufen am 24.10.2018) und Protestant Church 2004. 169 Vgl. Kirchenamt 2006, 68 f. 170 https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Countdown-fuer-erste-Teststrecke-fuerE-Lkw-in-SH, eautobahn100.html (aufgerufen am 26.10.2018). 171 Vgl. dazu https://www.siemens.com/global/de/home/produkte/mobilitaet/strassenverkehr/ elektromobilitaet/ehighway.html und https://mobilitymag.de/ehighway-deutschland/ (aufgerufen am 25.10.2018).
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
und auch nicht geplant, aber ein stufenweiser Ausbau des elektrischen Netzes soll das Transportwesen nachhaltig verändern und dem technischen Wandel anpassen und umweltfreundlich gestalten. Ein solch grundsätzlicher Strukturwandel bzw. eine solch tiefgreifende Strukturanpassung kann nicht kurzfristig erreicht werden, sondern muss zunächst erprobt werden. Dazu bedarf es Teststrecken bzw. Modellräume. Hauschildt/Pohl-Patalong schreiben, dass die theologische und rechtliche Stellung nichtparochialer Einrichtungen bisher nicht befriedigend geklärt worden sei.172 Eine solche Klärung soll ansatzweise mit den in dieser Arbeit vorgeschlagenen Organisationsformen von Gemeinde geleistet werden, indem die Orientierung an CA VII das Kirche-Sein der verschiedenen gemeindlichen Ausdrucksformen von deren Organisationsstruktur löst und auf die Vollzüge konzentriert. Als Beispiel und zur Orientierung sollen die sog. Erprobungsräume (EPR) der Mitteldeutschen Kirche dienen.
3.1 Erprobungsräume als Beispiel einer Reorganisation kirchlicher Strukturen In Bezug auf Gemeindeentwicklung bedeutet dies, dass ein Strukturwandel, wie ihn die vorliegende Arbeit entwirft, nicht kurzfristig umgesetzt werden kann. Stattdessen bedarf es Erprobungs- oder Modellräume, welche in einem festgelegten Zeitraum und an einem bestimmten Ort sowie auf freiwilliger Basis eingeführt und in Abstimmung mit allen Ebenen kirchlicher Leitung und Verwaltung geplant, verwirklicht und evaluiert werden. Ein solches Vorgehen schlage ich für die oben skizzierte Neustrukturierung einer an der Stadt orientierten urbanen Gemeindeentwicklung vor. Für eine derartige Reorganisation gemeindlicher Strukturen durch Ergänzung und Erprobung existiert mit dem Modell173 der Erprobungsräume (EPR) in der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands (EKM)174 bereits ein Beispiel aus der landeskirchlichen Praxis (s. o. § 15 Abs. 1.4).175 Andreas Möller und Thomas Schlegel schreiben über den Modellcharakter von EPR: »Es sollen Modelle für Situationen getestet werden,
172 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 250. 173 »Innerhalb der EKM haben sich andere Wege, Gemeinde und Kirche zu sein, etabliert bzw. sind neue Wege entstanden. Diese haben für die künftige Entwicklung unserer Landeskirche modellhafte Bedeutung.« (Möller/Schlegel 2016, 106). 174 Die EKM ist aus der Fusion der Landeskirchen von Thüringen und Sachsen-Anhalt hervorgegangen. 175 Vgl. Möller/Schlegel 2016.
3. Erste Überlegungen zur Reorganisation urbaner kirchlicher Strukturen
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die momentan nur punktuell auftreten. Sie werden aber absehbar auch andere Regionen betreffen.«176 Im November 2014 beschloss die Landessynode der EKM, dass Freiräume eröffnet werden, »damit sich alternative Formen von Kirche entwickeln können und die bisherigen Kirchengemeinden ergänzen.«177 Die EKM definiert EPR so: »Ein Erprobungsraum ist ein Raum zum Ausprobieren, Fehler machen, Lernen. Als Evangelische Kirche in Mitteldeutschland wollen wir für die Kirche der Zukunft lernen. Deshalb fördern wir für einen bestimmten Zeitraum Erprobungsräume finanziell, beraten die Gründer, Pioniere oder Akteure fachlich oder juristisch und evaluieren Projekte.«178 Die Aufgabe der EPR besteht darin, »neue Formen von Kirche im säkularen Kontext [zu erproben].«179 Dazu »lassen [sie] sich noch stärker auf ihr Umfeld – besondere Orte, Menschengruppen, Herausforderungen – ein, als es herkömmlichen Gemeinden manchmal möglich ist. Sie leben bewusst Kirche mit anderen. Deswegen sehen sie oft ganz anders aus. Und bringen so bisher dem christlichen Glauben fernstehenden Menschen die Botschaft von Gottes Liebe.«180 Bisher wurden insgesamt 27 Projekte181 als EPR anerkannt und gefördert.182 Die meisten dieser Initiativen (16 von 27) existierten bereits vorher und bei fünf der als EPR anerkannten Projekte hat diese Anerkennung »eine neue Dynamik«183 ausgelöst. Sieben der EPR wurden im Zuge der Einführung von EPR neu gegründet. Die EKM knüpft somit einerseits an bereits Bestehendes an und fördert zugleich die Schaffung von neuen gemeindlichen Strukturen. Die positiven Folgen für die lokalen Initiativen beschreibt die EKM so: »Die landeskirchliche Approbation bedeutet den Akteuren vor Ort meist viel: Anerkennung und Wertschätzung. Außerdem bringt es die Pioniere unter einem Schirm zusammen und bietet Möglichkeiten der Vernetzung, gegenseitigen Inspiration, Weiterbildung etc.«184 Die Ausführungen zeigen, dass bei der Entstehung von EPR zweierlei zusammenkommt: auf der einen Seite das Engagement und der Mut von ver-
176 AaO., 106. 177 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/was-sind-epr/ (aufgerufen am 26.10.2018). 178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Vgl. zu den Projekten Möller/Schlegel 2016, 108 und https://www.erprobungsraeume-ekm. de/mehr/was-sind-epr/ (aufgerufen am 23.11.2018). 182 »Die Zahl der angestrebten Erprobungsräume ist nicht begrenzt. Es ist der ausdrückliche Wunsch und die Hoffnung, dass sich viele Initiativen und Gemeinden, Kirchenkreise und Pioniere aufmachen, alternative Wege von Kirche auszuprobieren.« (Möller/Schlegel 2016, 106f). 183 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/was-sind-epr/ (aufgerufen am 26.10.2018). 184 Ebd.
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schiedenen Christen vor Ort, Neues zu wagen und auszuprobieren.185 Auf der anderen Seite die kirchliche Bereitschaft, Neues wahrzunehmen, zu ermöglichen und zu fördern. Beides ergänzt und bedingt einander. Die Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden, führt zu Innovation und ermöglicht eine nachhaltige Erneuerung und Anpassung kirchlicher und gemeindlicher Strukturen an den jeweiligen Kontext.
3.2 Wie Erprobungsräume entstehen Die Frage, wie ein EPR entsteht, beantwortet die EKM mit fünf Punkten: »Bisheriges in Frage stellen: In der EKM spüren wir oft, dass bisher Bewährtes an seine Grenzen kommt. Statt nur der Vergangenheit nachzuhängen, fragen wir: Was ist jetzt dran? Was hilft in der Zukunft?«186 Die evangelische Ekklesiologie nach CA VII eröffnet eine dynamische Gestaltung von kirchlichem Leben, welches sich als Gemeinde um Wort und Sakrament sammelt (s. o. § 9 Abs. 5). Es gibt keine unhinterfragbaren kirchlichen Strukturen oder Organisationsformen. »Herausforderungen angehen: Das Umfeld von Kirchen verändert sich. Es gibt zum Beispiel Kirchen auf dem Land mit wenigen oder gar keinen hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeitern. Wir leben in einer Umgebung mit […] nur wenigen Christen – zum Beispiel in vielen Plattenbaugebieten. Diese Herausforderungen wollen wir mitdenken und neue Ideen testen.«187 Die Orientierung am Kontext und das Wahrnehmen dessen, was ein bestimmter Ort bietet und benötigt, entspricht der Kontextualisierung, die in der vorliegenden Arbeit als Schlüsselqualifikation (s. o. § 2 Abs. 2) beschrieben worden ist. Dass Kontextualisierung Grenzen hat, ist ebenfalls deutlich geworden. »Gemeinsam experimentieren: Neues wird nicht in der Theorie an einem Schreibtisch erdacht, sondern entsteht vor Ort zusammen mit den betreffenden Menschen. Denn Chancen und Herausforderungen sind von Ort zu Ort sehr verschieden. Erprobungsräume laden hier zu gemeindlichen Experimenten ein.«188 Innovation geschieht im Austausch mit dem Kontext und seinen Menschen (s. o. § 14 Abs. 2.2). Kontextuelle Gemeindeentwicklung muss im Austausch mit denen stehen, die vor
185 Erprobungsräume sollen Räume eröffnen für »Christen mit Leidenschaft – für das Evangelium. Für einen bestimmten Ort, eine besondere Menschengruppe, Not oder Herausforderung.« (Möller/Schlegel 2016, 106). 186 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/wie-entsteht-ein-erprobungsraum/ (aufgerufen am 26.10.2018). 187 Ebd. 188 Ebd.
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Ort leben und sich engagieren. Dies betrifft Christen wie Nichtchristen gleichermaßen. Dass die Beschreibung von Kirche nach CA VII gemeindliche Experimente ermöglicht, wurde bereits ausgeführt. »Lernen von anderen: Wo ausprobiert wird, geht auch manches schief. Scheitern, Fehler und Sackgassen, aber auch Erfolge und gute Ideen sind hilfreiche Lernerfahrungen – für uns und für andere.«189 Eine (ökumenische) vernetzte Gemeindeentwicklung (s. u. § 16 Abs. 4) dient allen, die sich in diesem Bereich engagieren, und hilft, von den Erfahrungen anderer zu lernen. »Beten und Schweigen: Beim Warten, Hören und Bitten können wir uns auf Gottes Reden zu uns einlassen: auf seine Ideen in unserem Kopf und sein Herz für Menschen. Denn Erneuerung gibt es nur, wenn aus geistlichen Quellen geschöpft wird.«190 Neben dem Hören auf den Kontext ist ein Hören auf Gott, auf seine Mission, sein Herz und seine Gebote ein Herzstück kontextuell-urbaner Gemeindeentwicklung (s. o. § 14 Abs. 2.1).
3.3 Kriterien für Erprobungsräume EPR sind nicht beliebig, sondern müssen sieben Kriterien entsprechen: 1. »In ihnen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu.«191 Die EPR sammeln Menschen um Jesus Christus als seine Gemeinde und seinen Leib. Dazu laden sie die Menschen ihres Umfeldes ein – besonders jene, die noch nicht Teil der Gemeinde Jesu Christi sind. Dies entspricht der Sendung Gottes und gilt für Gemeindeentwicklung gleichermaßen, wie für alle übrigen Kontexte kirchlichen Lebens und Handelns. Gemeinde Jesu entsteht dort, wo sich Menschen versammeln und das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird. Diese Gemeinde wird an verschiedenen Orten, zu verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlichen Menschen andere Gestalten und Formen haben. Je pluraler der Kontext, desto pluriformer die Gemeinden. 189 Ebd. 190 Ebd. 191 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/7-kennzeichen/ (aufgerufen am 26.10.2018). »Was das Leben lebenswert macht, sind gute, tragende Beziehungen. Sie verleihen dem einzelnen Menschen Wert und Sinn. Gute Gemeinschaften gibt es viele. Kirche entsteht, wo Menschen miteinander Beziehungen eingehen und gleichzeitig sich auf Jesus Christus beziehen. So werden sie zur ›communio sanctorum‹ (lateinisch für: ›Gemeinschaft der Heiligen‹) und lassen in ihrem Umgang miteinander die Liebe Gottes für den anderen real werden. Ohne Gemeinschaft – griechisch: ›koinonia‹ – ist Kirche nicht Kirche. Unsere Erprobungsräume wollen zueinander und zu Jesus Christus führen – auf eine Weise, die unseren Zeitgenossen und ihrer Welt entspricht und darum oft zu einer neuen Form führt.« (Ebd.).
