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German Pages 264 [266] Year 2013
Franz Steiner Verlag
J OH A NNE S DIL L INGE R
Kinder im Hexenprozess Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit
Johannes Dillinger Kinder im Hexenprozess
Johannes Dillinger Kinder im Hexenprozess Magie und Kindheit in der Frühen Neuzeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2013 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Einbandgestaltung: deblik, Berlin Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: CPI Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-515-10312-1
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Inhalt 1.
Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kinderhexen im weiten Kontext: Identifikationsfiguren, Bedrohte und Bedrohung 9 / Kinderhexen: ein Forschungsüberblick 15 / Fragestellung 21
2. Bedingungen: Kinder ihrer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1. Kindheit in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die Grenzen der Kindheit 24 / Familienleben und Erziehung 29 2.2. Hexenangst und Hexenverfolgung: Volksglaube, Dämonologie und Kriminalprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Welt der Geister, die Geister in der Welt 37 / Geister, Menschen und Macht: die Magie 44 / Die Magie der Dämonen: Hexerei 53 / Kampf gegen Dämonendiener: der Hexenprozess 57 / Skepsis im Glauben: Distanz und Kritik 63
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Inhalt
2.3. Kinder und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65 Freundliche Geister und die Magie der Kinder: Marion Clerk, Great Ashfield 1499 65 / Geister bedrohen Kinder: Johann Heinrich Kloz, Groß-Umstadt 1805 69 / Geister entführen Kinder: der Wechselbalg 77 / Schutzzauber für Kinder 82 2.4. Kinder und Hexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Kinder der Hexen 83 / Hexen bedrohen Kinder 86 / Kröten hüten und Lateinaufgaben vom Teufel: Kinderhexen 91 / Kinder denunzieren Hexen 101
3.
Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3.1. Kinderhexen und skeptische Obrigkeit: die Vierjährige beim Hexentanz – Anna Maria Hauber, Roßwälden bei Esslingen, 1663 . . . . 107 Dorfgerüchte, Dorfgerichte 107 / Die Eltern und die Frau des Lehrers: Ansehen und Schuld 109 / Bewusstes Zögern und Skepsis 114 / 71 Kinderhexen in Calw 117 3.2. Kinderhexen und Hexenverfolgung ›von oben‹: Selbstanzeige einer Sechzehnjährigen – Maria Ostertegin, Ellwangen 1613 . . . . . . . . . . . . . . 123 Hexendeputation: die Ellwanger Katastrophenverfolgung 123 / »Ein guter Braten, wäre von einem Kind gewesen«: Typische Elemente eines Hexengeständnisses 126 / Der Teufelspalast: Untypische Elemente eines Hexengeständnisses 129 / Ursachen und Folgen 131 3.3. Kinderhexen und Hexenverfolgung ›von unten‹: ein Leben unter Hexereiverdacht – Maria Ulmerin, Rottenburg am Neckar, 1594–1608 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 »Weil sie so viel Hagel haben …« Winzer, Stadtrat, Herrschaft und Hexen 134 / Verwaltungsspitze unter Hexereiverdacht 139 / Wanderungen und Heimkehr 144 3.4. Kinderhexen, Schule und Mitschüler: der achtjährige »Schulfeind« Hans Douck, Schwerin 1643 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der »arglistige Schulmeister«: Schulen der Magie 149 / Das »Seminar der Zauberer« 154 / »Ein kleines Hündchen, das hatte zwei Hörnchen«: Schulgerüchte 155 / Der Vater, der Drak, der Engel 160
Inhalt
3.5. Kinderhexen und Krankheit: der Sohn des Pfarrers – Johann Gottlieb Adami, Annaberg 1713 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 »Mit Armen und Händen sich gebärdend, als spinne er«: Die Annaberger Krankheit 165 / »Ganz mit Hexen angefüllte« – »korrupte Fantasie«: konkurrierende Deutungen 171 / Parallelen: Salem, Loudun und das Preetzer Hexenschwimmen 174 3.6. Straßenkinder als Kinderhexen: der siebenjährige Landstreicher – Andree Vorsthofer, Henndorf bei Salzburg, 1678 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Vagabondage: Armut als Ordnungsproblem und Verschwörung 180 / »Gelehrert«: der Zauberer Jackl und seine Bande 182 / Soziale Notlage und Fantasie 188 3.7. Kinderhexen und Kriminalität: ein elfjähriger Mörder? Franz Schneider, Sigmaringen 1668 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 »Unerhörte Mordtat« 190 / »Würrich«: Der Teufel, Gewaltfantasien und Gewalt 194 3.8 Reue und Erziehung: »mit vielfältigen Tränen« – Altje Ahlers, St. Margarethen bei Itzehoe, 1694 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Mausmagie 201 / »Kinder-Spiel« 204 / Pastoralisierung: Seelsorge statt Feuerstrafe 206 / »Unbußfertig«: Verweigerung von Erziehung und Reue 211
4. Muster und Strukturen von Kinderhexenprozessen . . . . . 214 4.1. Aschenputtel: Herkunft und Umfeld der Kinderhexen . . . . . . . . . . . . . . 214 Armut 214 / Schwierige Familien 216 4.2. Kinderkultur – Erwachsenenkultur: Usurpationen, Fehldeutungen, Selektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Die Usurpation neutraler Äußerungen der Kinder 222 / Fehldeutung von Anspielungen auf Hexerei 227 / Als gerichtsrelevant intendierte Aussagen von Kindern 232 4.3. Kinderhexenprozesse und die Entwicklung der Verfolgungen insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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Inhalt
Kinderhexenprozesse am Anfang und ausschließlich 237 / Kinderhexenprozesse am Ende 244 / Zur Deutung: Kinderhexenprozesse als Verfolgungskatalysatoren 246
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Quellen und Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
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1. Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte Kinderhexen im weiten Kontext: Identifikationsfiguren, Bedrohte und Bedrohung »Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen.« (Wilhelm Busch, Max und Moritz, 1865) Dieses Buch beschäftigt sich mit Kinderhexenprozessen. Unter Kinderhexenprozessen werden Kriminalprozesse verstanden, die sich mit dem Delikt der Hexerei befassten und in deren Zentrum als Beklagte oder Belastungszeugen Kinder standen. Kinder als Angeklagte in Hexenprozessen? Der Gedanke erscheint skandalös. Dennoch hat er Aspekte, die seltsam vertraut erscheinen. Jedes Kind kennt die Hexen. In der Alltagskultur der Gegenwart gehören die meisten Hexen ins Kinderzimmer. Sie bevölkern die Märchen und die Puppentheater. Längst sind die Hexen in Geschichten für Kinder nicht mehr nur die Bösewichte: Spätestens seit Preußlers ›Die kleine Hexe‹ (1957) sind sie als positiv besetzte Identifikationsfiguren für Kinder möglich geworden. Die inzwischen wohl überwundene ›Harry Potter‹ (1997) Mode ging weiter und identifizierte Kinder und Hexen nachdrücklichst. Die japanische Mangaserie ›Black Butler‹ (2006) präsentiert einen kleinen Jungen in der Rolle des Faust. Das magische Identifikati-
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
onsangebot für Kinder geht längst weiter: Zu Preußlers ›Kleinem Gespenst‹ (1966) und dem ›Kleinen Wassermann‹ (1956) hat sich Sommer-Bodenburgs ›Kleiner Vampir‹ (1979) gesellt: Die alten magischen Schreckgestalten (nicht nur) für Kinder sind selber Kinder geworden. Varianten für Teenager füllen die Buchhandlungen und die Kinos. Der Esoterikmarkt vertreibt Büchlein mit magischen Ritualen für Mädchen zwischen 12 und 16, wobei die Zielgruppe sich offenbar geschmeichelt fühlen soll, wenn sie als ›Hexen‹ angesprochen wird. Auf den zweiten Blick scheinen gerade in der Gegenwart Kinder und Magie zusammenzugehören, wenn auch vornehmlich im Bereich der Unterhaltungskultur. Aber Kinderhexenprozesse stehen für mehr als nur für zaubernde Kinder. Fantasievolle Fiktionalisierungen in Kinderbüchern und Esoterikkommerz werden ihnen selbstverständlich nicht gerecht. Hexerei galt den Zeitgenossen als das schwerste Verbrechen überhaupt. In Kinderhexenprozessen konnten Kinder dieses Verbrechens angeklagt werden. Sie konnten aber auch, und das war der bei weitem häufigere Fall, Zeugen für die Anklage sein. Kinder, die selbst unter Hexereiverdacht standen, haben immer wieder Erwachsene als Verführer und Mittäter denunziert. Hier führen Kinderhexenprozesse in die Diskussionen um das Schuldigwerden an Kindern, aber auch um die Schuld und die Schuldfähigkeit von Kindern, die gerade in unserer Gegenwart geführt werden. Obwohl unserer von verschiedenen Weltbildern und Religionen beeinflussten Gesellschaft Werturteile nicht immer leicht fallen, ist doch die Verpflichtung zum Schutz von Kindern zweifellos Konsens. Auch daher rührt das große Interesse der Medien an Fällen, in denen diese Schutzpflicht durch Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung oder gar Mord verletzt wird. Das Schuldigwerden an Kindern ist ein großes Thema. Der Massenmörder Breivik erscheint auch deshalb in höchstem Maß verbrecherisch oder geisteskrank, weil er bei einem Jugendtreffen um sich schoss und daher der Großteil seiner Opfer zwischen 14 und 18 Jahren alt war. Anfang 2012 rotteten sich in Emden Leute zusammen, um eine Person zu lynchen, die verhaftet worden war, weil sie im Verdacht stand ein elfjähriges Mädchen ermordet zu haben. Obwohl islamistische Terroristen auf Bali angedroht haben, ausländische Schulkinder umzubringen, sind
Kinderhexen im weiten Kontext
ihren Drohungen glücklicherweise nie Taten gefolgt: Der Grund liegt zweifellos darin, dass die Terroristen fürchten, ein gezielter Anschlag auf Kinder könnte sie all ihre Sympathisanten kosten. Es lassen sich verschiedene kulturelle Klischees des Verbrechers, der an Kinder schuldig geworden ist, fassen. Diese erweisen sich erstaunlich flexibel darin, wen sie als Bedrohung für Kinder denunzieren. Einige Beispiele sollen genügen: Zuerst müssen hier die antisemitischen Fantasien um Ritualmord genannt werden. Seit dem 12. Jahrhundert gehört es zu den stärker verbreiteten ›Totschlageargumenten‹ von Judenfeinden, dass Juden christliche Kinder schlachten würden. Diese Morde sollten zu jüdischen Ritualen unbedingt gehören: Schuldig sollte also nie bloß der einzelne Jude sein, sondern das Judentum an sich. Damit wurden als Reaktion nicht Prozesse, sondern Pogrome suggeriert. Die NS Propaganda hat die Ritualmordgeschichte neu belebt. Eine ganz andere Sicht präsentierte die Diskussion um Kinderprostitution im viktorianischen England. Sensationelle Zeitungsmeldungen berichteten, organisierte Kriminelle versorgten die angeblich moralisch verkommene Oberschicht und Bordelle auf dem Kontinent mit englischen Kindern.1 Nicht nur die kulturelle Präsentation der Bedroher, sondern selbst die Art der Bedrohung von Kindern wandelte sich radikal. In den 1980er Jahren wurde allen Ernstes lautstark gefordert, sexuelle Beziehungen mit Kindern jeden Alters zu erlauben. Es wurde tatsächlich behauptet, dass sich Kinder nur so frei entfalten könnten: Die wahre Bedrohung von Kindern bestünde darin, ihnen Sex mit Erwachsenen zu verbieten. Stimmen aus dem linken politischen Spektrum und Teilen der Partei ›Die Grünen‹ vertraten diese Forderung. 1985 gehörte die Forderung, die Strafbarkeit von Pädophilie abzuschaffen, zum Wahlprogramm der ›Grünen‹ in NordrheinWestfalen. Unter den Namen der ›Grünen‹ Politiker Daniel CohnBendit und Volker Beck, heute Abgeordnete im Europaparlament bzw. Bundestag wurden Texte veröffentlicht, in denen Cohn-Bendit sich dazu bekannte, sexuelle Erfahrungen mit minderjährigen Jungen gehabt zu haben, und Beck die Strafbarkeit von Sex mit Kindern in Frage stellte. Beide erklären heute, dass die Texte verfälschend re1
Hsia, Myth.
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
digiert worden seien.2 Die linke ›TAZ‹ hat sich 2010/11 in einer Folge von Artikeln dazu bekannt, dass sie in den 1980ern immer wieder Texte veröffentlichte, die zur Legalisierung von Sex mit Kindern aufriefen.3 Diese Diskussion ist heute schon fast vergessen. Kollektiv als Bedrohung für Kinder denunziert werden nicht Anhänger bestimmter Parteien, obwohl man behaupten könnte, dass sie sich öffentlich und eindeutig selbst verdächtig gemacht haben. Vielmehr scheinen katholische Geistliche als neues Klischee des Kinderschänders. Diese Debatte muss auf dem Hintergrund der so genannten Sittlichkeitsprozesse während der NS Diktatur gesehen werden. Das Regime wollte damals die katholische Kirche durch fingierte Anklagen wegen Kindesmissbrauch diskreditieren. Evangelikale Kreise in den USA versuchten sich dadurch zu profilieren, dass sie behaupteten Kindesmissbrauch durch Teufelsanbeter aufgedeckt zu haben. Solche Verdächtigungen ließen sich leicht auf ganz andere religiöse Gruppen, die vielen fremd geworden sind, undurchsichtig und bedrohlich erscheinen mögen, übertragen.4 In Saarbrücken wurde ab 2001 wegen des Verschwindens eines fünfjährigen Jungen ermittelt. Die Polizei konzentrierte sich rasch auf eine Gruppe sozial schwacher Frauen und Männer, denen sie kollektiven Kindesmissbrauch und Kindsmord anlastete. Die Verdächtigen gehörten also weder der Oberschicht noch einer bestimmten politischen Richtung oder religiös definierten Gruppe an, sondern erschienen vielmehr als materiell bzw. intellektuell Minderbemittelte vom Rand der Gesellschaft. Da nie schlüssige Beweise hatten vorgelegt werden können, endete das Verfahren nach sechs Jahren folgerichtig mit Freisprüchen. Die Chance, das Schicksal des vermissten Jungen wirklich zu klären, war verspielt worden.5 Als Bedrohung für Kinder sieht man offenbar – vorbei an allem, was realistische empirische Befunde und statistische Erhebungen zur Kriminalität sagen – gern den jeweiligen ideologischen Gegner 2
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Cohn-Bendit, Lust; Cohn-Bendit, Fehler; vgl. den Interviewzusammenschnitt http://www.youtube.com/watch?v=NXLXRVHej6s; Beck, Strafrecht; Anonym, Torso; Anonym, Tabu. Apin, Pädo-Aktivisten; Apin, u. a., Kollege; Apin, Enthüllungen. Zeck, Schwarze, S. 304–313. Friedrichsen, Zweifel.
Kinderhexen im weiten Kontext
Kinder auf dem Hexensabbat: Sie fliegen mit einer erwachsenen Hexe auf einem Ziegenbock zum Hexentanz bzw. werden von ihr dorthin entführt (Mitte), werden dem Satan vorgestellt (rechts oben) und hüten Kröten (links unten). Pierre de Lancre: Tableau sur l’inconstance des mauvais anges, Paris 1612
oder schlicht Personen(gruppen), die wenig Rückhalt in der Gesellschaft haben. Es gibt freilich auch die andere Seite: Das Kind als Bedrohung. Kaum noch jemand ist wirklich befremdet, wenn von Kindern berichtet wird, die Schutz nicht zu brauchen scheinen, vor denen man sich vielmehr selbst schützen müsste. Kindersoldaten, jugendliche Selbstmordattentäter und kriminelle Kinder(banden) machen Schlagzeilen. Ein Buch, das zu härterem Vorgehen gegen jugendliche Straftäter aufrief, erregte vor wenigen Monaten große, weitgehend positive Aufmerksamkeit.6 Neben dem Kindermörder steht längst 6
Heisig, Ende.
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
das Schreckbild des Mörderkindes. 1993 erregte der Fall des James Bulger aus dem englischen Kirkby in aller Welt Entsetzen: Der zweijährige James war von zwei zehnjährigen Jungen entführt, gequält und schließlich getötet worden. 1997 wurde im japanischen Kobe ein Vierzehnjähriger festgenommen, der ein zehn Jahre altes Mädchen totgeschlagen, einen Elfjährigen erdrosselt und schließlich mit einer Säge enthauptet hatte.7 Bereits ein Jahr vor dem Massaker an der Columbine High School 1999 hatten zwei 11 und 13 Jahre Schüler in Arkansas ihre Schule mit Schusswaffen heimgesucht, vier 11und 12jährige Mitschülerinnen und eine Lehrerin getötet und zehn weitere Personen verletzt. Während der Abfassung dieses Textes melden die Medien, dass ein Achtklässer mit zwei scharfen Schusswaffen und einer Schreckschusspistole in seine Schule in Memmingen kam, dort einen Schuss abfeuerte und danach auf die Autos der rasch alarmierten Polizei schoss. Der 14jährige verschanzte sich dann in einer Sportanlage und konnte erst nach Stunden zur Aufgabe gebracht werden. Der 17jährige, der 2009 in Winnenden fünfzehn Menschen tötete, erscheint verglichen mit diesen Kinderamokläufern bereits vergleichsweise alt.8 Hier richteten sich Jugendliche gegen Jugendliche bzw. Kinder. Junge Menschen als Täter und als Opfer kamen unmittelbar zusammen. Die Fassungslosigkeit der Öffentlichkeit spiegelt die Wucht wieder, mit der hier die in der Kultur vorhandenen Stereotype vom verbrecherischen, ›bösen‹ Kind und dem Kind als bevorzugtem Opfer von Verbrechern oder des ›Bösen‹ aufeinander prallen. Mit diesen extremen Fällen darf man die tägliche Aggression von Kindern nicht in einem Atemzug nennen. Gleichwohl ist sie relevant, gerade weil sie alltäglich ist. Unzählige Kinder fallen in Schulen durch gewalttätiges oder zumindest nachhaltig aggressives Verhalten (›Mobbing‹) auf. Versicherungsgesellschaften stufen Lehrerinnen und Lehrer inzwischen als Gruppen mit hohem Risiko ein. Der Umgang mit Kindern ist offenbar gefährlich. 7 8
http://www.guardian.co.uk/uk/2003/feb/06/bulger.ukcrime1; http://www.japantimes.co.jp/text/nn20040311a1.html. http://edition.cnn.com/US/9803/26/school.shooting; Anoynm, Waffen; http://www.zeit.de/online/2009/11/amoklauf-baden-wuerttemberg.
Kinderhexen: ein Forschungsüberblick
In der Diskussion um Kinder als Täter schwingt fast immer auch der Gedanke des Kindes als Opfer mit. Hoch aggressive bzw. kriminelle jungen Menschen sollen ›eigentlich‹ unschuldige Opfer sein: Opfer einer misslungenen oder fehlenden Erziehung, konkret Opfer ihrer Eltern oder anderer Personen, unter deren Einfluss sie geraten sind, Opfer der Schule, ihrer sozialen oder religiösen Gruppe oder schlicht Opfer der Gesellschaft insgesamt. Dass unsere Gesellschaft kinderfeindlich sei, wird gern betont. Da liegt der Gedanke nahe, dass diese Gesellschaft dann auch feindselige Kinder hervorbringt. Unsere Kultur kennt beides: ›Böse‹ Kinder und Kinder als bevorzugte Opfer des ›Bösen‹. Die kindliche Grausamkeit ist sprichwörtlich; ebenso die kindliche Unschuld. Das Kind und das Böse scheinen zusammenzugehören. Kinder sind Bedrohung und Bedrohte, und beides in höchstem Maß. Das Kind sprengt die Maßstäbe: Selbst scheint es moralischen Urteilen weitgehend entzogen zu sein, weil Moral ihm erst langsam anerzogen werden muss. Alles, was sich gegen ein Kind richtet, wird schärfstens moralisch verurteilt. Dieses gesamte modern erscheinende Spannungsfeld prägte bereits die Kinderhexenprozesse, ebenso die historische Diskussion um sie. Kinderhexen: ein Forschungsüberblick Die Forschung zu Kinderhexenprozessen ist eine Facette der seit rund vierzig Jahren intensiv betriebenen historischen Hexenforschung. Sie hat einige, wenn auch verglichen mit der zentralen Frage nach dem Zusammenhang zwischen Hexenvorstellungen und Geschlechterrollen, noch geringe Aufmerksamkeit gefunden. Ausgeklammert bleiben hier lokal- und regionalhistorische Veröffentlichungen, die instruktiv, aber weitestgehend narrativen Charakters sind, und anthropologische Arbeiten mit außereuropäischem Schwerpunkt. In einem Überblick zur Hexenforschung, der den Wissenstand der Mitte des 20. Jahrhunderts zusammenfasste, sprach der Anglist und Historker Robbins Kinderhexen bereits als ein wichtiges Phänomen an. Er vermochte sie aber bloß als »little monsters« zu verstehen, ihre Denunziationen vermeintlicher erwachsener Kom-
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
plizen nur als »the wanton mischief of undisciplined youngsters« (Englisch= mutwillige Streiche undisziplinierter Halbwüchsiger).9 Mit dieser Schuldzuweisung an die Kinder ohne weitere wissenschaftliche Reflexion war freilich nichts gewonnen. Der Pionier der neuen Forschung zu Kinderhexen ist der Historiker Behringer. 1989 hat er auf die Problematik hingewiesen und belegt, was für zentrale Rollen Kinder nicht nur in einzelnen Verfahren, sondern auch zu Beginn ganzer Hexenprozessketten spielten. Behringer arbeitete heraus, dass die Bedeutung von Kinderverfahren gegen Ende der Hexenprozesse nicht nur in einzelnen Regionen, sondern insgesamt zunahm.10 Problematisch sind die zwei Monografien, die der Religionswissenschaftler Weber zum Thema Kinderhexenprozesse beigesteuert hat. Die erste wollte noch ganz ohne Arbeit mit Hexenprozessakten auskommen. Die zweite baute dann allerdings auf den Archivzeugnissen zu Kinderhexenprozessen im Herzogtum Württemberg auf. Weber präsentierte die Kinderhexen als Täter, die bewusst mit falschen Aussagen Erwachsene in Hexereiverdacht brachten und schließlich auf den Scheiterhaufen schickten. Die Aggression der Kinder rührte laut Weber daher, dass die christliche Erziehung die Sexualität der Kinder unterdrückte. In seinem ersten Buch wollte Weber bei den Kindern »heftigste Wünsche« nach Sex mit Erwachsenen, auch ihren Eltern, feststellen. »Eines Antriebs von außen [hätten die Kinder dazu] überhaupt nicht« gebraucht. Im Gegenteil: »Die starke sexuelle Ausstrahlung von Kindern«, so Weber, habe während der Verfahren die Erwachsenen in ihren Bann gezogen. Das 1991 erschienene Werk reflektiert bis zu einem gewissen Grad die Diskussion um die Straffreiheit für sexuelle Beziehungen zu Kindern der 1980er. In seinem zweiten, 1996 veröffentlichten Buch, blieb Weber bei seiner Kernthese, dass die Aussagen der Kinder über Hexerei sexuelle Gedanken und Erlebnisse verschlüsselt widergäben, machte nun aber den fünf Jahre zuvor nur angerissenen Gedanken stärker, dass die Kinder vielleicht auch sexueller Ausbeutung zum Opfer gefallen waren.11 Allerdings kann keine dieser 9 Robbins, Encyclopedia, S. 94. 10 Behringer, Kinderhexenprozesse. 11 Weber, Kinderhexenprozesse, wörtliche Zitate S. 255, 258; Weber, Verführten.
Kinderhexen: ein Forschungsüberblick
beiden Sichtweisen stringent aus den Quellen belegt werden. Es hat den Anschein, als würden die Aussagen der Kinder ebenso rigoros und zielbewusst als Belege für sexuelle Träume bzw. Traumata gelesen wie vordem als Zeugnisse für die Realität der Hexerei und des Teufels. Die 1995 publizierte Auseinandersetzung des Soziologen Sebald mit Kinderhexen war quasi das Gegenstück zu der Webers. Als Beitrag zur Geschichtswissenschaft kann man sie vernachlässigen: Sie verdankte sich wesentlich veralteter Forschungsliteratur, die auf sehr fragwürdige Weise interpretiert bzw. schlicht missverstanden wurde. Dennoch war Sebalds Werk von Interesse: Sebald ging es eigentlich weniger um vormoderne Kinderhexenprozesse als um Verfahren wegen Kindsmissbrauch in der Gegenwart. Hier wollte er nicht nur Parallelen sehen, sondern zwei Aspekte desselben Phänomens. Im Zentrum der Hexenverfolgung wie der Pädophiliehysterie stand für Sebald das mythomanische Kind. Zurückgreifend auf Forschung vom Anfang des 20. Jahrhunderts erklärte Sebald, dass Kinder häufig nicht nur logen, sondern komplexe Lügengebäude errichteten. Mit diesen schadeten sie häufig – bewusst oder unbewusst – Erwachsenen, indem sie diesen schwere Verbrechen – in der Vormoderne Hexerei, heute Kindsmissbrauch – vorwarf. Sich selbst präsentierten die Kinder jeweils als unschuldige Opfer. Als Motive der Kinder für diese Mythomanie oder Pseudologia phantastica gab Sebald das Bedürfnis, Aufmerksamkeit zu erregen, frühreife Sexualität und »unmitigated maliciousness« (Englisch= pure Bosheit) an. Sebald behauptete apodiktisch, die Psyche von Kinder sei nun mal »timeless« (Englisch= zeitlos), d. h. unwandelbar. Daher wollte er Ergebnisse moderner psychologischer Forschung ganz simpel auf die Hexenprozesse übertragen. Als Verdienst Sebalds bleibt, das schwere Unrecht, das in der Gegenwart im Zusammenhang mit unverantwortlich geführten Ermittlungen wegen Kindesmissbrauch geschieht, durch den Vergleich mit der Hexenverfolgung an den Pranger gestellt zu haben. In der Tat lassen sich hier Parallelen – betriebsblinde Behörden, sensationslüsterne Medien, karrierebewusste Ankläger bzw. Therapeuten, Vorverurteilungen durch die oft genug verhetzte Öffentlichkeit – zum Justizmord der Hexenprozesse finden. Mit dem Vorwurf der Hexerei ebenso wie mit dem des
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
Kindsmissbrauchs »those bent on destroying a reputation have a surefire weapon« (Englisch= haben diejenigen, die entschlossen sind, jemandes Ansehen zu zerstören, eine absolut zuverlässige Waffe.«) Das gilt, ob sich der Vorwurf gegen einzelne oder ganze als verdächtig erklärte Gruppen richtet.12 Der anthropologisch orientierte Historiker Walz entwickelte 1994 anhand einer Regionalstudie zum westfälischen Lippe ein Modell mit Grundarten von kindlichem und von erwachsenem Verhalten, die zu Kinderhexenprozessen geführt hätten.13 Problematisch war daran vor allem, dass die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen damit kategorial ausgeblendet wurde. Im Verlauf unserer Diskussion wird dieser Ansatz weiter besprochen werden. Walz bemühte ferner das in der Soziologie eingeführte Modell der totalen Institutionen, um die Wirkung von Schulen und kirchlichen und kommunalen ›Besserungsinstitutionen‹ auf Kinderhexen zu beschreiben. Danach prägen autoritäre Institutionen nach einer gewissen Zeit das Verhalten ihrer Insassen und zwar in der Weise, dass diese sich entsprechend den Erwartungen der Institution verhalten. Entwickelt wurde das Konzept anhand von modernen Nervenkliniken, Gefängnissen und Kadettenanstalten. Das mag für den Sonderfall Detmold, wo Kinderhexen über Jahre quasi interniert worden waren, von Interesse sein. Ob dieses Modell aber auf andere von Kinderhexen nur kurzzeitig zu besuchenden Verwahranstalten mit ihren ganz anderen Disziplinstandards angewandt werden kann, ist fraglich. Zum Verständnis der Entstehung von Hexereiverdacht gegen Kinder trägt es kaum bei. Der Historiker Walinski-Kiehl wollte 1996 Kinderhexenprozesse als Teil der Sozialdisziplinierung sehen. Darunter soll eine große Kampagne der frühmodernen Staaten verstanden werden, die sich gegen alle als unmoralisch etikettierten Verhaltensweisen wie z. B. Müßiggang, außereheliche Sexualität und Alkoholkonsum richtete und für Ruhe, Ordnung und konfessionelle Zuverlässigkeit eintrat. Inzwischen ist das ganze Konzept ›Sozialdisziplierung‹ deutlich hinterfragt worden, aber Walinski-Kiehl Ansatz muss diskutiert 12 Sebald, Witch, wörtliche Zitate S. 203, 215, 225 wobei letztere Formulierung von Sebald selbst übernommen wurde von Carlson, Six, S. 26–27. 13 Walz, Kinder.
Kinderhexen: ein Forschungsüberblick
werden. Er postulierte, die Sozialdisziplinierung sei auch mittels Kinderhexenprozessen durchgesetzt worden. An den Kinderhexen ließen sich alle unerwünschten Verhaltensweisen und Einstellungen vorführen und exemplarisch bestrafen. Das Argument war nicht neu: Der französische Historiker Muchembled hatte längst vorgeschlagen, die ganze Hexenverfolgung als Kampf der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten gegen eine von Eigensinn und Ungehorsam beseelte Volkskultur zu sehen, die sich nur mit härtesten Maßnahmen bändigen ließ. Vieles bleibt hier unklar. Etwa, inwieweit Hexenprozesse sich tatsächlich gegen volkskulturelle Praktiken hätten wenden können: Der Kampf gegen die kleine Magie des Alltags spielte in der Prozesspraxis, wie weiter unten gezeigt werden wird, kaum eine Rolle. Der empirische Befund zeigt zudem, dass Hexenverfolgungen kaum jemals auf Widerstand in der Bevölkerung stießen. Vielmehr wurden Hexenprozesse immer wieder von den Bürgern und Bauern verlangt. Das würde dann wohl heißen, dass sich das einfache Volk selbst disziplinierte? Es überzeugt einfach nicht, Kinderhexenprozesse als eine Art gesamtgesellschaftliche Erziehungsmaßnahme zu deuten und die Kinderhexe quasi als einen realen Struwwelpeter für die Frühe Neuzeit zu verstehen, dem sehr real die Todesstrafe drohte. Festhalten lässt sich von Walinski-Kiehls Deutungsangebot sicherlich, dass Obrigkeiten, die sich die Überwachung und moralische Verbesserung aller Untertanen und insbesondere der Kinder auf die Fahnen geschrieben hatten, sich besonders bemüßigt fühlen mussten, gegen Kindermagie vorzugehen.14 Die Historikerin Roper deutete im Jahr 2000 Kinderhexenprozesse ganz gemäß ihrem psychologisch orientierten Verständnis der Hexenjagden. Nach Roper waren der eigentliche Motor der Hexenverfolgung frühkindliche Aggression der Mutter gegenüber. Vorwürfe gegen vermeintliche Hexen, vorwiegend alte Frauen, kleine Kinder zu schädigen, erweckten bei Erwachsenen Erinnerungen an diese Aggression. Rigoroses Vorgehen gegen die verdächtigen alten Frauen wurde verlangt. Als jedoch die Hexenverfolgungen an ihr Ende gerieten und das Klischeebild der alten Frau als Hexe zusammenbrach, hatte das nach Roper zwei Konsequenzen. Erstens wur14 Walinski-Kiehl, Devil; Muchembled, Culture.
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
den Kinderhexen, die erklärten sie hätten Kontakt zu Dämonen, nun selbst tendenziell als Täter, als ›böse‹ gesehen. Die Reste frühkindlicher Aggression in Erwachsenen richtete sich nun gegen die Kinder selbst, da das herkömmliche Bild der bösen alten Frau nicht mehr zur Verfügung stand. Zweitens erzwangen die Kinderhexenprozesse, dass sich Erwachsene auf die Fantasien von Kindern einließen. Daraus entwickelte sich ein nachhaltiges Interesse am Geistesleben junger Menschen, das für die Entwicklung der Pädagogik bedeutsam wurde. Problematisch ist an dieser These Ropers vor allem, dass wir das Alter der meisten Hexenprozessopfer überhaupt nicht kennen: Das Klischee der alten Frau als Hexe könnte also schlicht falsch sein; auf ihm sollten keine weiterreichenden Theorien aufgebaut werden. Da Ropers These von Quellen immer nur punktuell gestützt werden kann, lässt sie sich ebenso schwer belegen wie widerlegen. Immerhin hat Roper eine Antwort auf die Frage, wieso sich Kinderhexenprozesse am Ende der Verfolgungen häuften. Auch Roper sah bereitwillig starke sexuelle Motivik in den Geständnissen von Kinderhexen. Roper interpretierte z. B. die in Prozessakten überlieferte Vorstellung, dass Kinder Gift und Ungeziefer ihren Eltern ins Bett legten (man denke an den unglücklichen Onkel Fritz von ›Max und Moritz‹), spielerische Schläge auf den Hintern bei Kindern oder ein kindliches ›Passionsspiel‹, also das Nachspielen der Karfreitagsereignisse, als Ausdruck kindlicher Libido oder gar als sadistische Perversion von Kindern. Diese sehr dezidierte Deutung erscheint fragwürdig. Roper stellte Walinski-Kiels Argument auf den Kopf: Die Kinderhexenprozesse seien keine Folge der Sozialdisziplinierung gewesen: Vielmehr hätten mit der Erziehung ihrer Kinder überforderte Eltern aktiv staatliche Stellen als Erziehungshelfer auf den Plan gerufen. Die Eltern hätten stets versucht, schwierige Kinder als Hexen in die Obhut von Fürsorgeinstitutionen abzuschieben oder sich von diesen zumindest finanziell unterstützen zu lassen.15 War der Hintergrund der Kinderhexenprozesse also eine dämonische Variante des Kindergeldes oder doch eine Disziplinierung der ganzen Gesellschaft durch schulmeisterliche Behörden?
15 Roper, Evil.
Fragestellung
Die Geschichtswissenschaftler Rau, Mülleder und Beck haben 2004, 2009 und 2011 Lokalstudien zu Kinderhexen in Augsburg, Salzburg bzw. Freising vorgelegt. Während Rau sich weitgehend auf eine exakte Darstellung der Ereignisse beschränkte, bemühte sich Mülleder insbesondere um die sozialen Rahmenbedingungen der Kinderhexenprozesse. Er ordnete sie, für den Sonderfall Salzburg sicherlich passend, zum Kampf der Obrigkeiten gegen Unterschichten ein. Beck versuchte die Angaben der Kinderhexen mit mehr oder weniger benachbarten Kulturelementen ihrer Zeit zu vernetzen. Dabei konnte er den Einfluss bestimmter populärer Magieimaginationen nachzeichnen. Beck versuchte, Teile der Geständnisse der Kinderhexen auf ein Spiel zurückzuführen: Die Kinder hätten quasi ›Hexen‹ gespielt, wie sie in der Gegenwart ›Astronauten‹ oder ›Cowboys‹ spielen mögen, aber die sich daraus ergebenden Probleme nicht mehr lösen können.16 Fragestellung Diese Studie untersucht Hexenprozesse, in deren Zentrum als Beklagte oder Belastungszeugen Kinder standen. Mit dem Begriff ›Kind‹ wird dabei flexibel umgegangen. Um möglichst viele Varianten von Kinderhexenprozessen zu erfassen, werden Verfahren ausgewählt, bei denen eine Person von höchstens sechszehn Jahren im Mittelpunkt stand. Diese Untersuchung klammert Kinderhexen in außereuropäischen Gesellschaften der Gegenwart aus. Es geht nur um Kinder, die während der großen europäischen Hexenverfolgung auftraten. Damit ist auch der Untersuchungszeitraum vorgegeben: die Frühe Neuzeit, d. h. das 16. bis 18. Jahrhundert als Schwerpunktphase der Hexenprozesse. Flankiert wird die Darstellung dabei von kurzen Blicken ins ausgehende Mittelalter und das 19. Jahrhundert. Mit einer Ausnahme, auf die wegen ihrer besonderen Aussagekraft nicht verzichtet werden sollte, werden nur Fälle aus dem Alten Reich ausführlich erzählend dargestellt. Das 1806 aufgelöste Heilige Rö16 Rau, Augsburger; Mülleder, Justiz; Beck, Mäuselmacher. Zu den Salzburger Verfahren vgl. auch Schindler, Entstehung.
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Zur Einführung: Kinderhexen – Fragen und Kontexte
mische Reich Deutscher Nation bestand aus über 300 Einzelterritorien: Den Adelsherrschaften, die von einer Dynastie regiert wurden, den geistlichen Staaten, also Wahlmonarchien, an deren Spitze ein Kirchenfürst, ein Fürstabt, Fürstbischof oder Fürsterzbischof stand, den Freien oder Reichsstädten, d. h. unabhängigen Stadtstaaten, sowie den wenigen Autonomie beanspruchenden Dorfgemeinden bzw. Gemeindeverbänden. Das Reich bietet mit den in vieler Hinsicht sehr unterschiedlichen Bedingungen in den einzelnen Territorien in sich ein breit gefächertes Bild, ohne die Konsistenz der Darstellung zu kompromittieren. Diese Arbeit bemüht sich darum, intensiv mit konkreten Kinderhexenprozessen zu arbeiten. Nach einer Klärung der Grundlagen der Prozesse sollen einzelne Verfahren in Mikrostudien untersucht werden. Es wird dabei gefragt nach dem jeweils spezifischen Umfeld der Prozesse, nach konkreten Elementen des Hexenglaubens sowie der Kommunikation um diesen Glauben. Vor allem geht es um die Rollen, die Erwachsene und Kinder vor und während bestimmten Kinderhexenprozessen spielten. Besonderes Augenmerk gilt dabei immer der Frage, wie genau die Kinder in die Hexenprozesse verwickelt wurden. Es geht also nicht nur um die Prozesse selbst, sondern auch und gerade um ihr engeres und weiteres Vorfeld: kulturelle Stereotypen, vorgegebenen Bilder und Deutungsmuster des Magieglaubens, die im Vorlauf des jeweiligen konkreten Verfahrens aufgenommen und adaptiert wurden. Diskutiert werden auch die besonderen Formen kindlicher und erwachsener Kommunikation, die die Vorbedingungen dafür waren, dass Hexereiverdacht überhaupt entstehen konnte. Dieses Buch beschäftigt sich mit der Quellenüberlieferung konkreter Kinderhexenprozesse, mit den jeweils spezifischen Situationen, die sie reflektiert und in denen sie entstand, immer wieder auch mit ihrem exakten Wortlaut. Diese Arbeit mit Fallstudien soll es ermöglichen, die vorhandenen, vielleicht allzu flächigen Deutungsangebote neu zu überdenken. Erst auf der Grundlage dieser Fallstudien sollen eigene größerformatige Deutungen angeboten werden. Dazu wird dieses Buch wie folgt aufgebaut: In Kapitel 2 werden die Grundlagen geklärt: Zunächst wird ein sehr kurzer Überblick über Kindheit und Erziehung in der Frühen Neuzeit gegeben. Da-
Fragestellung
nach werden die Grundlagen des Glaubens an Magie in Alteuropa, d. h. im vorindustriellen Abendland vorgestellt. Darauf aufbauend werden die spezifische Hexenimagination und der Hexenprozess beleuchtet. Kapitel 2 wird abgeschlossen mit einer Darstellung der Rolle von Kindern im Magie- und im Hexenglauben. Dabei wird bereits mit zwei ersten Fallbeispielen gearbeitet. Kapitel 3 zeigt konkrete Kinderhexenprozesse in einer Abfolge von Einzelstudien. Diese Fallstudien haben sowohl biografischen wie regionalen Zuschnitt. Sie konzentrieren sich stets auf ein Kind, in einigen Fällen begleitet von einer knapperen Darstellung zu parallelen Verfahren um andere Kinder. Die historische Hexenforschung in Deutschland und darüber hinaus arbeitet häufig mit Regionalstudien. Untersucht wird, wie sich in einer konkreten Region die Hexenverfolgungen auf dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Lage, der kirchlich-konfessionellen Situation, des geltenden Rechtes und der aktiven Verwaltung entwickelten. Dieser Ansatz hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Dieses Buch geht ähnlich vor: Es präsentiert Kinderhexenprozesse immer im Kontext des jeweiligen konkreten Territoriums, in dem sie stattfanden. Der quasi biografische auf ein Kind konzentrierte Zugang wird also immer mit einer regionalgeschichtlichen Betrachtungsweise verbunden. Die Fallbeispiele wurden so ausgesucht, dass sie stets unterschiedliche Aspekte der Kinderhexenprozesse zeigen. Die einzelnen Fällen werden dabei ausführlich erzählend dargestellt. Die Auswahl der Fallbeispiele möchte also möglichst viele verschiedene bedeutsame Varianten von Kinderhexenverfahren vor Augen führen. Die Darstellung nimmt sich hier bewusst Zeit für Details, um die Inhalte der Aussagen der Kinder und die genauen Umständen, unter denen sie zustande kamen, präsentieren zu können. Auf diese Weise soll eine solide Basis für eine allgemeine Betrachtung der Kinderhexenprozesse gewonnen worden. Diese erfolgt in Kapitel 4. Kapitel 4 fragt, welche sozialen Charakteristika die Kinderhexen gemeinsam hatten. Es analysiert, wie Kinder und Erwachsenen im Vorfeld von Kinderhexenprozessen miteinander umgingen, bevor eine Anklage zustande kommen konnte. Schließlich verortet das Kapitel die Kinderhexenprozesse im Gesamtkontext der Entwicklung der Hexenverfolgungen.
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2. Bedingungen: Kinder ihrer Zeit 2.1. Kindheit in der Frühen Neuzeit Die Grenzen der Kindheit Kindheit ist keine biologische Gegebenheit, sondern eine kulturelle Konstruktion. Die Vormoderne kannte ebenso wenig wie die Moderne eine allgemein verbindliche Definition von Kindheit. Zedlers Universallexikon, die umfangreichste deutsche Enzyklopädie der Frühen Neuzeit, definierte im 18. Jahrhundert ›Kind‹ als einen Menschen in einem »Alter, in welchem er den vollkommenen Gebrauch derer Kräfte des Leibes [wie auch …] der Seele nicht hat.« Zedler machte dieses Defizit des Kindes an seiner Sprache fest: Das Kind sprach, konnte aber die volle Bedeutung dessen, was es sagte, nicht erfassen. Da das Lexikon das Kind anhand bestimmter Eigenschaften definierte, die unterschiedliche Menschen in unterschiedlichem Alter entwickelten, konnte es konsequenterweise keine festen Altersgrenzen für die Kindheit angeben. Diesem pragmatischen Zugang entsprach, dass das exakte Lebensalter für den Alltag der Frühen Neuzeit kaum Belang hatte. Viele Menschen wussten schlicht nicht genau, wann sie geboren und wie alt sie waren. Als einfachen Orientierungswert empfahl Zedlers Lexikon den Maßstab des anti-
Kindheit in der Frühen Neuzeit
ken Rechts, nach dem man Personen unter sieben Jahren als Kinder ansehen sollte.1 Dagegen standen verschiedene Lebensabschnittsmodelle, die auch aus der Antike übernommen worden waren. Diese definierten formal Altersklassen. Die Kindheit konnte da die ersten fünfzehn Lebensjahre ausmachen, die ersten zehn oder die ersten sieben. Rechnete man die Kindheit zu sieben Jahren (infantia, Latein= Kindheit), dann konnte man weitere sieben Jahre als frühe (pueritia, Latein= Knabenalter) und abermals sieben Jahre als spätere Jugend (adolescentia, Latein= Jugendalter) folgen lassen. Das wirkliche Erwachsenenalter begann danach mit 21. Dieser Sieben-JahresRhythmus erfreute sich einiger Beliebtheit, in Resten prägt er noch modernes Denken. Dabei darf nicht übersehen werden, dass dieses Modell mit Astrologie und Zahlenmystik mindestens ebenso viel zu tun hat wie mit empirischen Daten der biologischen und psychischen Entwicklung. Dennoch wird man festhalten können, dass für die Menschen Alteuropas um das 14 Lebensjahr herum in mancher Hinsicht ein neuer Abschnitt begann: Um diesen Zeitpunkt dürfte die Geschlechtsreife eingesetzt haben (wegen der schlechteren Ernährung später als heute). Die Firmung oder Konfirmation verlieh die kirchliche Mündigkeit. Die Aufnahme als Handwerksgeselle erfolgte. Jungen konnten in lokale Burschenvereinigungen eintreten. Kinder aus der Oberschicht begannen mit dem Besuch höherer Lehrinstitutionen. Das Jugendalter endete definitiv mit der Eheschließung und der Gründung eines eigenen Hausstandes. In Alteuropa war das durchschnittliche Heiratsalter hoch: um 25 bei Frauen, um 27 bei Männern.2 Die Kinderehen des Mittelalters waren große Ausnahmen. Sie betrafen den Adel, der durch Eheschließungen politische Allianzen festigen wollte. Dabei wurde auf die emotionale Beziehung der Eheleute ebenso wenig Rücksicht wie auf ihr Alter genommen. Die frühneuzeitliche Rechtswissenschaft setzte – entsprechend dem Sieben – Jahres – Muster – den Beginn einer herabgesetzten Verantwortlichkeit mit sieben Jahren, die volle Mündigkeit in der 1 2
Anonym, Artikel Kinder. Anoynm: Artikel Alter; Dülmen, Kultur, Bd. 1, S. 121–123; Fitzon, Zehn.
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Regel mit 14 Jahren an.3 Auf die Problematik der rechtlichen Verantwortlichkeit von Kindern müssen wir näher eingehen, weil sie für die Problematik der Kinderhexenprozesse entscheidend war. Die wichtigste Strafrechtskodifikation des Alten Reiches, die Peinliche Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl V. (Carolina), publiziert 1532, sprach nicht allgemein über Minderjährige. Sie stellte fest, dass derjenige, der wegen Gebrechen oder »der Jugend« halber »seinen Sinn nicht hat« wegen Straftaten nicht ohne weiteres verurteilt werden dürfte. Vor einem Urteil seien sachverständige Gutachter zu hören. Damit blieben alle Strafmaße bis hin zur Todesstrafe möglich, abhängig jeweils von der Schwere des Delikts und der Meinung der Gutachter, auch wenn der Täter nur eingeschränkt »seinen Sinn hatte« d. h. sich nicht wirklich selbst in seiner Umwelt orientieren konnte. Etwas genauer wurde die Carolina im Hinblick auf den Diebstahl: Personen unter 14 Jahren dürften wegen Diebstahl nicht zum Tod verurteilt werden, es sei denn, dass besonders schwere Begleitumstände dafür sprächen. Körperliche Strafen, einschließlich Verstümmelung blieben jedoch möglich. Die Carolina hielt aber weiter fest, dass Personen, die fast 14 Jahre alt waren, wegen Diebstahl zum Tod verurteilt werden könnten. Ein solches Urteil dürfte jedoch nicht leichtfertig, sondern erst nach Befragung von rechtgelehrten Gutachtern gefällt werden. Zentral war die Klausel, dass die Todesstrafe Diebe, die noch nicht ganz das 14 Lebensjahr erreicht hatten, nur dann treffen dürfte, wenn der Diebstahl besonders schwerwiegend war und die Begleitumstände den Täter belasteten. Dann nämlich müsse seine Schuld als außerordentlich groß angesehen werden, »also dass die Bosheit das Alter erfüllen möchte.«4 Diese Formulierung wurde juristisch so ausgelegt, dass das Kind planvoll und/oder in vollem Bewusstsein, dass es etwas Verbotenes tat, gehandelt haben sollte. Betrachtet man sich aber gerade die Praxis der Kinderhexenprozesse, dann entsteht der Eindruck, als habe man den Text stark verflacht: Die Hexerei wurde als ein besonders schweres Delikt verstanden, das schon allein für sich die »Bosheit« konstituierte und die Todesstrafe möglich machte. Tatsächlich 3 4
Ogris, Artikel Mündigkeit; Koppenburg, Hexen, S. 143–144. Peinliche Halsgerichtsordnung, Art. 164, Art. 179, S. 106, 112.
Kindheit in der Frühen Neuzeit
Die religiöse Unterweisung von Kindern in der Vormoderne nahm wie selbstverständlich an, die frohe Botschaft vom guten Gott mit der Warnung vor Satan und den Dämonen flankieren zu müssen. Franz Heinrich Ziegenhagen: Lehre vom richtigen Verhältnis zu den Schöpfungswerken, Hamburg 1792
wurde genau diese Klausel immer wieder bemüht, um Schuldsprüche gegen Kinderhexen zu begründen. Dass die Carolina ausdrücklich von Diebstahl gesprochen hatte, und die Analogie zwischen Diebstahl und Hexerei durchaus bestritten werden könnte, wurde in konkreten Prozessen ausgeblendet. Die klaren Hinweise des Gesetzes darauf, dass der jugendliche Täter nicht viel jünger als 14 sein dürfte, und dass unabhängige Gutachter zugezogen werden müssten, wurden ebenfalls oft ignoriert. Juristisch beschlagene Befürworter der Hexenverfolgung stellten sich dem Problem der Strafmündigkeit von Kindern. Nicolas Rémy war Ende des 16. Jahrhunderts Leiter der Strafverfolgungsbehörden des Herzogtums Lothringen. In dieser Eigenschaft leitete er Hexenprozesse. 1595 publizierte er eine dämonologische Schrift, in der er seine praktischen Erfahrungen verarbeitete. Bezüglich des Vorgehens gegen Minderjähriger räumte Rémy ein, dass es viele
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gute juristische Argumente dafür gebe, Kinder und Jugendliche milder als Erwachsene zu behandeln. Die Wichtigsten waren dabei die mangelnde Einsicht von Minderjährigen, die dazu führte, dass sie für ihre Taten nicht verantwortlich waren, und die Chance, sie zu ›bessern‹, also durch Erziehung zu einem Leben ohne Verbrechen zu führen. Allerdings hatte Rémy bezüglich des ersten Arguments Bedenken: Es gebe genug Fälle, die bewiesen, dass Kinder sehr wohl in der Lage waren, in vollem Bewusstsein das Gesetz zu brechen, ein Verbrechen rational zu planen. Tatsächlich müsse man den Eindruck haben, dass Kinder immer durchtriebener würden. Freilich war Rémy gebildet genug zu wissen, dass die Klagen über die angeblich moralisch verkommene Jugend seit der Antike stereotyp wiederholt werden. Wichtiger für Rémy war, dass er das zweite Argument, die milde Strafe als Möglichkeit zur Besserung, modern gesprochen die Resozialisierungschance, speziell im Fall von Hexen nicht akzeptierten wollte. Wer einmal in die Macht des Teufels gekommen war, so Rémy, könnte nur noch durch den Tod von diesem befreit werden. Gerade bei Kinderhexen wäre ihr junges Alter keine Chance zur Besserung, sondern nur die Möglichkeit sich noch tiefer im Teufelsdienst zu verstricken. Hexerei sei gerade eben das Verbrechen, »das jenseits der Hoffnung [auf Besserung] ist, ja das den Schuldigen mit zunehmenden Alter immer fester packt.« Richter, denen es vor allem um den Schutz der Bevölkerung vor Hexerei ging, waren nach Rémy eigentlich verpflichtet, Kinderhexen hinrichten zu lassen. Rémy bedauerte, dass er diese harte Linie als Richter in Lothringen selbst nicht hatte durchsetzen können: Er ließ bloß Kinderhexen mit Ruten schlagen lassen und zwang sie, bei der Hinrichtung ihrer meist ebenfalls schuldigen Eltern zuzusehen. Tatsächlich dürfte aber unter Rémy 1603 doch ein Zwölfjähriger wegen Hexerei hingerichtet worden sein. Dies wäre eine der ersten Exekutionen einer offiziell noch nicht strafmündigen Kinderhexe überhaupt.5 Zwanzig Jahre nach Rémy äußerte sich der Jurist Henri Boguet im selben Sinn. Auch er behauptete, dass für Kinderhexen letztlich keine Aussicht auf Besserung bestünde. Außerdem wende sich der 5
Rémy, Demonolatry, S. 92–99; Monter, Children, S. 184.
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Teufel nur an mindestens Zwölfjährige, da nur sie rechtlich bindend den Pakt mit ihm abschließen könnten. Damit garantierte die juristische Sachkenntnis des Satans auch, dass Kinderhexen für ihre Taten voll verantwortlich waren, also exekutiert werden mussten.6 Familienleben und Erziehung Exakte Angaben über die Säuglingssterblichkeit und die – stets deutlich niedrigere – Kindersterblichkeit in Alteuropa sind sehr schwierig. Mit zuverlässigen, flächendeckenden Daten darf für die vorstatistische Zeit selbstredend nicht gerechnet werden. Dichtes Zahlenmaterial wird oft erst im 15. Jahrhundert greifbar. Die erschließbaren älteren Datenbruchstücke lassen ihrem Wesen nach bloß regional und zeitlich eingeschränkte ›Stichproben‹ zu. Die Kindersterblichkeit blieb offenbar auch in der Vormoderne nicht konstant, mit massiven Schwankungen ist zu rechnen. Verallgemeinerungen sind problematisch. Dennoch sollen hier einige grobe Orientierungsdaten gegeben werden. Für Württemberg wurde für die Zeit zwischen 1650 und 1800 geschätzt, dass nur die Hälfte eines jeden Geburtenjahrgangs das 15. Lebensjahr erreichte. Man muss eine Säuglingssterblichkeit von rund 25 % annehmen. In vergleichsweise armen Ländern der Gegenwart wie Angola und Afghanistan liegt sie bei 17 % bzw. 14 %. Im 18. Jahrhundert wird geschätzt, dass von allen Kindern zwischen einem und vier Jahren in Frankreich über 21 % verstarben, in Dänemark und Schweden aber nur rund 15 %. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit scheint im Verlauf der Frühen Neuzeit eher zugenommen zu haben als gesunken zu sein. Für England wurde errechnet, dass die Säuglingssterblichkeit zwischen 1625 und 1649 bei fast 16 % lag, zwischen 1725 und 1749 aber bei knapp 20 %. Die Kindersterblichkeit stieg im selben Zeitraum von mehr als 8 % auf über 12 %. Zu einem signifikanten Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit kam es im 19. Jahrhundert zunächst nicht. Vielmehr scheinen in den neu entstehenden Arbeiterschichten die Mortalitätsraten von Minderjährigen im Vergleich zur Vormoderne weiter gestiegen zu sein. Dass sich die Industriear6
Boguet, Examen, S. 156, 234.
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beiter von der traditionellen Fürsorge durch Familie und Dorf abwenden mussten, ebenso wie die oft hochgradig beengten und naturfernen Wohnverhältnisse wirkten sich hier äußerst negativ aus. Erst mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kam die Trendwende. Die Kindersterblichkeit, die in Bismarcks Preußen schon auf 4 % hatte zurückgedrängt werden können, ist heute auf 0,2 % gesunken.7 Der Tod eines Kindes wird heute oft als schwerster Schicksalsschlag angesehen, der eine Familie überhaupt treffen kann. Wie konnten die Menschen Alteuropas mit diesen sehr hohen Sterblichkeitsraten von Kindern umgehen? Wie übersteht man nicht nur den Verlust eines Kindes, sondern die wiederholte Erfahrung des Todes eigener Kinder? Die Forschung im Gefolge von Ariès und Shorter präsentierte eine überraschende Antwort. Sie erklärte, die Familien Alteuropas seien denen der Moderne ganz unähnlich gewesen. Es habe nämlich keine starken emotionalen Bindungen zwischen Eltern und Kindern gegeben. Die Menschen der Vormoderne, so könnte man die These auf den Punkt bringen, überstanden den Tod ihrer Kinder ohne schwere emotionale Krisen, weil sie zu ihrem Nachwuchs kaum eine emotionale Verbindung hatten. Die hohe Wahrscheinlichkeit, ein Kind zu verlieren, führte dazu, dass Eltern wenig Emotion in die Beziehung zu ihren Söhnen und Töchtern ›investierten‹. Für diese Sicht schien die weitverbreitete Verwahrlosung von Kindern zu sprechen. Insbesondere das Ammenwesen sollte beweisen, dass gerade Mütter ein distanziertes Verhältnis zu ihren Kindern gehabt haben sollten. Es war durchaus nicht selbstverständlich, dass Mütter ihre Kinder selbst stillten. Häufig wurden diese halbprofessionellen Ammen übergeben, die mehrere fremde Kinder ernährten. Immer wieder handelte es sich dabei um ›Fernammen‹: Säuglinge wurden also über längere Zeiträume in fremde, oft räumlich weit entfernte Haushalte, zu ihren Ammen, gegeben. Die Fürsorge, die ihnen dort zu Teil wurde, war häufig schlecht. Dass die Eltern dieses Ammenwesen überhaupt in Anspruch nahmen, scheint dafür zu sprechen, dass sie dem eigenen Nachwuchs mit einer gewissen Gleichgültigkeit begegneten.8 7 8
Dülmen, Kultur, Bd. 1, S. 87–89; Livi Bacci, Europa; Vögele, Kindersterblichkeit. Shorter, Edward: Die Geburt der modernen Familie, Hamburg 1977; Ariès,
Kindheit in der Frühen Neuzeit
Die These von der emotionslosen vormodernen Familie kann heute als erledigt gelten. Die Bedeutung des Fernammenwesens wurde überschätzt. Das Stillen des Kindes durch die Mutter zum Maßstab für Zuneigung zu machen, ist äußerst fragwürdig. Gerade die Bewertung des Stillens unterliegt deutlichen Konjunkturen, die mehr mit dem Frauenideal der jeweiligen Zeit als mit verantwortlicher Versorgung von Kleinkindern zu tun haben. Es gibt zahlreiche frühneuzeitliche Quellen, die von der starken Liebe von Eltern zu ihren Kindern und ihrer Trauer beim Tod eines Kindes zeugen.9 Es wurde behauptet, Kinderhexenprozesse bewiesen schlagend, dass frühneuzeitliche Familien Kindern ohne Zuneigung begegnet wären.10 Man kann aber genau das Gegenteil zeigen: Es lässt sich ängstliche Fürsorge der Eltern für Kinder breit belegen, wenn diese in den Bann der Hexen geraten sein sollten, ebenso wie der Hass der Eltern den Hexen gegenüber, die ihre Kinder angeblich geschädigt und verführt hatten. Der Tod von Kindern hat die Menschen Alteuropas offenkundig sehr schwer belastet. Den Schlüssel zu ihrem ›emotionalen Überleben‹ wird man vielleicht in ihrem religiösen Glauben erkennen dürfen. Viele Teile der Jesusüberlieferung zeigten, dass gerade Kinder besondere Nähe zu Gott hatten. Das konfessionelle Christentum sprach davon, dass die Seelen der Kinder bei Gott weiterlebten und aufgehoben seien. Wie wuchsen Kinder in Alteuropa auf? Alle Mitglieder des Haushaltes, einschließlich der Angestellten, d. h. Knechte, Mägde, Gesellen oder Dienerschaft, unterstanden formal der Autorität des Haushaltsvorstandes, also des Mannes des zentralen Ehepaars. Seine Frau nahm den zweithöchsten Rang ein. Grundsätzlich hatte der Haushaltsvorstand das Recht, nicht nur die Kinder, sondern alle Mitglieder seines Haushaltes auch körperlich zu strafen. Das darf allerdings nicht als Freibrief für Willkür und brutale Prügel missverstanden werden. Jeder Haushalt und jeder Haushaltsvorstand unterstanden der sozialen Kontrolle der Stadt- bzw. DorfgemeinPhilippe: Die Geschichte der Kindheit, München 121998. 9 Dülmen, Kultur, Bd. 1, S. 89–101. 10 Walinski-Kiehl, Devil, S. 172.
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schaft. Fehlverhalten eines ›Hausvaters‹ trug ihm einen schweren Verlust von Ansehen und u. U. sehr handfeste Sanktionen ein. Die Toleranz des Dorfes und der Obrigkeit für gewalttätige ›Tyrannen‹, die ihre Familie schikanierten, war begrenzt. Dasselbe galt für Haushaltsvorstände, die – z. B. durch Verschwendung, Spiel, Alkoholismus – nicht der Lage waren, ihrer Familie verantwortlich vorzustehen.11 Taufe und konfessionelle Erziehung waren für die christlichen Familien Alteuropas selbstverständlich. Die protestantische Reformation und die katholischen Reformen in ihrem Gefolge dynamisierten die gesamte Kultur Alteuropas. Ob sich die Verfestigung der Konfessionen so weit auf das Familienleben auswirkte, dass man sinnvollerweise von einer ›katholischen‹ und einer ›protestantischen‹ Familie sprechen kann, lässt sich schwer entscheiden. Sicherlich stellte die Reformation neue Ansprüche an die Familie. Mit der Schwächung des priesterlichen Amtes durch die protestantische Theologie wuchs der Familie größere Bedeutung und mehr Verantwortung für das christliche Leben zu. Die Familie wurde stark als christliche Gemeinschaft akzentuiert, gemeinsames Gebet und Gesang gefördert. Die Hausgemeinschaft konnte als Hausgemeinde gedacht werden. Die Eltern wurden verstärkt in die Pflicht genommen, die christliche Erziehung ihrer Kinder zu gewährleisten. Damit ging eine Überhöhung der elterlichen Autorität einher. Im katholischen Bereich lag der Akzent etwas anders: Der zölibatäre Priester und das Ordenswesen machten die Kirche insgesamt quasi ›familienferner‹. Da die zentrale Bedeutung des Priesters als Vermittler des Heils geblieben und durch die Reformanstrengungen ab dem Konzil von Trient (Sitzungsperioden 1545–1547, 1547–1549, 1551–1552, 1562–1563) nachdrücklich bestätigt worden war, trat quasi eine weitere Erziehungsautorität neben die Familie. Die Kirche mit ihren erzieherischen bzw. konkret schulischen Angeboten bewahrte ihre Autorität im katholischen Bereich wohl eher als im protestantischen.12
11 Shepard, Meanings; Dinges, Hausväter. 12 Cunningham, Geschichte, S. 92–94.
Kindheit in der Frühen Neuzeit
Das Wort ›Kinderarbeit‹ weckt Assoziationen von körperlicher Schwerarbeit für Kinder in der ungebremst kapitalistischen Industrie des europäischen 19. Jahrhunderts oder von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, unter denen Minderjährige in Teilen des heutigen Südamerikas, Afrikas und Asiens leiden. Es geht hier nicht um diese Auswüchse, sondern um die von den Zeitgenossen als völlig unproblematisch erfahrene Arbeit von Kindern im frühneuzeitlichen Europa. Die Vorstellung, dass die Kindheit eines Lebensphase sein soll, die frei von Erwerbsarbeit ist, gehört in die Moderne. In Alteuropa war die Arbeit von Kindern ein selbstverständlicher Teil der Ökonomie. Arbeit von Kindern bedeutete zuerst und vor allem Mitarbeit in der Hauswirtschaft der Eltern. Das galt, gleichgültig, ob diese Eltern Händler, Handwerker, oder, wie die 85 % der Bevölkerung in der Frühen Neuzeit, Bauern waren. Kindern wurden vorzugsweise einfache und körperlich leichte, aber zeitaufwändige Aufgaben übertragen, z. B. Holzsammeln, Beerenlesen, bei etwas älteren Kindern einfache Reinigungsarbeiten. Die kindliche Arbeit par excellence in der Vormoderne war das Viehhüten. Hinzu kam selbstverständlich die Aufsicht der älteren Kinder über die jüngeren Geschwister. Die Arbeit der Kinder differenzierte sich ebenso wie die Arbeit der Erwachsenen nach Geschlecht. Konkret führte die Mutter die Töchter und der Vater der Söhne in ihre jeweiligen Aufgaben ein. Mit dieser ganz praktischen Erziehung durch Arbeit und Erziehung für die Arbeit wurden Kinder sozialisiert: Sie wuchsen aktiv in die Lebenswelt ihrer Familie hinein. Enkulturation erfolgte gleichsam erlebend und ganzheitlich, nicht formal und abstrakt im separierten Raum einer Schule. Es war durchaus üblich, dass Kinder etwa ab dem zehnten Lebenjahr auch außerhalb des elterlichen Haushaltes arbeiteten. Vornehmlich als Hütekinder suchten sie bezahlte Anstellungen in fremden Dörfern. Fernwanderungen von Kindern zu Arbeitsstellen kamen vor, blieben insgesamt aber die Ausnahme. Hier darf nicht der Eindruck entstehen, dass der Tagesablauf eines Kindes von dem von Erwachsenen nicht zu unterscheiden gewesen wäre. Selbstverständlich blieb Raum für vielerlei Spiele. Kindern wurden zur Unterhaltung (und Unterweisung) Geschichten erzählt. Sie selbst schufen für sich einen Kommunikationsraum untereinander. In diesem war Platz für mehr als Arbeit
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und Nachahmungen der Erwachsenenwelt: Eigenes, auch fantastisches Fabulieren, Spiel und in gewisser Weise auch Kritik der Erwachsenenwelt fanden hier Raum.13 Gegenüber der praktischen Unterweisung im elterlichen Haushalt spielte die Schule für die Ausbildung der Kinder eine untergeordnete Rolle. Selbstredend gab es auch in der Frühen Neuzeit eine Vielzahl unterschiedlicher Schulen. Aber es gab bis Ende des 18. Jahrhunderts kein Schulsystem und keine Schulpflicht. Formelle, zu schweigen von standardisierten Prüfungen, setzten sich erst im 19. Jahrhundert durch. Insgesamt wird man die Bedeutung der Schule für die Kindheit in Alteuropa weit niedriger Ansetzen müssen als in der Moderne. Das Interesse der Eltern am Schulbesuch ihrer Kinder hielt sich in Grenzen: Die Kinder wurden als Arbeitskräfte im Haushalt gebraucht oder trugen mit einer bezahlten Arbeit zum Familieneinkommen bei. Die Schulen vermittelten die Grundrechenarten, Lese- und Schreibfähigkeit, sowie eine solide religiöse Unterweisung. Das Schulbuch per excellence war der Katechismus.14 Die Mitarbeit der Kinder im bäuerlichen Haushalt brachte es mit sich, dass das Leben von Kindern vergleichsweise stark im halböffentlichen Raum der Dorfgemeinschaft stattfand. Die Bedeutung des Dorfes, der Nachbarn, negativ gewendet der ›Straße‹ für die Erziehung von Kindern im Vergleich zu der von Schule und Elternhaus war in Alteuropa generell größer als in der Moderne. Daraus ergab sich, dass es eine separaten Sphäre für Spiel und Erziehung nur in Ansätzen gab. Die sehr unmittelbare Integration der Kinder in die Erwachsenenwelt brachte es mit sich, dass ein ›Reservatraum‹ für Kinder, ein Schutzbereich mit eigenen Regeln, der insbesondere von der Arbeitswelt der Erwachsenen getrennt wurde und dezidiert getrennt sein sollte, in Alteuropa weit weniger als in der Gegenwart existierte. Auch in der Vormoderne erwartete man sicherlich nicht, dass Kinder ›kleine Erwachsene‹ sein sollten. Das Spiel, der mühsame Erwerb von Sprache und darüber hinaus die langsame Aneignung der erwachsenen Kommunikationskonventionen setzten Kinder bei aller Einordnung in die Erwachsenenwelt 13 Beck, Mäuselmacher, S. 637–668. 14 Dülmen, Kultur, Bd. 1, S. 115–120; erschöpfend Berg, Handbuch, Bd. 1–2.
Kindheit in der Frühen Neuzeit
von dieser ab. Kinderwelt und Erwachsenenwelt lagen aber noch näher als heute zusammen. Das Verständnis dafür, dass es sich um zwei verschiedene Sphären handelte, war schwächer ausgeprägt. Ganz konkret wurde das z. B. im Haus: Das Kinderzimmer war eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts. Es stammte aus dem adeligen Schloss und den städtischen Wohnsitzen des Großbürgertums. Die Mehrheit der Bevölkerung, d. h. die Mehrheit der Kinder lebte in Häusern mit wenigen, oft nur einem Raum. Da dachte niemand an einen besonderen Bereich für kindliches Spielen und Lernen. Dort war buchstäblich kein Platz für Privatheit und Rückzugsräume, Intimität oder gar Geheimnisse, weder für die Eltern noch für die Kinder. Vielleicht ist diese Enge einer der Gründe dafür, dass sich erst langsam, ab dem späten 17. Jahrhundert die Vorstellung von der Kindheit als einer Lebensphase mit Selbststand und Eigenwert, nicht nur als Vorbereitung auf die Erwachsenenzeit etablieren konnte.15 Prominent formuliert wurde diese neue Sicht der Kindheit von Locke und Rousseau. Locke proklamierte am Ende des 17. Jahrhunderts zwar die entscheidende Bedeutung aktiver Erziehung für die Entwicklung eines Kindes, erklärte aber, dass diese Erziehung auf jedes einzelne Kind als Individuum abgestellt werden müsse. Zu diesem Konzept gehörte auch, Kinder als Kinder ernstzunehmen: Sie sollten sich möglichst frei, gerade auch in kindlichem Spiel und kindlicher Kommunikation entfalten können. Die Erziehung floss im idealen Fall in das Spiel ein. Sie sollte die Kinderkultur nicht sprengen, sondern ein Teil von ihr werden. Rousseau ging in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viel weiter: Die Erziehung sollte die sinnliche Erfahrungswelt des Kindes nicht verstellen. Kindliche Weltwahrnehmung, Welterschließung, Spiel und spielerische Kommunikation sollten von Erwachsenen nicht durch ›erzieherischen‹ Druck und erzwungene Enkulturation behindert werden. Rousseau ließ das Kind ganz dezidiert Kind sein und reduzierte die Kindheit nicht auf eine Vorbereitungsphase auf die Zukunft des Erwachsenseins. In gewisser Weise trennten Locke und Rousseau Kinder deutlich vom Raum der Erwachsenen ab. Bei aller Konzentration 15 Cunningham, Geschichte, S. 94–103.
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auf das einzelne Kind, nicht nur auf Kindheit, erkannten sie doch, dass Kinder eine eigene Kultur lebten, und anerkannten deren Wert. Der Einfluss dieser Erziehungsreformer auf den Alltag von Kindern blieb natürlich zunächst äußerst begrenzt.16 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die vormoderne Kindheit anders als die moderne von weniger und stärker durchlässigen Grenzen im sozialen Zusammenleben geprägt war: Es gab kaum private Rückzugsbereiche und wenig separierte Räume für Kinder, die nur auf deren Bedürfnisse oder abstrakte Erziehungsbelange abgestellt waren. Erst im 18. Jahrhundert wurden allmählich immer klarer werdende Grenzen gezogen. In dieser Zeit begann in bürgerlichen Familien der Rückzug der Kinder ins Elternhaus und in den Schulunterricht. Die treibende Kraft hinter dem Siegeszug der Schule war das wohlhabende städtische Bürgertum und der Verwaltungsstaat. Das Bürgertum erkannte, dass früh vermittelte abstrakte Bildung, nicht nur die Anweisung durch die Eltern, zumindest für Jungen als Vorbereitung für eine Karriere in der komplexen Handelsökonomie und mehr noch in der Verwaltung dienlich war. Der Staat verstand Schulen als Mittel ebenso produktive wie gehorsame Untertanen heranzubilden. Der Schulunterricht wurde nun als wesentlicher Teil der Erziehung akzentuiert. Die neue Wichtigkeit der Schule verlangte eine gewisse Separierung der Kinder: Sie wurden in einen speziellen, ihnen vorbehaltenen sozialen Raum der Vorbereitung, Unterweisung und Disziplinierung gedrängt. Dieser unterschied sich klar von der (Erwerbs)welt der Erwachsenen. Ein solches von Erwachsenen kreiertes und kontrolliertes ›Erziehungs- und Kinderreservat‹ hatte die dörfliche Kindheit der Vormoderne allenfalls in Ansätzen gekannt.17
16 Locke, Essay; Locke, Thoughts; Rousseau, Émile; Cunningham, Geschichte, S. 96–105. 17 Dülmen, Kultur, Bd. 1, S. 101–121.
Hexenangst und Hexenverfolgung
2.2. Hexenangst und Hexenverfolgung: Volksglaube, Dämonologie und Kriminalprozess Die Welt der Geister, die Geister in der Welt Als Geister sollen hier alle imaginären Wesen bezeichnet werden, die sich durch eine der alltäglichen Erfahrung widersprechende Körperlichkeit auszeichneten. Geister sollten z. B. unverwundbare, verwandelbare oder alterslose Körper besitzen oder aber gar nicht an einen Körper gebunden sein. Der magische Volksglaube Alteuropas kannte eine Unzahl dieser Geisterwesen. Grundsätzlich galt der Glaube an Geistererscheinungen als intellektuell respektabel: Wer jedoch welche Geschichte über welche Geister unter welchen Umständen für wahr hielt, muss im Einzelfall betrachtet werden. Der Übersichtlichkeit halber wird hier eine schlichte Einteilung in Haus- und Naturgeister, Totengeister, sowie Engel und Dämonen vorgenommen. Der Glaube an jede einzelne dieser Art Geisterwesen könnte leicht ein weiteres Buch vom Umfang der vorliegenden Studie füllen: Hier können daher nur grobe Umrisse der jeweiligen Vorstellungen nachgezeichnet werden. Auf diese Skizze kann jedoch nicht verzichtet werden: Kinderhexenprozesse konfrontieren uns mit der Vielfalt des alteuropäischen Geisterglaubens. Mit dem volkskundlichen Begriff Naturgeist werden Geisterwesen belegt, die sich der Volksglaube am Rand der Siedlungen beheimatet vorstellte. Hierzu gehörten die Nixen, Feen oder Berggeister. Mit ihnen verbunden waren die Kultur- und Hausgeister. Die Haus- und Naturgeistervorstellungen sind noch viel zu wenig geschichtswissenschaftlich erforscht worden: Da sie ab dem 19. Jahrhundert vom Folklorismus, von der Kinder- und Jugendkultur und schließlich von der Kitschindustrie mit Beschlag belegt wurden, werden sie als Themen der historischen Magieforschung noch völlig unzureichend wahrgenommen. Um den Glauben an diese Wesen zu verstehen, muss stets bedacht werden, dass die Geisterwesen in Beziehung zur bäuerlichen Wirtschaft und zum Zusammenleben im Dorf stehen sollten. Sie beeinflussten das Wetter und die Gesundheit des Viehs. Man dachte sich in Getreidefeldern Geisterwesen, welche die Ernte schützten. Von großer Bedeutung war der Glaube
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an Geister, die den Haushalt teils störten, teils überwachten, teils helfend eingriffen (Kobold, Heinzelmännchen). Helfende Geister erhielten eine ›Bezahlung‹, indem rituell Essen für sie aufgestellt wurde. Der Glaube an Haus- und Naturgeister fand in einer Vielzahl von magischen Geschichten seinen Ausdruck. Diese Geschichten transportierten unausgesprochene Handlungsnormen. Haus- und Naturgeister riefen diejenigen zur Ordnung, die gegen die Normen des dörflichen Zusammenlebens verstießen. Naturgeiser bestraften den, der Neuland unter den Pflug nahm, und bestätigten damit die Besitzverhältnisse. Sie überwachten die Dienstboten, die so an ihre Pflichten erinnert wurden. Aber auch verschwenderischen Haushaltsvorständen drohte die Strafe der Geister. Sowohl die Unter- wie auch die Überschreitung herkömmlicher Entlohnung von Knechten und Mägden wurde von den Geistern bestraft. Dass lange vor der romantischen Dichtung in traditionellen populären Erzählungen Ehebeziehungen zwischen Menschen und Geistern in der Regel tragisch und drastisch scheiterten, bestätigte Genderrollen und Endogamie. Insofern hatten die Geistergeschichten deutlich disziplinierende Funktion: Sie illustrierten einfache Verhaltensregeln der agrarischen Ökonomie und schärften sie ein. Letztlich ist es von zweitrangiger Bedeutung, ob die Geschichte um diese Geister ›geglaubt‹, also als Realität angesehen wurden: Sie erklärten immer wieder, was wichtig und richtig war, und drohten drastische Strafen für Regelverstöße an. Damit bestätigten sie die bestehende Ordnung.18 Ähnlich disziplinierenden Charakter wie der Naturgeisterglaube hatte der Glaube an Totengeister.19 Einige Tote konnten angeblich nicht in das christliche Jenseits von Himmel, Hölle und – nach katholischer Auffassung – Fegefeuer gelangen, sondern erschienen den Lebenden. Als Toter ›keine Ruhe zu finden‹, sondern als Spuk ›umgehen‹ zu müssen, galt in der Volkskultur Alteuropas als schweres Unglück. Wen traf nun dieses Unglück? Angeblich konnten einige wenige Tote die Sphäre der Lebenden nicht verlassen, weil sie noch eine Aufgabe in der materiellen Welt zu erfüllen hatten. Der Tod hatte sie daran gehindert, diese Aufgabe zu erledigen: Nun ver18 Dillinger, Hexen, S. 38–40. 19 Vgl. zum Folgenden, Dillinger, Hexen, S. 40–41; Dillinger, Magical, S. 72– 79.
