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German Pages 170 [172] Year 2019
Birgit Grüneberg
Kinaesthetics in der Pflege Bewegung fördern – Wahrnehmung schulen
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Birgit Grüneberg
Kinaesthetics in der Pflege Bewegung fördern – Wahrnehmung schulen
Inhalt Vorwort7
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Ideen und Grundlagen Kinaesthetics – Geschichte Kinaesthetics – Grundlagen Kinaesthetics und Lernen Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung Kinaesthetics in der Langzeitpflege (inkl. Krankheitsbilder) Kinaesthetics: Bewegungskompetenzen und Leitsätze
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Kinaesthetics – Konzeptsystem Konzept Interaktion Konzept Funktionale Anatomie Konzept menschliche Bewegung Konzept Anstrengung Konzept Menschliche Funktion Konzept Umgebung
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Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder83 Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten 89 Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit 104 Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen 114 Themenfeld 4 – Selbstversorgung 127 Themenfeld 5 – Leben in sozialen Beziehungen 152 Themenfeld 6 – Wohnen/Häuslichkeit 156 Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder 159 Schlusswort167 Autorin169
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Vorwort
A
ls langjährige Lehrerin für Pflegeberufe und Kinaesthetics-Trainerin möchte ich anderen Menschen helfen, einen Weg zu finden, sich selbst helfen zu können. Gleichzeitig ist es mir wichtig, Pflegekräfte dabei zu unterstützen, Bewegungswahrnehmungskompetenzen zu entwickeln und ihnen mithilfe des Kinaesthetics-Konzeptsystems ein anderes Verständnis von Pflege und über das, was die Bewegungskompetenz einer Pflegekraft für die Pflege bedeutet, zu vermitteln. Ich lernte Kinaesthetics während meiner Weiterbildung zur Lehrerin für Pflegeberufe 1994–1996 kennen. Mein Weiterbildungskurs hatte das Glück, dass unsere Pflegedozentin gerade ihre Kinaesthetics-Trainer-Ausbildung beendet hatte und einen Kinaesthetics-Grundkurs in der Pflege mit uns durchführte. Sie ist übrigens heute die Geschäftsführung von Kinaesthetics Deutschland. Wie viele andere Pflegekräfte auch sah ich in der Kinaesthetics eine Möglichkeit, schwere Menschen leichter und allein bewegen zu können und dadurch rückenschonender zu arbeiten. Das änderte sich, als ich nach meiner Lehrerweiterbildung einen Kinaesthetics-Aufbaukurs in der Pflege besuchte. Und als ich wiederum etwas später noch an einer Kinaesthetics-Fortbildung für Lehrkräfte in der Pflege teilnahm, weil ich das Gefühl hatte, noch mehr darüber wissen zu müssen, kam ich mir vor wie ein Christbaum, an dem nacheinander sämtliche Lichter angingen. Von da an stand für mich fest, ich muss Kinaesthetics-Trainerin werden, damit meine Schüler in ihrer Ausbildung über mich zumindest einen Kinaesthetics-Grundkurs in der Pflege erhalten und somit ein gewisses Grundwissen über Kinaesthetics erwerben können. Heute bin ich ausgebildete Trainerin der Stufe 3 (Aufbaukurs-Trainerin), habe die Zusatzausbildung für pflegende Angehörige und verfüge über die Weiterbildungen zur Kinaesthetics Peer Tutoring Ausbilderin und für den Bereich Kinaesthetics Palliativ Care. Daher bin ich mittlerweile sogar der Auffassung, dass der Erwerb eines Kinaesthetics Grundkurses während der Pflegeausbildung bei Weitem noch nicht ausreicht, um die Wirkungen von Kinaesthetics und die Auswirkungen falscher Bewegungsunterstützungen in der Pflege zu verstehen. Jeder Pflegeschüler sollte in seiner Ausbildung einen in den Pflegeunterricht integrierten und mit den Pflegethemen verknüpften Kinaesthetics-Grund- und -Aufbaukurs absolvieren. Und die für ihn zuständige Praxisanleitung müsste über eine Kinaesthetics Peer Tutoring Ausbildung verfügen, damit sie in der Lage ist, den Schüler kinaesthetisch bezogen anzuleiten.
Vorwort
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Kinaesthetics ist mehr als rückenschonendes Arbeiten und die Mobilisation des Pflegebedürftigen. Es ist vielmehr auch ein Pflegekonzept für Lebensqualität, Prävention und Gesundheitsprozessförderung. Um dies zu verdeutlichen, werde ich die SIS®- Themenfelder mithilfe des Kinaesthetics-Konzeptsystems betrachten und zum Teil aus der Perspektive von Erkrankungen der Langzeitpflege die Auswirkungen von Bewegung erläutern. In der Einleitung erfährt man zunächst etwas über die Entstehungsgeschichte von Kinaesthetics durch die Begründer, dessen Grundlagen, den Zusammenhang mit dem Lernen und der Gesundheitsentwicklung. Darauf folgt eine kurze Auseinandersetzung mit den Schwerpunktthemen der Langzeitpflege. Im Hauptteil erfolgt dann die Erläuterung des Kinaesthetics-Konzeptsystems und die kinästhetisch-analytische Betrachtung zu den einzelnen Themenfeldern der SIS®. Der Inhalt des Buches gibt keine allgemeingültigen Handlungsanweisungen, da es diese in der Kinaesthetics nicht gibt. Kinaesthtics ist keine Technik, wie sie beispielsweise beim Heben und Tragen durch die genaue Beschreibung, wo man wann und wie anfassen und unterstützen muss, vorgegeben wird. Allerdings zeigt das Kinaesthetics-Konzeptsystem im Bereich „Funktionale Anatomie“ auf, was beim Handling des menschlichen Körpers in Bezug auf die Anatomie beachtet werden muss, z. B. wo die Pflegekraft den Pflegebedürftigen anfassen darf und wo nicht. Techniken schränken den Menschen in seiner Bewegung ein und lassen eine individuelle, an die eigenen Bedürfnisse und Ressourcen angepasste und gesundheitsfördernde Bewegungsentwicklung nicht zu. In diesem Buch geht es um die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses von menschlicher Bewegung und die dafür erforderliche Haltung der Pflegefachkraft. Es werden auf die Pflege bezogene Grundlagen erläutert, um Kinaesthetics im Bereich der Pflege zu verstehen. Die menschliche Bewegung ist sehr komplex, individuell, situationsbezogen und von der Tagesform abhängig. Daher lässt sich Kinaesthetics auch nur über Bewegungserfahrungen durch die eigene Wahrnehmung und Empfindung, wie sie in Grund- und Aufbaukursen oder in praxisbegleitenden Situationen durch eine Fachkraft gegeben sind, und nicht über schriftlich aufgeführte Handlungsanweisungen erlernen. Kurz gesagt: „Kinaesthetics in der Pflege“ wird fälschlich häufig als Technik für ein besseres „rückenschonendes Arbeiten“ gesehen und nicht als bewusste und individuelle auf die Personen bezogene Interaktionsprozesse verstanden.
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BEISPIEL: Während einer Kinaesthetics Fortbildung in einer Pflegeeinrichtung schilderten mir die Teilnehmer insbesondere den schwierigen Umgang mit demenziell erkrankten Menschen, die das Angebot zur Bewegungsunterstützung durch die Pflegekraft oft nicht verstanden oder sich dieser durch gegensätzliche Bewegungen entgegenstellten. Ich erklärte den Teilnehmern, dass es auf ihre Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit ankommt und sie mittels Bewegung kommunizieren müssen. Mithilfe der Konzepte „Interaktion“ und „Funktionale Anatomie“ verdeutlichte ich ihnen, worauf sie achten müssen, damit sie in der Lage sind, den Bewegungen des demenziell erkrankten Menschen zu folgen und umgekehrt dem Erkrankten zu ermöglichen seiner Bewegung folgen zu können. Wahrnehmung und Kommunikation bestehen aus Bewegung und sind die Voraussetzung für alle Interaktionsprozesse. Anschließend gingen die Teilnehmer mit mir zu einer der besagten pflegebedürftigen demenziellen Personen und ich unterstützte ihren Bewegungsprozess aus dem Bett in den Rollstuhl. Es gab keinerlei Probleme zwischen mir und der erkrankten Person, da ich mich auf ihre Wahrnehmungsfähigkeiten einstellte und ihr die Möglichkeit gab, dem Gewichts- und Bewegungsverlauf ihres eigenen Körpers folgen zu können, indem ich ihr half, eben diesen Verlauf bewusst wahrzunehmen.