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2. »Sie durchbrechen die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen: Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude.«192 Die Pluriformität dieser neu entstehenden Gemeinden beschränkt sich nicht nur auf Zeiten, Musikstile und Sprachformen. Sie betrifft ebenso die Struktur, Organisation und personalen Zuständigkeiten. EPR sehen die Notwendigkeit, vertraute volkskirchliche Logiken um der Mission willen zu durchbrechen. Evangelische Ekklesiologie nach CA VII ermöglicht dies ausdrücklich. Damit öffnet die EKM die kirchliche Landkarte für neue Ausdrucksformen von Kirche. 3. »In ihnen kommen Menschen ohne Kontakt oder Bindung zur Kirche mit dem Evangelium in Berührung.«193 Die EKM beschreibt das Evangelium als »das Wichtigste, was [die] Kirche zu bringen hat und sie von allen anderen unterscheidet.«194 Das Bezeugen dessen ist somit vornehmste Aufgabe kirchlichen Seins und Handelns. Dieses Zeugnis gilt allen Menschen und schließt somit diejenigen ein, die bisher noch nichts vom Evangelium wissen. Um eine Kommunikation des Evangeliums mit jenen zu ermöglichen, die sich außerhalb der christlichen Gemeinde befinden, muss die Gemeinde diese Menschen in ihre Kommunikation einschließen und ihnen die Möglichkeit dazu eröffnen. Mit Röm 1,14f kann man davon sprechen, dass die Gemeinde es den Menschen schuldig ist, ihnen das Evangelium zu bezeugen. 4. »Sie orientieren sich am konkreten Umfeld und reagieren mit einer dienenden Haltung.«195 EPR bemühen sich um Kontextualisierung und suchen
192 Ebd. »Das gehört für viele Menschen zur Kirche: ein Pfarrer mit einem festen geografischem Zuständigkeitsgebiet und Kirchengebäuden für die gottesdienstliche Versammlung. Doch unsere Zeitgenossen tun sich schwer, den Weg in unsere ihnen fremdgewordenen Formen zu finden. Zu weit weg scheint diese Welt von ihrer eigenen Wirklichkeit. Wie wäre es aber, sie stießen stattdessen mitten in ihrem eigenen Alltag auf Christen und weitere Weisen, miteinander Gemeinde zu sein. Denn von alters her und anderswo treffen sich Christen auch unter ehrenamtlicher Leitung – oft an ungewöhnlichen oder sehr alltäglichen Orten und feiern Gottesdienst überraschend anders. Unsere Erprobungsräume wollen helfen, in unserer bunten, unüberschaubar gewordenen Gesellschaft mit ihrem immer anderen Lebenswelten verschiedenartige Treffpunkte anzubieten, in denen man Christen und Gemeinde begegnet.« (Ebd.). 193 Ebd. »Das Wichtigste, was unsere Kirche zu bringen hat und sie von allen anderen unterscheidet, ist das Evangelium – die Gute Nachricht, dass Gott in Christus seine Liebe zu allen Menschen offenbar gemacht hat. Sie lässt sich rufen, davon Zeugnis (griechisch: ›martyria‹) abzulegen. Unserer [sic!] Erprobungsräume wollen missional sein: Sie zielen darauf, auch außerhalb unserer bisherigen gemeindlichen Grenzen das Evangelium von Gott in Christus angemessen zu bezeugen.« (Ebd.). 194 Ebd. 195 Ebd. »Wer will, dass neue Menschen zu Gott finden, darf sie nicht nur einladen und erwarten, dass sie dann so werden wie man selbst – und die Gemeinde, aus der man kommt. Sondern es bedeutet oft, sich mutig in ihre Welt zu begeben. Und dort zu bleiben. Mit ihnen zu leben, Vertrauen aufzubauen. Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen hilfreich zu dienen (griechisch:
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nach Ausdrucksformen von Kirche, die zu den Menschen und ihrer Lebenswelt passen. Die Bereitschaft, gemeindliches Leben zu kontextualisieren, sowie die konkrete »Hilfe zum Leben«196 charakterisieren die diakonische Dimension von Gemeindeentwicklung. 5. »In ihnen sind freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden.«197 Die Übertragung von Verantwortung an ehrenamtliche Mitarbeiter ist für EPR keine Verlegenheitslösung, sondern entspricht der Erkenntnis, dass alle getauften Christen Priester und somit Zeugen des Evangeliums sind. Eberhard Hauschildt bezeichnet Ehrenamtliche als »Brückenbauer«198 zwischen kirchlichen und alltäglichen Netzwerken. Die Befähigung ehrenamtlicher Mitarbeiter, das Evangelium in ihrem Alltag zu bezeugen, ist eine zentrale Aufgabe von Gemeindeentwicklung. Zudem stellt die verantwortliche Einbindung von Ehrenamtlichen bspw. in Form einer Beauftragung zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament (pro loco [et tempore]) eine Chance für kirchliches Handeln dar (s. o. § 16 Abs. 2.3.4), die besonders angesichts einer pluriformen und lokalen sowie dezentralen und kleinteiligen Gemeindeentwicklung notwendig ist. 6. »Sie erschließen auch alternative Finanzquellen.«199 Dieses Kriterium entspricht dem zehnten der zehn Kriterien der Church of England zur Anerkennung einer Initiative als fxC: »There is intent to become ›three self‹
›diakonia‹). So erst wird das Zeugnis von der Liebe Gottes glaubhaft. Unsere Erprobungsräume wollen von den Adressaten und ihren Herausforderungen her bestimmt und ihnen hilfreich sein.« (Ebd.). 196 Vgl. Grethlein 2016, 303 ff. 197 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/7-kennzeichen/ (aufgerufen am 27.10.2018) »Von ›Berufs-christen‹ erwartet jeder Loyalität zur Kirche. Doch das freiwillige ehrenamtliche Engagement von ganz normalen Menschen weckt Neugier auf ihre Motivation – und der gemeinsame Einsatz der verschiedenen von Gott verliehenen Gaben macht Freude am Dienen. Ebenso die Wertschätzung durch andere. Unsere Erprobungsräume wollen Freiheiten zum Ausprobieren bieten, ohne dass man Angst vor Fehlern oder dem Scheitern haben muss. Sie leben davon, dass andere nicht ängstlich ausbremsen, sondern segnen, was zur Ergänzung und Bereicherung aller heranwachsen will.« (Ebd.). 198 Vgl. Hauschildt 2018, 88. 199 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/7-kennzeichen/ (aufgerufen am 27.10.2018). »In vielen Teilen der Welt stehen Gemeinden auf eigenen Füßen: Sie organisieren sich selbst, sie finanzieren sich selbst, sie verbreiten sich selbst. Auch bei uns müssen Gemeinden lernen, für sich mehr Verantwortung zu übernehmen. Kirchensteuer und Zuschüsse nehmen ab, Fördervereine und andere alternative Finanzierungsquellen an Bedeutung zu. Und man gibt gern, wenn man weiß wofür und von Herzen dahintersteht. Unsere Erprobungsräume wollen anleiten, sich nicht von fremder Hilfe abhängig zu machen, sondern für die eigene Zukunft selbst Sorge zu tragen. Das gilt am Ende auch für die beschränkte Anzahl modellhafter Projekte, die nur eine Zeitlang bis zur Hälfte der Personal- und Sachkosten abgenommen bekommen.« (Ebd.).
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(self-financing, self-governing and selfreproducing).«200 Die EKM betont, dass eine finanzielle Selbstständigkeit von christlichen Gemeinden im weltweiten Vergleich der Normalfall ist. Angesichts des demographischen Wandels und dem damit verbundenen Rückgang der Einnahmen durch die Kirchensteuer, ist die Erschließung alternativer Finanzquellen ein wichtiges Thema für die Zukunft kirchlicher Existenz. 7. »In ihnen nimmt Spiritualität einen zentralen Raum ein.«201 Die Ausbildung von lebendigem und mündigem Christsein ist ein zentrales Anliegen der EPR. Die Art, wie dies geschieht ist vielfältig, aber das verbindende Element ist die Suche nach Formen des Gebets und des Lobes Gottes. Ein eigenständiger und verantworteter Glaube an das Evangelium von Jesus Christus ist das Ziel jeglicher Gemeindeentwicklung. Gemeinden sind der Ort, an dem Glaube provoziert wird, entsteht, gefördert wird und wächst. Auch hier gilt, je pluraler der Kontext, desto vielfältiger die Formen, wie dieser Glaube Ausdruck findet.202 Damit ist die Umstrukturierung eines Kirchenkreises oder die Schaffung eines neuen Angebots innerhalb einer bestehenden Gemeinde kein EPR, da »das ›Normal-Paradigma‹ nicht durchbrochen wird […][oder] [s]ie verbleiben […] in der üblichen Angebotslogik.«203 Aus einer solchen neuen Veranstaltung kann jedoch ein EPR entstehen, »wenn die Veranstaltung selbst zur Kirche wird […] – und nicht nur ein Anhängsel der normalen Gemeindearbeit [ist].«204
200 Church Army Research Unit 2013, 9. 201 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/7-kennzeichen/ (aufgerufen am 27.10.2018). »Die Entwicklung guter geistlicher Gewohnheiten hält den eigenen Glauben stabil und gesund. Dabei helfen die Einübung persönlicher und gemeinsamer Formen des Gebetes und der Gottesverehrung (griechisch: ›leiturgia‹), die regelmäßige Teilnahme am gemeinschaftlichen Gottesdienst, einem Hauskreis oder anderen christlichen Treffen, der vertraute Umgang mit den biblischen Zeugnissen, hilfreiche vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Christen, gemeinsames Dienen in der Gemeinde oder Welt. Auch hier gilt: Formen können variieren. Unsere Erprobungsräume wollen bewusst den eigenen und gemeinsamen Umgang mit Gott – in vielfacher Gestalt – befördern.« (Ebd.). 202 »Projekte, die alle sieben Kriterien nachweislich erfüllen, werden als ›beispielhafte Erprobungsräume‹ offiziell anerkannt.« (Möller/Schlegel 2016, 107f). 203 AaO., 107. 204 Ebd.
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3.4 Rechtliche Grundlagen von und Verantwortlichkeiten für Erprobungsräume Die rechtliche Grundlage für EPR bietet die Verfassung der EKM aus dem Jahr 2008. Dort heißt es in Art. 3 Abs. 2: Gemeindliches Leben geschieht auch in verschiedenen Bereichen der Bildung, im Zusammenhang besonderer Berufs- und Lebenssituationen, in geistlichen Zentren und in Gruppen mit besonderer Prägung von Frömmigkeit und Engagement sowie in Gemeinden auf Zeit. Diese besonderen Formen von Gemeinde ergänzen das Leben der kirchlichen Körperschaften nach Absatz 1. Sie sind nach Maßgabe der kirchlichen Ordnung in die Zeugnis- und Dienstgemeinschaft eingebunden.205
Laut Homepage der EKM waren besonders die programmatischen Bischofsberichte der Jahre 2012 und 2013 ein wichtiger Impuls für Schaffung von EPR.206 Im Jahr 2014 hat die Herbst-Synode der EKM den Projektentwurf »Erprobungsräume« bekräftigt und somit ermöglicht »neue Gemeindeformen im säkularen Kontext zu erproben. Hierzu bedarf es einer großen Offenheit. Die Landessynode bittet das Landeskirchenamt, eine Steuerungsgruppe zur weiteren Ausgestaltung des Projektes einzusetzen und ihr über den Stand des Projektes regelmäßig zu berichten.«207 Die Landessynode hat das Kollegium des Landeskirchenrates beauftragt, als Steuerungsgruppe zu fungieren und das operative Geschäft zu regeln. »Das Kollegium des Landeskirchenrates erließ am 27. Oktober 2015 eine entsprechende Verordnung. Diese enthielt die Einsetzung einer Steuerungsgruppe und eines Fachbeirates und Förderrichtlinien.«208 Die Geschäftsführung der EPR liegt beim Dezernat Gemeinde (Referat Gemeinde und Seelsorge) des Landeskirchenamtes. Der Fachbereit begleitet die Arbeit der Steuerungsgruppe kritisch. »Er setzt sich aus für das Thema geeigneten Fachleuten aus unterscheidlichen [sic!] Kontexten deutschlands [sic!] zusammen und trifft sich einmal im Jahr, um die Steuerungsgruppe zu beraten.«209 Der Prozess an sich sowie einzelne Projekte werden vom Sozialwissenschaftlichen
205 EKM 2008, 7. 206 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/wie-kam-es-zum-projekt-erp/ (aufgerufen am 27.10.2018). 207 Ebd. 208 Möller/Schlegel 2016, 107. 209 https://www.erprobungsraeume-ekm.de/mehr/wer-ist-verantwortlich/ (aufgerufen am 27.10.2018).
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Institut der EKD (SI) und dem Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald (IEEG) evaluiert.210 Die EPR dienen als Beispiel dafür, wie sich ein Strukturwandel im Rahmen der evangelischen Landeskirchen gestalten kann, welcher an bestehende kirchliche Strukturen anknüpft, den Kontext untersucht und evaluiert sowie theologische Grundfragen zu Kirche und Gemeinde beantwortet. Die EKM reagiert auf die Bedarfe des Kontexts, nutzt die ekklesiologischen Potentiale evangelischen Kirche-Seins und schöpft ihre verfassungsgemäßen Vorgaben aus. Das Resultat sind frische Ausdrucksformen von Kirche, welche größtenteils bereits existierten und nun kirchlich anerkannt, gewürdigt und gefördert werden. Wenn die EPR erfolgreich sind, werden sie die kirchliche Landschaft der EKM dauerhaft bereichern und dort Kirche sein, wo überkommene und etablierte kirchliche Formen nicht mehr vorhanden sind und es alternativer Formen bedarf.