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suchten sie, diese als Gespenster zu erfüllen. Oder aber sie bewegten die Lebenden dazu, an ihrer statt das Unterlassene zu tun. Geschichten über Totengeister definierten durch die Beschreibung dieser unerfüllten, aber sehr wichtigen Aufgabe, was richtiges Verhalten war: Sie transportierten damit Werte. Totengeister kümmerten sich z. B. um ihre Kinder. Sie erbaten kirchliche Rituale, die aus irgendeinem Grund missachtet worden waren. Spezifischer mochten sie Unrecht aufdecken: Solches, das die Gespenster zu Lebzeiten selbst begangen hatten, ebenso wie solches, das ihnen angetan worden war. Die Geister drängten jeweils die Lebenden, das Unrecht (an ihrer statt) wiedergutzumachen. Die Totengeistergeschichten der Vormoderne waren geradezu moralische Lehrstücke. Anders als die Toten des modernen Spiritismus überbrachten sie keine Nachrichten aus dem Jenseits, sondern hatten konkrete, moralisch begründete Anliegen an die Lebenden. Im Gegensatz zu vielen Gespenstern des modernen Horrorgenres waren die Totengeister des alteuropäischen Volksglaubens zwar unheimlich und bedrohlich, aber – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht bösartig. Theologisch war die Existenz von Totengeistern problematisch. Die katholische Kirche ließ die Möglichkeit offen, dass Gott Seelen aus dem Fegefeuer zu den Lebenden zurückschicken könnte, um diese zu mahnen, nicht zu sündigen. Da die Kirchen der Reformation die Existenz des Fegefeuers verneinten, wurde für sie auch die Existenz der Totengeister unmöglich. Dies bedeutete jedoch nicht, dass protestantische Theologen die Realität der Geistererscheinungen angezweifelt hätten. Man vermutete vielmehr, dass die vermeintlichen Gespenstererscheinungen Tricks des Teufels seien, der so Glaubenszweifel säen wollte. Die unheimliche Erscheinung wurde nicht als Totengeist, sondern als Höllengeist, als Dämon gedeutet. Diese harte Ablehnung des Gespensterglaubens durch gelehrte protestantische Theologen ließ sich auf der lokalen Ebene allerdings nie durchhalten. Auch protestantische Obrigkeiten akzeptierten die Existenz der wiederkehrenden Toten. Die katholischen Christen Alteuropas hielten Erscheinungen von Engeln und Heiligen selbstverständlich für möglich. Sie mochten kaum selbst damit rechnen, dass ihnen die Gnade zuteil werden
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würde, einen solchen Gesandten Gottes selbst zu sehen. Sie akzeptierten jedoch, dass es solche Erscheinungen in der Geschichte der Kirche schon gegeben hatte und wieder geben konnte. Die protestantischen Christen hatten sich offiziell von der Heiligenverehrung abgewandt. Entsprechend zurückhaltend stand man Legenden, nach denen sich Heilige nach ihrem Tod noch zeigen sollten, aus der Vergangenheit der Kirche gegenüber. Für Gegenwart und Zukunft wurde nicht mehr mit ihnen gerechnet. Engelerscheinungen mochten möglich sein. Die relative Skepsis des gelehrten Protestantismus und die relative Offenheit des gelehrten Katholizismus für Erscheinungen von Engeln und Heiligen dürfen mit zwei Dingen nicht verwechselt werden. Erstens nicht mit der Haltung der Kirchenleitung, wenn eine solche Erscheinungen konkret gemeldet werden: Hier reagierten beide Kirchen meist ablehnend. Bischöfe und gelehrte Theologen sahen ihre Autorität herausgefordert, wenn Laien oder einfache Dorfpfarrer behaupteten, durch eine Erscheinungen einen eigenen und quasi direkten Kontakt zum Heiligen und Göttlichen bekommen zu haben. Zweitens darf die gelehrte Theologie selbstverständlich nicht mit der Haltung der einfachen Gläubigen und der Geistlichen vor Ort verwechselt werden: Diese mochten bereit sein, wunderbare Erscheinungen als Realität zu akzeptieren, auch wenn die Kirchenleitung – und im protestantischen Fall die offizielle Lehre – dem entgegen standen. Gerüchte über die Erscheinungen von Engel und Heiligen in der Frühen Neuzeit waren also zuerst einmal Konfliktstoff, nicht Bestätigung der Autorität der kirchlichen Hierarchien. Dies galt mehr oder weniger auch in der Moderne. Dass die katholische Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts einige wenige Visionen und Erscheinungen der Jungfrau Maria anerkannt hat (La Salette, Lourdes und Fatima dürften die bekanntesten Beispiele sein) widerlegt unsere Feststellung nicht. Diese wenigen anerkannten Erscheinungen stehen Dutzenden gegenüber, die von der Kirchenleitung abgelehnt wurden. Freilich hinderte die Ablehnung der offiziellen Kirche in manchen Fällen die einfachen Gläubigen nicht, dennoch Wundergeschichte zu verbreiten und Orte, an denen sich Heilige gezeigt haben sollten, massenhaft aufzusuchen. Medjugorje in Bosnien-Herzegowina und Marpingen im Saarland wären Beispiele für solche inoffiziellen Wallfahrtsorte, die
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auf nicht kirchlich approbierten Visionsberichten aufbauen. Es sei bereits an dieser Stelle auf einen Umstand hingewiesen, auf den wir später noch zurückkommen müssen: Die Mehrzahl der Marienvisionen des 19. und 20. Jahrhunderts sollen Kinder gehabt haben.20 Zum vormodernen Glauben an Geisterwesen und deren Eingreifen in die materielle Welt des Alltags gehörte auch der Glaube an Dämonen.21 Der Dämonologie wird hier bewusst kein Sonderstatus eingeräumt. Alle Formen des Glaubens an Magie und Geister wurden theologisch und juristisch reflektiert. Dass beim Glauben an Dämonen diese Reflexion tiefer und ausführlicher war, ist kein ausreichendes Argument dafür, ihn kategorial von anderen Formen des Geisterglaubens abzuheben. Dämonologie war die theologische Lehre vom Satan und den gefallenen Engeln. Sie gehörte zum dogmatischen Traktat Schöpfungslehre. Zur Dämonologie äußerten sich nicht nur Theologen aller Konfessionen. Dämonologie und Hexenlehre waren im 15. bis 18. Jahrhundert praktisch nicht voneinander zu trennen. Daher diskutierten in der Zeit der Hexenprozesse gerade auch Juristen die Dämonologie. Die Grundlage der christlichen Dämonologie war die biblische Erzählung vom Engelsturz: Engel, die sich gegen Gott erhoben hatten, wurden in die Hölle gestürzt (Offb. 12, 7–9). Diese bösen Engel wurden die Dämonen. Satan, der Teufel, war ihr Anführer. Die Bibel stellte Satan nicht als den Feind Gottes dar, sondern als einen Gott dienenden Geist. Seine Aufgabe bestand darin, den Glauben der Menschen zu prüfen, indem er sie in emotionale oder soziale Notlagen hineinmanövrierte (vgl. z. B. 2 Chr. 18, 19–22; Hiob 1,6–2,7). Der Teufel war damit in gewisser Weise der Gegner der Menschen, nicht der Gegner Gottes. Dualistische Auffassungen, die den Teufel tatsächlich als den etwa gleichstarken Widersacher Gottes verstanden, waren nie offizielle Lehre der großen Kirchen. Gott benutzte die Dämonen, um den Glauben der Menschen zu prüfen und sie eventuell zu strafen. Obwohl die theologisch-juristische Dämonenlehre der Zeit der Hexenverfolgung diese biblischen Grundaussagen selbstverständlich nie hinterfragt hat, hat sie diese doch sehr eigen20 Blackbourne, Ihr, S. 15–103; Angenendt, Heilige, S. 274–292. 21 Das Folgende nach Dillinger, Hexen, S. 21–24, 43–55.
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willig gedeutet und biblische Texte hochgradig selektiv wahrgenommen. Bei Dämonologen wie z. B. Peter Binsfeld, einem Trierer Weihbischof aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, trat Gott neben einer von Dämonen beherrschten Welt geradezu in den Hintergrund. Die Dämonen als gefallene Engel hatten einen Teil ihrer Macht behalten. Sie waren unsterblich und unverletzbar. Die Dämonen waren aber nicht frei. Sie waren und blieben letztlich immer die Werkzeuge Gottes. Sie mochten Gott und die Schöpfung hassen, blieben aber dennoch Gott völlig unterworfen. Gott benutzte die Höllengeister, um Menschen für ihre Sünden zu strafen. Die Dämonen und indirekt ihre Diener, die Hexen, waren die Instrumente des Zorns Gottes. Er erlaubte den Kontakt mit Dämonen, um den Glauben der Menschen zu prüfen. Zur Freiheit des Menschen musste es auch gehören, sich gegen Gott entscheiden zu können, bis hin zu einem Pakt mit dem Teufel. Dass Gott den Teufel und die anderen gefallenen Engel bei all dem doch vollständig kontrollierte, bedeutete zweierlei. Einmal waren die Dämonen unfassbar mächtig: Als (unfreiwillige) Vollstrecker Gottes verlieh er ihnen Kräfte am Rand der menschlichen Vorstellungskraft. Zum anderen waren die Dämonen völlig machtlos. Für jede ihrer Aktivitäten benötigten sie die Erlaubnis Gottes (permissio Dei). Für bestimmte Dinge erteilte Gott den Dämonen seine Erlaubnis niemals: Sie konnten nicht den freien Willen des Menschen außer Kraft setzen. Die Dämonologen waren sich auch weitgehend darüber einig, dass die Dämonen nicht gegen Naturgesetze verstoßen durften. Wirkliche Wunder blieben Gott vorbehalten. Allerdings konnten die Dämonen, denen größte Kenntnisse der Natur ebenso zugebilligt wurden wie die Fähigkeit, unsichtbar und schnell zu handeln, Wirkungen hervorbringen, die an Wunder grenzten. Ihre schärfste Waffe war ihr unbegrenzter Zugriff auf die menschlichen Sinne: Mit Halluzinationen konnten die Höllengeister die Menschen praktisch unbegrenzt manipulieren. Viel Hexenzauber wurde von den Dämonologen als schlichte Sinnestäuschung erklärt: Hexen und Dämonen konnten bestimmte, der Natur widersprechende Wirkungen nicht wirklich hervorbringen, z. B. eine Tierverwandlung. Sie verwirrten bloß die Sinne ihrer Opfer, so dass diese glaubten, ein teuflisches Mirakel erlebt zu
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haben. Entsprechend sollten die Dämonen auch die Hexen selbst manipulieren, damit diese an ihre eigene magische Macht glaubten. Im Kontakt mit Menschen war es immer das Ziel der Dämonen, diese zur Sünde zu verführen. Das mochte geschehen durch Einflüsterungen, die einen dazu brachten, etwas zu tun, von dem man wusste, dass es falsch und verboten war. Oder aber die Dämonen versuchten, die Menschen in hoffnungslose Angst und Verzweiflung zu stürzen, sie am eigenen Glauben und an der Güte Gottes zweifeln zu lassen. Solche Zweifel und fehlendes Gottvertrauen waren in sich bereits sündhaft. Der Glaube an Dämonen kam aus der Lehre der Kirche. Er blieb dort aber nicht. Oder richtiger, er wurde tatsächlich von der ganzen Kirche adaptiert und weiterentwickelt, also vom einfachen Kirchenvolk ebenso wie von den gelehrten Theologen. Die ältere Forschung hatte den Dämonenglauben als Gelehrtengut sehen wollen, der den Bürgern und Bauern Alteuropas immer fremd geblieben war. Heute ist unzweifelhaft, dass diese Bürger und Bauern nicht nur an Dämonen glauben, sondern theologische Konzepte aufgriffen und umwandelten, und ihre eigene populäre Dämonologie entwickelten. Zu dieser Dämonenlehre des Alltags gehörte die Angst vor der konkreten Begegnung mit einem Dämon. Die Geister der Hölle fuhren nicht nur in Besessene. Sie sollten praktisch jede Gestalt annehmen und sich so den Menschen zeigen können. Viele gläubige Christen akzeptieren heute die Existenz des Teufels und der Dämonen nicht mehr. Manche lehnen diese Vorstellungen sogar aktiv als atavistische Überbleibsel aus einer früheren Entwicklungsphase der Kirche ab. Für andere Gläubige haben die Dämonen jede praktische Relevanz verloren. Der Teufel ist bestenfalls noch die böse Stimme im eigenen Kopf, die einen zu überreden versucht, doch noch das zu tun, was man bereits als falsch erkannt hat. Selbst die, welche heute noch den Dämonenglauben voll akzeptierten, werden wohl kaum vermuten, dass sie einem leibhaftigen Dämon begegnen könnten. Genau hier unterschied sich der vormoderne Dämonenglauben wohl am deutlichsten von seinen Überresten in der Gegenwart. Die Menschen Alteuropas rechneten durchaus mit der Möglichkeit, dem Teufel auf der Landstraße zu begegnen.
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Der stärkste Ausdruck dieses Glaubens an diese quasi soziale Präsenz von Dämonen war die Vorstellung vom Teufelspakt. Dämonen sollten mit Menschen Verträge abschließen: Die Höllengeister halfen einem Menschen im Diesseits, dafür gehörte er bzw. seine Seele den Dämonen im Jenseits, nach seinem Tod. Am besten bekannt ist vermutlich der mit Blut unterzeichnete Teufelspakt von Faust in Goethes Drama. Die Vorstellung vom Teufelspakt war alt. Ihre Grundzüge stellte bereits der Kirchenvater Augustinus (354–430) in einer Polemik gegen heidnische Kulte, die er als Teufelsdienst verurteilte, dar. Die Hexenlehre des Spätmittelalters baute auf diesen Grundlagen auf. Zentral wurde dabei der Gedanke, dass diejenigen, die mit Dämonen einen Vertrag abschlossen, hofften, dadurch besondere magische Macht zu erlangen. Bevor das näher dargestellt wird, muss wenigstens ein kleiner Überblick über das weite Feld der Magie gegeben werden. Geister, Menschen und Macht: die Magie In der Gegenwart stellt Magie nur einen vergleichsweise kleinen Bereich der Kultur dar. Alteuropa dagegen war eine magische Welt. Die Magie durchzog alle Lebensbereiche: Geburt und Kindheit, Arbeit, Sexualität, Krankheit und Tod. Man glaubte an Magie und man übte sie aus. Magie war für viele ein unspektakulärer Teil des Alltags. Bevor die unterschiedlichen Formen von Magie näher erläutert werden, soll der schillernde Begriff ›Magie‹ definiert werden.22 Als ›Magie‹ wird jedes System von Vorstellungen und Verhaltensweisen bezeichnet, die darauf abzielen, die sichtbare, im Alltag erlebbare Welt mit einem Bereich außerhalb dieser Welt in Beziehung zu setzen, sofern dieses System von einzelnen oder informellen Kleingruppen getragen wird. Die jeweiligen Vorstellungen und Verhaltensweisen sind weder institutionalisiert noch unterliegen sie allgemeinen fixen Regeln oder Dogmen. Die Magie war vom Geisterglauben kaum zu trennen. In der Definition von Magie wurde festgehalten, dass diese die sichtbare 22 Das Folgende nach Dillinger, Hexen, S. 13–18.
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Alltagswelt mit einem Bereich jenseits dieser Welt in Verbindung setzte: Dieser Bereich konnte als das Reich der Geister aufgefasst werden. Die Einschränkung, dass Magie weder Institutionen noch feste, gesetzesähnliche Regeln oder verbindliche Glaubensinhalte kennt, ist wichtig. Nur so lässt sich nämlich Magie grundsätzlich von Religion trennen. Diese Scheidung von Magie und Religion war für das vormoderne Europa bedeutsam. Dort stützten nicht nur die Kirchen, sondern auch die Staaten die Religion. Die Magie bekämpften sie jedoch in der Regel. Anthropologische Theorieangebote, die einen Unterschied zwischen Magie und Religion nicht anerkennen, sind daher schwerlich geeignet, die Kultur und die soziale Praxis Alteuropas zu erfassen. Die Definition von Magie gibt schon einen Hinweis auf ihre gesellschaftliche Realität: Während Religion in aller Regel öffentlich und von großen organisierten Gruppen ausgeübt wird, ist Magie privatistisch. Sie wird von einzelnen oder allenfalls von kleinen informellen Zirkeln praktiziert. Magier waren zumindest in der Vormoderne an Publikum oder gar daran, aktiv ihnen nacheifernde Anhänger zu gewinnen, nicht interessiert. Das soll nicht heißen, dass in Alteuropa jede Magie völlig geheim und hinter verschlossenen Türen praktiziert wurde. Es soll vielmehr erstens betont werden, dass Magie eher in den privaten Raum gehörte. Diejenigen, die sie ausübten, machten darüber meist kein Aufhebens und wollten kein Aufsehen erregen. Es soll zweitens daran erinnert werden, dass Magie ohne die festen Strukturen auskommen musste, die nur Institutionen hervorbringen können: Verbindliche Normen analog kirchlichen Dogmen oder den methodischen Regeln der Wissenschaft gab es in der Magie nicht. Magie kannte allenfalls Verhaltensregeln für bestimmte Rituale und Vorschriften zur Herstellung von Zaubermitteln, die etwas von Kochrezepten haben konnten. In Randlagen der Magie, die an die Naturwissenschaften angrenzten, wie Alchemie und Astrologie, entwickelten sich komplexe Vorstellungen von Gesetzmäßigkeiten. Diese beruhten jedoch auf Anleihen aus der Theologie und antiker Philosophie bzw. Naturwissenschaft. Dass Alteuropa eine magische Welt war, darf wörtlich verstanden werden: Zeit und Raum selbst hatten magische Elemente. Eine
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der üblichsten magischen Praktiken war die Tagwählerei: Der volkstümliche Magieglaube unterschied gute und weniger gute Zeiten für bestimmte Vorhaben. Z. B. war der St. Mauritiustag ein schlechter Termin für die Aussaat von Weizen, der St. Abdontag aber günstig für das Unkrautjäten. Bestimmte Zeiten, insbesondere ›Zeitgrenzen‹ zwischen zwei Zeiträumen waren magisch aufgeladen. Hier begegnen z. B. Mittag und Mitternacht zwischen den Tagesabschnitten oder die als Zwölf Nächte oder Rauhnächte bekannte Zeit von Weihnachten bis Epiphanie als Zeitraum zwischen zwei Jahren. Diese Zeitspannen galten als Spukzeiten und als günstig für Wahrsagerei.23 Magische Räume waren z. B. Spukorte, die man sich als von vielerlei Geistern heimgesucht dachte. Das mochten einzelne Gebäude sein, aber auch bestimmte Berge, Wälder oder Gewässer. Wegkreuzungen galten als magische Orte. Andere Orte erhielten eine magische Qualität dadurch, dass sich dort angeblich die Hexen versammeln sollten. Durch Goethe wurde der Blocksberg (Brocken) im Harz weltbekannt, obwohl er im 16. und 17. Jahrhundert nur einer von vielen Hexentanzplätzen war. Z. B. galt an der Saar der Hoxberg als Versammlungsort der Hexen. So stark wurde die magische Besetzung dieses Raumes, dass die Bezeichnung »Gesellschaft auf dem Hoxberg« in der Region genügte, um zweifelfrei Hexen zu bezeichnen, und die Anspielung, auf dem Hoxberg gewesen zu sein, als Teilnahme am Hexentanz verstanden werden konnte.24 In der Moderne finden sich im Volksglauben neue Vorstellungen von magischer Zeit und magischem Ort, z. B. die Angst vor Freitag dem 13. oder der Glaube an ›Kraftorte‹. Die Magie begleitete die Menschen Alteuropas von der Wiege bis zur Bahre – und in gewisser Weise noch darüber hinaus. Mit Zauberei versuchte man Wöchnerinnen und Säuglinge vor allem Unglück, auch und gerade vor bösen Geisterwesen, zu schützen. Heiratslustige junge Damen wollten durch bestimmte Rituale in die Zukunft schauen, um möglichst viel über ihren zukünftigen Ehemann zu erfahren. Dazu legten sie in der St. Andreasnacht be23 Dillinger, Tagwählerei. 24 Staatsarchiv Saarbrücken, 92/426.
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stimmte Kräuter unter das Kopfkissen, um vom Zukünftigen zu träumen. Magie schützte die Eheleute bei der Hochzeit und sollte ihre Fruchtbarkeit garantieren. Der männliche wie der weibliche Arbeitsbereich des Alltags war durchsetzt von kleinen Zaubereien. Magie bewahrte angeblich die Erträge des Bauern (wenn man an Heiligabend einen Pfennig in einen Obstbaum schlug, trug der im nächsten Jahr reiche Frucht) und verhalf dem Händler zu guten Geschäften (die Entwicklung der Preise ließ sich daran ablesen, wie die Hauskatze fraß). Magie machte den Soldaten unverwundbar (etwa indem er Jungfrauenblut oder Moos bei sich trug, das von einem Totenschädel gekratzt worden war,) und brachte dem Spieler Glück (wenn er eine Alrauenwurzel einsteckte). Gegen praktisch jedes Risiko und gegen jede Krankheit gedachte man sich mit Zaubermitteln zu schützen. Gerade eine Differenzierung zwischen Magie und Medizin gelingt mit Blick auf die Praxis des dörflichen Alltags der Vormoderne nur schlecht. Selbst noch die Rituale der Beisetzung waren oft magisch besetzt, um dem Verstorbenen – trotz etwaiger Verfehlungen – möglichst eine Fortexistenz als Totengeist zu ersparen.25 Man hat diese Vielzahl magischer Rituale im Dienst des täglichen Lebens Alltags- oder Volksmagie genannt. Erstere Bezeichnung weist darauf hin, dass diese Magie für die Zeitgenossen unspektakulär war, gewohnt und gewöhnlich, eben alltäglich. Man darf sich von der romantisierten Bildwelt der Magie, die seit dem 19. Jahrhundert stark propagiert wird, nicht täuschen lassen. Typische Magie der Vormoderne war es nicht, um Mitternacht auf einem Kreuzweg mit Totenschädel und Räucherwerk bewaffnet aus einem Sammelsurium exotischer Zutaten in einem Kessel einen Zaubertrank zu brauen und dabei Dämonenbeschwörungen auf Latein zu rezitieren. Typische Magie war es z. B. ein Pentagramm, d. h. einen fünfzackigen Stern, auch als Drudenfuß bekannt, auf die Stalltür zu zeichnen, um das Vieh vor bösen Geistern zu schützen. Das brauchte kaum Aufwand und ist von den Zeitgenossen oft nicht weiter beachtet worden. Ebenso wurden im Rahmen medizinischer 25 Thomas, Religion, S. 795–797; Wilson, Magical, S. 3–25; Labouvie, Verbotene, S. 111–112; vgl. auch den enzyklopädischen Überblick Schmidt, Gestriegelte.
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Routine Zauberformeln gesprochen und ganz selbstverständlich Kräuterkuren angewandt, bei denen man Kräuter einsetzte, deren äußere Gestalt mit der Krankheit in Korrespondenz zu stehen schienen, ohne dass über eine pharmazeutische Heilwirkung nachgedacht wurde. Dass die schwarze Katze, die von links den Weg kreuzt, Unglück verheißen soll, ist ein bis heute bekannte unspektakuläres Stück Alltagsmagie. Diese Magie verlangte keine auffälligen oder aufwändigen Rituale. Die Macht der Alltagsmagie zeigte sich gerade eben darin, wie unauffällig und ›normal‹ sie sein konnte. Die Bezeichnung ›Volksmagie‹ setzt hier einen anderen Akzent, meint aber dieselben Magieformen. Alltagsmagie war ›volkstümlich‹ in dem Sinn, dass sie leicht verfügbar war. Auch Nicht-Fachleuten waren ihre Rituale bekannt und oft wurden sie auch von Nicht-Fachleuten ausgeübt. Heute wie in der Vergangenheit erledigt man einfache Reparaturen selbst, für schwierige Aufgaben holt man einen Handwerker. Analoges galt für die Magie. Einfache Formen der Alltagsmagie dürfte fast jeder gekannt und viele angewendet haben. Für aufwändigere magische Praktiken wandte man sich an Fachleute. Es gab in der populären Magie Experten, ausgewiesene Magier, die lokal als solche anerkannt und in der Regel geachtet wurden. Man könnte diese dörflichen Magiefachleute Handwerkermagier nennen. Sie boten ihre Dienste auf einem ›Schwarzen Markt‹ für Magie den Bauern und Bürgern an. Wie Handwerker erwarteten sie eine Entlohnung für ihre Dienste.26 Einige große Sparten der Alltags- bzw. Volksmagie sollen knapp vorgestellt werden. Ein wesentlicher Teil der volksmagischen Praktiken gehörte zum Bereich der Mantik. Unter Mantik versteht man die magische Wissenstechnik. Sie verschaffte dem Magier Wissen, das er ›eigentlich‹ nicht haben konnte: Wissen über verborgene, weit entfernte, in der vergessenen Vergangenheit oder sogar in der Zukunft liegende Dinge. Hier galt der so genannte Angang als wichtig: Daraus, wer oder was einem als erstes auf dem Weg zu einer bestimmten Aufgabe begegnete, schloss man, wie gut die Erfüllung der Aufgabe gelingen würde. Hierher gehört die gerade angeführte 26 Vgl. zur Volksmagie umfassend Wilson, Magical; Davies, Cunning; Ruff, Zauberpraktiken.
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schwarze Katze. Mit einer Unzahl von Orakeln wurden Aussagen über die Zukunft gemacht. Für die von der Landwirtschaft geprägte Ökonomie der Vormoderne waren selbstredend ›Wettervorhersagen‹ von größter Bedeutung. Hier ist sicherlich auch bäuerliches Erfahrungswissen ins magische Denken eingeflossen, häufig beruhen diese Angaben jedoch auf schwer durchschaubaren religiösen Assoziationen. Bekannt ist heute noch der Siebenschläfertag. Aber es hieß auch, dass das Wetter am Vormittag von St. Jakob anzeige, wie die Witterung der ersten Winterhälfte sein würde, das Wetter am Nachmittag von St. Jakob deutete dagegen die zweite Winterhälfte an. Mit Hilfe von Mantik sollte es möglich sein, verlorene Gegenstände wieder aufzufinden, aber auch, Diebe zu entlarven.27 Wie bereits angedeutet, verband die Volksmedizin die Anwendung von Heilmitteln mit Magie. Oft wurde jedoch allein auf die Wirksamkeit von Heilzaubern gesetzt. ›Geheilt‹ wurden so alle Arten von körperlichen Beschwerden, Krankheiten ebenso wie Verletzungen. Heilmagie sollte häufig die Gesundheit des Viehs gewährleisten, von welcher der Erfolg der bäuerlichen Ökonomie stark abhängig war. Nicht immer ganz scharf von Heilungsmagie trennen lassen sich Abwehrzauber: Auf magische Weise wurden ungünstige äußere Einflüsse ferngehalten, natürliche ebenso wie magische. Abwehrzauber hatten oft den Charakter einer pauschalen Sicherung, ohne dass ein spezifischer Störfaktor oder Gegner klar identifiziert worden wäre. Hierher gehört etwa das gerade angesprochene Pentagramm. Bannzauber vertrieben dagegen aktiv Unerwünschtes: So wollte man etwa Feuer bannen, um das Haus vor Bränden zu schützen, oder Ungeziefer und ›Schädlinge‹ magisch loswerden. Aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ist z. B. aus Sachsen-Anhalt ein Bann gegen Maulwürfe erhalten: »Vor die Maulwürfe: Gehe frühe morgens, wenn die Sonne aufgehet, zu deinem Garten oder Wiesen und sprich drei Mal: ›Die Sonne tu ich jetzt erblicken. Drei Adern an deinem Leibe will ich dir, Maulwurf, verrücken: die eine an Deiner Lunge, die andere an Deiner Zunge, die Dritte reibe an deines Leibes Kraft, so wahr mich Gott Vater erschaffen hat. Dass ihr Maulwürfe alle, so ihr 27 Dillinger, Hexen, S. 27–38.
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auf meinem Garten oder Wiese wohnet, von hier sollet weg gebannt und versegnet sein, das zähl ich euch zur Buß im Namen Gottes, des Vaters und Gottes des Sohnes und Gottes des Heiligen Geistes.‹«28 Schutzzaubereien gewannen größte Bedeutung in Lebensphasen, in denen Personen als besonders verletzlich und von Schadenszauber bedroht galten, etwa Eheschließung und Geburt.29 Die Kirchen lehnten Magie offiziell selbstverständlich ab. Sahen die Menschen Alteuropas keinen Widersprach zwischen der Magie und ihrem christlichen Glauben? Oder deutet ihre Anwendung von Magie vielleicht sogar darauf hin, dass sie zwar getauft, tatsächlich und in der täglichen Praxis aber Heiden geblieben waren? Die Mehrheit der Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sah keinen Widerspruch zwischen vielen Formen von Magie und dem christlichen Glauben.30 Das gelebte Christentum des Alltags war nicht die Religion der gelehrten Theologen. Aber es war echt und verinnerlicht. Es war ein allgemein akzeptierter Maßstab für das persönliche Leben wie für die Gesellschaft. Das gelebte Christentum hatte Platz für eine Vielzahl von Ritualen, die Probleme des Alltags ansprachen, auch wenn sie theologisch fragwürdig sein mochten. Es hatte Platz für Texte, die man als Gebete, aber auch als Zauberformeln auffassen konnte. Folgender Spruch war Mitte des 18. Jahrhunderts in Württemberg geläufig. Er sollte dreimal gesprochen den »Brand«, d. h. Entzündungen heilen: »Lorenz lag auf dem Rosch (Rost) er bat seine Mutter um einen Trost, da bot sie ihm ihr schneeweiße Hand, er bat sie um, dass sie löschte seinen Brand, er bat sie noch um das, dass der Brand nicht weiter um sich fresse, in nomine patris et filii et spiritus sancti (Latein= im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes), Amen.«31 Der Spruch kombinierte eine sehr kurz gefasste Heiligenlegende mit der Gebets- und Segensformel »In nomine patris …«. Angespielt wurde auf das Martyrium des Heiligen Laurentius (Lorenz), der auf einem 28 Zitiert nach Spamer, Romanusbüchlein, S. 384. 29 Wilson, Magical, S. 115–147, 165–242. 30 Hierzu und zum ganzen Komplex kirchlich gefärbter Magie vgl. Dillinger, Hexen, S. 34–36; Ruff, Zauberpraktiken, S. 20–25. 31 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 833, vgl. einen sehr ähnlich Zauberspruch in Dillinger, Hexen, S. 35.
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Rost gebraten worden sein sollte. Ganz entgegen der Laurentius Legende bat der Heilige hier seine Mutter um Hilfe, die diese ihm auch zu gewähren schien: Der »Brand« sollte gelöscht werden und nicht weiter um sich greifen. Mit der Doppeldeutigkeit von »Brand« wird hier das Feuer unter Laurentius’ Rost parallel zur Entzündung gesetzt. Die Entzündung soll so verschwinden und sich nicht weiter ausdehnen, wie die Mutter des Heiligen das Feuer unter ihm erstickt und nicht weiter um sich greifen lässt. Solche Analogien gehörten zum Kernbestand magischen Denkens. Der Segen am Ende der Formel sollte seine Wirkung sicherstellen, indem Gottes Hilfe erbeten wurde. War dieser Spruch nun eine kurz gefasste Legende, ein Gebet um Heilung oder ein Heilungszauber? Es war gerade typisch für die Magie des Alltags, dass sie Teile der kirchlichen Praxis übernahm. Elemente der Liturgie und Heiligenlegenden wurden aus dem Kontext genommen und in ganz neue Zusammenhänge, die häufig mit materiellen Anliegen des Magiers zu tun hatten, gesetzt. Die Kirche hatte gelehrt, dass Gott und die Heiligen helfen würden. Für die einfachen Gläubigen lag es nahe, diese Hilfe in sehr konkreter Form für sehr konkrete Ziele anzurufen. Weihwasser z. B. sollte Segen tragen. Dann konnte man es doch sicher auch einer kranken Kuh zu saufen geben, um sie zu heilen? Gerade diese praktische und konkrete Deutung des Christentums zeigt, wie ernst diese Religion genommen wurde und wie verinnerlicht sie war. Es wäre bigott, dieses bodenständige ›wilde Christentum‹ mit den Maßstäben der verbürgerlichten Amtskirche des 19. Jahrhunderts messen zu wollen. Das ›wilde Christentum‹ der Bevölkerungsmehrheit in der Vormoderne wollte die positive Kraft Gottes für sich aktivieren und nutzen: Die Grenze zwischen Gebet und Zauberformel wurde nicht nur unscharf; diese Grenze machte für einen Großteil der Gläubigen gar keinen Sinn. Aber natürlich stand auch in der Vormoderne dem ›wilden Christentum‹ der Mehrheit ein diszipliniertes, theologisch durchdachtes Christentum einer Minderheit gegenüber. Für diese theologisch gebildete Minderheit der Bischöfe, der Universitätstheologen, der gelehrten Mönche und des gebildeten städtischen Klerus war die Grenze zwischen Gebet und Zauberformen, zwischen Magie und Religion von allergrößter Bedeutung. Weniger die Dorfpfarrer,
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eher die gelehrten Theologen an den Universitäten, Domkirchen und Klöstern, zogen genau diese Grenze scharf. Vermischungen wie der gerade zitierte Heilungsspruch galten ihnen als Missbrauch der Liturgie und bösartige Entstellung von Gebetstexten. Die gebildeten Theologen verwarfen weite Teile des gelebten Christentums der einfachen Leute als Aberglauben. Wer heute noch glaubt, dass das ›wilde Christentum‹ der Mehrheit der Menschen Alteuropas tatsächlich ein schlecht maskiertes Heidentum war, tut nichts anderes, als die Polemiken dieser gelehrten Theologen zu wiederholen. Als Randbemerkung sei die Frage gestattet, ob denn heute der tatsächliche Glaube der Christen Europas komplett mit den Vorgaben der jeweiligen konfessionellen Lehrmeinung übereinstimmt. In der Praxis zeigte sich die Kirchenleitung immer wieder kompromissbereit. Vor Ort gut etablierte Kulte z. B. Wallfahrten auch zu fragwürdigen Reliquien oder der Handel mit geweihten Gegenständen, denen Bauern direkte Heilwirkung zusprachen, ließ man häufig zu. Freilich spielten dabei auch ökonomische Erwägungen der Kirchen und Klöster am Ort eine Rolle. Hinzu kam, dass das Kirchenvolk durchaus nicht passiv war: Es verlangte Rituale und Weiheobjekte, die für seinen Alltag eine konkrete Funktion hatten. Hätte ein Dorfpriester sich im Interesse dogmatischer Orthodoxie geweigert, auf die Wünsche seiner Gemeinde nach vielleicht etwas fragwürdigen Ritualen einzugehen, hätte er sehr schnell die sozialen und ökonomischen Folgen gespürt. Es entwickelte sich eine Kultur des Wegsehens, die trotz oft scharfer theologischer Kritik am christlichen Alltagsritual unorthodoxe Praktiken hinnahm. Die Reformation sah kaum mehr Spielraum für solche Zugeständnisse. Kritik an weiten Teilen der Volksfrömmigkeit gehörte zum Kernprogramm der Reformation. Zunächst wurde der Bruch mit dem alten Ritenwesen auch auf dem Dorf häufig begrüßt: Er machte die Kirche einfacher und billiger. Aber auch in protestantischen Gemeinden verschwand das Interesse an besonderen Ritualen, halb magischer, halb religiöser Art, die konkrete Anliegen bedienten, nicht. Im Volksglauben auch protestantischer Räume existierten viele Formen weiter, die sich in nichts von denen der katholischen Nachbarn unterschieden. Vielfach akzeptierten Protestanten sogar, dass die konkrete ›Wirksamkeit‹ der Riten und Gebete
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katholischer Mönche und Priester größer als die der eigenen Geistlichen sei.32 Die Magie der Dämonen: Hexerei Aus der magisch-religiösen Grauzone von geglaubtem und praktiziertem Zauber stach die Hexerei heraus.33 Und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens galt für die Menschen Alteuropas Hexerei als uneingeschränkt schlecht und verwerflich: Sie war nicht nur absolut nicht hinnehmbare Magie, sie war das schrecklichste Verbrechen überhaupt, die böse Tat an sich. Zweitens unterscheidet sich aus heutiger Perspektive betrachtet die Hexerei von der übrigen Magie vor allem schlicht dadurch, dass alle anderen Formen von Magie wirklich ausgeübt wurden, Hexerei aber einfach nicht ausgeübt werden kann. Die Magie war Teil der sozialen Realität Alteuropas, die Hexerei dagegen war immer eine Illusion. Niemand konnte im Vollsinn der Hexerei schuldig sein. Hexerei setzte voraus, dass die Geister der Hölle sich physisch in der materiellen Welt äußerten. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert dürfte der Konsens zumindest der westlichen Welt sein, dass dies unmöglich ist. Hexerei war nicht einfach Magie. Das Hexereidelikt bestand aus fünf Teilen: dem Pakt mit dem Teufel, Geschlechtsverkehr mit Dämonen, dem magischen Flug durch die Luft, der Teilnahmen an geheimen Zusammenkünften der Hexen und schließlich der schädigenden Magie. Der Glaube an Hexen summierte damit Unmöglichkeiten und Irrtümer auf. Er war also offensichtlich immer schon falsch. Im vormodernen Europa gab es etliche Menschen, die auf die eine oder andere Weise versuchten, Magie auszuüben. Geisterbeschwörungen, Zukunftsvorhersagen und eine Unzahl von Zaubereien waren Teil der gesellschaftlichen Realität Alteuropas. Aber Hexen im eigentlichen Sinn des Wortes gab es selbstredend nicht. Im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit begegnet uns also Magie, die tatsächlich ausgeübt wurde, und die imaginäre Magie der Hexen. 32 Labouvie, Verbotene, S. 198–243; Dillinger, Magical, S. 154–159. 33 Zur Hexerei vgl. allgemein Dillinger, Hexen; Behringer, Witches.
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Diese moderne Sicht darf nicht verdecken, dass die Menschen der Vormoderne in ihrer großen Mehrheit an die Realität der Hexen glaubten. Der fundamentale Unterschied zwischen Hexerei und Alltagsmagie bezüglich ihrer Stellung in der sozialen Realität, der für uns selbstverständlich ist, existierte für sie nicht. Zudem war Hexerei für die Zeitgenossen ein fürchterliches Verbrechen. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass niemand für ein Verbrechen, das es nicht wirklich gibt, d. h. das niemand tatsächlich begehen kann, verurteilt werden wird. Leider boten die Schwächen der Justiz der Frühen Neuzeit aber Möglichkeiten, Menschen wegen Hexerei anzuklagen und zu verurteilen. Die Hexenprozesse sind wohl der größte Justizirrtum der Geschichte. Bevor mehr über den Hexenprozess gesagt wird, soll die Hexerei selbst näher betrachtet werden. Der Begriff ›Hexerei‹ bezeichnet, wie schon angerissen, ein Sammeldelikt bestehend aus einem Pakt mit dem Teufel, dem Geschlechtsverkehr mit einem Dämon (Teufelsbuhlschaft), Hexenflug, Teilnahme an den Zusammenkünften der Hexen und Schadenszauber. Das Charakteristikum der Hexerei war der Kontakt zwischen Mensch und Dämon. Der Pakt mit dem Teufel konstituierte per se Apostasie, d. h. Abfall vom christlichen Glauben, und Ketzerei. Durch den Pakt wurde der Teufel bzw. ein Dämon, der mit der Hexe immer wieder zusammenkam, zum Herren der Hexe. Der Dämon zeigte sich meist in menschlicher Gestalt als Mann oder Frau, um mit der Hexe respektive dem Hexer den Geschlechtsverkehr auszuüben. Hexen waren grundsätzlich keine Einzeltäter. Sie bildeten vielmehr eine Gruppe ähnlich einer Sekte oder kriminellen Bande. Als Gruppe konstituierten sich die Hexen bei Treffen. Diese Treffen, die mit einem – seinem Ursprung nach antisemitischen, in der Forschung aber etablierten – Quellenbegriff als ›Hexensabbat‹ bezeichnet werden, wurden meist als Feste mit Tanz und Gelage geschildert. Zu diesen so genannten Sabbaten kamen die Hexen auf magische Weise: Sie flogen auf verzauberten Gegenständen oder auf Dämonen in Tiergestalt durch die Luft. Die Dämonen ermöglichten es den Hexen, Magie auszuüben, bzw. zwangen sie sogar dazu. Diese Magie zielte, wenn auch nicht notwendigerweise, so doch meistens darauf ab, Schaden, Krankheit und Tod zu verursachen. Sie kann daher als Schadenszauber
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oder Maleficium (Latein= Missetat) bezeichnet werden. Die Tierverwandlung (Werwolf) wird dem Schadenszauber zugerechnet, da sie dazu diente, Schaden zu verüben. Der Schadenszauber, den die Zeitgenossen am meisten gefürchtet zu haben scheinen, war der Wetterzauber. Hexen verursachten auf magische Weise Kälte, Regen und Sturm. Auf diese Weise gefährdeten sie den Erfolg der von der Witterung abhängigen Landwirtschaft. In den Agrargesellschaften Alteuropas war der Erfolg der Ernte mehr als ein entscheidender Faktor der Wirtschaft: Für allzu viele bedeuteten Missernten Armut, Hunger oder Tod. Erst auf diesem Hintergrund kann man beginnen, die Angst und den Hass, die Hexereiverdächtigen entgegenschlugen, zu verstehen. Die Hexereivorstellung ist vergleichsweise jung; voll ausgeprägt lässt sie sich erst um 1430 nachweisen. Sie kombinierte älteren Geisterglauben, Wissen um tatsächliche magische Praktiken, Dämonenlehre und Polemiken gegen Ketzer. Zusammen traten diese Elemente erstmals in der Westschweiz auf und zwar während konkreten Verfolgungen der Vauderie, angeblich einer aggressiven Spielart der Häresie der Waldenser. Das Verbrechen der Vauderie sollten aus einem ketzerischen Kult bestehen, dessen Anhänger einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten. Hieran lagerten sich Vorstellungen von Schadenszauber und einem magischen nächtlichen Flug an. Vom Ende der 1420er Jahre an verzeichneten konkrete Gerichtsakt Teufelspakt und Flug. 1438 wurde dann in den Verfahren, die der Inquisitor Ulric de Torrenté in Lausanne durchführte, der Sabbat in Prozessakten greifbar. Die Schreckensnachricht von der Entdeckung dieser neuen Sekte von teuflischen Magiern im Westen der Schweiz erreichte das Konzil von Basel: Von den heimreisenden Konzilsteilnehmern wurde sie in ganz Europa verbreitet. Es war gerade nicht so, dass gebildeten Dämonologen die Hexerei erfunden hätten und Hexenjagden das dämonologische Konzept praktisch umsetzten. Das Gegenteil war der Fall. Die Hexerei war keine papierene Kopfgeburt, keine Fantasterei aus dem dämonologischen Elfenbeinturm, erst recht keine gezielt entwickelte ideologische Lüge, hinter der eine Verschwörung bösartiger Theologen irgendwelche finsteren Absichten verbarg. Die Hexereivorstellung entstand in einem konkreten Verfolgungsgeschehen. Dann erst
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wurde sie von Dämonologen aufgegriffen, beschrieben und doktrinär abgesichert. Selbstverständlich äußerten sich in den schweizerischen Verfolgungen der 1420er und 1430er vielerlei Bruchstücke kirchlicher Lehre. Ihre exakte Verbindung und Anlagerung an Versatzstücke des Magieglaubens erfolgten jedoch erst in der Dynamik der Verfolgungen selbst. Die früheste dämonologische Literatur hatte gleichsam Reportagencharakter: Sie berichtete mit einem Minimum an theologischer Reflexion über Hexenprozesse, die kurze Zeit zuvor stattgefunden hatten. Die Autoren waren selbst unmittelbar am Verfolgungsgeschehen beteiligt oder standen in Kontakt zu Richtern und Inquisitoren. Als Sprachrohr dieser frühen Verfolgungsagenten verbreiteten die Dämonologen die Nachricht über die neue Sekte von Schadenszauberern, die mit Dämonen im Bund standen. Dieses Muster setzte sich fort: Fast alle bedeutenden Werke zur dämonologischen Hexenlehre entstanden im unmittelbaren Kontext einer Verfolgungswelle, d. h. während oder nach einer Verdichtung von Hexenprozessen. Erst die dämonologische Standardstudie ›Hexenhammer‹, verfasst 1486 vom Elsässer Theologen Heinrich Kramer, schaffte es, die sperrigen Magieimaginationen, die sich in den frühesten Hexenprozessen geäußert hatten, halbwegs in einen theologischen und juristischen Rahmen einzupassen. Statt, wie das ältere theologische Autoren getan hatten, weite Teile des volkstümlichen Magieglaubens als Unfug und Unglauben zu verwerfen, wurde er in Gestalt der Ermittlungsergebnisse der ersten Hexenverfolger nun als der Wirklichkeit entsprechend akzeptiert. Im ›Hexenhammer‹ wie in der Dämonologie der späteren Zeit war die Argumentation vorwiegend induktiv, nicht deduktiv. Die Dämonologie kommentierte die Hexenprozesse. Die Dämonologen erfanden die Hexen nicht. Sie fanden sie vielmehr in den Prozessakten und sahen sich vor der Herausforderung, Hexerei irgendwie zu erklären. Um die Magieimaginationen der Prozesse halbwegs mit kirchlicher Lehre in Einklang bringen zu können, musste diese Lehre eigenwillig interpretiert werden. Dass die Logik der Dämonologen bisweilen verquast wirkt und ihre Argumente an den Haaren herbeigezogen scheinen, hängt genau damit zusammen. Fast alle wichtigen Dämonologien strotzten nur so von so genannten Exempelerzählungen, Beispielen für Hexerei, die
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meist Episoden aus den Ermittlungsergebnissen von Hexenprozessen waren. Diese Exempelerzählungen dienten nicht nur einfach zur Illustration theologischer Lehrsätze. An ihnen musste sich vielmehr die Erklärungsmacht theologischer Vorgaben erweisen. Neben Hexenprozessberichten wurden populäre Erzählstoffe mit magischer Motivik, ebenso wie gelehrte Überlieferung aus der Antike und dem Mittelalter als ›empirisches‹ Material anerkannt. Auf dieser Basis wurden dämonologische Aussagen gemacht. Die wesentliche Bedeutung des dämonologischen Schrifttums besteht nicht darin, die Hexerei erfunden zu haben. Sie besteht vielmehr darin, den Hexenglauben verbreitet und – nach dem Verständnis der Zeitgenossen – intellektuell abgesichert zu haben. Kampf gegen Dämonendiener: der Hexenprozess Magie war grundsätzlich verboten und strafbar. Sowohl die kirchliche wie auch die weltliche Gerichtsbarkeit fühlte sich für die Ahndung von Magie zuständig. Obwohl die kirchliche Gerichtsbarkeit in Magieangelegenheiten an Bedeutung verlor, behauptete sie sich in der Neuzeit. Freilich konnten die kirchlichen Gerichte nur geringfügige Strafen, meist Ehrenstrafen, verhängen. Eine Ausnahme scheint hier die Inquisition gewesen zu sein.34 Die Inquisition könnte man als eine Art ›Verfassungsschutz‹ der alten katholischen Kirche bezeichnen: Ihre Aufgabe bestand wesentlich darin konfessionelle Dissidenten zu identifizieren und zu bestrafen. Die Inquisition bekämpfte Ketzer und Apostaten. Unter diese Kategorien konnten getaufte Juden, deren Konversion zweifelhaft erschien, ebenso fallen wie Anhänger radikaler Reformbewegungen oder Magier. Es gehört zu den schwer zu überwindenden historischen Irrtümern, dass ›die Kirche‹ Schuld an den Hexenverfolgungen sei. ›Die Kirche‹ meint dabei meist nur die römisch-katholische Kirche. Diese Kirche sei straff von den Päpsten geführt worden und habe mit ihrer schlimmsten Waffe, der Inquisition, gegen Andersgläubige und vor allem gegen die Hexen gewütet. Tatsächlich waren unter 34 Schwerhoff, Inquisition.
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den frühen Autoren der Hexendoktorin Inquisitoren. Frühe Verfolgungsbefürworter konnten sich auf die Autorität des Papstes berufen. Allerdings darf die Bedeutung von Inquisition und römischem Lehramt am Beginn der Verfolgungen nicht auf die folgenden Hexenjagden ›hochgerechnet‹ werden. Bereits der erste oberflächliche Blick auf die Verteilung der Hexenprozesse über Europa zeigt, dass der Inquisition oder dem Papsttum unmöglich die alleinige Schuld an den Verfolgungen gegeben werden kann. Es gab schwere Hexenverfolgungen auch in nicht-katholischen Gebieten. Die intensivsten Verfolgungen fanden in deutschen Gebieten statt, Jahrzehnte nachdem die Inquisition zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihre Macht nördlich der Alpen verloren hatte. Der Kirchenstaat, der weltliche Herrschaftsraum der Päpste, erlebte nur moderate Verfolgungen. Dass die alte Mär von der fast uneingeschränkt mächtigen und hyperaggressiven Inquisition sich gerade in der deutschen Öffentlichkeit halten kann, ist als Spätfolge der kirchenfeindlichen Propaganda des Kulturkampfes und der NS Diktatur zu sehen.35 Fast alle Hexenprozesse wurden von weltlichen Gerichten, d. h. den Gerichten des Adels und der Städte geführt.36 Die Hexenprozesse traten hier das Erbe einer alten Tradition des Kampfes weltlicher Obrigkeiten gegen Magie an. Die Strafbarkeit von Magie geht nicht auf kirchliche Vorschriften zurück. Bereits die antiken Ordnungen kannten sie. Weltliche Gesetze gegen Magie sind erheblich älter als die Hexenlehre. Die weltlichen mittelalterlichen Rechtsvorschriften kannten und bestraften schädigende Zauberei. Allerdings nahm das weltliche Recht kirchliche Kritik an Magie auf. Die Karolinger begannen die Vorstellung dämonischer Magie in die weltliche Gesetzgebung einzubauen. Dass die christlichen weltlichen Autoritäten des Mittelalters Magie schließlich nicht mehr nur als Schadenszauber, sondern auch als Abfall vom christlichen Glauben verfolgten, entsprach ihrem Interesse an einem Vorgehen gegen Ketzer. Selbstverständlich war für Verfahren gegen Häretiker die kirchliche Gerichtsbarkeit zuständig. Die Kirche kooperierte hier jedoch eng mit den weltlichen Obrigkei35 Dillinger, Hexen, S. 92–96, 121. 36 Zum Hexenprozess allgemein vgl. Dillinger, Hexen, S. 80–88.
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ten, die sie praktisch unterstützten sowie ihre Mittel und Amtsträger für den Prozess und schließlich die Vollstreckung des Urteils zur Verfügung stellten. Dem Selbstverständnis der weltlichen Macht, d. h. des Adels und der Städte, nach, war die Zusammenarbeit mit der Kirche im Kampf gegen Häresie problemlos: Man sah und legitimierte sich selbst als christliche Obrigkeit. Tatsächlich wurde der Erhalt des jeweils eigenen Zuständigkeits- d. h. Machtbereichs für die kirchlichen und weltlichen Machthaber problematisch. Als Kaiser Friedrich II. (1212–1250) weltliche Strafmaßnahmen und kirchliche Sanktionsgewalt im Reich eng verband, stützte er also nicht einfach die Kirche, sondern reklamierte Befugnisse für die weltliche Herrschaft. Mit der Zuständigkeit der Gerichte von Adel und Kommunen für Magie und Ketzerei war die Basis dafür gegeben, dass beide Delikte im dämonologischen Sinn auch im weltlichen Recht verbunden wurden. Die Grundlage für eine Verfolgung von Hexen durch weltliche Behörden war gelegt. Die weltlichen Herrscher sahen also ab dem Hohen Mittelalters den Kampf gegen dämonische Magie grundsätzlich als ihre Aufgabe an. Dennoch musste das weltliche Recht und Gerichtswesen zum Sammeldelikt ›Hexerei‹ neu Stellung beziehen. Dämonologische Lehren lassen grundsätzlich keinen Schluss auf die im jeweiligen Territorium geltenden Gesetze oder die Verfolgungspraxis zu. Die Gesetzgeber waren nicht gezwungen, in ihrer Gesetzgebung zum Magiedelikt die dämonologische Hexenlehre zu rezipieren. Die schon erwähnte Carolina, das Strafgesetzbuch von 1532, ignorierte das Sammeldelikt Hexerei. Die Carolina erwähnte den Kontakt mit Dämonen gar nicht. Die Todesstrafe sah das Gesetz nur für Schadenszauber vor. Wie andere Formen von Magie gestraft werden sollten, wurde dem Ermessen des Richters überlassen, wobei jedoch implizit nahe lag, dafür eine mildere Strafe zu wählen. Die Carolina stellte bei Magieverfahren hohe Ansprüche an die Indizien: »So jemand sich erbietet, andere Menschen Zauberei zu lehren, oder jemand zu bezaubern gedrohet hat und dem Bedrohten dergleichen geschehen, auch sonderlich Gemeinschaft mit Zauberern und Zauberinnen hat, oder mit solchen verdächtigen Dingen, Gebärden, Worten … umgehen, die Zauberei auf sich tragen, und
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die selbige Person, desselben [= wegen Zauberei] berüchtigt, das gibt eine redliche [= zuverlässige] Anzeigung der Zauberei und genügende Ursache zu peinlicher Frage [= Folter].« Hexereigerüchte waren also nur in Kombination mit einem der anderen Indizien aussagekräftig. Es fällt auf, dass die Carolina ausdrücklich auf den Gedanken abhob, dass bestimmte Personen anderen Zauberei beibrachten, sie also in Magie unterrichteten. Dieser Glaube an magische Lehrmeister(innen) sollte für die Kinderhexenprozesse bedeutsam werden. Die Geltung der Carolina war jedoch durch die so genannte salvatorische Klausel eingeschränkt: Die Carolina galt in den Territorien des Reiches nur subsidiär. Es stand jedem Landesfürsten frei, Gesetze zu erlassen, die von der Carolina abwichen. In der Praxis verzichteten viele dieser Staaten auf ein eigenes Strafrecht und übernahmen schlicht die Carolina. Einige nutzen jedoch ihren Spielraum im Strafrecht aus. In den Gesetzen der Fürstenstaaten kam es zu ganz dezidierten Übernahmen des dämonologischen Hexereibegriffs. 1567 erklärte etwa die Regierung des Herzogtums Württemberg den Teufelspakt als solchen, ohne Schadenszauberei, für strafbar, überließ das Strafmaß jedoch der Entscheidung der Richter. Die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 schrieben die Todesstrafe für den Teufelspakt vor. Die juristische Definition des Hexereidelikts und ihre Implikationen dürfen nur als erste Hinweise auf die tatsächliche Praxis der Gerichte verstanden werden. Wenn in einem bestimmten Territorium die offiziell geltenden Gesetze den fünfteiligen Hexereibegriff ignorierten, so konnten die Richter und Strafverfolger doch sehr wohl diesen Hexereibegriff ihrer praktischen Tätigkeit zugrunde legen. Auch wenn das Gesetz den Kontakt mit Dämonen nicht kannte, so konnte doch bei Ermittlungen und Verhören nach diesem Kontakt gefragt werden. Die Dämonologie wuchs über die Strafverfolgungsbehörden und über eine dämonologisch gebildete Bevölkerung häufig in die Verfolgungen hinein, auch wenn der Buchstabe des geltenden Gesetzes dem entgegenstand. Nicht nur nach modernem, sondern auch nach zeitgenössischem Verständnis waren die meisten Hexenprozesse von fragwürdiger Legalität.
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Die zentrale Schwäche des Hexenprozesses war das Indizienrecht. Magie war ihrem Wesen nach eine Durchbrechung der Kausalkette von natürlichen Ursachen und Folgen. Wie konnte man dann Magie beweisen? Wie konnte man konkret beweisen, dass eine bestimmte Sachlage die Folge einer magischen Handlung einer bestimmten Person war? Woher sollten Zeugen für Pakt, Buhlschaft und Flug kommen? Über den Hexensabbat konnten nur Mittäter Auskunft geben. Damit hätte man aber geständigen Schwerkriminellen Glauben schenken müssen. Im Rahmen des ordentlichen Gerichtsverfahrens konnte gegen Hexerei, auch nach dem Verständnis der Frühen Neuzeit, juristisch nur mit größten Schwierigkeiten vorgegangen werden. Einen Ausweg bot die Schaffung eines Sonderverfahrens. Juristische und theologische Autoren der Hexendoktrin verlangten, dass der Hexenprozess vom üblichen Strafprozess abweichen können sollte. Ihm wurde seiner indizienrechtlichen Problematik wegen der Status eines Sonderverfahrens zuerkannt. Tatsächlich galten in der Prozesspraxis meist die üblichen Verfahrensregeln nicht: Die Möglichkeiten der Verteidigung wurden eingeschränkt. Sehr bedeutsam wurde, dass als Zeugen übel beleumundete Personen und sogar geständige Verbrecher gehört werden durften. Genau hier kam dann konkret der Glaube an das Hexentreffen ins Spiel. Wenn sich die Hexen trafen, musste sie sich untereinander kennen. Gestand eine vermeintliche Hexe vor Gericht, lag es nahe, sie nach ihren Komplizen zu fragen. Diese Denunziationen angeblicher Mittäter durch geständige Verbrecher wurden ›Besagungen‹ genannten. In vielen Hexenprozessakten finden sich lange Listen mit den Namen vermeintlicher Komplizen, die geständige Hexen auf dem Sabbat gesehen haben wollten. Die entscheidende Frage war dann, welchen Beweiswert der Gesetzgeber im jeweiligen Territorium oder – falls das Gesetz hierzu schwieg oder missachtet werden konnte – der Richter im konkreten Verfahren solchen Denunziationen beimaß. In aller Regel – obwohl es auch hier Ausnahmen gab – genügte eine einzelne Besagung nicht zur Verhaftung, erst recht nicht zur Folter. Wenn sich Besagungen gegen ein und dieselbe Person häuften, mochte das Gericht das stärker werten. Ende des 16. Jahrhunderts entschloss sich die Herrschaft Triers dazu, Dr. Diederich Flade, einen reichen leitenden Amtsträger des Kurfürsten, we-
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gen Hexerei anzuklagen. Dieser ungewöhnliche Schritt schien unausweichlich geworden, weil gegen Flade Denunziationen von nicht weniger als 28 verurteilten Hexen vorlagen.37 Denunziationen durch Kinder waren im Hexenprozess als Sonderverfahren grundsätzlich zulässig. Die indizienrechtliche Schwäche des Hexereidelikts verwies die Gerichte nachdrücklich auf die Folter als wichtigste Möglichkeit, überhaupt einen Beweis erheben zu können. Die Folter war nach dem Verständnis der Zeitgenossen keine Strafe, sondern ein legitimes Mittel der Beweiserhebung. Die Folter durfte nur angewandt werden, wenn ausreichender Anfangsverdacht bestand. Die Frage, was genau ein solcher ausreichender Anfangsverdacht war, entschied häufig über den gesamten Verlauf des Hexereiverfahrens. Wurden die strengen Maßstäbe der Carolina angewandt? Oder genügte in der Praxis doch eine Denunziation durch einen geständigen Komplizen als Indiz zur Folter? Welchen Stellenwert sollten dabei die Aussagen von Kindern haben? Hier konnte Justizaufsicht sehr bedeutsam für Hexenprozesse werden: Während lokale Gerichte die Tendenz zeigten, Verdächtige möglichst rasch der Tortur zu unterwerfen, waren übergeordnete Instanzen häufig weit weniger bereit, die Folter einzusetzen.38 Die indizienrechtliche Schwäche des Hexenprozesses führte auch dazu, dass Gerichte immer wieder spezifische Hilfsindizien anerkannten. Das wichtigste war das Hexenmal. Der Teufel kennzeichnete seine Anhänger angeblich wie ein Bauer sein Vieh, indem er ihnen ein Zeichen aufdrückte. Dieses Hexenmal sollte eine unempfindliche und blutleere Stelle auf der Haut sein, die von den Henkern gezielt gesucht werden konnte.39 Die Hinrichtung von Hexen erfolgte in der Regel durch das Schwert mit anschließender Verbrennung des Leichnams. Durch die Verbrennung sollte die Hexen endgültig ›aus der Welt geschafft‹ werden. Nichts sollte an sie erinnern; ihre Weiterexistenz als Totengeist sollte verhindert werden. Für Kinderhexen wurde hier häufig eine Ausnahme gemacht. Glücklicherweise entgingen der Hexerei 37 Dillinger, Böse, S. 263. 38 Sauter, Hexenprozess. 39 Dillinger, Hexen, S. 86–87.
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angeklagte Kinder meist der Todesstrafen. Wurden aber doch einmal ein Todesurteil ausgesprochen, sah es eine besondere Hinrichtungsart vor. Verurteilten Kinderhexen wurden in einer Wanne mit heißem Wasser Adern aufgeschnitten. Sie bluteten dann langsam aus. Diese Exekution durch ›sectio venae‹ (Latein= Adernschnitt, Aderlass) entsprach einer antiken Selbstmordpraktik. Sie galt als ›gutes‹ Sterbens durch weitgehend schmerzfreies Hinüberdämmern in den Tod. Skepsis im Glauben: Distanz und Kritik Für dämonologische Hardliner war jede Magie Hexerei und jeder Magier im Bund mit dem Teufel. Jeder, der auch nur versuchte Magie anzuwenden, sollte dadurch ipso facto einen stillschweigenden Pakt mit dem Teufel schließen. Genau so sollten alle Geistererscheinungen dämonischen Ursprungs sein: Die Höllengeister vermochten es sich in der Gestalt Verstorbener, als Haus- oder Naturgeister, ja sogar als Engel zu zeigen, um die Menschen zu verwirren und Glaubenszweifel zu säen. Glücklicherweise teilten weder die große Mehrheit der Bürger und Bauern, noch die Pfarrgeistlichen, noch die meisten Obrigkeiten in der Praxis diese radikale dämonologische Sichtweise. Die vormoderne Kultur kannte nicht nur eine Vielzahl von magischen Vorstellungen und Praktiken, sondern auch konkurrierende Bewertungen dieser Vorstellungen und Praktiken. Magie, die für den einen ein schweres Verbrechen war, mochte für den anderen eine Bagatelle sein. Zwei Beispielen sollen das illustrieren: 1604 kam es zu einem Skandal in Haldenwang im Raum Augsburg. Eine Bande von Niederadeligen und wohlhabenden Bürgern flog auf, die sich bei korrupten Priestern geweihte Hostien beschafft und damit gehandelt hatte. Die Hostien wurden nach Art von Schutzamuletten getragen. Ein Jurist, der hier Hexerei sehen wollte, setzte sich nicht durch. Die zuständige Herrschaft entschied sich, diesen Fall nur als Sakrileg und besonders schweren Form von Aberglauben zu werten. 1748 schrie ein Tübinger Jurist nach der Todesstrafe wegen Gotteslästerung für Schatzsucher, die mit einer – tatsächlich reichlich unorthodoxen – Litanei den Heiligen Christophorus um Hilfe anriefen. Beachtung fand der Justizreformer nicht: In der ge-
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richtlichen Praxis wurde das ›Christophelgebet‹ meist allenfalls als ›Aberglauben‹ mit einer Geldstrafe geahndet.40 Zwar war die Gesellschaft Alteuropas grundsätzlich bereit, Magie für wirksam zu halten und an die Existenz von Geisterwesen zu glauben. Im konkreten Einzelfall konnte es jedoch auch modern erscheinende skeptische Stimmen geben. Nicht jeder glaubte zu jeder Zeit an die Wirksamkeit jeder Form von Magie oder an die Existenz jedes Geistes. Z. B. wurde 1563 in Echternach ein Schwindler entlarvt, der mit primitiven Taschenspielertricks Magie vorgetäuscht hatte: Wütende Frauen und mit faulen Eiern werfende Kinder jagten ihn aus dem Ort. 1772 versetzten Gerüchte um ein Spukhaus das rheinhessische Alzey in helle Aufregung. Ein Pfarrer kommentierte jedoch bloß gereizt, dass die Leute wohl weniger von einem »Hausgespenst« als eher von einem »Hirngespinst« geplagt würden. Auch nicht jedes Hexereigerücht wurde für bare Münze genommen. Ein Georg Hug klagte 1672 Maria Meichin aus Altdorf (heute Weingarten bei Ravensburg) an, eine Werwölfin zu sein und ihm ein Kalb aufgefressen zu haben. Das Gericht schritt sofort ein – gegen Hug als Verleumder. Ein Hexenprozess blieb aus. 1642 interessierte sich das Gericht von Oberkirchen im Hochsauerland kurzfristig für drei Schuljungen. Diese hatten von sich selbst behauptete, sie könnten Wölfe herbeizaubern, indem sie rote Fasern von Erlenblättern in Wasser warfen. Es wurde kein Kinderhexenprozess eröffnet: Die Behauptung der Kinder fand keine Korrespondenz in hergebrachten Hexenstereotypen; außer den Kindern wollte keiner die Wölfe gesehen haben, niemand behauptete, von ihnen geschädigt worden zu sein.41 Letztlich entschied das oft komplexe Meinungsbild in der konkreten Situation vor Ort, wem was geglaubt wurde. Gerade in Kinderhexenprozessen werden uns diese kritischen Stimmen im konkreten Fall immer wieder begegnen. 40 Dillinger, Böse, S. 151–154; Dillinger, Magical, S. 88. 41 Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Alte Kästen, K 2/IV.3; Franz, Antonius, S. 50; Dillinger, Böse, S. 119; Kemper, Anwachsenden, S. 126–127. Es gab sowohl die Vorstellung, dass Kinderhexen Mäuse und ähnliche kleine Tier quasi aus dem Nichts machen können sollten, und dass erwachsene Hexen Wölfe zu kontrollieren vermachten. Die Kombination von beidem war sehr ungewöhnlich, Remy, Daemonolatry, S. 67; Dillinger, Böse, S. 119.
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2.3. Kinder und Magie Freundliche Geister und die Magie der Kinder: Marion Clerk, Great Ashfield 1499 Kindern sollte die Welt der Geister leichter zugänglich sein als Erwachsenen. Als getrennte Sphären erschienen die Alltagswelt und das Reich der Geister in der Kultur Alteuropas generell nicht. Auch Erwachsene rechneten, wie gesagt, damit, Geister sehen zu können. Gleichwohl wurde immer wieder behauptet, dass Kinder mit Geistern in Kontakt kommen konnten, die Erwachsene nicht wahrzunehmen vermochten. Geister schienen quasi eine Vorliebe für Kinder als ›Gesprächspartner‹ zu haben. Wenn Kinder über Geister sprachen, stellte sich innerhalb und außerhalb des direkten Kontextes von Hexenprozessen für Erwachsene häufig ein schwieriges Problem: Sie fühlten sich verpflichtet zu entscheiden, welche Vertreter des großen und diversifizierten Reiches der Geister, das zum Vorstellungshorizont Alteuropas gehörte, dem Kind begegnet sein mochten. Um die Diskussion zu Kinderhexenprozessen abzusichern, soll zunächst untersucht werden, wie Erwachsene vor und nach der Zeit der Hexenverfolgung mit den Geisterfantasien von Kindern umgingen. Ohne dem Kontext der Verfolgungen hatten sie keine Möglichkeit mit Hilfe der Justiz, sprich mit Hilfe eines Hexenprozesses, die Geschichten der Kinder zu deuten und gegen diese oder gegen andere Erwachsene, die man vom Kind als Hexen bezichtigt glaubte, schwere Strafen zu erwägen. Von den Erwachsenen wurden einfühlsamere, differenziertere Reaktionen verlangt, wenn Kinder ihren Kontakt mit Geistern schilderten. Betrachten wir einige Beispiele. Obwohl sich im deutschen Raum die Hexenverfolgungen Ende des 15. Jahrhunderts bereits deutlich bemerkbar gemacht hatten, waren sie zu dieser Zeit noch nicht in alle Teile Europas vorgedrungen. England war weitestgehend verfolgungsfrei; das dämonologische Hexenbild wurde noch kaum beachtet. Am 17. Juni 1499 hatten sich John und Agnes Clerk aus Great Ashfield in der englischen Grafschaft Suffolk zusammen mit ihrer kleinen Tochter Marion vor dem
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Gericht des Bischofs von Norwich zu verantworten. 42 Dem kirchlichen Gericht war zu Ohren gekommen, dass das Mädchen Marion angeblich verborgene Schätze aufspüren konnte. Ferner sollte es als Heilerin und Wahrsagerin arbeiteten. Das Kind gab alles sofort zu: Marion hatte nicht nur kein Unrechtsbewusstsein, sondern war stolz auf ihre Leistungen. Einen Schatz, erläuterte das Mädchen nonchalant, könne es leicht finden. Einer liege in einem Gebäude in der Stadt Bury St. Edmunds, die Juden würden ihn allerdings bewachen. Marion erklärte selbstbewusst, dass sie ihre Fähigkeiten von Gott, der Jungfrau Maria und den »fairies« (Englisch= Feen), also Naturgeistern, habe. Diese Feen seien kleine Leute, die ihr immer wieder Ratschläge erteilten. Sie glaubten nicht an Jesus und den Heiligen Geist, wohl aber an Gott den Vater, gerade so wie die Juden. Dennoch hatten die Feen, so erläuterte Marion, sie mit dem Heiligen Stefan und dem Erzengel Gabriel in Kontakt gebracht. Das Mädchen wollte sogar schon im Himmel gewesen sein und Gott persönlich in einem goldenen Mantel gesehen haben. Die Hexenforschung hat mehrfach ein Phänomen diskutiert, das als ›europäischer Schamanismus‹ beschrieben wird. Eine Reihe von frühneuzeitlichen Magiern behauptete von sich selbst, ihre Seele zeitweilig aus dem Körper entlassen und an fremde, auch jenseitige Orte schicken zu können. Das bekannteste Beispiel sind die italienischen Benandanti. Vielleicht sollte man Marion Clerk, ihren angeblich intensiven Kontakt mit verschiedenen Geistern einschließlich einer Reise in den Himmel in diesem Kontext sehen. Dann wäre ihr ein seltenes Beispiel für den Glauben an die Seelenausfahrt bei einem Kind.43 Der Richter scheint sich über die Auskunftsfreudigkeit des Mädchens amüsiert zu haben. Als er Marions Mutter fragte, was sie zu dessen Auslassungen meinte, bestätigte Agnes Clerk, dass ihre Tochter die reine Wahrheit gesagt habe. Sie nähmen übrigens zwei shillings von Leuten, die Marions Dienste als Heilerin oder Wahrsagerin beanspruchten. Agnes selbst wollte als Kind auch Kontakt zu den Feen gehabt haben. Einmal hätten die ihr das Gesicht nach 42 Alles Folgende zu diesem Fall nach Dillinger, Schatzsuche, S. 68–71. 43 Ginzburg, Benandanti: Dillinger, Hexen, S. 58–62; vgl. auch Weber, Verführten, S. 23.
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hinten gedreht, so dass ein Heiler ihr habe helfen müssen. Dieser Heiler habe ihr auch schon vorhergesagt, dass ihre Tochter eine Heilige und Wundertäterin werden würde. Marion habe nun von den Naturgeistern einen Stock aus Stechpalmenholz bekommen, den sie hätten am Palmsonntag von einem Priester weihen lassen. Mit diesem Stock, offenbar einer Wünschelrute, erwarteten die Clerks Schätze zu finden. Die Feen hatten ihnen das versprochen. So rechneten sie bereits sicher mit einem Silberkreuz, einem wertvollen Kelch und sehr viel Gold. Das kirchliche Gericht protokollierte treuherzig, Agnes Clerk sei wohl abergläubisch. Als auch der Vater des Wunderkindes arglos alles bestätigte, sah sich das Gericht zum Handeln gezwungen. Das bischöfliche Gericht arbeitete nicht mit der Hexereivorstellung. Es ließ die Clerks mit einer der typischen alten kirchlichen Strafen für ›Aberglauben‹ davonkommen: Bei einigen Prozessen mussten sie mit große Kerzen vorangehen und sich im Büßergewand zeigen. Agnes Clerk hatte selbst behauptet, sie habe nur als Kind Kontakt zu Geistern gehabt. Nun sollte ihre Tochter Marion – etwa im selben Alter wie sie damals – ähnlichen Umgang pflegen. Weder die erwachsene Agnes noch ihr Mann behaupteten von sich aktuell mit Geisterwesen umzugehen: Nur ihre kleine Tochter vermochte angeblich die Feen, die Engel und sogar Gott selbst zu sehen. Nur sie sollte wahrsagen, heilen und verborgene Schätze finden können. Weder fragte das kirchliche Gericht hier nach, noch wurden von den Clerks selbst weitere Erläuterungen gegeben. Den Gedanken, dass gerade Kinder Zugang zu Geistern haben könnten, empfanden die Zeitgenossen offenbar nicht als erklärungsbedürftig. Wie ist das Urteil des bischöflichen Gerichts zu verstehen? Irgendeine pauschale Aussage darüber, ob Geisterwesen existierten und welcher Natur sie waren, unterließ das Gericht. Die Richter des Bischofs befanden lediglich im konkreten Fall der Clerks, dass sie irrigen Vorstellungen aufgesessen waren. Sie waren schuldig, aber nur schuldig insofern, als sie von der Norm des christlichen Glaubens abgewichen waren. Diese Abweichung war vergleichsweise geringfügig: Weder wurden dogmatische Inhalte geleugnet, noch ein Kontakt mit dem Teufel aktiv zugegeben. In den Geistern, mit denen die Clerks Verbindungen haben wollten, sah das Gericht offenbar keine
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Verwandlungsgestalten von Dämonen, sondern schlicht Hirngespinste. Das kirchliche Gericht verurteilte die Clerks, weil es sie für schwach in ihren christlichen Überzeugungen, für leichtgläubig, abergläubisch, sicherlich auch für etwas großmäulig und anmaßend ansah. Aber eine dämonologische Deutung der Geistergeschichte wurde offensichtlich nicht in Betracht gezogen. Die Zauberstücke, die Marion beherrschen sollte, waren durchaus typisch für junge Magier. Deren Affinität zu Schätzen wurde vielfach behauptet (vgl. auch unten). Letztlich ging es dabei um Mantik: Kinder konnten Schätze finden, weil sie hellseherisch begabt waren. Nach dem Volksglauben Alteuropas zeigten sich dort, wo Schätze vergraben waren, vielfältige magische Erscheinungen. Ein Kind, das behauptete Merkwürdiges und Gespenstisches wahrzunehmen, konnte sich unversehens in der Rolle des ›Wegweisers‹ für eine Schatzsuche finden. Kinder sollten besser als Erwachsene in der Lage sein, Verborgenes oder Zukünftiges in glänzenden Flächen – z. B. einer Glasscherbe, nicht notwendig in einer kostspieligen Kristallkugel – sehen zu können. In dieser Rolle als Hellseher erscheinen Kinder immer wieder vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Selbst der berüchtigte Scharlatan ›Graf Cagliostro‹ setze Kinder so ein. Der Gedanke hinter Kindern als Mantiker war vermutlich, dass sie anders als Erwachsene ›unverstellt‹ und offen für alle Eindrücke waren; ihre ›Unschuld‹ erlaubte ihnen mehr wahrzunehmen als es die selektive Perzeption von Erwachsenen zuließ.44 Aber die magischen Möglichkeiten von Kindern gingen weiter: Das Kind als Segensträger und Segensbringer wurde immer wieder als Heiler angesehen. Das mochte man sich als einfachen Transferzauber vorstellen: Kinder konnten quasi ihre überreiche Lebensenergie auf alternde und kränkelnde Erwachsene übertragen. Von Kindern gesammelte Kräuter sollten besonders wirkkräftig sein. Das Holz zu rituellen Feuern, die an bestimmten Jahresfesten zu entzünden waren, sollten Kinder und Jugendliche zusammentragen. Dass Jungfrauen magische Macht haben sollten, kann zwar grundsätzlich von der Zauberkraft der Kinder unterschieden werden. Gleichwohl flos44 Thomas, Religion, S. 43, 165–166, 256, 320, 326: Ruff, Zauberpraktiken, S. 36–37.