Ich hoffe hiermit Ihr Interesse geweckt zu haben und möchte Sie mit diesem Buch dazu einladen, den Weg zu gehen, alltägliche Aktivitäten bewusster wahrzunehmen und neu zu entdecken. Und dabei vielleicht gesundheitsgefährdende Bewegungsabläufe und -unterstützungen zu erkennen und einen Weg zu finden, diese in gesundheitsfördernde Bewegungsabläufe und -unterstützungen zu verändern. Birgit Grüneberg
Vorwort
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1 Ideen und Grundlagen
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Kinaesthetics – Geschichte Die Kinaesthetics-Geschichte aus der Erinnerung meiner Trainerausbildung, so wie sie mir zum Teil auch durch die Begründer selbst geschildert wurde: Das Kinaesthetics-Konzeptsystem wurde von den Amerikanern Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta in den Siebzigerjahren entwickelt. Hierfür lagen Erfahrungen von Dr. Frank Hatch in der Verhaltenskybernetik und seinem Beruf als Tänzer sowie Dr. Lenny Maiettas Erfahrungen über menschliche Entwicklung und körperorientierte Psychologie zugrunde. Ende der 70er-Jahre war Dr. Frank Hatch als Tänzer und Choreograf dabei, menschliche Pyramiden auf einer Bühne entstehen zu lassen. Er befasste sich damit, wie es einfach und ohne Verletzungen funktionieren kann, Menschen zu „stapeln“ und auch wieder zu „entstapeln“. Seine Überlegungen brachten ihn zur Verhaltenskybernetik und er stellte sechs grundsätzliche Bewegungsprinzipien auf. In dieser Zeit lernte er auch seine Lebensgefährtin Dr. Lenny Maietta kennen, die als Psychologin den Schwerpunkt Kommunikation und Entwicklungsförderung über Bewegung von Frühgeborenen, Neugeborenen und Kleinkindern hatte. Sie bündelten ihre Erfahrungen und gaben zusammen sogenannte „Touch well“-Kurse (Bewegungskurse für jedermann). Seinerzeit hielt sich die Krankenschwester Susanne Schmidt aus der Schweiz in Amerika auf, sah einen Aushang über einen dieser Kurse am Schwarzen Brett einer Universität und entschloss sich, dorthin zu gehen. Während des Kurses wurde ihr bewusst, dass es ihr als Pflegekraft an jeglichem Verständnis für Bewegungskompetenzen fehlte und das, obwohl sie doch im Krankenhaus ständig kranke und pflegebedürftige Menschen bei ihren alltäglichen Bewegungsaktivitäten unterstützen musste. Sie sprach mit den beiden und fragte, ob sie nicht eine Fortbildung für Pflegekräfte entwickeln könnten. So kamen Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta Anfang der 80er-Jahre in die Schweiz und gaben Kinaesthetics Fortbildungen für Pflegekräfte. Die Pflegewissenschaftlerin Christel Bienstein aus Deutschland erfuhr davon und es wurden auch in Deutschland Kinaesthetics-Fortbildungen für Pflegekräfte gegeben. Es entstanden Kinaesthetics-Grundkurse und Kinaesthetics-Aufbaukurse für Pflege und aus den „6 grundsätzlichen kinaesthetischen Prinzipien“ wurden „6 Kinaesthetics-Konzepte“ und das „Kinaesthetics-Konzeptsystem“. Da Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta inzwischen die Fortbildungsnachfragen nach Kinaesthetics nicht mehr allein bewerkstelligen konnten, wurden „Kinaesthetics-TrainerInnen“ in Stufe 1, Stufe 2 (Kinaesthetics-GrundkurstrainerInnen) und Stufe 3 (Kinaesthetics-AufbaukurstrainerInnen) ausgebildet und es kamen zusätzlich die Fortbildungsbereiche „Kinaesthetics Infant Handling“ und „Kinaesthetics Kreatives Lernen“ hinzu, und später der Kineaesthetics Peer Tutor (Praxisanleiter für Kinaesthetics in der Pflege). 12
Kinaesthetics – Geschichte
Seit dieser Zeit hat sich Kinaesthetics im Austausch durch viele Erfahrungen von Trainern und Analytikern aus verschiedensten Bereichen weiterentwickelt und es befindet sich, wie alles, was gelebt wird, in einem immer fortlaufenden Entwicklungsprozess. Kinaesthetics ist mittlerweile über die Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien europaweit vernetzt, wird durch Länderorganisationen organisiert und über Aktiengesellschaften oder Vereine mit gemeinnütziger Ausrichtung finanziert. Genauere Hintergründe zur Entstehungsgeschichte können über Kinaesthetics Deutschland in Erfahrung gebracht werden. Das von Dr. Frank Hatch und Dr. Lenny Maietta entwickelte Kinaesthetics-Konzeptsystem ist ein praktisches Lehr- und Lernmodell, ein Denkmodell zur Bewegungsanalyse, um Gesundheit und Lernen im Laufe des Lebens immer wieder neu zu entwickeln. Kinaesthetics versteht sich als Werkzeug, welches uns hilft, die eigene Bewegung differenziert zu betrachten, um die Auswirkungen unserer Bewegungsabläufe zu verstehen und diese gezielt effektiv anzupassen. Durch unsere Bewegung erfahren wir die Anpassungsfähigkeit unseres Körpers und somit sind wir in der Lage, die eigenen lebensnotwendigen inneren Prozesse wie Atmung, Herz-Kreislauf, Verdauung usw. zu unterstützen. Das führt zur Gesunderhaltung und fördert Gesundheitsprozesse. Das ganze Leben ist ein Bewegungsentwicklungsprozess von der Entstehung im Mutterleib bis zum Lebensende. Die Basis für Leben ist Bewegung, denn ohne Bewegung keine Entwicklung und somit auch kein Leben. Jeder Mensch hat ein Recht auf Bewegung und ein Recht auf Entwicklung. Egal, für welche Bewegungsrichtung man sich entscheidet, sie bringt auf jeden Fall Veränderungen mit sich und eröffnet eine andere Perspektive, auch der Schritt rückwärts. Stagniert die Bewegung jedoch dauerhaft, ist keine Entwicklung möglich und aus dieser Konsequenz heraus kein Platz für Leben. Durch das Kinaesthetics-Konzeptsystem lernt man, nicht für jemanden etwas zu tun, sondern sich dem anderen anzupassen und Raum zu schaffen für Bewegung. Der Bewegungsablauf der angestrebten Aktivität wird gemeinsam entwickelt und der Hilfebedürftige hat die Möglichkeit, seine vorhandenen Ressourcen zu entdecken, diese zu nutzen und daraus neue Bewegungskompetenzen zu entwickeln. Somit fühlt er sich wirksam und lebendig, er ist aktiv im Leben dabei und empfindet Lebensqualität.
Ideen und Grundlagen
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Kinaesthetics – Grundlagen Wer kennt diesen Spruch nicht: (René Descartes, französischer Philosoph
„Cogito ergo sum“ = „Ich denke, also bin ich.“ Dieser Spruch bezieht sich auf das Bewusstsein unseres Geistes. Platt gesagt, unser Geist denkt und das Denken ist natürlich Bewegung im Kopf. Der Gedanke an sich ist schon ein Bewegungsprozess, er setzt im Zentralnervensystem Bewegungsmechanismen in Gang, die Spannungsveränderungen des Körpers zur Folge haben und kleinste, kaum sichtbare Bewegungen in Gang setzen.
BEISPIEL: Nimmt man eine Kette oder ein Band mit einem Anhänger oder Ähnlichem in die Hand, hält diese zwischen zwei Fingern fest, fängt die Kette an vor- und zurückzu pendeln oder zu kreisen. Stellt man sich dann die entgegengesetzte Bewegung vor, z. B. eine Kreisbewegung statt hin und her oder die Kreisbewegung statt rechts herum, links herum, bleibt die Kette oder das Band langsam stehen und wechselt in die vorgestellte Bewegung oder Bewegungsrichtung. Die durch den Gedanken ausgelöste Spannung findet den Weg in die Finger und setzt durch kaum merkliche kleinste Muskelaktivitäten die Bewegung in die gedachte Richtung um.
Der Spruch könnte aber auch heißen:
„Ich fühle, also bin ich.“ Ende der 90er-Jahre ergründete Antonio R. Damasio die drei Stufen des menschlichen Selbst. In diesem Spruch geht es um das bewusste Wahrnehmen von Gefühlen. Fühlen ist die Bewegung unserer Psyche oder auch Seele. Wenn man sich ein Gefühl vorstellt, dann kann man es auch empfinden. Schauspieler nutzen z. B. ihre Gefühlserinnerungen, um ein bestimmtes Gefühl in ihrer Rolle darstellen zu können. Sie erleben durch ihre Vorstellungskraft und Erinnerung in dem Moment also echte Freude, Liebe, Traurigkeit oder Wut. Wenn man mit Pflegebedürftigen Fotoalben oder Erinnerungskisten betrachtet, bringt das ihre Seele in Bewegung, sie erinnern sich an ihr Leben, an für sie emotional prägende Momente, und die Gefühle von damals kommen wieder in ihr Bewusstsein. Sie lachen, weinen oder werden nachdenklich.