3.5 Von Parochialgemeinden zu Quartiersgemeinden Um die in Städten und Ballungsgebieten derzeit größtenteils parochial organisierte kirchliche Landschaft so zu reorganisieren, dass sie sich an urbanen Quartieren orientiert, bedarf es zunächst einer Erprobung des in dieser Arbeit vorgeschlagenen alternativen Modells von lokal verankerten Quartiersgemeinden. Beginnen müsste eine solche Erprobung damit, dass die Synode einer Landeskirche211 (bzw. die Kreissynode eines Kirchenkreises, Dekanats oder einer Superintendentur212) – ähnlich wie bei den EPR – zu einem solchen Vorgehen ermutigt und diejenigen Gemeinden, die sich dazu bereit erklären, finanziell, inhaltlich und organisatorisch unterstützt. Dazu müsste die Verfassung der jeweiligen Landeskirche juristisch auf die Möglichkeit einer solchen strukturellen Änderung geprüft werden. Die Kirchenkreissynode muss – entsprechend den Vorgaben der Landeskirche – eine solche Neustrukturierung (zunächst probeweise) zulassen und die dafür nötigen finanziellen und personellen Mittel bereitstellen. Der Kirchenkreisvorstand müsste den Haushalt sowie den Stellenplan entsprechend aufstellen und die jeweiligen Beschlüsse der Kreissynode bzw. der Landessynode umsetzen. Sinnvoll wäre zudem, wenn die Synode das Landeskirchenamt bittet, eine Steuerungsgruppe einzusetzen, welche den Prozess der Erprobung begleitet und supervidiert. Zudem wäre die Einrichtung 210 Vgl. ebd. 211 Vgl. dazu Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 251 f. 212 Zu den Begriffen vgl. Hermelink 2012, 58–63 und auch ders. 2011, 265 ff. Vgl. auch Hauschildt/ Pohl-Patalong 2013, 250 f.
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eines Innovationsfonds denkbar, der über ein festgelegtes Budget verfügt, welches nach Erfüllung bestimmter Kriterien vergeben wird. Nachdem ein rechtlicher, organisatorischer und finanzieller Rahmen zur Erprobung von Quartiersgemeinden eröffnet ist, bedarf es einzelner Parochialgemeinden, die sowohl die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels wahrnehmen, als auch die Bereitschaft besitzen, etablierte gemeindliche Strukturen zu reorganisieren. Es sind also einzelne Gemeinden nötig, die auf freiwilliger Basis und mit Unterstützung der Landeskirche eine am Quartier orientierte Reorganisation ihres gemeindlichen Lebens erproben und die parochiale Organisation dadurch sukzessive ersetzen. Sinnvoll wäre es, wenn sich diejenigen Gemeinden, die zu einem Quartier gehören, gemeinsam zu einer solchen Erprobung entscheiden könnten und dabei in und für ihr Quartier kooperieren. Zunächst müssten also solche Gemeinden ausfindig gemacht werden. Dazu muss das Modell Quartiersgemeinde beworben und vorgestellt werden. Gemeinden müssten informiert und beraten werden, welche Chancen und Risiken mit einer solchen Reorganisation verbunden sind. Nachdem sich eine oder mehrere Gemeinden eines Quartiers gefunden haben, benötigen diese Unterstützung in der Wahrnehmung und Beschreibung ihres Quartiers. Dazu bedarf es sozialwissenschaftlicher Expertise, welche durch die Landeskirche bzw. den jeweiligen Kirchenkreis zur Verfügung gestellt werden kann. Das Landeskirchenamt (bzw. die Superintendentur) könnte entsprechende sozialwissenschaftliche Einrichtungen (universitäre Institute oder Hochschulen) bzw. einzelne Wissenschaftler mit der Bereitstellung und Aufarbeitung entsprechender empirischer Daten sowie einer möglichst exakten Beschreibung und Darstellung der Quartiere einer Stadt bzw. des Ortes der Erprobung beauftragen. Diese Daten müssen den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden und auf deren Grundlage könnte eine Umstrukturierung der Gemeinde anhand des Quartiers beginnen. In wie vielen Quartieren und mit wie vielen Gemeinden eine solche Erprobung beginnt, lässt sich keineswegs pauschal beantworten. Es wäre jedoch wichtig, dass das Engagement und die Erfahrungen derer, die sich auf einen solchen Prozess einlassen, dokumentiert und anderen Gemeinden zugänglich gemacht werden. Dazu wäre die Einrichtung eines landeskirchlichen Kompetenz- und Beratungszentrums für solche kirchlichen Reformprozesse sinnvoll und hilfreich. Die Nachhaltigkeit dieses Modells entscheidet sich letztlich vor allem darin, wie erfolgreich Quartiersgemeinden darin sind, das Evangelium mit den Menschen ihres Quartiers zu kommunizieren und ob es gelingt, durch dieses Modell von urbaner Gemeinde den Eigenlogiken der Stadt gerecht zu werden und das Evangelium unter urbanen Bedingungen zu bezeugen. Wenn dies gelänge, dann wäre eine schrittweise Umstellung urbaner Gemeindestrukturen von parochialer hin zur Orientierung am Quartier die nötige Konsequenz. Aber
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auch für diese Umstellung gilt, dass diese nicht pauschal, sondern je nach lokalen Bedingungen entschieden und gestaltet werden muss. Dort, wo Parochialgemeinden ihre Aufgabe der Evangeliumskommunikation mit ihrem städtischen Umfeld erfolgreich wahrnehmen, ist der Bedarf einer Reorganisation (möglicherweise noch) nicht gegeben.
3.6 Von Citykirchen zu StadtKirchen Dass Aufgabenbeschreibung und Tätigkeiten von Citykirchen und StadtKirchen nicht völlig unterschiedlich sind, liegt auf der Hand. Insofern kann man bei dieser Ausdrucksform urbaner Kirche nicht zwangsläufig von einem Paradigmenwechsel von citykirchlichem hin zu stadtkirchlichem Engagement sprechen. Dennoch hat die vorliegende Arbeit den Begriff StadtKirche strukturell erweitert und inhaltlich profiliert. Zudem schlägt der hier vorgelegte Entwurf die Gestaltung von StadtKirchen als kirchliche Knotenpunkte einer Stadt vor. Eine solche Nutzung von StadtKirchen muss entsprechend geplant und umgesetzt werden. Dazu bedarf es, wie bei den Quartiersgemeinden, zunächst eines Beschlusses der Synode bzw. der Kreissynode. Dieser Beschluss muss eine stadtkirchliche Profilierung und eine dementsprechende Ausstattung dieser Kirchen durch die Zuwendung entsprechender Mittel finanziell ermöglichen. Sowohl eine solche Entscheidung als auch deren Umsetzung muss auf regionaler Ebene erfolgen, da eine Etablierung von StadtKirchen als kirchliche Knotenpunkte eine strategische Entscheidung ist, die Auswirkungen auf einen gesamten Kirchenkreis bzw. eine Landeskirche hat und deshalb auf dieser Ebene geplant, entschieden und umgesetzt werden muss. Ist ein solcher Beschluss getroffen worden, schließt sich eine Identifikation der infrage kommenden Kirchen einer Stadt an. Die leitende Frage lautet: Welche Kirchen einer Stadt erfüllen die Kriterien einer Citykirche bzw. einer marginalen Citykirche? Diese Identifikation geschieht bestenfalls durch die zuständige(n) Superintendentur(en) einer Stadt, welche im Austausch mit den Kirchengemeinden solcher möglicher StadtKirchen klärt, ob die Beschreibung auf die entsprechenden Gemeinden zutrifft und ob die Gemeinden Interesse an einer stadtkirchlichen Organisation und Profilierung haben. Zu dieser Organisation und Profilierung gehört die Ausstattung mit entsprechenden Mitteln, die zur Wahrnehmung dieser Aufgabe nötig sind. Diese Mittel umfassen u. a. Personal, Weiterbildungen und Finanzen. Dazu müssen die Bedarfe sowohl der betreffenden Gemeinde als auch die Bedarfe des Umfelds geprüft werden. Die Analyse des Kontextes könnte über eine Sozialraumanalyse (s. o. § 2 Abs. 2.5) erfolgen und erörtern, wie die soziokulturelle und residentielle
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Zusammensetzung sowie Nutzung des stadtkirchlichen Umfelds beschaffen ist. Der Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Expertise ist nötig und sollte durch die Superintendentur ermöglicht werden. Eine sozialwissenschaftliche Analyse des Umfelds deckt die sozialen Dynamiken sowie die Trends des Wohnungsmarktes auf und hilft der StadtKirche ihr Umfeld realistisch wahrzunehmen und zutreffend zu beschreiben. Eine solche Analyse des Sozialraumes ist die notwendige Voraussetzung, um die angemessenen Mittel zu Verfügung zu stellen, die eine StadtKirche braucht, damit sie als kirchlicher Knotenpunkt zu fungiert. Folglich wird jede StadtKirche ein eigenes Profil entwickeln, um ihrem Auftrag der Kommunikation des Evangeliums nachzukommen und die vier Dimensionen urbaner Gemeindeentwicklung abzubilden. Zu einer solchen Untersuchung gehört zudem die Identifikation der Menschen, mit denen die StadtKirche das Evangelium kommuniziert und welche bereits existierenden sowie neu zu entwickelnden Formate und Aktivitäten der StadtKirche diesem Auftrag der Gemeinde dienen. Teil einer solchen Bedarfsanalyse ist zudem die Prüfung einer möglichen Öffnung der StadtKirche für andere urbane Akture (s. o. § 16 Abs. 2.2.5). Dazu müssen die anderen kirchlichen wie nichtkirchlichen Organisationen, Einrichtungen, Initiativen und Personen ausfindig gemacht werden und ein mögliches Interesse an Kooperation geprüft und die konkrete Gestaltung dessen erörtert werden. Die vorliegende Arbeit hat im Anschluss an CA VII die Notwendigkeit einer gemeindlichen Struktur zum Kirche-Sein betont sowie eine intentionale Förderung und Entwicklung christlicher Gemeinde im Rahmen der congregatio sanctorum und der daraus entstehenden Communio als Dimension der Koinonia gefordert. Diese Forderung wurde angesichts der personell fluiden Struktur sowie der stadthistorischen und musealen Bedeutung von StadtKirchen für diese Ausdrucksform urbaner Kirche besonders betont. Insofern muss bei der Einrichtung von StadtKirchen von Anfang an die dazugehörende Gemeinde eingebunden werden und jegliche Planung in enger Abstimmung mit dem Presbyterium (bzw. Kirchenvorstand oder Kirch(en)gemeinderat und der Gemeindeversammlung) erfolgen.213 Die Gemeinde ist Zeugin des Wortes vom Kreuz und ohne oder gar gegen die Einschätzung und Expertise der Gemeinde kann eine Reorganisation von Citykirchen als StadtKirchen nicht sinnvoll umgesetzt werden. Die lokalen Christen können als die »Kenner des urbanen Lebens« beschrieben werden. Ihre Einschätzung sowie ihre aktive Einbindung in den Prozess des Wandels und in die Gestaltung stadtkirchlichen Engagements ist
213 Vgl. dazu Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 248 f.
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zwingend erforderlich. Sollte eine Citykirche über keine Gemeinde verfügen214, dann besteht die Restrukturierung hin zu einer StadtKirche auch darin, dass sich eine Gemeinde um die entstehende StadtKirche entwickelt und Trägerin des stadtkirchlichen Lebens wird.215 Diese Gemeinde orientiert sich folglich nicht parochial, sondern einerseits geographisch (um den Ort der StadtKirche herum) und andererseits profiliert (um die Aufgaben und Profilierung der StadtKirche). Die Schaffung gemeindlicher Strukturen (Gemeindekirchenrat, Gemeindeversammlung etc.) ist sicher sinnvoll, kann aber nicht pauschal gefordert werden.
3.7 Von Fresh Expressions of Church zu frischen Ausdrucksformen urbaner Kirche Die Überschrift ist – streng genommen – eigentlich etwas irreführend, da sie suggeriert, dass bereits zahlreiche (flächendeckende) fxC in deutschen Städten existieren. Dem ist zweifelsohne nicht so.216 Ähnlich wie bei den EPR müssen fAuK zunächst kirchenrechtlich ermöglicht werden und dazu bedarf es eines Beschluss der Synode, welcher eine Ergänzung anderer Gemeindeformen durch fAuK eröffnet und die Entstehung von fAuK als christliche Gemeinden in einem theologischen und kirchenrechtlichen Sinn fordert und fördert.217 Entsprechend CA VII sind Versammlungen von Christen (und Nichtchristen) um das Heilige, in denen das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird, theologisch als Kirche zu beschreiben. Der Grammatik von fxC folgend, sind fAuK nicht nur kirchliche Projekte oder Brückenveranstaltungen, sondern Kirche und Gemeinde im kirchenrechtlichen Sinn. Dieser doppelten Setzung muss der Synodalbeschluss folgen und eine entsprechende Regelung treffen, die fAuK Parochial-, Quartiersgemeinden und StadtKirchen rechtlich gleichstellt. Daran sind ebenfalls Zuwendungen von kirchlichen Mitteln gebunden, über die ebenfalls die Landessynoden (bzw. die Kreissynoden) entscheiden. Die Umsetzung der Beschlüsse obliegt dann dem Landeskirchenamt bzw. dem Kirchenkreisvorstand. Es wäre zu empfehlen eine Steuerungsgruppe einzusetzen, welche die Initiation, Genese und Vernetzung der fAuK koordiniert und den entsprechenden Akteuren beratend zur Seite steht.
214 Vgl. dazu aaO., 249 f. 215 Eine solche Entwicklung beschreiben Hauschildt/Pohl-Patalong vgl. aaO., 308. 216 Für eine Übersicht an deutschen Initiativen, die mit dem Begriff fxC verbunden sind, vgl. https://www.freshexpressions.de/fresh-x-finden/ (aufgerufen am 2.11.2018). 217 Zu Bedeutung von Kirche als »Gemeinde« vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 271 ff.