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sen für die magische Praxis Alteuropas beiden Gruppen natürlich zusammen.45 Zur generell positiven magischen Besetzung des Kindes kam auch die Annahme, dass der Körper des Kindes als Zaubermittel verwendet werden könnte. In der Hexenimagination nahm diese Vorstellung breiten Raum ein, wie unten zu zeigen sein wird. Es wurde aber auch unzweifelhaft tatsächlich mit Teilen von Kinderleichen gezaubert. Die main de gloire (Französisch= Hand des Glanzes) war ein bekannter Diebeszauber: So lange ein Finger einer abgetrennten Hand brannte, so lange mussten die Einwohner eines Hauses fest schlafen, so dass Einbrecher freie Bahn hatten. Als besonders wirksam galten dabei Hände von Kindern. Kinderhände oder -finger wurden grundsätzlich als mächtige Amulette betrachtet.46 Abschließend sei, um ein Missverständnis abzustellen, das sich auch in der Forschungsliteratur finden, noch auf eine benachbarte Magieimagination verwiesen. Nicht zum magischen Kind gehörig waren die Vorstellungen, dass Personen, die mit der Nachgeburt umwickelt auf die Welt kamen, oder Sonntagskinder, also am Sonntag geborene, besonders gesegnet seien. Hier sollten bestimmte Umstände bei der Geburt lebenslang, nicht nur im Kindesalter, besondere magische Eigenschaften verleihen.47 Geister bedrohen Kinder: Johann Heinrich Kloz, Groß-Umstadt 1805 Die letzte formal legale Hinrichtung einer Hexereiverdächtigen ereignete sich 1782 in der Schweiz. Der Glaube an Magie und Geister blieb. Nach dem Ende der Hexenverfolgungen wurden Geistergeschichten um Kinder immer wieder in den Kontext des Schatzglaubens eingeordnet. 45 Kummer, Jungfrau; Kummer, Kind, Sp. 1333–1336. Leider sind die Texte von Kummer getragen von völkischer Ideologie. Vgl. auch Weber, Kinderhexenprozesse, S. 126–137. 46 Weber, Kinderhexenprozesse, S. 128–136. Ein konkrete Beispiel der main de gloire aus dem Kontext der Hexenverfolgung in Staatsarchiv Ludwigsburg, B 389 Bü 701. 47 Entsprechend falsch Weber, Kinderhexenprozesse, S. 275–279.
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Die Episode um ein Kind und einen Schatz, die Groß-Umstadt 1805 in Atem hielt, hatte eine gewisse Vorgeschichte, die nicht ausgespart werden soll.48 Der Müller Haas aus Richen bei Groß-Umstadt vermutete 1756 einen riesigen Schatz auf seinem Grundstück. Vor kirchlichen wie staatlichen Stellen bat er um Genehmigung, den Schatz heben zu dürfen, nachdem zuvor ein Priester die dazu notwendige Geisterbeschwörung durchgeführt hatte. Haas gab an, sich seiner Sache vor allem deshalb sicher zu sein, weil sein kleiner Sohn Kontakt zu Geistern gehabt habe. Zunächst hieß es, Frau Haas habe einen Haufen glimmende Kohle auf dem Mühlengrundstück gefunden und eine davon mit ins Haus genommen, um den Herd anzuzünden. Im Haus habe sich das Stück Glut jedoch in eine alte Silbermünze verwandelt. Diese Episode verwendete ein Element des magischen Schatzglaubens, nach dem Schätze sich verwandeln konnten, um Schatzsucher zu täuschen. U. a. sollten sie sich als glühende Kohlen zeigen. Haas’ Sohn hatte angeblich zuerst alte spanische Münzen schlicht im Garten ausgegraben. Dann aber sollte das Kind in der Scheune einen weißen Hund gesehen haben, der »in der Gestalt eines großen Mannes sich vor ihm aufgerichtet« hätte. Entsprechend der magischen Tradition wurde diese Geistererscheinungen als Hinweis auf einen Schatz verstanden. Müller Haas hatte daraufhin einen Wünschelrutengänger konsultiert, der ihm bestätigte, dass Unsummen von Bargeld, in der Scheune allein 42.300 Reichstaler und 48 Kreuzer, und Wertgegenstände auf seinem Grundstück verborgen wären, u. a. ein »goldener Herrgott«, eine silberne Teekanne mit sechs Teelöffeln nebst gefüllter Teebüchse. Obwohl Haas diese Schätze auf eine Episode des Dreißigjährigen Krieges zurückführen wollte, erklärte er, dass ein Teil der Reichtümer genau an der Stelle zu finden sei, »wo das Kind umgebracht« worden war. Es muss ungeklärt bleiben, ob Haas damit auf die selten belegte Vorstellung, dass ein vergrabener Schatz durch die Tötung eines Menschen, insbesondere eines Kindes, magisch gesichert werden konnte, anspielte. Aus der Schatzsuche wurde übrigens nichts, weil die Kirche die Geisterbeschwörung ablehnte. 48 Alles Folgende zu diesem Fall nach Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Alte Kästen K 75/Ia.3.
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Der Sohn des Müllers sah Dinge, die die Erwachsenen nicht sahen und wohl nicht sehen konnten. Dennoch blieb seine Rolle in dieser Episode noch unbestimmt. Der Junge war sicherlich nicht aktiv in der Weise, wie Marion Clerk das gewesen war. Als Partner der Geister, der selbst Magie ausüben konnte, erscheint er nicht. Als bedrohtes Opfer des Geistes wirkt er jedoch auch nicht. Das sollte sich in einer weiteren Geisteraffäre aus Groß-Umstadt mit einem Kind im Zentrum radikal anders darstellen.49 1805 erzählte der zehnjährige Johann Heinrich, Sohn des verstorbenen Henkers und Abdeckers Georg Heinrich Kloz, dass ihm abends zwischen 9 und 10 Uhr ein Geist erscheine. Der Geist käme durch eine Spalte in der Tür. Er hatte die Gestalt eines »weißen, hell strahlenden und leuchtenden Mannes mit einer Kappe auf dem Kopf und einem Schlüssel in der Hand.« Mit dem Schlüssel winkte die Erscheinung dem Kind. Johann Heinrich machte der Geist große Angst: Er schrie, zitterte und schwitzte, wenn er ihn sah, und versuchte aus dem Haus zu rennen, so dass das Kind körperlich stark geschwächt wurde. Für Erwachsene blieb der Spuk stets unsichtbar. Außer Johann Heinrich wollte nur sein Bruder Johannes den Geist gesehen haben. Johannes, der später das Amt des Vater übernehmen und bis 1840 Umstadt als Abdecker und Henker dienen sollte, war zu diesem Zeitpunkt allerdings erst dreieinhalb Jahre alt. Die Familie überlegte, ob der Geist das Gespenst des verstorbenen Vaters der Kinder sein könnte. Sie verwarf diese Idee aber rasch und vermutete, dass ein toter Mönch spuke, da das Haus der Familie auf den Ruinen eines Karmeliterklosters stehen sollte. Hier wurde die Deutung unscharf: Obwohl diese Spekulation den Geist als Erscheinung eines Toten identifizierte, verlangte Familie Kloz unterstützt von den Nachbarn einen Exorzismus. Der Exorzismus war ein Ritual zur Austreibung von Dämonen, die sich in Häusern oder im Körper von Menschen eingenistet haben sollten. Wurde die Erscheinung gemäß protestantischer Vorgabe als Dämon gedeutet, der nur die Gestalt eines Toten angenommen hatte? Wäre das der Fall gewe49 Alles Folgende zu diesem Fall nach Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Alte Kästen K 75/Ia.3; http://www.gruberhof-museum.de/index.php?id=diehenker. Ich danke Herrn Peter Füßler, Groß-Umstadt für wichtige Hinweise zur Familie Kloz und der Geschichte der Stadt.
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sen, wäre der nächste Schritt doch fragwürdig gewesen: Die wenigstens teilweise protestantische Familie und Nachbarn des Jungen in der mehrheitlich protestantischen Stadt Groß-Umstadt baten nicht ihre Pfarrer darum, durch schlichtes Gebet den Geist zu vertreiben. Sie wandten sich an die katholische Kirche und verlangten einen rituellen Exorzismus. Die Kirchenleitung des zuständigen Bistums Mainz lehnte jedoch ab. Sie empfahl vielmehr, das Kind von einem Arzt untersuchen zu lassen. Die Familie leistete diesem Rat nicht folge, angeblich, weil sie sich einen Arzt nicht leisten konnte. Hinter der Verweigerung des Exorzismus stand vor allem der katholische Ortsgeistliche: Dieser vermutete, sicherlich zu recht, dass man die Geistererscheinung wieder als Hinweis auf einen Schatz verstünde. Was die Kloz und ihre Nachbarn erwarteten, war kein Exorzismus im eigentlichen Sinn der katholischen Kirche, also keine bedingungslose Vertreibung eines Dämons. Man wollte lediglich eine Geisterbeschwörung, bei der der Geist, gleichgültig ob es nun ein Dämon oder ein Totengeist sein mochte, gezwungen werden sollte, den Ort anzuzeigen, wo der Schatz verborgen war. Dabei ging die protestantische Verwandtschaft des Kindes so weit, dem Priester vorschreiben zu wollen, wie er genau vorzugehen habe und welche Zauberbücher er – statt dem offiziellen Exorzismusgebet – einsetzen sollte. Das aggressive Auftreten der Familie erstaunt. Die Tätigkeit als Henker und Abdecker, der die Kloz nachgingen, galt als ›unehrlich‹. Scharfrichter und Abdecker gehörten zu einer nicht im engeren Sinn sozial oder ökonomisch definierten Unterschicht, sondern zu einer tabuisierten Gruppe. Sie waren durchaus nicht notwendigerweise arm. Sie standen am Rand der Gesellschaft, da sie als »unrein« galten. Man vermied tunlichst Kontakt zu ihnen. Auch wenn der Gedanke der ›Unehrlichkeit‹ bestimmter Berufe sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts sicherlich abgeschwächt hatte, war die Stellung der Kloz in Umstadt dennoch grundsätzlich schwach. Hinzu kam, dass die Familie sich in einem Rechtsstreit mit der Stadt um ein Grundstück befand. Dass sich trotz dieser Schwäche der Familie dennoch die Nachbarn mit ihnen solidarisierten, zeugt davon, welch großen Eindruck die Geistererscheinungen des Kindes (und die Aussicht auf einen Schatz) machten.
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Der Junge Johann Heinrich reagierte auf den Kontakt mit dem Geist mit etwas, das eine Panikattacke hätte gewesen sein können. Es soll hier nicht über den medizinischen Hintergrund des Verhaltens des Kindes spekuliert werden. Über seine offensichtliche Angst hinaus äußerte sich das Kind nicht zum Wesen des Geistes. Über das, was der 10jährige Johann Heinrich Kloz zu sehen glaubte, bzw. darüber, wie das Bild des Geistes in seinen Kopf kam, kann man allenfalls Vermutungen anstellen. Die Beschreibung des Geistes entsprach der Vorstellung von Dämonen überhaupt nicht; für Totengeister war sie atypisch. Der strahlend weiße Mann mit dem Schlüssel weckt eine andere Assoziation: Man fühlt sich an Darstellungen des Heiligen Petrus erinnert. Petrus trägt in der christlichen Ikonografie zwei Schlüssel mit sich. Das Kind mag sie auf einen reduziert haben. Die Kappe, die Johann Heinrich erwähnte, gehört nicht zum Bildkanon von Petrus Darstellungen, wäre jedoch möglich. Oder missdeutete der Junge die Darstellung eines Heiligenscheins? Seit 1792 gab es in Umstadt eine St. Peterskirche. Womöglich hatte das Kind dort ein Bild oder eine Statue des Heiligen gesehen. Es ist denkbar, dass diese Heiligendarstellungen auf den 10jährigen bedrohlich wirkte oder sich zumindest in seiner Fantasie festsetzte, um dann als Geistererscheinung wieder aufzutauchen. Wenn eine Darstellung von Petrus hinter den Imaginationen des Jungen gestanden haben sollte, dann war diese Darstellung von dem Kind nicht in ihren christlichen Kontext eingeordnet worden: Der Geist war äußerst angsteinflößend. Den Charakter einer beglückenden Vision eines Heiligen oder gar einer vom Heiligen vermittelten Offenbarung Gottes gemäß katholischer Tradition hatte die Erscheinung keineswegs. Es muss damit gerechnet werden, dass Bild- und Vorstellungskomplexe durcheinander gerieten. Kinder sind mit Bildsprachen der Erwachsenenkultur noch unzureichend vertraut. Sie haben die erwachsene Disziplin des Sehens und Deutens allenfalls unvollständig erlernt. Insofern können sie leicht bildliche Darstellungen – aus der Perspektive der Erwachsenenkultur betrachtet – massiv missverstehen. Unser Versuch, die Vorstellungswelt des Kindes auf schmaler Quellenbasis und aus großem zeitlichen Abstand zu entwirren, bleibt spekulativ. Die erwachsenen Zeitgenossen Johann Heinrichs
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scheinen sich diese Mühe gar nicht gemacht zu haben. Es fällt auf, dass nur der zehnjährige Johann Heinrich und sein dreieinhalbjähriger Bruder den Geist sehen können sollten, aber die gesamte Deutung des Spuks von Erwachsenen kam. Der Junge fürchtete sich vor der Erscheinung, sagte selbst aber gar nichts über ihre Natur oder ihre Absichten. Dass der Geist einen Schatz bewachen sollte, dass er ein Dämon bzw. dass er ein Totengeist war – all das war nur von Erwachsenen behauptet worden. Die ›Deutungshoheit‹ über die Erscheinung, die nur Kinder hatten wahrnehmen können, beanspruchten Erwachsene. Dennoch gelang keine eindeutige Interpretation der Geistergeschichte mehr, auf die sich alle Erwachsenen hätten verständigen können. Ein Rückgriff auf die Deutung als Hexerei wäre kaum mehr möglich gewesen und wurde auch nicht versucht. So blieb eine ungelöste Kontroverse: Diese Deutungen und ihre Konsequenzen – beantragter Exorzismus und geplante Schatzsuche – lösten einen Konflikt unter den Erwachsenen aus. Familie Kloz und ihre Nachbarn, der Klerus und die Obrigkeiten hatten ihre je eigene Agenda. Der Konflikt um die korrekte Deutung der Geistergeschichte drehte sich nicht mehr nur um die Art des Geistes – Dämon oder Totengeist. Familie und Nachbar akzeptierten die Realität der Erscheinung und brachten sie mit dem Schatzglauben in Verbindung. In den Äußerungen der Kleriker im Fall Kloz trat klar die Möglichkeit zutage, den Aussagen des Kindes schlicht den Realitätsgehalt abzusprechen. Der Junge, so die Meinung der Sprecher des Bistums und die Aussage des Ortspriesters, brauchte dringend einen Arzt. Ihm war nicht wirklich ein Geist begegnet, er hatte bloß Halluzinationen. Diese gleichsam aufgeklärte Skepsis begegnete im frühen 19. Jahrhundert freilich häufig, auch wenn es schwierig sein dürfte zu belegen, dass sie den Normalfall darstellte. Ein Johann Kapp aus Schwegenheim bei Germersheim teilte den Behörden 1823 mit, dass sein Sohn ein Gespenst gesehen habe. Der 10jährige hatte angeblich auf dem Donnersberg einen Totengeist in Gestalt eines alten Manns getroffen. Dieser hätte ihn aufgefordert, in einer Burgruine nach einem Schatz zu suchen. Kapp bat um Genehmigung einer Schatzsuche. Die Behörden wiesen den Vater an, einem ordentlichen Broter-
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werb nachzugehen, und ließen das Kind auf seinen Geisteszustand untersuchen.50 Im 19. Jahrhundert sollte die Deutung von Erzählungen über Geistererscheinungen als Betrug, Lügen oder Halluzinationen stark an Boden gewinnen. Der Fall der Clerks aus dem ausgehenden Mittelalter warnt aber davor, in der Skepsis gegenüber Geistererscheinungen, insbesondere solchen in Schilderungen von Kindern, ein modernes Phänomen zu erblicken. Die Leugnung der Realität der Erscheinung fand sich im 15. wie im 19. Jahrhundert. Sie stand neben anderen Deutungen der Geistergeschichte, die auf Elemente des Volksglaubens zugreifen konnten. Bevor sich die grundlegende Skepsis Geistererscheinungen gegenüber durchsetzte, blieb die Situation offen und die Deutung der Erscheinungen potentiell kontrovers. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert, in der Periode der Hexenverfolgungen, kam eine weitere Deutungsmöglichkeit hinzu: die der Interpretation der Geistererscheinung als dämonisch und des Kontakts mit Geistern als Hexerei, also als Straftat. Auch diese Deutung war nie die einzig mögliche. Sie konnte jedoch zeitweilig die dominante werden. Mit ihrer radikalen Einfachheit und Eindeutigkeit machte sie jede Geistergeschichte verständlich. Mehr noch: Sie implizierte, wie man mit den betroffenen Personen umzugehen hatte, nämlich mit den Mittel behördlicher Ermittlung und strafrechtlicher Verfahren. Insofern war die Deutung von Geistererscheinungen als Hexerei geeignet, Kontroversen über diese Deutung zu vermeiden. Erst der weitgehende gesellschaftliche Konsens, der sich im 19. Jahrhundert etablierte und der Geisterspuk als Betrug oder Einbildung verwarf, konnte die Auseinandersetzung um die richtige Interpretation von Geisterscheinungen wieder in ähnlicher Weise dominieren. Auch ihr Erfolg basiert(e) auf ihrer Radikalität, ihrer Einfachheit und ihrer praktisch unbegrenzten Anwendbarkeit. Der Hexenglaube erschien der dominierenden Weltdeutung der Frühen Neuzeit ebenso ›vernünftig‹ wie die Skepsis der dominierenden ›westlich‹-aufgeklärten Weltdeutung der Moderne ›vernünftig‹ erscheint. Damit soll durchaus nicht gesagt werden, dass wir – unbeschadet des Respekts vor religiösem Glauben – eine neue 50 Landesarchiv Speyer, H 34, 2450.
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kultur- oder naturwissenschaftliche Debatte über die Existenz von Geisterwesen bräuchten. Es soll jedoch gesagt werden, dass der Reiz einer scheinbar vernunftgemäßen Erklärung auch in ihrer Simplizität und Radikalität liegen kann. Das gilt gerade, wenn Erwachsene glauben, sich mit den hochkomplexen Vorstellungen von Kindern auseinandersetzen zu müssen. Für Johann Heinrich Kloz lief seine Berührung mit der Geisterwelt vergleichsweise glimpflich ab. Alteuropa fürchtete aber eine Vielzahl von Geisterwesen, die Kinder nicht nur ängstigen, sondern schlicht umbringen sollten.51 In der Frühen Neuzeit fand sich noch der Glaube an blutsaugende Geisterwesen, die vor allem Kindern nachstellen sollten. Sie kamen nachts magisch an ihre Betten und ließen die Kinder tot oder geschwächt zurück. Seit der Antike, die solche Geister unter dem Namen strix (daher Italienisch strega= Hexe, Rumänisch strigoi= Vampir) kannte, scheint sich diese Vorstellung nur wenig verändert zu haben.52 Vergleichsweise harmlos erschien ein böser Hausgeist, der einer sächsischen Quelle aus dem frühen 18. Jahrhundert zufolge dafür sorgte, dass sich Kinder am Ofen verbrannten. Auf den ersten Blick handelte es sich dabei um einen typischen Kinderschreck, eine Erziehungsfigur. Man könnte annehmen, dass Erwachsene an diesen Geist nicht glaubten, aber Kindern von ihm erzählten, um sie vom gefährlichen Ofen fernzuhalten. Die Quelle hält jedoch fest, dass Erwachsene das Ofenloch mit Speck einrieben – was aufwändig und teuer, also sicherlich kein Scherz war –, um den Geist zu besänftigen. Die Dämonologie des französischen Juristen und Dämonologen Jean Bodin wurde 1591 in deutscher Übersetzung publiziert. Dort hieß es, dass man mit dem Wort ›Trude‹ oder ›Trutte‹ sowohl Hexen als auch Dämonen bezeichnen könne, dass man aber auch »die Kinder mit der Truden … schrecket.«53 Die Übergänge zwischen dem Kinder bedrohenden Geisterwesen, an dessen Existenz und Gefährlichkeit auch Erwachsene glaubten, und dem Geist, von dem man nur sprach, um Kinder zu disziplinieren, scheinen also fließend gewesen zu sein. Die Erziehungsfiguren des 51 Kummer, Kind, Sp. 1328–1330. 52 Dillinger, Hexen, S. 62–63. 53 Schmidt, Gestriegelte, Bd. 2, S. 408–409; Bodin, Außgelasnen, S. 131.
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Kinderschrecks in seinen unterschiedlichen Gestalten – bekannt als Klaubauf, Kindleinfresser, Mummel, Percht, Butzenbercht usw. – scheinen aus Versatzstücken des älteren Geisterglaubens gebildet worden zu sein. Sie hatten aber – wohl deshalb – zumindest das Potential, auch für Erwachsene in den Bereich der geglaubten Realität hinüberzuwechseln. Die Entscheidung fiel dabei in der konkreten Situation bzw. in einer konkreten Notlage.54 Geister entführen Kinder: der Wechselbalg Die angeblich schwerste Bedrohung für Kinder war ihre Entführung durch Geister. 55 Man könnte diesem spezifischen Aspekt des Geisterglaubens mit Bezug auf Kinder und Familien leicht eine eigene sehr umfangreiche Darstellung widmen, hier können nur Grundzüge präsentiert werden. Geister sollten die Kinder von Menschen stehlen und ihre eigenen Nachkommen an deren Stelle setzen. Diese ›ausgewechselten‹ Kinder wurden Wechselbälger oder Kielkröpfe genannt. Sie wirkten kränklich. Sie schrien ständig, waren hässlich und wuchsen nicht wie ›richtige‹ Kinder. Oft zeigten sie einen riesigen Appetit, der ihre Familien durch einen stark erhöhten Bedarf an Lebensmitteln belastete, jedoch ohne dass sich körperliches Wachstum einstellte. Die Bevölkerung dürfte Naturgeister hinter der Auswechselung vermutet zu haben. Um diese zu zwingen, den Wechselbalg zurückzunehmen und das ›echte‹ Kind zurückzubringen, gab es zwei Strategien. Man konnte versuchen, den Wechselbalg dazu zu bringen, dass er sich verriet. Durch sehr ungewöhnliches Verhalten der Erwachsenen sollte er dazu gebracht werden zu sprechen – was er normalerweise nicht tat – oder sein wahres Alter und seine Herkunft zu verraten. Daneben konnte man den Wechselbalg einfach so schlecht behandeln, dass die Geister zurückkamen und den Austausch rückgängig machen, um den Ihren zu retten. Wechselbälger durften geschlagen, ausgehungert oder sogar außerhalb der Siedlung ausgesetzt werden. Es versteht sich, dass die Behandlung des Wechselbalgs in der gelehrten Literatur aus den Geisterwesen 54 Beck, Mäuselmacher, S. 121–131. 55 Das Folgende nach Piaschewski, Wechselbalg.
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Dämonen machte. In der Hexendoktrin wurde bereits Ende des 15. Jahrhunderts die Möglichkeit offen gehalten, dass nicht nur Geister, sondern auch Hexen Kinder austauschten. Heinrich Kramer präsentierte im von ihm verfassten ›Hexenhammer‹ eine dramatische Geschichte, in der es einer Mutter aus Speyer gerade noch durch geweihte Gegenstände gelang, die Entführung ihres Kindes zu verhindern.56 Luther hat sich in diesem dämonologischen Sinn zum Wechselbalg geäußert. Die Dämonen könnten sich in Gestalt von Kindern selbst in die Wiegen legen – hier stimmte der Reformator mit den älteren Dämonologen überein, wenn diese auch eine Komplizenschaft der Hebamme unterstellten. Oder aber die Höllengeister täuschten die Eltern, indem sie in unbelebtes Fleisch fuhren und ihm so den Anschein von Leben gaben. Die Tötung eines solchen Dämonenwesens hielt Luther für angemessen. Einen konkreten Fall wollte er persönlich begutachtet haben. Dennoch beharrte er darauf, ›verdächtige‹ Kinder unbedingt zu taufen, da sich ihre wahre Natur erst mit der Zeit zeige, man die Taufe aber nicht aufschieben solle.57 Es war schon dem Autor des Artikels »Wechselbälge« in Zedlers Universallexikon aus dem Jahr 1747 peinlich, dass Luther bei diesem Problem danebengegriffen hatte. Er vermutete besorgt, Luther könnte zum Zeitpunkt seiner Äußerung überarbeitet gewesen sein, stellte aber dennoch klar, dass sich auch große Theologen nicht zu Dingen äußern sollten, die sie nicht verstehen. Tatsächlich war Luther nur dem dominierenden Urteil des 16. Jahrhunderts gefolgt. Nur vereinzelt wurde gemutmaßt, dass die Wechselbälger tatsächlich kranke Kleinkinder oder behindert geborene Kinder seien. Der Arzt Johann Hartlieb (um 1410–1468) erklärte als einer der ersten die Wechselkinder als Opfer einer Krankheit, die er Bolismus oder Appetitus Caninus (Latein= wörtlich Hundehunger, gemeint ist Heißhunger) nannte. Es sollte sich dabei um eine Stoffwechselstörung handeln, die dazu führte, dass alle Nahrung nahezu unverdaut 56 Kramer, Hexenhammer, S. 353; vgl. Weber, Kinderhexenprozesse, S. 122. 57 Kramer, Hexenhammer, S. 386–387, 594; Piaschewski, Wechselbalg, S. 153– 154; nicht frei von anachronistischen Wertungen Weber, Kinderhexenprozesse, S. 143–152.
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Legendenhafter Überlieferung nach wurden einige Heilige – hier St. Laurentius – kurz nach der Geburt vom Teufel gegen Wechselbälger ausgetauscht. Erst als Herangewachsene kehrten sie zu ihren Eltern zurück und befreiten sie von dem dämonischen Wechselbalg. Kalkmalerei aus der Kirche von Undløse, (Nationalmuseet, Kopenhagen), Mitte 15. Jahrhundert
wieder ausgeschieden wurde. Gleichgültig wie die Kranken mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, zeigten sie stets Symptome der Unterernährung. Diese beschrieb Hartlieb als entstellendes Hervorstehen der Knochen in schwindendem Fleisch und gab damit einen Eindruck von der Erscheinung vermeintlicher Wechselbälger.58 Die auffälligen Eigenarten des Wechselbalgs, sein ungewöhnliches Aussehen, das geringe Wachstum, der scheinbar unersättliche Hunger, die Unfähigkeit das Sprechen zu erlernen wurden zunehmend als Symptome unterschiedlicher Krankheiten oder Geburtsfehler gedeutet. Zedlers Lexikon spekulierte darüber, ob die so genannten 58 Hartlieb, Buch, S. 126–127; Anonym, Artikel Wechselbälge, Sp. 1083–1084.
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Seit dem Hochmittelalter hieß es, auch St. Stefan sei zeitweilig mit einem dämonischen Wechselbalg vertauscht worden. Ähnliches wurde von St. Bartholomäus erzählt. Martino di Bartolomeo: Legende von St. Stefan, (Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt); Anfang 15. Jahrhundert
Wechselkinder Opfer einer Form von Rachitis sein könnten. Jedenfalls stand fest, dass sie nicht getötet werden sollten, da sie »wirkliche Menschen [… seien], die von Natur etwas Ungestaltes, Monströses, und Ungewöhnliches an sich gehabt … [also] Mißgeburten.« Auch wenn die brutale Primitivität der Sprache des Lexikons heute
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abstößt, so ist doch festzuhalten, dass man den auffälligen Kindern ihre Menschlichkeit und ihr Recht auf Leben nicht mehr absprach.59 Selbst im 18. Jahrhundert mag das noch nicht selbstverständlich gewesen sein. In Augsburg wurde in den 1720er Jahren kurzfristig wegen des verdächtigen Todes eine neunjährigen Mädchens ermittelt: Nachdem es vom Stiefvater bereits misshandelt worden war, verstarb es schließlich, weil die Eltern es verhungern ließen. Zuvor hatte das Kind einen unerklärlichen Heißhunger an den Tag gelegt und merkwürdige Symptome (Verlust der Haare, heftiges Bluten aus Mund und Nase) entwickelt. Waren die Misshandlung und Vernachlässigung der Angst geschuldet, dass ein vergleichsweise altes Kind ausgewechselt worden war?60 Wenn man sich der Deutung der Wechselkinder als Kranke oder Behinderte anschließt, muss die bewusst schlechte Behandlung des Wechselbalges, die die magische Sichtweise empfohlen hatte, als Kindsmord verstanden werden. Der Geisterglaube, der gleichzeitig die Menschlichkeit des auffälligen Kleinkindes leugnet und dazu riet, es schwer zu misshandeln, wies letztlich den Weg zu einer Tötung und rechtfertigt sie. Das Ziel, den vermeintlichen Austausch wieder rückgängig zu machen, konnten die Misshandlungen selbstverständlich nie erreichen. Man würde sie also wiederholen und steigern, bis das Kind schließlich starb. Dann war aber nach den Maßgaben des Geisterglaubens kein Mensch umgebracht worden, sondern ein nicht-menschlicher Wechselbalg. Der Infantizid wurde so gesellschaftlich hinnehmbar.61 Der Wechselbalg hat literarische Karriere gemacht. Bei Shakespeare wird in ›Midsummer Night’s Dream‹ (1596) wie auch in ›Winter’s Tale‹ (1611) auf ihn angespielt, er firmiert in E. T. A. Hoffmanns ›Klein Zaches, genannt Zinnober‹ (1819), Yeats’ ›Stolen Child‹ (1889) und Lagerlöffs ›Borbytingen‹ (1915) ebenso wie in H. P. Lovecrafts Horrorstory ›Pickman’s Model‹ (1927).
59 Anoynm, Artikel Wechselbälge, Sp. 1083–1084. 60 Rau, Augsburger, S. 298, 301–302, 309; Roper, Evil, S. 125–126. 61 Dillinger, Hexen, S. 39–40; vgl. Ruff, Zauberpraktiken, S. 151–12.
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Schutzzauber für Kinder Der Schutz der Kinder vor Geistern, bösen Magiern, aber aber auch allen anderen Arten von Unheil durch Abwehrzauber war ein dringendes Anliegen. Fließende Übergänge bestanden dabei zu magischen Praktiken, die Gesundheit und Entwicklung des Kindes allgemein schützen sollten. Es entwickelte sich eine Unzahl magischer Schutz- und Hilfspraktiken, manche vergleichsweise spezifisch und aufwändig, andere unspektakuläre Alltagsmagie. Einige aus dem frühen 18. Jahrhundert aus Sachsen überlieferte Beispiele sollen dies illustrieren. Wenn Mütter beim ersten Kirchgang nach der Geburt keine neuen Schuhe trugen, stürzte ihr Kind schwer, wenn es gehen lernte. Wenn das Zahnen Schwierigkeiten machte, sollten die Kinder auf ein schwarzes Fohlen gesetzt werden. Kindern, die lange nicht sprechen konnten, sollte geholfen sein, wenn man zwei im Backofen aneinander gebackene Brote über ihrem Kopf auseinander brach. Wenn Kinder verzaubert worden waren, so dass sie nicht einschlafen konnten, konnte man den Zauber brechen, indem man Erde über sie streute. Die Erde musste jedoch von der Allmende, also einem Grundstück im Kollektivbesitz der Bauerngemeinde stammen. Die Kinder lernten das Alphabet besonders leicht, wenn sie am ersten Schultag Rettich auf einem Butterbrot bekommen.62 Bodin berichtete, dass man Kinder durch Flammen ziehe oder mit Bärenfett einreibe, um sie vor Unglück zu bewahren.63 Nur halb parodistisch erscheint folgende, 1823 im Egerland verfasste Aufstellung: »Das neugeborne Kind durfte nicht eher in die Wiege … gelegt werden, bis unter dem Bettkissen ein Feuerstahl und Schlafkaunz [= Wucherung] von einer Dornhecke eingesteckt worden, an Kopf und Fuß der Wiege der Drudenfuß angemalt und mit Weihwasser … gesegnet wurde. [Ferner …] haben sie dem Kind verschiedene Amulette, … Wurzeln, Steine, Märzhasenaugen und Wolfszähne angehängt, damit es nur von aller Hexerei befreit und gegen einen Wechselbalg nicht möge vertauscht werden. Wann es 62 Schmidt, Gestriegelte, Bd. 2, S. 213, 245, 306–309, 330–332. 63 Bodin, Außgelasne, S. 181, 187.
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nun Abend geworden … darf es nicht vergessen werden, daß die Kindsmutter den hölzernen Kochlöffel vor die Türe und das Schloß steckt, dann damit ist alles verriegelt, daß kein … [Geist] … und Hexe hinein kann.«64 Für dörfliche Magieexperten bot sich hier ein breites Betätigungsfeld. Ein Handwerkermagier aus dem Sauerland namens Evert Piper hatte sich z. B. Anfang der 1640er Jahre darauf spezialisierte, Kinder vor den Nachstellungen von Naturgeistern zu schützen. Dörfliche Fachleute für die magische Heilung von Kindern waren noch im 20. Jahrhundert aktiv.65 Die beiden Beispielfälle von Marion Clerk und Johann Heinrich Kloz markieren quasi die Extrempunkte des Umgangs von Kindern mit Geistern und der kindlichen Magie. Marion war Magierin und wurde als solche anerkannt. Sie konnte Dinge, die Erwachsene nicht – mit Blick auf ihre Mutter hieß es dezidiert nicht mehr – konnten. Johann Heinrich dagegen erscheint passiv, sogar hilflos. Er war das Opfer eines magischen Wesens, das Erwachsene gar nicht wahrnehmen konnten und von dem sie sich selbst offenbar nicht akut bedrohten fühlten. Die relative Nähe der Kinder zur Welt der Geister war ambivalent. Sie bot diesen Möglichkeiten, scheinbar sogar Macht. Aber sie machte sie auch in hohem Maß verletzbar. Genau diese Zwiespältigkeit sollte auch die Rolle von Kindern in der Hexerei prägen. 2.4. Kinder und Hexen Die Kinder der Hexen In der Hexereivorstellung spielten Kinder verschiedene Rollen. Zunächst soll hier von den Kindern der Hexen die Rede sein. Es gehörte fest zur Hexendoktrin, dass Hexen und Dämonen Geschlechtsverkehr hatten. Konnten die Dämonen mit den Hexen Kinder zeugen? Die Frage erscheint grotesk, wurde jedoch von Dämonologen diskutiert. 64 Zitiert nach John, Beiträge, S. 122. 65 Kemper, Anwachsenden, S. 126. Die Urgroßmutter des Autors hatte eine entsprechende Reputation.
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Ausgangspunkt der Überlegung war die scheinbar gesicherte Beobachtung, dass Hexen von Dämonen geschwängert wurden. Man wollte sogar Dämonenkinder aus der Geschichte kennen. Der berühmte Zauberer Merlin sollte der Sohn einer Fürstin und eines Höllengeistes sein. Der Schwanenritter Lohengrin sollte tatsächlich ein Dämon gewesen sein, seine Kinder entsprechend Teufelssprößlinge. Als biblischer Beleg wurde Gen. 6,4 bemüht. Dort war davon die Rede, dass Frauen Kinder von Geisterwesen, hinter denen man Dämonen vermutete, bekommen hatten.66 Die Naturwissenschaften der Frühen Neuzeit waren sich über den biologischen Ablauf einer Befruchtung noch im Unklaren. Bis in das 18. Jahrhundert gängig war die Vorstellung, dass das neue Lebewesen im weiblichen Ei angelegt sei. Das Sperma wurde als Nahrung oder eine Art Tonikum verstanden, das das Ei benötigte, um sich zum Fötus zu entwickeln. Unter dieser Prämisse arbeitete noch Spallanzani, dem 1777 die ersten künstliche Befruchtungen bei Tieren gelangen. Offensichtlich war jedoch, dass man für Dämonen ähnliche Befruchtungsvorgänge nicht behaupten konnte. Die Dämonen hatten keinen Körper. Um sich überhaupt in der materiellen Welt bemerkbar machen zu können nahmen sie der Hexendoktrin nach einen Scheinleib an, indem sie Luft verdichteten. Mit dieser fragwürdigen Konstruktion sollte der Geschlechtsverkehr zwischen Menschen und Dämonen denkbar werden. Der vom Dämon angenommene Scheinleib hatte aber keine physischen Organe. Daher konnte er wirkliche Lebensfunktionen nicht erfüllen. Dämonen konnten unmöglich zeugen. Die Dämonologen umschifften dieses Problem mit einer ganz selbstreferentiellen Erklärung. Kramers ›Hexenhammer‹ breitete sie weitschweifig aus und prägte damit die ganze folgende Diskussion. Dämonen in Männergestalt (Incubus, Latein= Beischläfer, Nebenbedeutung= Albdruck) hatten Geschlechtsverkehr mit Frauen. Dämonen in Frauengestalt (Succubus, von Succuba, Latein= Beischläferin) hatten Geschlechtsverkehr mit Männern. Dabei empfingen die weiblich erscheinenden Buhlteufel das Sperma der Männer. Es sollte den Dämonen nun möglich sein, in unbeschreiblich großer 66 Lancre, Inconstancy, S. 244–245; Piaschweski, Wechselbalg, S. 151–152.
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Geschwindigkeit diesen Samen an einen Dämon in männlicher Gestalt weiterzugeben bzw. selbst diese Gestalt anzunehmen. In Männergestalt schwängerte der Dämon dann mit dem zuvor aufgenommenen Samen eine Hexe. Die Dämonen zeugten also nicht, sondern übertrugen bloß menschlichen Samen von einem Mann auf eine Frau, freilich ohne dass diese beiden etwas davon bemerkten. So wurden Hexen scheinbar von Dämonen schwanger, obwohl, wie der ›Hexenhammer‹ betonte, tatsächlich der männliche Teufelsbündler der Vater war. Der Sinn dieses aufwändigen Manövers sollte sein, die Hexen über die Macht der Dämonen zu täuschen, sie in der Sünde zu bestätigten und sie noch stärker an den Teufel zu binden. Kramer räumte ein, dass die Dämonen theoretisch auch außerhalb des Kontextes der Teufelsbuhlschaft und sogar ohne sichtbare Leiber anzunehmen Samen übertragen könnten. Diesen Gedanken, der geeignet gewesen wäre, alle Vaterschaften und alle Familien in Frage zu stellen, bog er freilich ab: Die Dämonen täten nichts Überflüssiges und hätten nur Interesse daran, die Hexen weiter im Unheil zu verstricken. Im Wesentlichen sind spätere Dämonologen Kramer gefolgt. Bodin beharrte jedoch – wenig konsequent – darauf, dass die Kinder aus solchen Verbindungen nicht wirklich menschlich sein könnten. Wechselbälger sollten auf diese Weise hervorgebracht werden.67 Daneben entwickelte sich eine elaborierte Lehre von einer dämonischen Scheinschwangerschaft. Die Dämonen sollten den Leib einer Hexe durch Luft aufschwellen lassen können, so dass sie meinte, sie sei von den Höllengeistern geschwängert worden. Durch Sinnestäuschungen spiegelten die Dämonen der Frau dann schließlich sogar vor, dass sie gebar. Untergeschoben wurden ihr dabei Tiere – u. a. war von Ratten und Schlangen die Rede – oder weitere Dämonen in menschenähnlicher Gestalt, ähnlich dem Wechselbalgmotiv. Der Sinn dieser grausamen Irreführung sollte lediglich darin bestehen, die Hexen zu quälen und gleichzeitig Gott und ihrer christlichen Umwelt weiter zu entfremden. Weyer, ein früher Gegner der Hexenprozesse, verwarf die Vorstellung an die Teufels67 Kramer, Hexenhammer, S. 177–199, 405–406; Binsfeld, Tractat, S. 34–35; Bodin, Außgelasnen, S. 131–132; Lancre, Inconstancy, S. 243–245.
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buhlschaft und erklärte die angeblich vom Teufel untergeschobenen Wesen als vom der Gebärmutter ausgeschiedene unbelebte Wucherungen.68 Hexen bedrohen Kinder Seit dem Hochmittelalter entstanden immer wieder Gerüchte um Häretiker, die im Geheimen Dämonen verehrten. Den vermeintlichen Teufelsanbetern wurde stereotyp vorgeworfen, sie würden bei ihren Zusammenkünften den Inzest einschließende sexuelle Orgien feiern, kleine Kinder töten und Kannibalismus betreiben. Bei ihren Versammlungen sollte eine Teufelslitanei gebetet werden und Satan selbst in Menschen- oder Tiergestalt anwesend sein. Die Vorstellung, dass eine teuflische Sekten gerade Kinder angreifen sollten, ist also älter als der Hexenglaube. Sie gehörte zu den in der Überlieferung angelegten Schreckbildern, die in die Hexenvorstellung hineinwuchsen. Die antisemitische Mythe vom Ritualmord an kleinen Kindern mag hier auch hineingespielt haben.69 Das dämonologische Schrifttum war voll von den Missetaten, die Hexen angeblich an Kindern verübten. Der ›Hexenhammer‹ wollte von einer Hexe aus der Gegend von Basel wissen, die nicht weniger als 40 Kinder ermordet haben sollte. Die Hebammen sollten als Hexen besonders gefährlich sein, weil sie Neugeborene sofort umbrachten oder den Dämonen weihten.70 Bodin schmückte in diesem Sinn sogar die Nachrichten über Gilles de Rais, einen als Kindermörder und Zauberer hingerichteten Adeligen aus dem 15. Jahrhundert aus: Der hätte acht Kinder dem Teufel geopfert und habe, als er festgenommen wurde, sogar seinen eigen Sohn töten wollen. Bodin betonte, dass Werwölfe es besonders auf Kinder abgesehen hätten.71 Binsfeld konnte ganz pauschal formulieren: »Es ist aber allen Hexen … gemein [= alle Hexen haben gemeinsam], daß sie die jungen und zarten Kindlein verzau68 Anonym, Artikel Wechselbälge, Sp. 1079–1080; Piaschweski, Wechselbalg, S. 152–153 mit zahlreichen Quellenzitaten. 69 Dillinger, Hexen, S. 63–67. 70 Kramer, Hexenhammer, S. 286–288, 472–480. 71 Bodin, Außgelasnen, S. 116, 128.
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Eine sehr weit verbreitete Vorstellung: Hexen bereiten Kinder als kannibalische Speise zu. Francesco Maria Guazzo: Compendium maleficarum, Mailand 1608
bern.« Die Ursache sah Binsfeld vornehmlich in der körperlichen Schwäche der Kinder, die sie für alle negativen Einflüsse besonders anfällig machte. Orientiert an antiken Naturspekulationen und dem populären Prediger Geiler von Kayersberg meinte Binsfeld, dass sogar ganz ohne Hexerei »das Gemüt einer alten verbitterten Vettel mit giftigem schädlichem Anschauen eines zarten Kindleins Leibs vergiften« konnte. Binsfeld vermutete bei diesen wortwörtlich giftigen Blicken gar keine Magie am Werk, sondern natürliche medizinische Wirkungen auf schwache Kinderkörper.72 Die Hexen sollten Kinder bei kannibalischen Gelagen während des Sabbats fressen. Das Bild der Märchenhexe, die Kinder verzaubert oder frisst – am bekanntesten ist hier wohl die Hexe aus ›Hänsel und Gretel‹ – ist in dieser Beziehung gar nicht so irreführend. Nicht am Fleisch von Erwachsenen sollten die Teufelsbündler inte72 Binsfeld, Tractat, S. 36, vgl. Weber, Kinderhexenprozesse, S. 135.
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ressiert sein, sondern nur an dem von Kindern. Der frühe Dämonologe Nider erklärte bereits 1438 ausführlich auf der Basis konkreter Prozesse, dass die Hexen Kinder fraßen oder Zaubermittel aus ihren Körpern bereiteten. Nider bzw. sein Gewährsmann, der sich auf sehr frühe Prozesse im schweizerischen Simmental bezog, ging noch weiter: Kinderleichen wurde angeblich auch eine Flüssigkeit entzogen, die denjenigen, der sie trank sofort zu einem Meister der Hexen machen sollte. Das Kinderfressen erschien als grauenhafte Parodie der Eucharistie: Die Gruppenzugehörigkeit definierte sich als Mahlgemeinschaft der Eingeweihten. Kramer griff die Idee auf und differenzierte sie: Er wollte eine Hierarchie der Hexen ausmachen, deren schlimmste Gruppe dadurch charakterisiert war, dass sie kleine Kinder fraß.73 Der alte Glauben an blutsaugende Geister wurde in die Hexenvorstellung integriert. Schon ab dem frühen 15. Jahrhundert sollten es nun nicht mehr Geister, sondern die Hexen sein, die nachts zu schlafenden Kindern vordrangen und ihnen das Blut aussaugten. Der Geist, der Schlafende quälte und ihr Blut trank wurde auch im Volksglauben schließlich zu einer spezifische Erscheinungsform der Hexen umgedeutet. Regional konnte diese als ›Trude‹ (Süddeutschland), ›Timpermäuschen‹ (Saarregion) oder ›Waalride‹ (Ostfriesland) bekannt sein. Medizinische Deutungen von Schlafstörungen und Entkräftung, die auch in der Frühen Neuzeit selbstverständlich vorlagen, wurden von magischen offenbar immer wieder mühelos beseitegefegt.74 Die Imagination der Kinder fressenden Hexen war vielleicht auch deshalb so faszinierend, weil hier ein Urbild von Weiblichkeit und Mutterschaft verkehrt wurde: Die Hexe war die Frau, die Kinder nicht ernährte, sondern sich von ihnen ernährte. Aus einem Kernelement von Versorgung wurde ein ebenso grundlegendes Element von Aggression. Aber nicht nur weibliche Hexen sollten Kinder fressen. Bodin erwähnte einen Priester, der vierzig Jahre lang einen Buhlteufel namens Hermione 73 Kramer, Hexenhammer, S. 286–287, 371, 375–376; vgl. Bodin, Außgelasnen, S. 134–135. 74 Beck, Mäuselmacher, S. 121; Weber, Kinderhexenprozesse, S. 121–123; Dillinger, Hexen, S. 62–63. Fischarts deutsche Übersetzung von Bodin nennt diese Wesen ›Hockemärren‹ oder ›Kauchermärren‹ nach dem französischen ›cauchemare‹, Bodin, Außgelasnen, S. 134.
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Eine Gruppe von Hexen übergibt kollektiv dem Teufel ein Kind. Die Opferung von Kindern sollte Teilen der Dämonologie zufolge fest zum Hexentreffen gehören. Francesco Maria Guazzo: Compendium maleficarum, Mailand 1608
gehabt und das Blut vieler Kinder getrunken habe. Ein ehemaliger Bürgermeister von Trier wurde 1591 zu dem Geständnis gezwungen, er habe beim Hexensabbat einen Pfannkuchen mit Käse und dem Herz eines Kindes gegessen.75 Aus Kinderleichen sollten die Hexen Zaubermittel herstellen. Die Hexensalbe sollte u. a. aus Teilen von Kinderleichen gewonnen werden. Die Hexen benutzten sie wie Gift. Oder aber sie trugen die Salbe auf einen Gegenstand (z. B. einen Besen oder eine Mistgabel) auf, der sich dadurch dann als Fluggerät für den Hexenflug zum Sabbat eignete. Diese Vorstellung begegnete bereits in den frühen schweizerischen Prozessen und hielt sich während der ganzen Verfolgungszeit durch. Etliche Varianten entwickelten sich. So sagte die 75 Stadtbibliothek Trier, Hs. 1533/171; Bodin, Außgelasnen, S. 133, vgl. zum Kannibalismus auch Roper, Witch, S. 69–81.
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1611 in Fraulautern (heutiges Saarland) wegen Hexerei angeklagte Barbara, die Frau von Hans Odil, sie habe mit ihren Komplizen ein totes Kind aus seinem Grab auf dem Friedhof von Reisweiler (heute Reisbach) geholt. Den Leichnam hätten sie auf dem Hoxberg, dem Versammlungsort der Hexen, verbrannt und die Asche in die Luft geworfen. Darauf sei ein dichter Nebel aufgezogen.76 Während der schweren Hexenverfolgungen von Ellwangen gehörte es fest zum üblichen Verhör die Hexen zu fragen, ob sie Kinder geschädigt hätten. Dabei war in makaberer Dichte sowohl von Kinderkanibalismus, der magischen Benutzung von Leichenteilen und schlicht von der zauberischen Tötung von Kindern die Rede.77 Angesichts der hohen Kindersterblichkeit hatte die Vorstellung von Kinder mordenden Hexen für die Zeitgenossen eine gewisse Plausibilität. Tatsächlich könnte die Hexereivorstellung geholfen haben, mit dem Tod von Kindern umzugehen. Nider deutete das an: Viele Eltern meinten, ihre Kinder seien »zerdrückt worden«, d. h. sie selbst hätten sie, wenn sie Säuglinge mit ins Bett nahmen, im Schlaf erdrückt. Dies dürfte tatsächlich vorgekommen sein. Aber der Dämonologe hatte eine andere Erklärung: Die Hexen hatten die Kinder heimlich im Bett der Eltern ermordet. Es liegt auf der Hand, dass Eltern das entsetzliche Gefühl der Schuld, aus Unachtsamkeit das eigene Kind getötet zu haben, so genommen wurde: Der Hexenglaube gewann hier ungeheure Attraktivität. Ein Beispiel aus der Verfolgungspraxis deutete in dieselbe Richtung: Der Mönch Wilhelm von Bernkastel berichtete um 1510, dass er im Kloster Eberhardsklausen bei Trier immer wieder von Eltern aufgesucht würde, die sich für den Tod ihres Kindes schuldig fühlten. Sie warfen sich selbst mangelnde Fürsorge vor. Von dem Geistlichen erwarteten sie Trost, die Absolution nach der Beichte, vielleicht ein Gebet oder einen geweihten Gegenstand, um ihre Familie damit in Zukunft zu schützen. Sie bekamen eine dämonologische Belehrung: Hexen hätten das Kind ermordet. Wilhelm schaffte es seinem eigenen Bericht zufolge sogar, die Hinterbliebenen auf konkrete Verdächtige aufmerksam zu machen.78 Während der Wechselbalgglaube Aggres76 Kramer, Hexenhammer, S. 376; Staatsarchiv Saarbrücken, 92/426. 77 Vgl. z. B. Staatsarchiv Ludwigsburg, B 389 Bü 701; B 412 Bü 78; B 412 Bü 85. 78 Nider nach Kramer, Hexenhammer, S. 376; Dillinger, Böse, S. 172–173.
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sion gegen ein krankes Kind gerechtfertigt hatte, provozierte der Hexenglaube nun bei Krankheit oder Tod eines Kindes Aggression gegen Außenstehende als vermeintlich Schuldige. In beiden Fällen versagten Formen des Magieglaubens als Psychohygiene, die destruktive Schuldgefühle abbaute. Beide Formen des Magieglaubens boten dagegen die Möglichkeit, aktiv gegen das scheinbare Unrecht der Krankheit oder des Todes des Kindes vorzugehen. Dadurch gewannen sie zu oft solche Attraktivität, dass sie auch den traditionelle kirchlichen Trost an den Rand drängten, der gelehrt hatte schweres, unverdientes Unglück als unerfindlichen Ratschluss des trotz allem guten Gottes zu akzeptieren. Kröten hüten und Lateinaufgaben vom Teufel: Kinderhexen 1627 glaubte die Frau eines Melchior Walter aus Günzburg sich und ihr neugeborenes Kind durch eine Trude geplagt. Volksmagierinnen erklärten Walter, derjenige, der ihn um eine glühende Kohle bäte, um sein Feuer anzuzünden, sei die Trude, die seine Familie bedrohe. Walter verließ sich auf dieses fragwürdige Orakel. Er verlangte offen einen Hexenprozess gegen die Person, die er so als die Trude, die »seine Frau und Kind ausgesaugt und gedrückt« hatte, entlarvt haben wollte. Die Verdächtige war die Tochter des Schlossers Karl Karg, selbst noch ein kleines Mädchen.79 In die Rolle des zauberischen Blutsaugers, einer typischen magischen Bedrohung für Kinder, war hier also selbst ein Kind geraten. Kinder sollten nicht nur Opfer von Hexen sein, sondern selbst Hexen sein. Auch Kinder und Jugendliche machten sich angeblich der Hexerei im vollen Sinn schuldig. Der Teufelspakt, die Teufelsbuhlschaft, Flug, Teilnahme am Hexensabbat und Schadenszauber wurden auch Kindern unterstellt. Für die Dämonologen stand völlig außer Frage, dass Kinder zum Pakt mit dem Teufel verführt wurden. Der ›Hexenhammer‹, geschrieben 1486 vom Mönch Kramer in Süddeutschland, propagierte bereits die Vorstellung, dass der Teufel Kinder auf seine Seite ziehen wollte und Kinder Hexenzauber verübten. Cotton Mather war 79 Dillinger, Böse, S. 135.
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Die Hexen als Gefahr für Seele und Leib von Kindern: i Eine Hexe übergibt dem Teufel ein lebendes Kind. Kinderleichen liegen bereit, aus denen Zaubermittel gemacht werden sollen. Francisco Goya: Hexensabbat (Museo Lázaro Galdiano, Madrid), 1798
ein in jeder Hinsicht vom ›Hexenhammer‹ weit entfernter Vertreter der Hexenlehre: Er war Rechtsanwalt, konfessionell gehörte er zum Puritanismus, und er schrieb über zweihundert Jahre später in Massachusetts. Gleichwohl war auch er davon überzeugt, dass der Satan insbesondere Kinder zu Hexen machen wollte.80 Als Kinderhexen begegneten im ›Hexenhammer‹ vor allem schlicht die Kinder von Hexen. Unabhängig davon, ob sie scheinbar von Dämonen gezeugt worden waren, sollten diese von ihren Müttern angelernt werden. In ähnlicher Weise sollten auch Handwerkermagier ihre Fertigkeiten weitergeben, wobei allerdings auch die Vorstellung eines vererbbaren ›Talents‹ zur Magie eine Rolle spielte. Der Gedanke lag nahe. Da im Alltag die ersten Unterweisungen in Religion und Arbeitswelt von den Eltern kamen, musste es völlig plausibel erscheinen, dass Teufelsbündler ihre Kinder in die Hexerei einführten.81 Aus dem Glauben an diese ›Erziehung zur Hexerei‹ ergaben sich notwendig die Vorstellung von Hexenfamilien. In der Prozesspraxis begegneten diese immer wieder. Hexereiverdacht richtete sich dann nicht nur gegen Mütter und Töchter. Er reichte oft über drei Generationen. Auch die weitere Familie konnte involviert werden. Die Zünfte Triers weigerten sich Ende des 16. Jahrhunderts, 80 Kramer, Hexenhammer, S. 481–482, 644–645; Mather, Wonders, S. 18–24. 81 Kramer, Hexenhammer, S. 644–645. Behringers Differenzierung, nach der Kramer Kinderhexen noch als passiv beschrieb, Bodin keinen neuen Gedanken entwickelt und erst Binsfeld Kinder aktiv auf Seiten der Hexen gesehen habe, erscheint zu künstlich, Behringer, Kinderhexenprozesse, S. 33–35. Tatsächlich sprach Kramer die Kerngedanken an und präsentierte Schadenszauber durch Kinder, Bodin stellte Kinderhexen als Selbstverständlichkeit dar und Binsfeld band die Kinderproblematik konsequent in die juristische Diskussion ein. Wegen der konkreten Lage in Trier und des (deshalb) besonderen Interesses Binsfelds an indizienrechtlichen Fragen musste er den Kinderhexen freilich vergleichsweise große Aufmerksamkeit widmen, Dillinger, Böse, S. 253–255, 260–263. Vgl. auch Ruff, Zauberpraktiken, S. 162, 172.
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die Nachkommen verurteilter Hexen aufzunehmen: Hier äußerte sich sowohl die gesellschaftliche Verachtung für die Angehörigen vermeintlicher Hexen als auch die Angst vor Hexenfamilien.82 Rémy erklärte rundheraus, dass die Schuld von Hexereiverdächtigen für ihn feststehe, wenn deren Eltern bereits als Hexen hingerichtet worden waren. Am stärksten machte aber wohl der französische Richter und Dämonologe Pierre de Lancre die Idee der Hexenfamilie in seiner 1612 publizierten Studie: Ihm zufolge nötigten Kinder, die von Dritten zum Hexenwerk verführt worden oder von sich aus dazu gekommen waren, schließlich ihre Eltern, sich ihnen anzuschließen.83 Den Dämonologen drängten sich die Kinderhexen aus der Prozesspraxis auf. Bodin erschien die Existenz von Kinderhexen selbstverständlich. Er reflektierte darüber nicht näher, sondern nahm sie als gegeben an, weil sie ihm aus den Prozessen selbst vertraut waren. Entsprechend konnte er elementare Inhalte der Hexenlehre anhand von Kinderhexenprozessen illustrieren. Offenbar sah er die Beweiskraft gerade von Verfahren mit Kindern im Zentrum als besonders hoch an. Sowohl dass Dämonen sich in Menschgestalt zeigen konnten als auch die Realität des Geschlechtsverkehrs zwischen Mensch und Dämon – also absolute Kernannahmen der Dämonologie – ›bewies‹ Bodin mit einem Verfahren um eine Kinderhexe aus der Umgebung von Compiègne. Eine Zwölfjährige sei von ihrer Mutter dem Teufel in Gestalt eines vornehm gekleideten schwarzen Reiters übergeben worden, habe den Pakt mit ihm abgeschlossen und sei dann von ihm beschlafen worden: Daraus wäre unzweifelhaft zu ersehen, dass der Satan tatsächlich die Erscheinung eines Menschen annehmen und den Geschlechtsverkehr vollziehen konnte.84 Neun Jahre nach Bodin ging der Trierer Dämonologe Binsfeld näher auf die Thematik ein. Seine Einführung ins das Thema sprach Bände: Es ist »aus der Erfahrung gewiß, daß etliche Zauberer und Hexen Knaben und Mägdlein [= Mädchen] zu ihrer Versammlung 82 Berüchtigte Hexenfamilien waren z. B. die Meisenbein im Raum Trier, die Dillinger im Raum Saarburg, die Rinckh in Ellwangen oder die Lutz in Rottenburg am Neckar, Mährle, S. 404–409; Dillinger, Böse, S. 198–199, 204– 205; vgl. auch Weber, Kinderhexenprozesse, S. 240–241. 83 Rémy, Daemonolatry, S. 92; Lancre, Inconstancy, S. 474–475. 84 Bodin, Außgelasnen, S. 119, 129.
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führen und zu Vergewissung [= zum Beweis] solcher Sach [be]ziehe ich mich auf die gerichtlichen Proceß und gemeines [= allgemein verbreites] Wissen dieser Stadt Trier, welchem sich zuwidersetzen einer grossen Narrheit und Hartnäckigkeit zuzumessen ist.« Kinderhexen musste es also geben, weil sie in der lokalen Prozesspraxis erschienen waren. Tatsächlich waren in Trier kurz bevor Binsfeld seine Dämonologie verfasste, eine ganze Reihe von Kinderhexenn aufgetreten.85 Aber wie war das alles überhaupt vorstellbar? Auf welche Weise sollten Kinder in Kontakt mit Dämonen kommen? Wieso sollte der Teufel Interesse daran haben, sehr junge Menschen auf seine Seite zu ziehen? Ein anonymer katholischer Autor machte sich 1630 in dem Pamphlet »Newer [= Neuer] Tractat von der verführten Kinder Zauberey« daran, genau diese Fragen zu beantworten.86 Seine Überlegungen waren keineswegs originell, sondern fassten etablierte dämonologische Argumente zusammen. Entsprechend dem Titel der Schrift »von der verführten Kinder Zauberey« waren Kinderhexen wesentlich Opfer von ›Verführung‹, welche die Schlechtigkeit und Nachlässigkeit Erwachsener möglich gemacht hatte. Kinder mochten andere Kinder den Dämonen zuführen. Die Hauptverantwortung lag jedoch stets bei den Eltern. Der Autor differenzierte hier: Hexen brachten ihre eigenen Nachwuchs zu den Dämonen. Sie führten sie quasi in die Hexerei ein wie christliche Eltern ihre Kinder in die Kirche. Eine alternative Erklärung bestand darin, dass schlechte, wenn auch nicht dämonische, Eltern ihre Kinder – häufig unbedacht im Zorn – verfluchten. Die Dämonen mochten aber ein ›Der Teufel soll dich holen‹ durchaus wörtlich nehmen. So wie der elterliche Segen den Kindern besonders starken Schutz verleihen sollte, so konnte ein Fluch der Eltern die Kinder allen dämonischen Einflüssen preisgeben: Die Höllengeister wurden quasi durch den Fluch der Eltern zu dem Kind gerufen. Es war, wie der pietistische Dämonologe Gottlieb Spitzel aus Augsburg 1687 formulierte, als würden die Kinder durch den Fluch der Eltern »dem Teufel auf den Schwanz gebunden«. Schließlich, so räumte der »Tractat von der 85 Binsfeld, Tractat, S. 64; vgl. Dillinger, Böse, 253–255. 86 Das Folgende nach Anonym, Tractat; Spitzel, Gebrochne, S. 125 mit wörtlichem Zitat.
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verführten Kinder Zauberey« ein, mochten die Kinder auch schlicht in einem schlechten Elternhaus aufgewachsen sein: Wer von klein auf unfrommes Leben, Trunksucht und Gewalt gewöhnt war, der kam schon allein dadurch ins Fahrwasser des Teufels. Gott ließ all das, wie alle Hexerei, zu, um den Glauben der Menschen zu prüfen und um sie zu strafen. Konkret, so der »Tractat«, strafte Gott mit den Kinderhexen die Sünden der Eltern. Sünden der Kinder waren auf nachlässige Erziehung durch die Eltern zurückzuführen. Spitzel ergänzte, dass Satan möglichst junge Anhänger wünschte, um sie vor der Heilswirkung der Sakramente von vornherein abzuschirmen. Außerdem zeige der Teufel gern seine Macht dadurch, dass er die einfachen Gemüter der Kinder verwirre, nicht nur die der Erwachsenen, deren (zynische) Lebensklugheit sie längst blind für das wirklich Wichtige und Wesentliche gemacht habe. Dieses auf den ersten Blick verquere Argument demonstrierte den Glauben in die überlegene ›Unschuld‹ und ›Reinheit‹ der Kinder. Wichtiger erschien Spitzel und anderen Dämonologen aber der alte Gedanke des Teufels als ›simius Dei‹ (Latein= Gottes Affe), um die Fixierung des Teufels auf Kinder zu erklären. Jesus hatte die Kinder zu sich gerufen und Gott wollte durch Kinder und ihren Glauben verherrlicht werden. Satan äffte dies auf groteske Weise nach: Er versuchte, Kinder an sich zu ketten, und wollte durch ihre Verführung und ihr Verderben triumphieren. Aus diesen Gründen sei der Teufel so versessen auf Kinder, dass er die Hexen direkt dafür bezahle, wenn sie ihm Kinder brächten. Die wachsende Zahl von Kinderhexen duldete Gott als Sündenstrafe und um so die ebenfalls wachsende Zahl von Atheisten zurück zum Glauben zu bringen.87 Wie sollte ein Kind nun konkret zur Hexe werden? Der im »Tractat« angeführte Gedanke, dass Neugeborenen in Analogie zur Taufe dem Teufel geweiht werden konnten, nahm in der Dämonologie breiten Raum ein. Eltern konnten angeblich schon vor der Geburt ihres Kindes quasi stellvertretend für es einen Pakt mit dem Teufel schließen. Für Binsfeld stand das ebenso fraglos fest, wie auch, dass die Verantwortung für diese Perversion bei der Obrigkeit
87 Spitzel, Gebrochne, S. 203–204, 348, 350.
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lag, die bei weitem noch nicht genug Hexenprozesse führte.88 Dass noch ungeborene Kinder den Dämonen übergeben werden konnten, wurde mit den Bibelstellen Deut. 18 und Ez. 20 abgesichert. Es handelte sich dabei um alttestamentliche Anspielungen auf einen heidnischen Kult, bei dem angeblich Kinder geopfert worden waren. Diese schon im Mutterleib dem Satan versprochenen Kinder sollten ganz besonders mächtige Hexen werden: Bodin unterstellte, Plinius habe von ihnen geredet, als er von Zauberern berichtete, die Gewalt über Schlangen hatten. Nur durch die Weihe ungeborener Kinder konnte sich Bodin die Entstehung von Hexenfamilien erklären. Groteskes Paradebeispiel für einen Menschen, der quasi schon vor seiner Geburt zur Hexen geworden war, war für ihn die spanische Äbtissin Magdalena vom Kreuz. Nachdem ihre Eltern sie schon dem Satan versprochen hatten, hatte seit ihrem zwölften Lebensjahr einen Buhlteufel. Der blieb dreißig Jahre bei ihr. Er täuschte ihre Umgebung mit Halluzinationen, die als Wunder missverstanden wurden und die Hexenäbtissin schließlich sogar in den Ruf der Heiligkeit brachten.89 In diesen Kontext der rituellen Übergabe von neugeborenen Kindern an den Satan gehört der berüchtigte ›Hexenpfarrers von Auw‹. Der Pfarrer von Auw in der Eifel, ein Michael Campensis, stand unter Hexereiverdacht. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, auf Befehl des Teufels Kinder falsch getauft zu haben. Campensis dürfte im Mai 1630 verbrannt worden sein. Der Offizial des Erzbischofs von Köln ordnete an, dass alle Kinder, die Campensis in den vergangenen sieben Jahren getauft hatte, nachgetauft werden müssten. 90 Das Hebammenwesen und der Brauch, Mütter nur in rein weiblicher Gesellschaft gebären zu lassen, führten zu starken Beunruhigungen. Man argwöhnte, dass unter den Frauen, die die werdende Mutter betreuten, eine Hexe sein mochte. Diese konnte das Kind heimlich dem Teufel weihen oder – falls eine Nottaufe notwendig war – diese bewusst falsch durchführen, um dem Kind den Schutz der Kirche vorzuenthalten. Die Angst vor den Hexenhebammen, 88 Binsfeld, Tractat, S. 19. 89 Bodin, Außgelasnen, S. 133–135. 90 Das folgende nach Dillinger, Böse, S. 211.
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Erwachsene führen Kinder in die Verehrung des Teufels beim Hexentanz ein. Gottlieb Spitzel: Die gebrochne Macht der Finsterniß, Augsburg 1687
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die sich in entstellter Form im modernen öffentlichen Bewusstsein festgesetzt hat, stammt aus diesem Kontext.91 Immer wieder hieß es, dass Hexen Kinder – eigene und fremde – einfach auf den Sabbat verschleppten. Mittels magischer Manipulationen nahmen sie die Kinder unbemerkt aus ihren Betten und flogen mit ihnen zum Hexentanz. Dort wurden die verängstigen Kinder dann genötigt, am Hexenfest teilzunehmen. Auch der Pakt konnte auf dem Sabbat von ihnen erpresst werden. Nicht die Vorstellung einer Weihe von Neugeborenen an den Teufel, sonder der Glaube an die Entführung von Kindern zum Hexensabbat war die Basis der meistern Kinderhexenprozesse.92 Lancre erweckte bei seiner detailbesessener Schilderung des Hexensabbats den Eindruck, dass eines seiner wesentlichen Elemente die Übergabe von Kindern an den Teufel war. Die Hexen sollten Kinder – die eigenen oder entführte – dem Teufel als neue Anhänger präsentieren. Dazu sprachen sie eine feste Formel: »Großer Herr, den ich verehre, ich bringe dir einen neuen Diener, der in alle Ewigkeit dein Sklave sein will.« Dann wurde das Kind dem Teufel in die Arme gelegt, der sich ausdrücklich bei der Hexe für diese Gabe bedankte und erklärte, dass sich die Zahl seiner Anhänger auf diese Art vergrößern würde. Das Kind gehörte von dieser Zeit der Hexengruppe an. Lancre erklärte, dass Kinder vom Alter von neun Jahren an auch ganz allein und aus freien Stücken in den Dienst des Teufels traten. Sie sprachen dann ihrerseits eine Formel, die die Abkehr von Gott und die Hinwendung zum Satan enthielt. Dann mussten sie den Teufel küssen. Damit galt der Pakt als besiegelt. Lancre mutmaßte, dass allein im Baskenland »mehr als 2000 Kinder praktisch jede Nacht am Sabbat teilnehmen.« Die jüngsten Hexen, die unter neun Jahre alten Kinder, durften sich noch nicht am eigentlichen Sabbatgelage beteiligen. Ihre spezifische Aufgabe bestand nach Lancre darin, die Kröten zu hüten. Die erwachsenen Hexen hatten Dämonen in Krötengestalt, die während des Sabbats von Kindern betreut wurden. Dieses groteske Motiv verfremdete die typische Tätigkeit von Bauernkindern: Sie hüteten das Vieh. Die 91 Kramer, Hexenhammer, S. 472–482; Anonym, Verführten, S. 21. 92 Vgl. die ausführlichen Narrationen in Spitzel, Gebrochne, S. 168–191, 344– 370.
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Kinder sollten möglichst spät erkennen, dass man im Dienst des Teufels nicht glücklich werden konnte. Daher zwang Satan die erwachsenen Hexen so zu tun, als würden sie das Essen beim Sabbat, das ekelhaft oder ohne jeden Geschmack war, besonders genießen.93 Die Kinder konnten unbemerkt nachts aus den Betten genommen werden, weil die Hexen verzauberte Objekte an ihrer Stelle zurückließen, die die Eltern für ihre Kinder hielten. Spitzel malte den Gedanken aus: Wenn die Kinder für längere Zeit bei den Hexen blieben, waren an ihrer Stelle Holzscheite bei den Eltern, die durch einen durchaus nützlichen Zauber die Gestalt der Kinder annahmen und »alle Arbeiten im Haus verrichten, Teller waschen, in den Wald gehen, essen.«94 Der ›Hexenhammer‹ hatte bereits den Gedanken stark gemacht, dass die Hexen nicht nur sehr junge Kinder dem Teufel weihten oder ältere schlicht entführten. Sie sollten sich auch aktiv durch Überredung bemühen, junge Menschen zu ihrem Verbrechen zu verführen. Die Hexen übernahmen hier eine Rolle zwischen Kupplerin und Lehrmeisterin: Sie führten junge Frauen und Mädchen dämonische Liebhaber zu und unterwiesen sie dann in der Hexerei. Die Hexenlehrerinnen sollten geradezu Ehrgeiz bei der Erziehung ihrer Schützlinge entwickeln: »Wenn solch ein Kind stets angenehm ist, freuet sich die Hex.«95 In konkreten Prozessen wurde die Schuld dieser Lehrmeisterinnen als besonders schwer angesehen. Aber Kinder sollten auch aus eigener Initiative den Teufelspakt schließen. Die Dämonologen hatten argumentiert, dass Hexen vornehmlich weiblichen Geschlechts seien, weil der Teufel die angeblich intellektuell und moralisch schwachen Frauen leichter verführen konnte als Männer. Kinder zu manipulieren war für die Dämonen noch einfacher. Der Teufel, so Lancre, »hat es abgesehen auf Kinder, da sie am leichtesten zu verführen sind. Er beutet ihre Ängste aus.« Kinder, die sich aus freien Stücken dem Teufel anschlossen, taten dies aus Ehrgeiz, um in der Schule Besonderes zu leisten. Lancre wollte aus eigener Erfahrung wissen, dass mit Hilfe des Teufels ein 93 Lancre, Inconstancy, S. 210–211. 94 Spitzel, Gebrochne, S. 184. Es erscheint denkbar, dass Goethe mit dem Besen des ›Zauberlehrlings‹ diese Notiz parodierte. 95 Kramer, Hexenhammer, S. 363–371, wörtliches Zitat Spitzel, Gebrochne, S. 179.
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vierzehnjähriger Schüler Latein so gut wie Vergil gekonnt hätte. Der Hintergrund dieser Geschichte vom dämonischen Streber bleibt unklar, belegt aber, dass durchaus Kinder aus der Oberschicht – nur diese hatten Zugang zu einer Lateinschule – prominent in Verdacht gerieten.96 Grundsätzlich sollten Kinderhexen – wie alle Hexen – aus allen Gesellschaftsschichten kommen. Bodin wollte sogar von einer 14jährigen Nonne aus dem Erzbistum Köln gehört haben, der 1565 Teufelsbuhlschaft nachgewiesen worden war.97 Welche Arten von Magie wurden Kinderhexen vornehmlich unterstellt? Die typische Fertigkeit von Kinderhexen war angeblich, dass sie Tiere, die als schädlich galten, herbeizaubern konnten. Ein elfjähriges Mädchen aus Horb am Neckar erklärte 1658 etwa, sie könne »Flöh, Mücken und Schnacken machen.« Von einer spontanen Genese von Ungeziefer aus zerfallendem organischem Material, wie sie in der damaligen Naturwissenschaft noch diskutiert wurde, war hier eindeutig nicht die Rede, sondern davon Mücken usw. aktiv zu ›erschaffen‹. Andere Kinder standen im Verdacht magisch Hasen (die die Gemüsegärten schädigten), Füchse (die dem Federvieh nachstellten), gelegentlich auch einmal Fledermäuse (von denen man vermutete, dass sie gelagertes Rauchfleisch anfraßen) geschaffen zu haben. In der Regel behaupteten Kinderhexen aber, sie könnten Ratten und Mäuse machen. Das waren keine Kleinigkeiten: Die Nager waren als Schädlinge gefürchtet, die die Getreidespeicher befielen. Eine Mäuseplage konnte bäuerliche Ökonomien durchaus empfindlich beeinträchtigen.98 Kinder denunzieren Hexen Trotz mancher Ausnahmen beruhten Kinderhexenprozesse in der Regel auf der Vorstellung, dass Hexen Kinder zum Kontakt mit Dämonen nötigten oder gegen ihren Willen auf den Sabbat brachten. Die Kinder wurden also in die Hexengesellschaft gezwungen. 96 Lancre, Inconstancy, S. 142, 192–193, 211–212, 309, 399–401. 97 Bodin, Außgelasne, S. 133. 98 Rémy, Daemonolatry, S. 67–68; Generation; Harris, Things; Kemper, Anwachsenden, S. 126–127; Beck, Mäuselmacher, S. 640; Mülleder, Justiz, S. 112–113; Dillinger, Hexenverfolgungen, S. 136.
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Das brachte die Kinder in eine einzigartige Lage. Auf der einen Seite gehörten sie zu den Hexen. Auf der anderen Seite waren sie in der Regel nicht persönlich schuldig: Sie hatten sich ja nicht aus freien Stücken zur Hexerei entschieden. Vielmehr waren sie dazu von Erwachsenen, Personen mit überlegener Autorität und Kraft, häufig sogar den eigenen Eltern, denen sie Gehorsam schuldeten, gezwungen worden. Man kann die Bedeutung dieser Vorstellung kaum überschätzen: Die Kinderhexen waren also Personen, die Zugang zum Hexensabbat hatten, aber selbst keine oder allenfalls sehr geringe Schuld trugen. Da die Kinderhexen zum Sabbat mitgenommen wurden, kannten sie alle Hexen: Sie hatten sie dort gesehen. Aber sie selbst waren nicht wirklich Hexen. Selbst wenn sie einen Pakt mit dem Teufel hatten, Schadenszauber und alle anderen Delikte innerhalb des Hexereiverbrechens begangen hatten, blieb es doch immer schwierig, sie zu verurteilen: Sie hatten ja bei allem unter dem Druck der erwachsenen Hexen, oft eben sogar ihrer Eltern gestanden. Und selbst wenn einmal behauptet wurde, dass sich die Kinder aus freien Stücken dem Teufel angeschlossen hatten: Grundsätzlich waren Kinder juristisch gesehen nur eingeschränkt für ihre Taten verantwortlich. Das frühneuzeitliche Strafrecht kannte, wie oben gesehen, sehr wohl den Gedanken der geminderten Schuldfähigkeit von Minderjährigen. Die Todesstrafe hatten Kinderhexen also in der Regel nicht zu befürchten. Es gab von dieser Regel, wie wir noch zeigen werden, leider Ausnahmen. Gleichwohl konnten sich Kinder, die angaben, beim Hexensabbat gewesen zu sein, relativ sicher sein, dass sie nicht mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden würden. Kindern foltern zu lassen wäre hochgradig fragwürdig gewesen. Aber soweit kam es meist gar nicht. Da Kinder ihre Aussagen fast immer freiwillig zu beginnen schienen und schon auf geringen Druck des Gerichtes fortsetzten, wurde die Folter für sie meist gar nicht erst erwogen.99 Wenn Erwachsene Hexen denunzierten, konnten sie das nur mit dem Wissen von ›Insidern‹: Sie mussten selbst beim Hexentanz gewesen sein. Wer das zugab, bekannte sich natürlich ipso facto selbst schuldig und hatte mit der Todesstrafe zu rechnen. In aller Regel 99 Monter, Enfants.