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Kinaesthetics – Grundlagen
Man könnte aber auch sagen:
„Moveo ergo sum.“ = „Ich bewege, also bin ich.“ Und hierbei geht es um die Bewegungsfähigkeit des Körpers an sich. Wenn man seinen Körper bewegt, dann realisiert und empfindet man ihn auch gleichzeitig. Egal, wie wir es betrachten, Bewegung ist immer die Grundlage allen Seins! Jede Zelle, die lebt, bewegt sich und wenn sie sich vergrößert oder teilt, entwickelt sie sich, denn es verändert sich etwas durch das Wachstum oder die Teilung der Zelle. Teilt die Zelle sich weiter, entsteht z. B. ein größerer Organismus aus ihr. Bewegung ist Leben und Leben ist Bewegung, denn das Leben entsteht und entwickelt sich über Bewegung. Ein Lebewesen ist ein in sich geschlossenes lebendes System, welches sich fortlaufend über die eigene Bewegung selbst steuert und reguliert. Es lernt sich in seiner Bewegung ein Leben lang immer wieder an seine Lebenssituation anzupassen und sich zu entwickeln, damit es überleben und gut leben kann. Alle unsere Alltagsaktivitäten, unbewusst und bewusst, bestehen in jeglicher Hinsicht aus Bewegung. Auch unsere unwillkürlichen Bewegungen, wie Atmung, HerzKreislauf, Verdauung usw. werden von unserem Organismus über Bewegung ausgeführt, kontrolliert gesteuert und angepasst. Sich zu bewegen ist ein Grundbedürfnis und deshalb hat der Mensch ein Recht darauf, denn nur so kann er sich entwickeln. Jeder Mensch, der die Möglichkeit hat, sich aus eigener Kraft mit wenig Anstrengung zu bewegen, der wird dies auch mehr oder weniger tun. Pflegekräfte haben daher die Aufgabe, den Pflegebedürftigen so zu unterstützen, dass dieser sich bewegen kann oder dass er seinem Körper während der ausgeführten Bewegungsabläufe durch die Pflegekraft geistig und emotional folgen kann, damit er die Möglichkeit erhält, sich in Körper, Geist und Seele zu entwickeln. Die Grundlagen der Kinaesthetics kommen aus den Bereichen der Verhaltenskybernetik, der Neurobiologie und allen ihr verwandten Gebieten. Nach dem zweiten Weltkrieg erschien der Bestseller „Kybernetik“, geschrieben von dem russisch-amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener. Der Begriff Kybernetik ist ein Kunstwort und wurde abgeleitet vom griechischem Wort kybernetike = die Steuermannskunst. Es dreht sich dabei um das Verhalten technischer und biologischer Systeme, die mit den Methoden der Systemtheorie, der Informationstheorie, der Regelungstheorie, der Algorithmentheorie und der Automatentheorie erforscht werden. Es werden sich selbst erschaffende Systeme beschrieben, die durch ihre sich selbst steuernde und regulierende Struktur nicht wirklich manipuliert werden können. Man kann nur versuchen, sie von außen zu beeinflussen oder sie zu irritieren. Auch der Mensch ist, wie jedes Lebewesen, ein kybernetisches System und beinhaltet innerhalb seines großen Ganzen viele kleine Systeme. Der Verhaltenskybernetiker K.U. Smith erIdeen und Grundlagen
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klärte alle Lebensvorgänge eines lebenden Organismus durch sogenannte Rückmeldeschleifen und zirkuläre Prozesse und stellte aus der Erkenntnis der motorisch-sensorischen Feedback-Prozesse für das Lernen die Entwicklung und das Verhalten lebender Systeme die sogenannte „Feedback-Control-Theory“ auf. Verhalten wird nicht von einem bestimmten Element wie z. B. dem Gehirn gesteuert, sondern ist das Konstrukt einer sich selbst regulierenden, kreisförmigen Zusammenarbeit unterschiedlichster Elemente. Ein Beispiel dafür sind unsere Reflexe oder auch das durch die eigene Biografie geprägte Reflex-Verhalten. Die Feedback-Control-Theorie ist ein zentrales Element der Kybernetik, sie wird auch als Rückmeldekontrollsystem bezeichnet, welches die Selbstregulationsfähigkeit des lebenden Körpers durch Anpassungsfähigkeit beschreibt.
BEISPIEL: Schließen Sie ihre Augen, spreizen Sie Ihre Arme auseinander und tippen sie sich nacheinander erst mit dem rechten Zeigefinger und dann mit dem linken Zeigefinger auf die Nasenspitze. Spreizen Sie Ihre Arme wieder auseinander und führen Sie mit geschlossenen Augen Ihre Zeigefingerspitzen vor Ihrer Nase zusammen. Das Gleiche wiederholen Sie hinter Ihrem Rücken, bringen Sie die Zeigefingerspitzen hinter Ihrem Rücken zusammen. Als Nächstes gehen Sie mit geschlossenen Augen wie auf einer imaginären Linie, das Fersenbein an die Großzehe stoßend, drei Schritte vorwärts und auch wieder drei Schritte rückwärts. Alle ausgeführten Übungen dürften Ihnen keine großen Schwierigkeiten bereitet haben und Ihnen mehr oder weniger gut oder schlecht gelungen sein, je nachdem, wie geübt Sie in derlei Bewegungsausführungen sind. Sie spüren Ihre Nase, weil Sie diese bewegen können, die Nase befindet sich zudem am Kopf und der lässt sich ebenfalls bewegen. Auch Ihr Zeigefinger, Ihre Hand und Ihr Arm lassen sich bewegen und deshalb können sowohl Nase als auch Zeigefinger kontrolliert zusammengebracht werden, denn Sie sind in der Lage, durch das Rückmeldekontrollsystem Ihre Muskeln durch kontrollierte Spannungsveränderungen für Bewegungsrichtung und Bewegungsgeschwindigkeit so anzupassen, dass sie sich treffen.
Übertragung auf eine Pflegesituation Sie geben einem Menschen, der mit geschlossenen Augen dasitzt, etwas zu trinken, ohne mit ihm zu sprechen oder ihn zu berühren. Weder der Mensch, der das Getränk von Ihnen eingeflößt bekommt, noch Sie haben eine Kontrolle über den Trinkprozess, denn das Rückmeldekontrollsystem (Feedback Control Theory) kann nicht funktionieren. 16
Kinaesthetics – Grundlagen
Man fühlt sich der Situation von beiden Seiten ausgeliefert. Sie sind verunsichert, wissen wir nicht, wie schnell und wie viel Flüssigkeit Sie zuführen sollen, und die trinkende Person weiß nicht, wie viel Trinkflüssigkeit auf einmal kommt und wie schnell. Kommt weniger als erwartet, schluckt sie Luft, und kommt mehr als erwartet, läuft es vorbei oder sie verschluckt sich. Geben Sie der betreffenden Person zum Vergleich jetzt das Trinkgefäß in ihre eigene Hand und umschließen Sie diese mit Ihrer Hand, um das Trinkgefäß zu fixieren und die Hand führen zu können. Mit der anderen Hand umschließen Sie den Ellenbogen der betreffenden Person und leiten den Trinkprozess ein, indem Sie das Trinkgefäß über die umschlossene Hand und den Ellenbogen zum Mund führen. Jetzt funktioniert das Rückmeldekontrollsystem und die betreffende Person kann den Trinkvorgang kontrollieren, da es ihr möglich ist, die erforderlichen Bewegungsabläufe des Trinkprozesses durch das Rückmeldekontrollsystem effektiv anzupassen. Die Bewegungsabläufe von Kopf, Mund, Schluckapparat Hand, und Arm werden zusammengebracht und aufeinander abgestimmt. Sie hat im Laufe ihres Lebens viele verschiedene Trinkgefäße in der Hand gehabt daher fühlt sie über ihre Hand, ob sie gleich z. B. aus einem Glas, einer Tasse, einem Becher oder einer Flasche trinken soll und ob die Trinkflüssigkeit vielleicht heiß oder kalt ist. Der Mund bereitet sich automatisch auf das Trinkgefäß und die Flüssigkeitstemperatur vor, denn wir trinken jeweils anders aus einem dickwandigen Becher, einem dünnen Glas, einer Flasche oder durch einen Strohhalm. Unsere Lippen passen sich der Situation an. Ist das Getränk heiß, tasten wir uns vorsichtig heran. Außerdem schätzen wir über Bewegung Gewicht ein, deshalb kann die betreffende Person über ihren geführten Arm den Füllungszustand des Trinkgefäßes erahnen und durch die Bewegungsgeschwindigkeit beim Kippen die Fließgeschwindigkeit der Trinkmenge einschätzen und so ihre Schluckbewegungen entsprechend anpassen.