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Nachdem die rechtliche, strukturelle und finanzielle Ermöglichung von fAuK gesichert ist, müsste sich eine Phase der Initiation anschließen, die aus mehreren Schritten besteht: Zunächst muss das Modell im Kirchenkreis bzw. der Landeskirche eingeführt und beworben sowie Möglichkeiten der Umsetzung aufgezeigt werden. Dazu bedarf es eines Kompetenzteams, welches Informationsveranstaltungen, Weiterbildungen und Studienreisen zu anderen, vergleichbaren Gemeindeformen anbietet. Ein solches Kompetenzteam müsste von der Steuerungsgruppe ernannt werden und sollte aus Mitgliedern der Steuerungsgruppe, lokalen Pastoren und fxC-Pionieren bestehen. Die grundsätzliche Aufgabe des Kompetenzteams besteht darin, über die theologischen, rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten von fAuK zu informieren. Ziel dessen ist, dass solche (haupt- und ehrenamtlichen) Christen, die sich für eine fAuK interessieren, über die Möglichkeiten, eine innovative Ausdrucksform von Kirche ins Leben zu rufen, informiert, für ein solches Vorgehen gewonnen und dazu befähigt werden. Außerdem sollen die bereits etablierten urbanen Gemeinden über fAuK aufgeklärt und für eine Kooperation mit Gründungsteams und entstehenden fAuK informiert werden. Dies soll ebenfalls der Gewinnung Interessierter aus den Reihen bestehender Gemeinden dienen, die sich ein Engagement im Rahmen einer fAuK vorstellen können. Ein erstrebenswertes Ziel dieses Vorgehens wäre die Vernetzung der verschiedenen Gemeindeformen einer Stadt mit den fAuK sowie eine Vernetzung der verschiedenen fAuK untereinander. Gerade hinsichtlich der Ergänzung von Ortsgemeinde (in Parochie und Quartier) und StadtKirche durch fAuK ist ein regelmäßiger Austausch und eine enge Abstimmung zwischen den verschiedenen Gemeindeformen sinnvoll und im Sinne einer urbanen Gemeindeentwicklung zielführend. Gerade bei solchen fAuK, die sich geographisch orientieren, ist eine Vernetzung mit anderen Gemeinden des Ortes angezeigt, um die Besonderheiten, Potentiale und Herausforderungen des Kontexts gemeinsam realistisch einzuschätzen und darauf angemessen zu reagieren.218 Die Verzahnung mit den anderen Gemeinden einer Stadt entspricht bereits der Beschreibung der serving-first-journey, welche die Entstehung einer fxC (bzw. einer fAuK) in Beziehung zum Ganzen der Kirche beschreibt (»in Relation to the wider Church« s. o. § 15 Abs. 3.1 und Abb. 7). Entsprechend der serving-first-journey beginnt die konkrete Entstehung von fAuK mit dem doppelten Hören. Das Team einer entstehenden fAuK muss sich 218 Hauschildt/Pohl-Patalong verweisen darauf, dass eine Kooperation zwischen Gemeinden und eine daraus resultierende Koordination der gemeindlichen Aufgaben auch zu Konkurrenzen und Rivalitäten führen kann. Diese »sollten aber in einer Kultur gegenseitiger Wertschätzung und in dem Bewusstsein der gemeinsamen Aufgabe bearbeitet und langfristig überwunden werden.« (AaO., 308 – Hervorhebung im Original).
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für diesen Schritt die nötige Zeit nehmen.219 In welcher Geschwindigkeit und genauen Reihenfolge die folgenden Schritte der Journey erfolgen, kann pauschal nicht beantwortet werden und hängt sehr von den konkreten Umständen ab. Die Details der Umsetzung der Journey sind auch eher sekundär. Wichtiger ist, dass die Merkmale und Indikatoren von fxC sowie die notae ecclesiae nach CA VII genuiner Bestandteil der sich entwickelnden fAuK sind. Insofern ist die Ausbildung einer Gemeinschaft, in der das Evangelium in Wort und Sakrament bezeugt wird, in der lebendiges, mündiges Christensein gefördert wird, die sich ihrem Kontext zuwendet und sich darin als gesandte Kirche versteht, unverzichtbar. Die Stichworte »doing it again« zeigen an, dass dieser Prozess niemals abgeschlossen ist, sondern fAuK sich mit ihrem Umfeld wandeln.
3.8 Pluriforme urbane Gemeindeentwicklung und Gemeindezugehörigkeit Die dargestellte Neuorganisation von urbaner Kirche wirft Fragen nach der Zugehörigkeit bzw. Mitgliedschaft220 zu einer Gemeinde der Evangelischen Kirche auf. Bisher sind Menschen gemäß dem parochialen Prinzip (s. o. § 15 Abs. 1) über territoriale Zuordnung Mitglieder einer Gemeinde. Eine Relativierung und sukzessive Auflösung der parochialen Struktur, die eine Folge der in dieser Arbeit dargestellten Neustrukturierung von urbaner Kirche ist, erfordert eine Reform dieses Modells. Diese Arbeit schließt sich dem Vorschlag von Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong an, die angesichts der Pluralisierung von Gemeindeformen dafür plädieren, dass sich Christen nach eigener Wahl einer Gemeinde zuordnen.221 Somit ist das entscheidende Kriterium nicht mehr Wohnort und die automatische Zugehörigkeit zu einer Parochie, sondern neben dem Wohnort (besonders bei Quartiersgemeinden, aber auch bei geographisch orientierten fAuK) sind es inhaltliche oder soziale Gründe, die für die Wahl einer Gemeinde ausschlaggebend sind. Diese Neuorientierung pluralisiert die Zugangsmöglichkeiten zu einer Gemeinde: »Denn anders als gelegentlich angenommen, bedeutet eine Profilbildung von Gemeinden ja nicht, dass
219 Es lässt sich nicht pauschal aussagen, welcher Zeitraum angemessen ist – zumal das Hören eine die ganze Journey durchziehende Haltung ist. Für den Beginn einer fAuK besteht ein guter Richtwert in dem Zeitraum von einem Jahr. Vgl. dazu u. a. Goodhew et al. 2012, 159 ff. 220 Vgl. dazu Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 360–362. 221 Vgl. aaO., 308–310.
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damit die lokale Orientierung kirchlicher Beteiligung aufgehoben wird, sondern dass sie vom dominanten Kriterium zu einer möglichen Orientierung wird.«222 Eine derartige Regelung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde entspricht dem faktischen Verhalten zahlreicher Mitglieder der evangelischen Kirche223, denn wer sich in der Kirche engagiert, »tut es nicht notwendig in der Parochie, zu der er oder sie nominell gehört, sondern wählt die Gemeinde eigenständig nach subjektiven Kriterien.«224 Alexander Höner bilanziert aus seiner Hamburger und Berliner Erfahrung: Durch die vorhandene Mobilität hat sich die Wahlmöglichkeit erheblich vergrößert – besonders in der Stadt. Man besucht nicht mehr unbedingt die Kirche vor der Haustür, sondern führt gezielt zu einem anderen Angebot, weil die Ausführenden einem dort mehr zusagen: Es findet eine Entwicklung von der Parochie zur Personalgemeinde statt.225
3.9 Widerstand gegen die Reorganisation (urbaner) kirchlicher Strukturen Solch ein grundlegender und umfassender Wandel kirchlicher Struktur wird sich nicht ohne Widerstände, Spannungen und Herausforderungen vollziehen226 und erfordert eine realistische Einschätzung und ein Ernstnehmen struktureller Beharrungskräfte. Die theoretische Darstellung einer Pluralisierung und Neuorganisation urbaner Gemeinden darf die praktischen Herausforderungen, die sich mit einem solchen Strukturwandel verbinden, nicht verschweigen oder verharmlosen. Da ein solcher Strukturwandel, der auch und vor allem ein Mentalitätswandel ist, Zeit braucht, muss er in kleinen und realistischen Maßnahmen 222 Ebd. 223 Vgl. Pollack et al. 2015,137–141. »Denn deutlich ist mittlerweile die Pluralität von Mitgliedschaftspraxen und -motiven zu erkennen. Deutlich ist auch wahrzunehmen, dass die Parochialgemeinde nicht die einzige Gemeindegestalt der Kirche darstellt. […] Dass ein eindimensional- konzentrisches Kirchenbild dieser Pluralität in den Bereichen Mitgliedschaft und Gemeindeformen nicht ausreichend entspricht, liegt auf der Hand. Es wird also zukünftig eher um polyzentrische Entwicklungen von Gemeinden und Kirchenbildern gehen, die eine Vielzahl von Zugängen und Mitgliedschaftspraxen nicht nur zulassen, sondern bewusst ermöglichen und fördern. Im Blick auf die Gemeindeformen bedeutet das stärker als bislang ein Mit- und Nebeneinander von parochialen und nicht-parochialen kirchlichen Orten.« (Wissenschaftlicher Beirat 2015, 450). 224 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 256. Vgl dazu auch aaO., 256–271 und Löwe 1999, 348–353. 225 Höner 2017, 204. 226 Vgl. dazu Sellmann 2017a, 86f und 93; Hucht 2017, 158f und Eder 2012, 212–216.
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der Erprobung durchgeführt werden. Deshalb gilt: »Kurzfristerwartungen sind ganz fehl am Platz. Denn wer gibt schon auf, was ihm lieb ist, wenn er nicht sieht, was stattdessen kommen soll?«227 Das Risiko einer Frustration der (mehr oder minder) beteiligten Gemeindeglieder einer Stadt angesichts der Langfristigkeit der gemeindlichen Neustrukturierung und Pluralisierung muss in Kauf genommen werden, da es letztlich nicht zu vermeiden ist. Jan Fuhse verweist im Blick auf soziale Netzwerke darauf, dass die Funktion solcher Netzwerke, die Zuschreibung und Füllung von Rollen sowie die Formen der Kommunikation und Entscheidungsfindung von kulturellen Vorgaben geprägt sind, die stets berücksichtigt werden müssen, um die Entstehung und den Erhalt eines Netzwerks sicherzustellen.228 Damit mit Konflikten sinnvoll umgegangen wird, bedarf es entsprechender Bewältigungsstrategien und Mediationen bzw. moderierte Annäherungsprozesse. Solche Kompetenzen gilt es im Rahmen eines Netzwerks pluriformer urbaner Gemeinden zu entwickeln und in der Kommunikation innerhalb des Netzwerks sowie durch eine Netzwerkmoderation anzuwenden.
4. Urbane Gemeindeentwicklung als Netzwerk pluriformer urbaner Gemeinden Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong unterstreichen die theologische Legitimität vielfältiger Gemeindeformen angesichts einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und entdecken darin eine Wiedergewinnung der bereits im Neuen Testament bezeugten Vielfalt an Gemeindeformen (s. o. § 16 Abs. 2.3.1). Eine uniforme Festlegung von Gemeinde auf eine Struktur markieren sie als theologischen Irrweg. Kriterium zur Modifikation und Anpassung der (je zeitbedingten) Strukturen von Gemeinde ist die Frage, inwiefern diese Form und Struktur der Kommunikation des Evangeliums dem Kontext dient oder dieser Kommunikation hinderlich ist.229 Dazu ist die kirchenrechtliche Anerkennung verschiedener Gemeindeformen notwendig.230 Im Blick auf die pluralen, ausdifferenzierten und sich stetig wandelnden Städte ist es für eine urbane Gemeindeentwicklung geboten, sich ebenso um 227 Sellmann 2017a, 93. 228 Vgl. Fuhse 2012, 380. 229 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 305 f. 230 Vgl. dazu aaO., 271ff und – im Blick auf Kirche bei neuen Gelegenheiten – vgl. Pohl-Patalong 2014, 205 f.