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machten erwachsene Hexereiverdächtige Angaben über vermeintliche Mittäter nur, nachdem sie selbst zum Geständnis gezwungen worden waren. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits gefoltert worden oder wurden gefoltert. Ihr Todesurteil stand so gut wie fest. Nicht so bei Kinderhexen: Hier war die Aussagesituation in der Regel zuerst eine ganz andere. Ihre ersten Aussagen machten die Kinder zunächst ganz außerhalb des Kontextes des Gerichts: Sie sprachen nicht mit Richtern, als sie zum ersten Mal von Hexenzauber und Sabbat erzählten, sondern mit anderen Kindern, Nachbarn oder Angehörigen. Im großen Gegensatz zu erwachsenen Hexereiverdächtigen schienen Kinder freiwillig über ihre Erlebnisse mit den Hexen zu sprechen. Es hatte den Anschein, als plauderten die Kinder naiv die Geheimnisse der Hexengruppe aus, die jeweiligen Zauberstücke ebenso wie die Identität der Hexen. Ihre Angaben verdankten sich offenbar bloß kindlicher Arglosigkeit. Ihre augenscheinliche Freiwilligkeit trug dazu bei, dass sie für äußerst zuverlässig erachtet wurden. Sehr wahrscheinlich wird hier der volkstümliche Glaube an die mantische Begabung von Kindern im Hintergrund gewirkt haben: Man erwartete quasi gemäß den kulturellen Vorgaben zu Kindermagie, dass sehr junge Menschen geheime und verborgene Dinge wissen konnten, die Erwachsenen meist verschlossen blieben. Im ›Hexenhammer‹ fand sich eine Episode über eine Kinderhexe, die die zentralen Elemente vieler späterer konkreter Verfahren mit Kindern im Zentrum vorwegnahm: Ein schwäbischer Bauer erwähnte seiner achtjährigen Tochter gegenüber, dass er auf Regen hoffe, weil sonst seine Saat vertrocknen würde. Darauf sagte das Mädchen arglos und wie selbstverständlich, es könne gern für den Vater Regen machen, übrigens nach Wunsch auch Hagel und Sturm. Auf die erschrockene Nachfrage des Vaters, wo sie das gelernt habe, erklärte die Tochter, sie habe das von ihrer Mutter gelernt. Diese habe das Mädchen auch an einen mysteriösen Meister, offensichtlich den Satan, übergeben. Der gehe ja, bemerkte das Kind nebenbei, ohnehin bei der Mutter ein und aus. Auf Wunsch des entsetzten Mannes vollführte das Kind dann als Probe den Wetterzauber. Der Vater zeigte seine Frau wegen Hexerei an, die tatsächlich hingerichtet wurde. Das Kind kam nicht vor Gericht, sondern konnte für die
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Kirche zurückgewonnen werden.100 Hier hätten wir die Kinderhexe, die aus Naivität das Geheimnis der Hexerei ausplauderte. Der Vater und das Gericht akzeptierten, dass das Kind zwar von den Hexen wusste und selbst hexte, aber persönlich unschuldig war. Alle Schuld traf vielmehr die Lehrmeisterin, die bis dahin völlig unverdächtige Mutter, die das eigene Kind den Dämonen überantwortet hatte. Die Überzeugungskraft der Aussage der Kinderhexe bestand gerade in dem Missverhältnis von Arglosigkeit und ›Un-Schuld‹ auf der einen Seite, der des Kindes, Verstellung sowie schwerster und bis dahin absolut verborgener Schuld auf der anderen Seite, der der Mutter. Das Kind enthüllte unabsichtlich und völlig naiv ein Verbrechen, von dem man bis dahin nichts geahnt hatte, und entlarvte Personen als schuldig, die es bis dahin geschafft hatten, überhaupt nicht verdächtigt zu werden. Die Bezichtigung sollte glaubwürdig sein, nicht obwohl, sondern weil sie von einem Kind kam. Angesichts der indizienrechtlichen Schwäche der Hexenprozesse waren die Aussagen von Kinderhexen den Befürwortern der Verfolgung höchst willkommen. Die ersten Äußerungen der Kinder fanden noch außerhalb der Gerichte statt. Aber natürlich griffen die Strafverfolgungsbehörden sofort zu, wenn sie von einem Kind erfuhren, das beim Hexensabbat gewesen sein sollte. Sie werteten die ersten Angaben des Kindes aus und stellten dann ihrerseits aktiv Fragen. Hier schienen die Gerichte endlich die Möglichkeit zu haben, auf einen Zeugen der Aktivitäten der Hexen zurückgreifen zu können, der nicht selbst der Hexerei schuldig war. Die Kinder, die ja nur gezwungenermaßen zum Hexentanz gegangen sein sollten, stellten vergleichsweise gering belastete und häufig auch sehr auskunftsfreudige Zeugen dar. Es war, als wäre in die Mauer des Schweigens, die die Hexerei nach der Meinung der Verfolgungsbefürworter umgab, durch die Kinderzeugen endlich eine Bresche geschlagen worden. Konnte es bessere Zeugen für Hexerei geben als Kinder, die nicht wirklich selbst der Hexerei schuldig waren, aber die Hexen kannten und bereitwillig, scheinbar aus völlig freien Stücken über den Hexenzauber sprachen? Binsfelds Jubel über Kinderzeugen mag stellvertretend für die Attitüde vieler Hexenjäger ste100 Kramer, Hexenhammer, S. 481–482.
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hen: »Darum vermeine ich, daß es sich aus göttlicher Vorsehung … zutrage, … wenn die Zauberer die unschuldigen Knaben verführen wöllen, durch ihre [= der Kinder] Einfalt gefangen [werden], auf daß ihre [= der Hexen] Ratschläg als dann zertrennt [= zunichte gemacht] und geoffenbaret werden.«101 Aber durfte man wirklich auf die Aussagen von Kindern zurückgreifen? Waren Kinder zuverlässige Zeugen? Hier griff die Konstruktion des Hexenprozesses als Ausnahmeverfahren: Um dem drohenden monströsen Übel des Hexerei beizukommen, sollte praktisch jedes Mittel recht sein: Auch Zeugen, die man in anderen Verfahren für problematisch ansehen würde, sollten hier zugelassen werden. Binsfeld brachte die Argumentation auf den Punkt: Es stand fest, »daß die Jungen [= die Kinder] können gefragt werden, daß solches nutz [= von Nutzen] sei zu Erforschung und Erkündigung der Wahrheit und solches fürnemblich statt habe [= insbesondere zulässig sei] in den abscheulichen Taten und wann anders die Wahrheit nicht kann beigebracht werden. Darum unsere Richter in diesen schändlichen und heimlichen Lastern recht tun, daß sie die Jungen examinierem [= verhören] damit sie Erfahrung einziehen [und so] mit Erforschung [= Ermittlungen] diesem Laster weiter nachsetzen [= es weiter verfolgen].«102 Das hieß nichts anderes, als dass die Aussagen von Kindern gerade in Hexenprozessen zugelassen werden sollten, schlicht, weil es in diesen Verfahren kaum brauchbare Indizien und Zeugenaussagen gab. Man musste, so der Kern des Gedankens, mit allem arbeiten, was man irgendwie in die Hände bekommen konnte, um die Hexen bekämpfen können. Brutal verkürzt: Der Zweck heiligte die Mittel. Auch schwache Zeugenaussagen mussten genutzt werden, wenn man damit die Chance hatte, gegen Hexen vorzugehen. Binsfeld, der generell Denunziationen einen sehr hohen Stellenwert einräumte, argumentierte konsequent weiter: So wichtig waren die Aussagen der Kinderzeugen und so vertrauenswürdig waren die ›unschuldigen‹ Kinder, dass ihre Angaben mindestens so bedeutsam sein sollten wie Besagungen durch Erwachsene. Die Denunziation durch ein Kind sollte, wenn 101 Binsfeld, Tractat, S. 65. 102 Binsfeld, Tractat, S. 64–65.
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sie mit materiellen Indizien oder anderen Zeugenaussagen übereinstimmte, einen so schweren Anfangsverdacht schaffen, dass die Folter angewandt werden konnte.103 Glücklicherweise waren Binsfelds Empfehlung für Gerichte nicht bindend. Seine Haltung darf aber stellvertretend stehen für die anderer Verfolgungsbefürworter, auch der Ankläger in konkreten Hexenprozessen. Lancre schilderte freimütig, wie sehr er einem siebzehnjährigen Mädchen namens Morguey während seiner Tätigkeit als Hexenrichter vertraut hatte. Morguey behauptete, vor einiger Zeit zum Sabbat verschleppt worden zu sein, sich aber vom Teufel losgesagt zu haben. Die Jugendliche kannte Kinderhexen, die sie auf dem Sabbat gesehen haben wollte. Im Auftrag von Lancre betreute sie diese Kinderzeugen. Aber Morguey konnte, wie Lancre fast mit Besitzerstolz feststellte, noch mehr: Sie war Expertin darin, das Hexenmal zu finden. Die Körper von Verdächtigen suchte sie mit einer Nadel auf diese angeblich unempfindliche Stelle ab. Lancre notierte, dass das Hexenmädchen dabei ebenso zuverlässig wie ein Arzt gewesen sei.104 Das war ein impliziter, aber sehr eindringlicher Appell an alle Richter und Verfolgungsagenten, sich nicht nur auf Kinder als Denunzianten zu verlassen, sondern sie gleichsam in die Prozessadministration einzubauen. Die Forschung hat behauptet, dass Kinderhexen »Macht« ausgeübt hätten.105 Ihre Position erscheint tatsächlich sehr stark. Sie waren zentrale Belastungszeugen in Hexenprozessen, die selbst eine Verurteilung in der Regel nicht zu fürchten brauchten. Das machte sie sicherlich noch nicht zu Herren über Leben und Tod. Gleichwohl gewannen Kinderhexen soziale Positionen, die innerhalb des normalen Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen bzw. im Rahmen der üblichen Rollen von Kindern in der Gesellschaft undenkbar gewesen wären. Wie sich diese Verhältnisse und gesellschaftlichen Rollen veränderten, wie magische Vorstellungen und Gerichtswesen ineinander griffen sowie ob und welche Macht Kindern dabei tatsächlich zuwuchs, soll an einer Reihe von konkreten Einzelfällen untersucht werden. 103 Binsfeld, Tractat, S. 65. 104 Lancre, Inconstancy, S. 142–143, 201–203. 105 Behringer, Kinderhexenprozesse, S. 42; so auch Walinski-Kiehl, Devil, S. 182.
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3. Fallstudien 3.1. Kinderhexen und skeptische Obrigkeit: die Vierjährige beim Hexentanz – Anna Maria Hauber, Roßwälden bei Esslingen, 1663 Dorfgerüchte, Dorfgerichte Es sollen zwei Verfahren gegen Kinderhexen aus demselben Territorium, dem Herzogtum Württemberg vorgestellt werden. Trotz ähnlicher Rahmenbedingungen zeigten sie stark unterschiedliche Verläufe. Sie vermessen damit quasi die Bandbreite der Möglichkeiten, in denen sich Kinderhexenprozesse entwickeln konnten. Ende November 1663 besprach der Kirchenkonvent des Dorfes Roßwälden eine delikate Angelegenheit.1 Roßwälden, heute ein Stadtteil von Ebersbach, lag im Herzogtum Württemberg, wenige Wegstunden östlich der Hauptstadt Stuttgart. Die Kirchenkonvente waren 1642 auf Anordnung Herzog Eberhards III. eingerichtet worden. Es handelte sich bei ihnen um Gerichte, die in den einzelnen Gemeinden Verstöße gegen die kirchliche und sittliche Ordnung 1
Alles Folgende zu diesem Fall nach Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 1342.
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ahndeten. Die Kirchenkonvente behandelten z. B. den Bruch des Verbots der Sonntagsarbeit, aber auch Unzucht, Trunkenheit sowie respektloses Verhalten gegenüber den Eltern und Vernachlässigung der Kinder. Der Kirchenkonvent konnte es mit einer Ermahnung der Schuldigen bewenden lassen, jedoch auch empfindliche Geldund sogar kurze Haftstrafen verhängen. Komplexe und schwerwiegende Fälle gaben die Kirchenkonvente an die übergeordneten Gerichte der Amtsstädte weiter. Sie waren damit in den staatlichen Justizapparat eingebunden, auch wenn sie großenteils kirchliche Angelegenheiten behandelten und der Ortsgeistliche bei den Konventssitzungen anwesend sein musste. Die Frage, ob es sich bei Württembergs Kirchenkonventen um kirchliche oder staatliche Einrichtungen handelte, ist schwer zu entscheiden. Angesichts der entscheidenden Rechte und Kompetenzen, die der Herzog und seine Amtsträger in der lutherischen Kirche Württembergs genossen, fällt dort eine scharfe Unterscheidung zwischen Staat und Kirche immer besonders schwer. Letztlich würde eine strikte Trennung dieser Institutionen am Verständnis der Zeitgenossen vorbei laufen: Staat und Kirche gemeinsam definierten und garantierten Ordnung, gemeinsam ahndeten sie Ordnungsverstöße. Hinzu kam ein Infrastrukturproblem: Statt sich an die staatlichen Stellen in den oft weit entfernten Amtsstädten zu wenden, war es praktischer, so viele Konflikte wie möglich vor Ort vom Kirchenkonvent entscheiden zu lassen.2 Das Problem, das in Roßwälden besprochen wurde, waren Hexereigerüchte um den Anwalt Christoph Hauber, seine Frau und seine Tochter. Es hieß, sie hätten nachts an Hexenversammlungen teilgenommen. Hauber verwahrte sich gegen dieses Gerede. Der Konvent konnte jedoch protokollieren, »was hierin … in der Leut Münder komme, hab er [= Hauber] seinem eheleiblichen Kind einzig und allein zuzumessen.« Haubers Tochter selbst hatte die Gerüchte gestreut. Sie habe »schon eine geraume Zeit … frei und ohne Scheue bei … Kindern und alten Leuten öffentlich« erklärt, dass sie zusammen mit Vater, Mutter und kleinem Bruder zu nächtlichen Festen gehe. Bei diesen Feierlichkeiten im Schlierbacher Wald käme 2
Schnabel-Schüle, Überwachen, S. 27–81; Sauter, Hexenprozess, S. 79–84.
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auch ein mysteriöser roter Mann zu ihnen, hinter dem das dörfliche Gerücht den Teufel vermutete. Haubers Tochter Anna Maria war zum Zeitpunkt ihrer merkwürdigen Äußerungen noch keine fünf Jahre alt. Hauber war Anwalt. Er nahm Verwaltungsaufgaben für die Kommune und die Pfarrei wahr. Man wird ihn zur lokalen Oberschicht zählen dürfen. Dennoch gelang es ihm nicht, den Kirchenkonvent zu einer klaren Stellungnahmen zu seinen Gunsten zu bewegen. Tatsächlich konnte der Kirchenkonvent zu gar keiner Entscheidung gelangen. Am Tag nach seiner Sitzung kam Anna Maria Hauber ins Pfarrhaus. Die direkte Frage des Pfarrers Authenrieth, ob es denn wirklich mit seinen Eltern auf nächtlichen Tanzvergnügungen gewesen sei, bejahte das kleine Mädchen sofort. Erschrocken informierte der Pfarrer nun die nächst höheren kirchlichen und weltlichen Instanzen: den Spezial und den Untervogt in Kirchheim unter Teck. Schon zwei Tage nach dem Bericht Pfarrer Authenrieths kamen beide Amtsträger nach Roßwälden. Gemeinsam mit dem dortigen Schultheiß, den zwei lokalen Waisenrichtern, die für die Versorgung von Kindern verantwortlich waren, und Authenrieth selbst eröffneten sie eine Sitzung des Rügegerichts. Vom Kirchenkonvent unterschied sich das Rügegericht hier durch seine höhere Autorität, die ihm durch die Anwesenheit von Spezial und Untervogt verliehen wurde. Die Eltern und die Frau des Lehrers: Ansehen und Schuld Inzwischen lag auch eine offizielle Anzeige von einem Michael Holl vor. Er verlangte Ermittlungen, da Anna Maria Hauber gesagt haben sollte, »sie und ihr Vater und ihre Mutter täten miteinander am Kamin hinaus fahren.« Dass Hexen durch den Kamin zum Sabbat flogen, gehörte zur landläufigen Hexenimagination. Es spricht für das besonnene Vorgehen des Untervogts, dass er nicht gleich weiteres Belastungsmaterial gegen die Haubers zusammentragen ließ. Vielmehr versuchte er zuerst durch Zeugenverhöre herauszufinden, was genau das Kind zu wem in welchen Situationen gesagt hatte. Ein Georg Falckhenstein gab an, das Mädchen habe ihm, als er gerade bei der Obsternte im Birnbaum saß, erklärt, dass es mit sei-
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nen Eltern am nächsten Freitag wieder zum Tanz fahren würde. Das Flachsfeld des Zeugen hätte seine Eltern schon einmal geschädigt und nun würden sie es vollends zerstören. Falckhenstein erklärte, dass sein Flachsfeld tatsächlich ruiniert worden sei, es könne allerdings sein, dass es sich um einen Wildschaden handelte. Falckhensteins Aussage spielte auf den hergebrachten Hexenglauben an, nach dem die Hexen vor allem Wetterzauberer waren, die Felder und Weinberge durch Stürme verwüsteten. Sicher war er sich seiner Sache allerdings nicht. Ob Falckhenstein wirklich nicht in der Lage war, einen Wildschaden von einem Wetterschaden zu unterscheiden, bleibt offen. Vielleicht bedeutete seine unklare Aussage einfach nur, dass er eigentlich aussageunwillig war und so wenig wie möglich mit dieser unangenehmen Sache zu tun haben wollte. Andere Zeugen nahmen die Äußerungen des Kindes gar nicht ernst. Eine Zeugin erklärte, sie habe die Geschichte von den nächtlichen Festen, die Anna Maria auch in ihrer Gegenwart geäußert hatte, zurückgewiesen mit dem Einwand, dass es nachts keine Tanzvergnügen gebe. Appolonia, die Frau von Hans Störitz, des Lehrers von Roßwälden, belastete das Kind und seine Familie jedoch: Anna Maria habe in ihrem Beisein von den geheimen Tänzen erzählt, zugleich aber deutlich gemacht, dass ihre Mutter es ihr eigentlich verboten hatte, über diese zu sprechen. Die Frau des Lehrers erweckte so den Eindruck, dass das Kind unwillentlich ein Geheimnis verraten hatte, das seine Eltern vor dem Dorf und den Behörden verbergen wollten. Das Rügegericht fand diese Aussage ausreichend für weitere Ermittlung. Nun wurde Anna Maria Hauber selbst gehört. Zunächst sagte das eingeschüchterte Kind nichts. Erst als man Anna Maria freundlich zugesprochen und sie mit »etlichen Pfennig« beschenkt hatte, reagierte sie auf die Fragen. Nachdem das Gericht sich das Vaterunser hatte vorbeten lassen, um sicher zu gehen, dass die Basis der Erziehung gelegt worden war, fragte es das nicht ganz fünf Jahre alte Kind nach dem Schlierbacher Wald und den Tänzen. Anna Maria erklärte, dass sie den Weg zum Wald gut kenne, erst gestern sei sie dort gewesen und habe mit einem ihr unbekanntem, wohl noch jüngeren Mädchen getanzt. Mit ihren Eltern ginge sie immer wieder zu Festen in den Wald, dort würde zu Geigenmusik getanzt,
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man speise luxuriös mit Fleisch und Rotwein. An dieser prekären Stelle der Aussage des Kindes fragten die Verhörenden direkt nach, ob das Mädchen das alles nicht geträumt habe. Aber es beharrte auf seinen Aussagen, »hätte ihme nit traumet« [= es hätte nicht geträumt]. Versuche, Anna Maria durch Nachfragen nach Details zu verunsichern, scheiterten: Sie lieferte bereitwillig Einzelheiten u. a. dass sie und ihre Eltern zu den Festen geritten wären, und zwar alle drei auf dem Pferd des Hans Georg Leuth. Bedrohlich wurde die Situation, als das Kind anfing davon zu erzählen, wer außer seinen Eltern noch bei den nächtlichen Tänzen gewesen war. Die Behörden hätten dies als Denunziation von Komplizen verstehen können. Anna Maria fürchtete sich offenbar vor ihrer Mutter, die sie, wie das Kind betonte, bestrafen würde, wenn sie davon erführe, dass es über die Tänze gesprochen hatte. Damit freilich wurde die Mutter weiter belastet. Diese Aussagen zeigen, wie wenig das Kind in der Lage war, die Situation zu verstehen, in die es sich und seine Eltern gebrachte. Anna Marias Vater verstand das jedoch umso besser. Als Christoph Hauber vor dem Rügegericht befragt wurde, entwickelte er eine Doppelstrategie. Er erklärte sich sofort bereit, seine Tochter einer Pflegefamilie zu übergeben. Dass sehr junge Kinder und Jugendliche außerhalb des Elternhauses bei Ammen bzw. Dienstherrn untergebracht wurden, war, wie wir oben gesehen haben, durchaus normal. Eine knapp Fünfjährige in eine fremde Familie zu geben, war jedoch unüblich. Offenbar fürchteten die Eltern inzwischen, dass die Aussagen des Kindes dazu führen würden, dass man sie unter Hexereianklage stellte. In ihrer Angst waren sie bereit, sich von dem gefährlich gewordenen Kind wenigstens zeitweilig zu trennen. Aber Hauber verteidigte sich nicht nur, er griff auch an: Er behauptete nun, Anna Maria habe ihm gegenüber eingeräumt, dass sie die Geschichte von nächtlichen Tänzen nur erzählte, weil die Frau des Lehrers sie darum gebeten habe. Tatsächlich habe Appolonia, die Frau von Lehrer Störitz, dem Mädchen einen Weck gegeben und ihm Geld versprochen, wenn es diese Geschichte verbreite. Hauber behauptete also, dass die Frau des Lehrers auf besonders perfide Weise, indem sie die Naivität des kleinen Kindes ausnutzte, ein Hexereigerücht gegen ihn und seine Familie gestreut hatte.
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Der Spezial bat daraufhin Pfarrer Authenrieth, die Sitzung kurz zu verlassen und fragte Hauber dann, ob er auch den Pfarrer im Verdacht habe, ihm ein Hexereiverfahren anhängen zu wollen. Hier äußerte sich wieder die Distanz, die das Gericht zur Hexereianklage zu wahren bemüht war: Das Gericht wischte Haubers Behauptung bezüglich der Lehrerin nicht als reine Schutzbehauptung vom Tisch und fragte auch nicht, wie sie zu seiner Bereitschaft, sein Kind wegzugeben, passte. Vielmehr akzeptierte man Haubers Angaben und fragte entsprechend weiter. Dass der Spezial nun vermutete, Pfarrer Authenrieth könne etwas mit dem Hexereigerücht zu tun haben, offenbart etwas vom dem Denken in Hierarchien, das in der Frühen Neuzeit geläufig war. Man ging wie verständlich davon aus, dass hinter dem, was die Frau des Lehrers sagte, der Lehrer selbst stand, entsprechend dem vormodernen Ideal der Unterordnung von Frauen unter ihre Ehemänner. Hinter dem Lehrer seinerseits vermutete man nun seinen Vorgesetzten, den Pfarrer, zu dessen Aufgaben die Schulaufsicht gehörte. Was die Frau sagte, so die unausgesprochene Annahme, das sagte sie im Auftrag, zumindest im Einvernehmen mit ihrem Mann. Was der wiederum äußerte, mochte nur das sein, was der Nächsthöhere in den Hierarchien von Familie und Dorf von ihm erwartete. Aber Hauber wehrte ab: Dass der Pfarrer gegen ihn sei, könne er nicht behaupten. Nun wurde nach dem Leumund des Lehrers und seiner Frau gefragt. Dieser war, so erklärte der Schultheiß von Roßwälden, nicht sehr gut. Appolonia, die Frau des Lehrers, war eine Fremde. Sie war früher einem Heer nachgezogen und Köchin eines Offiziers gewesen. Zum Zeitpunkt des Hexereiverfahrens gegen die Haubers war der Dreißigjährige Krieg erst seit 16 Jahren offiziell beendet. Es kann also nicht erstaunen, dass viele Menschen eine ›militärische‹ Vergangenheit in einem der großen Heere der unterschiedlichen Kriegsparteien hinter sich hatten. Das galt auch für Frauen: Die Söldnerheere der Frühen Neuzeit wurden von einem großen Tross begleitet. Dieser Tross versorgte die kämpfende Truppe. Er bestand zu einem großen Teil aus Frauen: Händlerinnen, Wäscherinnen, Köchinnen, selbstverständlich auch Prostituierten, häufig aber einfach den Ehefrauen der Söldner. Die Frau des Lehrers hatte zum Tross eines Heeres gehört. Dass sie in der vergleichsweise guten Position
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einer Offiziersköchin gewesen war, machte in Roßwälden keinen Eindruck. Man mochte sie sogar verdächtigen, ein Verhältnis mit ihrem Dienstherrn gehabt zu haben. Der Ruf der Landsknechte war sehr schlecht. Immer wieder versorgten sich die chronisch schlecht bezahlten Söldner durch Plünderungen selbst. Entsprechend gering war auch das Ansehen der Lehrers: Der Lehrer Hans Störitz war zwar Württemberger, auch er war allerdings als Landsknecht im Krieg gewesen. Seine Frau hatte er im Heer kennengelernt. Gegen Störitz sprach vor allem, dass er zweimal die Konfession gewechselt hatte. Protestantisch getauft, war er im Krieg zum Katholizismus konvertiert, dann aber bei seiner Rückkehr nach Württemberg wieder protestantisch geworden. Das Urteil des Schultheißen stand fest: »Er seines Teils aber traue allen solchen Leuten nicht.« Der Pfarrer äußerte sich mit Störitz zufrieden. Dessen Frau war ihm dafür umso suspekter. Sie sei »dem Wein ziemlich ergeben.« Das Ehepaar Hauber, das nun zusammen vernommen wurde, erhärtete seine Version der Geschehnisse: Die Lehrersfrau hatte das Kind angestiftet, von den nächtlichen Festen zu erzählen. Damit stand nun nicht einfach Aussage gegen Aussage. Lehrer Störitz musste als konfessionell unzuverlässig gelten, seine Frau war eine Fremde und könnte Alkoholikerin gewesen zu sein, beide hatten eine zweifelhafte Vergangenheit. In den Augen des Dorfes dürften sie wenig achtbar gewesen sein. Es stand die Aussage eines – zumindest vor dem Hexereigerücht – angesehenen Paars gegen die eines schon lange weniger geachteten Paars. Selbstverständlich bewerten Gerichte auch heute die Glaubwürdigkeit von Zeugen. In der Frühen Neuzeit war man jedoch in der Regel sehr bereit, soziales Ansehen mit Glaubwürdigkeit gleichzusetzen. Anschuldigungen von sozial minderrangigen Personen gegen sozial höherrangige konnten schlicht ignoriert werden. Oder aber sie wurden als üble Nachrede gewertet und fielen damit auf die Personen geringeren Ansehens zurück. Konnten die Haubers also sicher sein, sich mit ihrer Darstellung der Ereignisse vor Gericht durchzusetzen? Gerade bei einer Hexereianklage nicht unbedingt. Hexerei wurde als Ausnahmeverbrechen behandelt, bei dem auch fragwürdige Zeugenaussagen zulässig waren, etwa solche von Feinden des Verdächtigen, überführten Komplizen, Personen geringen Ansehens – oder Kindern.
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Bewusstes Zögern und Skepsis Das Rügegericht konnte sich noch immer zu keinem Urteil entschließen. Wieder wurde die zentrale Person verhört, die kleine Anna Maria Hauber selbst. Ebenso arglos wie das Kind von den nächtlichen Tänzen gesprochen hatte, so räumte es nun ein, dass die Frau des Lehrers es tatsächlich aufgefordert hätte, über diese Tänze zu reden und davon, dass seine Eltern zu ihnen gingen. Bruchlos fügte Anna Maria an, sie habe erst gestern wieder mit Vater und Mutter an einem solchen Tanzvergnügen im Schlierbacher Wald teilgenommen. Auf die skeptische Frage des Gerichts, wie sie dort hätten tanzen können, es liege doch Schnee – das Verhör fand im Dezember statt – begann das Mädchen von einem großen Feuer und vielen Lichtern, die im Wald gebrannt hätten, zu berichten. Viele Leute seien da gewesen, man hätte keinen Wein gehabt, aber immerhin »Fleisch und Kraut.« Zum Hexensabbat mit Sauerkrautessen sei die Familie wieder geritten; und zwar wollte Anna Maria mit ihren Eltern zusammen schon »in ihrem Haus … allwegen aufgesessen und zu der Tür hinaus geritten« sein. Das Kind bestätigte also alles: Sowohl dass die Frau des Lehrers ihm suggeriert hatte, von nächtlichen Festen zu erzählen, als auch dass diese Feste stattgefunden hatten. Die reichlich fragwürdigen Details einschließlich des Ritts durch die Haustür dürften die Glaubwürdigkeit des Kindes erschüttert haben. Aber das Mädchen überraschte das Gericht noch mehr: Vor zwei Wochen sei es ebenfalls zum Tanz zum Schlierbacher Wald gewesen, diesmal ohne Vater und Mutter. Vielmehr habe bei dieser Gelegenheit die Frau des Lehrers Anna Maria dorthin gebracht. Damit war Appolonia, die Frau des Lehrers Hans Störitz von der Belastungszeugin erst zur vermeintlichen Verleumderin, dann zur Hexe geworden. Ihre erneute Einvernahme klärte die Lage nicht. Das Rügegericht fällte kein Urteil. Die Angelegenheit war ihm zu schwerwiegend. Über einen Monat nach dem Verhör in Roßwälden, also vermutlich nach eingehender Beratung, legte das Gericht den Fall zur Entscheidung dem Oberrat vor. Der Oberrat war neben der für Finanzfragen zuständigen Rentkammer die zentrale Regierungseinrichtung Württembergs. Seit 1572 mussten bei allen
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im Herzogtum geführten Kriminalprozessen die Urteile zur Bestätigung dem Oberrat vorgelegt werden. Hieraus entwickelte sich eine umfassende Justizaufsicht des Oberrates. Die Amtsträger der Gerichte vor Ort sollten in Kriminalprozessen gar keine Entscheidungen von größerer Tragweite, z. B. über die Anwendung der Folter, fällen, ohne vorher mit dem Oberrat Rücksprache gehalten zu haben. Ihre Tätigkeit reduzierte sich häufig auf Ermittlungsarbeit unter ständiger Anleitung des Oberrats. Im Oberrat saßen zunächst drei Adelige und sechs bürgerliche, universitär ausgebildete Juristen unter dem Vorsitz des adeligen Landhofmeisters und des rechtswissenschaftlich bewanderten Kanzlers. Im Lauf der Zeit wurde der Einfluss der gelehrten Juristen im Oberrat stärker. Anders als die mit Laien besetzten Ortsgerichte besaß er hohe rechtswissenschaftliche Kompetenz. Hinzu kam, dass der Oberrat regelmäßig Rechtsgutachten von den Juristen der Universität Tübingen einholte. Der gut entwickelte Staatsapparat Württembergs setzte die Entscheidungen des Oberrats vor Ort durch.3 Der Bericht des Rügegerichts an den Oberrat spiegelte seine skeptische Haltung. Man fragte, was Anna Marias »kategorische Antworten bei so blühendster Jugend« wert sein könnten. Der gute Leumund der Familie Hauber wurde hervorgehoben. Es sei wahrscheinlich, so das Rügegericht, dass dem Kind die merkwürdigen Geschichten von den nächtlichen Tänzen von außen eingeflüstert worden seien. Der Bericht vermied es aber, eine Bestrafung der Frau des Lehrers vorzuschlagen. Auch die indirekte Hexereianschuldigung gegen die Lehrersfrau, die Anna Maria schließlich geäußert zu haben schien, wurde übergangen. Ganz offensichtlich wollte das Rügegericht ein Ende der Affäre ohne großes Aufsehen, ohne weitere Ermittlungen und ohne Strafen. Der württembergische Oberrat stand Hexenprozessen stets sehr zurückhaltend gegenüber. Seinen hohen juristischen Standards, seinen Anforderungen an die Verlässlichkeit von Zeugen und Indizien entsprachen Hexereianklagen in aller Regel nicht. Demgemäß war der Oberrat bereit, den vorsichtigen Bericht des Rügegerichts zur Basis seiner Entscheidung zu machen: Gleichgültig, woher Anna 3
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Marias Aussagen kamen, sie seien »ein bloßes Kindergeschwätz.« Schuldzuweisungen an Erwachsene – sei es wegen Hexerei oder wegen Verleumdung – wurden vom Oberrat völlig vermieden. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Der Oberrat ordnete lediglich an, dass das Mädchen von seinen Eltern »mäßig gezüchtigt« werden sollte. Weiter sollte man ihm einschärfen, »sich dergleichen Reden gänzlich zu enthalten.« Außerdem sollten die Haubers dafür sorgen, dass ihr Kind »nicht zu verdächtigen Leuten gelassen werden möge.« Gemeint war wohl, dass Anna Maria keinen Kontakt mehr zur Frau des Lehrers haben sollte. Versucht man den Verlauf des Verfahrens um Anna Maria Hauber zu deuten, fällt zunächst auf, dass hier kein schwerwiegender Schadensfall im Hintergrund stand. Schwere Hexenverfolgungen hatten stets einen schwerwiegenden konkreten Schaden wie eine Missernte im Hintergrund. Lokale Hexenjagden waren oft mit örtlichen Schadensereignissen wie einem Großbrand verbunden. Starkes Verlangen nach Hexenprozessen äußerten häufig Personen, die ein schweres Unglück getroffen hatte, etwa der Tod eines Kindes. In Roßwälden und Umgebung hören wir von nichts dergleichen. Falckhensteins verwüstetes Flachsfeld erreichte nicht entfernt diese Dimension. Der äußere Druck einer Krise, der andernorts intensive Hexenverfolgungen auslöste, fehlte. Daher verhielt sich die Dorfgemeinschaft vergleichsweise ruhig und zurückhaltend. Der Kirchenkonvent und das Rügegericht nahmen die Hexereigerüchte durchaus ernst. Aber sie handelten umsichtig und besonnen, ohne ungewöhnliche Schärfe. Das Vorgehen der ersten Instanzen spiegelte also die Ruhe der Gemeinde wieder. Bei schweren Hexenverfolgungen lässt sich häufig das Gegenteil beobachten: Die Gerichte vor Ort teilten die Angst der Dorfbevölkerung und waren bereit, im Interesse einer raschen Verurteilung aller Verdächtigen jede juristische Sorgfalt fahren zu lassen. Die starke Stellung des Oberrats und seine Zurückhaltung bezüglich Hexereianklagen stellten schließlich sicher, dass das Verfahren ohne Strafurteil eingestellt wurde.
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71 Kinderhexen in Calw In einem anderen sozialen Umfeld mit spezifischeren Aussagen konnte ein Kinderhexenprozess auch im relativ zurückhaltenden Württemberg rasch ganz andere Dimensionen annehmen. Die Kinderhexenprozesse, die 1683/1684 das württembergische Calw erlitt, wurden in der Literatur bereits mehrmals diskutiert. Sie sollen nur kurz besprochen werden.4 Der elfjährige Veit Jakob Zahn war von seinen Eltern für eine Lappalie bestraft worden.5 Halb trotzig, halb stolz und völlig irrational erklärte er daraufhin, dass er noch viel mehr angestellt hätte: Er habe sich von der Mulflerin, der Großmutter seines Spielgefährten Bartholomäus Süb, etwas Blut abnehmen lassen und sei dann mit ihr beim Hexentanz gewesen. Der Junge prahlte also trotzig mit etwas sehr ›Schlimmem‹ und spielte dabei auf Hexerei an. Georg Heinrich Heberlin, ein protestantischer Theologe, der den Fall im Auftrag des Herzogs von Württemberg später untersuchte, hielt fest, der junge Zeuge wäre »melancholischer Complexion«. Dass man ihm trotzdem glaubte, lag sicherlich am schlechten Leumund von Bartholomäus Süb und dessen Großmutter. Bartholomäus war der uneheliche Sohn einer Stieftocher der Anna Hafnerin, genannt Mulflerin. Vor sechs Jahren hatte der damals elf Jahre alte Bartholomäus im Verdacht gestanden den Tod eines sechsjährigen Kindes, des Sohns des Lehrers, durch Gift verschuldet zu haben. Die Ermittlungen hatten jedoch zu nichts geführt: Bartholomäus’ Bekenntnisse waren in sich widersprüchlich gewesen. Er war mit seiner Mutter lediglich des Landes verwiesen worden. Seine Großmutter sollte in den vermeintlichen Giftmord verwickelt gewesen sein, allerdings genügten die Indizien nicht zu einer Anklageerhebung. Bartholomäus war nun heimlich mit seiner Mutter nach Calw zurückgekehrt. Er amüsierte die Nachbarskinder mit Schnitzarbeiten. Veit behauptete, auch andere Kinder auf dem Sabbat gesehen zu haben. Er denunzierte also weitere Kinder. Seine Aussagen desta4 5
Vgl. z. B. Schmidt, Hexenverfolgung, S. 171–176; Weber, Verführten, S. 15– 29. Das Folgende zu Calw nach Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 690; Heberlin, Historische; Spitzel, Gebrochne, S. 358–370.
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bilisierten die Situation in Calw sehr rasch. Die Initiative ergriffen zwar zunächst nicht die Behörden, sondern die Eltern der so belasteten Kinder. Deren ängstlicher Aktionismus hatte aber verheerende Folgen. Heberlin fasste luzide zusammen: Veits »Reden [wurden] auch bekannt gemacht, geglaubt, und die … Knaben und Mägdlein von ihren Eltern hierüber zu Red gestellt … Als sie aber von dergleichen Sachen nichts wissen oder bekennen wollen, bis durch erstlich zwar gütliches, hernach aber scharfes Erinnern [= Ermahnen] und hartes Bedrohen … sie endlich zum Bekenntnis, daß sie auch draussen [= beim Sabbat] gewesen, gebracht worden. Welche Bekenntnisse, ob sie von den Kindern aus Furcht vor den angedroheten harten Proceduren oder weil es ihnen indem sie etliche Tage lang anders nichts als von solchen Sachen reden hören natürlicher Weise im Traum also vorkommen … man dahin gestellet sein lassen muß.« Die Aussageunwilligkeit der Kinder oder ihre Unfähigkeit zu erfassen, welche Aussagen die Erwachsenen erwarteten, wurde von den Erwachsenen als obstinates Schweigen aus Bosheit oder Scham missdeutet. Der scheinbare Widerstand der Kinder sollte durch verstärkten Druck zur Aussage gebrochen werden. Kindern, die partout nichts über Hexen sagen wollten, wurde schließlich– sehr konsequent – sogar mit der Haft im Hexenturm gedroht. Die Kinder erklärten schließlich, dass sie ständig nachts von den Hexen zum Sabbat entführt wurden. Um ihre Kinder zu beschützen besorgten Calwer Familien geweihte christliche Amulette aus katholischen Nachbargebieten. Die Proteste der protestantischen Obrigkeit dagegen fanden kein Gehör. Die Eltern bewachten ihre Kinder nachts, um den Hexen keine Möglichkeit zu geben, sich ihnen zu nähern. Heberlin vermutete, dass der sich daraus ergebende Schlafentzug die Situation in Calw verschärfte. Spezial und Untervogt, die die ersten Ermittlungen durchführten, sahen sich rasch einer sehr aufgebrachten und nervösen Bevölkerung gegenüber. Bereits im April 1684 gaben nicht weniger als 61 Kinder an auf dem Hexensabbat gewesen zu sein. Sie denunzierten neben der Mulflerin und ihrem Enkel 19 Erwachsene, darunter einen Mann als ihre Verführer und Lehrmeister. Angeblich waren zu diesem Zeitpunkt noch zehn weitere Kinder im Verdacht, beim Hexentanz gewesen zu sein.
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Gegen Bartholomäus Süb und seine Großmutter wurde Anklage erhoben. Beide wurden hingerichtet. Obwohl die Verfahren ohne Wissen der Stuttgarter Regierung eröffnet worden waren, wurden sie doch noch ihrer Kontrolle unterworfen. Die Prozessakten wurden zur Begutachtung der Tübinger Juristenfakultät übergeben. Die Fakultät empfahl in beiden Fällen die Hinrichtung. Die Mulflerin sollte nach dem Willen der Tübinger Juristen sogar lebendig verbrannt werden. Zu einem so harten Urteil verstieg sich Tübingen in keinem anderen Fall. Die Juristen begründeten die Strafe ausdrücklich mit »so viel Kinder vorsätzlicher … Verführung.« Der Oberrat milderte das Urteil zur Enthauptung mit Verbrennung der Leiche ab.6 Die Kinderhexen äußerten weitere Denunziationen. Verdächtige wurden von ihren Mitbürgern tätlich angegriffen. Trotz der großen Hexenangst vor Ort griff das württembergische System der Justizaufsicht. Nach dem Tod der Hauptverdächtigen, der Mulflerin und ihrem halbwüchsigen Enkel unterwarf die württembergischen Regierung das weitere Vorgehen in Calw ihrer engen Kontrolle. Der Oberrat war nur noch sehr bedingt dazu bereit weitere Hexereiverfahren zuzulassen. Die theologische Fakultät der Universität Tübingen hatte sich auf Wunsch der Regierung Anfang 1684 zu den Calwer Kinderhexen geäußert. Die Theologen hielten den Teufelspakt der Kinder zwar für real, bestritten aber seine Geltung. Gott schloss in der Taufe einen Bund mit jedem Christen. Diesen Bund konnte ein Teufelspakt nicht aufheben, nicht einmal in Frage stellen. Buße und Umkehr machte die Gnade Gottes immer möglich. Diese Stellungnahme tat wenig mehr als theologische Grundsatzpositionen ins Gedächtnis zu rufen. Gleichwohl hatte sie das Potential, die Hysterie um den Teufelspakt der Kinderhexen zu beruhigen. Die Theologen empfahlen, die Kinder nicht zu strafen, sondern ihre christliche Erziehung zu intensivieren. Sprach diese Relativierung des Paktes nicht den gerade zum Tod Verurteilten, der Mulflerin und ihrem Enkel, Hohn? Die Tübinger Theologen erkannten ebenso wie die Tübinger Juristen die Realität des Paktes an. Die Rechtsgelehrten hatten weniger den Pakt als vielmehr die Verführung zum Pakt 6
Sauter, Hexenprozess, S. 156.
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drastisch bestraft sehen wollen. Die theologische und die juristische Sicht der Dinge widersprachen sich also nicht direkt. Dennoch mochte die Regierung die Stellungnahme der Theologenfakultät als Aufforderung zu einer bedächtigeren Handhabung der übrigen Calwer Hexenfälle verstehen. Der Herzog entsandte eine Kommission aus vier Juristen und dem Theologen Heberlin nach Calw. Deren Aufgabe war es nicht, gegen Hexen vorzugehen, sondern für Ruhe in der Stadt zu sorgen. Begleitet wurde die Kommission von einem Trupp Soldaten, die vor Ort sehr deutlich machten, dass die Regierung keine Zweifel an ihrer Autorität oder sogar Unruhen im Zusammenhang mit der Hexenjagd dulden würde. Dennoch unterlief die Hexenangst der Bevölkerung noch einmal die Kontrolle der Regierung. Zwei vermeintliche Hexen waren mit Billigung der herzoglichen Obrigkeit nur der Stadt verwiesen worden. Aber die Hexereibezichtigungen hatten sich herumgesprochen: Eine der verdächtigen Frauen wurde von den Einwohnern eines Nachbarorts von Calw – außerhalb des unmittelbar von der entsandten Truppe kontrollierten Gebiets – totgeschlagen. Dies war einer von wenigen dokumentierten Fällen von Lynchjustiz an Hexen im deutschen Raum. Heberlin versuchte, die Lage durch eine Predigt zu beruhigen. Das Ende der Calwer Hexenverfolgung brachte sicherlich die Präsenz der Soldaten und die skeptische Haltung der Regierung eher als Heberlins Predigt. Dennoch muss diese vorgestellt werden, zumal Heberlin die Situation sehr gut erfasst zu haben scheint. Der Prediger griff auf das altbewährte Argument des Teufels als Täuscher zurück: Heberlin erklärte die Sabbaterlebnisse der Kinder als vom Teufel eingegebene Träume. Dass diese Träume diabolischen Ursprungs seien, war, so Heberlin, aus ihren negativen Folgen ersichtlich: Calw war auf bestem Weg sich zu ruinieren. Die Hexenangst hatte das soziale Leben in Calw zerrüttet. Fremde begannen bereits, geschäftlichen Verkehr mit der Stadt zu meiden. Heberlin stellte wie selbstverständlich fest, dass diese teuflischen Träume auch völlig unschuldige Personen beim Hexensabbat zeigen konnten. Damit akzeptierte er das fundamentale Argument gegen alle Besagungen. Heberlin empfahl als Mittel gegen die Macht des Teufels, von der Völlerei abzulassen. Angesichts der apokalyptischen
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Bedrohung durch Dämonen erscheinen diese Mahnungen, die ganz offensichtlich aus der Tradition der kirchlichen Alltagsmoral kam, lächerlich unangemessen. Es ging um eine Entschärfung der Situation. Der Prediger empfahl die Rückbesinnung auf fundamentale Verhaltensregeln, die grundsätzlich von jedermann akzeptiert und Teil der täglichen Seelsorgepraxis waren. Das Gefühl, sich in der Ausnahmesituation einer direkten Konfrontation mit dämonischen Mächten zu befinden, sollte schwinden und dem kirchlich geregelten Alltag Platz machen. Entsprechend erinnerte Heberlin seine Hörer schlicht an den Schutz und die Verantwortung, die sie in ihrer Taufe empfangen hatten. Es ging um die konkrete Beruhigung der Calwer: Heberlin bemühte sich gar nicht erst, die theologische Tiefe des Tübinger Gutachtens mit seiner Zurückweisung des Teufelspaktes einzuholen. Über die Kinderhexen sagte Herberlin in seiner Predigt wenig. Der Theologe wies die Aussagen der Kinder bezüglich des Hexensabbats nicht offen zurück. Mit seiner Konstruktion der teuflischen Träume entzog er ihnen aber stillschweigend jede Beweiskraft. Heberlin setzte auf das Interesse, das die Erwachsenen an einem geordneten Alltag haben mussten und auf grundlegende Elemente kirchlicher Lehre, die er bei diesen als bekannt und akzeptiert voraussetzen konnte. Heberlin erkannte, dass Erwachsene für die Krise in Calw verantwortlich waren und man diese nur mit ihnen würde beenden können, völlig unabhängig davon, was die Kinder äußerten. Heberlin empfahl für die Kinderhexen abgestufte Strafen. Diese sollten ungefähr widerspiegeln, ob sich die Kinder mehr oder weniger bewusst, mit mehr oder weniger Wissen um die Tragweite ihrer Tat, dem Teufel verschrieben hatten. Die Strafen reichten von einer öffentlichen Züchtigung mit Ruten zu bloßen Ermahnungen. Mit der Skepsis bezüglich des Hexensabbats brach die Basis für weiteres strafrechtliches Vorgehen gegen die von Kindern besagten Erwachsenen weg. Die Militärpräsenz machte klar, dass die Regierung damit den Schlussstrich unter die Calwer Verfolgung ziehen wollte. Die Restriktionen, die die Regierung stets für Hexenprozesse vorgesehen hatte, griffen. Die Fälle Roßwälden und Calw sollen kurz verglichen werden, um die Ursachen dafür aufzuzeigen, wieso im selben Territorium
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mit geringem zeitlichen Abstand zwei ganz unterschiedliche Verfolgungsverläufe entstanden. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen waren ähnlich: ganz schwere Krisenerscheinungen gab es weder in Roßwälden noch in Calw. Die Ermittlungen wurden zunächst von lokalen Gerichten geführt. Die Calwer Verfahren standen von vornherein im Kontext von Kriminalität: Gegen Süb und seine Großmutter war bereits wegen des ungeklärten Todes eines Kindes ermittelt worden. Die beiden waren eindeutig verrufen, während in Roßwälden der Lehrer und seine Frau bloß nicht sonderlich angesehen waren. Anna Maria war erst vier, als sie ihre Angaben machte. Veit Jakob Zahn war immerhin elf. Das mag ihn etwas glaubwürdiger gemacht haben. Weit wichtiger war jedoch, dass der Junge von Anfang an und sehr klar von Hexerei sprach. Anna Maria schien die ganze Zeit über nicht wirklich zu erfassen, dass man ihre Angaben als Hexengeständnis ansah. Der Junge aus Calw aber verstand das und beabsichtigte es offenkundig. Er denunzierte sofort konkret eine Lehrmeisterin und benannte weitere Kinderhexen. Damit gab er eine gewisse Struktur vor, mit der Gericht und Öffentlichkeit etwas anfangen konnten. In Anna Marias Aussagen blieb ihr Verhältnis zu den vermeintlichen anderen Hexen immer vage. Von anderen Kindern beim Sabbat war bei ihr nie die Rede. Dadurch, dass Veit Jakob Zahn rasch andere Kinder in seine Angaben einbezog, sah sich Calw einer ganzen Gruppe von jungen Hexen bzw. Hexenopfern gegenüber. Zentral bedeutsam war die Rolle der Eltern der vermeintlichen Kinderhexen. Anna Maria schien ihre Eltern zu belasten: Diese sahen sich also von vornherein auf der Seite der Verdächtigen. Nicht so in Calw: Hier konnten sich die Eltern der Kinderhexen wie diese selbst als Opfer teuflischer Machenschaften fühlen. Sie versuchten, mit allen Mitteln ihre Kinder vor den Hexen zu schützen und verlangten höchst energisch deren Bestrafung. Die Calwer Eltern waren klar entschiedene Befürworter der Hexenverfolgung. Angesichts der Vielzahl der vermeintlichen Kinderhexen wurde so in Calw Druck aufgebaut, den es in Roßwälden nicht gab. Entsprechend schwer fiel es der Regierung, die Verfolgungen von Calw zu stoppen. Stuttgarts Haltung zum Hexereidelikt war in beiden Fällen dieselbe. Der Oberrat war bereit, in Calw seine skeptische Haltung mit
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sehr hohem Aufwand durchzusetzen. Dass eine ganze Gruppe von Kinderhexenn in Calw auftrat, führte nicht dazu, dass die Regierung ›kurzen Prozess‹ machen ließ. Ein Sonderstatus wurde dem Verfahren mit seinen Dutzenden von Kinderhexen nur insofern eingeräumt, als die Landesherrschaft besonders entschieden für Ordnung und Ruhe vor Ort eintrat. Die Glaubwürdigkeit von Kindern als Belastungszeugen addierte sich nicht einfach auf. Die Gruppe von Kindern als Hexen und/oder Hexenopfer wurde von den Behörden nicht grundsätzlich für glaubhafter als einzelne Kinder angesehen. Die entscheidende Rolle des Oberrats wird dadurch bestätigt, dass er es war, der auch in Roßwälden das Verfahren letztlich beendete. Obwohl dort die Bedingungen ungleich günstiger als in Calw waren, stellten die lokalen Gerichte den Prozess nicht von sich aus ein. Hier zeigt sich eindrücklich, welche Bedeutung vor Ort den Aussagen von Kindern zugemessen werden konnte. Die enge Justizaufsicht, die der Oberrat in Württemberg ausüben konnte, und seine skeptische Haltung waren durchaus nicht die Regel in den Fürstenstaaten der Frühen Neuzeit. Hexenprozesse häuften sich in Territorien, deren Regierung die lokalen Gerichte nur unzureichend kontrollierte. Sich selbst überlassen konnten diese dann ganze Prozessketten durchführen, die auch nach zeitgenössischen Maßstäben illegal waren. Daneben bestand die Möglichkeit, dass sich eine zentrale Regierungseinrichtung radikalisierte und selbst zum Motor der Verfolgungen wurde. Die nächste Fallstudie befasst sich mit einer solchen aggressiven Obrigkeit. 3.2. Kinderhexen und Hexenverfolgung ›von oben‹: Selbstanzeige einer Sechzehnjährigen – Maria Ostertegin, Ellwangen1 613 Hexendeputation: die Ellwanger Katastrophenverfolgung Im Juli 1613 stellte sich die sechszehnjährige Maria Ostertegin den Behörden der Fürstpropstei Ellwangen.7 Das Mädchen erklärte of7
Alles Folgende zum Fall Ostertegin nach Staatsarchiv Ludwigsburg, B 412 Bü 78, vgl. Mährle, Armen, S. 325–500, S. 430. Zu Ellwangen allgemein vgl. Mährle, Armen.
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fenbar freiwillig, dass sie eine Hexe sei. Der Fall wurde Teil einer der aggressivsten Hexenverfolgungen überhaupt. Die Fürstpropstei Ellwangen war eine von vielen kleineren kirchlichen Herrschaften im Alten Reich. Das Stift Ellwangen war 1460 aus einem Benediktinerkloster hervorgegangen. Der Propst des Stiftes bekleidete eine Stellung ähnlich der eines Bischofs. Neben seinen kirchlichen Rechten war es als Fürstpropst Landesherr des Ellwanger Territoriums. Als solcher war er Gerichtsherr der weltlichen Gerichte mit Zuständigkeit für Strafsachen. Die Hexenverfolgungen in der Fürstpropstei Ellwangen kann als Musterbeispiel einer Hexenverfolgung ›von oben‹ gelten. Damit ist gemeint, dass sich die Verfahren weitestgehend der Initiative des Landesherrn und seiner Verwaltung verdankten. Nach Anfängen in den 1580er Jahren, bei denen bereits ein Jugendlicher eine wichtige Rolle gespielt hatte, entwickelten die Ellwanger Verfolgungen eine ganz eigene Dynamik und kreierten eine spezifische Verwaltungsstruktur. Die treibende Kraft hinter der Hauptphase der Hexenverfolgung in Ellwangen war klar der Fürstpropst. Persönliche Verantwortung trugen hier die Fürstpröpste Johann Christoph I. von Westerstetten (1603–1613) und sein Nachfolger Johann Christoph II. von Freyberg und Eisenberg (1613–1620). Beide verstanden sich selbst als Avantgarde eines Reformkatholizismus. Es galt, die alte Kirche neu und straffer zu organisieren, die Gläubigen konsequenter zu führen und damit auch während der Reformation verlorenen Boden wiederzugewinnen. Mit einem strikten und alltagsfremden Verständnis von Katholizismus, das auch den Vatikan befremdet hätte, gingen diese Neuerer aus der deutschen Provinz ›päpstlicher als der Papst‹ gegen alles vor, was ihnen einer Glaubenserneuerung im Weg zu stehen schien. Dazu gehörte freilich jede Form von Magie. Aber das war nicht alles: Die Ellwanger Fürstpröpste der ersten zwanzig Jahre des 17. Jahrhunderts glaubten sich ganz konkret in einem apokalyptischen Endkampf, in dem sie auf der Seite Gottes stehend absolut alles tun mussten, um dem Teufel und seinen Jüngern eine Niederlage zuzufügen. Das wesentliche Mittel der Fürstpröpste in diesem Kampf gegen die Hexen war eine besondere Prozessverwaltung. Die Hexenprozesse Ellwangens wurden nicht von den ordentlichen Kriminalge-
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richten geführt. Vielmehr war von den Fürstpröpsten ein Sondergericht geschaffen worden, dessen Aufgabe allein darin bestand, Hexen aufzuspüren und abzuurteilen. Da die Raison d’être dieser so genannten Hexendeputation darin bestand, Hexen zu verfolgen, tat sie genau das: Zurückhaltung oder Bedenken bezüglich der rechtmäßigen Prozessführung, zu schweigen von Skepsis, konnten in diesem allein auf die Beseitigung der Hexen abgestellten Sondergericht keinen Platz haben. Die Prozesse wurden mit einem Maximum an Geschwindigkeit und einem Minimum an Respekt vor geltenden Rechtsnormen geführt. Als Regel war angesetzt worden, dass ein Hexenprozess – insgesamt, von der Anklageerhebung bis zur Urteilverkündung – drei Tage dauern sollte. Innerhalb dieser Konstruktion der Verfolgungsadministration war es folgerichtig – angesichts der geforderten Effektivität sogar notwendig – dass es keinerlei Möglichkeiten geben sollte, die Prozesse von außen zu beeinflussen. Die Hexendeputation war nur dem Fürstpropst verpflichtet. Kontrollinstanzen gab es nicht. Die Hexendeputation stand unter der Federführung von nur zwei Amtsträgern des Fürstpropstes, die sämtliche Verfahren verantwortlich leiteten: die Hofräte Arnold von Wolffen und Dr. Carl Kibler. Kibler, den Zeitgenossen bekannt als der »rote Doktor«, hatte bereits vor seiner Anstellung in Ellwangen Erfahrungen mit Hexenprozessen in Vorarlberg gemacht und erfreute sich der besonderen Gunst des Fürstpropstes Johann Christoph von Westerstetten. Unter Kibler und Wolffen wurde das Indizienrecht im Hexenprozess entscheidend gelockert: Die Denunziation durch einen vermeintlichen Mittäter genügte für die Folter. Es ist offensichtlich, dass ein derartig krudes Vorgehen binnen kurzer Zeit zu sehr hohen Prozesszahlen führen musste. Selbst bis dahin völlig unverdächtige und unbescholtene Personen konnten durch Besagungen in eine Prozessmaschinerie geraten, die sie sehr rasch der Folter unterwarf und so Geständnisse erzielte. Ellwangen erlebte zwischen 1611 und 1618 eine verheerende Hexenverfolgung. In dieser Prozesswelle gab es keine Freisprüche. Es kam zu über 370 Hinrichtungen. 250 Exekutionen betrafen Personen aus der Stadt Ellwangen selbst, die insgesamt nur rund 1500 Einwohner hatte: Die Tätigkeit der Hexendeputation bedeutete für die Stadt eine Katastrophe analog einem Kriegszug.
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Ellwangen war leider kein Einzelfall. Denselben Verfolgungstyp konnte man auch in der Reichsstadt Esslingen oder den fränkischen Fürstbistümern beobachten. In Würzburg, Bamberg und Eichstätt kam es zu Verfolgungskatastrophen ähnlich der Ellwangens. Die Prozesse waren jeweils charakterisiert dadurch, dass sie von einer winzigen Sonderverwaltung außerhalb des ordentlichen Justizsystems durchgeführt wurden, die Denunziationen als wichtige Indizien akzeptierte und die Folter bedenkenlos eingesetzte. Ähnliche Hexenverfolgungen ›von oben‹ mit ad hoc geschaffenen Verfolgerinstitutionen lassen sich außerhalb des deutschen Raums, z. B. bei den Hexenverfolgungen von Nordschweden oder Massachusetts beobachten. »Ein guter Braten, wäre von einem Kind gewesen«: Typische Elemente eines Hexengeständnisses Maria Ostertegin kam zum Ellwanger Gefängnis und verlangte selber ihre Verhaftung. Sie erklärte vor Kibler und Wolffen »selbst frei eigenen Willens«, dass sie eine Hexe sei. Wie als Siegel ihrer Schuld zeigte die Sechszehnjährige ihr Hexenmal an ihrer rechten Achsel vor. Abgesehen von der augenscheinlichen Freiwilligkeit war ihr Geständnis in fast jeder Hinsicht unspektakulär: Es beinhaltete, was man in Ellwangen und anderswo zu dieser Zeit von einem Hexengeständnis erwartete. Gerade daher war es für die Hexendeputation überzeugend. Marias Geständnis sei hie kurz zusammengefasst. Es gibt einen guten Einblick in die Hexenimagination, wie sie sich in der Prozesspraxis ausdrückte. Es zeigt eindringlich, wie komplex die Fantasien waren, in die das Mädchen bewusst eintrat. Aus den vorherigen Ellwanger Hexenprozessen dürfte sie mit den Standards des Hexenbilds gut vertraut gewesen sein. Freilich wurde wohl auch das eine oder andere Element vom Verhörpersonal suggeriert. Aber Maria hat das Geständnis freiwillig begonnen und ohne erkennbare Gegenwehr – gefoltert wurde sie nie – zu Ende geführt. So machte sie vielschichtige und z. T. stark alltagsferne Imaginationen zu ihrer eigenen Geschichte. Dadurch bestätigte sie das herrschende Hexenbild als Realität. Zugleich versah sie ihr Geständnis jedoch mit ungewöhnlichen Elementen, auf die weiter unten eingegangen werden
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wird. Für diese konnte aber dann konsequenterweise analoger Realitätsgehalt postuliert werden. Maria gab an, sie sei vor vier Jahren, also als Zwölfjährige, zum Teufelspakt verführt worden. Später verwickelte sie sich in einen Widerspruch, als sie gestand, schon früher Magie ausgeübt zu haben. Sie verbesserte sich und erklärte, doch schon mit neun Jahren eine Hexe geworden zu sein; sie habe sich bei ihrer ersten Aussage nur wegen dieses sehr frühen Vergehens geschämt. Maria sagte, sie sei von Hans Roßnagel, bei dem sie Dienst tat, sehr schlecht behandelt worden, so dass sie habe hungern müssen. Daher habe sie sich von Roßnagels Tochter Margarethe – die schon 1612 verbrannt worden war – mit dem Versprechen, es werde ihr bald besser gehen, in deren Zimmer locken lassen. Margarethe schärfte ihr ein, still zu sein, sie »woll ihr schon gut Sach machen« und rief einen Dämon. Dieser erschien in grauen Kleidern und mit einem Ziegenfuß. Er versicherte, Maria helfen zu wollen und machte ihr ein Geldgeschenk. Freilich nicht ohne Gegenleistung: Sie musste versprechen, sich ihm anzuschließen. Indem der Dämon sie an die rechte Achsel fasste, gab er ihr das Hexenmal. Dann zwang er Maria zum Geschlechtsverkehr, bei dem er und Margarethe das Kind gewaltsam am Schreien hinderten. Danach musste das Mädchen sich von Gott und den Heiligen lossagen; Gebete und gute Werke wurden ihr vom Dämon verboten. Die Schilderung rief also Pakt und Buhlschaft aus dem dämonologischen Hexenmuster ab und ließ sie ineinander übergehen. Die drei anderen Elemente –Flug, Hexensabbat und Schadenszauber – folgten dann rasch gemeinsam in der ausführlichen Schilderung eines Treffens der Hexen. Später kam der Dämon zurück und verlangte Margarethe und Maria auf, zum Hexentanz zu kommen. Sie schmierten eine Heugabel im Namen des Teufels mit einer Zaubersalbe ein, stiegen nackt darauf, sprachen die übliche Formel »Wohlhinaus in des Teufels Namen« und folgen zum Dachfenster hinaus. Maria sagte aus, sie hätten während des Fluges nicht sprechen dürfen. Hier verwandte das Kind das bekannte Motiv des rituellen Schweigens bei magischen Praktiken falsch; zur Hexenflugvorstellung gehörte üblicherweise nur, dass die Hexe abstürzte, wenn sie – unwillkürlich in Schreck oder Überraschung – den Namen Gottes aussprach. Auch beim He-
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xensabbat angekommen durfte das Mädchen seiner Aussage nach »nichts reden und nichts schreien.« Maria traf alte und junge Frauen beim Tanz, zu dem ein »Pfeifer«, zu verstehen als Dudelsackspieler, die Musik machte. Nach diesem gespenstischen schweigenden Tanz erzwang der Dämon wieder den Geschlechtsverkehr. In Marias Aussage war ihr Buhlteufel kein verführerischer dämonischer Liebhaber, sondern bestenfalls die grause Karikatur eine gewalttätigen dominierenden Partners. Dennoch fand sich in ihrer Aussage das groteske Detail, dass die Hexen eifersüchtig darauf achteten, welche den am besten gekleideten dämonischen Begleiter – der wie ein »Edelmann« daherkam – hatte. Offenbar übernahm Maria in ihre Aussage Elemente des Alltags junger Frauen, die sich über das Aussehen von Männern unterhielten und um besonders attraktive – gutaussehende und vermögende – Partner konkurrierten. Auf dem Sabbat wurde Maria dann mit Wasser übergossen, in das ihr Urin gemischt worden war: So wurde sie im Namen des Teufels neu getauft. Mit der ekelhaften Parodie des kirchlichen Rituals sollte der Pakt bestätigt und der Übergang aus der christlichen Welt, der Welt des Alltags, in die Hexenwelt vollends vollzogen werden. Entsprechend erhielt Maria einen neuen Namen, quasi eine neue Identität: Der Teufel nannte sie »Tauber«. Dieser Name ist schwer zu deuten, er gehörte nicht zu den üblichen magischen Namen von Teufeln und Teufelsbündlern. Vermutlich ist er einfach ein grotesker Unsinn, der dem Mädchen direkt in der Verhörsituation einfiel. Das Festessen der Hexen bestand aus einem »halben Kind«, das auf einem stinkenden blauen Feuer gebraten wurde. Die Kinderleiche hatten die Hexen von einem Friedhof gestohlen. Die Reste des kannibalischen Mahls wurden noch beim Hexensabbat zu Salbe verkocht und als Zaubermittel an die Teilnehmerinnen ausgeteilt. Die Hexen machten gemeinschaftlich Wetter. Maria sagte aus, sie habe sich an Hostienschändungen beteiligt: Sie habe das eucharistische Brot einen »Juden und Ketzer gescholten«, zertrampelt und mit Nadeln durchbohrt. Die Hostie habe darauf zu bluten begonnen. Hier tauchte ein Element aus Mirakelgeschichten im Hexengeständnis auf: Das Motiv, dass Hostien bluten oder die Gestalt von Fleisch annehmen, wenn sie bewusst verunehrt werden oder die Wirklichkeit der eucharistischen Wandlung in Zweifel ge-
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zogen wird, war von den Legenden der Kirche weit verbreitet worden. Maria gestand, dass sie Menschen und Vieh durch Zauberei krank gemacht oder sogar getötet hätte. Gerade auch Kinder gehörten angeblich zu den Opfern der Sechszehnjährigen. Einem kleinen Mädchen etwa hätte sie Hexensalbe auf die Herzgegend geschmiert, nachdem sie magisch in seine Bettkammer eingedrungen war und es mit einem Schlafzauber belegt hatte. Das Kind starb kurz darauf. Der Teufelspalast: Untypische Elemente eines Hexengeständnisses In allen wesentlichen Zügen entsprach Maria Ostertegins Aussage bis hier einem üblichen Hexengeständnis. Die blutende Hostie war ein ungewöhnliches Detail, sie kann jedoch, wie gesagt, aus der kirchlichen Überlieferung erklärt werden. Auch wenn das Geständnis auf moderne Leser vielleicht halb grauenhaft, halb komisch wirkt: Es handelte sich um eine offizielle Aussage vor einem Kriminalgericht, die von den Zeitgenossen absolut ernst genommen wurde. Keinerlei sichtbaren Widerspruch erregte auch ein äußerst unübliches Element in der Aussage des Mädchens. Maria griff dabei eine sehr merkwürdige Vorstellung auf, die bereits 1612 von zwei Prozessopfern geäußert worden war. Hingerichtete Hexen starben nicht wirklich. Sie zeigten sich wieder beim Sabbat. Maria Ostertegin gab zuerst an, beim Hexentanz Komplizinnen beobachtet zu haben, die genau zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis saßen. Aber auch bereits exekutierte Hexen wollte sie später wieder beim Sabbat gesehen haben. Die Dämonen erklärten den Hexen, dass die Justiz ihnen nichts anhaben könne: »Es geschehe keiner nichts, wenn man schon die Köpf abschlage. [Die Hinrichtung] seie nur ein Blendwerk, denn sie kommen allesamt wieder zu ihnen [auf den Hexentanz].« Diese groteske Aussage machte die Hexenprozesse zur Farce. Natürlich konnten die Behörden diese Angaben als Kombination von Dämonenspuk und einfachen Lügen, mit denen der Teufel seine Anhänger beruhigte, erklären. Marias Aussage scheint diese Möglichkeit bewusst offengehalten zu haben: Die Niederschrift ih-
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rer Angaben formulierte, die inhaftierten bzw. toten Hexen seien auf dem Sabbat den übrigen Anwesenden von den Dämonen »gezeigt« worden. Das mag man als Anspielung auf die Fähigkeit der Dämonen, bei Menschen Halluzinationen auszulösen, verstehen. Vielleicht verdankt sich diese Formulierung sogar einem bewussten Eingriff des Verhörpersonals. Aber Zweifel mussten bleiben. Wenn man bereit war, die Angaben von Hexereiverdächtigen als Realität anzuerkennen, konnte man ein solch wichtiges Element schwerlich ausblenden. Nach der Logik des Hexenglaubens und der Hexenprozesse selbst war hier der Sinn der Verfolgungen insgesamt in Zweifel gezogen worden. Auch wenn man sich auf dämonische Halluzinationen herausreden mochte, die Behörden mussten quasi offiziell zur Kenntnis nehmen, dass die Hexenprozesse komplett ins Leere laufen könnten: Was sollten die Prozesse, wenn verhaftete und selbst hingerichtete Hexen zurückkamen zum Hexentanz, um weiter mit ihren Komplizen Unheil zu verüben? In der Folgezeit verdichteten sich in Ellwanger Prozessen die Angaben zur Wiederkehr toter Hexen. Tatsächlich erweitere sich das Motiv drastisch. In den Aussagen der Verdächtigen war dann immer wieder die Rede vom Teufelspalast. Das war ein bizarrer Hexenhimmel, in dem der Teufel seinen Anhängern ein herrliches Leben nach dem Tod bot. Wenn man diese Angaben, die getreulich zu den Akten genommen wurden, ernst nahm, mussten sie für die Hexenverfolger bedeuten, dass sie gar nichts erreichten: Weder wurde durch die Prozesse den Dämonen und Hexen effektiv Einhalt geboten noch wurden die Seelen der Verurteilten gerettet.8 Natürlich konnte man versuchen, diese Angaben mit dem Totschlageargument wegzuwischen, dass dies alles nur von Dämonen verursachte Hirngespinste seien. Aber damit beschädigte man letztlich die Prozesse selbst: Wenn diese Angaben zum Teufelspalast auf Einbildung beruhten, welchen Teil des Geständnisses einer Hexe sollte man dann noch akzeptieren? Wie legitim konnte es sein, Menschen für ihre fantastischen Einbildungen – auch wenn sie sich diese vom Teufel eingeben ließen – zum Tod zu verurteilen? Diese Fragen waren umso prekärer, als radikale Gegner der Hexenverfolgung stets 8
Mährle, Armen, S. 435.
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erklärt hatten, alle Aussagen vermeintlicher Hexen beruhten bloß auf Sinnestäuschungen. Maria gab weiter an, Gewissensbisse wegen ihrer Verbrechen empfunden zu haben. Die anderen Hexen hätten versucht, sie zu beschwichtigen. Der Dämon habe sie mit dem Tod bedroht, als sie überlegte, ihre Vergehen zu beichten. Als sie sich wenige Wochen vor ihrem Geständnis schließlich weigerte, ein weiteres Kind zu töten, wurde sie von ihrem Buhlteufel schwer misshandelt. Ihre Hilferufe wurden von ihrer Dienstherrin gehört. Von dieser am Tag danach zur Rede gestellt, schwieg Maria Ostertegin. Die Frau gab ihr jedoch ein christliches Amulett, das sie bei sich tragen sollte. Seither habe sie den Dämon nicht mehr gesehen. Um was für ein Amulett es sich handelte, geht aus der Quelle nicht hervor: Denkbar wäre ein ›Breverl‹, ein zusammengefaltetes Stück Papier oder Stoff mit Gebeten, Heiligenbildchen und geweihten Gegenständen darin. Denkbar wäre auch eine der bis heute weit verbreiteten Benediktmedaillen, vielleicht sogar ein Agnus Dei, ein geweihtes Wachsbildchen des Lammes Gottes. Damit, dass sie dieses Amulett trug, begann nach der Aussage Marias ihre Abkehr vom Hexenwesen. Sie erklärte vor den Behörden, sich vor der Rückkehr des Dämons zu fürchten. Dass sie sich selbst der Hexendeputation stellte, war für Maria Ostertegin nach ihrer eigenen Aussage ihr einziger Ausweg aus dem Leben als Hexe. Freilich war es zugleich angesichts der Ellwanger Verfolgungspraxis der sichere Tod. Ursachen und Folgen Hinweise auf stark unterdurchschnittliche Intelligenz bietet die Aussage des Mädchens nicht. Maria Ostertegin wusste mit großer Sicherheit, dass ein Hexengeständnis in Ellwangen zu dieser Zeit nur den Tod bedeuten konnte. Die Motive für die Selbstbezichtigung bleiben im Dunkeln. Die Sechszehnjährige sprach davon, lange sehr traurig gewesen zu sein. Haben wir es mit einem indirekten Selbstmord einer depressiven Jugendlichen zu tun? Seit den 1980er Jahren wird die Selbsttötung durch Provokation bewaffneter Polizisten diskutiert, bekannt geworden unter dem etwas ordinären Begriff ›Suicide by Cop‹ (Selbstmord durch einen
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›Bullen‹).9 Gemeint ist, dass Personen, die sterben wollen, Polizisten attackieren, um von diesen, die sich wegen des Angriffs in einer Notwehrsituation wähnen, getötet zu werden. Der Selbstmörder benutzt quasi die überlegene Bewaffnung und das Training des Polizisten, die ihm einen sicheren und raschen Tod garantieren sollen. Der selbstzerstörerische Zynismus, der hier dem Gewaltopfer unterstellt wird, erscheint so grauenhaft und absurd, dass es zunächst schwerfällt, ihn als Erklärung der Tötung zu akzeptieren. Sicherlich muss berücksichtigt werden, dass allzu große Gewaltbereitschaft einzelner Polizisten oder Fehleinschätzungen einer Bedrohungslage durch diese mit dem Argument ›Suicide by Cop‹ vertuscht werden können. Gleichwohl muss entsprechend der Forschung davon ausgegangen werden, dass Menschen in schweren Ausnahmesituationen tatsächlich zu dieser Methode der Selbsttötung greifen. War der Fall Maria Ostertegin eine Variante des ›Suicide by Cop‹? Wollte das Mädchen sterben und ließ es sich deshalb ganz bewusst von den Behörden töten? Das freiwillige Hexengeständnis könnte man als ›Provokation‹ sehen, auf die die Ellwanger Justizbehörde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem Todesurteil reagieren würde. Wenn dem so war, bleiben die Motive für diese groteske Art der Selbsttötung im Dunkeln. Das kann freilich nicht überraschen. Einmal wegen der eingeschränkten Quellenlage. Zum anderen angesichts der schlichten Tatsache, dass auch in unserer Gegenwart die Motive von Suizidanten selbst diesen nahe stehenden Personen oft rätselhaft bleiben. Was waren die Konsequenzen des Geständnisses der Sechszehnjährigen? Die Bedeutung des Prozesses gegen Maria Ostertegin für die Ellwanger Hexenprozesse erscheint zunächst ambivalent. Wieso sie erklärte, dass Haft und Hinrichtung den Hexen nichts anhaben konnten, muss offen bleiben. Wollte sie damit gezielt die Ellwanger Verfolgungen ausbremsen? Erfolgte die Selbstanzeige vielleicht auch, um mit der Angabe über die Sinnlosigkeit der Verfolgungen Sand ins Getriebe der Verfolgungsmaschinerie zu streuen? Eine solche Deutung wäre stark überzogen: Nichts deutet darauf hin, dass das Mädchen die Lage genügend überschaute, um auf einen solchen 9
Heubrock, Polizeiliche.