BEISPIEL: Wenn Ihnen jemand eine Hantel auf die ausgestreckte Hand legt, können Sie nicht beurteilen, wie schwer die Hantel ist, erst wenn Sie die Hantel ergreifen und diese mit dem Arm hin- und herbewegen, können Sie ein Gefühl dafür entwickeln, was sie wiegt. Auf dem Wochenmarkt nimmt man z. B. den Kohlkopf oder die Melone in die Hand und bewegt sie hoch und runter, um ein Gefühl für das Gewicht zu bekommen und einschätzen zu können, wie teuer evtl. ein Kauf werden wird. Ein Liter Flüssigkeit entspricht einem Kilogramm.
Ideen und Grundlagen
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In der eigenen Bewegung erfährt man sich selbst unter Einfluss der beteiligten Umgebung. Die leblose Umgebung verhält sich dem geschlossenen lebenden System Mensch gegenüber neutral, daher ist dieser eher mit der Aufmerksamkeit nach innen gerichtet, kommuniziert mit sich selbst und erforscht die eigenen Bewegungsmöglichkeiten. In der Bewegung mit anderen Menschen oder auch mit Tieren ist die Kommunikationsebene viel komplexer. Es kommt ein weiteres lebendes geschlossenes System hinzu, was die Wahrnehmung über die eigene Bewegung beeinflusst und sich somit auch auf die individuelle Bewegungsfähigkeit auswirkt. Die Aufmerksamkeit richtet sich jetzt mehr nach außen, denn der Interaktionspartner ist eine lebende Umgebung und nicht neutral wie die leblose Umgebung. Es findet ein Kommunikationsaustausch statt, ein aufeinander bezogenes Agieren und Reagieren und das kann hinderlich sein, wenn die Interaktionspartner in der Bewegungsaktivität nicht miteinander harmonieren. Pflegekräfte achten während ihrer Arbeit weniger auf sich, weil sie durch den Pflegebedürftigen abgelenkt werden. Ihre Wahrnehmung richtet sich mehr nach außen (zum Pflegebedürftigen), sie warten immer auf Informationen oder Reaktionen von außen (vom Pflegebedürftigen) und lassen sich dadurch mehr oder weniger stark beeinflussen. Leider vergessen sie dabei ihre innere Wahrnehmung, die ihnen Informationen darüber gibt, was das Äußere (der Pflegebedürftige) mit ihnen macht. Aus kinästhetischer Sicht ist jedes Lebewesen ein geschlossenes Bewegungssystem und jedes seiner Aktivitäten eine Bewegungsaktivität. Die Qualität unserer Bewegung in allen alltäglichen und/oder beruflichen Aktivitäten ist für die Steuerung und Regulierung aller inneren Bewegungs- und Gesundheitsprozesse verantwortlich. Kinaesthetics ist ein Lernsystem und hilft Menschen, ihre Bewegungskompetenzen zu entwickeln. Man lernt seine eigene Bewegung über das kin. Sinnessystem zu beachten und Aktivitäten anhand der Konzepte aus verschiedenen Bewegungsperspektiven zu betrachten. Kinaesthetics wurde auf der Basis von wissenschaftlich gesicherten, bio-kybernetischen Zusammenhängen entwickelt und ermöglicht es, die Ressourcen des Körpers gezielt zu nutzen, und gibt damit die Möglichkeit, die eigene Gesundheit zu fördern.
Kinaesthetics und Lernen Lebenslanges Lernen über die eigene Bewegung: Wir lernen unser ganzes Lebenlang, denn Leben ist Entwicklung und Entwicklung ist Lernen. Der Mensch lernt sich an seine Lebenssituation anzupassen und je nachdem wie gut es ihm gelingt, ist dann seine Le18
Kinaesthetics und Lernen
bensqualität. Das Erlernen von Bewegung bedeutet, seine Bewegungsfähigkeiten zu entdecken und Kompetenzen zu entwickeln. Ein altes Sprichwort bringt es auf den Punkt:
„Greifen kommt vor begreifen!“ Fähigkeiten sind angeboren oder durch äußere Umstände entstanden. Die Vielzahl unserer Fähigkeiten führt zu einer wachsenden Kompetenz und sie wird auf pragmatischer (Körper), kognitiver (Geist) und affektiver (Seele) Ebene erworben. Die Kompetenz beschreibt die Gesamtheit von Fähigkeiten bezogen auf bestimmte Anforderungen. Man bringt individuelle Fähigkeiten mit und erweitert sie. Man erkennt Zusammenhänge, entwickelt Lösungen für Probleme und wendet diese an. Eine Kompetenz ist also, das Vermögen Fähigkeiten zu nutzen. Natürlich können bereits erworbene Kompetenzen im Laufe unseres Lebens durch Abbauprozesse, Krankheit oder Unfall auch wieder verloren gehen. Ziel ist es dann, diese erneut zu erwerben oder Compliancestrategien zu entwickeln.
„Man kann so alt werden wie eine Kuh und lernt immer dazu.“ Zugegeben, das Leben einer Kuh lässt sich nicht wirklich mit dem möglichen Lebensalter eines Menschen vergleichen, denn eine gute Milchkuh wird höchstens 25 Jahre alt.
„Man wird so alt wie ein Haus und lernt doch nie aus.“ Häuser oder auch Bauwerke können sehr alt werden, wie alt, das hängt von ihrem Fundament und ihrer Substanz ab. Mir fallen da viele Bauwerke ein, wie alte Kirchen, Schlösser, Burgen oder auch die Pyramiden, die dem Zahn der Zeit getrotzt haben, denn Menschen haben schon vor langer Zeit gelernt, haltbare Bauwerke zu bauen. Die Spirale des Lernens ist ein Instrument, mit dem Lernen nachvollziehbar durchgeführt und verstanden werden kann. Sie beschreibt den Weg, über den ein Organismus lernt. Er tut, nimmt wahr und analysiert, probiert aus und legt sich fest. Gesteuert wird der Prozess über die Feedback-Kontrolle (wurde bereits unter Kinaesthetics – Grundlagen beschrieben), das sogenannte Rückmeldekontrollsystem des menschlichen Organismus. So zu lernen, macht einen erheblichen Unterschied zu anderen Lernmöglichkeiten, wie zum Beispiel durch Abgucken oder Zuhören. Beim Abgucken und Zuhören kommen ausschließlich die Reizimpulse von außen und auf dem Weg nach innen gehen viele Informationen verloren. Macht man Erfahrungen über das eigene Tun, pasIdeen und Grundlagen
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siert viel mehr im Innern, man nimmt besser wahr und kann besser nachvollziehen. Es entstehen mehr Verknüpfungen, Datenautobahnen im Gehirn, die dafür sorgen, dass das neu Gelernte besser abrufbar ist und mit jedem alten und zukünftigen Wissen verknüpft werden kann. Viele Wege führen nach Rom. Ich muss meinen Weg finden und mein Weg muss nicht der Weg der anderen sein. Wir sind individuell, das Leben ist individuell, das Lernen ist individuell und was für den einen richtig ist, kann für den anderen falsch sein. Was für mich richtig ist, das kann auch nur ich herausfinden, denn wenn ich auf mich achte und mich wahrnehme, merke ich durch die Kommunikation mit meinem Körper, meinem Geist und meiner Seele, was gut für mich ist. Haben wir nicht alle schon den siebten Sinn in uns gespürt, das Bauchgefühl. Dieses Gefühl, was wir dabei spüren, ist unser kinästhetisches Sinnessystem. Wir spüren es über Spannungsveränderungen und es sagt uns, ob etwas gut für uns ist oder nicht. Wir sollten diesen Sinn wieder bewusster wahrnehmen und auf ihn hören, wenn er sich meldet.
BEISPIEL FÜR LERNEN: Der Mensch ist in seinem Kopf sortiert, jetzt lernt er etwas Neues hinzu und das verursacht Chaos im Kopf. Chaos macht Anspannung, das Denken (die Bewegung im Kopf ) wird blockiert. Wenn man diese Spannung nicht gelöst bekommt, kann man die Informationen im Kopf nicht sortieren. Erst wenn man sich entspannt, es gelassen nimmt, das Chaos zulässt, entsteht Bewegung im Kopf, der Knoten im Faden platzt und man bekommt seine Gedanken neu geordnet, also wieder sortiert. Eigentlich ist es egal, über welche Dimension der Mensch sich bewegt oder in Bewegung kommt, ob Körper, Geist oder Seele, denn wir sprechen ja auch von Kopfmenschen, von Gefühlsmenschen und körperbezogenen Menschen, wichtig ist, dass der Mensch überhaupt in Bewegung kommt, und automatisch sind alle drei Dimensionen (Körper, Geist, Seele) beteiligt und bewegen sich miteinander, egal aus welcher Dimension der Antrieb für die Bewegung gekommen ist.