4. Urbane Gemeindeentwicklung als Netzwerk
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Pluralität, Ausdifferenzierung und Flexibilität zu bemühen. Die vorliegende Arbeit spricht sich dafür aus, das unter § 16 Abs. 2.3.4 beschriebene Netzwerk von fAuK auf alle Ausdrucksformen urbaner Gemeinde auszuweiten und urbane Gemeindeentwicklung nicht als Aufgabe einzelner Gemeinden, sondern als gemeinsame Aufgabe aller Gemeinden einer Stadt zu verstehen. Das Ziel: eine plurale, vernetzte und aufeinander abgestimmte urbane Gemeindeentwicklung als Netzwerk vielfältiger Ausdrucksformen von Gemeinde im Sinne eines »ökumenischen Netzwerks«231 verschiedener Gemeinden einer Stadt.232 Mit den Worten von Hauschildt/Pohl-Patalong: »Die Gemeinden [eines solchen Netzwerks] verstehen sich damit weniger als autonome Größe für einen abgegrenzten Bezirk denn als Knotenpunkte in einem Netz von Gemeinden mit einem jeweils spezifischen Beitrag für die gemeinsame Aufgabe.«233 Jochen Cornelius-Bundschuh schreibt, dass »es für die Zukunft der evangelischen Volkskirche entscheidend [ist], ob es gelingt, die Zusammenarbeit unter den Gemeinden […] zu entwickeln, mehr Querverbindungen zwischen den Handlungsfeldern zu schaffen und die regionale Kooperation zu fördern.«234
4.1 Was sind Netzwerke? Um urbane Gemeindeentwicklung als Netzwerk darzustellen, muss zunächst geklärt werden, was ein Netzwerk ist.235 In den letzten Jahrzehnten hat sich die Netzwerkanalyse und die damit verbundene Netzwerktheorie236 als sozial-
231 Nord 2014, 409. 232 Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 305–310, praktische Beispiele, vgl. Sommerfeld 2016, 563–576.583–586. 233 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 307. 234 Cornelius-Bundschuh 2018, 94. 235 Für eine ausführliche Einführung zur Bedeutung von Netzwerken im gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Kontext vgl. Eder 2012, 18–124. 236 Eine soziologische Diskursanalyse zu Netzwerkforschung und katholischer Pastoraltheologie vgl. Zimmer 2017a. Für eine allgemeine Einführung in die Netzwerkforschung anhand einer Darstellung der Forschungsgeschichte sowie der Forschungsfelder vgl. aaO, 18–45. Zu den Grundannahmen der Netzwerksoziologie schreibt Miriam Zimmer, »dass soziale Beziehungen in Wechselwirkung mit individuellem und kollektivem Handeln sowie mit personalen, gruppenspezifischen und/oder gesellschaftlichen Outputs stehen. Je nach Fragestellung kann/können die soziale(n) Beziehung(en) demnach als unabhängige, abhängige, moderierende oder auch nur mediierende Variable in einem Forschungsdesign untersucht werden.« (AaO., 23). Hervorhebung im Original.
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wissenschaftliches Feld der Erforschung von Netzwerken etabliert.237 »Die Idee der Netzwerkforschung238 dabei ist, dass die vorhandenen sozialen Beziehungen das Verhalten der involvierten Individuen besser erklären können als individuelle Faktoren.«239 Folglich »wird davon ausgegangen, dass das Handeln der einzelnen Akteure nur unter Berücksichtigung des Netzwerkes, in welches sie eingebunden sind, zu verstehen ist, da dieses über Eigenschaften verfügt, die die einzelnen Akteure nicht haben.«240 Dieter Bögenhold unterscheidet zwischen personenbezogener (egozentrierter) und organisatorischer Netzwerkanalyse.241 Miriam Zimmer definiert Netzwerk so: »Geflechte oder Strukturen, die aus den Verbindungen einzelner Elemente entstehen. Das heißt, es sind einzelne Entitäten als Knoten identifizierbar und jeweils separierbar. Die Verbindungsstrukturen sind ebenfalls in ihrer Art benennbar und in Qualität und Stärke beschreibbar.«242 Bögenhold schreibt: Netzwerke können in gewisser Weise als eine Art Scharnier zwischen soziologischen Mikro- und Makrodimensionen fungieren. Sie integrieren gleichermaßen die Handlungs- und Kommunikationsebene mit Fragen von struktureller Selektion und sozia-
237 Zu Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie vgl. Stegbauer 2008b. Zur Analyse von kirchengemeindlichen Netzwerken in der V. KMU vgl. Heidler et al. 2015 und Stegbauer et al. 2015. »Haben wir es mit der Netzwerkforschung also mit einem Paradigmenwechsel zu tun? Man kann sagen, dass die Anfänge bereits einige Jahre zurückliegen und insofern es sich nicht um ein ›neues‹ Paradigma handelt. Andererseits kann man den Eindruck gewinnen, dass das neue Paradigma gerade entsteht, wenn wir beobachten, dass die neue Sichtweise in zahlreichen Fachgebieten plötzlich mit einer enormen Geschwindigkeit aufgesogen und eingepasst wird. Vielleicht lässt sich die Frage, ob es sich um ein neues Paradigma handelt, bzw. wie neu dieses Paradigma wirklich noch ist, erst später durch Wissenschaftshistoriker beantworten.« (Stegbauer 2008b, 12). 238 Zu den Methoden der Netzwerkanalyse vgl. Fuhse 2014, 336 f. 239 Bruns 2012, 90. 240 Ebd. 241 Vgl. Bögenhold 2015, 35–37: »Netzwerkanalyse fragt nach Formen und Inhalten des Austausches zwischen Menschen oder Organisationen, wobei Symbole (Ideen, Werte, Normen), Emotionen (Liebe, Respekt, Feindlichkeit) oder Güter oder (Dienst-)Leistungen (besonders finanzielle Unterstützungen und Geschenke) transportiert werden.« (AaO., 36). Jan Fuhse schreibt: »Die Netzwerkanalyse untersucht die Muster solcher sozialer Beziehungen mit formalen mathematischen Methoden in Bezug auf (a) die individuelle Position von Akteuren im Netzwerk mit Maßen für Zentralität und Zugehörigkeit zu Subgruppen und (b) auf Eigenschaften des gesamten Netzwerks wie Dichte, Kohäsion oder Rollenstrukturen.« (Fuhse 2014, 336 – Hervorhebung im Original). 242 Zimmer 2017a, 65. Ähnlich grundsätzlich: »Ein Netzwerk (engl. network) besteht graphentheoretisch aus einer Menge an Verbindungen (Kanten) zwischen einem festgelegten Satz an Knoten.« (Fuhse 2014, 336).
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lem Wandel. Netzwerke fungieren als ›Sets‹ von Präferenzen und Sozialkontakten von Individuen und Gruppen und zwischen Institutionen.243
Als untergeordnete Kategorie von Netzwerken sind soziale Netzwerke244 zu unterscheiden, denn diese sind »Beziehungsstrukturen zwischen AkteurInnen«245 und »AkteurInnen sind: einzelne Personen, Gruppen oder Organisationen, also handelnde Entitäten.«246 Somit »zeichnet sich ein soziales Netzwerk aus einer bestimmten Anzahl von Personen und deren Beziehungen untereinander aus, mit deren Hilfe das soziale Handeln der involvierten Personen analysiert werden kann.«247 Für soziale Netzwerke gilt, dass sie »als Ressourcen zu verstehen [sind], die sowohl Individuen als auch Gruppen nützlich sein können, um beispielsweise Kommunikationsprozesse entstehen zu lassen oder diese zu verbessern.«248 Richard Traunmüller beschreibt soziale Netzwerke als die »strukturelle Dimension des Sozialkapitals«249 und in »vielerlei Hinsicht
243 Bögenhold 2015, 36. 244 Vgl. Friedrich 2012, 29 f. »Das soziale Netzwerk eines Menschen besteht aus seinen vielfältigen Kontakten und Beziehungen zu anderen Menschen. Diese können ihm unterschiedlich nahestehen und auf unterschiedliche Weise mit ihm verbunden sein. Sie gehören zu verschiedenen Lebensbereichen, wie zum Beispiel zur Familie, zur Nachbarschaft, zum Beruf oder zum Freundeskreis. Das professionelle Netzwerk umfasst alle Beziehungen zu Menschen, die für ihre Unterstützungsleistungen, die sie anbieten, finanziell entlohnt werden. Klassisch sind hier Steuerberater, Ärzte und Psychotherapeuten zu nennen, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere auch sozialpädagogische Betreuer(innen) und das Jugendamt. Weite Teile der menschlichen Kontakte und Beziehungen sind jedoch informell. Man nennt sie auch das primäre Netzwerk (Verwandte, Nachbarn, Freunde), im Gegensatz zum sekundären (Kita/ Schule etc.) und zum tertiären Netzwerk, das dem professionellen Netzwerk entspricht.« (AaO., 29). Vgl. dazu auch Eder 2012, 107–115. 245 Zimmer 2017a, 65. 246 Ebd. »Die Knoten von sozialen Netzwerken sind meist individuelle Akteure. Aber auch Kollektive oder Organisationen können als Knoten fungieren. Die Verbindungen zwischen ihnen bestehen aus Sozialbeziehungen, also beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Kommunikation bzw. des sozialen Handelns zwischen den Akteuren.« (Fuhse 2014, 336 – Hervorhebung im Original). 247 Bruns 2012, 90. Den Einfluss von Religion und Konfession auf soziale Netzwerke haben Robert Kesckes und Christof Wolf in den 1990er Jahren in Köln untersucht (vgl. Kesckes/Wolf 1996). Rainer Schützeichel hat unter dem Begriff Netzwerk-Religiosität den Wandel religiöser Sozialformen beschrieben und entdeckt im »Bezug auf die Sozialformen […] Religion konträre, aber dennoch komplementäre Tendenzen […]. Systemtheoretisch könnte man von einer Art ›organisierter Interaktionen‹ oder […] ›organisierten Netzwerken‹ sprechen.« (Schützeichel 2014, 158). Er entdeckt die beiden komplementären Größen Organisation und Netzwerk, vgl. ebd. 248 Bögenhold 2015, 37 249 Traunmüller 2018, 912.
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stellen soziale Netzwerke die zentrale Komponente des Sozialkapitalkonzepts dar.«250 Traunmüller schreibt: Die einzelnen Aspekte des Sozialkapitals in Form sozialer Netzwerke, des Vertrauens und der Reziprozitätsnormen stehen theoretisch in einem engen kausalen Wechselverhältnis zueinander (Putnam 1993, 2000). So ist eine zentrale Annahme der Sozialkapitalschule, dass dichte soziale Netzwerke die Entwicklung von sozialem Vertrauen fördern sowie die Einhaltung von Reziprozitätsnormen sichern. Gleichzeitig werden weit verbreitete Normen der Reziprozität als wichtige Voraussetzung für die Vertrauensbildung angesehen. Umgekehrt lässt sich argumentieren, dass die Entwicklung von sozialen Netzwerken ihrerseits die Existenz von Vertrauen und Reziprozität voraussetzt.251
Zudem unterscheiden sich natürliche und künstliche Netzwerke. Zimmer hält fest, dass soziale Netzwerke automatisch entstünden, ohne explizit geschaffen worden zu sein bzw. gestaltet zu werden und dass es nicht »das Netzwerk« eines Orts gebe, sondern eine große Fülle und Vielfalt an Netzwerken darstellbar sei. Netzwerke könnten demzufolge zwischen Personen, aber auch zwischen Organisationen sowie zwischen Personen und Organisationen existieren.252 Neben der Untersuchung, Beschreibung und Darstellung der Struktur sozialer Netzwerke ist es wichtig, diese umfassend zu beschreiben. Dies bedeutet, dass »ihre Dynamik253 und ihre Funktion«254 analysiert werden muss. Denn: »Soziale Netzwerke stellen Interaktionszusammenhänge dar, in die das individuelle Handeln eingebettet ist. Insofern verweist der Begriff auf die Relationen und Interdependenzen zwischen Personen ebenso wie auf die Entstehungs- und Veränderungsbedingungen solcher sozialer Zusammenhänge.«255
250 Ebd. 251 AaO., 914. 252 Vgl. Zimmer 2017a, 66. 253 »Ein wesentliches Problem aber […] ist es, Dynamik in Netzwerken zu erfassen. Zwar liegen eine Reihe von Analysen hierzu vor, die Problematik ist aber noch lange nicht gelöst.« (Stegbauer 2008b, 15). Zur Netzwerk-Dynamik von relationalistischen Interaktionen vgl. Häußling 2008. 254 Marquadsen 2012, 68. 255 Ebd.
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Tab. 6: Typen sozialer Netzwerke (Quelle: Zimmer 2017a, 67) Natürliche Netzwerke – soziale Ressourcen –
Künstliche Netzwerke – Professionelle Ressourcen –
primäre Netzwerke
sekundäre etzwerke N – Private Akteure –
Tertiäre Netzwerke – Professionelle Akteure –
nicht organisiert
gering organisiert
gemeinnützig; dritter Sektor; organisiert
Märkte; zielgerichtet; organisiert
Affektive Primärbindungen
informelle kleine Netzwerke
Ressort- und raumbezogene Kooperation
Marktbezogene Kooperationen; formalisierte Netzwerke
z. B. Familie, Freundeskreis, Kollegen etc.
z. B. Nachbarschaftsnetzwerke, Interessengruppen etc.