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Plan zu verfallen. Gegen die Annahme einer planvollen Störung des Verfolgungsablaufs spricht auch, dass die Vorstellung von der Wiederkehr toter Hexen in Marias Geständnis nicht stark betont wurde und dass es diese Vorstellung, wie gesagt, schon vor ihrer Selbstanzeige gab. Das Kind gab wohl nur wieder, was ihm aus zwei Geständnissen von 1612 über die Fortexistenz hingerichteter Hexen bekannt geworden sein mochte. Dass Maria damit zumindest mittelfristig dazu beitrug, die Verfolgungen zu delegitimieren, war ihr wahrscheinlich gar nicht bewusst. Genau zu dem Zeitpunkt, an dem Maria sich selbst anzeigte, bremste ihre Aussage die Verfolgungen durchaus nicht. Die Zeitgenossen sahen zunächst von dem merkwürdigen Teilaspekt des Geständnisses, der Wiederkehr der toten Hexen, ab. Sie werteten vor allem das Geständnis als solches. Zuerst und vor allem war hier eine Hexe aufgetreten, die sich offenbar ohne jeden Zwang zu ihren Verbrechen bekannte. Die Befürworter der Verfolgung sahen den Fall Ostertegin als Bestätigung, dass sie das Richtige taten. Der sperrige Hinweis auf das Erscheinen der toten Hexen trat demgegenüber in den Hintergrund. Die Bestätigung, dass die Verfolgungen richtig waren, war im Hochsommer 1613 besonders willkommen. Der neue Fürstpropst Johann Christoph II. von Freyberg und Eisenberg hatte zwar keine Freilassungen oder Freisprüche angeregt, jedoch bei seinem Amtsantritt Hexenhinrichtungen zunächst aussetzen lassen. Sicherlich hätte aus dem Moratorium schwerlich ein Verfolgungsabbruch werden können. Aber Ellwangen verharrte zu dieser Zeit quasi: Dieses Innehalten unterbrach die Kette der Aburteilungen und Hinrichtungen, die zwei Jahre zuvor begonnen hatte und bis zu diesem Zeitpunkt praktisch pausenlos durchgelaufen war. Dann erst fiel die Entscheidung: Im Juli 1613 begann eine neue Exekutionswelle. Maria stellte sich den Behörden genau einen Tag vor dem Termin, auf den die ersten Hinrichtungen der neuen Prozessserie angesetzt worden waren. Marias Selbstbezichtigung war nicht der allererste Beginn einer neuen Verfolgungswelle. Aber sie bestätigte quasi, dass die Entscheidung, die Hinrichtungen wieder aufzunehmen, richtig gewesen war. Nun konnte nicht mehr bezweifelt werden, dass es keine Alternative zu rigorosen Verfolgungen gab. Die Verfolgungswelle lief von nun an ungebremst weiter.
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Einen Monat nach der Hinrichtung Marias verlieh ein die Prozesse beobachtender Kleriker der Sechszehnjähigen geradezu heroische Züge als reuiger Sünderin: »Gott hat uns besonders getröstet durch ein Mädchen, … das die Nachstellungen des Teufels nicht länger ertragen [konnte] und [dieses Mädchen] stellte sich freiwillig zur Haft: unter Tränen erklärte es, lieber Tod und Brandpfahl als noch länger die Tyrannei des Teufels ertragen zu wollen. Stehend empfing es den Todesstreich.«10 Auch wenn mittelfristig der Gedanke der Rückkehr toter Hexen die Verfolgungen fragwürdig gemacht haben mag, so rechtfertigte die Selbstanzeige Marias doch kurzfristig die Prozesse. Maria Ostertegin wurde fünf Wochen nach ihrer Selbstanzeige geköpft, ihr Leichnam verbrannt. 3.3. Kinderhexen und Hexenverfolgung ›von unten‹: ein Leben unter Hexereiverdacht – Maria Ulmerin, Rottenburg am Neckar, 1594–1608 »Weil sie so viel Hagel haben …« Winzer, Stadtrat, Herrschaft und Hexen Maria Ostertegin wurde fünf Wochen nach ihrer Selbstanzeige exekutiert. Eine deutlich größere Gefahr für die Intensivierung einer Hexenverfolgung bestand dann, wenn eine Selbstbezichtigung kombiniert mit Denunziationen über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden konnte. Maria Ulmerin und ihre Schwester denunzierten zuerst kontinuierlich zwei Jahre lang vermeintliche Hexen in Rottenburg am Neckar. Das war für Maria aber nur der Beginn einer langen, alptraumhaften Laufbahn als Hexendenunziantin.11 Marias Denunziationen sorgten in einer unübersichtlichen und explosiven Situation, zu der bereits erste Hexenverfolgungen gehörten, für die Wende zum noch Schlimmeren. Rottenburg am Neckar 10 Mährle, Arme, S. 381–382; Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, 4 Bde., Freiburg i. B. 1907–1928, Bd. 2/2, S. 489. 11 Alles Folgende zum Fall Ulmerin nach Dillinger, Böse, S. 251–254, 293–294, 387–391; Dillinger, Hexenverfolgungen, S. 43–64, 105–112. Alle wörtlichen Zitate werden dort nachgewiesen.
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war die Hauptstadt der katholischen Grafschaft Hohenberg. Hohenberg gehörte seit dem späten 14. Jahrhundert zum Herrschaftsraum der Erzherzöge von Tirol. Der zentrale Regierungssitz war Innsbruck, rund 300 km von der Provinzhauptstadt Rottenburg entfernt. Die habsburgischen Territorien im Süden der heutigen Bundesrepublik Deutschland waren als Vorderösterreich im Schwarzwaldraum und als Schwäbisch-Österreich im Bereich Neckar, Alb, Bodensee bekannt. Diese Gebiete waren notorisch schlecht organisiert. Die Innsbrucker Regierung hatte gerade im ausgehenden 16. Jahrhundert wenig reale Macht vor Ort. In Hohenberg war der oberste Vertreter der habsburgischen Herrschaft der Statthalter mit Sitz in Rottenburg. Seit 1571 regierte Christoph Wendler von Bregenroth im Namen der Habsburger als Statthalter. Wendler war ein sozialer Aufsteiger, der es durch günstige Eheverbindungen und Korruption sehr rasch zu einem riesigen Vermögen gebracht hatte. Wendler verfolgte weder konsequent die Interessen der Innsbrucker Regierung noch die der Stadt Rottenburg. Es lavierte auf den eigenen Vorteil bedacht zwischen beiden. Wendlers Ruf war entsprechend schlecht. Der Statthalter »laß … sich schmirben wie ein Stiffl balg« [= lasse sich schmieren wie Stiefelleder], hieß es in Rottenburg. Dem Statthalter unterstand der Schultheiß. Dieser führte als Ankläger und Vorsitzender des Gerichts alle Kriminalprozesse. Von 1569 bis 1605, während der Hauptphase der Hexenverfolgungen, amtierte in Rottenburg Johann Georg Hallmayer als Schultheiß. Dass Amtsträger der lokalen Gerichte keine juristische Ausbildung hatten, war im 16. Jahrhundert durchaus üblich. Hallmayer scheint übliche Standards der Amtsführung aber noch deutlich unterboten zu haben. Die Zeitgenossen kritisierten ihn für sein Desinteresse an seinem Amt. Zu Gerichtsterminen ist er häufig gar nicht erschienen. In Rottenburg hielten sich Gerüchte, nach denen der Schultheiß vermeintliche Hexen im Gefängnis sexuell ausnutzte und vergewaltigte. Die Stadtknechte verbreiteten, eine verhaftete Hexe habe sie gefragt: »Was habt ihr für einen Schultheißen? Er hätte eine gute Hebamme abgegeben.« Hallmayer war unter dem grauenhaften Spottnamen »der Hexenlieger« bekannt. Bei Kriminalprozessen hatte der Stadtrat entscheidende Mitspracherechte. Der Schultheiß musste mit ihm kooperieren. Aus
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dem Rat rekrutierten sich die ›Untersuchungsrichter‹ und die Urteilssprecher, die unter dem Vorsitz des Schultheißen die Ermittlungen in Strafverfahren leiteten, Verdächtige und Zeugen verhörten und schließlich als Richter das Urteil fanden. Die Hohenberger Stadträte waren außerordentlich mächtig. In Rottenburg konkurrierten sie mit dem herrschaftlichem Statthalter um Einfluss. Die weit entfernte Regierung in Innsbruck nahm diesen Streit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kaum wahr. Eingriffe zugunsten der eigenen Amtsträger blieben zunächst ebenso aus wie Maßnahmen gegen deren Korruption. Die Hohenberger Stadträte waren nicht nur mächtig. Sie waren auch sehr personalstark. Der Stadtrat Rottenburgs hatte 48 Mitglieder, von denen die Hälfte als Kleiner Rat das Entscheidungszentrum bildeten. Die Mitglieder des Stadtrats bildeten in Rottenburg keine herausgehobene Oberschicht von außerordentlich vermögenden Personen. Vielmehr waren hier auch Angehörige der Mittelschicht, insbesondere auch viele der in Rottenburg lebenden Winzer vertreten. Diese gute politische Repräsentation der Mittelschicht war sicherlich keine Demokratie, garantierte aber doch außerordentlich gute Mitsprachemöglichkeiten für die einfachen Bürger. Genau diese Mitsprache, nicht die fragwürdige Besetzung der Ämter von Statthalter und der Schultheiß, wurde zum Einfallstor schwerster Hexenverfolgungen. Rottenburg war eine Ackerbürgerstadt, d. h. viele ihrer Einwohner arbeiteten als Landwirte. Viele dieser Landwirte waren Winzer. Der Weinbau dominierte Rottenburgs Wirtschaft. Ab etwa 1580 geriet der Weinanbau in eine schwere Krise. Rottenburg erlebte eine Serie von witterungsbedingten Missernten. Die Winzer, die großenteils in Zwergbetrieben wirtschafteten, sahen ihre Existenz bedroht. Der wirtschaftliche Einbruch wurde sehr drastisch erlebt. Die Krise ließ sich nicht mehr beheben. Sie war keine Episode, sondern der Beginn einer Umstrukturierung von Rottenburgs gesamter Wirtschaft: Anfang des 18. Jahrhunderts war die Winzerei im ehemaligen Weinort Rottenburg bedeutungslos geworden. In den Quellen erscheinen die Rottenburger Weinbauern als treibende Kraft der Hexenverfolgung.12 Ihre soziale Krise schuf den 12 Vgl,. dazu Dillinger, Hexenverfolgungen, S. 81–93.
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Nährboden von Aggressivität und Unsicherheit, auf dem Hexereivorwürfe gedeihen konnten. Aber es bestand auch ein direkter Zusammenhang zwischen der Weinbaukrise und den Hexenprozessen. In Hohenberg, tatsächlich in weiten Teilen des Alten Reichs, dachte man sich Hexerei wesentlich als Wetterzauber. Hexen sollten die Weinernten verdorben haben, indem sie magisch schlechtes Wetter hervorgerufen hatten. Ein Kälteeinbruch im Frühling oder ein Sturm konnte dem extrem witterungsanfälligen Wein leicht sehr gefährlich werden. Die Winzer sahen sich als Opfer der Hexen. Wetterereignisse, die ihre Ernte bedrohten, führten sie unmittelbar auf das Wirken der Hexen zurück. Mehr noch: In Hohenberg wurden gute und schlechte Weinjahre direkt mit der jeweiligen Aktivität der Teufelsbündler erklärt. Ein Rottenburger Weingärtner brachte den Verfolgungswunsch, den er mit seinen Berufsgenossen teilte, 1605 auf den Punkt: Sie verlangten, »weil sie so viel Hagel haben, von Obrigkeit wegen die Hexenweiber zu fangen.« Dass die Einwohner Hohenbergs sich eine sehr enge Verbindung zwischen Missernten beim Wein und dem Wetterzauber der Hexen dachten, war eine extreme, aber keineswegs untypische Ausprägung der Hexenvorstellung. Tatsächlich erlebten die meisten deutschen Weinbaugebiete schwere Hexenverfolgungen. Die Weingärtner konnten auf den Stadtrat von Rottenburg Einfluss nehmen bzw. waren in ihm vertreten. Dieser Stadtrat entwickelte sich zur institutionellen Speerspitze der Hexenverfolgung. Stadtratsmitglieder als Verhörpersonal und Richter setzen sich für härtestes Vorgehen gegen Verdächtige ein. Die Regeln des Strafverfahrens ignorierte der Stadtrat. Auch nach den Maßstäben des 16. Jahrhunderts waren die meisten Rottenburger Hexenprozesse illegal: Aufgrund von Denunziationen und äußerst fadenscheinigen Indizien wurden Verdächtige gefoltert. Der Stadtrat setzte durch, dass die Besagungen von vermeintlichen Komplizen der Hexen öffentlich bekannt gemacht wurden. Mit seinem Verfolgungseifer, der möglichst rasch möglichst viele Verdächtige aburteilen wollte, geriet der Stadtrat in Spannung zu Statthalter Wendler von Bregenroth. Dieser teilte die Verfolgungswut von Stadtrat und Weingärtnern nicht. Der Statthalter scherte sogar aus dem großen Konsens über den zentralen Gedanken der Hohenberger Hexenjagd aus: Den
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Zusammenhang zwischen Missernten und Hexerei bestritt er offen. Aber Wendler setzte sich nicht für einen Abbruch der Verfolgungen ein. Der Statthalter verhielt sich passiv. Aus seiner inaktiven Zurückhaltung wurden nie aktive Maßnahmen gegen die Verfolgungen. Das genügte aber bereits, um Wendler schwerer Kritik durch die Rottenburger auszusetzen. Erst als der Stadtrat schließlich sogar damit drohte, Hexereiverdächtige ohne ordentliches Verfahren zu töten, faktisch also zu lynchen, fand sich Wendler endlich bereit Strafen zumindest anzudrohen. Dass Wendler es auf einen Konflikt mit dem Stadtrat ankommen ließ, hatte drei Gründe. Zum einen musste Wendler fürchten, dass die Innsbrucker Regierung über die Hohenberger Hexenjagd näher informiert wurde. Der Regierung lagen nur bruchstückhafte Informationen über die Verfolgungen vor. Sie hatte zunächst keine Ahnung von deren Ausmaß. In Innsbruck herrschte echte Zurückhaltung bezüglich Hexenprozessen. Die erzherzogliche Regierung bestand stets darauf, dass die Maßgaben des Reichsrechts in Hexereiverfahren beachtet wurden. Das war in Rottenburg klar nicht der Fall. Wendler rechnete vermutlich damit, dass ein gewisses Maß an Hexenprozessen unbeachtet bleiben würde; Exzesse, wie die auf die der Stadtrat zusteuerte, würden aber früher oder später die kritische Aufmerksamkeit Innsbruck doch auf den Plan rufen. In dieser Konstellation war es allemal sicherer, sich von den harten Verfolgungsbefürwortern vor Ort zu distanzieren. Der zweite Grund dürfte wichtiger gewesen sein. Wendlers Korruption erstreckte sich auch auf den Umgang mit Hexenprozessen. Er hatte Hexereiverdächtige aus der Oberschicht gewarnt und flüchten lassen. Schon um überhaupt noch seine schützende Hand über seine Klientel halten zu können, konnte Wendler an einer weiteren Intensivierung der Hexenverfolgung nicht interessiert sein. Schultheiß Hallmayer unterstützte Wendler hier. Er manipulierte Prozessunterlagen, um ihm und dem Statthalter nahestehende Personen, die als Hexen denunziert worden waren, zu schützen. Wohlgemerkt: Es ging hier bloß um Korruption, nicht um den Versuch, generell Verdächtige vor Anklagen zu bewahren. Der dritte Grund für Wendlers passive Haltung war, dass Hexereiverdächtigungen seine eigene Familie betrafen. Seine Schwiegermutter, Barbara Lutz, war in Rottenburg als Hexe verschrien.
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1594 befand sich Rottenburg somit in einer prekären Lage. Zwar hatte es schon eine Reihe von Hexenprozessen gegeben. Der Stadtrat als Sprachrohr der Winzer und die Stadtbevölkerung insgesamt verlangten jedoch noch mehr Verfahren und ein noch bedenkenloseres Vorgehen gegen alle Verdächtigen. Die Beamtenschaft verhielt sich unschlüssig passiv, verhinderte so aber noch schwerere Verfolgungsexzesse. Erst mit dem Auftreten zweier Kinderhexen kippte die Situation zugunsten der entschiedenen Verfolgungsbefürworter. Verwaltungsspitze unter Hexereiverdacht Im Jahr 1594 wurden Maria Ulmerin und ihre namentlich nicht bekannte jüngere Schwester erstmals aktenkundig. Sie waren damals zehn und sieben Jahre alt. Die beiden Kinder dürften Waisen gewesen sein. Sie waren im Rottenburger Spital untergebracht. Das Gebäude hat sich übrigens bis heute erhalten. Das Spital war kein Hospital im modernen Sinn, kein Krankenhaus. Es war eine städtische Einrichtung, in der Arme und Kranke, die nicht für sich selbst sorgen konnten, untergebracht wurden. Man erwartete von ihnen leichte Arbeit. Neben diesen so genannten Armen Pfründnern beherbergte das Spital aber auch Reiche Pfründner. Bei diesen handelte es sich um Personen aus wohlhabenden Familien, die sich in das Spital ähnlich wie in ein modernes Altenheim zurückgezogen hatten. Sie brauchten nicht zu arbeiten, sondern bezahlten für ihre Unterbringung und Versorgung, die bei ihnen natürlich sehr viel besser als bei den Armen Pfründnern ausfiel. Nirgendwo in der Stadt prallten soziale Gegensätze so direkt und so drastisch aufeinander wie im Spital. Es verwundert nicht, dass es in Rottenburg eine Reihe von Hexereiverdächtigungen gegen Spitalinsassen gegeben hatte. Mehr noch: Die Hexen sollten sogar im Spital tanzen. Ein bewohntes Gebäude mitten in der Stadt war als Hexentanzplatz völlig unüblich. Das zeigt, dass das Spital von Rottenburg als ein sehr ›hexennaher‹ Ort gedacht wurde. Wann genau und wieso Maria Ulmerin begann, über Hexen zu sprechen, geht aus den Quellen nicht hervor. Im Spital dürfte sie sehr viel zu diesem Thema gehört haben. Ab dem Sommer 1594 behaupteten sie und ihre Schwester, Hexen hätten sie gegen ihren
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Willen zum Hexentanz mitgenommen. Zeitweilig führten sich die Mädchen auf, als seien sie von Dämonen besessen. Die Kinder äußerten eine Vielzahl von Besagungen, die sich zunächst gegen Personen aus ihrer nächsten Umgebung, Spitalinsassinnen richteten. Die Vertreter der Obrigkeit nahmen erste Verhaftungen vor. Auf Seiten der Beamten, besonders wohl bei Wendler, bestand aber dennoch eine gewisse Skepsis gegenüber den Besagungen der Kinder. Sie holten ein juristische Gutachten ein, das zwei Justizbeamte benachbarter Territorien und ein Juraprofessor von der nahen Universität Tübingen verfassten. Die Gutachter sollten sich konkret zu den Fällen von fünf Frauen äußern, die von den Spitalmädchen als Hexen angegeben worden waren. Die Juristen versahen ihre Stellungnahme mit dem makaber-launigen Titel »Neue Ratschläg alte Hexen zu zuerziglen (= zu zügeln].« Das Gutachten war verheerend. Es erklärte, dass die Denunziation durch die Kinder allein ausreichte, um ein Ermittlungsverfahren gegen völlig unbescholtene Leute zu eröffnen. Wenn die Kinder eine Person besagten, die schon einmal von anderen denunziert worden war, oder eine Person, die sich in irgendeiner Weise verdächtig verhalten hatte, rechtfertigte das direkt die Anwendung der Folter. Hexereiverdächtig war nach Ansicht der Gutachter dabei schon jeder, der einer Person, die kurz darauf unerwartet verstarb, körperlich nahe gekommen war. Die Gutachter empfahlen also nicht nur, die Denunziationen der Kinder ernst zu nehmen. Sie machten sie letztlich zum entscheidenden Indiz. Die fünf Frauen dürften hingerichtet worden sein. In den folgenden Jahren sind die Besagungen der beiden Spitalmädchen immer als unbedingt zuverlässig erinnert worden. Die Jahre 1595/96 brachten den Höhepunkt der Hexenverfolgung in Rottenburg. Es fanden mindestens 52 Verfahren statt, von denen wenigstens 50 mit Hinrichtungen endeten. An all diesen Prozessen waren die Spitalmädchen als Denunziantinnen beteiligt. Möglicherweise waren es sogar noch mehr Verfahren. Ein Stadtknecht konnte sich 1605 an etwa fünfzig Prozesse der Hauptverfolgungsphase entsinnen, bei denen die beiden Kinder nicht nur Hauptbelastungszeuginnen gewesen, sondern sogar – was unüblich war – den Verdächtigen gegenübergestellt worden waren. Ganz ähnlich haben sich auch an-
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dere Zeitzeugen jeweils an die Aussagen der Mädchen als Auslöser für eine Vielzahl von Hexenprozessen erinnert. Maria Ulmerin und ihre Schwester denunzierten auch Angehörige der Oberschicht als Hexen. Maria gab an, Wendlers Schwiegermutter Barbara Lutz und die Frau des reichen Martin Tesch wären auf dem Hexentanz erschienen. Sie hätten sogar ihre eigenen Becher und Löffel zum Hexenbankett mitgebracht. Zum Beweis zeichnete das Kind – »als wenn’s ein Maler« wäre – das Wappen der Lutz, so wie es dieses auf den Bechern gesehen haben wollte, auf. Die Reaktion von Schultheiß Hallmayer ist bezeichnend: »Darüber der Schultheiß es [= das Kind] mit starkem Zusprechen ermahnet, niemand Unrecht zu tun.« Zur Probe ließ Hallmayer eine Reihe von mit Wappen geschmückten Bechern kommen, aus der Maria Ulmerin die der Lutz ohne Mühe herausfand. Genauso erkannte sie das Wappen auf den Löffeln der Tesch wieder. Sicher, diese ›Tests‹ hatten äußerst geringe Aussagekraft. Ähnliche Versuche, Aussagen zu überprüfen, gab es in Rottenburger Hexenprozessen sonst aber gar nicht. Wir haben es hier mit einem genuinen Versuch, die Besagungen des Kindes zu widerlegen, zu tun. Dieser Versuch erfolgte allerdings nur im Sinn eines Selbstschutzes der Oberschicht. Dass der Schultheiß es nicht schaffte, Maria Ulmerin zu diskreditieren, wirkte als erneute Bestätigung ihrer Glaubwürdigkeit. Von nun an genügte in der Prozesspraxis Rottenburgs eine Hexereibezichtigung von Maria Ulmerin zu Verhaftung und Folter. Martin Teschs Frau wurde verhaftet und exekutiert. Wendler konnte seine Schwiegermutter Barbara Lutz nur noch vor einer Anklage schützen, indem er sie rechtzeitig warnte und ihr die Flucht ermöglichte. Von ihren ersten Denunziationen an folgten die Hexereianschuldigungen der beiden Spitalmädchen immer demselben Muster: Maria Ulmerin und ihre Schwester ›erfanden‹ nicht einfach Hexereibezichtigungen gegen beliebige Personen. Sie griffen bei ihren Beschuldigungen immer auf Hexereigerüchte gegen bestimmte Personen zurück, die in Rottenburg bereits umliefen. Ihre Aussagen wirken also nicht als Auslöser, sondern als – hocheffektive – Katalysatoren eines Hexereiverfahrens. Dieser Bezug auf jeweils schon bekannte Verdächtigungen ließ die Anschuldigungen der Mädchen natürlich von vornherein überzeugend wirken. Die Spitalmädchen
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bestätigten, was man bereits vermutet hatte. Daher fiel es meist leicht, ihre Anschuldigungen zu akzeptieren. Dass Wendler Barbara Lutz hatte entkommen lassen, brachte die Bürger seiner Stadt weiter gegen ihn auf. Wendler von Bregenroth, der korrupte Karrierist, der die Verfolgungen nicht aktiv vorantrieb und sogar Personen aus der Oberschicht vor Hexereianklagen zu schützen versuchte, sah sich bald mit mehr als nur harscher Kritik konfrontiert. Spätestens 1594 liefen Gerüchte um, nach denen er selbst ein Hexenmeister sei. Vermeintliche Hexen nannten nun, wenn sie im Prozess nach ihren Komplizen gefragt wurden, immer wieder den Namen des Statthalters. Zwar konnte Schultheiß Hallmayer verhindern, dass diese Bezichtigungen zu den Akten genommen wurden. Aber die Indiskretion des Verhörpersonals sorgte dafür, dass sich die Nachrichten von diesen Anschuldigungen in Rottenburg und Umgebung doch verbreiteten. Maria Ulmerin griff auch dieses Gerücht auf. Sie sprach offen davon, dass sie den Statthalter, also den mächtigsten Mann in Rottenburg und die Spitze der Hohenberger Verwaltung, denjenigen, der letztlich die politische Verantwortung für die Hohenberger Hexenverfolgung trug, auf dem Hexensabbat gesehen habe. In ihren Schilderungen präsentierte sie den Statthalter analog seiner beherrschenden gesellschaftlichen Stellung auch als Herrn der Hexen. Was das Mädchen über den Statthalter beim Hexentanz erzählte, machte schnell als Gerücht die Runde. Wendler sollte thronend auf einem flammenden Sessel dem Sabbat vorsitzen. Damit wurde er dem Teufel parallel gesetzt, der in bildlichen Darstellungen des Hexensabbats auf einem Thronsessel gezeigt werden konnte. Merkwürdig deplatziert erscheint Wendlers Ausstattung bei der Ankunft auf dem Sabbat: Er ritt auf einem weißen Pferd mit einem »Horn, daneben Stricke gehangen, wie die Jäger [mit sich] führen, und geblasen hab seltsam gelautet, sei ein seltsam krumm lang Horn gewesen«. Möglicherweise wurde Wendler hier analog dem Wilden Jäger, einer Spukgestalt der Volkssage, geschildert. Dieser gespenstische Jäger konnte regional mit ungeliebten Adligen identifiziert werden. Andere Verdächtigte wollten nun den Statthalter nicht nur gesehen haben, als er mit den anderen Hexen im Spital tafelte, der Hexentanz selbst sollte nun im Garten des Rottenburger Schlosses, Wendlers
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Amtssitz, stattgefunden haben. Wendler, der die letzte Verantwortung für die Hexenjagd trug, wurde hier quasi zum Gastgeber des Hexentreffens. Eine Manipulation der Aussagen der Spitalmädchen und anderen Belastungszeugen durch Wendler feindlich gesonnene Stadträte als Verhörrichter kann nicht ausgeschlossen werden, ist aber unwahrscheinlich. Gegen Personen, die wie Wendler großes Konfliktpotential auf sich vereinigten, bildete sich oft massiver und genuiner Hexereiverdacht. So bekannt wurden die Anschuldigungen gegen den Statthalter, dass sie sogar eine weitere Kinderhexe aus dem benachbarten Hechingen bestätigte. Wendlers Situation war schwierig: Da er nie aktiv gegen die Hexenprozesse, auch nicht gegen die mit den Spitalmädchen als Hauptzeugen vorgegangen war, konnte er nun schwerlich behaupten, dass die Aussagen der Kinder bedeutungslos seien. Die Mädchen zum Schweigen zu bringen, indem er sie überstürzt als Hexen hinrichten ließ, war auch unmöglich: Dazu hatte er schon zu lange gezögert. Der Stadtrat, der die Kinder als Denunziantinnen für die Fortsetzung seiner Hexenjagd wollte, hätte sich sicherlich gesperrt. Außerdem waren in Hohenberg bis zu diesem Zeitpunkt nie Kinder wegen Hexerei exekutiert worden. Dennoch durften die Anschuldigungen seitens der Spitalmädchen keinesfalls weitergehen, wollte Wendler die Kontrolle über die Situation nicht vollends und endgültig verlieren. Der Statthalter entschloss sich, die Kinder entfernen zu lassen. Er schlug vor, die Schwestern, die ja noch immer behaupteten, von Hexen zum Sabbat geführt zu werden und zeitweilig besessen zu sein, den Jesuiten von Konstanz zu übergeben. Diese sollten die Mädchen exorzieren und christlich erziehen, damit sie aus den Fängen des Teufels gerettet wurden. Obwohl dieser Vorschlag einer Bankrotterklärung des Rottenburger Klerus gleichkam, stimmten die Geistlichen zu. Sie machten den Spitalmädchen zum Abschied sogar ein Geldgeschenk. Es ist bezeichnend, dass der Stadtrat diese praktische Hilfe nicht gelten ließ und aus den Münzen Kruzifixe für die Kinder gießen ließ. Quasi päpstlicher als der Papst wollten die Hexenverfolger im Stadtrat das geistliche Wohl der Kinderhexen stärker als ihre materielle Versorgung akzentuieren. Dass der Stadtrat seine Hauptbelastungszeugen gehen ließ, bedeutet wohl,
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dass er selbstsicher genug war zu glauben, er könne auch ohne ihre Hilfe Hexen ausfindig machen. Von einem Abbruch der Prozesse war nämlich keine Rede. Die Stadt Konstanz erklärte sich bereit, die Hexenmädchen aufzunehmen. Die Kinder begleitete auf ihrem Weg in die Bodenseestadt nicht ein Stadtknecht, sondern der Landschreiber Walch, ein willfähriger Helfer Wendlers. Maria Ulmerin und ihre Schwester wohnten in Konstanz bei einer Frau, die sich darauf spezialisiert hatte, ähnliche Fälle zu beherbergen. Wanderungen und Heimkehr Was genau in Konstanz mit den Mädchen geschah, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Vermutlich wurde ein als erfolgreich angesehener Exorzismus durchgeführt. Den Hexereiverdacht wurden die Kinder jedoch nicht los. Der Aufenthalt in Konstanz scheint die beiden Waisenmädchen völlig entwurzelt zu haben. In den folgenden Jahren zogen sie ziellos durch den deutschen Südwesten. Der Hexereiverdacht begleitete sie überallhin. Rottenburg selbst war nur noch eine von vielen Stationen des Weges der Schwestern. Das jüngere der beiden Mädchen ist dort, vermutlich bald nach 1596, unter nicht näher bekannten Umständen infolge von Misshandlungen durch eine Aufsichtsperson verstorben. Maria Ulmerin zog allein weiter. Faktisch war sie zur Vagabundin geworden. An einer Reihe ihrer Aufenthaltsorte wurde Maria durch Rottenburger, die in den jeweiligen Städten arbeiteten, sofort wieder als Hexe verschrien. Nach einem kurzen Aufenthalt in Rottenburg ging Maria 1600 nach Straßburg, wo sie ein halbes Jahr als Magd eines Kürschners arbeitete. Diese vergleichsweise weitere Wanderung scheint nicht ungewöhnlich gewesen zu sein: In Straßburg traf Maria junge Männer und Frauen aus Rottenburg und Umgebung, die dort ebenfalls Dienst taten. Diese erkannten das ehemalige Spitalmädchen sofort wieder und verbreiteten erneut Hexereigerüchte um Maria. Von Straßburg aus ging Maria in die beiden Nachbarstätte Rottenburgs, zunächst nach Tübingen, dann nach Horb. In Tübingen arbeitete sie als Magd eines Scherers. Wie lange sie in diesen Städten blieb, lässt sich nicht mehr feststellen. 1602 und zu Beginn des Jahres 1603 war Maria in Freiburg im Breisgau. Auch dort begegnete sie wieder Per-
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sonen aus ihrer Heimat, die sofort das Hexereigerücht um sie neu belebten. Über die Hexenverfolgung in Freiburg war Maria in einem späteren Verhör gut informiert. Ab dem Sommer 1603 diente Maria bei einem Bäcker in einem Dorf nahe dem Hohenstaufen. Später behauptete Maria, sie habe in der Ruine der Burg der Staufer auf diesem Berg mit anderen Hexen getanzt. Sie gab auch an, sie habe während ihrer Zeit im Raum Hohenstaufen einen Bäckergesellen heiraten wollen; aus diesen Plänen sei aber nichts geworden. Obwohl sich Maria und ihre Schwester also ab 1595 meist außerhalb Hohenbergs aufhielten, hatten sie das soziale Vertrauen dort stark erschüttern können, und der bereits verbreiteten Hexenfurcht neue Nahrung geboten. Die Jahre 1595 bis 1603 bildeten den Höhepunkt der Rottenburger Hexenverfolgung. Im frühen Herbst 1604 kam Maria Ulmerin nach Rottenburg zurück. Sie war zu diesem Zeitpunkt um die zwanzig Jahre alt. Die Hälfte ihres Lebens hatte sie unter Hexereiverdacht gestanden und vermeintliche Mittäter denunziert. Wieder in ihrer Heimatstadt, dem Ausgangspunkt ihrer ›Karriere‹ angekommen, wurde Maria sofort wieder der Hexerei bezichtigt und besagte wieder angebliche Komplizen. Wendler und Hallmayer waren noch immer in ihren jeweiligen Ämtern. Sie waren jedoch so verletzlich wie noch nie zuvor. Christina Rauscher, eine Frau aus einer wohlhabenden Horber Familie, war über Jahre als Hexe verdächtigt, schikaniert, schließlich verhaftet und gefoltert worden. Nachdem ihre Freilassung hatte durchgesetzt werden können, bestürmte sie unablässig die Innsbrucker Regierung, endlich in die skandalösen Hexenverfolgungen von Hohenberg einzugreifen. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass Innsbruck schließlich ab 1604 eine Reihe von Untersuchungskommissionen nach Horb und Rottenburg entsandte. Diese sollten gegen die dortigen Missstände vorgehen. Sowohl der Stadtrat als auch Statthalter und Schultheiß sahen sich plötzlich unter scharfer Kontrolle. Mit der Anwesenheit Marias wurden die Denunziationen, die neben anderen sie vor Jahren gegen Wendler geäußert hatte, wieder intensiver erinnert. Während sich die Visitationskommissare noch in Rottenburg aufhielten, konnten die Aussagen von Maria Ulmerin erstmals schriftlich fixiert und offiziell zu den Akten genommen werden. Sie wiederholte ihre alten Sabbatschilderungen,
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ohne aber Wendler positiv zu identifizieren, und führte eine weitere beherrschende männliche Gestalt auf dem Hexentanz ein. Einen Monat nach der Abreise der Untersuchungskommissare, aber vor herrschaftlichen Beamten, die deren Vertrauen hatten und Gegner Wendlers waren, legte Maria weitere umfangreiche Aussagen ab. Sie erklärte nun, dass Schultheiß Hallmayer sie mehrfach, zuerst noch als Kind, vergewaltigt hätte. Der Schultheiß war, wie schon gesagt, allgemein wegen sexueller Übergriffe auf inhaftierte Frauen berüchtigt. Im März 1605 wurde Hallmayer daraufhin auf Innsbrucker Befehl verhaftet. Er gestand kurz danach. Wendler, der Hallmayer bis zu diesem Zeitpunkt gedeckt hatte, konnte ihn nicht mehr schützen. Das Erscheinen der Kommissare hatte seine Machtbasis erschüttert. Der Statthalter selbst wurde im Mai 1605 nach Innsbruck beordert, wo er sich einer Untersuchung wegen Korruption stellen musste. Wendler wurde in Innsbruck verhaftet. Trotz der massiven Anklagen aus Rottenburg wurde kein Verfahren wegen Hexerei eingeleitet. Die Regierung war vor allem an den Korruptionsvorwürfen gegen ihren Amtsträger interessiert, betonte aber auch, dass es zu weiteren Untersuchungen wegen der Hexereivorwürfe gegen ihn kommen müsse. Zum Jahreswechsel 1605/1606 kamen wieder Unterschungskommissare der Innsbrucker Regierung nach Rottenburg, diesmal mit dem Auftrag, spezifisch gegen Wendler zu ermitteln. Vor den Kommissaren wiederholte nun Maria Ulmerin ausdrücklich und mit eindeutiger Identifizierung ihre Denunziation des Statthalters. Wendler erhob von seiner Innsbrucker Haft aus Einwände gegen die Vernehmung der Ulmerin in seinem Fall: Er stellte fest, sie als Hexe und Ehebrecherin – seine Deutung ihrer Vergewaltigung durch den verheirateten Hallmayer – könne überhaupt keine glaubhaften Aussagen machen. Zudem dürften Frauen in Kriminalprozesse nicht aussagen. Wendlers Argumentation stand hier in groteskem Gegensatz zu der von ihm geduldeten Rottenburger Praxis während seiner Amtszeit. Weiter erneuerte Maria Ulmerin die Unzuchtsvorwürfe gegen Hallmayer, der kurze Zeit später im Gefängnis verstarb. Zu diesem Zeitpunkt schien sich auch eine Hexereianklage gegen ihn abzuzeichnen: Maria Ulmerin hatte den zweiten unbekannten vornehmen Mann auf dem Hexensabbat als Hallmayer sehr ähnlich
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beschrieben. Maria gab an, durch den Exorzismus der Konstanzer Jesuiten vom Teufel befreit gewesen zu sein. An ihrem Rückfall ins Hexenwesen sei niemand schuld als »er Schultheiß und sein unkeusch Leben, so er mit ihr gebrauchet.« In ihrer Aussage nahm dann entsprechend der Teufel als Sexualpartner zeitweise die Gestalt Hallmayers an. Wegen Bestechlichkeit und Amtsmissbrauchs wurde Wendler 1607 seines Amtes enthoben und musste ein Drittel seines Vermögens als Strafe zahlen. Während der Haft war er gefoltert worden; er dürfte physisch und psychisch am Ende gewesen sein. Christoph Wendler von Bregenroth verstarb 1608, bevor ein Hexenprozess gegen ihn eingeleitet werden konnte. Im selben Jahr musste auch Maria Ulmerin sterben. Die Regierung sah ihre lange Tätigkeit als Denunziantin, ohne dass sie selbst wegen Hexerei belangt worden war, als Teil der Rottenburger Missstände. Entsprechend drängte sie darauf, dass Anklage gegen Maria erhoben wurde. Ihr Vorgehen war nach dem Verständnis der Zeit rechtens: Maria war längst strafmündig und wollte noch immer Kontakt zu Hexen haben. Ganz leicht machte man es sich nicht mit dem Verfahren gegen Maria Ulmerin. Zwei juristische Gutachten wurden eingeholt. Das erste, verfasst vom Tübinger Juristen Andreas Bayer empfahl sie mit einem Landesverweis zu betrafen, da die Beklagte wegen ihres zwar formal mündigen, aber noch immer jugendlichen Alters nicht mit Todesstrafe belegt werden sollte. Ausschlaggebend war jedoch das zweite Gutachten. Andreas Mayle, ein Advokat am regional wichtigen Oberhof von Rottweil, attestierte Maria einen von Grund auf schlechten Charakter. Dieser mache aus ihrer Jugend keine Chance zur Besserung, sondern nur eine Möglichkeit der Verschlimmerung. Daher sei sie mit der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen und hinzurichten. Die katholischen Geistlichen Rottenburgs versuchten, das Verfahren doch noch in eine andere Bahn zu lenken. Sie stellen ein Gnadengesuch für Maria Ulmerin. Die letzte Entscheidung fällte im Verfahren gegen Maria die Innsbrucker Regierung: Sie bestand auf der Hinrichtung. Für Maria erwies es sich als verhängnisvoll, dass die Regierung auf korrekter Prozessführung beharrte: Durch ihre langjährige Tätigkeit als Denunziantin war sie äußerst stark belastet; dass sie nun auch als strafmündige junge Frau beim Hexen-
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tanz gewesen war, hatte sie zugegeben. Dass die kleine Chance auf Begnadigung, die trotzdem noch bestand und von den Geistlichen ja direkt eingefordert worden war, von der Regierung nicht genutzt wurde, spricht dafür, dass die Innsbrucker Regierungsräte die Ruhe in Rottenburg sichern wollten. Den Risikofaktor der lokal als zuverlässig akzeptierten Denunziantin wollte man sich offenbar nicht mehr leisten. In wie vielen Prozessen Maria Ulmerin als Belastungszeugin aufgetreten war, und wie groß ihr Anteil jeweils am Schuldspruch war, lässt sich exakt nicht mehr feststellen. Man wird von mindestens 60 Verfahren ausgehen dürfen, die sie unmittelbar beeinflusst hat. Von einer persönlichen Verantwortung Marias für die Hexenprozesse, die sie ohne jeden Zweifel fördern half, kann aber nicht gesprochen werden. Vielmehr wurde sie als Kind in eine Rolle gepresst, aus der sie für den ganzen Rest ihres elenden Lebens nicht mehr entkommen konnte. Die wiederholten kleinen Fluchten von Ort zu Ort zeugten von ihrem vergeblichen Versuch, dem Hexereiverdacht zu entkommen. Maria hatte über Jahre immer wieder Hexen denunziert; als stets zuverlässig besagende Kinderhexe hatte sie dazu beigetragen, dass die Rottenburger Verfolgungsspitze von 1595/96, ein Höhepunkt der süddeutschen Hexenprozesse, entstand. Dadurch hatte Maria Ulmerin eine Nähe zur Hexerei erlangt, die für sie keine Identität außerhalb des Bannkreises der Hexenprozesse mehr ermöglichte. Oder richtiger: Ihre soziale Umwelt ließ für sie keine andere Identität mehr zu. Ihre eigentliche Wirkung als Denunziantin entwickelte Maria aber nur in Rottenburg. Dort war sie als Zehnjährige das Sprachrohr lokaler Hexereigerüchte geworden. Weil sie – scheinbar mit der Autorität der Zeugin, die beim Hexentanz dabei gewesen war – Verdächtigungen formulierte, die viele lange schon gehegt hatten, wurden sie als Denunziantin ernst genommen. Maria Ulmerin sagte genau, was die verfolgungsbereiten Winzer und ihre Sprecher im Stadtrat hören wollten. Sie verschaffte deren Forderungen nach noch mehr Prozessen gegenüber den ohnehin schwachen Amtsträgern der Herrschaft, Statthalter und Schultheiß, größeren Nachdruck und mehr Gewicht. Selbst eine bloß passive Haltung, wie sie Statthalter Wendler an den Tag legte, musste unerträglich
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erscheinen, wenn kleine Kinder angeblich erstens zum Hexensabbat gezwungen wurden, zweitens von dort kommend die Hexen identifizieren konnten. Deshalb erlaubten die Verfolgungsbefürworter aus der Bevölkerung Maria Ulmerin auch nicht mehr, ihre Rolle als Denunziantin abzulegen. Die Kinderhexe war Opfer und Instrument der Verfolgung zugleich. Dass Maria bei ihrer Rückkehr nach Rottenburg eine junge Frau, längst dem Kindesalter entwachsen, war, konnte nicht verhindern, dass ihr ihre alte Funktion wieder aufgedrängt wurde. Dazu passt, dass ihre Tätigkeit schließlich von ›außen‹ beendet wurde. Nicht das Rottenburger Gericht, sondern die Innsbrucker Regierung und der auswärtige Gutachter drängten darauf, dass ein Prozess gegen Maria Ulmerin durchgeführt und mit einem Todesurteil beendet wurde. Bis zuletzt stand der Fall Maria Ulmerin im Spannungsfeld der verfolgungsbereiten Untertanen, geführt vom Stadtrat Rottenburgs, und den zurückhaltenden bis kritischen Vertretern der Herrschaft. Für viele ihrer Zeitgenossen war Maria Ulmerin schuldig und unschuldig zugleich: Schuldig, weil sie zu den Hexen gehörte, unschuldig, weil sie sich ihnen nicht freiwillig angeschlossen hatte. Aus heutiger Sicht ergibt sich ein ähnlicher Zwiespalt: Maria Ulmerin scheint auf den ersten Blick schuldig, weil sie im Verfolgungsgeschehen lange zur Seite der Hexenverfolger gezählt werden muss, unschuldig, weil sie nie aus eigenem Willen auf dieser Seite stand. 3.4. Kinderhexen, Schule und Mitschüler: der achtjährige »Schulfeind« Hans Douck, Schwerin 1643 Der »arglistige Schulmeister«: Schulen der Magie Die Literatur und Unterhaltungskultur der Gegenwart spielt mit dem Motiv der magischen Schule. Kommerziell erfolgreich umgesetzt wurde es in der ›Harry Potter‹ Franchise. Künstlerische Qualität gewann es in Preußlers ›Krabat‹ (1971). Die Vorstellung der ›Schwarzen Schule‹, in der Magie unterrichtet wird, hat ihre eigene Geschichte. Sie soll hier sehr kurz darstellt werden. Tatsächlich ist die Idee, dass es Schulen für Magie gäbe, alt, deutlich älter als die Hexenimagination. Bereits in der ersten Hälfte
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des 12. Jahrhunderts dokumentierte Wilhelm von Malmesbury Gerüchte, nach denen in Toledo und Sevilla Schulen existierten, die Mantik und Geisterbeschwörungen unterrichteten. In Sevilla sollte Gerbert von Aurillac die Magie erlernt haben, ein bekannter Gelehrter und Vertrauensmann Kaiser Ottos III., der schließlich 996 als Silvester II. Papst wurde. Caesarius von Heisterbach sprach im 13. Jahrhundert von einer Schule in Toledo, wo man die Totenbeschwörung erlernen konnte. Auch Studenten aus Schwaben und Bayern seien dorthin gezogen. Vom Hl. Ägidius von Santarém hieß es ab dem 15. Jahrhundert, er habe vor seiner Bekehrung in einer riesigen Höhle bei Toledo Magie erlernt und sei daher ein erfolgreicher Arzt geworden. Lancre wollten von regelrechten universitären Vorlesungen in Magie in Toledo wissen. Einen ähnlich üblen Ruf hatte Salamanca. Martin Delrio, einer der einflussreichsten Dämonologen des späten 16. Jahrhunderts, wollte selbst dort noch den alten Zugang zu einer Höhle, des »gymnasii nefandi« (Latein= der gottlosen Schule) haben. Dort hätte einst der Teufel bei einer geheimnisvollen Marmorstatue Schule gehalten. Die Höhle sei erst um 1500 zugemauert worden. Ähnlich Gerüchte kursierten über Granada.13 In Italien war eine ›Schwarze Schule‹ am See von Norcia, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits bekannt war. Daneben sollten Padua, Venedig und Neapel dämonische Schulen beherbergen. Dass auch Rom als Standort einer Teufelsschule denunziert wurde, wird wohl vor allem mit papstfeindlicher Propaganda zu tun haben. In Frankreich sollte es um die Mitte des 15. Jahrhunderts laut Spitzel sogar eine Welle von Gründungen ›Schwarzer Schulen‹ gegeben haben. Unter dem Einfluss des »Teufelsapostels« Wilhelm Luranus habe man in Frankreich zeitweilig Magie nicht mehr als Straftat verfolgt. Dieser Luranus habe die Öffentlichkeit nämlich dazu gebracht, Hexenprozesse als grausames Unrecht anzusehen. Daraufhin seien in Frankreich »an etlichen Orten gar öffentliche ZauberSchulen aufgerichtet und die teuflischen Staatsregeln oder die magi13 Delrio, Investigations, S. 28, 68, wo »Ioletum« wohl »Toletum« heißen soll; Spitzel, Gebrochne, S. 122; Jacoby, Hochschulen, Sp. 141–143; http://www. thefreelibrary.com/Saintly+physician,+diabolical+doctor,+medieval+saint %3A+exploring+the…-a0141256552.
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schen Künste unter dem Titel geheimer … Wissenschaften gelehret worden.« Dennoch habe man Luranus schließlich seines Unrechts überführt und ihn 1453 hingerichtet. Eine ›Schwarze Schule‹ sei bei Vesaignes-sous-Lafauche in der Champagne-Ardennen Region.14 Im 16. und 17. Jahrhundert wurde auch Krakau als Sitz einer Zauberschule gehandelt, wo Faust und sein polnisches Gegenstück Twardowski studiert haben sollten. Eine weitere Magierschule oder »Scholomance«, an der vor allem Wetterzauber gelehrt wurde, sollte am See von Sibiu (Hermannstadt) in Transsilvanien sein. Schließlich sei noch die ›Schwarze Schule‹ von Abo in Finnland erwähnt: Hier führte offenbar eine Felsformation, die von Natur aus den Sitzen in einem Hörsaal ähnlich sah, zur Entstehung entsprechender Gerüchte.15 Winchester, die älteste heute noch existierende Privatschule Englands hatte offenbar im 17. Jahrhundert keinen einwandfreien Ruf: Auch dort sollte Magie unterrichtet werden. In Deutschland sollte es im mittelalterlichen Köln eine Teufelsschule gegeben haben, entsprechende Gerüchte kannte das 16. Jahrhundert.16 Man könnte die aufgeführten Schulen geradezu ›Hochschulen‹ der Magie nennen. Sie schienen mittelalterliche Universitäten zu parodieren. Dafür sprachen klar die Hinweise auf eine internationale, rein männliche Studentenschaft. Wie Universitäten sollten diese Teufelsschulen offenbar von Teenagern und jungen Männern besucht werden, nicht von Schulkindern. Insofern hatte die Imagination der Zauberschule weniger zu tun mit Kinderhexenprozessen, als vielmehr mit der Vorstellung vom zauberkundigen Fahrenden Schüler. Die Populärkultur Alteuropas unterstellte gern von Ort zu Ort reisenden Studenten magische Fertigkeiten. Das mögen Studen14 Spitzel, Gebrochne, S. 218; Delrio, Investigations, S. 68; Jacoby, Hochschulen, Sp. 144. 15 Manlius, Collectanea, S. 38; Spitzel, Gebrochne, S. 122; Jacoby, Hochschulen, Sp. 145; Gerard, Land, Bd. 2, S. 5–6. Die Deutschen von Hermannstadt sollten übrigens die Nachfahren der Kinder sein, die der dämonische Rattenfänger von Hameln verschleppt hatte. Eine Verbindung zwischen deutscher Auswanderung im Mittelalter und der Rattenfänger Geschichte besteht wohl tatsächlich, ebd. Bd. 1, S. 52–53. 16 Bekker, Bezauberte, S. 140; Jacoby, Hochschulen, Sp. 144, 146.
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ten oder Personen, die sich als solche ausgaben, für kleine Betrügereien ausgenutzt haben. Anders gelagert war die bei Spitzel überlieferte Vorstellung, dass der Teufel die Hexen auf dem Sabbat unterrichte. Der Satan »pflegt [als] arglistiger Schulmeister ein besondere Schul anzustellen, darinnen er stückweis hiervon [= vom Schadenszauber] traktiert und sie … lernet [= lehrt] … also die Ernte verderben, Ungeziefer machen, Gift bereiten …«. Für Kinder sollte es beim Sabbat einen eigenen Lehrer geben.17 Hierher gehörte wohl auch ein merkwürdiges dämonisches Äquivalent einer Dorfschule, das Spitzel erwähnte. In Schweden, 24 Meilen entfernt von Stockholm nahe einem Kupferbergwerk, sollten Kinderhexen in einem Höllenkatechismus unterrichtet werden.18 Die Standorte der ›Schwarzen Schulen‹ lassen sich mit drei Ansätzen erklären. Die Konzentration von magischen Schulen in Spanien erklärt sich wohl daraus, dass Spanien bis in das Hohe Mittelalter arabisch besetzt war. Reste arabischer Wissenschaft, mit denen man in Spanien daher besonders leicht in Berührung kommen konnte, wurden offenbar als Magie missverstanden bzw. bewusst als solche denunziert. Ähnlich dürfte es sich mit Venedig verhalten, wo es regen Austausch mit dem fremd gewordenen Byzanz, später mit den Osmanen im östlichen Mittelmeerraum gab. Daneben scheinen einige alte und prominente Bildungsstätten – etwa Köln, Winchester oder Krakau – einfach als solche bei Außenstehenden unter den Verdacht geraten zu sein, ›Verbotenes‹ zu lehren. Dass die Alltagskultur die Wissenschaft, die dem breiten Publikum häufig ganz unzugänglich ist, als zweifelhaft oder bedrohlich empfindet, ist auch heute noch offensichtlich. Es fällt aber auf, dass die als magisch denunzierten Bildungseinrichtungen sehr alt waren und den Zenit ihrer Bedeutung wohl überschritten hatten, als sich die Gerüchte gegen sie verfestigten. Schließlich konnten als dämonische Schulorte schlicht durch ihre natürliche Gestalt auffallende Plätze bei Seen oder auf Bergspitzen genannt werden. Eine Beziehung zu einem realen Schulstandort gab es hier nicht mehr. Der Ort der 17 Spitzel, Gebrochne, S. 185, 375. 18 Spitzel, Gebrochne, S. 357.
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Teufelsschule war in diesen Fällen nur eine Variante des Versammlungsortes der Hexen, ebenso wie die Schule nur eine Variante des Sabbats darstellte. Die Idee, dass Kinder eine imaginäre dämonische Schule besuchten, spielte für die Kinderhexenprozesse kaum eine Rolle. Der stark ›akademische‹ Zuschnitt der Imagination ließ das nicht zu; nur die Vorstellung der Schule des Sabbats erlaubte Berührungen mit dem Glauben an Kinderhexen. Es konnte allerdings befürchtet werden, dass sich in realen Schulen Hexerei unter den Schülern ausbreitete. Ein Sonderfall begegnet im Hexereiverfahren gegen den Lehrer Herman Beschorn aus Lemgo in Westfalen 1653. Beschorn wurde unter der Folter gezwungen Komplizen anzugeben. Beschorn nannte seine Schülerinnen und Schüler. Der Lehrer wandte damit das Motiv des magischen Lehrmeisters auf sich selbst an. Hier denunzierten also nicht Kinder Erwachsene, vielmehr wurden Kinder von einem Erwachsenen als Hexen denunziert. Die Kinder redeten nicht von sich aus über Hexerei, sie wurden durch die Aussage ihres Lehrers und den Druck, der sich von dieser ausgehend aufbaute, dazu gezwungen. Der Aussage des Lehrers zu widersprechen wäre schwierig gewesen: Die Kinder gestanden. Unterricht im Schreiben und das Unterschreiben eines Teufelspaktes vermischten sich. Die Kinder ihrerseits wurden Objekt von intensivster Überwachung und langwierigen Ermittlungen. Einige wurden jahrelang gesondert erzogen und genau beobachtet. Aus erzieherischen Gründen sollten die Schulkinder der Hinrichtung des Lehrers beiwohnen.19 Eine weitere Variante der magischen Schule soll hier betrachtet werden: Nämlich eine Schule, in der ein Schüler angeblich zum Lehrer für Hexerei wurde.20
19 Koppenborg, Hexen, S. 142–166; Walz, Kinder, S. 219, 225. 20 Zum Fall der Schuljungen aus Grafschaft in Westfalen, der ähnlich dem hier geschilderten war, vgl. Kemper, Anwachsenden, S. 117–120.
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Das »Seminar der Zauberer« Die deutsche Schule von Schwerin vermittelte im Gegensatz zur weiterführenden lateinischen Schule Grundkenntnisse an junge Kinder. Um den Jahreswechsel 1642/1643 herrschte dort helle Aufregung. Die Lehrer hatten gerüchteweise erfahren, dass einer ihrer Schüler, der achtjährige Hans Douck, angeblich zaubern konnte. Schlimmer noch: Er sollte sich erboten haben, seinen Mitschülern das Zaubern beizubringen. Die Schulleitung befragte im Beisein des Superintendenten, also des Oberhaupts der lokalen protestantischen Kirche, eine Reihe kleiner Jungen, neun bis zwölf Jahre alt.21 Wenige Tage später bestätigten die Kinder ihre Aussagen vor Regierungsräten. Das Ergebnis dieser ›Verhöre‹ versetzte den Superintendenten in Panik. In einem Schreiben an die Regierung äußerte er, dass aus der Schule, die doch ein »Seminarium Ecclesiae« (Latein= kirchliche Lehreinrichtung) sei, ein »Seminarium der Zauberer und der Hölle werde.« Mit einem polemischen Seitenhieb auf den Katholizismus wurde der Ernst der Lage illustriert: Dass Kinder in der Schule zur Hexerei verführt würden, sei bisher noch nie in »Lutherischen Schulen« vorgefallen, sondern nur in »Jesuiten Schulen … [wo] der Satan drin losgangen und Schul gehalten.« Die »Seelen zarter Jugend« von über 150 Schülern standen auf dem Spiel. Der achtjährige Hans Douck erschien dem Superintendeten als »ein giftiger Teufel und ein arger Schulfeind.« Er und seine ebenfalls verdächtige Mutter müssten schwer bestraft werden. Die Todesstrafe verlangte der Pfarrer nicht ausdrücklich. Er ließ aber kaum einen Zweifel daran, dass er mehr sehen wollte als die Isolierung des Kindes und besondere kirchliche Erziehungsmaßnahmen. Zum Glück hörte die herzogliche Regierung Mecklenburgs nicht auf den Geistlichen. Die außerordentlich harte Haltung des Superintendenten erklärt sich aus dem scheinbaren Angriff auf die Schule in seinem direktem Verantwortungsbereich. Hier war der Teufel mit Hilfe eines Kindes dabei, die Schule zu unterwandern, sie quasi ›umzudrehen‹: 21 Alles Folgende zum Fall Douck nach Landeshauptarchiv Schwerin, 2.12–2/3, 2038. Ich bedanke mich für den Hinweis auf diesen Fall bei Frau Dr. Claudia Jarzebowski, Berlin, die mir freundlicherweise auch ihre Abschrift eines Auszugs aus den Prozessakten zur Verfügung gestellt hat.
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Aus einer Einrichtungen, in der lebenspraktische Kenntnisse und die Grundlagen des protestantischen Christentums gelehrt wurden, sollte eine Schule werden, die Kinder in die Zauberei einführte und sie zum Pakt mit dem Teufel brachte. Aus dem Aufbau des Christentums wurde dessen Zersetzung. Das war umso schlimmer, weil es sehr früh in der Biografie, dem als prägend angesehenen Alter, erfolgen sollte. Dieser dämonischen Umkehrung des Schulzwecks entsprach, dass Hans Douck scheinbar seine Schülerrolle aufkündigte: Der Schuljunge usurpierte die Lehrerrolle. Er unterwies andere Kinder in der Hexerei. Dass der mit der Schulleitung beauftragte Geistlichen so offensichtlich die Nerven verlor und harte Maßnahme verlangte, erklärt sich aus diesem scheinbaren frontalen Angriff auf alles, wofür nicht nur die konkrete Schule in Schwerin, sondern Schulen an sich stehen sollten. Die Regierung übergab den Fall Hans Doucks zur Begutachtung den Juristen der Universität Rostock. Die Rechtsprofessoren nahmen die Anschuldigungen gegen Hans Douck und seine Mutter ernst genug, um zu empfehlen, die beiden zeitweilig voneinander zu trennen. Ein Verfahren gegen die Mutter sei noch nicht ratsam, weil keine ausreichenden Indizien vorlägen. Der Junge sollte jedoch scharf geprügelt werden, um ihn vom »zauberischen Gift« loszubekommen. Seine Lehrer sollten sich intensiv um seine christliche Erziehung bemühen. Wohlgemerkt: Die Rostocker Gutachter äußerten keine Zweifel daran, dass das Kind wirklich schuldig war. Nur seines jungen Alters wegen wollten sie keinen Hexenprozess gegen ihn eröffnen. »Ein kleines Hündchen, das hatte zwei Hörnchen«: Schulgerüchte Was war bei den Gesprächen mit den Schülern in Schwerin herausgekommen? Was sollte Hans Douck getan haben? Der für die Erwachsenen wichtigste Punkt war, dass Hans einer Reihe von Mitschülern offenbar angeboten hatte, ihnen das Zaubern beizubringen. Das Angebot, andere in der Magie zu unterrichten, wertete selbst die Carolina, das kaiserliche Strafrecht von 1532, das ansonsten bezüglich Hexenprozessen sehr zurückhaltend war, als eines der wenigen zuverlässigen Indizien für Hexerei. In der Praxis der He-
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xenverfolgungen wurde die Verführung anderer zu Dämonenmagie und Teufelspakt als besonders schwere Schuld gedeutet, welche die Begnadigung zu einem schnellen Tod ausschloss. Hinzu kam, dass man in einem Kinderhexenprozess eigentlich damit rechnen würde, dass eine erwachsene Person ein Kind zur Hexerei verführt haben sollte. Im Fall Hans Douck spielte nun ein Achtjähriger offenbar die Rolle des Lehrers und Verführers: ein Kind, das andere Kinder zu Hexen machte. Hans’ Mitschüler und er selbst wurden befragt. Hans Douck hatte im Alter von vier Jahren seinen Vater verloren. Er lebte mit seiner kleinen Schwester bei seiner Mutter. Ein älterer Sohn der Mutter, vielleicht aus einer ersten Ehe, vielleicht unehelich, hatte den Haushalt verlassen. Die Familie war wenig begütert. Hans wusste, dass sich seine Mutter neue Anschaffungen nur leisten konnte, wenn sie dafür direkt anderes verkaufte. Besonderes Ansehen genoss die Familie nicht: Auch gegen die Mutter, Großmutter und Bruder entstand aufgrund der Kinderaussagen sofort Hexereiverdacht. Die Mitschüler erklärten, dass Hans Douck ihnen nicht nur angeboten hatte, ihnen das Zaubern beizubringen, er wollte ihnen dafür sogar Geld geben. Hans hatte offenbar behauptet, dass er an praktisch unbegrenzte Geldmengen kommen könne. Das scheint für die Kinder der wichtigste Punkt gewesen zu sein. In einem leer stehenden Haus wollte Hans bereits einige Münzen gefunden haben. Weiter verkündete er, wenn er dort nur »um einen Ständer [d. h. einen Pfosten] greife, so wirft ihm sein Gott Geld in die Hand.« Mit diesem Gott war offensichtlich nicht der christliche Gott gemeint, sondern ein Geisterwesen, mit dem Hans Kontakt haben wollte. Von diesem könne der Achtjährige »alles kriegen, was in der Welt ist.« Hans’ Prahlereien wurden konkret: Neue Kleider und ein schönes Messer wollte er mit Hilfe des Geistes bekommen, Geld, um seiner Mutter neue Schuhe zu kaufen, schließlich auch Rosinen, Braten und »eine Kanne mit Bier, Wein und Brandwein.« Bald würde er selbst aus Blei ordentliche Münzen machen können – man mag hier eine Anspielung auf den Stein der Weisen sehen, vom dem die Alchemisten erhofften, dass er unedle Metalle in edle umwandeln würde. Direkt aus dem Schulalltag gegriffen waren die Behauptungen, Hans würde von seinem Geist neue Schulbücher bekommen und er
Kinderhexen, Schule und Mitschüler
könne magisch ohne Feder schreiben. Außerdem konnte Hans angeblich, indem er mit dem Fuß ein Muster auf den Boden zeichnete, Leute dazu bringen, auf dem Eis auszurutschen – seine Gespräche mit den Mitschülern und die Verhöre durch die Lehrer fanden im tiefen Winter statt. Der Achtjährige erklärte seinen verdutzten und sicherlich neidischen Mitschülern sogar, er könne sich magisch einen grauen Bart wachsen lassen. In den Zeugenaussagen aus dem Fall Hans Douck erschien zunächst und vor allem quasi ein Warenkatalog von Dingen, die kleine Jungen gerne gehabt hätten. Es ging um Materielles, das sich sofort einsetzen ließ: vor allem Geld und Speisen. Spielzeug fehlte. Vielleicht weil es in der konkreten Lebenswelt des vermutlich armen Hans eine geringe Rolle spielte. Die Hexerei war offenbar in der Vorstellung der Schulkinder wesentlich ein Mittel, um materielle Güter zu bekommen. Hinzu kam das besondere Milieu der Schuljungen. Es ging offenbar auch um das Ansehen innerhalb der Peergroup. Dieses konnte wiederum durch Besitz oder durch herausragende Fähigkeiten, die andere kompetitiv übertrafen, gewonnen werden: Hans wollte kostspielige neue Bücher bekommen, wohl eher als Statussymbole denn als Lernmaterial aufgefasst. Er wollte auf zauberische Weise schreiben, gemeint ist vielleicht ohne Mühe und ohne Fehler. Und er wollte den typischen Dumme-Jungen-Streich im Winter, Leute auf Eis ausrutschen und hinfallen zu lassen, in einer Hexenvariante spielen, die den Schuldigen vor der Bestrafung durch Erwachsene schützte. Mit dem magisch beschleunigten Bartwuchs trat Hans quasi aus seiner Kindheit heraus und reklamierte drastisch und sinnfällig ein Stück Erwachsensein für sich. Dass ein bärtiger Achtjähriger nicht erwachsen, sondern grotesk aussehen würde, wurde offenbar ausgeblendet. Dazu, dass sich Hans seinen Mitschülern gegenüber besonders erwachsen geben wollte, gehört wohl auch, dass er angab, kannenweise alkoholische Getränke bekommen zu können. Kein anderes Kind konnte da noch mithalten. Dass Hans sagte, er werde mit dem Geld, das ihm der Geist bringen sollte, neue Schuhe für seine Mutter kaufen, ist ein aussagekräftiges Detail: Die Mutter brauchte neue Schuhe, konnte sich diese jedoch nicht leisten. Dies bestätigt den Eindruck, dass der Junge aus ökonomisch beengten Verhältnissen kam und dies offenbar auch als
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Belastung wahrnahm. In den Untersuchungsunterlagen findet sich unkommentiert die kurze Angabe, dass Hans weiße Haare habe. Ob der Junge nur besonders hell blond war oder ob er unter einer Pigmentanomalie litt, lässt sich nicht mehr entscheiden. Letzteres hätte sicherlich zu Hänseleien und Ausgrenzung durch die anderen Kinder führen können. Es muss beachtet werden, dass die Schuljungen, die gegen Hans aussagten und denen er offenbar seine merkwürdigen Geschichten tatsächlich erzählt hatte, alle älter waren als er selbst. Der jüngste war zwar nur ein Jahr älter als Hans, aber für einen Achtjährigen war dieser Unterschied sicherlich deutlich. Was Hans über seine angebliche Hexerei erzählte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Versuch, bei den älteren Jungen Eindruck zu machen. Dabei überkompensierte Hans seine schwache Ausgangslage: Der junge, vermutlich arme, vielleicht in negativer Weise auffällige Hans versuchte mit fantastischen Geschichte mit deutlichem Schwerpunkt auf magischem Wohlstand, trotz aller Schwächen die Anerkennung der älteren Schulkameraden zu erwerben. Dass er sich dabei selbst in die Nähe des Hexereiverbrechens brachte, hat das Kind wohl nicht in vollem Umfang überblickt. Vielleicht wollte Hans sich auch bewusst ein abenteuerliches Image als gefährlicher Draufgänger zulegen. Sicherlich eine extreme, aber nicht ungewöhnliche Form von kindlicher Prahlerei mit angeblichen Vergehen, von der der Junge hoffen mochte, dass sie ihm Respekt bei den Mitschülern verschaffen würde. Zugespitzt in der Sprache der Jugendlichen der Gegenwart: Hans wollte ›cool‹ sein. Es fällt auf, dass im Fall Douck der in Hexenprozessen übliche Schadenszauber fast völlig fehlte. Damit wurden die dämonischen Aspekte des Hexereidelikts noch wichtiger, d. h. konkret der angebliche Kontakt zu einem Dämon. Aber auch in dieser Hinsicht waren die Aussagen der Kinderzeugen und die Angaben von Hans selbst sehr ungewöhnlich. Hans erklärte seinen Mitschülern, er habe Kontakt zu einem Geist namens Ennichen. Die anderen Jungen behauptet während ihrer Vernehmung, Hans würde vor Ennichen niederknien, also dem Geist eine Ehre erweisen, die man nur Gott schuldete. Nach Angaben der Zeugen – Hans hat das im Verhör selbst nicht wiederholt – nannte der Junge Ennichen tatsächlich seinen »Gott«. Für die Lehrer, den Superintendenten und die Regie-
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rungsräte konnte das freilich nur bedeuten, dass sich das Kind der Verbrechen des Abfalls vom Christentum und der Teufelsanbetung schuldig gemacht hatte, also eine Hexe war und mit der Todesstrafe zu rechnen hatte. Ennichen, Hans’ Dämon, erschien in vielerlei Gestalt. Das erzählte Hans den anderen Kindern und bestätigte es vor den Lehrern und dem Superintendenten. Die Mitschüler wiederholten seine Geschichte, wollten Ennichen aber auch selbst gesehen haben. Aus der Sicht der Lehrer konnte diese Nähe zum Dämon freilich nur bedeuten, dass auch für die anderen Kinder die Gefahr eines Teufelspaktes bestand. Ennichens Aussehen war ungewöhnlich. Es sei »ein schwarz Ding, von der Burg über das Rathaus dahin fliegend gekommen und einen Braten unter dem Flügel gehabt.« Entsprechend hieß es dann, dass der Dämon die Gestalt einer Krähe habe. So habe er sich den Kindern in den Nacken und auf die Hand gesetzt. Hans sagte zweimal, dass er gesehen habe, wie sich die Erscheinung verwandelte. Sie war zunächst »eine schwarze Krähe, so einen […] Schnabel gehabt wie ein Huhn und allezeit größer geworden, endlich wie ein weiß Laken auf dem Boden spazieret und getrampfet [= getrampelt].« Auch als Wolf und als Hund sollte sich der Geist zeigen. Ein Kind erklärte, Hans habe »ein kleines Hündchen, das hatte zwei Hörnchen.« Dann wieder hieß es, Ennichen habe ein eigenes Haus. Sie käme nachts an Hans Bett. Der Geist sehe dann aus wie eine schöne junge Frau, gekleidet in schwarze Seide und mit einem Degen bewaffnet. Wenn Hans weinte, wurden ihm von Ennichen, die ihn tröstete und aufmunterte,«mit dem Schnupftuche die Augen getrocknet«. Sie wollte die Braut von Hans werden, er habe aber abgelehnt, obwohl sie sehr schön sei. Hier äußerte sich der Wunsch des Kindes nach emotionaler Zuwendung. Der Junge wehrte die Versuche der Verhörenden, ihm ein Geständnis sexuellen Umgangs mit dem Geist zu entlocken, ab. Dann hieß es wieder, Ennichen habe Hühnerfüße und zeige sich zwar tagsüber als schöne Frau, nachts aber als Ziegenbock. Schließlich behauptete Hans, dass Ennichen sich sehr klein machen könne und zeitweilig nur er es wahrzunehmen vermochte, selbst wenn es anderen Leuten auf dem Kopf saß. Nicht nur die Gestalt des Geistes wandelte sich: In den Aussagen der Kinder
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wurde über Ennichen als »er«, »sie« und »es« gesprochen. Es war offenbar unmöglich, das Wesen auf eine geschlechtliche Identität festzulegen. Hans nannte im selben Atemzug Ennichen »seine Frau und Vater.« Viele kleine Kinder – wenn auch wohl kaum noch Achtjährige – haben die Vorstellung, sie könnten nahe Verwandte heiraten. Dass aber hier die potentielle Ehefrau zugleich der Vater sein sollte, verwirrt. Die Deutung wird etwas erleichtert durch Hans’ Schilderung des Teufels. Neben Ennichen, die Hans trotz des Drucks der Erwachsenen, nie ausdrücklich als Dämon bezeichnete, wollte der Junge den Teufel gesehen haben. Der erschien einmal als ein Soldat. Er sei aber auch mit »rotem Angesicht, mit einem roten Federbusch [d. h. einem Hut mit roten Federn]und roten Schuhen, habend auf dem Rücken einen großen mit Würsten gefüllten Sack auf dem Dach erschienen. Den Sack hätte die Mutter [von Hans] zu sich genommen, die Würste auf das Bettlaken geschüttet und sie mit dem Sack zugedecket. […] [Hans habe] gesagt, siehe, das ist mein Vater, der bringt mir Würste.« Der Vater, der Drak, der Engel In den Aussagen von Hans oder den Zeugen erscheint nirgendwo der Gedanke, dass Hans ein scheinbar vom Satan gezeugtes Kind gewesen wäre. Mit der Bezeichnung dieses reichlich ungewöhnlichen Teufels als seines Vaters ist also wohl etwas anderes gemeint. Ähnlich wie Ennichen ist der Teufel in den Schweriner Kinderaussagen vor allem jemand, der ein sehr begehrtes Geschenk bringt: der Sack voll Würste erscheint wie der Wunschtraum einer Riesenmenge luxuriöser Speisen – Fleisch und Gewürze, die zur Herstellung von Wurst nötig waren, waren teuer. Der Teufel übernahm hier also eine ähnliche Funktion wie Ennichen, die ja auch Geld, Kleider und Essen bringen sollte. Diese beiden ›Versorger‹, den Teufel und Ennichen, bezeichnete Hans Douck als seinen »Vater«. Mit »Vater« meinte Hans offenbar nicht den biologischen engen Verwandten, sondern denjenigen, der die traditionelle Vaterrolle in sozialer und ökonomischer Hinsicht übernahm. Als »Vater« bezeichnete er den, der ihn (und seine Mutter) mit Lebensmitteln und Geld versorgte.