Man kann einem anderen Menschen nur helfen, wenn man zu ihm Kontakt aufnimmt und sich dabei nicht selbst vergisst. Nur dann kann man gemeinsam lernen, wie man zusammen in Bewegung kommt. Es ist ein gegenseitiges „Nehmen“ und „Geben“. Jeder ist dabei die Umgebung des anderen. Der Unterschied zur leblosen Umgebung ist, dass wir lebendig sind und reagieren, uns bewegen und unsere Bewegung verändern. Wir müssen uns immer wieder aneinander anpassen und dabei wechseln wir die Rollen „Führen“ und „Folgen“. Helfen bedeutet, sich auf eine Interaktion einzulassen, bei der man im Vorwege nicht weiß, was passiert.
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Kinaesthetics und Lernen
BEISPIEL: In der Mitte einer Gruppe steht eine Thermoskanne, sie ist gelb, hat einen Aufkleber, auf dem steht „heißes Wasser“ und auf der gegenüberliegenden Seite des Aufklebers hängt ein Teebeutelschild heraus. Jeder nimmt die Thermoskanne anders wahr, der eine schaut auf die Form der Kanne und betrachtet sie genau, der Nächste wundert sich über die gelbe Farbe und fragt sich, was für ein Gelb das eigentlich ist. Der Nächste sieht den Aufkleber „heißem Wasser“ und fragt sich, ob wirklich nur heißes Wasser darin ist und ob alle Thermoskannen in der Schule einen Aufkleber haben. Der Nächste sieht den Teebeutel und versucht herauszufinden, um was für einen Tee es sich handelt. Und ein weiterer bekommt direkt Kaffeedurst, weil er mit einer Thermoskanne Kaffeetrinken verbindet usw.
Übertragen wir das auf eine Pflegesituation Die Pflegekraft kommt ins Pflegezimmer und müht sich ab, die in ihren Augen wenig bewegliche pflegebedürftige Person zu bewegen. Sie hat das Gefühl, mindestens eine halbe Stunde im Zimmer gewesen zu sein. Die pflegebedürftige Person hat das Gefühl, sie wird hin- und hergerissen, fühlt sich überrumpelt und hat das Gefühl, sie sieht das Pflegepersonal nur von hinten und keiner kümmert sich wirklich um sie. Das Kinaesthetics-Konzeptsystem macht uns die Perspektivenvielfalt bewusst und hilft uns, auch die anderen möglichen Blickwinkel zu sehen und so eine differenziertere, ja vielleicht auch komplexere Sicht auf die ganze Situation zu bekommen. Wir werden automatisch achtsamer sein und lernen auch zwischen den Zeilen zu lesen. Pflegekräfte sollten daher nie aufhören, ihr pflegerisches Handeln zu hinterfragen, um die Gesundheitsentwicklung eines pflegebedürftigen Menschen optimaler zu unterstützen und damit seine Lebensqualität zu fördern. Und natürlich auch die eigene Gesundheit zu bewahren. Ein 1.000 bis 2.000 Jahre altes (die Wissenschaftler streiten sich) chinesisches Sprichwort sagt:
„Was du mir erzählst, das vergesse ich. Was du mir zeigst, daran erinnere ich mich. Was du mich tun lässt, das verstehe ich.“ Wenn man einen Vortrag hört, kann man sich nur 20 Minuten wirklich konzentrieren und aufmerksam zuhören und auch dann rauschen 90 % der gesprochenen Worte durch den Kopf und nur 10 % bleiben im Kurzzeitgedächtnis hängen, was noch nicht Ideen und Grundlagen
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bedeutet, dass sie den Weg in das Langzeitgedächtnis schaffen werden. Ein guter Redner spricht in kurzen, aussagekräftigen und bildhaften Sätzen, damit der Zuhörer sich die Sätze besser merken kann und die Chance hat, diese schneller mit bereits vorhandenem Wissen im Langzeitgedächtnis zu verknüpfen. Wenn einem ein Kollege im Dienstzimmer erklärt, wie man Frau Müller aus dem Bett holen muss, versteht man es nicht wirklich, und wenn man bei Frau Müller ist, hat man bereits vergessen, was der Kollege gesagt hat. Sieht der Mensch etwas, z. B. einen Lehrfilm, oder eine Kollegin zeigt, wie sie Frau Meyer im Bett bewegt, kann er sich noch daran erinnern, wenn er das nächste Mal allein bei Frau Meyer ist, aber wie es genau war, weiß er nicht mehr, er hat vermutlich nur noch eine ungefähre Vorstellung davon.
BEISPIEL: Die Polizei befragt drei Zeugen zu einem Tathergang und jeder beschreibt diesen in seiner eigenen Version. Aus den Übereinstimmungen der drei unterschiedlichen Versionen macht die Polizei sich dann ihren eigenen Tathergang und am Ende gibt es vier Versionen des Tatherganges.
Hat der Mensch jedoch die Möglichkeit, z. B. einen Versuch oder den Transfer einer Person aus dem Bett unter Anleitung und Begleitung selbst durchzuführen und zu erleben, kann er die Situation nachvollziehen und verstehen. Verhalten ist nicht angeboren, sondern gelernt. Man sieht z. B. zunehmend im Internet private Filmaufnahmen auf den verschiedenen Plattformen, wo Tiere menschliches Verhalten an den Tag legen. Sie leben mit uns Menschen, gucken sich unsere Verhaltensweisen ab und werden von uns zum Teil sogar wie Menschen behandelt. Sie entwickeln sich und es kommt mir manchmal so vor, als würden sie dadurch vermenschlicht. Auch das Nicht-Verhalten ist ein Verhalten. In der Langzeitpflege kennen wir die Aussage der „erlernten Hilflosigkeit“. Pflegekräfte müssen sich als Lernbegleiter verstehen, die individuelle, angepasste aber auch flexible Lernprozesse möglich machen und dem Pflegebedürftigen so ein ressourcen-, fähigkeitsorientiertes und kompetenzentwicklungsförderndes Lernen ermöglichen. Eine nicht kinaestethisch geschulte Pflegekraft kann aufgrund des fehlenden Kommunikations- und Bewegungsverständnisses die Fähigkeiten des Pflegebedürftigen oft nicht richtig erkennen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf die Probleme des Pflegebedürftigen und „sieht“ im sprichwörtlichen Sinne „den Wald vor lauter Bäumen nicht 22
Kinaesthetics und Lernen
mehr“ – was pflegerisch bedeutet „vor lauter Problemen die Ressourcen nicht mehr“ – und wendet daher oft vorschnell die vollständige Übernahme an. Eine Entwicklung von Bewegungskompetenzen ist so nicht möglich, denn Entwicklungsmöglichkeiten entstehen aus den Ressourcen heraus, nicht aus den Problemen. Aus den Problemen heraus erfährt der Pflegebedürftige sich als nicht könnend und weiß oft nicht mehr, zu was er eigentlich noch selbst fähig ist. Er kennt seine eigenen Ressourcen nicht mehr und das demotiviert, ja blockiert ihn sogar, sich aktiv mobil zu beteiligen. Die Pflegerolle erfährt dabei eine Veränderung, weg von der immer agierenden Pflegekraft und hin zu einem assistierenden und unterstützenden Interaktionspartner. Fordere auf und gebe die Möglichkeit, selbst zu tun. Warten und Folgen statt Übernehmen und Führen sowie Ermutigen und Loben ist der Weg. Die Frage für den Pflegenden lautet: „Wie kann ich helfen, damit Sie Ihre Bewegung entwickeln und gestalten können?“ Dabei gilt es, die Bewegungsversuche des Pflegebedürftigen abzuwarten und diese richtig wahrzunehmen, um seine Bewegungsmöglichkeiten mit ihm zu entdecken und wenn nötig durch gezielte Impulse zu unterstützen oder hilfreiche Unterstützungsangebote zu machen, um die Eigeninitiative und Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen zu fördern. Jeder Mensch bewegt sich nach seinen erlernten, durch Erfahrungen entwickelten Bewegungsmustern. Er kennt seine Bewegungskompetenzen und Anpassungsmöglichkeiten und ist daher auch am besten in der Lage zu beurteilen, was in der jeweiligen Situation an Unterstützung für ihn hilfreich ist. Da wir nicht mit jedem pflegebedürftigen Menschen verbal kommunizieren können, müssen wir lernen, seine Situation mit allen uns zur Verfügung stehenden Sinnen zu betrachten, um einen Weg zu finden, mit ihm zu kommunizieren.