z. B. Stadtteil kooperationen; Themennetzwerke
z. B. Produktions netzwerke, Händlerverbünde, Branchen netzwerke
Miriam Zimmer hat die in Tab. 6. dargestellte Ordnung von Netzwerken vorgenommen: Diesem Schema folgend, handelt es sich bei einem Netzwerk urbaner Gemeindeentwicklung auf der Ebene der Landeskirche bzw. des Kirchenkreises um ein künstliches, tertiäres Netzwerk professioneller Akteure, welches als gemeinnütziges Netzwerk dem dritten Sektor (als Nonprofit-Sektor) angehört und eine ressortbezogene, i. S. v. anlassbezogene und raumbezogene Kooperation darstellt.256 Da sowohl Ressourcen als auch Akteure professionell sind, entsteht ein solches Netzwerk folglich nicht von selbst, sondern ist das Resultat einer aktiven Bemühung um Vernetzung sowie einer Gestaltung und Entwicklung dieser Vernetzung.257 256 Auf gemeindlicher Ebene handelt es sich eher um ein sekundäres Netzwerk privater Akteure, welches gering organisiert und informell ist. Dies betrifft die Beziehungen einzelner Christen verschiedener Gemeinden sowie einzelner Gemeinden zueinander. Für eine stadtweite Gemeindeentwicklung ist diese Perspektive jedoch nicht ausreichend. 257 Im Blick auf das Potential einer Kirchengemeinde – im Unterschied zu anderen sozialen Nonprofit-Netzwerken – schreibt Eberhard Hauschildt: »Das Besondere und Hyperkomplexe von Kirchengemeinden im Vergleich mit anderen Nonprofit-Sozialraumnetzwerken ist die erwartbare Vielgestaltigkeit an Netzwerktypen. Vergleicht man abschließend das Kirchengemeindenetzwerk mit anderen Nonprofit-Sozialraumnetzwerken wie z. B. Fussballvereinen, sonstigen Chören, Umweltgruppen usw., so wird deutlich: Anders als in jenen Fällen laufen bei Gemeindenetzwerken Gruppen-, Organisations- und Institutionsmerkmale alle drei
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
4.2 Urbane Gemeindeentwicklung als künstliches, tertiäres Netzwerk Als künstliches Netzwerk entsteht ein Netzwerk urbaner Gemeinde nicht natürlich und selbstständig, sondern es muss geschaffen, entwickelt und erhalten werden. Die Initiation einer derartigen Vernetzung liegt zunächst in der Verantwortung der Kirchenleitung auf landeskirchlicher (Landeskirchenamt) bzw. auf regionaler Ebene (Superintendentur, Dekanat etc.). Jochen Cornelius-Bundschuh258 beschreibt im Anschluss an Jan Hermelink die Ebene des Dekanats (Superintendentur, Propstei) und das Amt des Dekans als »Dazwischen«-Ebene, von der erwartet wird, »dass sie Türen öffnen, um wechselseitige Durchblicke und Zugänge zu ermöglichen.«259 Diese sind: »Von der Ortsgemeinde zur Nachbargemeinde; von der Kirche ›vor Ort‹ zur Landeskirche, in die Ökumene und zu anderen Religionen […].«260 Cornelius-Bundschuh bezieht die Vernetzung durch diese mittlere »Dazwischen-Ebene« eindeutig auch auf die Vernetzung kirchlicher Akteure und Einrichtungen mit denen des Sozialraums und beschreibt ein so agierendes Dekanat als »Laboratorium, in dem neue inhaltliche Ausrichtungen und Strukturen der evangelischen Kirche entwickelt und erprobt werden, die zukünftige gesamtkirchliche Entscheidungen vorbereiten können.«261 Das Augenmerk der vorliegenden Arbeit liegt dabei auf der Vernetzung der verschiedenen gemeindlichen Ausdrucksformen in einer Stadt. Die Initiative für eine Vernetzung urbaner Gemeinden müsste von der Synode ausgehen, welche das Landeskirchenamt mit der Federführung beauftragt. Aufgrund seiner »Dazwischen«-Ebene wäre es sinnvoll, wenn das Landeskirchenamt das Dekanat mit der Umsetzung, also mit der Entwicklung eines Netzwerks urbaner Gemeinden, beauftragt. Die grundsätzliche Aufgabe des Dekanats/Superintendentur bestünde darin, als »Brückenbauer«262 zu fungieren und den Auftrag der Synode in enger Abstimmung mit dem Landeskirchen-
stark ausgeprägt mit. Kirchengemeinden sind staatsnäher, sie sind stärker von einer Vielfalt von Gruppen geprägt, sodass sehr Unterschiedliches im Vordergrund stehen kann, und das Gesamtgemeinde-Netzwerk hat einen vergleichsweise hohen Anteil an Ressourcenabschöpfung durch professionelles Personal u. a. m. Das macht das Kirchengemeindenetzwerk zu einem, das auf sehr vielen Ebenen mit den anderen Nonprofit-Sozialraumnetzwerken verknüpft ist.« (Hauschildt 2018, 89). 258 Vgl. Cornelius-Bundschuh 2018. 259 AaO., 94. »Die mittlere Ebene ermöglicht eine Nähe zu den unterschiedlichen Konstellationen ›vor Ort‹, behält aber die gesamtkirchlichen Perspektiven im Blick.« (AaO., 96). Zur Rolle des Kirchenkreises bei kirchlichen Veränderungsprozessen vgl. Kirchenamt 2006, 36 und 38. 260 Cornelius-Bundschuh 2018, 94. 261 Ebd. 262 In Anlehnung an Stegbauer 2018, 78 f.
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amt und den verschiedenen Gemeindeformen einer Stadt umzusetzen. Dazu gehört auch, dass der Kirchenkreisvorstand die Verteilung der kirchlichen Mittel (Personal, Finanzen etc.) entsprechend plant und festlegt.263 Gemäß der Darstellung von Cornelius-Bundschuh kann der Dekan264 (dies könnte auch ein vom Dekanat Beauftragter und Bevollmächtigter sein) in ephoraler Praxis265 als Netzwerkmoderator266 fungieren. Die Rolle eines Netzwerkmoderators resultiert aus der Einsicht, dass Netzwerke nicht gesteuert267, jedoch moderiert werden können und müssen. Barbara Hucht verweist darauf, dass »kein Netzwerk ohne Moderation auskommt.«268 Dabei gilt: »Moderation geschieht immer, bewusst oder unbewusst.«269 Netzwerkmoderation lehnt sich eng an die klassische Moderation an.270 Netzwerkmoderation zeichnet sich durch Allparteilichkeit271, Prozessverantwortung272 und durch eine »Anwaltsfunktion«273 für das Netzwerk aus. Das heißt: Hinsichtlich der Prozessbegleitung und der -moderation bevorzugt der Moderator keine Gruppe oder Partei, beansprucht aber, der Entstehung und Entwicklung des Netzwerks selbst gegenüber nicht neutral zu sein. »Die Netzwerkmoderation hat damit immer die strukturellen und inhaltlichen Netzwerkziele sowie die AkteurInnen mit ihren Interessen, Ressourcen und Beziehungen im Blick.«274 Die zentralen Aufgaben für eine Netzwerkmoderation sind diese: a) eine gemeinsame Vision und ein gemeinsames Ziel entwickeln und benennen b) eine Gemeinschaft von gleichberechtigten Partnern entwickeln c) die Entstehung von Vertrauen fördern 263 Vgl. Cornelius-Bundschuh 2018, 97. Angesichts ihres Modells kirchlicher Orte schreibt Uta Pohl-Patalong über dessen Finanzierung: »Auch die Verteilung der mit den Kirchensteuern eingenommenen Gelder auf die kirchlichen Orte müsste neu geregelt werden, da die Wohnbevölkerung nicht mehr leitendes Kriterium für die Zuteilung sein kann. Hierzu wäre ein – zu entwickelndes – differenziertes Verfahren nötig, das den Anreiz und die Unterstützung für die Einwerbung zusätzlicher Gelder einschließt.« (Pohl-Patalong 2003, 249) Ähnliches gilt – unter anderen Vorzeichen – auch für das hier vorgestellte Modell eines (ökumenischen) Netzwerks pluriformer urbaner Gemeinden. Die Finanzierung ist dabei zunächst eine Frage, die innerhalb einer Konfession beantwortet werden muss. Aber auch dafür gilt, dass die gegenwärtige Zuteilung kirchlicher Mittel in dem hier skizzierten Ansatz nicht mehr funktioniert. 264 Zur Person und zum Amt vgl. Cornelius-Bundschuh 2018, 94 f. 265 Vgl. aaO., 95. 266 Vgl. Hucht 2017, 140–147. 267 Vgl. aaO., 139. 268 AaO., 141. 269 Ebd. 270 Vgl. aaO., 140–142 und Friedrich 2012, 43–66. 271 Vgl. Friedrich 2012, 43–46. 272 Vgl. aaO., 46–50. 273 Hucht 2017, 141. 274 AaO., 142.
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d) die Bereitschaft entwickeln, Ressourcen zu teilen und Kompromisse zu finden e) zu Entscheidungen führen und diese dokumentieren f) Kooperation fördern und Konkurrenz entgegenwirken g) zur Flexibilität bei der Organisation des Netzwerkes mahnen und Aufwand für die Organisation gering halten und h) die Eigenverantwortung der Partner einfordern.275 Für die Aufgabe der Netzwerkmoderation gilt, dass diese äußerst anspruchsvoll ist, da verschiedenste Gruppen, Interessen und Befindlichkeiten berücksichtigt und aufeinander bezogen und miteinander vermittelt werden müssen. So anspruchsvoll und zuweilen herausfordernd diese Aufgabe auch sein mag (besonders im kirchlichen Kontext, s. o. § 16 Abs. 3.9), so wichtig ist sie, da sie dazu beiträgt der nicht steuerbaren Größe eines Netzwerks durch Moderation zum Erfolg zu verhelfen. Diese Aufgabe lässt sich sinnvoll auf der Ebne des Dekanats bzw. der Superintendentur verwirklichen, denn diese Zwischen-Ebene hat genügend Nähe zu den einzelnen lokalen Ausdrucksformen von Gemeinde bei gleichzeitiger Übersicht über die gesamte Struktur der Region. Diese Form von Netzwerkmoderation kann somit durchaus als regiolokal bezeichnet werden. Ihre Aufgabe besteht darin, die verschiedenen lokalen gemeindlichen Akteure der eigenen Konfession im Raum der kirchlichen Region miteinander zu vernetzen und die Entstehung sowie den Erhalt des sich entwickelnden Netzwerks zu sichern. Durch wen die Netzwerkmoderation geschieht (durch den Dekan, durch einen von der Superintendentur Beauftragten, durch eine Steuerungsgruppe oder ein entsprechend der Netzwerktheorie ausgebildetes Kompetenzteam) lässt sich nicht pauschal beantworten und muss situativ entschieden werden. Für ein städtisches Dekanat (Superintendentur etc.) wäre es grundsätzlich sinnvoll, einen eigenen Arbeitsbereich (oder eine Steuerungsgruppe) »Netzwerk urbane Gemeinden« einzurichten und sowohl personell als auch finanziell auszustatten.276 Unabhängig von der konkreten Organisation und Gestaltung eines Netzwerks urbaner Gemeinden, bedürfen die Initiatoren, Gestalter, Moderato275 Vgl. aaO., 142–147. 276 Dies wäre angesichts folgender Beobachtung von Matthias Sellmann ein Ausdruck der Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit: »Ganz wichtig wird es sein, zu vermeiden, was im pastoralen Lehrbetrieb schnell und gerne geschieht: dass nämlich der Begriff ›Netzwerk‹ zum Konjunkturbegriff avanciert, den in einer bestimmten Phase alle interessant finden, sich fortbilden – und dann zum nächsten Modebegriff überwechseln, ohne die Ressourcen dieses Denkens ernstgenommen zu haben. Dies geschieht zu rasch und deutet daraufhin, dass wir als professionelle Kirche immer noch stärker an schönen neuen Ideen interessiert sind als an strukturprägenden Innovationen.« (Sellmann 2017a, 95).
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ren, Gemeinden und einzelnen Glieder eines solches Netzwerkes spezifischer Netzwerk-Kompetenzen, die für den Erfolg eines solchen Vorgehens unabdingbar sind. Die Kompetenzen für die Arbeit mit Netzwerken beschreiben (in katholischer Diktion) Zimmer et al.277 und unterscheiden für unterschiedliche kirchliche und gesellschaftliche Ebenen verschiedene Kompetenzen278 (vgl. Abb. 9). Netzwerkkompetenzen beschrieben Zimmer et al. als »die kontextspezifischen Leistungsdispositionen (von kirchlich Engagierten), die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in interorganisationalen, sozialräumlichen Kooperationen und Netzwerken beziehen.«279 Je nach Rolle280, Ebene, Funktion und Aufgabe sind andere Kompetenzen nötig und umso umfangreicher eine Person, Gruppe oder Organisation in die Moderation eines Netzwerks eingebunden ist, desto mehr Kompetenzen benötigt sie. Mit Blick auf Abb. 16 trifft auf ein Dekanat (bzw. Superintendentur etc.) die Bezeichnung »Überlokales Unterstützungssystem« zu. In dieser Funktion bedarf die mittlere Eben eines umfangreichen Katalogs an Fähigkeiten, um ihre Rolle angemessen und zielführend wahrzunehmen. Folgende Rollen zur Gestaltung eines Netzwerks urbaner Gemeinde können unterschieden werden: Die Rolle des bzw. der Vorreiter beschreibt diejenigen Personen(-gruppen), die ein Netzwerk initiieren und durch erste Vernetzung die Entstehung eines komplexen Netzwerks vorbereiten. In einem Netzwerk urbaner Gemeinde sind dies i. d. R. jene Gemeinden, die sich als erste vernetzen. Ebenso könnte die Superintendentur bzw. diejenigen, die von ihr mit der Moderation eines (entstehenden) Netzwerks beauftragt sind, die Rolle eines Vorreiters wahrnehmen. Die zweite Rolle sind die Gatekeeper. Bei ihnen handelt es sich um Personen, die wichtige Schnittstellen oder Knotenpunkte des Netzwerks besetzen und über zentrale Kontakte verfügen. Sie können dem Netzwerk wichtige Impulse geben und neue Partner akquirieren. Diese Rolle können sowohl StadtKirchen als auch große oder zentrale Quartiers- bzw. Parochialgemeinden ausfüllen. Es könnten aber auch fAuK sein, die eine neue Personengruppe (Gruppe von Gemeindegründern etc.) für das Netzwerk gewinnen. Die Rolle des Providers liegt bei der Superintendentur bzw. bei dem Arbeitsbereich »Netzwerk urbane Gemeinden« des Dekanats. Der Provider versorgt
277 Zimmer et al. 2017b. 278 Zum Kompetenzbegriff vgl. aaO., 191–195. Zu den einzelnen Komponenten von Netzwerkkompetenz vgl. aaO., 197–212. 279 Zimmer et al. 2017b, 197 (Hervorhebung im Original). 280 Zu den Rollen in sozialen Netzwerken vgl. Zimmer 2017b. »Rollen sind Verbindungen zwischen Struktur und Person – auch im Netzwerk.« (AaO., 174). »Der Rollenbegriff bezeichnet vielmehr die empirisch beobachtbaren systematischen Beziehungsmuster in einem bestimmten Netzwerkkontext.« (Fuhse 2012, 375 – Hervorhebung im Original).