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Das galt sogar unabhängig vom Geschlecht. »Vater« war für Hans schlicht, wer seinen verstorbenen tatsächlichen Vater im Hinblick auf die Versorgung der offenbar armen Familie ersetzte. In der Realität der Alltagserfahrung erschien dieser »Vater« nicht, worunter Hans auch und gerade gelitten zu haben scheint, wenn er seine ›defizitäre‹ Familie mit der der Mitschüler verglich. Deshalb mag der Junge bereit gewesen sein, diese Position des »Vaters« mit Produkten seiner Fantasie, Ennichen und dem roten Teufel mit den Würsten, zu füllen. Die Geschichten über Hexerei und Geister, die Hans erzählte, sollten also seine schwache soziale Position gegenüber den Mitschülern kompensieren. In ihnen äußerte sich der Wunsch des Kindes nach ausreichender materieller Versorgung im familiären Umfeld und nach emotionaler Zuwendung. Da seine Geschichten um Magie und Geister all diesen Bedürfnissen entsprechen mussten, hatten die Geistererscheinungen viele Rollen zu spielen. Sie verloren daher ihre Konturen. Ennich wurde »er«, »sie«, »es« gleichermaßen. Aber dennoch fantasierte Hans hier nicht frei. Die anderen Kinder und die Erwachsenen erlebten seine Geschichten nicht als unsinnig. Hans griff bei der Formulierung seiner Geschichten auf ältere kulturelle Muster, in den Traditionen des Geisterglaubens angelegte Bilder zurück. Kinder und Erwachsene seiner Zeit kannten diese Bilder und konnten mit ihnen ›etwas anfangen‹. Daher wiesen sie die Äußerungen des Kindes nicht als wirre Träume zurück, sondern stuften sie als grundsätzlich glaubhaft ein. Freilich ging Hans mit dem Bilderfundus des Geisterglaubens sehr frei um – und wurde dann seinerseits von der Erwachsenen sehr einseitig gedeutet. Gleichwohl ist die relativ freie Kombination von Motiven unterschiedlicher Herkunft ein typisches Element des Volksglaubens. Mit dieser so genannten ›Bricolage‹ ist grundsätzlich in der Alltagskultur zu rechnen, nicht nur in Geschichten von Kindern, die mit traditionellen Erzählstoffen und kulturellen Stereotypen umgehen. Ennichen sollte sich gelegentlich als Bock, Hund bzw. Wolf und in – durch Hühnerbeine entstellter – Menschengestalt zeigen. Sowohl der Bock als auch mit Abstrichen der Hund gehörten zum Vorstellungsrepertoire dämonischer Erscheinungen. Bekannt ist heute noch des »Pudels Kern« in Goethes ›Faust‹, der auf den in
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Hundegestalt auftretenden Mephisto anspielt. Die Hühnerbeine gehörten ebenfalls zur Dämonenvorstellung. Entsprechend haben die Illustratoren von Molitors und Binsfelds Hexenbüchern die dämonoischen Liebhaber der Hexen als Männer mit riesigen Vogelfüßen dargestellt. Aber auch Hausgeister sollten – häufig verschämt versteckte – Hühner- oder Entenfüße haben. Wichtiger und häufiger waren jedoch Ennichens Erscheinungen als Vogel, wobei die Gestalt des Geistes explizit mit einer Krähe und einem Huhn verglichen wurde, oder als schöne junge Frau mit Degen. Diese Erscheinungsgestalten erschließen sich dem Verständnis nur, wenn berücksichtigt wird, was Ennichen nach Hans’ Angaben tat. Wesentlich war, dass der Geist Geld und Lebensmittel bringen sollte. Hier wird Hans’ scheinbar wirre Schilderung auf ein heute fast vergessenes Motiv des Volksglaubens durchsichtig: den Drak. Der Drak war kein Drache, sondern ein Geist, der einen Haushalt, an den er gebunden war, unterstützte. Der Drak brachte Geld und Lebensmittel. Der Drak konnte fliegen. Sein Aussehen ist kaum zu beschreiben, da er sich in vielerlei Gestalt zeigen sollte. Durchaus typisch war jedoch, dass der Drak wie ein Vogel, oft wie ein Huhn aussah.22 Das Wort ›Drak‹ fiel nirgendwo in den Unterlagen zum Fall Hans Douck. Es ist aber offensichtlich, dass Hans sich in seinen Äußerungen von dieser Gestalt des Volksglaubens leiten ließ. Die Übereinstimmungen – der Flug, die Vogelgestalt, das Beschaffen von Geld und Nahrungsmitteln – sind eindeutig. Andere Aspekte der Drakvorstellung, z. B. dass der Drak für seine Dienste gefüttert werden wollte, blendete Hans aus. Er wählte gleichsam die Aspekte der Geistervorstellung des Volksglaubens aus, die zu seinen Wünschen und Absichten passten. Dazu, dass volkstümliche Erzählungen um Hausgeister bei der Geschichte von Ennichen Pate standen, passt auch der Name des Geistes. Hausgeistern wurden oft Namen gegeben, die Diminutivformen der Bezeichnungen von Gegenständen oder von üblichen Vornamen waren: Hämmerlin, Hütchen, Thielchen (von ›Thilo‹ oder ›Thiel‹), Heinzchen (heute noch bekannt als Bezeichnung von Hausgeistern ist ›Heinzelmännchen‹),
22 Dillinger, Schatzsuche, S. 76–77.
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Chimke (norddeutscher Dialekt= Verkleinerungsform von ›Joachim‹). ›Ennichen‹ würde hier passen. Die schöne junge Frau im Seidenkleid, bewaffnet mit einem Degen, passt zum Drak überhaupt nicht. Hier bediente sich Hans Douck bei einer anderen volkstümlichen Geistervorstellung. In Gestalt der schönen Frau sollte Ennichen an das Bett des Kindes kommen und es trösten, wenn es traurig war. Der Geist wurde hier mit Zügen des Schutzengels ausgestattet. Zur Vorstellung und Darstellung von Engeln gehörte, dass sie Trost spendeten und (schlafende) Kinder schützten. Die Schilderungen des Kindes spielten auf die Ikonografie von Engeln in der religiösen Kunst an: ihre überirdische Schönheit und ihre prächtigen Kleider. Dass die eigentlich geschlechtlosen Engel mit langen Haaren, bartlos und oft weichen Gesichtszügen in fließenden langen Gewändern dargestellt wurden, geriet beim achtjährigen Hans schlicht zur Beschreibung als schöne Frau. Wenn man die Schilderung Ennichens hier als angelehnt an Darstellungen von Engeln versteht, macht auch der martialische Degen, der auf den ersten Blick als Fremdkörper erscheint, Sinn: Engel werden häufig mit (Flammen)schwertern bewaffnet präsentiert. Der Achtjährige, der aus einer Alltagserfahrung Schwerter nicht mehr gekannt haben dürfte, bezeichnete die Waffe als Degen, entsprechend der in seiner Zeit üblichen Bewaffnung. Was zunächst als widersprüchlich erscheint, lässt sich also als Verbindung von zwei älteren Motiven deuten: Hans Douck kombinierte bei seiner Schilderung des Geistes die Motive des Drak und des Schutzengels. Und zwar sowohl was ihre Gestalt als auch was ihre Tätigkeiten betraf. Ob der Engelsflügel hier als ikonongrafische Assoziation die Verbindung dieser Gestalten erleichterte, mag dahingestellt sein. Wesentlich ist, dass das Kind kreativ traditionelle Geistermotive verband, um mit ihnen die Aussagen machen zu können, die ihm in seiner konkreten sozialen Situation wichtig waren und zunächst wohl auch opportun erschienen. Die Deutung der Aussagen des Kindes durch Lehrer, Pfarrer, Regierungsräte und Juristen hielt sich mit einer komplexen Analyse ihrer Entstehung freilich nicht auf. Für die Zeitgenossen lag das griffige und auf jede Erzählung über eine Geistererscheinung anwendbare dämonologische Stereotyp bereit. Ungewöhnliche Verhaltens-
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weisen und seltsame Erzählungen (nicht nur, aber gerade auch) von Kindern als Indizien für Hexerei zu deuten, lag sicherlich auch deshalb nahe, weil diese Deutung so einfach war. Von einer Verurteilung Hans Doucks oder seiner Mutter spricht die bisher bekannte Aktenüberlieferung nicht. Es ist damit zu rechnen, dass das Verfahren gemäß dem Rat der Rostocker Juristen niedergeschlagen wurde und man sich damit begnügte, den Jungen intensiv religiös zu unterweisen. Hans Douck hatte gezielt selbst Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Seine ›Adressaten‹ waren Mitschüler gewesen. Im Raum der Schule konnten Hans’ magische Geschichten aber Erwachsenen nicht verborgen bleiben. Hans hatte sich aus dem großen Fundus magischer Vorstellungen bedient und sie in einer auf konkrete persönliche Bedürfnisse abgestellten ›Bricolage‹ neu kombiniert. In diesem reichen magischen Narrativ war das Angebot, anderen Kindern Magie beizubringen, nur ein kleiner Aspekt gewesen. Von Erwachsenen, dem Schulpersonal wurde Hans’ vorgebliche Magie rasch auf dieses Element enggeführt. Es entstand das Zerrbild eines grotesken alternativen ›Lehrangebot‹: Ein Schüler sollte dabei sein, die Schule zu unterwandern, indem er andere Schüler in Magie unterwies. Lehrer und Mitschüler schrieben Hans also die vergleichsweise starke, allerdings äußerst negativ bewertete Rolle des Magiers und Verführers zur Magie zu. Aus der Perspektive des Jungen selbst betrachtet erweisen sich seine Selbststilisierung als zauberkundig als bloße Kompensation einer schwachen Position, die gerade im Raum der Schule, im direkten Umgang mit den Mitschülern offensichtlich geworden war. Im Kontext des drohenden Hexenprozesses erwies sich dieser Kompensationsversuch als völlig ungeeignet und potentiell hoch gefährlich. Umso mehr, als die Vorstellung einer ›Unterwanderung‹ der Schule einen harten Eingriff und die exemplarische Bestrafung von Hans Douck zu verlangen schien.
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3.5. Kinderhexen und Krankheit: der Sohn des Pfarrers – Johann Gottlieb Adami, Annaberg 1713 »Mit Armen und Händen sich gebärdend, als spinne er«: Die Annaberger Krankheit In den Jahren 1712/1713 machte Annaberg in Kursachsen eine schwere Krise durch.23 1712 waren eine Reihe der Einwohner der Stadt einer Seuche zum Opfer gefallen. Der Winter 1712/13 erwies sich als bedrohlich lang. Noch Mitte April lag hoch Schnee. Man mochte beginnen, sich um die landwirtschaftlichen Erträge eines Jahres, das so kalt begonnen hatte, Sorgen zu machen. Im Frühjahr 1713 kam die Pest in die Gegend Annabergs. Die erste konkrete Folge des Seuchenzuges war, dass die Grenzen nach Böhmen geschlossen wurden. Für die Wirtschaft Annabergs, die auf den Handel angewiesen war, bedeutete dies eine sehr schwere Einschränkung. Die Preise für Nahrungsmittel zogen rasch deutlich an. Diese Handelskrise kam zu einer Zeit, als sich die Wirtschaft Annabergs neu konstituieren musste. Der Bergbau, der die Stadt einmal reich gemacht hatte, war 1707 aufgegeben worden. Die für Annaberg aktuell wichtige Spitzenklöppelei bot keinen Ausgleich: Zum einen war sie als Produktion von Luxusgut stark handels- und konjunkturabhängig, zum anderen bezahlte sie geringe Löhne. 1699 stand rund ein Drittel aller Häuser in Annaberg leer. Annaberg litt unter der Korruption der kleinen Minderheit wohlhabender Familien, die den Stadtrat kontrollierten. Die kurfürstliche Regierung Sachsens ermittelte jahrelang wegen der Machenschaften der Ratselite, ergriff aber keine entschiedenen Maßnahmen dagegen. Die Dresdner Regierung hatte 1710 drastische Steuererhöhungen beschlossen, die seit 1712 in Annaberg auch konkret umgesetzt wurden. Der ungeklärte Fall eines tot aufgefundenen Säuglings, der mit einem Infantizid durch eine verzweifelte Mutter, aber auch mit einem magischen Ritus in Verbindung gebracht wurde, belastete die Atmosphäre in der Stadt. Hinzu kam der merkwürdige Auftritt eines Landfahrers, der von 23 Das Folgende nach Bretschneider, Unerträgliche; mit herausragender Quellenkenntnis klug argumentiert Rychlak, Teufelsfieber.
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sich behauptete, er habe einmal einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Mit Hilfe von Geistlichen habe er sich aber vom Teufel lossagen können. Der Mann machte aus seiner sensationellen Geschichte ein Geschäft: Er vertrieb sie selbst als Flugschrift, von der er in Annaberg eine neue Auflage fertigen lassen wollte. Anfang April 1713 entwickelte der fünfzehnjährige Posamentiererlehrling Christoph Friedrich Palmer Verhaltensweisen, die Symptome einer Krankheit zu sein schienen. Nachts litt er unter Anfällen, die seinen ganzen Körper schüttelten. Palmer hatte kurz davor eine merkwürdige Geschichte von einem Fremden zum Besten gegeben, der ihn auf der Straße angesprochen und aufdringlich versucht habe, ihm ein Ei zu schenken. Diese Episode korrespondierte mit Gerüchten, die zu dieser Zeit in Annaberg kursierten: Auch jüngere Kinder erzählten offenbar, ein Fremder habe ihnen Eier aufdrängen wollen. Tatsächlich behaupteten Leute aus Annaberg, sie hätten Eier in ihrem Hof gefunden ohne sich erklären zu können, woher diese kamen. Wenige Tage später erzählte Palmer seinem Meister, dass er von einer Geistererscheinung heimgesucht werde, einem kleinen grauen Männchen, das seine Anfälle auslöse. Unmittelbar zuvor hatte auch ein Freund Palmers, der dreizehnjährige Johann Christian Wolff ungewöhnliches Verhalten entwickelt: Er stürzte sich ohne erkennbaren Grund ins Wasser, als wolle er sich ertränken, und warf den Kopf hin und her. Auch Wolff erzählte, einem mysteriösen Fremden begegnet zu sein, der ihm aber kein Ei, sondern Geld habe aufnötigen wollen. Der Fremde wäre sehr gut gekleidet gewesen. Im Gespräch mit dem Jungen sollte er aber sein großzügiges Geschenk rasch an eine Bedingung geknüpft haben: Er wollte eine Unterschrift in Blut auf einem Dokument, das er Johann Christian vorhielt. Der Dreizehnjährige erklärte, er habe dann die Pferdefüße des Fremden gesehen und sei geflohen. Der Teufel habe versucht, ihm zu folgen und habe ihm Rache angedroht. Diese Teufelspaktgeschichte ist so klischeebesetzt und schlicht, dass sie an eine Karikatur erinnert. Sie verdankte sich – einschließlich des Blutpakts, der in früheren Hexenprozessen eher unüblich war – der Geschichte des vorgeblichen reuigen Teufelsbündlers, der Annaberg wenige Monate zuvor besucht hatte.
Kinderhexen und Krankheit
Die Geschichten von Palmer und Wolff waren im Kontext von Kinderhexenprozessen ungewöhnlich. Sie behaupteten nicht, zum Pakt gezwungen und (vorher) von Erwachsenen auf den Hexensabbat verschleppt worden zu sein. Der wesentliche Inhalt ihrer Aussagen war eben, dass sie den Pakt erfolgreich verweigert hatten. Die Geister quälten sie, weil sie sich dem Teufel gerade eben nicht angeschlossen hatten. Die merkwürdige Krankheit, die Palmer und Wolff befallen zu haben schien, breitete sich aus. Schließlich sollten rund dreißig Personen, vornehmlich Kinder und Jugendliche, aber auch einige Erwachsene, von ihr befallen sein. Sie waren offenbar nicht mehr Herren ihres Körpers. Es hatte den Anschein, als würden sie hin und her, manchmal bis zur Decke geworfen. Sie sollten Wände hochlaufen. Aus ihren Körpern traten angeblich Gegenstände aus: Aus einer Kranken mussten Nadeln, Fäden und Lappen geholt werden; sie erbrach Eisenstücke. Die kranken Kinder mussten Purzelbäume machen, an manchen Tagen mehr als tausend. Dass diese Verrenkungen – die bald als »Bockstürze« bekannt wurden – dokumentiert und mitgezählt wurden, spricht von der gewaltigen Aufmerksamkeit, die die Kranken genossen. Tatsächlich bildete sich schnell ein Publikum für diese Darbietungen. Die Kinder scheinen sich rasch daran gewöhnt zu haben, dass Fremde kamen, um ihr »Bockstürzen« und ähnliches zu sehen. Die Kranken genossen gewaltige Aufmerksamkeit. Palmer und Wolff hatten sich nicht näher dazu erklärt, welcher Art die Geister waren, die sie gesehen haben wollten. Nun hieß es, dass die Geister – unsichtbar für alle anderen – ganz konkret die Anfälle der Kranken auslösten; diese Anfälle seien schlicht die Reaktion der Kinder darauf, dass die Geister sie in diesem Moment attackierten. Anders als bei den ersten Schilderungen sollten nun aber nicht mehr Dämonen die Kranken angreifen, sondern Hexen. Teufelsbündler aus Annaberg quälten angeblich die erkrankten Kinder, wobei sie außer für diese Kinder für alle unsichtbar waren. Damit wurde aus der Krankheit bzw. dem Dämonenspuk Hexerei, also eine gerichtlich zu verfolgende Straftat. Der Stichwortgeber für diese neue Entwicklung war der zehnjährige Johann Gottlieb Adami. Nachdem die frühen Fälle Palmer und Wolff Stadtgespräch
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geworden waren, entwickelte der bereits seit Monaten kranke Johann Gottlieb Adami, der nach seinem Vater benannte Sohn eines Pfarrers, plötzlich ganz neue Symptome. Diese glichen denen Palmers und Wolffs. Erst lange nach dieser scheinbaren Wendung seiner Krankheit erklärte Johann Gottlieb, er habe eine Nuss gefunden und aufgebissen, die ein merkwürdiges schwarzes Pulver enthalten habe. Man mag die gefundene Nuss für eine Kombination der Annaberger Eierfunde mit einer Notiz um verzauberte Nüsse aus der dämonologischen Literatur, die Adamis Vater nachweislich kannte, halten. Die Annaberger Hexenangst ist nicht zu verstehen, wenn nicht die Rollen von Vater und Sohn Adami bedacht werden. Johann Gottlieb Adamis Vater war in der Hierarchie der evangelischen Pfarrer Annabergs der unbedeutendste.24 Der Geistliche war aber durchaus streitbar. Mit einer kritischen Predigt gegen den korrupten Stadtrat hatte er sich beim Führungskreis Annabergs nachhaltig in Misskredit gebracht. Adami polemisierte auch gegen Katholiken. Angesichts der Tatsache, dass Sachsens Landesherr 1697 zum Katholizismus konvertiert war, dürfte ihn das auch bei der Regierung nicht beliebt gemacht haben. Von den neun Söhnen und vier Töchtern des Pfarrers überlebten nur zwei ihre ersten Jahre. Unter der langwierigen Krankheit seines Sohnes Johann Gottlieb litt Adami schwer. Der Pfarrer erklärte, er hätte bis zum April 1713 bereits sehr viel Geld für die medizinische Betreuung des Kindes ausgegeben. Genesen war der Junge nicht. Es wurde sogar geplant, das Kind zur Kur in einen Badeort zu schicken: Finanziell und organisatorisch ein großer Aufwand mit fragwürdigen Erfolgschancen. Als sein Sohn den Anschein erweckte, dass er verhext war, schrieb Pfarrer Adami dessen Anfechtungen minutiös nieder. Er veröffentlichte in rascher Folge vier Pamphlete über die Annaberger Krankheit, basierend vornehmlich auf der Beobachtung seines Kindes. Auch wenn Pfarrer Adami etwas kurz angebunden notierte, dass er nicht alle Äußerungen seines durch Magie bedrohten Kindes aufschreiben könne, da er »sonst nichts als nur damit zu tun haben müsste,« war seine Schilderung äußerst dicht. Der Pfarrer entwi24 Rychlak, Teufelsfieber, S. 383.
Kinderhexen und Krankheit
ckelte sich quasi aus der Beobachtung seines verhexten Kindes zum Provinzdämonologen. Der kleine Adami erklärte von Anfang an, im Gegensatz zu Palmer und Wolff, dass konkrete Personen aus Annaberg hinter seiner Erkrankung steckten. Seit dem 30.4. 1713 häuften sich im Haus des Pfarrers merkwürdige Vorkommnisse, die der kleine Junge auf eine Frau aus Annaberg schob. Diese sollte sich nach Belieben und für alle außer ihm unsichtbar im Haus seiner Eltern bewegen. Sie ließ Gegenstände aus verschlossenen Räumen verschwinden und brachte sie wieder. Dem Kind selbst sollte sie wiederholt ein Geldstück in den Mund gesteckt und es verprügelt haben. Von den Hexen wurde der Junge in die Luft gehoben, so dass ihn angeblich mehrere Erwachsenen kaum wieder auf den Boden bringen konnten. Johann Gottlieb vollführte unter dem Einfluss der Hexen allerhand Verrenkungen, machte hunderte von Purzelbäumen und entwickelte Heißhunger. Der Junge machte immer wieder Anstalten, als wolle er aus dem Fenster springen, angeblich, weil ein Hexer ihn hinauszog, um ihn zu entführen. Der Zehnjährige besuchte während der Hexenkrise oft einen gleichaltrigen, angeblich ebenfalls heimgesuchten Freund und kommentierte dessen Anfälle. U. a. sollte dieses Kind in der Lage sein, erwachsene Männer zu heben. Zwischen ihren Anfällen spielten die Kinder miteinander. Die Hexen hielten Johann Gottlieb auch davon ab, zur Schule zu gehen. Obwohl er verkündete sich auf die Schule zu freuen, »erstarrte« er jedoch, wenn er dahin aufbrechen wollte, und die Hexen warfen ihn hin und her. Kam er doch einmal im Schulhaus an, saß er dort regungslos und musste wieder abgeholt werden, wobei er dann um sich schlug und biss. Pfarrer Adami entschuldigte seinen Sohn wegen dämonischer Anfechtungen vom Schulbesuch und erklärte, er habe den Jungen weder mit Vorhaltungen noch mit Schlägen zur Schule zwingen wollen. Der Kirchgang des Jungen musste aus demselben Grund eingeschränkt werden. Bei den Gebeten, zu denen der Pfarrer seinen Sohn anhielt, machte der Grimassen: Zweifellos entsprechend der Erwartungen des Vaters bedrängten die Hexen das Kind anscheinend am stärksten beim Gespräch mit Gott. Die Hexen sagten sogar voraus, wann sein Vater Johann Gottlieb prügeln würde: Die Hexen manipulierten faktisch den ganzen
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Haushalt des Pfarrers, einschließlich des Pfarrers selbst. Genau so präsentierte Adami selber das Leben seiner Familie in seinen Veröffentlichungen. Damit demontierte er sich öffentlich selbst in seinen Rollen als Hausherr, Geistlicher und Vater. Die für die Zeitgenossen sehr wichtige männliche Ehre wurde so schwer beschädigte. Die ›Aufklärung‹ über die Hexen und die Leiden seines Sohnes scheinen Adami aber diesen Ehrverlust wert gewesen zu sein. Er hoffte offenbar, sich umso besser in der Rolle des Warners und Hexenjägers profilieren zu können. Mitte August 1713 bezichtige der junge Adami eine Rosina Kuntzmann konkret bei einer offiziellen Gegenüberstellung auf dem Rathaus ins Gesicht. Dass gerade diese Frau bei dem Jungen als Hexe erschien, könnte damit zusammengehangen haben, dass ihr Mann Christoph der verachtete Sohn eines verurteilten Mörders war, aber auch damit, dass Familie Kuntzmann bei Johann Gottliebs Vater verschuldet war. Das problematische Verhältnis zu ihr dürfte Gesprächsstoff in Adamis Haus gewesen sein. Zeitweilig schien der Junge wie von dem Geist der Hexe besessen: Er wusste über ihre Kleider und Haushaltsgegenstände genau Bescheid, obwohl er keinen seinen Eltern bekannten Kontakt mit ihr unterhielt. Schließlich ahmte er sogar die Gesten einer Frau bei der Arbeit am Spinnrad (»mit Armen und Händen sich gebärdend, als spinne er«)25 nach. Wenn der Junge plötzlich wie ein Hund bellte, sollte die Hexe gerade mit ihrem Haustier beschäftigt sein. Nach Johann Gottlieb begannen auch andere der scheinbar Kranken, einige der Hexen, die während ihrer Anfälle nur für sie sichtbar sein sollten, zu identifizieren: Auch sie wollten konkrete Personen aus Annaberg erkennen. Johann Christian Wolff wollte eine Maus mit dem Gesicht einer Frau aus Annaberg, gesehen haben, die an der Decke der Stube lief. Dass Rosina Kuntzmann und ihr Ehemann schließlich verhaftet wurden, ist wesentlich den Aussagen des Sohns des Pfarrers zu verdanken. Christoph Kuntzmann beging in der Haft Selbstmord. Pfarrer Adami stellte fest, dass die Kinder mantische Fähigkeiten entwickelten: Sie wussten z. B. genau, was ihren Nachbarn passierte, auch wenn sie lange das Haus nicht verlassen hatten. Er erklärte das 25 Adami, Kurtze, S. 12.
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als dämonische Verbindung mit den Hexen, welche die Kinder über diese und über ihre Untaten wissen ließ. Der Pfarrer scheint zumindest seinen Sohn regelrecht nach den Vergehen der Hexen gefragt zu haben. Trotz der offensichtlichen Auskunftsfreude des Zehnjährigen charakterisierte der Pfarrer selbst seinen Sohn als verschlossen.26 Z. B. war er mit der Antwort, dass nur eine einzige Verdächtige das eucharistische Brot für Magie missbraucht hätte, offenbar unzufrieden und hielt fest, dass die Hexen die Aussagen der Kinder ja manipulieren könnten, in diesem Fall also wohl verharmlosten. »Ganz mit Hexen angefüllte« – »korrupte Fantasie«: konkurrierende Deutungen Adami präsentierte in seiner Darstellung der Annaberger Krankheit fast ausschließlich die schwer erklärbaren, scheinbar magischen Vorkommnisse: Das Wissen der Kinder um Dinge, die sich ›eigentlich‹ nicht wissen konnten, ihre Hexenvisionen, die spukähnlichen Erscheinungen vor allem in seinem eigenen Haus. Das, so der Kern von Adamis Argumentation, konnte nicht als geistige oder körperliche Krankheit gedeutet werden. Auch nicht als Betrug, denn dann wäre er der am meisten Betrogene gewesen. Der Pfarrer betonte, er habe seinen Jungen streng erzogen, könne also sicher sein, nicht dessen »Schalkheit« zum Opfer gefallen zu sein. Nur die Deutung als Hexerei, so betonte er, erklärte alle Geschehnisse. Die Deutung als Hexerei erklärte zudem die ja bereits seit Monaten – schon vor Palmers und Wolffs merkwürdigen Geschichten – anhaltende Krankheit des Pfarrerssohns. Zwei hergebrachte theologische Erklärungsalternativen boten sich als genuin christliche Reaktionen auf die scheinbar nicht zu heilende Krankheit des Kindes an. Adami waren beide zweifellos geläufig. Man hätte die Krankheit als Strafe Gottes verstehen können, die auch Kinder für die Vergehen ihrer Eltern treffen konnte. Das wäre für Adami freilich sehr belastend gewesen. Zum anderen hätte man die Erkrankung schlicht als Äußerung von Gottes Souveränität sehen können. Diese kann sich als ›unerfindlicher Ratschluss‹, als von Menschen nicht 26 Adami, Kurtze, S. 14.
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versteh- und deutbares Verhängnis realisieren, das passiv hinzunehmen oder sogar zu akzeptieren ist. Beide Erklärungen boten Adami kaum eine Chance, aktiv zu handeln. Die Deutung der Krankheit als Hexerei gab Adami aber die Möglichkeit, gegen »das Hexen-Volk« vorzugehen anstatt nur tatenlos dem Leiden seines Kindes zusehen zu müssen. Adami verlangte, die Stadt sollte Hexenprozesse eröffnen. Es kam zu ersten Verhaftungen, aber nicht zu Urteilen. Im Sommer 1714 klagte Adami in einer Predigt darüber, dass die Ratsherrn den Hexen gegenüber untätig blieben. Der Hexenprophet Adami galt nichts im eigenen Land. Seine dämonologische Deutung der Ereignisse setzte sich nicht durch. Von Anfang an musste der Pfarrer dagegen polemisieren, dass die Vorkommnisse in Annaberg als körperliche oder geistige Erkrankung, bzw. als »Beutelschneiderei«, also Betrug mit Profitabsicht oder kindliche Bosheit erklärt wurden.27 Seine drei letzten Veröffentlichungen zur Annaberger Krankheit verteidigten seine dämonologische Interpretation der Vorkommnisse wütend gegen alternative Deutungen. Aber selbst in seiner eigenen Familie – so belegt eines seiner Pamphlete – bezweifelte man offenbar Adamis Sicht der Dinge.28 Die Annaberger Ärzte konnten sich keine einheitliche Meinung bilden.29 Einer wies die Erkrankungen komplett als Produkte einer »korrupten Fantasie« zurück: Die Kranken, großenteils Kinder, hörten eben zu viel über Hexerei, so dass sie sich nun einbildeten selbst Hexen zum Opfer gefallen zu sein. Die anderen hielten den Einfluss von Magie für möglich, da bestimmte Details wie z. B. die außerordentliche Kraft mancher Kranker medizinisch nicht zu verstehen seien. Ein Gutachten der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig brachte keine Klärung. Dem Leipziger Schöppenstuhl als Justizaufsichtsorgan wurden die Akten zu vermeintlichen Hexen in Annaberg vorgelegt. Er fällte im Sommer 1714 ein klares Urteil: Alle Verdächtigen waren freizulassen. Man solle sie zwar weiter überwachen, die vorliegenden Indizien genügten allerdings nicht für ein Verfahren. Zu dieser Zeit 27 Adami, Kurtze. 28 Adami, Kurtze, S. 9. 29 Das Folgende nach Rychlak, Teufelsfieber, S. 348–362.
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waren bereits zwei Personen im Gefängnis – infolge von Entkräftung bzw. durch Selbstmord nach fast einem Jahr in Haft – verstorben. Die Leipziger Schöppen mutmaßten, dass es sich bei den vermeintlichen Kranken um Betrüger handeln könnte. Jedenfalls sollten keine Schaulustigen mehr zu ihnen gelassen und keine Almosen zu ihren Gunsten zugelassen werden. Auf Empfehlung Leipzigs sollten die Erkrankten isoliert und von Ärzten betreut werden. Damit war die Option ›Hexenprozess‹ als Reaktion auf die Krise faktisch vom Tisch. Der Stadtrat bekannte sich inzwischen offen zu Autoren, die Hexenprozess und Hexenglauben grundsätzlich in Frage gestellt hatten: Er zitierte Spee ebenso wie Thomasius. Der Jesuit Friedrich Spee hatte in seiner 1631 veröffentlichten Schrift ›Cautio criminalis‹ (Latein= Vorsicht im Strafrecht) den Hexenprozess als Verfahren frontal angegriffen und als Unrecht entlarvt. Der protestantische Jurist Christian Thomasius hatte 1701 den Glauben an das Wirken des Teufels in der materiellen Welt zurückgewiesen. Da beiden Autoren noch stark umstritten waren, war sie zu zitieren ein mutiger Schritt.30 Der Rat war hier weder schlicht der Exponent der so genannten Aufklärung noch vornehmlich besorgt um das Wohlergehen der Verdächtigen. Die Stadträte wussten um Hexereiverdächtigungen gegen ihre Angehörigen und sie erkannten, dass das Gerede von Hexerei die Krise, in der die Stadt steckte, vertiefte. Gerüchte machten die Runde Annaberg sei »ganz mit Hexen angefüllet und seine Majestät der König [= August der Starke (1694–1733), Kurfürst von Sachsen und König von Polen] wäre entschlossen, sie ganz und gar einäschern zu lassen.« Damit wurden alle Einwohner faktisch unter Generalverdacht gestellt und der ganzen Stadt mit Vernichtung gedroht: Es ist überdeutlich, dass Annaberger nicht nur um ihr Ansehen besorgt sein mussten, sondern sehr konkret auch um die Wirtschaftsbeziehungen ihrer ohnehin schon geschwächten Stadt. Wer wollte sich mit Leuten aus einem Hexenort einlassen? Zu Beginn des Jahres 1715 waren die Symptome bei den allermeisten Kranken verschwunden. Aber sie verwanden nicht vollständig, ja es erkrankten sogar weitere Personen. 30 Rychlak, Teufelsfieber, S. 57.
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1716 legten sich die Verzauberungssymptome beim jungen Johann Gottlieb Adami und er verließ das Elternhaus, um eine Lehre anzufangen. Nun sollten die Hexen aber die Tochter und zwei Dienstmädchen des Pfarrers plagen. Die Deutung dieser Phänomene als Hexenwerk und die Forderung, die Hexen vor Gericht zu bringen, die Adami und wenige andere wiederholten, setzten sich nicht durch. Sie verstummten aber auch nicht. Noch 1717 mussten sich Adamis Superintendent und die Geistlichen seines Zuständigkeitsbereichs nachdrücklich von dessen dämonologischen Argumenten distanzieren. Die verbliebenen Kranken mussten 1718 offiziell in Dresden von Ärzten, die das Vertrauen der Regierung hatten, untersucht werden, einmal sogar unter persönlicher Aufsicht von Kurfürst August. Die letzte Person, die auffällige Symptome zeigte und allein noch über Monate Mediziner und Verwaltung in Atem hielt, war eine Magd Mitte Zwanzig, die bei Adami gedient hatte. Sie wurde erst Anfang 1720 dazu gebracht, Betrug zu gestehen. Im selben Jahr erklärte Adami in einer Predigt aber noch immer grimmig, Annaberg sollte besser »Hexenberg« heißen, da man dort gegen Teufelsbündler nicht vorginge. Es hat den Anschein, als habe der Sohn des Pfarrers Johann Gottlieb Adami nach seiner ›Genesung‹ 1716 keinen festen Rückhalt in Annaberg mehr gefunden. Nach einer Lehre als Drucker wanderte er aus. Er ließ sich als Söldner von der niederländischen Ostindien Kompagnie anstellten und ging nach Sumatra. Man wird daraus schließen können, dass der damals rund 25jährige in schwierigen Umständen lebte: Das niederländische Kolonialunternehmen war bei den Zeitgenossen berüchtigt dafür, seine Söldner schlecht zu entlohnen und bedenkenlos zu ›verheizen‹. 1735 wurde Johann Gottlieb Adami wegen eines nicht näher bekannten Vergehens im heutigen Indonesien zum Tode verurteilt und erschossen.31 Parallelen: Salem, Loudun und das Preetzer Hexenschwimmen Annaberg stand keineswegs isoliert. Allein im sächsischen Raum gab es zwischen 1700 und 1714 sechs weitere Fälle von anfallsartigen 31 Rychlak, Teufelsfieber, S. 318–319.
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mysteriösen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen ähnlich denen in Annaberg. Annaberg selbst scheint direkt drei ›Nachahmer‹ in der Region gefunden zu haben.32 Die Annaberger Hexenangst erinnert an die von Salem, Massachusetts 1692/93. Die einzige größere Hexenjagd Nordamerikas verdankte sich auch den Bezichtigungen von Kindern und Jugendlichen. Auch sie schienen an rätselhaften krampfartigen Anfällen zu leiden bzw. klagten, von Hexen gequält zu werden, die für alle anderen unsichtbar blieben. Wie in Annaberg spielte die Familie des Pfarrers eine Schlüsselrolle: Als erste zeigten die Tochter und die Nichte von Samuel Parris, dem puritanischen Prediger, als Verhexung gedeutetes Verhalten. Die Mädchen waren zu diesem Zeitpunkt neun bzw. elf Jahre alt. Freilich bricht die Parallele zusammen, wenn nach dem Umgang mit den Hexereianklagen gefragt wird. In Salem wurde ein Sondergerichtshof mit außerordentlichen Vollmachten eingesetzt. Er führte eine Reihe von Verfahren, von denen neunzehn zum Tod der Beklagten führten, bevor ein neu eingesetzter Gouverneur die Verfolgung stoppte.33 Eine etwas entferntere Parallele zur Annaberger Krankheit waren zahlreiche Fälle von so genannter dämonischer Besessenheit, bei denen die Besessenen Hexen identifizierten. Auch hier zeigten einzelne oder kleine Gruppen stark auffälliges Verhalten, häufig ähnlich epileptischen Anfällen. Viele gaben vor, durch ihren unfreiwilligen Kontakt mit Dämonen auch Hexen benennen zu können bzw. bezichtigten vermeintliche Hexen, ihnen die Dämonen geschickt zu haben. Das bekannteste Beispiel dürften die Besessenen von Loudun sein. 1632–1637 entwickelte eine Gruppe von Nonnen in Loudun im westfranzösischen Poitou Verhaltensweisen ähnlich der Annaberger Krankheit. Sie behaupteten, der Priester Urbain Grandier sei für ihre Besessenheit verantwortlich. Grandier wurde 32 Rychlak, Teufelsfieber, S. 316. 33 Herget, Salemer. In Arthur Millers Stück ›The Crucible‹ (1953) wird verunklart, dass es sich bei den Verfahren von Salem wesentlich um Kinderhexenprozesse handelte. Miller unterstellte, dass Abigail Williams, eine der zentralen Anklägerinnen, eine Jugendliche gewesen sei. Sie habe versucht sich mit einer Hexereibezichtigung an einem ehemaligen Liebhaber zu rächen. Tatsächlich war Abigail beim Beginn der Verfahren zwölf.
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als Hexer verbrannt. Freilich waren bei diesen Fällen vermeintlicher Besessenheit die Bezichtiger in der Regel Erwachsene.34 In Annaberg schienen vornehmlich Kinder und Jugendliche unter der mysteriösen Krankheit zu leiden. Sie behaupteten, dass Erwachsene als Hexen diese Krankheit ausgelöst hätten. Die Gruppe der vorgeblich Kranken, die zugleich Bezichtiger waren, war von Kindern dominiert. Die Gruppe der Bezichtigten bestand aus Erwachsenen. Das war nicht notwendigerweise so. 1665/66 zeigten um Preetz nahe Kiel über zwanzig Personen äußerst auffälliges Verhalten.35 Anfallsartig warfen sie sich auf den Boden, drehten sich wie Kreisel und brabbelten vor sich hin. Wenn die Anfälle abklangen, erklärten sie, sich an nichts davon erinnern zu können. Aus dem Gestammel der scheinbar Erkrankten entnahm man, dass sie sich für verzaubert erklärten. Tatsächlich benannten sie schließlich eine Reihe von Personen, die sie verhext haben sollten. Einige der so Bezichtigten waren ohnehin schon in Hexereiverdacht gewesen. Sowohl unter den angeblich Verzauberten als auch unter den scheinbar Schuldigen waren Kinder und Jugendliche. Die Preetzer Obrigkeit strich heraus, dass »arme Kinder« von Dämonen geplagt würden. Diese Dämonen seien aber zu ihnen geschickt worden von »Leuten, die teils in der Minderjährigkeit und keine über 22 Jahr alt« waren. Im folgenden Hexenprozess betonte ein juristisches Gutachten, dass unter den vermeintlichen Hexen »viele halbwüchsige Mädchen, ja sogar kleine Mädchen seien, die kaum der Pubertät entwachsen waren.« Die Verzauberten griffen ihre angeblichen Peiniger auf offener Straße tätlich an, haben sie »gezauset, blutig und blau geschlagen, und übel zugerichtet.« Das vermeintliche Wissen der Kranken um die Identität von Hexen war auch außerhalb des engen Gerichtskontextes interessant: Eine Reihe von Personen, die sich durch Magie geschädigt fühlten, fragten die Kranken nach dem Namen der schuldigen Hexe. Diejenigen, die so denunziert wurden, wurden nicht nur vor dem ganzen Dorf »vor Zauberhexen ausge34 Carmona, Diables; Certeau, Possession. 35 Das Folgende nach Mauritius, Consiliorum, S. 71–80; Brief des Klosterpropstes von Preetz an die Kieler Juristenfakultät, zitiert nach Unverhau, Wahr; Schulte, Hexenverfolgung, S. 99, 139 geht von noch mehr Opfern aus, ohne dafür Quellen anzugeben.
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rufen«, sondern ebenfalls tätlich angegriffen. Die Obrigkeit fürchtete den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Sie verbot bei Geld- und Gefängnisstrafe, die Kranken nach Hexen zu fragen und bereits denunzierte Personen zu attackieren. Einige derjenigen, die unmittelbar von den Kranken ohne Nachfrage Dritter bezichtigt worden waren, entschlossen sich offenbar zu einer Flucht nach vorn: Sie suchten einen Geistlichen auf und legten Geständnisse ab. Dabei erklärten sie ihrerseits, nur Opfer älterer Frauen zu sein. Diese hätten ihnen Dämonen zugeführt, die die Gestalt der jungen Männer, in die sie verliebt waren, angenommen hätten. Die Treueversprechen der Mädchen gegenüber ihren scheinbaren Geliebten wurden vom Teufel als Pakt interpretiert. Die angeblich so Getäuschten zeigten sich reuig. Die älteren Frauen, die sie mit dieser Geschichte belastete, stritten natürlich alles ab. Um sich vom Verdacht zu reinigen, sicherlich auch auf massiven Druck des Dorfes, unterwarfen sie sich der Kaltwasserprobe. Die Kaltwasserprobe (Hexenschwimmen) war eines von mehreren Sonderindizien in Hexenprozessen. Hexenproben versuchten Eigenschaften, die die Hexen durch ihren Kontakt zu Dämonen erworben hatten, im Verfahren festzustellen und als Belastungsindizien zu verwenden. Hierher gehörte das Hexenmal. Als Indiz für Hexerei galt daneben die Unfähigkeit zu weinen (Tränenprobe). Weil der Teufel ihnen Tränen als äußeres Zeichen der Reue versagte, konnten Hexen angeblich auch unter schwerer psychischer oder physischer Anspannung – im Verhör oder bei der Folter – nicht weinen. Das Hexenschwimmen hatte deutlich Züge eines mittelalterlichen Gottesurteils. Die Verdächtige wurde gefesselt und in eine Wasserfläche geworfen (freilich angeleint, damit sie nicht ertrinken konnte). Es wurde als Indiz für ihre Schuld angesehen, wenn sie nicht unterging. Dies konnte unterschiedlich begründet werden, u. a. wurde behauptet, dass der Teufel, der als Geist gewichtslos war, solchen Anteil auch am Leib der Hexen gewonnen hätte, dass Hexen unnatürlich leicht wären und daher auf dem Wasser schwämmen. Alle Hexenproben, insbesondere das Hexenschwimmen, wurden bereits von den Zeitgenossen sehr kritisch gesehen. Auch eine Reihe von Dämonologen verwarfen die Proben als völlig unzuverlässig. Kieler Juristen, die später das Verfahren in Preetz
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begutachteten, kritisierten das Hexenschwimmen scharf. Dass das Gericht diese Hexenprobe dennoch zuließ, spricht von seiner Verunsicherung. Das Gericht sah sich nicht nur mit fragwürdigen und sehr ungewöhnlichen Belastungszeugen konfrontiert, mit Kindern und Jugendlichen als Opfern und Tätern, sondern auch mit einer aggressiven und verfolgungsbereiten Öffentlichkeit. Die Kaltwasserprobe dürfte ein verzweifelter Versuch gewesen sein, etwas Klarheit zu gewinnen. Praktisch liefen alle Hexenproben auf eine inoffizielle ›Abstimmung‹ über Schuld und Unschuld ab: Die ins Wasser geworfenen gefesselten Verdächtigen dürften sich mehr oder weniger an der Oberfläche gehalten haben. Darüber, ob es nun ein ›Mehr‹, also Schwimmen, oder ein ›Weniger‹ also Untergehen, war, befand letztlich die stärkste Gruppe, die der Prozedur beiwohnte und sie besprach. Die ›Probe‹ diente also eigentlich nur dazu, die vorgefasste Meinung der einflussreichsten Akteure im Prozessgeschehen zu bestätigen und ihr einen dünnen Anstrich von ›Objektivität‹ zu verleihen.36 Die Verdächtigen von Preetz schwammen, sollten also schuldig sein. Nun brachen sie zusammen und legten Geständnisse ab. Die Kieler Juristenfakultät verfasste einen Urteilsentwurf, der das Verfahren zwar in Teilen rügte, aber im Wesentlichen anerkannte. Sie riet, elf von 14 Angeklagten hinzurichten. Die übrigen sollten weiter beobachtet werden.37 Das Gutachten schärfte ein, dass insbesondere »die Jugend« den Exekutionen beizuwohnen habe, um »dadurch von der Zauberei abgeschreckt zu werden.« Leider lässt die Quellenlage keine Aussage darüber zu, wie alt die Verurteilten waren. Es scheint jedoch so zu sein, dass die jungen Personen, die unmittelbar von den Kranken denunziert worden waren und vor dem Geistlichen gestanden hatten, der gerichtlichen Anklage entgingen. In jedem Fall erwecken die Preetzer Prozesse von 1665/66 den Eindruck, dass hier zwei Gruppen aufeinander prallten, die beide von Kindern und Jugendlichen dominiert waren. Ihre Interaktion ließ die Lage in 36 Dillinger, Hexen, S. 86–87. 37 Der Chronist Asmus Bremer schrieb, dass alle, die der Kaltwasserprobe unterworfen worden waren, hingerichtet worden seien, insgesamt 16 Personen, Bremer, Chronicon, Bd. 2, S. 311–312. Da hier ein direkter Widerspruch zum Kieler Gutachten besteht, dürfte Bremer unzuverlässig sein.
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Preetz eskalieren und löste einen Hexenprozess mit einer der höchsten Opferzahlen in Norddeutschland aus. In Annaberg, Preetz und parallelen Fällen war die Ausgangsituation der Verfahren geprägt von den als Krankheit oder Besessenheit gedeuteten Verhaltensweisen der Anklägergruppen, die Kinder dominiert hatten. Die Hexerei trat quasi sekundär zu den Krankheitsphänomenen: Sie erläuterte sie. Streng genommen waren die ›kranken‹ Kinder von Annaberg und Preetz keine Kinderhexen. Sie übten selbst keine Magie aus – abgesehen von ihren angeblichen mantischen Fähigkeiten –, ihnen wurde kein Pakt unterstellt und sie sollten auch nicht beim Hexentanz gewesen sein. Die Hexen kannten sie nur, weil sie unmittelbar von ihnen attackiert werden sollten. Auf den ersten Blick mögen diese Kollektive von ›kranken‹ Kindern als Ankläger in Hexenprozessen besonders stark erscheinen. Einmal, weil es sich um eine Gruppe, nicht mehr um einen einzelnen Bezichtiger handelte. Zum anderen, weil die Heilung der Erkrankten besonders dringlich erscheinen musste. Dennoch haben Annaberg und Preetz kein blindes Vertrauen in die Aussagen der Kinder gezeigt: In Annaberg blieben Schuldsprüche aus. In Preetz sah sich das Gericht genötigt, auf die Kaltwasserprobe zurückzugreifen, um seine Unsicherheit zu überspielen. In beiden Fällen wurden Gutachten eingeholt. Das hochgradig auffällige Verhalten der kindlichen Opfer von Hexerei erregte maximale Aufmerksamkeit, provozierte aber auch eine gewisse Vorsicht. Oder richtiger: Die Handlungen der vorgeblich kranken Kinder waren so auffällig, dass sie die Behörden verunsicherten. Der für Hexereiverfahren an sich typische ›kurze Prozess‹, der schlicht Gerüchte und Bezichtigungen in eine juristische Anklage umformulierte und ohne nähere Untersuchungen und kritische Diskussion zum Schuldspruch führte, wurde hier nicht gemacht. Die ›sensationellen‹ Begleitumstände der Bezichtigungen selbst verhinderten dies.
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3.6. Straßenkinder als Kinderhexen: der siebenjährige Landstreicher – Andree Vorsthofer, Henndorf bei Salzburg, 1678 Vagabondage: Armut als Ordnungsproblem und Verschwörung Eine der letzten großen Hexenverfolgungen des Reichs fand zwischen 1675 und 1679 im Erzstift Salzburg statt. Hier verband sich die Hexenangst mit negativen kulturellen Klischeebildern von Obdachlosen. Die spezifische Entstehung dieser Verbindung brachte es mit sich, dass sich die Salzburger Verfolgungen insbesondere gegen männliche Kinder und Jugendliche richteten. Die Beziehung der Bürger und Bauern der Frühen Neuzeit zu Wohnsitzlosen war zwiespältig. Landstreicher spielten als Gelegenheitsarbeiter, fahrende Händler und Gaukler durchaus eine positive Rolle im dörflichen Leben. Zugleich wurden aber wandernde Bettler als schwere Belastung wahrgenommen. Die Versorgung ortsansässiger Armer und deren dankbare Fürbitte im Gebet als Gegenleistung hatten zumindest vor der Reformation unbezweifelte Werte dargestellt. Vaganten Almosen zu geben, wurde jedoch immer wieder als Sünde verurteilt. Die Differenzierung zwischen den ›eigenen‹ und den fremden Armen, die die Obrigkeiten ab dem 16. Jahrhundert immer rigoroser vornahmen, beruhte auf diesen Maßgaben ebenso wie auf ökonomischen Erwägungen. Die Vagabondage wurde immer wieder schlicht als Faulenzerei verurteilt. Vom Beginn des Buchdrucks an warnte die Publizistik vor betrügerischen Landfahrern, die nur vortäuschten, unter Notsituationen oder Gebrechen zu leiden. Hinzu kam, dass sich unter den Landstreichern immer wieder stellungslose Söldner befanden. Diese kriegserfahrenen und bewaffneten Vagabunden waren durchaus in der Lage, ihrer Bettelei zumindest mit der Androhung von Gewalt Nachdruck zu verleihen. Da sich Wohnsitzlose der Betreuung durch die Kirche weitgehend entzogen, wurden sie von den Sakramenten häufig ausgeschlossen. Der frühneuzeitliche Staat nahm das Wandererwesen stark als Ordnungsproblem wahr. Das Vagantentum sollte bekämpft, zumindest reglementiert werden. Nicht nur der Straßenbettel sollte so eingeschränkt und die Versorgung der ›eigenen‹, der sesshaften Ar-
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men damit gesichert werden. Man hoffte, auf diese Weise auch die Einschleppung von Seuchen, das Eindringen fremder Konfessionen und Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Freilich griff das entstehende Pass- und Meldewesen nur ansatzweise. Beherbergungsverbote und pauschale Ausweisungen von Landstreichern hatten nur zweifelhaften Erfolg. Das gesellschaftliche Image der Vagabunden war belastet von Verschwörungsängsten. Die fremden Bettler, die wohnsitzlosen, wandernden Armen sollten eine kriminelle Gegengesellschaft bilden. Seit dem 16. Jahrhundert verdichtete sich die Vorstellung, dass die Vaganten eigene Organisationen bilden würden. Sie sollten geheime Anführer und eigene Gerichte haben. Ausgegrenzt von Ständen und Kirchen bildeten die Vaganten angeblich ihre eigenen geheimen Verbindungen. Immer wieder wurde unterstellt, dass Gruppen von Landstreichern im Dienst fremder Potentaten Städte und Dörfer abbrannten. Vagabunden sollten Gift auf den Feldern ausbringen und gezielt Seuchen verbreiten. Diese gegen die Obdachlosen gerichteten Verschwörungstheorien können durchaus mit der Hexendoktrin als Verschwörungstheorie verglichen werden. Als Daniel Defoe Landstreicher »pictures of Evil« (Englisch= Abbilder des Bösen) und Werkzeuge des Teufels, schließlich den Teufel selbst einen »vagabond« nannte, der großes Interesse an der Ausbreitung dieser Lebensweise haben sollte, zog er nur die – halb parodistische – Konsequenz aus einer alten Tradition.38 Diese allgemeinen Bedingungen des Umgangs mit Vagabunden müssen als Rahmen der konkreten Entwicklungen in Salzburg gesehen werden. Ein großer Anteil der Bevölkerung war im Erzstift Salzburg auf Wanderarbeit angewiesen. Das Anerbenrecht gab den gesamten bäuerlichen Besitz jeweils nur an einen Erben weiter. Damit wurde eine starke Gruppe von Landbesitzlosen innerhalb der dörflichen Gesellschaft geschaffen, die großenteils als wandernde Saisonarbeiten wirtschaften mussten. Von der Wanderarbeit oder der Tätigkeit als Knecht und dörflicher kleiner Handwerker konnte man leicht in die Wohnsitzlosigkeit und die Bettelei abrutschen. Der 38 Defoe, Political, S. 62, 75, 179; Graus, Organisationsformen; Jütte, Arme, S. 209–221, 237–241, Dillinger, Freiburgs, S. 418–422.
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ehemals lukrative Bergbau Salzburgs war in eine Krise geraten. Ab den 1660ern verdichteten sich Ernteausfälle. Es nimmt nicht wunder, dass die Bevölkerung mit weiter wachsender Mobilität, z. T. gezielter Auswanderung reagierte. Zugleich strömten Bettler aus dem Umland in die Stadt Salzburg. Dass die Regierung die Verwaltung der Armenfürsorge an sich zu ziehen und zu reglementieren versuchte, erbrachte nur geringe Erfolge. Die mobile Bevölkerung erschien der Herrschaft zunehmend als Problem. Die Kinder und Jugendlichen unter den Landstreichern bzw. die Vagabondage als besondere Gefahr für junge Menschen wurden in Salzburg ab dem Ende der 1660er zum Thema. Zu dieser Zeit startete die Landesherrschaft eine ›Bildungsoffensive‹. Das Schulwesen wurde verbessert, der verpflichtende Besuch der Kinderlehre eingeschärft. Die Eltern wurden in landesherrlichen Mandaten an ihre Verantwortung erinnert, Kinder vor dem Einfluss der ›Straße‹ zu beschützen. Gerade Kinder vom Milieu der herumziehenden Bettler fernzuhalten war eine konkrete Aufgabe der Armenpflege. Der Fürsterzbischof erwog die Errichtung von Manufakturen, deren ausdrückliches Ziel es sein sollte, arme Jugendliche durch und zur Arbeit zu ›erziehen.‹ Die Vagabondage wurde geradezu zum Gegenbild des Ziels erfolgreicher Erziehung durch Eltern und Obrigkeit.39 Aber darum ging es nicht wirklich; Landstreicherkinder waren nicht bloß das Realsymbol für alles, was Eltern und Obrigkeit nicht wollten.40 Es ging ganz konkret um Maßnahmen, die Kinder von der ›Straße‹ fernhalten sollten. Auf diesem Hintergrund entwickelte sich eine Hexenverfolgung, die sich vornehmlich gegen junge, vagierende Bettler richtete.
»Gelehrert«: der Zauberer Jackl und seine Bande Jakob Koler und seine Mutter, bekannt unter dem uncharmanten Spitznamen »Schinderbärbel«, waren Landstreicher. Dass sie Diebstähle verübten, steht außer Frage. Jakob, etwa zwanzig Jahre alt, or39 Mülleder, Justiz, S. 84–85. 40 So Walinski-Kiehl, Devil, S. 184–185.
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ganisierte sogar einmal eine kleine Gruppe von anderen Vaganten für einen Überfall. Ein Fünfzehnjähriger, der zeitweise mit ihnen gezogen war, denunzierte Mutter und Sohn Koler jedoch vor Gericht auch als Magier. Erst im Verlauf der Ermittlungen wurde aus einem reichlich unspezifischen Magievorwurf eine Hexereianklage. Nur Jakobs Mutter konnte festgenommen werden. Unter der Folter wurde die »Schinderbärbel« zu einem Hexengeständnis gebracht, bei dem sie auch ihren Sohn Jakob als Komplizen denunzierte. Dabei wurde aus der Gruppe, mit der Jakob Koler seinen Überfall begangen haben sollte, eine Art Gefolgschaft von Hexen, die er anführte. Alle sollten junge Männer aus seinem Milieu, dem der obdachlosen Bettler sein. Die Hinrichtung von Jakobs Mutter 1675 erregte einiges Aufsehen: Sie war eine von bis dahin sehr wenigen Exekutionen von Hexen in Salzburg. Fast dreißig Jahre lang hatte es dort gar keine Hexenprozesse gegeben. Das einzige Ergebnis der intensiven Fahndung nach Jakob Koler selbst und seiner vermeintlichen Bande war, aber dass der Hexereiverdacht gegen ihn und seine Komplizen weithin bekannt wurde. Die Vorstellung, dass es eine von Jakob Koler geführte Gruppe von jungen, überwiegend männlichen Vagabunden gab, die er zur Hexerei verführt hatte, setzte sich offenbar im öffentlichen Bewusstsein fest. Die Ursache dafür wird man darin sehen dürfen, dass die Verbindung von Hexerei und Landstreicher für die Zeitgenossen sehr viel Sinn machte. Es verbanden sich die Imaginationen von drei Verschwörungen: der Verschwörung der Hexen, der Verschwörung der Landstreicher und ganz konkret, quasi als regionale Realisation der beiden, die Verschwörung der Jakob Koler Bande. Die Suche nach Jakob Koler und seinen Komplizen lief zunächst ins Leere. Rund eineinhalb Jahre nach dem Beginn der Fahndung wurde aber der zwölfjährige Betteljunge Dionysius Feldner aufgegriffen, der angab, ein Komplize Kolers zu sein. Nun schienen sich alle Erwartungen bzw. Befürchtungen zu bestätigen. Feldners Geständnis entstand durch wiederholte Verhöre bei verschiedenen Gerichtsinstanzen; Ergänzungen, Spezifizierungen und Bestätigungen wurden durch Prügel und Folterdrohung erreicht. Am Ende sprach Dionysius von Gotteslästerung, Sodomie, Vergiftungen, Wetterzauber, Pakt, Teufelsbuhlschaft, Flug und Sabbat. Wichtig
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war, dass Jakob Koler den Zwölfjährigen zu diesem unglaublichen Katalog von Verbrechen verführt haben sollte. Jakob Koler wurde zum Lehrmeister der Kinderhexe und zum Werber des Teufels stilisiert. Nun wurde aus dem Dieb und Landstreicher Jakob Koler endgültig der »Zauberer Jackl«, der »Verführer der Jugend.« Dionysius hatte natürlich nicht zu den Leuten gehört, mit denen Koler seinen Überfall durchgeführt hatte – hier hätte man eine Mittäterschaft dem Zwölfjährigen schwerlich unterstellen können. Aber die Vorstellung von Koler als Anführer einer quasi magischen Bande hatte sich offenkundig hinreichend verdichtet. Durch die Verbindung der Landstreicherbande mit einer Gruppe von Hexen wurde es möglich, dem Zauberer Jackl eine Gefolgschaft zuzusprechen, die zu einem großen Teil aus Kindern bestand.41 So überzeugend war das bedrohliche Bild vom Zauberer Jackl, das die Behörden maßgeblich selbst hatten zeichnen helfen, dass der Salzburger Hofrat sogar die Nachricht vom Tod Jakob Kolers vom Tisch wischte. Bereits im April 1677 war Koler in St. Wolfgang begraben worden. Da der Verstorbene aber nicht der Beschreibung, die der zwölfjährige Dionysius Feldner vom Zauberer Jackl gegeben hatte, entsprach, nahm die Behörde an, dass es sich um eine Verwechslung handelte.42 Es entwickelte sich eine Abfolge von Hexenprozessen, die sich vornehmlich gegen Bettler und Obdachlose richtete. Ihnen allen wurde vorgeworfen, zum Anhang Jakob Kolers zu gehören. Diese so genannten Zauberer Jackl Prozesse fanden zwischen 1675 und 1679 im Raum Salzburg statt. Die Prozesse kosteten 124 Menschen das Leben. Unter den Todesopfern waren 90 männlichen Geschlechts. Unter diesen dominierte mit 40 % die Altersgruppe der 10 bis 15jährigen. Kinder unter zehn Jahren wurden nicht verurteilt, sondern Pflegefamilien übergeben. Dass auch mit Personen, die die volle Strafmündigkeit noch nicht erreicht hatten, sehr hart umgegangen wurde, erklärt sich als Teil des insgesamt rigorosen Vorgehens gegen die vermeintlichen Vagabunden-Hexen. Denunziationen wur41 Alles Folgende zum Fall Feldner nach Hauptstaatsarchiv München, Hexenakten 10a (Dionysi Feldner). 42 Müller, Justiz, S. 76–79 schließt sich der Argumentation der Hofrates unkritisch an.
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den getreulich notiert und führten zu einigen Festnahmen. Ihre Bedeutung blieb eingeschränkt, da sie überschattet wurden von dem Hexereiverdacht gegen Landstreicher insgesamt, der sich im Salzburger Land verfestigte: Lokale Amtsträger der Herrschaft betrachteten fremde Bettler pauschal als verdächtig, suchten Hexenmale an ihnen und befragte sie nach ihrem Kontakt zu Jakob Koler. Die Justizbehörden sahen sich durch eine Vielzahl verdächtiger Landfahrer rasch überlastet. Unter dem Verfolgungsdruck, den sie selbst geschaffen hatten, verfielen die Behörden auf ein vereinfachtes Schnellverfahren gegen Hexereiverdächtigte. Die Folter wurde auch bei völlig unzureichender Indizienlage angewandt. Die Geständnisse wurden nicht kritisch überprüft. Erst als ab Ende 1678 auch zunehmend Sesshafte von den Hexereiermittlungen betroffen wurden, verordnete der Landesherr den Gerichten mehr Umsicht. Binnen weniger Monate brach die Verfolgung dann zusammen.43 Andree Vorsthofer, einer der Salzburger Hexenjungen, wurde am 17.02.1678 erstmals verhört. Er hatte sich, wie das Gerichtsprotokoll angab, »selbst verdächtigt gemacht … dass er von dem beschreiten [= berüchtigten] Zauberer Jackl auch Zaubereistück gelernet haben solle.«44 Andree hatte in Henndorf bei Salzburg herumerzählt, dass er Koler getroffen habe. Vielleicht hoffte er, auf diese Weise in der großen Gruppe von Bettlern aufzufallen. Dass er sich ›interessant machen‹ wollte, ist wahrscheinlicher als die Absicht einer Drohung. Andrees Position war äußerst schwach: Seine Eltern, arme Tagelöhner, die in Taxenbach im Pinzgau gewohnt hatten, waren Mitte Dezember verstorben. Vielleicht schon vorher hatte Andree sein Elternhaus verlassen. Aufgebrochen war er »zur Zeit, da es noch keinen Schnee gehabt, von daheim aus.« Seit dem war er obdachlos bettelnd von Dorf zu Dorf gezogen. Andree Vorsthofer wusste selbst nicht genau, wie alt er war. Er nahm an sieben; das Gericht schätzte ihn auf zehn. Wie konnte der kleine Junge überhaupt die rund zwei Monate bis zu seiner Verhaftung im Hochwinter des gebirgigen Salzburger Landes überleben? Andree schaffte es längere Zeit bei einzelnen Privatpersonen unterzuschlüpfen und er 43 Müllerleder, Justiz, S. 104–227. 44 Alles Folgende zum Fall Vorsthofer nach Hauptstaatsarchiv München, Hexenakten 10a (Andree Vorsthofer).
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war bereit, jederzeit erwachsenen Wanderern zu folgen. Hieraus ergibt sich, dass der Weg des Jungen kleinräumig und ohne bestimmte Richtung war. Er scheint zwischen Reichenhall und dem Raum etwas östlich Salzburg hin und her gezogen zu sein. Eine Zeitlang, so gab Andree an, sei er mit einer »Betschwester mit geweihten Briefen« unterwegs gewesen. Damit könnte er eine Nonne gemeint haben, eher wohl aber eine Landstreicherin, die hoffte, sich ein Almosen durch ostentativ frommes Auftreten zu sichern. Mit dieser Frau sei er wenigstens die rund 20km von Reichenhall bis Salzburg gezogen; dort aber habe »sie ihn auch verlassen«, wie er mit deutlichem Bedauern feststellte. Laut Protokoll, das vielleicht einen ungefähren Eindruck der Formulierungen des Kindes widergibt, sagte Andree, als er seine Verhaftung ansprach, dass »ihn der Amtmann mit sich ins Amtshaus genommen« habe. Fast klingt das, als habe der Junge die Festnahme als Aufnahme in die Obhut des Amtmanns begrüßt. Andree gab an, bald nach seinem Aufbruch zwischen Reichenhall und Salzburg einen erwachsenen Landstreicher getroffen zu haben. Der sagte schlicht zu ihm, »er müsse eine Weil mit ihm gehen.« Andree versicherte, er habe zu dieser Zeit noch nicht gewusst, dass sein Begleiter der Zauberer Jackl war. Vielmehr habe er diesen sofort verlassen, als ihn Dritte über die Identität des Fremden aufgeklärt hatten. Der Verhörrichter trieb den Jungen mit sehr direkten und leitenden Fragen in die Enge: Man wollte nicht wissen ob, sondern konkret was Jackl Andree »gelehrert« hätte. Das Verhör brachte das Verhältnis des Bettelkindes zum berüchtigten Zauberer sofort in die Analogie von Schüler und Lehrer oder Lehrling und Meister. Die Vokabeln des Lehrens und Lernens, des »Unterrichts« häuften sich. Andree konnte den Vorgaben der Verhörenden hier zwar nicht ausweichen, beharrte aber konsequent darauf, Jackl nur für wenige Stunden gefolgt zu sein. Vielleicht kamen deshalb Pakt und Sabbat nicht zur Sprache. Alles, was ihm Jackl habe beibringen wollen, u. a. Mäusemachen und Wetterzauber, habe er rasch wieder vergessen und nie etwas davon angewandt. Nach dem Verhör wurde Andree durchsucht. Die Liste der vom Amtmann gefundenen Gegenstände bietet einen seltenen, sehr konkreten Einblick in die Lebensumstände eines Bettelkinds des 17. Jahrhunderts: »Ein Taschenmesser, welches ihm seinem Vorwand
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nach [= welches Andree seinen eigenen Angaben nach] ein Bauer … geschenkt habe … aber den Ort, … wo … nicht nennen könne. Ein zusammengewundenes Wachskerzl Trum von einem Wachsstöckl [eine Art Kerze: ein langer Docht in einem dünnen Wachsmantel, aufgewickelt wie ein Wollknäuel, in der Zeit eine übliche Verkaufsform von Wachslichtern], welches er von einem Krämer gekauft, doch auch den Ort nicht benennen kann, wo es geschehen, und habe solche Wachs in den Kirchen anzündet, aber nicht zu andern Sachen gebraucht. Und an etlichen Hölzlein gewundene Fäden, daraus er sich Strumpfbändl machen wollen.« Die Formulierung des Protokolls unterstellte quasi, dass der Junge seine mageren Besitztümer gestohlen hätte. Das Kerzchen, das vom Einfluss der »Betschwester« zeugen mag, aber auch von kindlicher Frömmigkeit – im Rahmen des katholischen Totengedenkens würde man erwarten, dass das Kind Lichter für die toten Eltern anzündet –, wurde besonders beargwöhnt: Mit den »anderen Sachen«, die das Protokoll erwähnte, waren wohl magische Praktiken gemeint. Die penibel aufbewahrten Fäden, mit denen die Strümpfe gehalten werden sollten, sprechen von der ständigen Sorge der Obdachlosen um wärmende Kleidung. Eine Entlassung Andrees kam nicht in Frage, da er jederzeit von Jackl »auf ein Neues verführt« und »unter seine Gewalt« gebracht werden könnte. Der Hofrat erklärte, dass die Hauptstadt Salzburg nicht mit »sentina et colluves« (Latein= Abschaum und Unrat) wie Andree belastet werden dürfe. Daher sollte er zur Erziehung den Kapuzinermönchen von Radstadt oder Laufen übergeben werden. Die Unterbringung erwies sich als schwierig, weil die Regierung darauf beharrte, der Hexenjunge dürfe nicht mit anderen Kindern in Kontakt kommen. Für Andrees weitere Erziehung, sogar für sein ganzes späteres Leben hatte die Obrigkeit bereits feste Pläne: Der Junge sollte das Sattlerhandwerk erlernen. Dagegen sperrte sich allerdings die Zunft. Sie wollte sich wohl weder mit einem Ortsfremden noch mit einem früheren Schüler des Zauberers Jackl belasten. Es blieb schließlich nichts anderes übrig, als Andree Vorsthofer zu einem Bauern als Knecht in Dienst zu schicken.
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Soziale Notlage und Fantasie Die Überlieferung zur Zauberer Jackl Verfolgung bietet Einblicke in das Leben der unterbäuerlichen Schichten. Hier begegnen sowohl einzeln wanderende Kinder ohne erkennbaren familiären Rückhalt wie Andree Vorsthofer als auch ganze Bettlerfamilien. Es sagt etwas über die Verhältnisse aus, in denen die Bettelkinder leben mussten, wenn wir im Fall von Dionysius Feldner erfahren, dass der Zwölfjährige Wunden am Kopf hatte, die ihm ein Hund »im Läussuchen mit den Zähnen verursacht.« Andree mag von Jackl erzählt haben, schlicht um nicht in der Masse der Bettler unterzugehen. Er dürfte die Situation falsch eingeschätzt und geglaubt haben, dass diese Aufmerksamkeit ihm ein Almosen verschaffen könnte. Aber hinter den Zauberer Jackl Geschichten der Bettelkinder steckte mehr. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Armut prägte die Magieimagination der Kinder, die sich in ihren Aussagen in gebrochener Form widerspiegelte. Von Jackl hieß es, dass er von allen Vertretern der Obrigkeit nur einen einzigen fürchte. Es wurde geschildert, wie Jackl, wenn sich ihm eine aggressive Person mit Autorität näherte, einfach davonflog. Er sollte seinen Anhängern beibringen, wie man sich unsichtbar macht. Dieses eher unübliche Hexenstück könnte vom Wunsch der Vaganten zeugen, den misstrauischen Blicken der Bauern und den Überwachungsversuchen der Obrigkeit sehr konkret zu entgehen. Daneben klang häufig der Gedanke an, dass man sich mit Schadenszauber an Personen rächen könnte, die die Bettler schlecht behandelt hatten. Hier waren die Geständnisse sicherlich nahe an der sozialen Realität: Es muss damit gerechnet werden, dass wandernde Bettler tatsächlich versuchten, mit Flüchen oder Androhungen von magischer Schädigung die Bereitschaft, ihnen Almosen zu geben, zu steigern versuchten.45 Im Raum Salzburg, wo der Zauberer Jackl allgemein bekannt und gefürchtet war, mögen diese Drohung konkret die Gestalt der Behauptung, Jackl zu kennen, angenommen haben. Dieses
45 Macfarlane wollte hier sogar eine wesentliche Triebfeder der Hexenangst sehen, vgl. Macfarlane, Witchcraft.
Straßenkinder als Kinderhexen:
Spiel mit der Angst war ebenso gefährlich wie die Versorgungslage vieler Landstreicher verzweifelt war. Auffallend ist, wie breiten Raum für die Kinderhexen die Bewirtung durch Jackl bzw. den Teufel einnahm. Bei den Zauberer Jackl Prozessen hieß es häufig, anders als in anderen Hexengeständnissen, dass sich die Hexen in einem Haus treffen würden. Die Qualität der dort angebotenen Speisen wurde durchweg gelobt. Der Teufel sollte die Betteljunge immer wieder zum Essen auffordern und sie seine »Gäste« nennen. Das Motiv der Kellerfahrt, bei der der Hexensabbat direkt in einen Weinkeller verlegt wurde, wo sich die Hexen entsprechend bedienten, wurde in den Zauberer Jackl Prozesse immer wieder aufgegriffen. Einige Male hieß es direkt, die Hexen hätten sich in einer Wirtschaft getroffen. Hier wurden offenbar die einfachen, aber dringenden Wünsche obdachloser Bettler formuliert: ›unter Dach‹ zu sein und sich satt essen zu können. Die Geständnisse der »Zauberbuben« waren voller farbiger, zum Teil komischer Details. Als Jackl und der zwölfjährige Dionysius Feldner zum Sabbat ins Haus des Teufels kamen »hätten sie den Teufel gegrüßt mit diesen Worten ›Guten Abend, Teufel‹. Der ihnen sodann geantwortet ›Gratias‹ (Latein= Danke).« Dionysius wollte mit einer schwarzen Dämonin mit Hörnern und Krallen geschlafen haben. Weil Dionysius dabei die scharfen Krallen zu spüren bekam, habe »er bei ihm selbst gedacht, sie solle ihr die Nägel abschneiden.« Ein Neunjähriger berichtete, die Hexen hätten unter Anleitung des Teufels rituell Gott lästern müssen. »Unsere liebe Frau [= Maria] haben sie … eine Hexe … geheißen. Die Heilige Dreifaltigkeit und alle Heiligen hat der Teufel befohlen, sollen sie Hexen nennen.« Das Kind kam hier offenbar mit dem Begriff Hexe, der umgangssprachlich auch als einfaches Schimpfwort benutzt werden konnte, durcheinander. Für sich selbst verlangte der Satan snobistisch nach einem Titel, der wörtlich genommen für ihn ganz unpassend erscheint: »Den Teufel haben sie ›Ihr Gnaden‹ [= Anrede für einen hochrangigen kirchlichen Würdenträger oder Adeligen] nennen … müssen.«46 Hier scheint sich eine gewisse Lust am Fabulieren zu äu46 Hauptstaatsarchiv München, Hexenakten 10a (Dionysi Feldner, Hanerl von Rittmoning).
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ßern. Es ist zumindest denkbar, dass diese Geschichten nicht nur im Kontext der Verhöre entstanden. Vielleicht haben sich Bettelkinder gegenseitig mit fantastischen Geschichten über Jackl unterhalten. In diesen Geschichten mögen sie dann selbst auch eine Rolle als Jackls Gefährten gespielt haben. Solche Erzählungen zwischen Wunschtraum und Prahlerei könnten über die konkreten Erfahrungen von Armut und Demütigung hinweggetröstet haben. Der Zauberer Jackl war eine sehr dunkle Gestalt, aber er war auch ein ›Teufelskerl‹. Die Zauberer Jackl Prozesse verdankten sich einer indirekten Interaktion zwischen Verfolgern und Verfolgten, den Amtsträgern der Herrschaft und den Vagabunden. Im Zauberer Jackl flossen die Imaginationen von Hexerei und einer Verschwörung der Vaganten zusammen. Er war für die Vertreter der Herrschaft ein geradezu ideales Feindbild. Für die Landstreicher verkörperte der Zauberer Jackl ein Wunschbild. Sicherlich wünschten sich die Obdachlosen, insbesondere die jungen Vagabunden, keinen Pakt mit dem Teufel im abstrakten dämonologischen Sinn. Aber sie mochten von der Macht Jackls träumen und von den sehr materiell vorgestellten Vorteilen, die der Kontakt mit ihm bringen sollte. Gerade für Kinder und Jugendliche, die Erfahrungen von Isolation und Armut ausgesetzt waren, stellte der Zauberer Jackl eine eskapistische Fantasie dar. Die jungen Obdachlosen hatten geringere Hemmung als Erwachsene, über dieses Wunschbild zu sprechen. Sei es als Fabulieren zur eigenen Unterhaltung bzw. der von anderen Vaganten oder sei als Drohung gegenüber Sesshaften. Die äußerst schwache Position der Bettelkinder machte den Zauberer Jackl attraktiv. Zugleich führte diese äußerst schwache Position dazu, dass die Kinder in besonderer Weise dem Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. 3.7. Kinderhexen und Kriminalität: ein elfjähriger Mörder? Franz Schneider, Sigmaringen 1668 »Unerhörte Mordtat« Das Dorf Laiz lag am Südrand der schwäbischen Alb, im Land Hohenzollern, in unmittelbarer Nähe des Hauptortes Sigmaringen. Dort residierte die Herrschaft, die katholischen Verwandten der
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brandenburgischen Kurfürsten und späteren preußischen Könige. Gegen Franz, den Sohn des Heinrich Schneider aus Laiz, wurde 1668 in Sigmaringen ein Prozess geführt, der ein besonderes Licht auf den Zusammenhang zwischen Hexereiverdacht und Kriminalität wirft.47 Heinrich Schneider stammte weder aus Laiz, noch aus Hohenzollern, noch aus dem Bodensee – Donau – Alb- Raum. Gebürtig war er aus Rapperswil am Schweizer Zürichsee. Was ihn in die Gegend von Sigmaringen verschlagen hat, wo er schon allein durch seinen Dialekt klar als Fremder aufgefallen sein muss, bleibt unklar. Da er in seiner neuen Heimat keine angesehene Stellung als Fachmann in Handwerk oder Verwaltung bekleidete, sondern bloß in Laiz als Viehhirt arbeitete, dürfte Heinrich Schneiders Wanderung aus Not geboren gewesen sein. Schneider war zum zweiten Mal verheiratet; seine erste Frau, die Mutter des ältesten bekannten Sohnes Franz, war verstorben. Franz hatte sich im Alter von elf Jahren auswärts, im von Laiz rund zwanzig Kilometer entfernten Hohentengen als Hirtenjunge verdingt, um etwas zum sehr wahrscheinlich schmalen Familieneinkommen beizutragen. Nach Laiz kam er dennoch regelmäßig zurück. Darüber, dass sich der Junge vor dem Frühjahr 1668 auffällig verhalten hätte, erfahren wir nichts. Am Nachmittag des 15. April 1668, einem Sonntag, alarmierten Hilferufe aus dem Haus der Schneiders ihre Laizer Nachbarn. Heinrich Schneider und seine Frau waren nicht zuhause. Die Leute, die in das Haus eindrangen, fanden die Spielkameraden von Heinrich Schneiders drei Kindern, die beiden Kinder des Schweinehirten, verschreckt aber unversehrt. Mariele, die älteste Tochter Schneiders sowie ihr jüngerer Bruder waren jedoch in Lebensgefahr: Beide Kinder hatten drei tiefe Stichwunden und schwere Schlagverletzung. Dem jüngsten der Geschwister, Anna Maria, einem erst sechs Monate alten Wickelkind, war in der Wiege der Schädel eingeschlagen worden. Die Kinder waren von ihrem ältesten Bruder, dem elfjährigen Franz Schneider angegriffen worden. Er hatte mit einen langen schweren Stab, der am unteren Ende mit Eisen beschlagen und mit
47 Alles Folgende zum Fall Schneider nach Staatsarchiv Sigmaringen, Ho 80A T2 600, vgl. auch Kuhn-Rehfus, Greulichen, S. 428–429.
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einer langen Eisenspitze versehen war, vielleicht dem Hirtenstab seines Vaters, die anderen Kinder geprügelt und gestochen. Einen Tag später wurde Franz Schneider von Vertretern der hohenzollerischen Herrschaft zum ersten Mal verhört. Er leugnete die offenkundige »unerhörte Mordtat« nicht und räumte ein, dass er sowohl seine Geschwister als auch die Kinder des Schweinehirten hatte umbringen wollen. Das Verhörprotokoll legt nahe, dass der Elfjährige sofort und ohne Umschweife eine Begründung für seinen unfassbaren Gewaltausbruch lieferte: Er hatte einen Pakt mit dem Teufel. Vor etwas zwanzig Tagen, als Franz als Hütejunge in Hohentengen arbeitete, kam ein Mann »schwarzer Gestalt, doch reitend wie ein Herr, und zu ihm gesagt, wenn er ihm dienen und sein wolle sein, wolle er ihm Geld und alles genug geben. Darauf er gleich eingewilligt. Solcher [= der Teufel in Gestalt des Reiters] aber weiters begehrt, [Franz] solle Gott und alle Heiligen, auch die Mutter Gottes, verleugnen, nicht mehr beten noch an die Heiligen denken. So er auch zu tun [zu]gesagt.« Mit dieser hastigen, gleichsam atemlos zu Protokoll gegebenen Geschichte begründete Franz, weshalb er die Kinder angegriffen hatte: Er war eine Kinderhexe, er hatte auf Befehl des Teufels gehandelt. Der Teufel sei »gestern in seines Vaters Wohnung zu ihm kommen mit dem Befehl, [Franz] soll seine Geschwister alle ums Leben bringen … gesagt, soll Kinder umbringen … oder, da er solches nicht tue, wolle er [= der Teufel] ihn umbringen und ihn also zu dem, was er getan, gezwungen und gedrungen.« Weshalb brachte Franz seine Gewalt mit Hexerei in Verbindung? Druck des Verhörpersonals in diese Richtung bestand sicherlich nicht. Verbrechen, insbesondere Tötungsdelikte, auf den Einfluss des Teufels zurückzuführen, war in frühneuzeitlichen Strafverfahren nicht unüblich. In Kindsmordprozessen hörte man dieses Argument immer wieder. Viele ledige Mütter brachten aufgrund wirtschaftlicher Not und drohender sozialer Ächtung ihre Kinder direkt nach der Geburt um. Wegen Kindsmord vor Gericht gestellt erklärten die Frauen in vielen Fällen, der Teufel habe ihnen eingeflüstert, das Neugeborene zu töten.48 Dass die Frauen erklärten, auf Verführung des Teufels ihre Kinder getötet zu haben, dürfte zwei Gründe 48 Vgl. z. B. Dülmen, Frauen, S. 11–12.