BEISPIEL: Eine Kursteilnehmerin und ich besuchten den Wintergarten des Hauses, wo die BewohnerInnen in ihren Rollstühlen sitzen. Uns fällt eine demenzerkrankte Bewohnerin auf, die immerfort mit dem Oberkörper wippt. Sie wirkt in sich gekehrt und gibt während ihrer Vor- und Rückwärtsbewegungen angestrengte Laute von sich. Auch die Kursteilnehmerin beobachtet dies. Ich frage sie, warum diese Frau so unruhig ist. Sie antwortet mir, dass das vermutlich an der Demenzerkrankung liegt. Diese Aussage scheint mir unqualifiziert. Zusammen mit der Kursteilnehmerin gehe ich der Sache auf den Grund. Beim Betrachten der Position nehmen wir wahr, dass die Bewohnerin ihre Beine nicht zu Boden bringen kann. Ihre Beine befinden sich auf Fußstützen, aber ihre Füße haben keinen Kontakt zur Stützfläche. Mit ihren Schulterblättern lehnt sie an der Rückenlehne des Rollstuhls. Sie gibt über die Schulterblätter das gesamte Gewicht des Brustkorbes ab. Ihr Kopf befindet sich nach vorn gebeugt über dem Brustkorb. Wir
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begeben uns in dieselbe Position und erfahren, dass es viel Anstrengung kostet, diese Position zu halten. Der Körper hat nur wenig Kontaktflächen zur Umgebung, um das Gewicht abzugeben. Dadurch ist der Auflagedruck erhöht und die Dekubitusgefahr ziemlich groß, weil eine gelegentliche Gewichtsverlagerung schwierig ist. Außerdem entdecken wir durch unsere Eigenerfahrung, dass sich die Frau eher in einer liegenden statt in einer sitzenden Position befindet; und das bedeutet in diesem Rollstuhl eine Kraftanstrengung, weil die Form des Stuhles zum Sitzen konzipiert ist. Wir stellen fest, dass die Frau unter den gegebenen Bedingungen ihre Bauchmuskulatur sehr stark beanspruchen muss, um vom Liegen ins Sitzen zu kommen. Diese Spannung wird außerdem durch das ziehende Gewicht der Beine verstärkt, da die Füße keinen ausreichenden Kontakt zu den Fußstützen haben. Der Oberkörper zieht durch das Zurücklehnen ebenfalls mit seinem Gewicht an der Bauchmuskulatur. Auch die Arme werden in ihrer Bewegung eingeschränkt. Der nach vorn gebeugte Kopf trägt zur angespannten Körpersituation bei, denn sein Gewicht belastet die Halsmuskulatur. Nachdem wir die Situation erfasst haben, bieten wir dieser Frau Änderungsvorschläge an. Zuerst versuchen wir, die Frau ins Sitzen zu bringen. Wir helfen ihr, den Kopf, den Brustkorb und das Becken wieder optimal übereinanderzubringen, dass sie das Gewicht ihres Oberkörpers gut über die Sitzbeinknochen auf die Sitzfläche des Rollstuhls abgeben kann. Die Bewohnerin ist jetzt in der Lage, das Sitzen mit wenig Anstrengung zu kontrollieren. Dadurch kann sie sich besser in ihrem Körper orientieren. Ihr Gesäß unterstützen wir zusätzlich durch zwei unter den Sitzbeinhöckern platzierte Handtücher. Dadurch vergrößert sich die Auflagefläche für das Gesäß. Sie kann das Gewicht nun mit wenig Aufwand von Seite zu Seite verlagern. Das verringert den Auflagedruck und somit die Dekubitusgefahr. Sie kann dadurch stabiler und somit noch kontrollierter sitzen. Den Rücken unterstützen wir zwischen den beiden Schulterblättern durch ein kleines Kissen. Dadurch sind die Arme beweglicher und es fällt ihr leichter, den Oberkörper zu bewegen. Die Fußstützen werden auf die Beinlänge der Bewohnerin eingestellt. Die Beine üben keinen Zug mehr auf das Becken aus; sie kann nun über die Beine die Bewegungen des Beckens beeinflussen. Die Frau entspannt sich und wird ruhiger. Die angestrengten Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen sind weg. Außerdem realisiert sie plötzlich unsere Anwesenheit und schaut uns nacheinander in die Augen.
Die Bewohnerin ist zweifelsohne aufgrund ihrer Demenzerkrankung in ihrer Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt. Wenn wir ihr monotones und mit hoher Anstrengung verbundenes Verhalten auch ihrer Erkrankung zugeschrieben hätten, hätte es keinen Handlungsbedarf gegeben. Wenn wir jedoch annehmen, dass das menschliche Verhalten maßgeblich durch die eigene Bewegung und die daraus 24
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resultierende Erfahrung der Bewegung gesteuert ist, verändert sich unser Blickpunkt. Und vom neuen Betrachtungsaspekt heraus sieht die Situation grundlegend anders aus. Wir sind als Pflegekräfte gefordert, menschliches Verhalten grundsätzlich zu verstehen und analytisch zu betrachten. Wenn ich das Verhalten von Menschen verstehen will, muss ich einerseits die grundlegenden Verhaltensweisen verstehen und andererseits in der Lage sein, die Situation individuell zu betrachten, um dem jeweiligen Menschen ein effektives Angebot machen zu können. Das Kinaesthetics-Lehr- und Lernmodell hilft uns, differenziert auf eine Bewegungsperspektive zu schauen, uns immer wieder Fragen zu stellen und nach Antworten und Lösungen zu suchen.
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung Bewegung ist lebensnotwendig und unerlässlich für die Gesunderhaltung und eine gesunde Lebensentwicklung. Ein Mensch, der krank ist und sich bewegt oder bewegt wird, fühlt sich gesünder, als ein Mensch, der krank ist und sich nicht bewegt oder nicht bewegt wird. Ein gesunder Mensch, der sich regelmäßig bewegt, fühlt sich fitter und vitaler als ein Mensch, der kaum Bewegung erfährt. Bewegung fördert den Blutkreislauf und sorgt für eine gute Sauerstoffversorgung der Zellen. Die Produktion der roten Blutkörperchen wird angeregt und unser Stoffwechsel funktioniert besser. Alle Aktivitäten im Inneren unseres Körpers funktionieren über Bewegung und werden durch aktive Bewegung unterstützt. Eine unzureichende Bewegung führt zu Störungen und verursacht Schäden, wie z. B. eine Kontraktur. Die Qualität der menschlichen Bewegung hat immer einen Einfluss auf die Gesundheitsprozesse des Menschen und sollte daher entsprechend wahrgenommen und erkannt werden, um die Bewegungsabläufe möglichst gesundheitsfördernd zu gestalten und die Entwicklung von Gesundheitsprozessen zu ermöglichen.
Körper Ein Mangel an ausreichender Bewegung führt zu einem körperlichen Abbau und bringt körperliche Einschränkungen und Beschwerden mit sich. Der Körper ist ein lebendes, geschlossenes Bewegungssystem, welches sich fortlaufend über Bewegung kontrolliert, sich anpasst und sich entwickelt. Hält man ihn nicht ausreichend in Bewegung, kann er sich nicht mehr anpassen, nicht mehr kontrollieren und schon gar nicht mehr entwickeln. Er baut ab, verkümmert und stirbt langsam.
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Geist Ein körperlicher Abbau hat auch einen mehr oder weniger ausgeprägten geistigen Abbau zur Folge, denn alles ist Bewegung. Der Geist braucht fortwährend neue Informationen, um anpassen, kontrollieren und sich entwickeln zu können. Informationen bekommt er über Bewegung. Bleibt diese aus, wird auch er abbauen, verkümmern und sterben.
Seele Keine Bewegung, keine Information und keine Erfahrung. Die Seele braucht Erfahrungen, um zu empfinden. Erfahrungen macht man über Bewegung. Hat man keine Bewegung, kann man nicht erfahren und nicht empfinden, die Seele baut ab, verkümmert und stirbt. Andere auf die Gesundheit bezogene Praxisbeispiele:
BEISPIEL TRINKEN: Sie sitzen angespannt auf einem Stuhl, z. B. auf der Stuhlkante nach hinten gelehnt ohne Rückenkontakt und mit angezogenen Beinen ohne Fußbodenkontakt der Füße. Sie sind sozusagen damit beschäftigt, nicht vom Stuhl zu fallen. In dieser Situation versuchen Sie etwas zu trinken und Sie werden feststellen, dass es sich schwierig gestaltet.