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ein an Größe und Komplexität gewinnendes Netzwerk mit administrativer Unterstützung, nimmt Vernetzungsaufgaben wahr und offeriert finanzielle oder logistische Unterstützung. Der Provider übernimmt die Trägerschaft des Netzwerkes. Der vom Dekanat eingerichtete, beauftragte und entsprechend ausgestattete Arbeitsbereich »Netzwerk urbane Gemeinden« übernimmt die Funktion der Servicestelle. Diese ist ein besonderer Netzwerkknoten, der im Auftrag des Providers und in Einverständnis der Partner bestimmte operationale Aufgaben zur Entwicklung des Netzwerkes wahrnimmt. Dazu gehören die Gestaltung von Öffentlichkeitsarbeit, das Angebot und die Durchführung von Weiterbildungen, die Organisation von netzwerkweiten Veranstaltungen etc. Schließlich wird noch die Rolle des Projektleiters genannt, der zumeist im Rahmen von Kooperationsprojekten die Leitung dieser Projekte wahrnimmt. Im vorliegenden Fall kann dies der Dekan/Superintendent oder der von ihm Beauftragte für das Netzwerk urbaner Gemeinden sein. Diese Aufgaben könnten aber auch abwechselnd Vertreter des genannten Arbeitsbereiches sein, die für verschiedene Projekte innerhalb des Netzwerks die Leitung und Koordination übernehmen.281 Wenngleich Miriam Zimmer kritische Anfragen an die von Harald Payer beschriebenen Rollen hat282 und diese als »für ein wissenschaftliches Netzwerkrollenkonzept […] eher unbrauchbar« beschreibt, sind sie dennoch hilfreich, um einen ersten Eindruck möglicher Rollen im Rahmen der Entstehung und Entwicklung eines Netzwerks zu erhalten. Mehr soll die Darstellung dieser Rollen hier nicht leisten. Um Rollen in ihrer tatsächlichen Komplexität in Netzwerken darzustellen, bedarf es laut Zimmer (im Anschluss an Jan Fuhse283) einer Wahrnehmung der Rollen über ihre Funktion hinaus. Dazu gehören die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten, die Beziehungsdynamiken zwischen den Perso-
281 Vgl. Zimmer 2017b, 173 im Anschluss an Payer 2008, 45 f. 282 Zimmer kritisiert die mangelnde wissenschaftliche Fundierung der Rollen, deren Genese rein erfahrungs-basiert sei. Zudem sei die rein funktionale Rollenbeschreibung insofern unterkomplex, als dass sie das Beziehungsverhalten ausklammert. Schließlich vernachlässige Payer das Verhältnis von Rolle und Person sowie von Rolle und Position. Vgl. Zimmer 2017b, 174. 283 Vgl. Fuhse 2012. »Rollen liegen auf einer vermittelnden Ebene zwischen der Struktur sozialer Netzwerke und institutionalisierten kulturellen Mustern: Sie können einerseits in kleinteiligen Netzwerkstrukturen aus dem Bedarf an orientierungsgebenden Erwartungen emergieren und verhärten sich, solange sich die Netzwerkstruktur reproduziert. Andererseits greift die Kommunikation für die eigene Komplexitätsreduktion auf institutionalisierte Modelle zurück – relationale Institutionen formen so die Strukturierung von Netzwerken nach Rollenkategorien.« (AaO., 359).
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nen284, der Einfluss von Kommunikation285 und Interaktionen auf Rollen286, die Rollen als Erwartungen an deren Träger287, das Verhältnis von Rolle und Person sowie von Rolle und Position und die wechselseitige Beeinflussung der Rollen an bestimmten Orten und in bestimmten Kontexten eines Netzwerks288, sodass »Rollenmuster emergent in der Kommunikation in Netzwerken entstehen und diese strukturieren [können].«289 Dies übersteigt eine rein strukturelle (Position) oder funktionale (Potential) Wahrnehmung und Beschreibung von Rollen und ermöglicht eine translokale Vergleichbarkeit von Netzwerkrollen.290 Jochen Cornelius-Bundschuh verweist ausdrücklich auf die geistliche Dimension des Amtes eines Dekans.291 Die Vernetzung der urbanen Gemeinden 284 Vgl. aaO., 377 f. 285 Über das Verhältnis von Institutionen, Rollen und Kommunikation schreibt Fuhse: »Stattdessen werden Netzwerke als mit Sinn durchwirkt und durch Sinn konstituiert gesehen. Bei White bestehen soziale Netzwerke aus den Identitäten der beteiligten Akteure, die im Netzwerk mit Stories im Verhältnis zueinander definiert und verortet werden […]. Etwas greifbarer lassen sich diese Stories als relationale Erwartungen über das aufeinander bezogene Verhalten von Akteuren konzipieren, die sich im Kommunikationsprozess bilden und diesen strukturieren. Insofern muss auch der Institutionenbegriff auf das Wechselspiel zwischen Netzwerken und Sinn und den zugrunde liegenden Kommunikationsprozessen bezogen werden.« (AaO., 373f). »In der hier eingenommenen Perspektive werden jedoch nicht allein Sozialbeziehungen und Netzwerke durch Rollen und Institutionen strukturiert. Vielmehr sind Beziehungen und Netzwerke als emergente Strukturen im Kommunikationsprozess – als ›Gedächtnis‹ der Kommunikation […] – zu sehen. Rollen und Institutionen fungieren als ›Werkzeuge‹, mit denen sich die Kommunikation selbst vereinfacht: So neigt die Kommunikation in einem Feld (etwa einem Kloster) zur Ausbildung von Rollenstrukturen der strukturellen Äquivalenz.« (AaO., 376). Vgl. dazu auch aaO., 375–377. 286 Vgl. aaO., 367. 287 Vgl. aaO., 364–366. 288 Vgl. aaO., 373–380. 289 AaO., 380. Jan Fuhse schreibt zusammenfassend: »Rollen und Institutionen sind symbolische Muster (mit unterschiedlichen Graden an Generalisierung), die in der Kommunikation zur Strukturierung herangezogen werden (oder sich dort bilden).« (AaO., 381). 290 Vgl. Zimmer 2017b, 174 f. Dazu Fuhse: »Vielmehr bilden sie [Netzwerke] emergente Strukturen, die dann innerhalb des Netzwerkes wirksam und für den Beobachter als strukturelle Äquivalenz sichtbar werden […]. Diese Vereinfachung von komplexen Beziehungsnetzen zu Mustern der strukturellen Äquivalenz bietet im Netzwerk eine gewisse Orientierung und stabilisiert sich deshalb tendenziell. Gruppenbildung, Rivalitäten und Orientierung an Anführern erleichtern die Kommunikation, indem sie Anhaltspunkte für das relationale Verhalten von Akteuren zueinander liefern […]. Solche Rollenstrukturen sind das Ergebnis von explorativen Kommunikationsprozessen […]; sie stehen für eine lokale Typenbildung innerhalb des jeweiligen Netzwerkes […]. Diese lokale Typenbildung wird bei entsprechender Generalisierung transportabel in andere Netzwerkkontexte und dadurch zu einer Institution […]. Dies setzt aber eine gewisse Vergleichbarkeit von lokalen Rollenstrukturen voraus, die das soziale Erkennen von strukturell ähnlichen Positionen und damit die Generalisierung über verschiedene Netzwerkkontexte ermöglicht.« (Fuhse 2012, 376). 291 Vgl. Cornelius-Bundschuh 2018, 95.
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kann sich folglich nicht auf die organisatorische Ebene beschränken – es bedarf einer Vernetzung, die von Gebet durchzogen ist und auf der Grundlage des biblischen Wortes geschieht.292 Neben der realistischen Erwartung von Spannungen, Konflikten und Beharrungsdynamiken muss eine theologisch angemessene Reorganisation von Kirche der Stadt v. a. in der Haltung und Hoffnung geschehen, dass Gottes Geist seine Kirche auch und gerade in schwierigen Zeiten inspiriert und leitet. Zusätzlich zur Moderation von Netzwerken durch die mittlere Ebene des Dekanats liegt diese Aufgabe ebenso bei den Gemeinden, ihren Verantwortlichen und Mitgliedern: Sie können als die Akteure293 eines Netzwerks beschrieben werden. Sie müssen gewillt sein, mit anderen Gemeinden eines Quartiers, einer Region und einer Stadt zu kooperieren und sich vernetzen zu lassen bzw. zu vernetzen. Ausgangspunkt einer solchen Vernetzung ist die Wahrnehmung (Kenntnis, Kontakt und gegenseitiges Vertrauen) der anderen Gemeinden (zunächst eigener Konfession) auf lokaler, regionaler und städtischer Ebene. Beginnen wird dies auf begrenzter lokaler Ebene, indem einzelne Gemeinden beginnen, sich auszutauschen und gemeinsam für ihren Kontext zu beten, zu hören, zu planen und zu handeln sowie in Ergänzung zueinander profilierte Schwerpunkte zu setzen. Sukzessive könnten weitere Gemeinden im näheren und weiteren Umfeld einbezogen werden. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong plädieren für eine Überwindung der Alternativen »Kirche von oben« oder »Kirche von unten« und fordern stattdessen, dass die Kirchenleitungen ihre Verantwortung als einen »Koordinationsprozess unter Beteiligung vieler«294 wahrnehmen. So könnte das Netzwerk nach und nach wachsen und sich ausweiten. Ein solches Netzwerk wäre die Verwirklichung einer regiolokalen Kirchen- und Gemeindeentwicklung im gesamtstädtischen Maßstab. Dieses innerkonfessionelle Modell gemeindlicher Vernetzung könnte als Vorbild dienen und die Vision eines ökumenischen Netzwerks ansichtig machen. Dieses zu realisieren wäre ein weiterer Schritt, der ebenfalls sowohl von kirchenleitenden als auch gemeindlich Engagierten und Verantwortlichen gestaltet werden muss. Dazu gehört die grundsätzliche Bereitschaft aller Beteiligten, interkonfessionell zu kooperieren und sich zu vernetzen. Ähnlich wie bei einer regiolokalen Vernetzung innerhalb einer Konfession, stellen bei ökumenischer Ausweitung dieses Anliegens sowohl Kenntnis, als auch Kontakt und gegen-
292 Zum Thema Geistlich leiten vgl. Böhlemann/Herbst 2011. Zum Thema Leitung und Gebet vgl. aaO., 123 ff. 293 Zum Begriff vgl. Fuhse 2012, 378–380. 294 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 308.