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gehabt haben. Auf der einen Seite wollten sie sich vor Gericht in etwas besseres Licht rücken – die eigentliche Schuld sollte nicht bei ihnen, sondern beim Teufel als Verführer liegen. Auf der anderen Seiten versuchten die Frauen damit wohl, mit ihren eigenen Schuldgefühlen fertig zu werden. In aller Regel wurden in solchen Fällen die Kindsmörderinnen für ihre Tötungen bestraft, nicht für Hexerei. Die Einflüsterung des Teufels wurde nur als Verführung zur Sünde, nicht als Hexenwerk gesehen. Vom Pakt, von Buhlschaft, Flug, Hexensabbat und Schadenszauber war die Rede ja nicht gewesen. Der Fall des Franz Schneider lag jedoch anders. Er behauptete nicht nur, die Kinder angegriffen zu haben, weil er vom Teufel manipuliert worden war. Er gestand vielmehr darüber hinaus, sofort und ganz eindeutig den Teufelspakt. Damit ging es von Anfang an klar um Hexerei. Über die Ursachen, die Franz zu dieser Aussage bewegt haben, kann nur spekuliert werden. Zwei Deutungen sind möglich, die sich nicht einander ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen mögen. Einmal könnte man annehmen, dass die Aussage des Elfjährigen eine ›überoptimale‹ Anwendung des hergebrachten Arguments von der teuflischen Verführung zum Verbrechen war. Ähnlich wie viele Kindsmörderinnen wollte auch Franz sein Vergehen als Folge einer Manipulation durch den Satan darstellen. Dabei griff das Kind aber allzu tief und allzu konsequent in den Motivbestand um Kontakte mit Dämonen. Statt der einfachen Verführung zur Gewalttat schilderte er einen Teufelspakt. Das Kind erzählte quasi die falsche Geschichte: Aus der Verführungserzählung wurde so eine Hexereierzählung. Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass innerhalb des Hexenglaubens Franz’ Geschichte das ansonsten kaum erklärbare Verhalten des Kindes wenigstens ein Stück weit erklärte. Auf absurde Weise mag Franz selbst seine eigene Geschichte vom Teufelspakt besonders einleuchtend erschienen sein: Der Elfjährige musste sich selbst irgendeinen Reim auf seine Taten machen. Einmal, weil das Gericht das verlangte, zum anderen natürlich um Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Er musste zunächst sich selbst irgendeine Erklärung dafür geben, dass er ein Wickelkind totgeschlagen und andere kleine Kinder, seine eigenen Geschwister, schwer verwundet hatte. Es scheint, als habe der Elfjährige, der ratlos vor den Konsequenzen seines Verhaltens stand,
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zunächst die negativste Erklärung vorgebracht, die ihm bekannt war: seine eigene Identität als Teufelsbündler. Beide Deutungen lassen sich zusamenfügen: In der konkreten Situation, in der sich Franz befand, machte die falsche Geschichte durchaus einen gewissen Sinn. Einen Tag nach diesem Geständnis versuchte das Verhörpersonal mehr über diesen Teufelspakt zu erfahren. Franz erklärte, der Teufel habe sich »Jacole« genannt, Stiefel und Sporen getragen und sei in einer Feuererscheinung verschwunden. Er habe ihm einen »Hut voll Geld« geschenkt. Das Geld habe sich aber in Pferdemist verwandelt. Franz stellte den Pakt mit dem Vokabular einer bäuerlichen Anstellung als Knecht dar: Der Teufel habe ihn aufgefordert, sich auf ein Jahr bei ihm zu »verdingen.« Das Verhörpersonal war mit dieser sehr einfachen und unüblichen Schilderung des Paktes nicht zufrieden. Es fragte mehrfach nach, bis Franz zögerlich sagte, eine alte Frau, die im Haus seines Brotherrn wohne, habe den Dämon zu ihm gebracht. Das Gericht erwartete offenbar eine Lehrmeisterin der Kinderhexe. »Würrich«: Der Teufel, Gewaltfantasien und Gewalt Die Frage nach der Lehrmeisterin schien Franz stark zu verunsichern. Sicherlich bezog sich seine Angabe auf keine reale Person, er erfand sie schlicht unter dem Druck des Verhörs. Es fällt auf, dass er keine Namen nannte und dass im weiteren Verlauf nie gegen diese doch vermeintlich sehr gefährliche Frau ermittelt wurde. Der Protokollant notierte, dass Franz an diesem Punkt des Verhörs nun sehr ängstlich wirke. Schließlich warf der Junge seine ganze bisherige Aussage um: »Wenn man ihm nichts täte, wollte [er] gern die Wahrheit sagen. Nämlich, dass der böse Feind [= der Teufel] niemals zu ihm gekommen, sondern er habe am … Sonntag [= dem Tattag] … Fieber gehabt und davon [sei er] so würrich geworden, dass er seine Geschwister also gestochen und traktiert habe.« Franz Schneider beanspruchte hier in gewisser Weise für sich selbst Unzurechnungsfähigkeit. Er deutete sein eigenes Verhalten völlig neu: Er war nicht das Opfer von dämonischen Einflüsterungen, sondern von einer Krankheit. Ob Franz selbst oder nur der
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Protokollant das Wort »würrich« für den Zustand des Elfjährigen bei seinem Angriff auf die anderen Kinder verwandte, muss offen bleiben. Der Ausdruck scheint aber sehr bezeichnend: Das heute ungebräuchlich gewordene ›würrich‹ oder ›wirrig‹ konnte sowohl ›verwirrt‹, ›orientierungslos‹ als auch ›wütend‹ und schlicht ›irre‹ bedeuten. Franz versuchte also, eine neue Geschichte zu erzählen. Die erste Geschichte vom Teufelspakt, die ihm offenbar sehr rasch nach der Tat und unter dem ersten unmittelbaren Druck der Verhörsituation eingefallen war, zog er zurück. Nachdem der Junge etwas Zeit gehabt hatte, das Vorgefallene zu überdenken, kam er zu einer Darstellung, die den tatsächlichen Ereignissen besser entsprach. Er präsentierte eine völlig neue Interpretation des eigenen Handelns: Er war – zumindest zum Zeitpunkt des Angriffs – krank gewesen. Ein Fieber hatte ihn offenbar verwirrt. Womöglich hatte er – modern gesprochen – Halluzinationen gehabt. Es ist bezeichnend, dass die aus moderner Perspektive betrachtet einleuchtendere Präsentation und Deutung der Gewalttat Franz erst nach einer gewissen Bedenkzeit einfiel. Entsetzt und überrascht von der eigenen Untat lag für das Kind in der Gesellschaft, die an Hexen glaubte, die Erklärung als Hexerei näher als die Erklärung als Folge einer Krankheit. Es scheint, als habe der Elfjährige einen Schock, den das eigene Verhalten ausgelöst hatte, überwinden müssen, bevor er die erste spontane Erläuterung zurückziehen und eine neue präsentieren konnte, die den Abgleich mit der eigenen Erinnerung wohl besser bestand. Die neue Darstellung dürfte auch deshalb für Franz günstig erschienen sein, weil das Verhörpersonal von ihm verlangt hatte, Mittäter zu benennen. D. h. das Gericht hatte seine Hexereigeschichte in einem Maß akzeptiert, das der Junge nicht hatte vorsehen können und auf das er nicht vorbereitet war. Die Verhörrichter wollten diese neue Version der Geschehnisse nicht. Es wird im Verhörprotokoll deutlich, dass Franz unter Druck gesetzt wurde. Die Verhörenden redeten auf das Kind ein, bis der Elfjährige zu seiner ursprünglichen Geschichte zurückkehrte. Er bekräftigte sie sogar: Der Teufel habe ihm eingeflüstert, den Pakt zu leugnen. Der nächste Verhörtag, der 19.4., wurde damit eröffnet, dass der Junge zunächst sein Hexengeständnis bestätigen musste.
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Wieso akzeptierten die Vertreter der Herrschaft die Erklärung mit dem Fieber nicht? Zwischen 1663 und 1666 hatten sechs Hexenprozesse in Sigmaringen stattgefunden. Nach dem Verfahren gegen Franz 1668 kam es zwei Jahre zu keiner weiteren Anklage. Von einer aggressiven Verfolgungswelle in Sigmaringen, die eine Infragestellung eines Hexereiverfahrens nicht geduldet hätte, kann also keine Rede sein. Auch die übrigen südwestdeutschen Gerichtsorte unter der Kontrolle der Hohenzollern und die Nachbarstaaten zeigten zu dieser Zeit nur geringe Verfolgungsaktivität. Im hohenzollerischen Hechingen war sogar 1663 ein Verfahren gegen ein Kind eingestellt worden.49 Unzurechnungsfähigkeit als Grund für eine Strafmilderung oder sogar einen Strafverzicht war im vormodernen Gerichtswesen durchaus bekannt.50 Tatsächlich gab es seit der Antike die juristische Auffassung, dass jemand, der unter »furor« litt, nicht bestraft werden sollte. Unter »furor« (Latein= Toben) wurde verstanden, dass jemand offensichtlich nicht Herr seiner Sinne war und sich stark auffällig verhielt. Die frühneuzeitliche deutsche Rechtswissenschaft unterschied zwischen diesem »furor« und der »melancholia«. Damit war nicht bloß die moderne Melancholie als Depression gemeint, sondern eine kaum einzugrenzende Vielzahl von Symptomen für Geisteskrankheit. Gerichte konnten die »melancholia« als mildernden Umstand ansehen, wenn sie zu der Überzeugung kamen, dass die Krankheit den Täter zu rationalem Planen und Handeln unfähig gemacht hatte. Wann eine entsprechend starke oder mit »furor« verbundene »melancholia« vorlag, war im Einzelfall, eventuell mit Hilfe von Medizinern, zu klären. Da Geisteskranke von Juristen gelegentlich direkt mit Kindern verglichen wurden, wäre der Fall eines womöglich geisteskranken Kindes wie Franz Schneider in jedem Fall einer näheren Überprüfung würdig gewesen. Bei Kinderhexen sind Verweise auf die eigene fragwürdige Zurechnungsfähigkeit bekannt. 1587 äußerte ein 16jähriger in der Stadt Trier eine Reihe von Besagungen. Zugleich behauptete er von sich, ein Katzenhirn gegessen zu haben. Man mag das als verklausulierte 49 Bumiller, Grafschaften, S. 300–305. 50 Vgl. zum folgenden Midelfort, History, S. 182–227.
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Warnung davor, seine Angaben allzu bereitwillig zu akzeptierten, sehen: Der Verzehr eines Katzenhirn machte angeblich wahnsinnig. Vielleicht warnte hier ein junger Denunziant, dem die Situation, in die er hineingeraten war, über den Kopf wuchs, aus der er aber keinen direkten Ausweg sah, vor sich selbst. Die Behörden ignorierten den Hinweis allerdings.51 Im Fall Franz Schneider hätte man zumindest erwarten können, dass das lokale Gericht ein medizinisches und/oder juristisches Gutachten bei Sachverständigen einholte. Dieses Gutachterwesen war ein gut etablierter Bestandteil frühneuzeitlicher Rechtspflege. Nichts derartiges geschah im Prozess gegen Franz Schneider. Es mag sein, dass die Tötung des Kleinkindes und die Verwundung der eigenen Geschwister durch den Elfjährigen die Verhörrichter so entsetzte, dass für sie, ebenso wie zunächst für Franz selbst, nur die negativste mögliche Erklärung des Geschehens in Frage kam: Der Teufel musste ganz konkret seine Hand im Spiel haben. Die Vertreter der Obrigkeit nahmen wohl an, Franz wolle sich mit der Behauptung, er sei krank, nur aus der drohenden Hexereianklage herauswinden. Dass sie die Problematik einer Krankheit des Kindes nicht prüften, muss aber in jedem Fall auch nach den Maßstäben des 17. Jahrhunderts als schweres Versäumnis gelten. Von einem fairen oder korrekten Verfahren konnte nun auch nach der Rechtsaufassung von 1668 nicht mehr gesprochen werden. Trotz dieser erzwungenen Rückkehr zum Hexengeständnis konnte der Rest von Franz’ Aussage wenigstens im Ansatz seine Handlungen erklären. Zunächst folgte das Kind weiter dem bekannten Hexenmuster. Im Auftrag des Teufels hätte er Gift in einen Kräutergarten ausbringen sollen, sei aber gescheitert, weil der Garten gesegnet war. Der Junge wollte am Sabbat teilgenommen haben: Der Teufel führte ihn zum Laizer »Galgen …, da ein Tisch gestanden und Wein darauf, auch ein große Anzahl von Leuten da … getanzt, gesprungen und getrunken.« Dann behauptete Franz, er sei auf einem schwarzen Pferd geflogen. Auch die Teufelsbuhlschaft umging er nicht, wobei der Dämon sein Geschlecht für ihn wechselte: »Der
51 Dillinger, Böse, S. 253–254.
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Böse [= der Teufel] habe gesagt, er sei ein Mädchen. [Franz] soll herkommen und auf ihm liegen.« Ein ganz ungewöhnliches Element unterbrach dieses vergleichsweise ›normale‹ Hexengeständnis: »Der Böse habe ihm vielmals zugemutet [= eingeredet], er solle die Leute ermorden in der Nacht. […] [Der Teufel habe] ihm einmal ein Messer gegeben und gesagt, er wolle ihm helfen und mit ihm zu allen Häusern in Laiz … gehen. [Sie] hätten aber nirgends hineinkommen können.« Unter dem Einfluss des Dämons wollte der Junge also nicht ›nur‹ seine Geschwister und Spielkameraden, sondern das ganze Dorf ermorden. Nicht durch Magie, sondern einfach mit einem Messer. Der Junge behauptete, der Teufel sei im Gefängnis zu ihm gekommen, er habe ihn aber durch die Anrufung der Heiligen Familie vertrieben. Das Verhörpersonal war mit diesen Angaben unzufrieden. Vermutlich erwartete man, dass das Kind Mittäter denunzierte. Franz wurde mit Rutenschlägen gedroht. Darauf scheint er nachgerade in Panik geraten zu sein: Er erklärte, der Teufel hieße Beigliser – ein unverständlicher Groteskname –, dann er heiße Daniel und Veit. Schließlich, wohl als sich Franz an seine Geschichte von der Teufelsbuhlschaft erinnerte, behauptete er, er nenne den Dämon einfach »Mädchen« und dieser ihn »Buhl«, also ›Geliebter‹. Vielleicht lag hier ein Missverständnis vor: Das Verhörpersonal wollte Namen von Komplizen hören, das Kind nannte Namen, die der Dämon tragen sollte. Als Franz daraufhin geschlagen wurde, gab er nur noch »unverständiges Geschwätz« von sich und die Befragung wurde abgebrochen. Am nächsten Tag äußerte Franz endlich die erhofften Denunziationen: Eine Frau Schüllhausen und sein eigener Vater hätten ihn zur Hexerei verführt. Im weiteren Verlauf des Verhörs widerrief der Junge diese Anschuldigen jedoch wieder. Vielleicht, weil man auch das Teufelsmal, von dem er behauptete, der Teufel habe es ihm aufgedrückt, nicht finden konnte, fragten die Verhörrichter nicht weiter nach. Zweifel an der Zuverlässigkeit des Kindes als Belastungszeugen mochten sich nun doch regen. In Franz’ weiterer Aussage tauchte wieder untypische Details auf, die zum angeblichen Plan, die Nachbarn zu töten, passten. Der Teufel habe ihn aufgefordert, seinen Vater und dessen Frau zu erste-
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chen. Franz wandte dagegen nur ein, »sie seien ihm zu stark.« Der Teufel sollte ihm nachts ein Messer gebracht haben, um damit zwei Kinder umzubringen, die Franz aber trotz einiger Mühe nicht habe finden können. Stattdessen hätte er immerhin eine Gans totgeschlagen und eine Kuh mit dem Messer abgestochen. Schließlich bestätigte er zweimal ausdrücklich, am Tag seines Angriffs auf die Kinder »sei der Böse zu ihm in die Stube gekommen und [habe ihm] gesagt, er solle Kinder umbringen.« Natürlich ist die gerichtliche Aussage des Kindes eine äußerst schmale Basis für den Versuch einer Deutung von Franz’ Angriff auf seine Geschwister und die Nachbarskinder. Die ungewöhnlichen Elemente seines Geständnisses beleuchten die Situation jedoch auf besondere Weise. Auf den Einfluss des Verhörpersonals gehen sie mit Sicherheit nicht zurück, da sie wenig Sinn in einem Hexengeständnis machen. Franz erzählte, dass der Teufel ihn wiederholt aufgefordert habe, zu töten. Nicht durch Zauberei, sondern ganz profan mit einem Messer. Die Opfer sollten mal Kinder aus dem Dorf, mal der eigene Vater und die Stiefmutter, dann alle Nachbarn, das ganze Dorf Laiz sein. Der Teufel drückte Franz das Messer für die Morde ganz wörtlich in die Hand. Die Mordpläne scheiterten nicht an Segnungen oder Glockenläuten, wie man es ansonsten aus Hexengeständnissen kennt, sondern schlicht daran, dass die potentiellen Opfer nicht gefunden wurden oder ihre Häuser verschlossen waren. Quasi als Ersatzhandlung wurden Tiere angegriffen. Diese Angriffe auf die Tiere könnten durchaus der Realität entsprochen haben. Äußerten sich hier krankhafte Gewaltfantasien? Begegneten hier wahnhafte Aggressivität und ein Versuch, mit ihr umzugehen, ausgedrückt in der Sprache einer hexengläubigen Gesellschaft,? Franz präsentierte den Teufel ganz konkret und ohne jede Magie als Verführer zum Mord. Dem Messer, dass ihm »der Böse« immer wieder brachte, entsprachen die Stichwunden, die er später den Kindern mit der Eisenspitze eines Stocks beibringen sollte. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass der Junge hier ein eigenes Interesse an Gewalt, sehr drastisch konkret an tödlichen Stichen, in gewisser Weise von sich selbst zu trennen versuchte und in der Gestalt des Teufels personifizierte.
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Das Gerichtsurteil berücksichtigte die Frage nach der geistigen Gesundheit des Kindes nicht. Nach dem Ende des Verhörs wurde dem Elfjährigen bereits angekündigt, dass er »sich längeren Lebens nicht zugetrösten« hätte. Am 24.04.1668, bloß zwei Wochen nach der Tat, wurde Franz Schneider zum Tod verurteilt. Die Todesstrafe für einen Elfjährigen, der auch nach den Maßstäben der Zeit nicht strafmündig war, war schwer zu begründen. Die Richter erklärten ihre Entscheidung spezifisch: »In Ansehung seiner Jugend [müsse er bezüglich der Tötung] mit darauf gelegter ordinari [= üblicher] Strafe verschont [werden], jedoch und weil die dabei unterlaufene große Bosheit das Alter erfüllt, [darf Franz Schneider] die Lebensstrafe [= Todesstrafe] nicht erlassen werden.« Das Urteil griff also zurück auf die Regelung in der Carolina bezüglich Dieben unter 14 Jahren, die wir oben erläutert haben. Die Schwere der Tat wog quasi die Minderjährigkeit des Täters auf. Die Schwere der Tat wurde dabei jedoch an ihren Folgen, der Tötung und den Verletzungen der Kinder, festgemacht, nicht an einem schuldhaftem, planvollen Vorgehen des Täters. Davon hätte bei dem Elfjährigen schwerlich die Rede sein können. Dass die Regelung der Carolina bei einem Tötungsdelikt bzw. Hexerei überhaupt analog anwendbar war, wurde stillschweigend vorausgesetzt. Franz Schneiders »Bosheit«, die Schuld des Elfjährigen, sollte einmal aus dem gewalttätigen Angriff auf die anderen Kinder bestehen zum anderen aber auch aus seiner Hexerei. Auch wenn die Tötung immer klar im Zentrum des Verfahrens gestanden hatte, war für die Urteilsfindung der Vorwurf der Hexerei mehr als nur ein Beiwerk: Erst die Kombination der Tatsache der Tötung und ihrer Deutung mithilfe der Hexerei machten für das Sigmaringer Gericht das Todesurteil notwendig. Entsprechend dem Urteil wurden Franz Schneider »verschiedene Adern an seinem Leib geöffnet [… so dass] er in einem warmen Wasser liegend sich zu Tod bluten« musste. Der Prozess um den Tod des Kleinkindes Anna Maria Schneider und die Verschwörung seiner Geschwister zeigt eindringlich die Macht des Hexenglaubens. Das kaum vorstellbare und schwer erklärliche Verhalten des gewalttätigen Kindes Franz Schneider fand für die Zeitgenossen in der Hexerei eine befriedigende Erklärung. Die alternative Deutung als Folge einer Krankheit wurde, obwohl
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sie nachdrücklich angeboten worden war, vom Gericht ungeprüft verworfen. Gerade weil hier ein Kind, dem grundsätzlich gern ›Unschuld‹ unterstellt wurde, schwer ›schuldig‹ geworden zu sein schien, lag für die Zeitgenossen der Gedanke nahe, dass dieses Kind in Kontakt mit dem Teufel stand. 3.8 Reue und Erziehung: »mit vielfältigen Tränen« – Altje Ahlers, St. Margarethen bei Itzehoe, 1694 Mausmagie St. Margarethen gehörte zu Schleswig-Holstein-Glücksstadt, einem Territorium innerhalb des Reiches, das jedoch vom König von Dänemark regiert wurde. 1694 führte ein neunjähriges Mädchen aus St. Margarethen, Alheit (Adelheit), genannt Altje, Ahlers, ihren Schulfreundinnen einen besonderen Trick vor.52 Sie zauberte aus einem Taschentuch eine Maus. Altje beschrieb das Mäusemachen vor Gericht. Sie band dazu ein weißes Taschentuch – wie Altje bemerkte war es nicht ganz sauber, weshalb die Maus grau erschien – auf ein »Ding … einer halben Manneshand groß, man hätte [es] nicht beugen können, es sei düster gelb und vier Füße unten.« Dann musste man einen Spruch sagen, von dem das Mädchen nur noch »Wann du hinläufst, so komm wieder zu mir« wusste. Wenn man darauf das an das »Ding« geknüpfte Taschentuch von der Hand schob, wurde es zu einer Maus und lief los. Tatsächlich musste Altje »solche [= die Maus] wieder … umwenden, ehe sie wieder zu ihr laufen können.« Wenn man die Maus fing und an ihrem Schwanz einen Knoten löste, verwandelte sie sich zurück in ein Taschentuch und das »Ding«. Das geheimnisvolle gelbe »Ding« wollte die Achtjährige von einer Nachbarsfrau, Elsche Nebelings, bekommen haben. Die habe ihr das Mäusemachen beigebracht und öfter mit ihr zusammen praktiziert. Altje erklärte, nach der Vorführung in der 52 Alles Folgende zum Fall Ahlers nach Reichen, Unterschiedliche, S. 585–622. Der Text kann als Digitalisat im Internet abgerufen werden: http://commons.wikimedia.org/wiki/Vom_Unfug_des_Hexen-Proce%C3%9Fes; Thomasius, Ernsthaffte, Bd. 1, S. 204–205. Vgl. auch verkürzend Schulte, Hexenverfolgung, S. 101; ders., Kinderhexenprozeß.
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Schule habe sie Elsche Nebelings das »Ding« zurückgeben müssen. Als Altjes Schulfreundinnen – Mädchen zwischen acht und zwölf –, denen der Mäusetrick vorgeführt worden war, ihren Eltern davon erzählten, begannen Hexereiermittlungen. Altje war auf ihre Fertigkeit zunächst offensichtlich stolz. Mit der Behauptung »Ick kann Müse macken«, machte sie bei anderen Kindern Eindruck. Auf die Nachfrage einer Erwachsenen antwortete sie aber auch fröhlich und frech »Ei, ick kann nichts. Schiet Schet is et tosammen!« Dennoch erzählte sie dem Pastor und auf drängendes Nachfragen auch dem Kirchspielvogt, dass sie Mäuse, richtiger eine Maus machen konnte. Vor Gericht zeigte sich Altje dann aber verunsichert und schuldbewusst. Sie bekannte sich weiterhin dazu, die Maus ›gemacht‹ zu haben. Das Mädchen erklärte aber auch, sie hätte früher einfach nicht gewusst, dass Mäuse zu machen böse sei. Ihr Lehrer spreche nie von Hexerei. Auf Nachfrage des Gerichts konnte sie zu einem Bund mit dem Teufel nichts sagen, da sie den Begriff ›Bund‹ nicht verstand. Vom Blocksberg hatte sie noch nie gehört, außer wenn Elsche Nebelings, wenn sie krank oder traurig war, sagte, sie »wollte, dass sie auf dem Blocksberg säße.« Es scheint sich bei diesem ungewöhnlichen Ausdruck um einen Fluch, einfach eine krude Äußerung von Unmut gehandelt zu haben. Das Gericht vergewisserte sich, dass Altje Ahlers nicht wusste, dass sich auf dem Blocksberg die Hexen treffen sollten. Mit Fragen, die auf eine Teufelsbuhlschaft abzielten, konnte die Neunjährige gar nichts anfangen. Elsche Nebelings, die Nachbarin von der Altje das Mäusemachen gelernt haben wollte, wurde zum Verhör vorgeladen. Die 63jährige hatte Altjes verwitwetem Vater einige Monate den Haushalt geführt, bis er sich wieder verheiratete. Daher kannte sie das Mädchen, das sie auch noch später besucht hatte. Elsche Nebelings, die arme Witwe eines Küfers, war als streitlustig bekannt und stand bereits seit längerem unter Hexereiverdacht. Vor Gericht leugnete sie standhaft, irgendetwas über Hexerei oder über das Mäusemachen zu wissen. Dass Kinderhexen Mäuse machen sollten, gehörte, wie schon gesehen, zu den Standardmotiven von Kinderhexenprozessen. Da Mäuse Feldfrüchte oder gespeicherte Lebensmittel anfraßen, stell-
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ten sie durchaus eine Gefahr für frühneuzeitliche Haushalte dar. Bei Altje Ahlers ging es nach ihren eigenen Aussagen und der ihrer Schulfreundinnen aber um etwas anderes: Altje konnte offenbar immer nur eine Maus machen. Diese wurde sofort wieder eingefangen und in ihre unbelebten und harmlosen Bestandteile, das Taschentuch und das gelbe »Ding« zerlegt, bevor sie irgendeinen Schaden verursachte. Von einer bedrohlichen massenhaften Produktion von Ungeziefer, wie sie als drohende Perspektive in anderen Kinderverfahren auftauchte, konnte keine Rede sein. Altjes Mäusezauber wirkt vielmehr wie ein Spiel. Dass das Mädchen betonte, man müsse die ›Maus‹ von der Hand schieben und andeutete, dass die Maus im Kreis (zu dem Kind zurück) lief oder zumindest laufen sollte, suggeriert, dass sie ein Spielzeug beschrieb. Das mysteriöse gelbe »Ding« mit vier Füßen, auf das man das Taschentuch binden musste, damit die Maus entstand, könnte ein kleiner Wagen mit vier Rädern gewesen sein, die so gerichtet waren, dass der Wagen, wenn er angeschoben wurde, stets in einem Kreis lief. Elsche Nebelings mag dieses Spielzeug eine ›Maus‹ genannt haben und mit etwas Hokuspokus – dem magischen Spruch – versehen haben, um Altje zu unterhalten. Altje griff das Spiel begeistert auf und sprach ihrerseits dezidiert davon, eine Maus zu ›machen‹. Im Kontext von Kinderhexenprozessen war dies freilich äußerst missverständlich. Man erwartete von Kinderhexen den Mäusezauber: Als Altje offen erklärte, sie könne eine Maus machen, geriet sie in einen magisch-juristischen Diskussionszusammenhang. Sie und die Erwachsenen in ihrer Umgebung erwiesen sich als unfähig dazu, aus diesem Diskussionszusammenhang herauszutreten. Das Gericht vor Ort fragte, ob die Maus vielleicht eine von Dämonen verursachte Halluzination gewesen sein könnte. Die einfache Lösung, in ihr ein Spielzeug zu sehen, wurde aber nie angesprochen. Auch von Elsche Nebelings nicht. Wenn die gerade vorgeschlagene Deutung der magischen Maus als Spielzeug zutrifft, hätte die Witwe schlicht das »Ding« vorzeigen und damit das Missverständnis auflösen können. Wieso tat sie das nicht? Elsche Nebelings stand zu dieser Zeit bereits unter Hexereiverdacht. Sie muss gewusst haben, dass am Ende des Verfahrens ihre Hinrichtung stehen konnte. Es mag ihr in Todesangst am besten erschienen sein, schlicht und ohne
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jede Diskussion alles abzustreiten. Wer konnte ihr garantieren, dass das Gericht die Erklärung der Maus als ein Spielzeug akzeptieren würde, selbst wenn sie das Spielobjekt präsentierte? Was, wenn Altje, die sich für die Witwe ja schon deutlich als Unsicherheitsfaktor und Bedrohung erwiesen hatte, am Ende gesagt hätte, der vorgezeigte Gegenstand sei nicht das geheimnisvolle »Ding«? Dann wäre beim Gericht der Eindruck entstanden, dass Elsche Nebelings gezielt log: Die Folter gefolgt von einem Schuldspruch wären geradezu unvermeidlich geworden. »Kinder-Spiel« Der Ankläger strebte für Elsche Nebelings und Altje Ahlers ein Todesurteil an und verlangte, sie foltern zu lassen. Das Gericht sah sich außer Stande, die Äußerungen der Schulkinder als »Kinderschnack« vom Tisch zu wischen. Wichtig war, dass man streng genommen nicht von Schadenszauber sprechen konnte: Das Kind machte nie mehr als eine Maus und diese Maus verursachte keinerlei Schaden. Auf mehrfaches Nachfragen des Gerichts beharrte Altje darauf, keine andere Magie als nur den Mäusezauber zu beherrschen. Geschädigt wurde durch ihre angebliche Hexerei also niemand. Für Altje sprach nach Auffassung der Richter aber besonders, dass der Zauber einem Spiel so ähnlich gewesen war. Das Kind, dessen Unschuld und Naivität betont wurden, hatte im Mäusemachen tatsächlich zuerst nichts Böses erkannt. Nun aber schien das Mädchen zu verstehen, dass es sich schuldig gemacht hatte. Und es bereute seinen Mäusezauber. Das Gericht stellte fest, dass Altje eine gute kirchliche Erziehung genossen hatte: Trotz der Verführung durch den Teufel, als die der Mäusezauber gelten musste, bestanden gute Chancen, sie für ein christliches Leben zurückzugewinnen. An der Realität des Zaubers wurde also nicht gezweifelt, jedoch an der Schwere der Schuld des Kindes. Eindruck machte auch, dass der Vater versprach, alle seine geringen Mittel dafür einsetzen zu wollen, dass das Mädchen gut protestantisch erzogen werde. Man durfte in der »allerfestesten Hoffnung leben, daß sie in einem christlichen Leben und Glauben fortfahren« könne. Die Grundlage dafür bestand: Das Kind zeigte sich eindeutig und ehrlich reuig: Altje hatte »solche
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ihre Reue mit vielfältigen Tränen zu Tage geleget, auch den gütigen Gott allewege demütigst anzurufen angelobet, daß er ihr solche Verführung des Satans … verzeihen … wolle.« Es waren die Reue des Kindes und seine offenkundige Bereitschaft sich vom Teufel ab und der Kirche erneut zuzuwenden, die den Schuldspruch verhinderten. Das Gericht legte die Prozessakten der Juristenfakultät Halle zur Begutachtung vor. Dort bestätigte man diese Einschätzung: Auch wenn das Mädchen schuldig sei, so sah man doch beste Chancen für seine Bekehrung und dauerhafte Umkehr. Das Kind sollte dazu intensiv von Geistlichen unterwiesen werden. Erst im Gutachten der Juristen hieß es, dass die Maus aus dem Taschentuch ein bloßes »Kinder-Spiel« hätte gewesen sein können. So erklärt sich, dass die Juristen quasi nebenbei auch keine weitere Ermittlung gegen Elsche Nebelings anrieten. Hier äußerte sich wohl tatsächliche Skepsis den Angaben des Kindes gegenüber. Die Tonstelle des Gutachtens war jedoch genau dieselbe wie die des Befundes des Gerichts: die Bereitschaft des Mädchens, Buße zu tun. Letztlich entscheidend für die Empfehlung der Juristen, das Verfahren um Altje Ahlers einzustellen, war, dass man die Reue und den Willen zur Bekehrung ebenso wie die Erziehbarkeit Altjes hoch einschätzte. Nach sechswöchiger Haft wurde Altje Ahlers freigelassen. Die Prozessakten zum Fall Altje Ahlers finden sich weitgehend vollständig in Johann Reichens Publikation gegen die Hexenprozesse. Reichen erhielt das Material von keinem Geringeren als Christian Thomasius, dem großen Gegner der Hexenprozesse und Frühaufklärer. Thomasius war einer der Gutachter gewesen, die die Stellungnahme Halles verfasst hatten. Der Prozess wurde im Oktober 1694 in Halle eingereicht. Die dortige Juristenfakultät war jedoch erst im Juli 1694 mit Thomasius als Gründungsmitglied ins Leben gerufen worden. Altje Ahlers Verfahren war also eines der ersten, mit dem Thomasius an seiner neuen Fakultät zu tun hatte. Liest man Thomasius’ eigene Zusammenfassung des Falles in seinem Überblick über denkwürdige Gerichtsverfahren, kann man über die Akzente, die er setzte, nur staunen. Dort war von Buße und Umkehr gar keine Rede. Vielmehr sprach Thomasius offen und ausschließlich von »Kinderpossen« und »Kinderei«: Es sei offensichtlich, dass die Maus ein Spielzeug gewesen sei, das in dieser
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Form auch allgemein bekannt wäre. Zugleich erklärte Thomasius, das Verfahren gegen Altje Ahlers sei für ihn zur Schlüsselerfahrung geworden: »Dieses Exempel tat mir ziemlich die Augen auf, daß ich dieses noch mehr als papistische Verfahren [des Hexenprozesses] deutlicher erkennen, und den Ursprung desselben ein wenig genauer nachzuforschen lernete.«53 Da Thomasius um die Wende zum 18. Jahrhundert zu einer radikalen Ablehnung des Hexenglaubens kam, war in seiner Argumentation kein Platz mehr für reuige (Kinder)Hexen, die Gnade verdienten. Wenn Thomasius aber bereits als Gutachter 1694 eine skeptische Haltung vertrat, die den vermeintlichen Zauber als Kinderspiel entlarvte, dann hat er sich gegenüber seinen Kollegen in der juristischen Fakultät Halle nicht durchsetzen können: Für diese war die Bereitschaft des Mädchens zur Buße das entscheidende Argument. Pastoralisierung: Seelsorge statt Feuerstrafe Im Verfahren gegen Altje wird ein spezifisches Konzept des Umgangs mit vermeintlichen Hexen sichtbar. Es wurde auf Erwachsene ebenso wie auf Kinder angewandt. Letztlich ging es dabei um Seelsorge. Man könnte von einer ›Pastoralisierung‹ des Hexenprozesses sprechen: Ziel des Umgangs mit Hexen sollte nicht ihre juristische Verurteilung und physische Vernichtung durch die Todesstrafe sein. Vielmehr sollte die Hexe zu aktiver Reue und Umkehr bewegt werden und dann in Kirche und Gesellschaft reintegriert werden. Diese Reue musste vor oder während des Prozesses, vor der Urteilsverkündung demonstriert werden. Die Basis dieses Konzeptes war, dass der religiöse Aspekt der Hexerei stärker als die materiellen Folgen von Schadenszauber betont wurde. Das neue Interesse an der Bekehrung statt der Bestrafung vermeintlicher Hexen entwickelte sich ungefähr gleichzeitig bei protestantischen und katholischen Theologen. Hier begegnen an prominentester Stelle der calvinistische Prediger Antonius Prätorius und der Jesuitenmönch Adam Tanner. Ein Blick auf Tanner soll hier genügen: Der Jesuit argumentierte mit der Bibel. Dabei ent53 Thomasius, Ernsthaffte, Bd 1, S. 204–205.
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Die andere Art, mit Hexen umzugehen: Ab dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts wurde verstärkt verlangt, reuige Hexen nicht hinzurichen, sondern für das Christentum zurückzugewinnen. Der Teufelspakt, hier dargestellt als Fesselung durch Satan, war mit Gottes Gnade auflösbar. Gottlieb Spitzel: Die gebrochne Macht der Finsterniß, Augsburg 1687
larvte der gelehrte Theologe, wie selektiv die Dämonologen die Bibel ausgewertet hatten. Tanner verwies auf die von den Anhängern der Hexendoktrin beharrlich ignorierten Stelle Eph. 6,12: »Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs.« Im Kontext des Dämonen- und Hexenglaubens betrachtet enthielt dieses Zitat eine unglaubliche Sprengkraft. Die Bibelstelle
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erklärte offenbar, dass es die wahre Aufgabe der Christen sei, gegen »die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt« zu kämpfen. Dass diese keine Menschen, sondern »die bösen Geister des himmlischen Bereichs«, also die Dämonen als gefallene Engel waren, wurde aus dem Kontext klar. Gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen war dieser Bibelstelle zufolge nicht die Aufgabe von Christen. Der Kampf gegen den Teufel war der Kampf gegen die Dämonen, nicht gegen Hexen. Diese mochten zwar die Handlager der Dämonen sein, aber der einzige echte Gegner wahrer Christen waren die Höllengeister selbst. Ein wirklicher Sieg gegen den Teufel konnte nur darin bestehen, diesem seine Handlanger und Jünger, die Hexen, wieder abspenstig zu machen. Die Aufgabe von Staat und Kirche bestand nicht darin, die Hexen auf den Scheiterhaufen zu schaffen, sondern sie zurück zu Gott zu bringen. Tanner verlangte klar, dass Hexen, die freiwillig gestanden und Reue zeigten, nicht bestraft werden sollten.54 Diese neue ›pastorale‹ Auffassung des Vorgehens gegen Hexerei wirkte sich konkret auf die Verfolgungen aus. Die erzherzogliche Regierung von Tirol orientierte sich in ihrer praktischen Handhabung von Hexenprozessen an diesem Konzept. In Bayern wurde 1631 ein neues Gesetz erlassen, das im Sinn der Pastoralisierung Milde gegenüber ›reuigen‹ Hexen vorsah. In tatsächlichen Prozessen machte sich das Pastoralisierungsschema positiv bemerkbar. Zwei willkürlich ausgesuchte Beispiele sollen genügen: 1666 machte die Obrigkeit im ehemaligen Verfolgungschwerpunkt Rottenburg am Neckar ihr Urteil gegen eine geständige Hexe ausdrücklich von der Bußfertigkeit der Beklagten abhängig. Zeigte sie Reue, kam sie mit einem Landesverweis davon, falls nicht, sollte sie hingerichtet werden. Dabei sollten Geistliche und Gericht alles tun, was die Delinquentin zum Gefühl echter Reue bringen könnte.55 Während der Hexenverfolgungen 1692/93 in Salem Village im puritanischen Massachusetts wurde es zur Regel, dass geständige, reuige Hexen nicht hingerichtet wurden. Hierin und in den Versöhnungsszenen zwischen umkehrwilligen Hexen und ihren vermeintlichen Opfern, 54 Dillinger, Böse, S. 411–416. 55 Dillinger, Böse, S. 409, 412.
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die sich dort abspielten, wird man eine Variante des pastoralen Konzepts sehen dürfen.56 Die Pastoralisierung verlangte die Bekehrung der Hexe: Sie musste sich grundlegend neu orientieren, gleichsam umlernen. Dazu sollte ihr die Möglichkeit und auch aktive Hilfen gegeben werden. In gewisser Weise handelte es sich also um ein Erziehungskonzept. Die Obrigkeiten hatten immer schon Kinderhexen weniger juristisch bestraft als sie besonderen Erziehungsmaßnahmen zu unterwerfen. Das Kind sollte unterwiesen werden, um es von Verführung und Zwang des Teufels zurück zur christlichen Gesellschaft zu bringen. Die Pastoralisierung erhob dies zum Prinzip für den Umgang mit allen Hexen, auch Erwachsenen. Das Thema des Buches von Gottlieb Spitzel, das eingangs vorgestellt wurde, war eigentlich die Reue, die Bekehrung und der mögliche Rückfall von Hexen.57 Dass Spitzel bei dieser Thematik so ausführlich auf Kinder zu sprechen kam, verdeutlicht, wie nahe sich das Pastoralisierungskonzept und die Kinderhexenprozesse standen. Oder vielleicht besser: Es zeigte sich, wie sehr die Pastoralisierung ein Erziehungskonzept war, das zu Kindern leichter als zu Erwachsenen passte. Juristisch gesehen machte das durchaus Sinn. Die Aussagen von Kinderhexen konzentrierten sich meist auf den Sabbat (oder wurden zumindest so interpretiert). Von materiellen Schäden durch Kinderhexen war seltener die Rede. Im Beispielfall Altje Ahlers hielt das Gericht ausdrücklich fest, dass gar keine konkrete Schädigung zu ahnden sei. Ohne die Notwendigkeit der Bestrafung eines konkreten Schadens konnte die Hexerei vornehmlich als Glaubensdelikt akzentuiert werden. Dann konnte man argumentieren, dass Bekehrung zum christlichen Glauben wichtiger als Strafe war. Aber selbst wenn Kinderhexen krank gemacht oder getötet haben sollten, konnte man in der Regel argumentieren, dass sie auf Druck der erwachsenen Hexen oder des Teufels gehandelt hatten. Auch in diesem Fall wurde die Rückkehr zum Christentum dann zum eigentlichen Thema. Exemplarisch sei hier auf ein Gutachten der Universität Tübingen verwiesen, das schon 1627 einigen Aufwand verlangte, damit 56 Vgl. Herget, Salemer. 57 Vgl. programmatisch Spitzel (wie Anm. 16), Vorrede, ohne Seitenzählung. Von Rau wird dieser Aspekt unterschätzt.
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eine Kinderhexe erzogen und so zu reuiger Umkehr bewegt werden könnte. Elisabeth Widmann aus Sulz hatte bereits im Alter von acht Jahren Hexerei gestanden. Das Kind zeigte sich bereit, sich bekehren zu lassen. Eine erste Unterbringung im Spital zur christlichen Erziehung hatte aber kaum Fortschritte in seiner Erziehung erbracht. Die Tübinger Juristen verlangten daher eine Intensivierung der Erziehungsbemühungen: Um Elisabeth »zu rechter wahrhaftiger Reue und Bekenntnis ihrer groben Sünd, auch wahrer Buß [zu bringen, sollte] ein Blockhäuslein … gebaut und dergestalt eingerichtet werden, daß es mit einer Tür zum Aus- und Eingehen sowohl zu verwahren und zu beschließen sei, daß dann der Schlüssel für solche Tür von einem des Gerichts zu verwahren, dass er [= der Schlüssel] jedesmal von demselben [= dem Gerichtsmitglied] von einer dazu verordneten geistlichen Person abgeholt werde. [Es soll] in solchem Blockhaus Elisabeth … so lange gefänglich gehalten [werden], bis offentlich erscheinet, daß sie sich von solchem … Teufelswerk durch rechte christliche Reue und Buß wiederum abgewendet … und gleichsam ein anderer Mensch worden. … Inzwischen aber solle sie alle Tag durch ein geistliche Person besucht [werden], von welcher ihr … Buß gepredigt … werden soll.«58 Elisabeth wurde also isoliert. Als Ansprechpartner sollten ihr nur noch Geistliche zur Verfügung stehen, die das Kind christlich erzogen und seine Bereitschaft zur Umkehr stärkten. Die Kosten dieser Maßnahme sollte die Familie des Kindes oder ihr Heimatort tragen. Von ›kurzem Prozess‹ oder einer rächenden Strafe war keine Rede, es ging um Erziehung und Seelsorge. Auf die Spitze trieb dieses Konzept die Herrschaft Lippe, wo in Detmold eine Verwahranstalt für Kinderhexen unterhalten wurde. Dort saßen verdächtige Kinder z. T. mehrere Jahre ein, um sicher zurück zum christlichen Glauben geführt zu werden.59 Man fühlt sich an Konzeptionen des Strafvollzugs erinnert, die unter dem Einfluss der Quaker im 19. Jahrhundert entstanden: Als ›umerziehbar‹ geltende Verbrecher sollten in der Haft völlig isoliert werden, allenfalls mit Geistlichen als Gesprächspartner. So sollten 58 Universitätsarchiv Tübingen, 84/6, vgl. Weber, Verführten, S. 141; Sauter, Hexenprozess, S. 158. Ich danke Frau Dr. Marianne Sauter, die mir ihre Notizen zu diesem Fall zur Verfügung gestellt hat. 59 Koppenborg, Hexen, S. 142–166.
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sie zur Reue gebrcht und bereit gemacht werden, das ›Innere Licht‹, den Einfluss Gottes, zu fühlen, der sie zu besseren Menschen machen würde. Gewiss, Kinderhexen gegenüber wurde häufig auf eine juristische Strafe verzichtet, bereits bevor das Konzept der Pastoralisierung an Boden gewann. Dennoch war dieses Konzept auch und gerade für Kinder bedeutsam. Erstens, weil es die Aufgaben von Staat und Kirche im Kampf gegen Hexerei neu schwerpunktete. Zweitens, weil es eben doch zahlreiche Ausnahmen von der Regel, Kinderhexen nicht mit der vollen Härte des Gesetzes zu strafen, gab. Maria Ostertegin etwa, das Mädchen, das freiwillig gestanden und Reue gezeigt hatte, wäre nicht verurteilt worden, hätte man in Ellwangen das Pastoralisierungskonzept schon gekannt und beachtet. »Unbußfertig«: Verweigerung von Erziehung und Reue Im Oktober 1659 nahm Franz Gasser, der Obervogt der habsburgischen Herrschaft Gutenstein, gelegen nahe Kloster Beuron an der Donau, die elfjährige Maria Paumannin unter Hexereiverdacht fest.60 Auf Anweisung der zuständigen habsburgischen Regierung in Innsbruck wurde das Kind unter Aufsicht eines Juristen verhört. Die besonnene Haltung Innsbrucks in Hexenprozessen, die hier bereits im Rahmen der Besprechung des Falles Maria Ulmerin dargestellt wurde, lässt sich wieder beobachten. Allerdings zeigte sich nun ein neuer Zug. Das Kind gestand ohne Folter. Vermutlich hatte es selbst den Prozess durch Äußerungen ausgelöst, die Gasser verdächtig erschienen waren. Das Geständnis befriedigte die Innsbrucker Regierung jedoch nicht: Sie empfand es offenbar als unvollständig. Gasser wurde angewiesen, nachzufragen, ob Maria Paumannin sich zum Zeitpunkt ihres ersten Kontaktes mit dem Teufel im Stand der Todsünde befunden habe und ob das Mädchen sich zu dieser Zeit aus eigenem Antrieb gewünscht hätte, mit dem Teufel in Berührung zu kommen. Außerdem verlangte Innsbruck Informationen über das bisherige Leben des Mädchens, spezifisch seine Erziehung und 60 Das folgende nach Dillinger, Böse, S. 299–300, 411, 416.
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kirchliche Bildung. Vor allem wollte man wissen, ob Maria Paumannin »nicht signa poenitentiae [Latein= Zeichen von Reue] von sich gebe.« Weder der Vogt noch der Jurist aus der Provinz an der Donau hatten sich vorher für diese Punkte interessiert. Es wird in der Prozessüberlieferung deutlich, dass Gasser ein rasches Urteil wollte: Das Kind hatte gestanden, war also schuldig. Die Innsbrucker Regierung war dagegen an den religiösen Aspekten des Hexereiverbrechens, konkret dem christlichen Bewusstsein und Gewissen des Kindes interessiert. Die Innsbrucker Regierungsräte hatten gute Absichten: Sie wollten die Seele der vermeintlichen Kinderhexe retten. Maria Paumannin sollte nicht schnell abgeurteilt werden, sondern in Haft bleiben, um dort religiös unterwiesen und zur Bekehrung gebracht werden. Maria Paumannin legte jedoch ein ganz anderes Verhalten als Altje Ahlers an den Tag. Obervogt Gasser berichtete, dass das Kind keinerlei Zeichen von Reue zeigte. Das Mädchen verweigerte sich den Gesprächen mit Seelsorgern. Die geständige junge Hexe wollte sich offensichtlich nicht bekehren lassen. Innsbruck ordnete an, man solle dem Kind seine Hinrichtung androhen und ihm eine letzte Frist von drei Tagen einräumen, um sich vom Teufel loszusagen. Die Elfjährige bekundete noch immer keine Reue. Am 03.06.1660 wurde Maria Paumannin durch Ausbluten hingerichtet. Bei der Exekution spielten sich entsetzliche Szenen ab, von denen die Innsbrucker Regierung in Gassers »Bericht – respectiue [= bzw.] Entschuldigungsschreiben, … [über] den üblen Hergang … der Exekution« nur »ungern« hörte. Weshalb Maria Paumannin alle Zeichen von Reue und jede Bereitschaft zu kirchlicher Erziehung verweigerte, kann nicht mehr geklärt werden. Wahrscheinlich verstand die Elfjährige einfach nicht, was von ihr erwartet wurde. Die Innsbrucker Regierungsräte hatten sich auf das Konzept der Bekehrung von Hexen versteift. Wenn diese Bekehrung nicht gelang, musste die Beklagte folgerichtig hingerichtet werden. 1681 wurde im habsburgischen Altdorf am Bodensee (heute Weingarten) gegen die Schwestern Maria und Katharina Wilhelmin wegen Hexerei prozessiert. Beide dürften noch Kinder gewesen sein, ihre Schwester war erst acht. Obwohl beiden vermutlich gleiche Tatbestände vorgeworfen worden waren, wurden sehr unterschiedliche
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Urteile gefällt: Da sie »unbußfertig« war, sollte Katharina exekutiert werden. »Was aber die Maria betrifft, [sei] nochmals aller Fleiß anzuwenden …, damit sie auf den rechten Weg noch möchte gebracht werden.« Dieselbe Zeit und derselbe Ort, sogar dasselbe Verfahren und Beklagte mit absolut demselben sozialen Umfeld, aber dennoch radikal verschiedene Urteilssprüche. Das Gericht bewertete hier dezidiert die Bereitschaft zu Buße und Bekehrung. Katharina verweigerte sich der Erziehung, sie zeigte keine Reue als Grundlage und keine Bereitschaft zur Umkehr als Antrieb. Die Bitte um Vergebung und die Anrufung Gottes, die Katharina Wilhelmin unmittelbar vor ihrer Hinrichtung äußerte, kamen zu spät. 61 ›Pastoralisierung‹ bedeutete nicht einfach eine Milderung der Verfolgungspraxis. Wenn – aus welchen Gründen auch immer – Reue nicht offen gezeigt wurde, verlangte das Konzept rigoroses Vorgehen gegen die Beklagten. Ohne Reue konnte eine Erziehung hin zu einer Rückkehr zur christlichen Gesellschaft nicht gelingen. In solchen Fällen wurden auch Kinder hingerichtet. Dennoch war diese Praxis verglichen mit der während der Schwerpunktphase der Verfolgungen milde.
61 Das folgende nach Dillinger, Böse, S. 412.
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4. Muster und Strukturen von Kinderhexenprozessen 4.1. Aschenputtel: Herkunft und Umfeld der Kinderhexen Armut Die Dämonologie hatte die soziale Identität von Hexen nie ganz eindeutig festgelegt. Sie transportierte eine Reihe von Berichten über wohlhabende Hexen. Gleichwohl stellte sie fest, dass die meisten Hexen arm seien. Das scheint mehr oder minder auch der Verfolgungspraxis entsprochen zu haben. Obwohl reiche und sozial hoch stehende Hexen regionale Hexereiimaginationen dominieren konnten, waren doch häufig die Ankläger in Hexenprozessen den Beklagten sozial überlegen. Dasselbe galt für Kinderhexen. Sie lassen sich nicht ausschließlich einer gesellschaftlichen Schicht zuordnen. Es begegnen einige Kinder aus sozial abgesicherten und sogar wohlhabenden Kreisen – das Beispiel der Anna Maria Hauber haben wir breit diskutiert.1 Insgesamt gesehen dürfte dies aber die Ausnahme gewesen sein. Die meisten Kinderhexen waren offenbar arm: Andree Vorsthofer und 1
Vgl. z. B. Bodin, Außgelasnen, S. 133; Lancre, Inconstancy, S. 192–193; Kemper, Anwachsenden, S. 126–129.
Herkunft und Umfeld der Kinderhexen
Franz Schneider waren in dieser Hinsicht typisch. Wir haben bereits gesehen, dass unbefriedigte Konsumwünsche sowohl bei Andree Vorsthofer als auch bei Hans Douck die Magieimagination prägten. Aus heutiger Perspektive ist es erschreckend wie einfach und grundlegend diese Konsumwünsche waren: Es ging vornehmlich um Lebensmittel. Die historische Hexenforschung kennt seit den 1970er Jahren das Macfarlane-Thomas Paradigma der Entstehung von Hexereiverdacht. Es hebt auf die relativ schlechte ökonomische Lage vieler Verdächtiger ab. Im Zusammenhang mit den Zauberer Jackl Prozessen haben wir dieses Muster bereits kurz angesprochen. Danach kam die vermeintliche Hexe aus einer niedrigen Schicht als der angeblich Geschädigte und stand zu ihm in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis. Häufig war sie auf informelle Hilfeleistungen oder unmittelbar auf Almosen angewiesen. Die Reformation leugnete die Heilsrelevanz guter Werke. Dadurch verlor privates Almosen an Bedeutung. Bettler wurden häufiger abgewiesen. Trotz der formalen Konformität mit der Ethik der Reformation löste dieses Ausscheren aus dem hergebrachten Moralkodex bei den Almosenverweigeren Bedenken dem eigenen Verhalten gegenüber aus. Hexenangst entstand nun dadurch, dass das ›schlechte Gewissen‹ auf die Bettler projiziert wurde. Derjenige, der das Almosen nicht gegeben hatte, konnte leicht ein Unglück, das ihn darauf befallen mochte, als magische Rache des abgewiesenen Armen interpretieren. Dies galt besonders dann, wenn der Bettler mit Drohungen oder gar Verwünschungen darauf reagiert hatte, dass ihm die Hilfe verweigert worden war.2 Selbstverständlich kann diese pauschale Erklärung nur einen Teil der Hexenprozesse deuten. Wie bereits gesagt, konnten gerade reiche Hexen in regionalen Hexenimaginationen sehr breiten Raum einnehmen, wobei es zum Faktor des Hexereiverdachts wurde, dass diesen Reichen mangelnde Fürsorge für Arme unterstellt wurde. Die konfessionelle Zuspitzung des Macfarlane-Thomas Paradigmas ist fragwürdig. Auch in katholischen Regionen begegnete in der Frühen Neuzeit immer wieder starke Abneigung gegenüber 2
Vgl. dazu Dillinger, Hexen, S. 130–132.
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bettelnden Fremden und eine tendenziell negative Einstellung gegenüber den ortsansässigen Armen, die auf Kosten der Kommune unterstützt werden mussten. Der spezifische Fall des abgewiesenen Bettlers, der mit Drohungen reagierte, ist uns in den Fallstudien zu Kinderhexenprozessen nicht begegnet. Wenn sich solche Konfliktsituationen auch bei jugendlichen Bettlern ergeben haben mögen, fällt es schwer, sie sich bei Kindern vorzustellen. Dennoch ist die These, dass Hexereiverdacht gegen Bettler etwas mit einem unterschwelligen ›schlechten Gewissen‹ oder einem Schuldgefühl dieser Gruppe gegenüber zu tun haben könnte, nicht von der Hand zu weisen. Die Zauberer Jackl Prozesse wird man auch im Kontext dieses spezifischen Hexereiverdachts gegen Bettler sehen dürfen. Für alle Kinderhexen, die obdachlos umherzogen oder vom offenen Straßenbettel lebten, aber auch für diejenigen, die dauerhaft auf kommunale Armenpflege angewiesen waren, wird man Macfarlanes Erklärungsansatz in Betracht ziehen können. In jedem Fall wird man festhalten dürfen, dass Kinder aus armen Verhältnissen geringen sozialen Rückhalt genossen. Ihre konkreten Chancen sich vor Gericht zu verteidigen waren schlecht. Das galt, wenn es um eine Verteidigung gegen einen Schuldspruch ging. Das galt aber auch, wenn es um eine Verteidigung dagegen ging, in die Rolle des Denunzianten gedrängt zu werden. Schwierige Familien Dichter belegt als Armut ist jedoch ein anderes Element des sozialen Profils von Kinderhexen. Die deutliche Mehrzahl der Kinder lebte in problematischen familiären Verhältnissen. In unseren Fallbeispielen waren Maria Ulmerin und ihre Schwester, ebenso Andree Vorsthofer Vollwaisen, von Maria Ostertegin kann es angenommen werden. Maria und Andree lebten ohne jeden Rückhalt durch erwachsene Verwandte, Maria war in der Verwahrinstitution des Spitals untergebracht. Dass Hans Douck offenbar darunter litt, ohne Vater aufzuwachsen, wurde bereits besprochen. Altje Ahlers scheint der Nachbarin, die dem verwitweten Vater den Haushalt führte, näher als diesem gestanden zu haben. Altje selbst gab vor Gericht an, ihr Vater habe ihr gesagt, sie sei acht
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Erwachsene übergeben zwei kleine und zwei ältere Kinder den Dämonen. Auffallend ist die teure und vornehme Kleidung: alle Personen werden – entgegen dem üblichen Hexenklischee - als Angehörige der Oberschicht dargestellt. Francesco Maria Guazzo: Compendium maleficarum, Mailand 1608
Jahre alt. Tatsächlich wurde im Verlauf des Verfahrens das genaue Geburtsdatum ermittelt: Das Mädchen war fast zehn. Ein so gravierender Fehler spricht dafür, dass der Vater wenig Interesse für seine Tochter aufbrachte. 3 Dass die elfjährige Halbwaise Franz Schneider sich eine Anstellung in relativ großer Entfernung von dem Haus gesucht hatte, in dem der Vater und die Stiefmutter wohnten, könnte für problematische Familienverhältnisse sprechen. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sich die Gewaltfantasien des Jungen besonders stark gegen den Vater und die (Stief)geschwister richteten. Bartholomäus Süb, der in Calw die Schlüsselrolle gespielt hatte, war unehelich geboren.4 Zu seiner Großmutter schien er besseren Kontakt als zu seiner Mutter zu haben. Geradezu überdeutlich wird 3 4
Reichen, Unfug, S. 592, 601. Weber, Verführten, S. 17.
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die unvollständige Familie im Fall von Johann Heinrich Kloz: Es wurde ja darüber spekuliert, dass der Geist, den der Junge sehen wollte, das Gespenst seines verstorbenen Vaters sei. Es ist schwer, sich auszumalen, welche Belastung dieses Gerede zusätzlich zum Verlust des Vaters für den Zehnjährigen bedeutet haben muss. Es handelte sich bei Kinderhexen also vielfach um Waisen oder Halbwaisen, bzw. um Kinder, die nicht bei ihren Eltern, sondern bei entfernteren Verwandten, in Pflegefamilien oder in karitativen Einrichtungen aufgezogen wurden.5 Durch die vergleichsweise hohe Sterblichkeit auch bei Erwachsenen und die völlig übliche Praxis der Wiederverheiratung waren Familienstrukturen, die an die scheinbar moderne ›Patchworkfamilie‹ der Gegenwart erinnern, durchaus verbreitet. Das heißt freilich nicht, dass das Leben mit Stiefvater, Stiefmutter oder Stiefgeschwistern unproblematisch gewesen wäre. Insbesondere erbrechtliche Frage sorgten für Konfliktstoff. Märchen – freilich größtenteils deutlich nach der Hexenzeit aufgezeichnet – mochten etwas von den Ängsten von Kindern widerspiegelt haben, wenn sie immer wieder die Beziehung zu Stiefmüttern negativ darstellten. Noch schwieriger war die Situation von Kindern, in deren Familien die Vater- bzw. Mutterstelle dauerhaft unbesetzt blieb. Die Zeitgenossen sahen solche Familienbeziehungen als Abweichungen von der Norm und daher als defizitär.6 Nur weil Kinderhexen häufig aus ›unvollständigen‹ Familien kamen, konnte man sie vielfach ohne weitere Probleme kirchlichen bzw. kommunalen Einrichtungen oder Pflegefamilien zur Erziehung übergeben. Diese drastische Erziehungsmaßnahme brauchten sich nicht gegen die erzieherische Autorität der Eltern durchzusetzen und stellte auch keinen familiären Zusammenhalt in Frage: Diese gab es für die Mehrzahl der betroffenen Kinder offenbar gar nicht. Was oben mit Bezug auf Armut festgestellt wurde, gilt auch für die ›defizitäre‹ Familienbindung: Sie machte es für Kinder fast unmöglich, sich dem Zugriff von behördlichen Ermittlungen zu entziehen. Von Gerichten konnten sie zwar als Minderjährige nicht 5 6
Weitere Belege Dillinger, Hexeneltern. Vgl. Gestrich, Geschichte.
Herkunft und Umfeld der Kinderhexen
ohne weiteres verurteilt werden. Sie konnten jedoch von Amtsträgern der Gerichte und der Strafverfolgung praktisch nach Belieben unter Druck gesetzt werden. Kinderhexen waren häufig Kinder, für die niemand nachdrücklich einstand. Ausnahmen stellten z. B. Marion Clerk, das Zauberkind aus Ostengland, der Pfarrerssohn Johann Gottlieb Adami und Anna Maria Hauber dar. Bei ihnen waren beide Elternteile noch am Leben. Das verdächtige Kind wurde von den Eltern jeweils unterstützt. Freilich auch, weil die Eltern im Fall Marions von der Tätigkeit des Kindes als Heilerin und Wahrsagerin profitierten, im Fall Anna Marias, weil die Eltern selbst in Hexereiverdacht gekommen waren. Marions, Johann Gottliebs und Anna Marias Stellung präsentierten sich prompt als vergleichsweise stark. Die beiden Mädchen mussten sie sich zwar einem kirchlichen Verfahren bzw. einer Ermittlung durch ein Lokalgericht unterziehen, aber strafrechtlich verurteilt wurden sie nicht. Bei Marion war sogar zu beobachten, dass das Kind zunächst gewisses Ansehen in seinem sozialen Nahraum, analog dem erwachsener Handwerkermagier genoss. Johann Gottliebs Fall lag hier anders, insofern als er selbst nicht aktiv zaubern sollte. Er wurde aber von seinem Vater geradezu zum Hauptopfer und Kronzeugen der Annaberger Hexenjagd stilisiert. Es kann also festgehalten werden, dass die wenigen Zauberkinder aus offenbar intakten Familienverhältnissen, die sich überhaupt greifen lassen, von Bevölkerung und Behörden vergleichsweise gut behandelt wurden. Nach Art einer ›Gegenprobe‹ bestätigen damit die Ausnahmen von Kinderhexen aus ›intakten‹ Familien die Regel, dass Minderjährige mit schwachen Familienbindungen leicht von Verfolgungsbefürwortern vereinnahmt werden konnten. Die Kinderhexen bewegten sich also großenteils am Rand der Gesellschaft: Nicht nur einfach, weil sie Kinder waren, sondern auch weil sie arm waren und geringen familiären Rückhalt genossen. Angesichts der extremen Randständigkeit der Kinderhexen ergibt sich die Frage, wieso man ihnen überhaupt glaubte. Weshalb verließ man sich – oft scheinbar geradezu blind – darauf, dass die Aussagen und Denunziationen, die diese Kinder äußerten, der Wahrheit entsprachen? Weshalb war man bereit, ihnen zentrale, auf den ersten Blick sogar dominierende Positionen in Hexenprozessen
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einzuräumen? In der magischen Volkskultur konnte randständigen Personen besondere magische Macht einschließlich mantischer Fähigkeiten zugeschrieben werden. Allerdings galt dies vornehmlich für Priester, die als Vermittler an der Schwelle zum Numinosen standen, und für Vaganten, die sich am Rand der Gesellschaft und damit auch am Rand zum außergesellschaftlichen Bereich der Geistersphäre bewegten.7 Armen und Personen aus problematischen Familienverhältnissen generell wurde jedoch magische Macht durchaus nicht zuerkannt. Es war also nicht so, dass die magische Kultur Alteuropas suggeriert hätte, randständige Kinder gerade eben wegen ihrer Randständigkeit für glaubwürdig zu erachten. Es darf zwar festgehalten werden, dass der Glaube an die magische, insbesondere mantische Begabung von Kindern sicherlich eine gewisse Rolle bei Kinderhexenprozessen spielte. Allerdings allenfalls als kultureller Hintergrund: Die konkreten Aussagen der Kinder im Gerichtskontext sollten sich im Regelfall nicht mantischen Fähigkeiten verdanken, sondern der einfachen und direkten Erfahrung. Die Kinder sollten die Hexen kennen, nicht weil sie heilsehen konnten, sondern weil sie zum Sabbat verschleppt worden waren. Das Bedingungsgefüge magischer Vorstellungen erklärt also nicht, weshalb gerade Kindern aus ökonomisch und familiär schwierigen Verhältnissen von Hexenverfolgern großes Vertrauen entgegengebracht wurde. Wir müssen die Frage zunächst offen lassen, um später auf sie zurückzukommen. Hier sei ein kurzer Seitenblick erlaubt. In der Forschung ist bereits auf die Parallelen zwischen Hexen und Heiligen hingewiesen worden.8 Für Kinderhexen ist das von besonderem Interesse. Ab dem 19. Jahrhundert traten immer wieder vornehmlich weibliche Kinder und Jugendliche auf, die göttliche Visionen haben wollten. Ihnen sollten angeblich Engel und Heilige erscheinen. Bernadette Soubirou aus Lourdes war sicherlich das bekannteste Beispiel, aber nur eine von vielen dieser Kindervisionäre. Es fällt auf, dass auch diese Kinder häufig aus armen Verhältnisse und aus problematischen Familien kamen: Bernadettes Familie hatte einen raschen 7 8
Dillinger, Magical, S. 147–174. Dillinger, Hexen, S. 122–123.
Herkunft und Umfeld der Kinderhexen
und drastischen sozialen Abstieg hinter sich, die Ehe der Eltern war problembelastet, Bernadette selbst war über Jahre kränklich. Die Kinder, die 1846 über eine Marienerscheinung in La Salette sprachen, waren eine 15jährige Hirtin aus einer zeitweilig auf Almosen angewiesenen Familie und eine 11jährige vernachlässigte Halbwaise. Schon Brentano hat die Kindervisionäre seiner Zeit mit der Märchenfigur Aschenputtel verglichen. Für die Mehrzahl der Kinderhexen dürfte man dies übernehmen können. Die Äußerungen der Kindervisionäre wie der Kinderhexen unterlagen einer rigorosen und autoritären Interpretation durch Erwachsene. Diese war in der Regel aber ablehnend. Entgegen der landläufigen Meinung ist die große Mehrzahl der Kinder, die von unmittelbarem Kontakt zu Gott und Heiligen sprachen, von Kirche, Staat und unmittelbarer Umgebung abgelehnt worden. Ein Pakt mit Teufel scheint grundsätzlich für wahrscheinlicher gehalten zu werden als eine Vision Gottes. Dies gilt auch zumindest für die mächtigere zeitgenössische Interpretation der Tätigkeit der Kindervisionärin par excellence: Jeanne d’Arc. Jeanne verbrachte ihre Kindheit in einem Kriegsgebiet, Gefühle unmittelbarer Bedrohung gehörten ihren Selbstauskünften nach zu ihren frühesten Erinnerungen. Sie erklärte, sie habe mit 13 Jahren zuerst die Visionen gehabt, die ihre Umgebung dazu brachten, sie als Heilige zu verehren bzw. als Hexe zu verbrennen. In Jeanne fließen (Kinder)heilige und (Kinder)hexe zusammen.9 Die Parallelen zwischen Kinderhexen und Kinderheiligen, richtiger Kindervisionären ist frappant. Aber darf man beide Erscheinungen wirklich zusammen sehen? Dürfen die Kinderhexenprozesse und die Auseinandersetzung mit den minderjährigen Visionären parallel gesetzt werden? Sicherlich nur bis zu einem gewissen Grad; kategoriale Unterschiede können nicht übersehen werden. Die Kinderheiligen standen in der Regel nicht vor einem Kriminalgericht. Von ihnen wurde nicht erwartet, dass sie vermeintliche Schwerverbrecher denunzierten. Ihre Aussagen mochten als Torheit oder Ärgernis abgelehnt werden, in der lokalen Gemeinschaft und weit darüber hinaus auch für massive Konflikte sorgen. Aber sie 9
Brentano nach Landfester, Halb, S. 168; Blackbourn, Ihr, S. 39–103; Thomas: Jeanne.
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verwickelten niemand anderen in einen Strafprozess, bei dem es um Leben und Tod ging. 4.2. Kinderkultur – Erwachsenenkultur: Usurpationen, Fehldeutungen, Selektionen Die Usurpation neutraler Äußerungen der Kinder Eine Untersuchung zu einem Kinderhexenprozess aus Lippe stellte einmal dramatisch-lapidar fest: Die vermeintliche Hexe hatte »ihren Tod … hauptsächlich einem Kind zu verdanken.«10 Das wird man auch als rhetorische Zuspitzung nicht gelten lassen dürfen: Hat das Kind tatsächlich die Ermittlung geleitet, das Gericht besetzt, das Todesurteil verhängt, vollstreckt und sich jegliche Kritik und Bitten um Begnadigung verbeten? Selbstverständlich konnten Kinder keine Hexenprozesse führen. Um die Entstehung von Kinderhexenprozessen zu verstehen, muss der Kommunikationsprozess zwischen Kindern und Erwachsenen näher untersucht werden, auf dem sie basierten. Nur so kann die im vorherigen Kapitel angeschnittene Frage, weshalb den randständigen Kindern überhaupt geglaubt wurde, beantwortet werden. Roper hat eine solche Analyse der Kommunikation und Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen verlangt, aber selbst nicht konsequent durchgeführt.11 Walz führte Kinderhexenprozesse auf vier Grundbedingungen zurück: Deprivation des Kindes, »Wichtigtuerei« des Kindes, die Aufnahme magischer Vorstellungen in »die kindliche Spielwelt« und die »bewußte Benutzung« des Kindes durch Erwachsene.12 Die Probleme mit dieser Aufstellung sind 10 Walz, Kinder, S. 213. Noch weiter ging Brain, der Hexenmädchen allen Ernstes als »officials of witch courts« (Englisch= Beamte in Hexengerichten) sehen wollte, Brain, Child, S. 161. Selbst Lancres Morguey erreichte eine solche Position nie. 11 Roper, Evil, S. 111. 12 Walz, Kinder, S. 219. Walz scheint diese »Wichtigtuerei« für eine zentrale pädagogische Kategorie zu halten. Sie findet sich im Text mehrfach. Er stellt sogar fest, es »liegt … Wichtigtuerei vor«, und präsentiert sie damit sprachlich analog einem Straftatbestand (›Es liegt Betrug/Sachbeschädigung vor.‹), Walz, Kinder, S. 215.
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offensichtlich: Sie ist unsystematisch und die Kategorien sind unscharf. Welchen Sinn »Wichtigtuerei«, ein Begriff aus der offenbar noch immer nicht überwundenen ›Schwarzen Pädagogik‹, in einem wissenschaftlichen Text machen könnte, vermag man sich nicht vorzustellen. Das wesentliche Problem dieser Grundbedingungen ist jedoch, dass drei davon quasi vom Kind ausgehen, eine von Erwachsenen. Die Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen wird jedoch gar nicht als Problem gesehen. Um die Entstehung von Kinderhexenprozessen zu verstehen, muss gefragt werden, wie Erwachsene mit den Aussagen der Kinder umgingen. Die Rolle der Kinder bei der Genese und Durchführung der Hexereiverfahren darf dabei nicht als völlig passiv und ihre Aussagen als letztlich irrelevant gegenüber einem blindwütigen Verfolgungsbegehren der Erwachsenen präsentiert werden. Dagegen sprechen sämtliche Fallbeispiele. Es geht um den kommunikative Austausch zwischen Kindern und Erwachsenen. Dabei müsen die unterschiedlichen Reaktionen von Erwachsenen auf unterschiedliche Aussagen von Kindern im Vorfeld von Hexenprozessen differenziert betrachtet werden. Drei verschiedene Typen von Kommunikationen zwischen Kindern und Erwachsenen im Kontext der Entstehung von Kinderhexenprozessen lassen sich unterscheiden: Ersten die Usurpation neutraler Äußerungen der Kinder durch Erwachsene, zweitens die Fehldeutung von Anspielungen auf Hexerei, drittens als gerichtsrelevant intendierte Aussagen von Kindern. Wenn die Literatur den Beginn eines Kinderhexenprozesses schildert mit: Ein Minderjähriger »lief also in der Gegend herum und machte sich wichtig, indem er erzählte, er kenne die Frauen, die Hexen seien, weil er selbst an den Hexentänzen teilnehme«, dann ist das eine Karikatur, die nur einen kleinen Teil der Verfahren trifft.13 In der Mehrzahl der Prozesse war es gerade eben nicht so, dass Kinder von Anfang an und von sich aus die Absicht hatten, dezidiert von einer Teilnahme am Hexentanz zu sprechen und bestimmte Personen als Hexen zu denunzieren. Anna Maria Hauber sprach nie ausdrücklich von Hexerei. Sie 13 Behringer, Kinderhexenprozesse, S. 41.
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schilderte nächtliche Tanzvergnügungen.14 Es überrascht nicht, dass die Vierjährige zu keinem Zeitpunkt durchschaut zu haben scheint, wieso Erwachsene über ihre Geschichte so beunruhigt waren. Man könnte die Äußerungen des Kindes als neutral bezeichnen. Sie hatten an sich gar keinen Bezug zur Hexenlehre. Anna Maria hatte nie die Absicht, über Hexen zu sprechen. Diese Deutung wurde ihren Angaben von Erwachsenen gegeben. Zwei weitere Beispiele seien willkürlich aus einer großen Zahl ähnlicher Fälle herausgegriffen. 1665 gab ein achtjähriger Junge aus Möckmühl zum Besten, dass er mit einer Gruppe von Erwachsenen immer wieder Bootsausflüge auf der Jagst machte.15 Auf einer Wiese wurden dann Tische aufgestellt und eine Mahlzeit mit Milch, Eierkuchen, Brei und Wecken angeboten. Es wurde getanzt und gefeiert. Fremde mit bunten Federhüten waren auch dabei. Das Kind scheint diese angenehmen Schilderungen erfunden zu haben, um sich zu unterhalten. Tatsächlich stattgefunden hatten diese Vergnügungen nie. Bei den Fremden mit den Federhüten mochte man daran denken, dass in Hexengeständnissen immer wieder der Dämon den Namen Federbusch oder Federhut trug.16 Gesagt hatte das Kind aber nichts dergleichen. Dennoch verstanden viele Erwachsene in Möckmühl, einschließlich Bürgermeister, Vogt und Pfarrer, die Äußerung des Kindes als Sabbatschilderung. Natürlich erfolgte diese Deutung nicht völlig willkürlich: In Möckmühl hatte es schon zwischen 1655 und 1657 Hexereiverfahren gegeben, in die Kinderzeugen involviert gewesen waren. Dieser Kontext änderte freilich nichts daran, dass der Achtjährige 1665 nichts gesagt hatte, was auf Hexerei transparent gewesen wäre. Ausschlaggebend für die Interpretation seiner Äußerungen war ganz konkret der einfache Umstand, dass der Junge diese Bootsausflüge tatsächlich nicht gemacht hatte. In ähnlicher Weise hatte ja auch Anna Maria keine nächtlichen Tanzveranstaltungen im Wald besucht. Die Geschichte, die der eviden14 Vom Flug durch den Kamin sollte das Kind einem Gerücht zufolge gesprochen haben. Vor Gericht erwähnte sie aber nichts, was hierzu stimmen würde. 15 Das folgende nach Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 1611, vgl. Weber, Verführten, S. 214–216. 16 Dillinger, Böse, S. 112–113.