Beim Trinken finden die Bewegungsprozesse hauptsächlich im Kopf und im Brustkorb statt, aber es ist nicht zu vergessen, dass jede körperliche Aktivität eine Ganzkörperaktivität ist. Befindet sich Gewicht in der für den Trinkprozess geforderten Muskulatur, können aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit die Bewegungsabläufe nicht gut und sicher ausgeführt werden und somit birgt diese Trinkposition die Gefahr einer Aspiration. Das ist ein großes Gesundheitsrisiko, denn wenn man sich verschluckt, kann man ersticken oder durch evtl. Aspiration eine Pneumonie (Lungenentzündung) entwickeln. Ganz zu schweigen davon, dass in dieser Position die Atmung auch ohne den Trinkvorgang enorm eingeschränkt wird, denn der Atembewegungsprozess betrifft ebenfalls in erster Linie den Kopf und den Brustkorb. Wenn der Mensch nun ständig längerfristig in einer angestrengten Position ist, kann er dauerhaft schlecht atmen, das hat zur Folge, dass seine Lunge schlecht belüftet wird und sein grundsätzliches Risiko für die Entstehung einer Pneumonie steigt. 26
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
BEISPIEL STUHLAUSSCHEIDUNG: Sie sitzen gerade mit aufrechtem Rücken auf der Toilette, Ihre Füße haben schlimmstenfalls keinen Kontakt zum Boden, Sie wollen ausscheiden und Ihren Darm entleeren. So auszuscheiden ist sehr anstrengend und gesundheitsgefährdend, denn das Körpergewicht befindet sich im Becken, da wo die Ausscheidungsbewegungen stattfinden sollen. Fängt man an zu drücken, obwohl das Gewicht sich im Becken befindet, hebt man sich von der Sitzfläche hoch, der Druck steigt an und bewegt sich in Richtung Lunge, man hält die Luft an, der Druck steigt weiter, er gelangt in den Kopf, das Blut staut sich und der Kopf wird rot. Die Gefahr, so auf der Toilette einen Schlaganfall, eine Embolie oder auch einen Herzinfarkt zu bekommen, ist hoch, auf jeden Fall verursacht man so die Entstehung von Hämorrhoiden.
Die meisten Menschen sitzen mit nach vorn gebeugtem Oberkörper auf der Toilette, die Füße haben einen guten Kontakt zum Boden, sie stützen sich mit den Ellenbogen oder Unterarmen auf ihren Knien ab, das Körpergewicht ist nach vorn verlagert und wird über ihre Füße an den Boden abgegeben. So auszuscheiden ist leicht und gesundheitsfördernd, das Körpergewicht befindet sich nicht im Becken, sondern das Becken hängt über der Toilette, es kann sich gut bewegen, um auszuscheiden, und der Druck geht nach unten in das Toilettenbecken. Es entsteht kein Druck nach oben, der uns die Luft anhalten lässt, es steigt auch kein Druck in den Kopf, der einen Blutstau verursacht, und der Kopf wird nicht rot. Es gibt noch andere Positionen, die sich zum Ausscheiden von Stuhlgang eignen, wichtig ist dabei vor allem ein von Gewicht freies Becken. Der Mensch ist ein in sich geschlossenes Bewegungssystem, auch beim Lernen, denn er kann andocken an das vorherige Wissen und darauf aufbauen, also neues Wissen mit altem Wissen verknüpfen und neue Datenautobahnen im Gehirn entstehen lassen. Durch Bewegungserfahrungen lernt der Mensch sich zu entwickeln und über angepasste Bewegungen seine Gesundheit zu fördern. Jeder Mensch hat Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten sind seine gesunden Anteile, man bezeichnet sie in der Pflege auch als Ressourcen, und es gilt sie einzufordern und zu fördern, damit sich daraus wieder etwas entwickelt. Das führt zwangsläufig fortlaufend zum Lernen und der Lernprozess fördert die Gesundheit, da er neue Ressourcen hervorbringt, die sich wieder weiterentwickeln und neue Lernprozesse entstehen lassen, und das ein Leben lang. Pflegebedürftige Menschen sollten bei der Planung ihrer Pflege mit einbezogen werden, dadurch ermöglicht man ihnen die Selbstkontrolle für den eigenen Gesundheitsprozess. Das motiviert sie, die Eigenverantwortung für ihre Gesundheitsentwicklung selbst zu übernehmen.
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Um pflegebedürftige Menschen zu fördern, sollte man auf jede selbstständige Aktivität positiv reagieren und eine pflegerische Überversorgung vermeiden. Bei einer Überversorgung nimmt der Betroffene seine Bewegungsfähigkeiten nicht mehr wahr, er erfährt sich als unfähig und inkompetent. Gibt man ihm die Möglichkeit, sich selbst zu erfahren und seine Bewegungsabläufe zu kontrollieren, fühlt er sich fähig und kompetent, das wiederum motiviert ihn, durch weitere Selbsterfahrung zu lernen. Es kommt durch fortlaufende Bewegungsprozesse zur Entwicklung und zum Wachstum und zur Erhaltung und Förderung der eigenen Gesundheit und somit zu einer verbesserten Lebensqualität. Man kann gemeinsam lernen, aber jeder macht seine eigenen Erfahrungen. Es geht darum, die eigenen Möglichkeiten zu entdecken und diese zu nutzen, um sich zu entwickeln – mit dem Ziel, gesund zu bleiben oder gesund zu werden.
Ganzheitliche Pflege In der Pflege betrachtet man den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit. Der Mensch besteht aus Körper, Geist und Seele und alle drei Dimensionen brauchen Nahrung, um zu leben und sich zu entwickeln. Der Körper braucht Eiweiß, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine, Spurenelemente, Ballaststoffe und Flüssigkeit. Der Geist braucht geistige Nahrung, etwas zum Denken, Nachdenken, Verarbeiten und Verstehen. Und die Seele braucht Emotionen, Empfindungen und Gefühle wie Respekt, Anerkennung, Zugehörigkeit, Freundschaft, Liebe usw. In allen drei Dimensionen gibt es leicht verdauliche Kost, schwer verdauliche Kost und unverdauliche Kost. Schwer verdauliche Kost kann krank machen und unverdauliche Kost wird krank machen, wenn man sie nicht wieder loswird. Die Beschwerden (Symptome) machen sich dann zumeist auch körperlich bemerkbar. Wir sind immer in Körper, Geist und Seele das, was wir essen. Nun ist aber nicht alles, was wir an körperlicher, geistiger und seelischer Nahrung zu uns nehmen, freiwillig. Vieles bekommen wir im Laufe unseres Lebens einfach zugeführt und müssen es schlucken, ob es uns gefällt oder nicht. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.“ Oder: „Eine Medizin darf nicht schmecken, sonst hilft sie nicht.“ „Der Spinat wird gegessen, er ist gesund und macht stark.“ In der Schule muss der Geist alles lernen, was im Curriculum steht, wenn er weiterkommen will, und das ist nicht immer das, was ihn möglicherweise interessiert. Die Seele wird nicht gefragt, ob sie dieses oder jenes Gefühl erleben will, denn das Leben ist so wie es ist – Ängste, Verluste, Kummer, Trauer und Wut gehören leider auch dazu. Eine ganzheitlich orientierte Pflege berücksichtigt all das und bezieht ihre Wahrnehmungen und die entsprechenden Schlussfolgerungen diesbezüglich mit ein, um Krankheiten zu verhindern, Gesundheit zu erhalten und diese zu fördern. Denn die 28
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
drei Dimensionen Körper, Geist und Seele sind stets in Bewegung und beeinflussen sich gegenseitig. Eine hohe Körperspannung lässt keinen großen Spielraum für Bewegung, niedrige Körperspannung hingegen viel. Wenn man seinen Körper bewegt, dann bringt man auch seinen Geist in Bewegung, der der Bewegung folgt, sie analysiert, interpretiert und die Körperspannung entsprechend anpasst. So wie auch die Seele, die die Bewegung spürt, sie erlebt und empfindet und je nach Körpergefühl mit einer entsprechenden Spannung reagiert. Unsere Körperspannung hat immer einen Einfluss auf unsere körperliche, geistige und seelische Bewegung, Bewegungswahrnehmung und Bewegungsempfindung. Bedrückt die Seele etwas, erzeugt das eine Spannung, die auch den Geist und den Körper belastet und beeinträchtigt. Mit dem Geist verhält es sich nicht anders, wird er zu sehr beansprucht, steigt die Anspannung und somit der Druck, der auch die Seele und den Körper belastet. Und die extreme körperliche Anstrengung beeinträchtigt ebenfalls den Geist und die Seele.
BEISPIEL: Sie gehen mit Magenschmerzen zum Arzt und dieser stellt nach diversen diagnostischen Untersuchungen fest, dass Sie ein Magengeschwür haben und unter dem Heliobackter-Bakterium leiden, welches sich in der Magenschleimhaut eingenistet und das Magengeschwür verursacht hat. Es handelt sich um eine körperliche Ursache, Sie bekommen wegen der Widerstandsfähigkeit des Bakteriums eine Antibiotika-Kombinationstherapie zur Bekämpfung, Medikamente zur Magenschleimhautregeneration und werden krankgeschrieben. Ihr Magengeschwür heilt ab, sie gehen wieder zur Arbeit und es tauchen keine weiteren Magenprobleme mehr auf.