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seitiges Vertrauen zu anderen Ausdrucksformen urbaner Gemeindeentwicklung auf lokaler, regionaler und städtischer Ebene den Beginn einer Vernetzung dar.295 Vermittlungs- und Beratungskompetenz Netzwerk-Analyse-Kompetenz Netzwerk-Visualisierungs-Kompetenz Netzwerks-Koordinations-Kompetenz Rollenflexibilitäts-Kompetenz Netzwerk-Moderations-Kompetenz Netzwerk-Erhebungs-Kompetenz Netzwerk-Selbstkompetenz Kooperations-Kompetenz
Merkmale sozialer Netzwerke kennen Allgemeine Kontaktfreude und Interessiertheit Engagierte, Gremien- und ProjektakteurInnen
Pastorales Personal, MitarbeiterInnen, Priester, Diakone, Gremienmitglieder
LeiterInnen pastoraler Räume, Beauftragte in Handlungsfeldern, Gremienvorsitzende
Überlokale Kompetenzen/ Unterstützungssysteme
Abb. 10: Stufenmodell der Netzwerkkompetenz Quelle: Zimmer et al. 2017b, 205
295 Die Tatsache, dass die Autoren Miriam Zimmer, Matthias Sellmann und Barbara Hucht in ihrem Buch für eine Gestaltung von Kirche als Netzwerk (durchaus gegen einen überkommenen [katholischen] Gemeindebegriff, vgl. Sellmann 2017a) plädieren (vgl. besonders Sellmann 2017a und Zimmer et al. 2017c) und die vorliegende Arbeit den Fokus auf ein Netzwerk von Gemeinden legt, ändert nichts an der fachlichen Expertise der Autoren und den grundsätzlichen Einsichten in das Thema Netzwerke, welche für die vorliegende Arbeit hilfreich sind und nach Möglichkeit fruchtbar gemacht wurden. Ausführlicher zum Thema Kirche als pastorales Netzwerk vgl. Eder 2012.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
5. Ausblick: Urbane Gemeindeentwicklung als ökumenisches Netzwerk Das Netzwerk urbaner Gemeinden soll – um der Mission und der Stadt willen – ein ökumenisches Netzwerk296 darstellen, welches sich um die Einheit des Leibes Christi bemüht. Diese Einheit umfasst sowohl die vielfältigen Ausdrucksformen urbaner Gemeinde als auch die verschiedenen Konfessionen, die sich als Kirche in die Stadt gesandt wissen, denn urbane Gemeindeentwicklung als Ausdruck der Sendung der Kirche in die Stadt ist Aufgabe des Leibes Christi als Ganzem und endet nicht an den Grenzen einer bestimmten Konfession, Kirche oder Gemeinde. Die Tatsache, dass die christlichen Kirchen in den meisten Städten in der Minderheit sind (s. o. § 12 Abs. 4), bietet die Chance, dass die Kirchen der verschiedenen Konfessionen die ihnen gemeinsame göttliche Sendung als einheitsfördernde Ressource entdecken und in ihrer Sendung in den urbanen Raum kooperieren, Kräfte bündeln und gemeinsam »der Stadt Bestes« (Jes 29,7) suchen. Die Konsequenz dieser Tatsache ist, dass sowohl die verschiedenen – in dieser Arbeit dargestellten – Formen urbaner Gemeindeentwicklung als auch die verschiedenen Konfessionen in der gemeinsamen Aufgabe, mit möglichst vielen Menschen der Stadt das Evangelium zu kommunizieren, eine Einheit bilden.297 Die beschriebene Einheit umfasst zwei Aspekte: Sie besteht a) in einer missionarisch-doxologischen und b) in einer empirischen Einheit. a) Die Verwirklichung dieser Einheit ist – wie oben beschrieben – ein Werk des Heiligen Geistes und damit nichts, was menschliches Wollen und Planen »herstellen« kann. Die Ressourcen für eine nachhaltige urbane Gemeindeentwicklung (i. S. e. urbanen Ökumene), die dem Gemeinwesen dient und an der missio Dei teilhat, werden aus dem Gebet und der Begegnung mit und der Beauftragung durch den Auferstandenen geboren. Insofern ist eine Erweckung der Christen und Gemeinden zu lebendigem, mündigem Glauben die conditio sine qua non einer urbanen Gemeindeentwicklung. Diese Einheit wiederum ist die Voraussetzung für eine gemeindliche Pluralität, die sich nicht in der Fülle an Möglichkeiten verliert, sodass 296 Zur Notwendigkeit einer Ökumene in der Stadt vgl. Göpfert 1981, 131 f. 297 »Ebenso schließt das Ernstnehmen der ökumenischen Dimension ein, den eigenen Kontext als Teil einer Gesamtkirche zu verstehen. Dies wird unter anderem dadurch markiert, dass nicht jeder einzelne kirchliche Ort alles selbst leisten muss, was als kirchliche Aufgabe erachtet wird, sondern im Bewusstsein seiner Fragmentarität auf andere kirchliche Handlungsfelder verweisen kann.« (Pohl-Patalong 2003, 227).
5. Ausblick: Urbane Gemeindeentwicklung als ökumenisches Netzwerk
497
die urbane Gemeinde zerfasert, sondern die in der Sendung (Mission) und Anbetung (Doxologie) des dreieinen Gottes ihre Mitte hat und sich als gemeinsam beauftragter Leib Christi in die Stadt gesandt weiß. Die Einheit der – strukturell und konfessionell pluralen – urbanen Gemeinde Jesu Christi ist also zuvorderst eine geistliche Einheit, die eine Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes ist. Anlass und Ziel einer solchen ökumenischen Einheit ist die gemeinsame Sendung der Kirche in die Stadt und der damit verbundene Versuch doppelt zu hören: auf Gott, der die Kirche sendet und auf den Kontext, in den die Kirche gesandt ist. Die umfassende Aufgabe der Gemeinden einer Stadt kann mit der Aufforderung Gottes an die Exilanten in Babel wiedergegeben werden: »Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe […]führen lassen und betet für sie zum HERRN, denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.« (Jer 29,7). Das Ziel einer pluriformen urbanen Gemeindeentwicklung in ökumenischer Einheit ist die Doxologie Gottes. Damit dies gelingt, sollten möglichst viele unterschiedliche Menschen die Chance erhalten, Kommunikationspartner des Evangeliums zu werden und auf dieses mit Glauben zu antworten und in einer alles Trennende transzendierenden Einheit Gott für seine Liebe, seine Gnade und seine Treue zu danken und ihn zu loben. Diese ökumenische Vision ist Anlass und Ausblick für urbane Gemeindeentwicklung im 21. Jahrhundert und begründet ihre Einheit als Einheit in ihrer gemeinsamen Mission. b) Soll sich diese geistliche Einheit auch empirisch verwirklichen, muss sich die theologisch-geistliche Wirklichkeit auch planerisch ausdrücken und in konkreten Entscheidungen niederschlagen. Ziel ist es, die Einheit der Gemeinde Christi in der Stadt ansichtig werden zu lassen und diese nicht auf eine Theorie zu beschränken, deren Verwirklichung auf das Eschaton verlagert wird. Wenngleich die Vollendung dieser Wirklichkeit in einer eschatologischen Perspektive betrachtet werden muss, bedeutet dies nicht, dass sich Verwirklichungen dieser Einheit nicht im Hier und Jetzt abbilden lassen. Diese können verschiedene Formen annehmen, z. B.: − Zunächst könnten die Konfessionen einer Stadt einen ökumenischen Vertreter wählen, welcher die Kirchen und Gemeinden gegenüber der Stadtverwaltung vertritt und als Ansprechpartner, aber auch als Lobbyist für Gemeindeentwicklung und kirchliche Gemeinwesenorientierung fungiert. − Ein weiterer Schritt bestünde in der Einrichtung eines ökumenischen Fonds der Kirchen einer Stadt zur Förderung urbaner Gemeindeentwicklung. Aus diesem könnten die Mittel zur Initiation einer fAuK, zur Renovierung einer StadtKirche oder zur Schaffung einer nichtpastoralen Stelle in einer Quartiersgemeinde bereitgestellt werden.
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§ 16 Urbane Gemeindeentwicklung als pluriforme Mischung
− Langfristig wäre das dargestellte Netzwerk pluriformer Gemeinden (in ökumenischer Ausweitung) der Ort, an welchem gemeinsam für die Stadt gebetet und geplant wird; also die Möglichkeiten kirchlich-gemeindlichen Engagements geprüft und umgesetzt werden. Dazu könnte das Netzwerk zunächst Quartiersbegehungen durchführen, Informationen über die Stadt und deren einzelne Quartiere sowie soziologische Erkenntnisse generieren und im Gespräch mit anderen urbanen Institutionen, Organisationen und Gruppen die Bedarfe, Ressourcen, Potentiale und Schwierigkeiten der Stadt und ihrer Quartiere erörtern. Zudem wäre es möglich, gemeinsame Veranstaltungen wie lokalpolitische Podiumsdiskussionen, Konzerte mit lokalen Künstlern oder ökumenische Stadtteilgottesdienste zu planen und durchzuführen. Das Netzwerk könnte etablierte und neue Gemeindeformen begleiten, beraten und unterstützen sowie deren Vernetzung initiieren, fördern und moderieren. Darüber hinaus wäre die Planung und Umsetzung der regiolokalen und ökumenischen urbanen Gemeindeentwicklung einer gesamten Stadt das langfristige Ziel eines solchen Netzwerks. Die Quelle urbaner Ökumene liegt in der Zugehörigkeit zu Jesus Christus durch die Taufe (Gal 3,27f) und der damit verbundenen Einheit. Eine verwirklichte Ökumene urbaner Gemeinde hätte – besonders angesichts sich zunehmend segregierender Städte – eine prophetische Dimension von Kirche in der Stadt. Aufgabe dieser Gemeindeentwicklung wäre eine »StadtKirche, die da steht oder da ihr Zelt aufschlägt, wo die Leute leben und sich bewegen; die aber, auch in ihrem räumlichen Angebot, Mittel und Wege findet, den Menschen dahin nachzugehen, wohin sie sich flüchten und verkriechen.«298 Die verbindende und zentrale Aufgabe aller Ausdrucksformen urbaner Gemeindeentwicklung liegt nach CA VII (in evangelischer Diktion)299 in der Versammlung zur Bezeugung des Evangeliums in Wort und Sakrament. Alle darüber hinausreichenden Tätigkeiten sind Ausdruck einer Profilierung gemäß dem gemeindlichen Proprium und der Situation des Kontexts. Dass gerade die Bezeugung des Evangeliums durch Sakramente in ökumenischer Hinsicht herausfordernd ist, ist offenkundig. Diese Situation kann aber auch –um der Sendung in die Stadt willen – ein Anlass sein, über einen sinnvollen, zielführenden und konstruktiven Umgang mit den Differenzen nachzudenken und miteinander zu beten sowie Wege zu suchen, konfessionelle Trennungen zumindest zu reduzieren,
298 Göpfert 1981, 132. 299 Eine Vermittlung mit katholischer, orthodoxer oder reformierter Ekklesiologie wäre eine der Aufgaben, die ein ökumenisches Netzwerk urbaner Gemeinde leisten müsste.
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indem a) der Glaube an die eine Kirche bewusst gemacht wird und b) Zeichen dieser Einheit gesucht, gefördert und gesetzt werden300 (s. o. § 9 Abs. 3). »Hat die Kirche den Anspruch, das Evangelium mit breiten Bevölkerungsgruppen zu kommunizieren und seine Relevanz für die Gesellschaft insgesamt zu zeigen, dann erfordert dies vielfältige Zugänge zu Kirche auf unterschiedlichen Wegen und nach unterschiedlichen Logiken – als Netz von Gemeinden an kirchlichen Orten.«301 Dabei gilt es, die jeweiligen Potentiale und Chancen der verschiedenen Ausdrucksformen urbaner Gemeinde zu entdecken, zu gestalten und stets zu adaptieren und weiterzuentwickeln. Die Bereitschaft auf Gott und auf den Kontext zu hören, sowie die Fähigkeit zur Kontextualisierung sind entscheidend für eine urbane Gemeindeentwicklung. Das Ziel einer so organisierten urbanen Gemeindeentwicklung besteht darin, dass »die Melodie des Evangeliums im pluralen Stimmengewirr unserer Städte hörbar [wird].«302 Eine pluriforme Gemeindeentwicklung soll den verschiedenen Städtern die Möglichkeit eröffnen, diese Melodie zu hören, weil ihnen in Wort und Sakrament das Evangelium bezeugt wird. Die Absicht aller Bemühungen ist, dass die unterschiedlichsten Städtern Vertrauen zu Jesus Christus fassen und mit Glauben an das Evangelium auf dessen Bezeugung antworten. Wie der Inhalt dieses Glaubens aussehen könnte, beschreibt die Antwort auf die erste Frage des Heidelberger Katechismus: Frage 1: Was ist dein [einziger] Trost im Leben und im Sterben? Daß [sic!] ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlet und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöset hat und also bewahret, daß [sic!] ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu lernen von Herzen willig und bereit macht.303
300 Vgl. Schlink 2005, 683–708. 301 Hauschildt/Pohl-Patalong 2013, 309 f. 302 Hermann/Schönemann 2014, 9. 303 Steubing 1997, 135.
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Abkürzungsverzeichnis
Alle Abkürzungen folgen Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG41. Folgende Abkürzungen sind dort nicht enthalten. Barmen Barmer Theologische Erklärung BBSR Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung BMUB Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit CA Confessio Augustana EKBO Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz EKiR Evangelische Kirche im Rheinland EKM Evangelische Kirche in Mitteldeutschland EVLKS Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens fAuK frische Ausdrucksformen urbaner Kirche FN Fußnote Fresh X Fresh Expressions fxC fresh expressions of Church GEKE Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa i. S. d. im Sinne der/des i. S. e. im Sinne eines/einer i. S. v. im Sinne von i. d. R. in der Regel IRB Innerstädtische Raumbeobachtung des BBSR IEEG Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeinde entwicklung m. E. meines Erachtens MSC Mission Shaped Church(-Report) Offb. Offenbarung des Johannes s. E. seines Erachtens
1
Redaktion der RGG 2007.
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
Grad der Segregation nach Schichtzugehörigkeit . . . . . . . . . . S. 136 Verlauf von Marginalisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 185 Religiöse Sozialisation nach Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 273 Anteil Einwohner, die nicht Mitglied in der Ev. oder Kath. Kirche sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 61 Abb. 5: Zielpyramide Geistlicher Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 99 Abb. 6: Church as four sets of relationships . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z116 Abb. 7: Serving-first-journey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 385 Abb. 8: Worship-first-journey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 389 Abb. 9: Quartier als »Fuzzy Place« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 422 Abb. 10: Stufenmodell der Netzwerkkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 495
502
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5:
mögliche Gentrifizierungsquartiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 151 Formen der Wiederaufwertung von Stadtteilen . . . . . . . . . . . . S. 152 Definitionen von Gentrifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 154 Kirchliche Aufgabenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 288 Elementare und elaborierte Vollzugsformen der Kommunikationsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Z 73 Tab. 6: Typen sozialer Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 487
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