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ten Realität nicht entsprach, lief per se Gefahr, als Schilderung einer planvoll verborgenen Realität, der des Hexensabbats, interpretiert zu werden. Als Alternative kam nur der Traum in Betracht. Anna Maria und dem Jungen aus Möckmühl wurde von Erwachsenen dieser Ausweg nachdrücklich angeboten. Beide lehnten ihn ab. Der Junge begründete das sogar ausführlich: Er habe schon oft geträumt, etwa dass er reiten könne oder reich sei. Das waren klar Träume gewesen, weil diese Vorstellungen so fantastisch, so offenkundig vom Alltag verschieden waren. Die Bootsfahrten, so das Kind, konnten keine Träume sein: Sie waren angenehm, aber letztlich doch unspektakulär und alltagsähnlich. Hier prallten die Realitätskonzepte von Kinderkultur und Erwachsenenkultur aufeinander. Der Junge kam mit einer Tracht Prügel davon. Ähnlich glimpflich lief ein paralleler Fall in der Hohenberger Hauptstadt Rottenburg. 1709 hatte die Stadt unter schweren Ernteausfällen zu leiden gehabt. Im April 1710 sagte ein achtjähriger Junge, es werde wieder eine Missernte infolge eines Kälteeinbruchs geben. Ein Erwachsener entgegnete sofort: »Du Hexenkind, wie weißt du [das], hast das gesehen?« Unter dem Druck der Erwachsenen entwickelte der Junge eine wirre Geschichte um Feuer, das vom Himmel fallen sollte, vermutlich ein fehlplatziertes Stück kirchlicher Unterweisung (2 Kg. 1,10; Offb. 13,13). Da im deutschen Südwesten Hexenzauber vor allem Wetterzauber war, galten ›Wettervorhersagen‹ als verdächtig. Die Angelegenheit wurde nicht weiter verfolgt. Auch hier hatte das Kind überhaupt nichts über Hexerei sagen wollen, es hatte noch nicht einmal auf Magie angespielt. Erst die Nervosität der Erwachsenen, die eine Missernte befürchteten und noch immer in der Kategorie ›Wetterzauber‹ dachten, machte aus der dahingesagten Prognose des Jungen eine Aussage über Hexerei. Man wird wohl auch den Fall Altje Ahlers hier eingruppieren können: Das Mäusespiel hatte für das Mädchen selbst zunächst ja gar nicht den Charakter von Magie gehabt. Auch dies war eine ›erwachsene‹ Deutung. Ähnlich war die Kommunikation im Fall Johann Heinrich Kloz verlaufen: Das Kind selbst deutete den Geist, der ihm erscheinen sollte, offenbar überhaupt nicht. Es nannte ihn nie einen Totengeist oder einen Dämon und äußerte auch nichts von einem vergrabenen Schatz. Jedenfalls hätte eine Deutung durch den Jungen
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selber in den Quellen keinerlei Spuren hinterlassen: Die Debatte um das Wesen der Erscheinung und die richtige Handlungskonsequenz wurde ausschließlich von Erwachsenen geführt. Das Kind war bestenfalls der Stichwortgeber einer Diskussion, die unabhängig von ihm verlief. Man muss hier von einer Usurpation der Äußerungen von Kindern durch Erwachsene sprechen. Die Erwachsenen nahmen die Angaben der Kinder aus ihrem Kontext und ordneten sie mit einigem argumentativen Aufwand in einen völlig anderen Zusammenhang ein. Für sich genommen waren die Äußerungen der Kinder neutral. Sie hatten gar nichts mit Hexerei zu tun. Erst die Erwachsenen trugen diese Deutung an einige Elemente der Angaben der Kinder heran. Die Interpretation dominierte die Aussagen. Sie marginalisierte alles an ihnen, was nicht zu Hexerei passte. Sie übertünchte sogar, dass aus der Perspektive der dämonologischen Hexenlehre betrachtet die Geschichten der Kinder offensichtliche Fehlstellen aufwiesen: In den Beispielen gab es nur schwache Hinweise auf Schadenszauber, vom Pakt und von der Buhlschaft war überhaupt nie die Rede. Es handelte sich bei dieser entstellenden Interpretation der neutralen Äußerungen der Kinder nicht eigentlich um ein Missverständnis. Die Erwachsenen bemühten sich letztlich gar nicht darum, die Kinder zu verstehen. Die Usurpation der kindlichen Äußerungen durch die Erwachsenen entsprach einer spezifischen Art des Umgangs mit Kindern insgesamt. Diese war weder ungewöhnlich noch hexenprozessspezifisch. Vielmehr lässt sich hier eine Kernbedingung der Anthropologie der Erziehung beobachten. Die Äußerungen von Kindern erscheinen Erwachsenen sehr häufig als tendenziell falsch, zumindest als unzuverlässig und stark deutungsbedürftig. Was das Kind ›wirklich‹ sagen will, muss der Erwachsene herausfinden.17 Er orientiert sich dabei an den Regeln der Erwachsenenkultur, ihrer Konstruktion von Realität und ihren Regeln von Plausibilität. Die Äußerung des Kindes gerät damit in die Verfügung des Erwachsenen. Es versteht sich, dass diese ›Interpretation‹ die 17 Kluge, Anthropologie der Kindheit, S. 202–204; Kimball, Culture, S. 85–125; vgl. Brozio, Bezug.
Kinderkultur – Erwachsenenkultur
Aussage des Kindes völlig entstellen kann. In den Beispielfällen hatten die Kinder zu keinem Zeitpunkt von Hexerei gesprochen. Erst die Usurpation ihrer Äußerungen durch die Erwachsenen, zu der diese sich entsprechend dem alltäglichen Umgang mit kindlicher Sprache berechtigt – oder sogar verpflichtet – sahen, stellte diesen Zusammenhang her. Fehldeutung von Anspielungen auf Hexerei Der zweite Typ der Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen im Kontext entstehender Kinderhexenprozesse könnte mit Hans Doucks Fall illustriert werden. Auch Hans Douck erklärte nicht einfach, dass er eine Hexe sei. Er sprach aber eindeutig davon, dass er zaubern könnte. Er behauptete selbst, dass er mit Geisterwesen, sogar dem Teufel, in Kontakt stünde. Das war von deutlich anderer Qualität als die usurpierten Äußerungen, die auf Magie eigentlich gar nicht durchsichtig gewesen waren. Hier griff ein Kind bewusst Elemente des Magie- sogar des Hexenglaubens auf. Ähnlich gelagert waren die Äußerungen von Andree Vorsthofer vor seiner Verhaftung, die frühen Geschichten von Palmer und Wolff aus Annaberg, sicherlich auch die Angabe der Oberkirchener Schuljungen, die behauptet hatten, sie könnten Wölfe herbeizaubern. Hier wurden Elemente des Magie- und Hexenglaubens bewusst aufgegriffen. Freilich noch nicht in der Form einer zusammenhängenden Aussage, die nach Art eines Geständnisses die Muster der Dämonologie wiedergab. Wohl aber in Form von Anspielungen auf die Hexenimagination. Diese war den Kindern vermutlich durch Alltagsgespräche Erwachsener geläufig, wurde aber von ihnen offenkundig nicht in ihrer Gefährlichkeit erfasst. Kinder konnten diese Anspielungen weiterführen, sie gleichsam zum Spiel machen. 1659 erklärte die elfjährige Barbara Gibsin aus Calw anderen Kindern gegenüber, sie selbst und die Mitglieder ihrer Familie könnten Ungeziefer machen.18 Wenn man dem Gerichtsprotokoll vertrauen darf, fügte sie im selben Atemzug an, sie hätten auch »oft Gastungen [= Gastmähler] und Spielleute im Haus 18 Das folgende zum Fall Gibsin nach Dillinger, Hexenverfolgungen, S. 134–139.
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… und wohl gelebt.« Die Prozessakte präsentiert die Angaben des Kindes, als ob die Erwähnungen der magischen Produktion von Ungeziefer und die obskuren Feste in der Äußerung des Mädchens direkt nebeneinander gestanden und sich auf die dieselbe Personengruppe – Barbaras Familie – bezogen hätten. Wenn Barbara das tatsächlich so sagte, dann wird man von einer Anspielung auf den Sabbat ausgehen können. In der knappen Erwähnung des Kindes trug dieser Sabbat einen sehr deutlichen und etwas ungewöhnlichen Akzent: Er war ein Statussymbol, mit dem Barbara prahlte. Da dieses Gerede des Kindes rasch Hexereiverdacht gegen es nährte, musste Barbara Gibsin schnell an einen andern Ort verbracht werden. Auch dort behauptete das Mädchen aber bald wieder, und zwar erneut vor Nachbarskindern, dass sie Ungeziefer machen könne. Barbara lebte zeitweilig bei ihrer Großmutter Maria Fischer in Horb. Das Kind verbreitete, dass ihre Großmutter »das Gespenst oder das Rumoren« im Haus hätte. Mit parapsychologischem Vokabular ausgedrückt: Maria Fischer hatte einen Poltergeist. Zeugen hörten den Lärm und sogar ein Mitglied des Stadtrats wurde Zeuge, als Unrat aus dem Haus geworfen wurde, ohne dass irgendwo der Werfer hätte entdeckt werden können. Das Kind scheint sich mit diesen Streichen amüsiert zu haben, die bereits bestehende Gerüchte über einen Spuk im Haus seiner Großmutter bestätigten. Der Streich spielte quasi auf Magie an, er inszenierte sie in einem spielähnlichen Verhalten. Dass Erwachsene den Spuk ernst nahmen, war Teil des Streiches, letztlich der Erfolg des Streiches. Die sozialen und juristischen Folgen eines Spukgerüchts konnte Barbara offenbar nicht abschätzen. Dieses nährte nämlich einen Hexereiverdacht gegen seine Großmutter. Maria Fischer versuchte die Verdächtigungen dann flugs auf ihre Nachbarinnen abzuwälzen. Insgesamt erscheinen die Anspielungen auf Hexerei in Barbaras Äußerung als Unterhaltung, Spaß und kindliches Prahlen. Das Mädchen äußerte sich anderen Kindern gegenüber. Was es sagte, war klar gedacht als Teil einer ausschließlich kindlichen Kommunikation. Die Äußerungen von Barbara Gibsin müssen als spielerische Kommunikation zwischen Kindern gesehen werden. Für diese Spielgeschichten galten Standards von Realität, die nicht denen der Erwachsenenkultur entsprachen. Der Streich bezog die Erwachse-
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nen ein, schloss sie aber gleichzeitig auch aus: Ihnen sollte die passive Rolle der Getäuschten zukommen, zu den ›Eingeweihten‹, die den Streich als Streich kannten und erkannten, durften sie gerade nicht gehören. Auch der Streich war also Teil eines kindlichen Kommunikationsraumes. Hierher gehörte auch der missglückte Scherz oder die pubertäre Prahlerei, die 1709 zum letzten Hexereiverfahren im Hochstift Konstanz führte.19 Ermittelt wurde gegen Anton Staden aus dem Amt Reichenau. Der junge Anton lebte bei seiner verwitweten Mutter. Diese erklärte dem Gericht, sie könne den Jungen nicht mehr bei sich behalten, da ihr Sohn sie mit dem Tode bedrohe und wegen seiner »Filoux Stück und Bübereyen [= Streichen und Vergehen]« schon in der ganzen Nachbarschaft berüchtigt sei. Anton hatte vor den Nachbarn erklärt, er habe auf einem Kreuzweg den Farnsamen holen wollen. Farnsamen war im Volksglauben gut bekannt als magisches Allzweckmittel. Der Junge erklärte, es sei ihm von Anfang an klar gewesen, dass er sich mit dem Teufel würde um den Farnsamen prügeln müssen. Tatsächlich sei dann auch ein Dämon in Frauengestalt erschienen. Vor Gericht wiederholte Anton diese Aussage bereitwillig. Er erläuterte, dass er sich dem Teufel auf sieben Jahre verschrieben habe. Als der Richter ihn fragte, ob er mit dem Dämon in weiblicher Gestalt geschlafen habe, leugnete der Junge heftig und offenbar überrascht. Er habe sich mit dem weiblichen Teufel geschlagen, nicht mit ihm geschlafen. Das Verhör wurde abgebrochen. Das Gericht entschied, Anton zur Erziehung der Geistlichkeit zu übergeben. Die Aussage des Jungen bestand aus Versatzstücken populärer magischer Erzählungen. Es erschreckte Anton, vom Verhörrichter ganz direkt mit dem sexuellen Aspekt seiner Geschichte konfrontiert zu werden. Die Erwachsenenkultur verlangte von ihm plötzlich Konkretionen, die er nicht leisten konnte. Der Junge zog sich aus der Erzählsituation zurück. Statt die Geschichte neu aufzugreifen oder auszuschmücken, beschränkte er sich auf die nachdrückliche Ablehnung des an ihn herangetragenen Anspruches. Die magische Geschichte, in der Anton Staden bewusst auf einen As19 Generallandesarchiv Karlsruhe, 96/1362. Kein Hinweis in Zimmermann, Hochstift.
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pekt des Hexenglaubens angespielt hatte, brach er so unter Druck gesetzt ab. Anders als Barbara Gibsin hatte Anton seine Geschichte nicht nur bei Kindern erzählt. Offenbar verstand er nicht, dass die Kommunikation mit Erwachsenen anderen Standards gehorchte als die unter Kindern und Halbwüchsigen. Sein Spiel mit der erzählerischen Präsentation von abenteuerlichem jugendlichem Draufgängertum mit sich selbst als ›Teufelskerl‹ mochte bei Gleichaltrigen gelingen. Bei Erwachsenen misslang diese spezifische Form der Kommunikation. Sie nahmen die spielerische Selbststilisierung des Jugendlichen quasi beim Wort und verstanden diese als Selbstbezichtigung eines Teufelsdieners. Etwas anders lag die Episode um Veit Jakob Zahn, die die Calwer Kinderhexenprozesse auslöste. Veit hatte mit seiner angeblichen Magie geprahlt, nachdem er gemaßregelt worden war: Das wütende Auftrumpfen mit angeblichen Vergehen sollte den Selbststand des Kindes gegenüber der Erziehungsmaßnahme der Erwachsenen betonen. Die Attitude war ähnlich der Anton Stadens: Es ging darum, sich betont über Regeln hinwegzusetzen und bewusst Verbotenes zu tun – oder das zumindest zu behaupten. Bei Anton Staden, einem offenbar devianten und daher wohl immer wieder mit schweren Konflikten konfrontierten Jugendlichen, scheint diese narrative Inszenierung der eigenen Verwegenheit über einen gewissen Zeitraum Teil seiner Selbstpräsentation gewesen zu sein. Bei Veit Jakob Zahn ergab sie sich offenbar nur einmal in der konkreten Situation einer Bestrafung – und schlug sofort um: Anders als Anton ging Veit Jakob direkt dazu über, konkrete Hexereianschuldigungen gegen Dritte zu äußern. Vielleicht hat das Kind dadurch, dass es eine hexereiverdächtige Nachbarin in die Anspielung quasi einbaute, dieser besondere Kraft verleihen wollen. Grosso modo wird man Becks Deutung der Freisinger Kinderhexenprozesse hier einordnen können. Beck nahm an, dass Kinder quasi nach Art eines Rollenspiels ›Hexerei‹ gespielt hätten. Das wäre eine untypisch deutliche Anspielung gewesen, aber ebenfalls eine teilweise und tentative Appropriation der Hexenvorstellung als ›Spielmaterial‹ durch Kinder.20 20 Beck, Mäuselmacher, S. 637–650.
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Kinderkommunikation darf freilich nicht als hermetisch abgeschlossener Raum eines geheimen Austausches nur zwischen Kindern verstanden werden. Die Kinder selbst haben offensichtlich, wenn sie über Magie sprachen, nicht immer scharf zwischen Kindern als eigentlichen Adressaten und Erwachsenen differenziert. In der jeweils konkreten Situation – wenn die Kinder von am Gespräch nicht beteiligten Erwachsenen gehört wurden, wenn sie von Erwachsenen ›zur Rede gestellt‹ wurden – mag das auch gar nicht möglich gewesen sein.21 Anton Staden und Veit Zahn in den Beispielfällen hatten sogar Erwachsene als Kommunikationspartner direkt aktiv miteinbezogen. Allerdings fiel auch bei ihnen die Reaktion der Erwachsenen radikal anders aus, als sie erwartet haben mochten. Auch sie bewegten sich in ihren Aussagen noch innerhalb des Rahmens der Kinderkultur: Das Prahlen mit völlig fantastischen Erlebnissen wurde als Mittel der Selbststilisierung eingesetzt. Dass die Kinder zum Zweck dieser Selbstpräsentation und auch wohl einfach zur Unterhaltung Bruchstücke der Hexenvorstellung und nicht irgendwelche anderen Motive verwandten, dürfte für sie selbst von sekundärem Belang gewesen sein. Für die Erwachsenen wurde die Anspielung zur eigentlichen Aussage. In allen hier untersuchten Fällen, in denen Kinder auf den Hexenglauben anspielten, reduzierten Erwachsene das Fabulieren, die kindliche Angeberei auf die Aussage über Hexenwerk. Der Spielcharakter der Äußerungen wurde übersehen oder aktiv beiseitegeschoben. Wieder bemächtigte sich die Erwachsenenkultur Äußerungen, die nur innerhalb der Kinderkultur hätten erfasst werden dürfen. Es ist also gerade nicht so, wie Roper angenommen hatte, dass bei Kinderhexenprozesse Erwachsene in die Fantasien von Kindern hineingezogen wurden.22 Erwachsene vereinnahmten vielmehr diese Fantasien. Kinder spielten auf den Hexenglauben an und spielten mit ihm. Die Erwachsenenkultur spielte nicht mit: Sie beharrte darauf, aus den spielerischen Bezugnahmen auf Magie Ernst zu machen.
21 Daher sehr problematisch Walz, Kinder, S. 214–215. 22 Roper, Evil, S. 126–128.
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Als gerichtsrelevant intendierte Aussagen von Kindern Waren also alle Kommunikationen zwischen Kindern und Erwachsenen, die schließlich in Kinderhexenprozesse mündeten, fehlerhaft? Wurden die Angaben der Kinder nur einfach immer in falsche Kontexte gesetzt? Redeten Kinder und Erwachsene hier schlicht in einer Pseudokommunikation aneinander vorbei? Die Beispiele von Maria Ostertegin und Johann Gottlieb Adami sprechen offensichtlich dagegen. Der dritte Typ von Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen im Vorfeld von Hexenprozessen basierte auf Aussagen von Kindern, die als gerichtsrelevant intendiert waren. Hier wurde nicht mehr auf Hexerei angespielt. Hier äußerten sich Kinder direkt im Kontext von Hexenprozessen, um das Verfolgungsgeschehen zu beeinflussen. Selbstverständlich wurden, sobald der Prozess eröffnet war, gezielte gerichtsrelevante Äußerungen der Kinder verlangt. Vor Gericht konnten Kinderzeugen natürlich einer juristischen Auswertung ihrer Annahmen nicht mehr ausweichen. Nirgends waren die Angaben der Kinder so stark der ganz direkten Kontrolle durch Erwachsene unterworfen wie in der Gerichtssituation. Hier standen Erwachsenen praktisch alle Möglichkeiten der Manipulation offen. Das ist hier nicht gemeint. Es geht nicht um Äußerungen der Kinder vor dem Richter, sondern um konkrete Bezichtigungen oder Selbstbezichtigungen, die vor der Eröffnung des Prozesses erfolgten. Diese sollten Ermittlungen erst provozieren. Als Maria Ostertegin sich der Ellwanger Hexendeputation stellte, musste ihr klar sein, dass das konkrete juristische Konsequenzen haben würde. Erst mit Johann Gottlieb Adamis Bezichtigung einer bestimmten Person als Hexe wurde der nebulöse Geisterspuk, von dem vorher in Annaberg die Rede gewesen war, zur Hexerei umgedeutet. Gleichzeitig wurde von Johann Gottlieb eine konkrete Verdächtigte öffentlich namhaft gemacht. Es geht hier nicht darum, Kindern Schuld zuzuweisen. Es geht darum festzuhalten, dass nicht alle Kommunikationen im Vorfeld von Kinderhexenprozessen misslangen. Kinder konnten sehr wohl bewusst im direkten Gerichtskontext sprechen und sich gezielt im Hinblick auf ein konkretes Verfahren äußern.
Kinderkultur – Erwachsenenkultur
Allerdings mussten von Kindern als gerichtsrelevant intendierte Äußerungen nicht von Erwachsenen als solche akzeptiert werden. Trotz der großen Hexenangst und obwohl Verfahren bereits liefen, wurden selbst während der Verfolgungen in Calw nicht alle Denunziationen akzeptiert. Denunziationen der Kinder gegen einen Schulleiter und die Frau eines Lehrers als Hexe fanden keinen Glauben: Die Erwachsenen meinten, dass sich hier bloß kindliche Aversionen äußerten.23 In Augsburg wurden selbst noch, als sich Kinderhexenprozesse in der Stadt häuften, eine Auswahl getroffen: Eine ganze Reihe von Denunziationen gegen dieselbe Verdächtigte genügten zwar noch für deren Inhaftierung, aber dann geriet das Verfahren ins Stocken und wurde schließlich abgebrochen. Die Ursache dafür war, dass die Eltern der Kinderhexen deren Verdacht einfach nicht unterstützten und dies den Behörden gegenüber klar aussprachen. In einem anderen Augsburger Fall führen Bezichtigung und Gegenbezichtigung zwischen zwei Erwachsenen nur dazu, dass der Rat beide nicht weiter verfolgte, ungeachtet dessen, was das Hexenmädchen, das den Fall ins Rollen gebracht hatte, gesagt haben mochte. Wenn Kinder selbst, als sie bereits genau überwacht wurden, noch immer behaupteten, sie flögen zum Sabbat, lehnten das Erwachsene in Augsburg in den 1720ern als unmöglich ab. Und das, obwohl der Augsburger Dämonologe Spitzel versichert hatte, die Kinderhexen könnten alle Aufsichtspersonen täuschen. In Calw waren solche Aussagen unter analogen Bedingungen geglaubt worden.24 Am Beispiel der Maria Ulmerin zeigte sich ganz konkret bei als gerichtsrelevant intendierten Äußerungen, wie Amtsträger Bezichtigungen von Kindern hinterfragen konnten und zumindest versuchten, sie zurückzuweisen. Gerade bei Maria Ulmerin konnte auch gezeigt werden, wie als prozessrelevant gemeinte Aussagen von Kindern Überzeugungskraft gewannen: Das Mädchen besagte nur Personen, gegen die bereits Hexereigerüchte im Umlauf waren. Den Bezichtigungen des Kindes war also quasi ein ›Filter‹ immer schon vorgeschaltet. Maria präsentierte als gerichtsrelevante Angabe bloß, 23 Weber, Verführten, S. 22. 24 Rau, Augsburger, S. 305–307; Roper, Evil, S. 124–126, 130; Spitzel, Gebrochne, S. 184.
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was in der lokalen Gesellschaft der Erwachsenen ohnehin bereits mehr oder weniger für wahr gehalten wurde. Mit fließenden Übergängen zwischen den Kommunikationstypen darf man rechnen. Gerade bei Fällen scheinbar krankgehexter Gruppen von Kindern wie in Annaberg oder Salem konnten sich Anspielungen auf Hexerei vorgerichtlich zu konkreten Anschuldigungen verdichten. Veit Jakob Zahn in Calw hatte zuerst auf Hexerei angespielt, unmittelbar danach aber sehr konkret eine Nachbarin als Hexe bezichtigt. Es ist freilich fraglich, ob er dabei die möglichen juristischen Konsequenzen seiner Angaben erkannte bzw. in Kauf nahm. Im vorherigen Kapitel hatte die Frage, wieso den randständigen Kindern im Hexenprozess geglaubt wurde, noch offen bleiben müssen. Nun kann die Frage beantwortet oder vielmehr korrigiert werden. Tatsächlich wurde den Kindern nicht geglaubt. Autonome Aussagen wurden den Kindern von den Erwachsenen in ihrem Umfeld gar nicht zugestanden. Die Äußerungen der Kinder wurden nicht akzeptiert und geglaubt. Vielmehr wurden sie usurpiert oder einer drastischen Umdeutung ohne Rücksicht auf ihren Kontext und die Aussageintension des Kindes unterzogen oder aber schlicht in eine Prozessadministration eingepasst, die jegliche Vorsicht gegenüber Denunziationen und Selbstbezichtigungen abgelegt hatte. Obwohl oder gerade weil alle drei Kommunikationstypen auf Ich-Erzählungen von Kindern basierten, wurden alle drei faktisch von Erwachsenen beherrscht. Es soll hier nicht der Mär vom unschuldigen Kind das Wort geredet werden. Die Kategorie der als gerichtsrelevant intendierten Äußerungen muss aufrecht erhalten werden. Gleichwohl lag es selbstverständlich allein in der Verfügung von Erwachsenen, die als gerichtsrelevant gemeinte Äußerung eines Kindes als solche zu akzeptieren oder zurückzuweisen. Es gab nie Automatismen, die notwendig dazu geführt hätten, dass die Kinderkommunikation von Erwachsenen stets grundlegend falsch oder negativ aufgenommen wurde. Kritische Gutachter deckten Fehlinterpretationen kindlicher Aussagen durch Erwachsene im sozialen Nahraum gelegentlich auf. Entsprechend rieten sie dann zur Einstellung des jeweiligen Hexereiverfahrens.25 25 Vgl. z. B. den Fall Hauber, den Fall Ahlers in Thomasius’ Deutung, vgl. auch
Kinderkultur – Erwachsenenkultur
Innerhalb der drei Kommunikationstypen im Vorfeld von Kinderhexenprozessen lassen sich also spezifische Aktionen und Verhaltensweisen von Kindern und Erwachsenen beschreiben. Der erste Typ war durch die Usurpation der Äußerungen von Kindern durch Erwachsene geprägt. Die wesentliche Aktion der Kinder bestand hier in einem weitgehend freien Erzählen. Die Reaktion der Erwachsenen war die Selektion und Umdeutung des Erzählten, so dass es schließlich – ganz gegen die Aussageabsicht der Kinder – Elementen der Hexenvorstellung entsprach. Der zweite Typ war der Umgang mit Anspielungen der Kinder auf Hexerei. Hier wurde von Erwachsenen der Spielcharakter der Angaben der Kinder ausgeblendet. Das führte zu massiven Fehldeutungen, weil so der falsche Maßstab angelegt wurde: Das entscheidende Charakteristikum dieser Angaben, nämlich dass es sich bei ihnen um kindliche Kommunikation handelte, wurde ignoriert. Im dritten Typ, den von Kindern als gerichtsrelevant gedachten Aussagen, kamen sich die Aussagen der Kinder und die Deutung der Erwachsenen am nächsten. Vor allem in Form von (Selbst)Bezichtigungen äußerten sich die Kinder direkt im Hinblick auf Hexenprozesse. Die Verbindung mit dem Kommunikationsraum der Erwachsenen, mittelbar mit den Behörden, war damit gegeben. Dennoch blieben Erwachsene an der entscheidenden Schaltstelle: Sie selektierten die Bezichtigungen der Kinder entsprechend ihrer Plausibilität bzw. Opportunität. Diese Selektion blieb komplett außerhalb der Verfügung der Kinder. Erwachsene ›machten‹ nicht nur Kinderhexen, sie ›machten‹ auch weitgehend deren Aussagen. In diesen Aussagen fanden Erwachsene letztlich nur, was sie finden wollten und was sie selbst in sie hineininterpretiert hatten. Dies widerspricht nicht dem Befund, dass Kinder einen gewissen Bewegungsspielraum hatten: Sie mochten offensiv kooperativ wie Maria Ostertegin sein, Zusammenarbeit verweigern, wie Anton Staden, dem Prozessgeschehen verständnislos gegenüberstehen wie wohl Anna Maria Hauber oder versuchen zum eigenen Amusement oder Vorteil mit Hexenimaginationen umzugehen wie Andree Vorsthofer oder andere junge Opfer der Zauberer Jackl Prozesse. Die Kinder waren nicht stumm und nicht Sauter, Hexenprozess, S. 211–212.
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passiv; Erwachsene mussten immer mit ihren Aussagen umgehen. Aber die Deutung dieser Aussagen erfolgte ohne die Kinder und ohne Rücksicht auf ihre Intentionen. Grundlage dieser Kommunikationen war die relative Nähe von Erwachsenenkultur und Kinderkultur in der Frühen Neuzeit. Oben wurde gezeigt, dass die Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen zu dieser Zeit schwächer ausgeprägt waren als in der Gegenwart. Dass Kindheit als ganz eigener Raum mit eigenen Regeln gesehen werden muss, war nicht deutlich im Bewusstsein. Eingriffe und Übergriffe von Erwachsenen in Kinderkommunikation sind selbstverständlich auch heute jederzeit möglich. Im frühneuzeitlichen Kontext fielen sie jedoch noch leichter. Es ist offensichtlich, wie wenig der alte pseudo-psychologische Erklärungsansatz ›Mythomanie‹ überzeugen kann.26 Zu behaupten, dass Kinderhexen zwanghaft ständig gelogen hätten, geht an der tatsächlichen Kommunikationssituation, in der sich die Kinder befanden, völlig vorbei. Kinderkommunikation ist nach Erwachsenenstandards sicherlich ›verlogen.‹ (Sie mag auch als ›beleidigend‹ und ›herzlos‹ gesehen werden.) Aber diese Erwachsenenstandards lassen sich auf die Kommunikation von Kindern eben nicht anwenden. Es ging nicht um Kinder, die immer wieder selbstzweckhaft logen, sondern um Erwachsene, die stets selbstbezogen nur hörten, was sie hören wollten: nämlich Bestätigungen ihrer Hexenangst und zugleich konkrete Angaben zu Komplizen, die vorgefassten Verdacht bestätigten. Bevor wir uns den Fallstudien zuwandten, hatten wir gefragt, ob und welche Macht Kindern als Zeugen und Denunzianten in Hexenprozesse zuwachsen konnte. Diese Frage kann nun beantwortet werden. Die Kinder hatten nie Machtpositionen inne, die sie der Kontrolle von Erwachsenen entzogen hätten. Kinder erscheinen nicht als Verantwortliche, sondern als Stichwortgeber. Wenn Teile der Forschung Kinderhexen dafür verurteilen, dass sie Unschuldige auf den Scheiterhaufen gebracht haben sollten, ist das also reichlich fragwürdig. Selbst wenn die Kinderzeugen, wie Robbins formulierte
26 Sebald, Witch, S. 203–205.
Kinderhexenprozesse und die Entwicklung der Verfolgungen insgesamt
»little monsters«, motiviert von nackter Mordlust,27 gewesen wären: Schon die konsequente Anwendung des üblichen Indizienrechtes vor Gericht, die Besinnung auf nachbarschaftliches Vertrauen im Dorf und einfühlsame Zurückhaltung bezüglich kindlicher Kommunikation seitens der Eltern hätte sie ohne weiteres stoppen können. 4.3. Kinderhexenprozesse und die Entwicklung der Verfolgungen insgesamt Kinderhexenprozesse am Anfang und ausschließlich Es gehört zum Wesen von Fallstudien, dass sie keine großen Entwicklungstendenzen beschreiben können. Daher soll an dieser Stelle über die Fallstudien hinaus gefragt werden, wie sich die Kinderhexenprozesse zum Verlauf der Hexenverfolgungen insgesamt verhielten. Natürlich wurden Kinder schlicht von bereits rollenden Verfolgungswellen erfasst. Sie mögen durch ihre Aussagen und Denunziationen dann dazu beigetragen haben, die Hexenjagd zu rechtfertigen. Dennoch spielten sie keine Schlüsselrolle für den Verfolgungsverlauf. Ein Beispiel wären die Kinderhexen von Würzburg. Unter den mindestens 160 Personen, die zwischen 1627 und 1629 in Würzburg als Hexen hingerichtet wurden, waren 41 Kinder. Die große Zahl und das ungewöhnlich rigorose Vorgehen gegen Minderjährige gehörte zum Würzburger Verfolgungsmuster: Würzburg erlebte zwischen 1625 und 1630 eine Katastrophenverfolgung, die zu den schwersten Hexenjagden überhaupt gezählt werden muss. Man wird von rund 900 Hinrichtungen ausgehen müssen. Die Strukturen glichen denen Ellwangens. Auch in Würzburg wurde ohne jede Rücksicht auf Alter, Geschlecht oder soziale Herkunft gegen alle vorgegangen, die eine Verfolgungsverwaltung, die an Effektivität, nicht an korrektem juristischen Verfahren orientiert war, für verdächtig befand. Es macht wenig Sinn, die Ereignisse in Würzburg 27 Robbins, Encyclopedia, S. 94; vgl. ähnlich Weber, Kinderhexenprozesse, S. 109.
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auf die Bedeutung von Kinderhexenprozessen zu befragen. Kinder gerieten wie Erwachsene in den Sog der Verfolgungsmaschinerie. Im Januar 1628, als die Hexenprozesse bereits ein solches Ausmaß angenommen hatten, dass neue Gebäude als Gefängnisse ausgewiesen werden mussten, gerieten Kinder in einer Schule, die einem diese Gefängnisse benachbart war, in Verdacht. Hier wurde das Muster der scheinbar freiwillig gestehenden Kinderhexe durchbrochen. Ein verdächtiger Dreizehnjähriger weigerte sich standhaft zu gestehen. Die Würzburger Verfolgungsverwaltung schreckte nicht davor zurück, ihn durch schwere Auspeitschungen, faktisch also Folter, zum Geständnis zu zwingen.28 Was die Zeitgenossen bezeichnenderweise ein »würzburgisches Werk« nannten, die Hexenverfolgung ›von oben‹ ohne jede soziale oder juristische Schranke, blieb zum Glück die große Ausnahme. Jenseits dieses einfachen ›Erfasstwerdens‹ von Prozesswellen begegnen Kinder aber immer wieder in Entscheidungsphasen regionaler Hexenverfolgungen. Bereits 1972 hielt der amerikanische Historiker Midelfort, ein Pionier der Hexenforschung, fest, dass im deutschen Südwesten ab 1627 jede große Hexenjagd mit Kindern begonnen hätte.29 Man wird diese Feststellung heute in jeder Hinsicht ausbauen können: Nicht nur in Südwestdeutschland und nicht erst ab dem Ende der 1620er waren Verfahren mit Kindern im Zentrum quasi der Auftakt kleinräumiger Verdichtungen von Hexenverfolgungen. Immer wieder und in vielen sehr verschiedenen Regionen standen Kinderhexenprozesse am Beginn von Verfolgungswellen. Die allerersten Hexenprozesse überhaupt kamen ohne Kinderzeuge aus. Tatsächlich begannen Kinder erst mit dem Beginn der ersten Hauptphase der Verfolgung nach 1580 eine bedeutende Rolle zu spielen.30 Das ist unproblematisch: Das Hexenmuster musste grundsätzlich bekannt und etabliert sein, bevor es in praktischen Verfolgungen breit auf Kinder angewandt werden konnte. Bemerkenswert ist aber, dass danach Kinderverfahren häufig an den Beginn von konkreten Prozesshäufung gehörten. 28 Walinski-Kiehl, Devil, S. 175–177. 29 Midelfort, Witch, S. 179. 30 Behringer, Kinderhexenprozesse, S. 33–35, 41.
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Die Hexenverfolgungen von Trier haben bei den Zeitgenossen große Aufmerksamkeit erregt. In Trier, neben Koblenz Hauptstadt des geistlichen Kurfürstentums Trier, verdichteten sich zwischen 1586 und 1596 Hexenprozesse dramatisch. Nach Jahrzehnten relativer Ruhe wurde Kurtrier zum ersten prominenten katholischen Territorium im Reich, das sich an den bis dahin beispiellos aggressiven Verfolgungen des späten 16. Jahrhunderts beteiligte. In der Stadt Trier wurde das nie besonders starke Hexenstereotyp der armen Frau drastisch durchbrochen: Hier kamen einige Männer aus der ökonomischen und politischen Führungsschicht vor Gericht. Der Beginn der Trierer Verfolgungen war dadurch bedingt, dass eine ganze Reihe von Kinderhexen auftrat. Binsfeld, der Trierer Dämonologe, konnte sich darauf berufen, dass die Entführung von Kindern zum Hexentanz in der Stadt allgemein und unstrittig als Tatsache bekannt sei. Bereits im Jahr 1585 trat ein Achtjähriger auf, der von sich behauptete, zum Hexentanz verschleppt worden zu sein und Besagungen äußerte. Diese Denunziationen fanden beim Statthalter, dem leitenden Beamten, und beim Kurfürsten selbst Glauben. Auf Befehl des Kurfürsten wurde das Kind, das zunächst verhaftet worden war, den Jesuiten übergeben, um es durch christliche Erziehung aus der Gewalt des Teufels zu befreien. In gleicher Weise wurde spätestens zwei Jahre danach der sechszehnjährige Jeckel aus Reinsfeld ins Jesuitenkolleg geschickt. Jeckel litt unter Anfällen. Er behauptete, er habe am Sabbat teilgenommen und stehe noch immer im Kontakt zu Hexen. Jeckels Aussagen machten derartigen Eindruck, dass er zum Kurfürsten Johann VII. persönlich vorgelassen wurde. Johann – im Volksmund bekannt als Johann Lädig, d. h. Johann der Lustlose – war kränklich und fühlte sich persönlich von Hexen verfolgt. Jeckel bestätigte den Kurfürsten in dieser Angst. Auch das Leben des Statthalters werde unmittelbar von den Hexen bedroht. Johann VII. sollte in der Folgezeit ausdrücklich auf die Angaben der Kinderhexe verweisen, wenn er gegen einen Verdächtigen vorgehen ließ. Der Junge äußerte von sich aus zahlreiche Besagungen. Jeckel wurde jedoch auch vom Gericht spezifisch gefragt, ob er bestimmte Personen auf dem Sabbat gesehen habe. Gerade bei Verfahren gegen Personen aus der Oberschicht wurde der Junge als wichtiger Belastungszeuge gehört. Im Sommer 1589 wurde Jeckel als
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›bekehrt‹ wieder zu seinen Eltern zurückgeschickt. Aber schon 1588 war ein weiteres Hexenkind, ein achtjähriger Junge, in Trier aufgetreten, der, wie die Jesuiten notierten »einen nicht geringen Ertrag an wegen Hexerei verurteilten Frauen« erbrachte. 1591 belastete wieder ein Halbwüchsiger eine Reihe von Hexereiverdächtigen, darunter einen ehemaligen Bürgermeister von Trier, schwer. Das Beispiel Triers lenkte auch in den benachbarten Städten und Territorien Aufmerksamkeit auf Kinderhexen. In Diez wurde 1590 ein Kind vor Gericht gestellt, dessen Selbstbezichtigungen man vorher jahrelang schlicht hatte ignorieren können. 1598 äußerte ein angeblich besessenes Kind in Cochem Besagungen. Wie bereits oben in den Fallbespielen gesehen, lag die besondere Glaubwürdigkeit auch der Trierer Kinderhexen darin, dass sie bereits umlaufende Hexereigerüchte bestätigten. Die intensive Hexenverfolgung in Trier und Umgebung begann also mit Kinderzeugen. Aber nicht nur das: Kinderhexen sorgten quasi dafür, dass die Hexenangst immer neue Nahrung erhielt. Sie flankierten mit ihren Aussagen das Verfolgungsgeschehen und trugen dazu bei, dass die Frequenz der Prozesse über Jahre hoch blieb. 31 Erst mit Maria Ulmerin begann die Hauptphase der schweren Hexenverfolgungen von Rottenburg. Am Beginn der Verfolgungen von Ellwangen im Jahr 1588 standen die Denunziationen eines 17jährigen. Auf die Rolle der Maria Ostertegin beim erneuten Einsetzen der Ellwanger Verfolgungen sind wir schon eingegangen.32 Die Selbstbezichtigung und die Denunziationen des vierzehnjährigen Hans Morhaubt wurden zum Einfallstor, das die Hexenverfolgungen aus Zeil 1627 nach Bamberg übergreifen ließ. Zugleich hoben Hans’ Angaben soziale Schranken bei den Hexenverfolgungen dezidiert auf: Er war selbst Sohn eines Bürgermeisters und denunzierte vornehmlich Personen aus Bambergs Oberschicht. Bamberg erlebte eine Prozesslawine mit rund 600 Opfern.33 Die Verfahren gegen die Hexen von Lancashire, eine der schwersten Prozessverdichtungen in England, begannen zwar nicht mit Kinderzeugen, wurden in ihrem Verlauf aber schnell von die31 Dillinger, Böse, S. 253–255. 32 Mährle, Armen, S. 355–358. 33 Gehm, Hexenverfolgung, S. 115–118, 136–140.
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sen abhängig.34 Schon in den ersten schweren Hexenverfolgungen des Baskenlandes 1525 wurden zwei kleine Mädchen, die von den Hexen verführt worden sein sollten, als Denunziantinnen benutzt. Zwischen 1608 und 1612 erlebten verschiedene Teile des Baskenlandes erneut einen Ausbruch schwerster Hexenverfolgungen. Nun traten dort geradezu Massen von Kinderhexen auf. Sie alle berichteten, dass sie nachts von Hexen zum Sabbat verschleppt worden seien. 1611 fanden sich unter über 1800 verdächtigten Hexen rund 1400 Personen, die unter 14 Jahren alt waren.35 Die Hexenjagden in der Landschaft Dalarna waren die erste signifikante Verfolgungswelle überhaupt in Schweden. Sie begannen 1667, als ein etwa elfjähriger Junge behauptete, er habe die ein wenig ältere Gertrud Svensdotter auf dem Wasser gehen sehen. Gertrud begann bald darauf über Hexen zu sprechen und vermeintlich Schuldige zu denunzieren. Rasch meldeten sich in den Dörfern Mora und Älvdalen andere Kinderzeugen. Die zentrale Rolle in ihren Geständnissen nahmen ausführliche Sabbatschilderungen ein: Die Hexen sollten die Kinder an den imaginären Ort Blåkulla [Schwedisch= Blauer Berg] verschleppen, eine bizarre Geisterwelt, wo der Teufel mit Töchtern und Schwiegersohn residieren sollte. Dort würden schon sechsjährige Kinderhexen heiraten und Nachkommen zeugen, die Rattenköpfe trugen. Die Hexenpanik, die sich in Dalarna ausbreitete, provozierte die Regierung in Stockholm dazu, eine Hexenkommission zu entsenden. Diese verhielt sich nicht wie die von Calw, sondern erließ eine Reihe von Todesurteilen. Aus Dalarna zog die Hexenangst in andere Teile Schwedens. Berichte über die Vorgänge in Mora und Älvdalen wurden rasch übersetzt, sowohl Spitzel in Augsburg als auch Mather in Boston waren mit ihnen vertraut. 1676 wurde in Stockholm eine der Kinderhexen, der dreizehnjährige Johan Grijs hingerichtet, da man nun glaubte, ihm bewusste Falschaussagen nachweisen zu können, die zur Hinrichtung Unschuldiger geführt hatten.36 Nach intensiven Hexenverfolgungen stellte sich oft eine Phase der Ernüchterung ein, in der die Bereitschaft, gegen Teufelsbünd34 Poole, Lancashire. 35 Monter, Artikel Children, S. 184; Henningsen, Witches; Behringer, Witches, S. 106–108, 182–183. 36 Lagerlöf-Génetay, Svenska; Sörlin, Mora.
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ler vorzugehen, gering war. Eine Generation von Richtern, die einmal eine schwere Verfolgungswelle geleitet hatte, machte denselben Fehler in der Regel nicht noch einmal. Man wird das als Lernprozess betrachten dürfen. Kinderhexen schafften es aber, diese relative Zurückhaltung zu überwinden. 1599, nachdem die erste große Verfolgungswelle dort gerade vorbei war, machten in Trier wieder ein dreizehnjähriger Junge und ein fünfzehnjähriges Mädchen als Kinderhexen von sich reden. Aussagen eines Vagabundenmädchens lösten schließlich das Wiederaufflackern der Hexenverfolgungen 1630 im kurtrierischen Münstermaifeld aus.37 Die Kinderhexenprozesse wirkten quasi als Inititalzündungen lokaler oder regionaler Verfolgungsverdichtungen. In der Folgezeit konnten sie dazu beitragen, die Hexenjagd aufrechtzuerhalten. Orte und Regionen, die ansonsten von Hexenverfolgungen ganz oder weitgehend verschont blieben, erlebten als einzige Verfahren oder einzige Verfahrensverdichtungen Kinderprozesse. Die einzige Prozesskette mit mindestens vier Exekutionen 1595 in der verfolgungsarmen Markgrafschaft Burgau nahe Augsburg verdankte sich den Aussagen eines Kindes.38 1583 fand die einzige Hexenhinrichtung in der Geschichte Wiens statt. Die wichtigste Belastungszeugin war die etwa fünfzehnjährige Enkelin der Beklagten gewesen.39 Die heute sicherlich bekanntesten Kinderhexenprozesse, vielleicht die bekanntesten Hexenprozesse überhaupt, sind die von Salem Village in Massachusetts. Ihre Prominenz verdanken sie schlicht der Tatsache, dass es sich bei ihnen um die einzige Kette von Hexenprozessen in Nordamerika handelte. Wieso standen Kinderhexenprozesse am Anfang von Verfolgungswellen bzw. bildeten allein eine Verfolgungsspitze? Vielleicht, weil Kinderhexen eine so prominente Rolle in der Dämonologie spielten? Wer sich mit der Hexendoktrin auseinandersetzte, stieß ständig auf Exempelerzählungen um Kinderhexen. Kinderhexen hinterließen im dämonologischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts eine deutliche Spur. Das beste Beispiel ist wohl Lancre, der sein dämonologisches Werk großenteils aus seiner praktischen Er37 Dillinger, Böse, S. 255. 38 Dillinger, Böse, S. 250. 39 Dienst, Hexenprozesse, S. 268–270.
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fahrung als Richter im Baskenland schöpfte. Dort spielten, wie oben angedeutet, Kinderhexen eine zentrale Rolle. Lancres Buch strotzte entsprechend nicht nur von Details über Kinderhexen. Immer wieder berief er sich im Text auf Kinderhexen als Gewährsleute und Zeugen. Lancre schilderte, was er in konkreten Verfahren gehört hatte. Zweifellos verdankten sich viele Aussagen der Kinderzeugen, die sich in den ungewöhnlich detaillierten Schilderungen Lancres widerspiegeln, ihrerseits seinen penetranten und manipulativen Nachfragen während der Prozesse. Gleichwohl scheint Lancre die Angaben von Kindern kritiklos akzeptiert zu haben. Der nachgerade unbegrenzte Zugriff der Dämonen auf ›unschuldige‹ Kinder weckte bei ihm fast Zweifel an der Güte Gottes.40 Auf die Bedeutung praktischer Prozesserfahrung mit Kinderhexen für Bodin, Binsfeld und Mather sind wir bereits eingegangen. Mit dieser Erklärung kommt man jedoch nicht recht weiter. Zum einen kann nicht behauptet werden, dass Hexenverfolgungen ausbrachen, schlicht weil ein Entscheidungsträger dämonologische Literatur zur Kenntnis genommen hatte. Viel weniger ist anzunehmen, dass Kinder als Zeugen oder Beklagte in die Verfolgungen gezogen wurden, weil die Richter von Kinderhexen gelesen hatten. Ein praktisches Beispiel für eine solche Entwicklung ist uns nirgends begegnet. Die Dämonologie verbreitete die Hexenlehre und die Hexenangst, vor allem aber kommentierte sie praktische Verfolgungen. Auch das ist nirgends deutlicher als bei Lancre. Um über Kinderhexen schreiben zu können, musste man sie erst in der Prozesspraxis erlebt haben. Eine dämonologische Inititalzündung, eine breite Darstellung von Kinderhexen ohne vorgängige Kinderprozesse lässt sich nicht finden. Die Frage, wieso Kinderverfahren oft am Anfang von Verfolgungen bzw. an der einzigen Verfolgungsverdichtung eines Territoriums standen, muss zunächst offen bleiben. Beantwortbar wird sie erst im Kontext der Frage, wieso Kinderhexenprozesse häufig Verfolgungswellen auch beendeten.
40 Lancre, Inconstancy, S. 142–143, 201–203.
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Kinderhexenprozesse am Ende Häufig gehörten Kinderhexenprozesse zu den letzten Prozessen, die in den jeweiligen Territorien stattfanden. Sie standen am Ende von Verfolgungen bzw. am Anfang der jeweils allerletzten Prozessverdichtung.41 Einige Beispiele aus dem südwestdeutschen Verfolgungsschwerpunkt bilden dies eindrücklich ab. In Württemberg stellten die Calwer Verfahren die späteste Verfolgungsverdichtung dar. Die letzte Prozesshäufung in der Grafschaft Wertheim baute auf Kinderzeugen auf. Die Verfolgungen in Ellwangen erreichten nach der katastrophalen Prozessverdichtung im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts ihren Abschluss 1652 und 1694 mit Kinderhexenprozessen. Die oben schon erwähnte Affäre des achtjährigen Hexenjungen 1710 in Rottenburg mag aber dazu beigetragen haben, dass sich die Verfolgungsbereitschaft in Rottenburg ausreichend verdichtete, um im selben Jahr vier weitere Hexereiermittlungen zuzulassen. Von diesen gedieh eine bis zur Einholung eines juristischen Gutachtens. Dies ist insofern besonders bemerkenswert, als diese Verfahren einen gewissen Rückfall in die verfolgungsintensive Vergangenheit Rottenburgs bedeuteten, nachdem es dort fast dreißig Jahre zu keinen Hexenprozessen mehr gekommen war. Mit der Einholung dieses letzten Gutachtens endeten die Rottenburger Hexenjagden endgültig. Am Ende der Horber Hexereiverfahren stand die Hinrichtung eines sechszehnjährigen »Hexenmeisters«. Immerhin drei der acht Prozesse, die zwischen 1627 und 1682 vor der endgültigen Einstellung der Verfolgungen in der Reichsstadt Ulm durchgeführt wurden, waren Kinderhexenprozesse. Die letzte in Ulm hingerichtete vermeintliche Hexe war ein fünfzehnjähriges Mädchen. In der Reichsstadt Rottweil war in die letzte Hexereiermittlung ein Kind verwickelt, das einmal mehr »Mäus machen« können sollte. Die letzte Prozessverdichtung der Reichsstadt Reutlingen begann 1665, als ein Zwölfjähriger behauptete, vom Teufel besessen zu sein und am Hexentanz teilgenommen zu haben. In der Reichsstadt Schwä41 Vgl. bereits Midelfort, Witch, S. 140; Behringer, Kinderhexenprozesse, S. 32, 36–40, 47.
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bisch Hall löste ein neunjähriges Mädchen 1674 das letzte Hexereiverfahren aus.42 Auf Anton Staden im letzten Hexenprozess des Hochstifts Konstanz wurde oben schon eingegangen. Aber auch in anderen Regionen lässt sich beobachten, dass die Hexenverfolgungen mit Verfahren gegen Kinder endeten. Die oben angesprochenen Prozesse in Preetz gehörten zu den spätesten Verfolgungsverdichtungen im deutschen Norden. In Wehrheim im Taunus, wo es über Jahre erbitterte Auseinandersetzungen um die Legitimität von Hexenprozesse gegeben hatte, erfolgte die letzten Verhaftungen und ein Todesurteil schließlich noch auf die Aussage eines Kindes hin.43 Die letzte Person, die wegen Hexerei in der Reichsstadt Köln hingerichtet wurde, war die als »Teufelsliebchen« verschriene zwölfjährige Enn Lennartz. Dass sich die Behörden ihrer Sache hier durchaus nicht mehr sicher waren, wird schon daraus ersichtlich, dass sie zwischen der Verhaftung des Mädchens 1653 und seiner Hinrichtung zwei Jahre verstreichen ließen.44 In der Reichsstadt Augsburg stieg der Anteil der Kinderhexenprozesse an den Hexenprozessen insgesamt von 30 % für die Jahre 1618–1648 und 42 % für 1649–1699 auf 92 % für den Zeitraum 1700 bis 1730.45 Zu den spätesten Verfolgungskonzentrationen im Reich überhaupt gehörten die Freisinger Kinderhexenprozesse der Jahre 1715 bis 1723.46 Bayern erlebte die letzte Prozessverdichtung mit Hinrichtungen zwischen 1749 und 1756. Es wurden fast ausschließlich Personen unter 16 Jahren verurteilt.47 Ein sechszehnjähriges Mädchen fiel der letzten Hexenhinrichtung im Erzstift Salzburg zum Opfer.48 Einige Beispiele für Kinderverfahren am Ende der Hexenjagden von außerhalb des deutschen Sprachraumes seien willkürlich ausgewählt: Die Hexenhinrichtungen im Distrikt Roermond endeten mit einem Verfahren, in dem wieder einmal ein Kind, das Mäuse ge-
42 43 44 45 46 47 48
Dillinger, »Hexen-Eltern«, im Druck. Dillinger, Böse, S. 437. Irsigler, Zauberei, S. 179. Rau, Augsburger, S. 111. Beck, Mäuselmacher. Behringer, Hexenverfolgung, S. 357–363. Behringer, Hexenverfolgung, S. 358–359.
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macht haben sollte, als Belastungszeuge aufgetreten war.49 Der letzte Kettenprozess mit mehreren Hinrichtungen auf den britischen Inseln fand 1696/97 im schottischen Paisley statt. Das Verfahren baute auf den Anklagen eines 11jährigen Kindes auf.50 Die letzte Person, die in einem englischen Hexenprozess schuldig gesprochen wurde, war 1712 von einer Sechzehnjährigen belastet worden.51 Den letzten Hexenprozess überhaupt, der mit einer Exekution endete, 1782 im schweizerischen Glarus, wird man nicht als Kinderhexenprozess bezeichnen können. Gleichwohl beruhte er auf Vorwürfen, die Beklagte habe zwei Kinder krank gemacht.52 Zur Deutung: Kinderhexenprozesse als Verfolgungskatalysatoren Kinderhexenprozesse konnten also sowohl am Beginn regionaler Verfolgungswellen stehen als auch an deren Ende. An einigen Orten gab es sogar ausschließlich Kinderhexenprozesse. Daher greift der Forschungsansatz, der nur erklären will, weshalb sich Verfahren mit Kindern im Zentrum am Ende der Hexenverfolgungen häuften, zu kurz.53 Wie konnten Kinderhexenprozesse sowohl die Vorhut als auch die Nachhut von Verfolgungswellen sein? Diese Frage lässt sich nur klären, wenn etwas weiter ausgeholt wird und die Bedingungen von Hexenjagden betrachtet werden. Hexenprozesse nahmen in vielen Regionen erschreckende Ausmaße an. Aber sie waren nie ›normal‹, nie alltäglich. Juristisch stellten sie Ausnahmeverfahren dar. Sie konnten sich nur verdichten, wenn die Justizverwaltung bestimmte Strukturen aufwies. Damit sich Hexenprozesse häufen konnten, musste das Recht vor Ort gebeugt werden. Die lokalen Gerichte musste also die Aufsicht der Regierung aktiv abwehren können (Verfolgungen ›von unten‹). Oder aber diese Regierungsorgane selbst fanden sich bereit, Hexenprozessen einen administrativen und juristischen Sonderstatus einzuräumen, der insbesondere fragwürdige Indizien und Zeugen zuließ (Verfolgungen 49 50 51 52 53
Blécourt, Mangels, S. 93. Adam, Witch. Sharpe, Instruments, S. 229–230, 288. Hauser, Justizmord. Roper, Evil.
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›von oben‹). Diese juristischen Strukturen wurden für Hexenjagden nur eingesetzt bzw. überhaupt erst geschaffen, wenn bei Obrigkeit und Bevölkerung akut die Bereitschaft entstanden war, effektiv gegen Hexen vorzugehen. Dieses grundsätzliche Einvernehmen zwischen Herrschern und Beherrschten war wichtig. Bei Hexenjagden ›von oben‹, z. B. in Ellwangen mochte das konfessionell-politische Programm eines Fürsten, das Hexenjagden einschloss, die Bereitschaft der Untertanen, Hexen zu verfolgen bis zu einem gewissen Grad marginalisieren. Diese Fälle waren jedoch Ausnahmen, und selbst in den Territorien mit Katastophenverfolgungen ›von oben‹ regte sich kaum Widerstand. Das Einvernehmen zwischen Obrigkeit und Untertanen mit den Waffen der Justiz gegen Hexen vorzugehen verdankte sich meist akutem Krisenerleben. Hexenverfolgungen begannen häufig, wenn die lokale Gesellschaft unter einem aktuellen Schadensfall litt: Z. B. ein schweres Unwetter, das die Ernte bedrohte und als Wetterzauber gedeutet werden konnte. Ein Brand, der – trotz der Feuerstrafe für Hexen – gern Teufelsdienern angelastet wurde. Beunruhigende Nachrichten über viele Hexenprozesse in benachbarten Dörfern oder Territorien mochten Angst vor Hexen im eigenen Dorf und im eigenen Territorium wecken und damit die Bereitschaft zur Verfolgung schaffen.54 Eine konkrete Krisenerfahrung musste latente Hexenangst in aktuelle Verfolgungswünsche katalysieren. Hexenverfolgungen brauchten offenbar einen dezidierten Anschub, quasi eine Initialzündung. Offenkundig brauchten sie diesen Anschub ganz besonders am Beginn einer größeren Verfolgungsverdichtung. Sie brauchten ihn aber auch, gleichsam als ›Reanimation‹, wenn die Verfolgungen kurz davor waren, zum Erliegen zu kommen. Das Verfolgungsbegehren vor Ort nahm vielfach wegen der sozioökonomischen Wandlungsprozesse nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges ab. Die Kritik an Hexenprozessen wurde ab den 1620ern immer wütender, dichter und grundsätzlicher. Die frühe Kritik von Weyer und Witekind konnte man noch ignorieren oder mit dämonologischen Totschlageargumenten – auch mit dem penetranten Verweis auf 54 Dillinger, Hexen, S. 74–80.
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die ›freiwilligen‹ Kindergeständnisse – abweisen. Zusammen mit den neuen Autoren Tanner, Prätorius, Spee, Bekker und schließlich Thomasius wurde diese Kritik insgesamt aber unüberhörbar. Innerhalb der Justiz formierten sich neue Strukturen, die den Einfluss juristischer Laien als Dorfrichter schmälerten und fragwürdige Sonderadministrationen marginalisierten. Hexenprozesse wurden zusehends auf die sonst üblichen Standards bezüglich Indizien und Zeugen verpflichtet und kamen unter die Kontrolle eines professionellen und differenzierten Justizapparates. Die schlichte Überführung von Denunziationen oder Gerüchten in Prozesse, welche die Schwerpunktphase der Verfolgungen charakterisiert hatte, gelang nicht mehr.55 Die Verfolgungen brachen zusammen. Um in einem Ort oder einem Territorium, das Hexenprozesse ›eigentlich‹ schon überwunden hatten, dennoch allerletzte Verfahren durchführen zu können, war ein starker Anschub nötig, um das Verfolgungsbegehren noch einmal zu konzentrieren. Der Anschub sowohl am Anfang einer Prozesswelle als auch am Ende der Verfolgungen waren häufig die Aussagen von Kinderhexen. Wie konnten sie das sein? Die Verfahren gegen Kinder oder mit Kindern als Zeugen im Zentrum beruhten auf freiwilligen Aussagen der Kinder. Wie oben gezeigt, wurden diese freiwilligen Aussagen der Kinder von Erwachsenen brachial missdeutet und missbraucht, auch konnte auf eine erste freiwillige Äußerung massivster Druck folgen, um weitere Aussagen zu erpressen. Dennoch sprachen die Kinder zuerst aus eigenem Antrieb über Hexerei oder erwähnten zumindest etwas, das von Erwachsenen als Hexerei interpretiert wurde. Man könnte Kinderhexenprozesse als grundsätzlich ›starke‹ Hexenprozesse bezeichnen. Kinderhexenprozesse beruhten nicht, wie wohl die meisten anderen Hexereiprozesse, von Anfang an auf offenkundigen Verletzungen des üblichen Gerichtsverfahrens, auf fadenscheinigen indizienrechtlichen Ausnahmeregelungen, unstatthafter Berücksichtigung von Denunziationen und illegaler Anwendung der Folter.56 All diese Elemente mochten Kinderhexenprozessen in ihrem Verlauf zuwachsen, an ihrem Anfang stand aber 55 Dillinger, Hexen, S. 137–151. 56 Trusen, Grundlagen, vgl. exemplarisch Sauter, Hexenprozess.
Kinderhexenprozesse und die Entwicklung der Verfolgungen insgesamt
die freiwillige kindliche Äußerung. Wie sollte man diese offenbar freimütigen und freiwilligen Angaben von Kindern leugnen? Aber Kinderaussagen waren nicht nur ›stark‹, weil sie den Anschein der Freiwilligkeit hatten. Sie waren paradoxerweise auch ›stark‹, weil sie manipulierbar waren. Wie oben gezeigt nahmen Erwachsenen massiven Einfluss auf die Angaben von Kindern zur Hexerei durch Usurpation, Manipulation, Interpretation, Selektion. Und dennoch konnte behauptet werden, dass die Angaben der Kinder völlig authentisch und zuverlässig seien. Durch die Augen der ›unschuldigen‹ und ›freiwillig‹ agierenden Kinder sei quasi ein unverstellter Blick direkt auf den Hexensabbat möglich. Deshalb konnten Kinderhexenprozesse Widerstände gegen Hexenverfolgungen brechen. Sie schienen dringlich und eindringlich zu demonstrieren, dass gegen Hexerei konkret eingeschritten werden musste. Kinderhexenprozesse eigneten sich daher hervorragend, um Verfolgungen in einem noch zurückhaltenden Umfeld zu beginnen oder letzte Prozesse in einem bereits skeptischen Umfeld durchzusetzen. Am eindringlichsten zeigen dieses Muster vielleicht die Orte, an denen ausschließlich Kinderhexenprozesse durchgeführt wurden. Das koloniale Massachusetts, das nur eine einzige Prozessverdichtung in Salem Village erlebte, war eigentlich ein ganz schlechter Ort für Hexenprozesse. Landknappheit, strukturelle Arbeitslosigkeit, Missernten und Hungerkrisen waren das Umfeld, das in großen Teilen Europas den Boden für Hexenprozesse bereitete. Nichts davon belastete die Kolonie. Scharfe soziale Spannungen bauten sich nicht auf. Das Rechtswesen war klar strukturiert; der für Verfahren gegen Schwerkriminelle zuständige Assistants Court unterstand der Aufsicht des General Courts, also der zentralen Gesetzgebungs- und Verwaltungseinrichtung. Das Bild trübte sich erst durch einen sehr blutigen Indianerkrieg und massive Spannungen mit dem Mutterland ein. Es brauchte aber dennoch den Anstoß durch die Aussagen von Kinderhexen, um trotz der insgesamt positiven Rahmenbedingungen eine Abfolge von Hexereiverfahren möglich zu machen. Es blieb bei dieser einen Prozessverdichtung als Ausnahme: Nachdem eine kritische Diskussion in Massachusetts selbst und ein Eingriff des Gouverneurs die Hexenjagd abgewürgt hatten, entwickelte sich angesichts weiterhin günstiger sozialer und
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rechtlicher Bedingungen für weitere Prozesse nie mehr ausreichend großer Verfolgungsdruck.57 Die Kinderhexenprozesse waren vielfach die ersten und die letzten Ausläufer des Phänomens ›Hexenprozess‹, weil sie seine ›stärksten‹ Ausläufer waren. Sie waren weniger Motor der Verfolgungen als vielmehr Katalysatoren: Sie verhalfen der Verfolgungsbereitschaft, die vor Ort latent vorhanden sein musste, zum Durchbruch. Die Kinderhexenprozesse am Schluss der Verfolgungen in den jeweiligen Territorien, die oben aufgeführt wurden, endeten trotz allem großenteils nicht mehr mit Hinrichtungen. Dafür gab es zwei Gründe: Das Konzept der Pastoralisierung suggerierte einen anderen Umgang mit Hexen. Für Kinderhexen galt das besonders. Zudem erinnerte sich die Justizbehörde, nachdem sie anfänglich Ermittlungen zugelassen hatte, meist doch noch an die Standards bezüglich Indizien und Zeugen und stellte daraufhin die Verfahren ein. Damit scheiterten schließlich auch Kinderhexenprozesse als ›starke‹ Hexenprozesse. Wenn diese ›starken‹ Verfahren scheiterten, musste dies grundsätzliche Zweifel an Hexenprozessen insgesamt wecken. Mehr noch: Wurde ein Kinderhexenprozess, der doch auf freiwilligen Selbstaussagen gegründet zu sein schien, desavouiert, setzte das ein Fragezeichen hinter den Hexenglauben selbst. Wenn ›freiwillige‹ Geständnisse von ›unschuldigen‹ Kindern bezüglich Hexerei nicht glaubwürdig waren, war dann die Hexerei selbst noch würdig, dass man an sie glaubte?
57 Dillinger, Gemeinde.
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Schlussbetrachtung Die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung sollen knapp zusammengefasst werden. Kinder und Hexen gehörten zusammen. Die Behauptung der älteren Forschung, dass »im Mythos der Hexe eine aktive Beteiligung der Kleinen am Unholdenwerk überhaupt nicht vorgesehen war,« kann man so nicht stehenlassen.1 Die Hexenvorstellung selbst bestand aus einem Konglomerat populären Magieglaubens und theologischer Deutungen und Maximen. Der populäre Magieglauben räumte Kindern eine Sonderstellung ein. Auf der einen Seite waren sie die bevorzugten Opfer böser Geister. Auch die Hexen sollten insbesondere Kindern nachstellen, sie töten, fressen, ihre Leichen zu Zaubermitteln verarbeiten. Auf der anderen Seite sollten Kinder besonders leicht Zugang zur Welt der Geister finden, hellsehen und magisch heilen können. Auch wenn die Kinderhexen nicht vor dem ›Hexenhammer‹ erste Konturen gewannen, waren sich die Hexenangst und der Glaube an zaubernde Kinder doch nie sehr fern. Die Dämonologie hatte behauptet, dass Hexen ihre Kinder quasi ›anlernen‹ würden. Fremde Kinder sollten sie als magische Lehre1
Weber, Kinderhexenprozesse, S. 109.
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Schlussbetrachtung
rinnen verführen. Erwachsene Hexen nötigten angeblich Kinder zum Teufelspakt und verschleppten sie zum Hexentanz. Daraus ergab sich die einzigartige Position der Kinderhexen: Sie gehörten zur Gruppe der Hexen, weil sie am Hexensabbat teilgenommen hatten. Sie mochten sich sogar ausdrücklich zu Teufelspakt und Schadenszauber bekennen. Aber dennoch war es schwer, sie als voll schuldig zu sehen. Einmal, weil sie Kinder und nur herabgesetzt juristisch schuldfähig waren. Zum anderen, und das war das entscheidende Argument, weil sie sich nicht freiwillig den Hexen angeschlossen hatten: Sie waren dazu verführt oder gezwungen worden. In der Regel – wenn es von dieser Regel auch allzu viele Ausnahmen gab – brauchten Kinderhexen die Todesstrafe nicht zu fürchten. Die Kinderhexen waren also selbst nicht voll schuldig bzw. schuldfähig, kannten aber die Schuldigen: Beim Hexentanz hatten sie die Teufelsbündler gesehen. ›Unschuldige‹ Kinder, so die Argumentation der Verfolgungsbefürworter, würden sicherlich nicht lügen, weder bezüglich ihres Kontakts zu Dämonen generell noch bezüglich der Schuld konkreter Hexereiverdächtiger. Damit konnte jede Kinderhexe in konkreten Prozessen zum wichtigsten Zeugen werden. Teile der älteren Literatur verurteilten Kinderhexen wegen dieser besonderen Rolle, die sie in konkreten Verfolgungen spielten, als zumindest mitverantwortlich für die Hexenjagden: »Während der Hexenverfolgung traten Kinder … als äußerst aggressive und gefährliche Denunzianten hervor. Durch ihre verleumderischen Anklagen und Beschuldigungen brachten sie häufig Prozesse, mitunter regelrechte Prozeßlawinen, in Gang.«2 So einfach war die Sache nicht. Bei der Auseinandersetzung mit einer Reihe von Fallstudien zeigte sich ein ganz anderes Bild, weil nach den genauen Umständen gefragt wurde, in denen die Kinder ihre Angaben machten. Von »aggressivem« und »verleumderischen« Verhalten der Kinder wird man zumindest in der ganz großen Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht sprechen können. Der Wille zur gezielten Schädigung lässt sich nicht belegen. Erwachsene machten Kinder zu Kinderhexen. Das gelang besonders leicht, weil die Frühe Neuzeit die Kulturbereiche von Kin2
Weber, Kinderhexenprozesse, S. 109.
Schlussbetrachtung
dern und Erwachsenen weniger scharf trennte als die Moderne. Die konkreten Zugriffsmöglichkeiten Erwachsener auf Kinder wurde dadurch gesteigert, dass viele der verdächtigen Kinder aus problematischen sozialen und familiären Verhältnissen stammten. Viele von ihnen waren arm. Eine Reihe hatte mindestens ein Elternteil verloren oder lebte bei entfernteren Verwandten. Die Kinder genossen also geringen Rückhalt. Was diese ›Aschenputtel‹ Existenzen sagten, ließ sich besonders einfach einer willkürlichen Interpretation unterziehen, die weder den Interessen der Kinder noch denen ihrer (verbliebenen) Familien diente. Wie machten Erwachsene Kinder zu Kinderhexen? Drei Arten von Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen im Vorfeld von Kinderhexenprozessen lassen sich unterscheiden. Erstens wurden neutrale Äußerungen von Kindern durch Erwachsene usurpiert. Die Kinder hatten gar nichts über Hexerei sagen wollen. Von Hexenangst getriebene Erwachsenen verstanden die Kinder aktiv falsch: Sie hörten ›Hexensabbat‹, wo z. B. nur von Ausflügen und Tanzveranstaltungen die Rede gewesen war. Diese Missdeutung ergab sich daraus, dass Erwachsene die Geschichten der Kinder so verstehen wollten, als gäben diese ›objektive‹ Realität wieder. Zweitens wurden Anspielungen der Kinder auf Hexerei falsch interpretiert. In spielerischer Kinderkommunikation konnten Magie und Hexerei durchaus auftauchen. Kinder gingen mit magischen Motiven um, erzählten zu ihrer Unterhaltung und zur Selbstinszenierung fantastische Geschichten, in denen sie selbst eine Rolle spielten. Erwachsene, die in diese Kinderkommunikation eindrangen, verstanden deren Spielcharakter nicht oder leugneten ihn aktiv. Der dritte Typ der Kommunikation vor Kinderhexenprozessen darf nicht übersehen werden. Es ist nicht zu leugnen, dass einige Kinder über Hexen und Hexerei mit dem klaren Ziel sprachen, die Verfolgungen zu beeinflussen. Kinder haben sich selbst und andere eindeutig im Kontext konkreter Verfolgungen und Prozesse als Hexen bezichtigt. Von Schuld oder einer besonderen Machtposition der Kinder im Hexenprozess wird man aber auch hier kaum sprechen können. Dass Kinder sich verantwortungslos verhalten haben, darf nicht weiter überraschen. Eine verantwortungsvolle Reaktion
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Schlussbetrachtung
der Erwachsenen, die man hätte erwarten können, blieb aber aus. Die Führung der Verfahren lag bei den Obrigkeiten. Diese konnten Kinder, die zumindest so verstanden wurden, als könnten sie Zeugenaussagen in Hexenprozesse machten, schwerlich ganz ignorieren. Aber sie brauchten sich in ihrer Prozessführung nicht an ihnen zu orientieren. Sie hätten sie an den Rand drängen und Beschuldigungen gegen bestimmte Personen ignorieren können. Dass dies möglich war, belegen zahlreiche Beispiele. Selbst mit einer offen, klar als gerichtsrelevant intendierten Äußerung eines Kindes ließ sich keine Verfolgung starten, bei Einzelfällen kein Schuldspruch durchsetzen, wenn es in der Gerichtsherrschaft dazu keine Bereitschaft und in der lokalen Gesellschaft keine virulente Hexenangst gab. Die autoritäre Interpretation dessen, was die Kinder gesagt hatten, war ein nachgerade brachialer Eingriff. Er ignorierte häufig den Sinn, den diese Äußerungen für die Kinder selbst gehabt hatten. Bereits vor Beginn des jeweiligen Hexenprozesses hatte die Kultur der Erwachsenen sich die der Kinder also sehr konkret untergeordnet. War das Verfahren selbst angelaufen und das Kind in die Rolle des ›Kronzeugen‹ gebracht worden, verloren die Angaben des Kindes ihren Selbststand weitestgehend. Wenn sich die Aussagen der Kinder auf konkrete Personen bezogen, waren sie in der Regel nicht Ausgangspunkt des Verdachts. Denunziationen von Kindern waren nicht einfach rein subjektive Phantastereien und Äußerungen kindlich-egozentrischer Willkür, sondern vielmehr Wiedergaben bereits kursierender Gerüchte. Deshalb wurden sie für glaubwürdig erachtet. Die Bedeutung der Kinderhexen lag wesentlich darin, dass sie mit ihren Aussagen alle Erwartungen, Befürchtungen und Verdächtigungen der Erwachsenen zu bestätigen schienen. Das reichte vom konkreten Hexereiverdacht gegen eine bestimmte bereits übel beleumundete Nachbarin bis hin zur Existenz von Hexen allgemein. Die Anthropologie ist bezüglich Zauberkindern in außereuropäischen Gesellschaften bereits zu ähnlichen Befunden gekommen.3
3
Brain, Child, S. 176–177.
Schlussbetrachtung
Eine Parallele zwischen Kinderhexen und den Kinderheiligen, richtiger Kindervisionären, des 19. und 20. Jahrhunderts fällt auf. Auch die Kinderheiligen kamen häufig aus sozial und familiär schwierigen Situationen. Kinderhexenprozesse waren grundsätzlich ›starke‹ Hexenprozesse. Sie schienen auf den freiwilligen Äußerungen argloser Kinder aufzubauen, die quasi unabsichtlich die Geheimnisse der Hexen, einschließlich der Identität der Hexen, ausplauderten. Weil sie ›starke‹ Hexenprozesse waren, konnten Verfahren mit Kindern im Zentrum die ersten wie die letzten Prozesse in einer Region sein. Kinderhexenprozesse vermochten es als ›Türöffner‹ regionale Verfolgungswellen zu starten. Ebenso konnten sie als ›Nachzügler‹, die Regionen, die das Interesse an Hexenverfolgungen eigentlich bereits überwunden hatten, doch noch einmal zu letzten Prozessen provozieren. Dieses Buch beschäftigte sich mit Kinderhexenprozessen. Wenn es über die historischen Debatten hinaus ein wenig dazu beitragen könnte, dass verantwortungsvoller mit Kindern und ihren Äußerungen umgegangen würde, hätte es viel erreicht.
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Quellen und Forschungsliteratur Archivalische Quellen Dom- und Diözesanarchiv Mainz, Alte Kästen, K 2/IV.3; Alte Kästen K 75/Ia.3 Generallandesarchiv Karlsruhe, 96/1362 Hauptstaatsarchiv München, Hexenakten 10a Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 833; A 209 Bü 1611 Landeshauptarchiv Schwerin, 2.12-2/3, 2038 Landesarchiv Speyer, H 34, 2450 Staatsarchiv Ludwigsburg, B 389 Bü 701; B 412 Bü 78; B 412 Bü 85 Staatsarchiv Saarbrücken, 92/426 Staatsarchiv Sigmaringen, Ho 80A T2 600 Stadtbibliothek Trier, Hs. 1533/171 Universitätsarchiv Tübingen, 84/6
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In zahlreichen Hexenprozessen standen Kinder im Mittelpunkt – als Angeklagte und als Zeugen der Anklage. Kinder wurden wegen Hexerei hingerichtet oder brachten selbst Erwachsene in Hexereiverdacht. Johannes Dillinger erklärt, wie Hexenprozesse mit Kindern im Zentrum entstanden und welche Rolle sie während der großen Hexenjagden spielten. Ausführlich geht er auf Fallbeispiele aus ganz verschiedenen Regionen ein. In Hexenprozessen traten Schulkinder, Pfarrerssöhne und Mädchen ›aus bestem Hause‹ ebenso auf wie vernachlässigte Waisen, Straßenkinder und minderjährige Kriminelle. Die Schilderung all ihrer Fälle fördert Details zu Tage, die heute grotesk anmuten. Dillinger ordnet die Geschichten in den historischen Kontext ein: Für ihn stehen die Kinder an der Schnittstelle von Erziehung und Magie. Ihre Geschichten zeigen die Wandlungen im Verhältnis von Kindern, Eltern und Schule. Zugleich fügen sie sich ein in eine umfassende Weltsicht, für die die Wirksamkeit von Zauber, die Existenz des Teufels und vieler Geister selbstverständlich war.
Franz Steiner Verlag www.steiner-verlag.de
ISBN 978-3-515-10312-1
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783515 103121