Oder der Arzt stellt fest, dass Sie ein Magengeschwür haben, aber seine diagnostischen Untersuchungen geben keinen Hinweis auf eine körperliche Ursache. Im Gespräch mit Ihnen stellt er fest, dass Sie als Büroangestellter bei der Arbeit seit über einem Jahr durch die Berentung eines Arbeitskollegen, dessen Aufgabenbereich mit übernehmen müssen und geistig völlig überlastet sind. Sie bekommen Medikamente zur Magenschleinhautregenerierung und werden krankgeschrieben. Nach Abheilung des Magengeschwürs gehen Sie wieder zur Arbeit. Sollte sich bei der Arbeit jedoch nichts verändern, werden Sie spätestens nach einem Jahr vermutlich ein neues Magengeschwür entwickelt haben. Oder der Arzt stellt während des Gespräches fest, dass Sie unter großem seelischen Kummer leiden, den Sie unterdrücken. Er rät Ihnen, zu einer Seelsorge zu gehen, verschreibt Ihnen ein Medikament zur Magenschleimhautregeneration und schreibt Sie krank. Wenn Sie den Rat zur Seelsorge zu gehen, nicht befolgen, wird das MagengeIdeen und Grundlagen
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schwür vielleicht gar nicht abheilen oder es wird nach der Abheilung (durch die Medikamente) wieder entstehen. Und sollten Sie vom Arzt eine dauerhafte Magenmedikation bekommen, wird sich der seelische Druck über kurz oder lang vermutlich ein anderes Ventil suchen, um auf sich aufmerksam zu machen. Wir kennen unterschiedlichste Erkrankungen, die mit der seelischen Verfassung des Menschen in Verbindung stehen, wie Magenerkrankungen (das schlägt mir auf den Magen), Gallenerkrankungen (mir läuft die Galle über), Darmkrankheit (das kann ich jetzt aber nicht verdauen), Hautprobleme (da zieht es mir glatt die Haut ab), Lunge nerkrankungen (da bleibt mir glatt die Luft weg) oder auch Nierenprobleme (da mache ich mir glatt in die Hose). Was für ein Krankheitstyp sind Sie, wo ist Ihre Schwachstelle, um angestauten Druck ablassen zu können, sind Sie der Magentyp, der Darmtyp oder vielleicht der Hauttyp? Manchmal kann sich der Erkrankungstyp jedoch im Laufe des Lebens auch verändern, denn unser Körper verändert sich ja bekanntlich alle sieben Jahre, weil die Zellen dann alle einmal erneuert sind.
BEISPIEL AUS MEINER PRAXIS: Eine pflegende Angehörige erzählte mir, dass es ihr körperlich schlecht ging, ihre Kraft sie verließ und der Rücken schmerzte. Sie nahm an, sie bräuchte mehr Kraft und ging in ein Fitnessstudio, um ihre Muskulatur zu kräftigen. Dennoch ging es ihr immer schlechter und ihr pflegebedürftiger Mann bekam Angst vor ihrer immer größer wirkenden Statur. Durch Kinaesthetics hat sie dann gemerkt, dass sie eine hohe Anspannung hatte, infolge einer seelischen Überlastung. Sie hatte körperliche Beschwerden und dachte, sie müsste ihren Körper fit machen. Jetzt erkannte sie, dass sie zwar Bewegung brauchte, aber Entspannungsbewegungen, um den Druck, der auf ihrer Seele lastete, loszuwerden. Das Fitnesstraining bewirkte genau das Gegenteil, es wurde noch mehr Spannung produziert, so konnte der Druck, der auf ihrer Seele lastete, nicht entweichen. Dauerhaft anhaltender Druck macht krank, weil er die Bewegung von Körper, Geist und Seele blockiert. Es ist wichtig herauszufinden, in welcher der drei Dimensionen sich der Druck befindet, um die Blockade zu lösen und alle drei Dimensionen wieder in Einklang zu bringen. Das Symptom ist nicht automatisch die Ursache, man muss genau wahrnehmen.
Prävention Eine Gesundheitsprävention beinhaltet Maßnahmen zur Gesunderhaltung und wird in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention unterteilt. Pflegerische prophylaktische Maßnahmen können alle drei Stufen der Prävention umfassen, die primäre Prävention für
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Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
das offensichtliche Risiko, die sekundäre Prävention für das sich längerfristig entwickelnde Risiko oder die tertiäre Prävention für das Wiederholungsrisiko. Prophylaxen sind vorbeugende Maßnahmen für körperliche, geistige und seelische Erkrankungen und dienen zur Verhinderung von Sekundärerkrankungen. Sie enthalten alle gesundheitsfördernden Maßnahmen und beziehen sich auf alle Bereiche des täglichen Lebens. Sie umfassen das Erkennen und Einschätzen der gesundheitlichen Risiken, die Wahl der infrage kommenden Interventionen (Maßnahmen), die Information, Beratung, Anleitung und Begleitung der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die Durchführung der Interventionen, die Evaluation, die Dokumentation der Interventionen sowie die Ergebnisse des Prozesses. Prophylaktisch zu denken und zu handeln bedeutet, verantwortungsbewusst mit sich und anderen umzugehen. In der Pflege werden zur Prävention von Sekundärerkrankungen zu den verschiedenen Problemenen prophylaktische Maßnahmen durchgeführt. Der Erfolg von Prophylaxen ist abhängig von der kontinuierlichen und systematischen Maßnahmendurchführung, der Durchführungssorgfalt, den entsprechend angemessenen Mitteln und Maßnahmen und ihrer individuellen Anwendungshäufigkeit.
Folgende Prophylaxen werden in der Pflegeplanung berücksichtigt: Sturzprophylaxe:
Ein Sturz kann zu jeder Zeit passieren.
Dekubitusprophylaxe: Ein Dekubitus kann innerhalb von zwei Stunden entstehen. Thromboseprophylaxe:
Eine Thrombose kann sich innerhalb von mehreren Stunden entwickeln.
Pneumonieprophylaxe:
Eine Pneumonie kann sich innerhalb von ein bis mehreren Tagen entwickeln.
Obstipationsprophylaxe:
Eine Obstipation macht sich zwischen ein und drei Tagen bemerkbar.
Kontrakturenprophylaxe:
Eine Kontraktur kann sich innerhalb mehrerer Wochen und Monate entwickeln.
Soor- und Parotitisprophylaxe:
Eine Soor- und Parotitis kann sich über mehrere Wochen und Monate entwickeln.
Schmerzprophylaxe:
Schmerzen können je nach Krankheitssituation jederzeit auftreten.
Dehydrationsprophylaxe:
Eine Dehydration macht sich nach mehreren Stunden bis Tagen bemerkbar.
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Mangelernährungsprophylaxe: Macht sich nach mehreren Wochen und Monaten bemerkbar.
Die Pflege hat erkannt, dass eine Bewegungsförderung nicht nur maßgeblich für den Erfolg der Kontrakturen- und Dekubitusprophylaxe ist, sondern alle Prophylaxen von der Mobilität eines Menschen betroffen sind und von ihr beeinflusst werden, denn Pflege dient nicht nur dem Gesundheitsprozess, sondern hat auch und vor allem den Auftrag zur Prävention. Die Bewegungsförderung wird mittlerweile als „Hauptprophylaxe“ angesehen, was letztlich dazu beigetragen hat, als Leitlinie und Instrument den Expertenstandard „Erhalt und Förderung der Mobilität“ zu entwickeln. Zur Umsetzung dieses Expertenstandards ist es erforderlich, eine ausreichende Bewegungswahrnehmung und Bewegungsanalysefähigkeit zu haben.
Sturz Zu Stürzen kommt es, wenn das Körpergewicht aus dem Gleichgewicht gerät und der Mensch es nicht mehr kontrollieren kann.
BEISPIEL: Eine Maßnahme zur Sturzprophylaxe ist das Anlegen von Hüftprotektoren. Dies führt jedoch dazu, dass der Mensch sich nicht mehr so gut über die Seite aufsetzen kann. Dadurch werden die natürlichen, leicht kontrollierbaren spiraligen Bewegungsmuster eingeschränkt. Es bleiben nur noch die schlecht kontrollierbaren parallelen Bewegungsmuster übrig, was wiederum dazu führt, dass die Sturzgefahr steigt. Es wäre sinnvoller, die spiraligen Bewegungsmuster zu mobilisieren, um Bewegungskompetenz und Eigenkontrolle zu fördern und damit das Sturzrisiko zu minimieren. Bewegung ist ein Grundbedürfnis und erhöht unsere Lebensqualität. Wir erfahren uns selbst und lernen unser ganzes Leben lang über unsere eigene Bewegung. Stürze gehören zum Leben dazu, man muss lernen, seine Bewegung den eigenen Fähigkeiten anzupassen, um Stürze zu vermeiden. Es bringt nichts, wenn wir uns in Watte packen und unsere Bewegung dadurch einschränken, weil wir dann weniger anpassungsfähig sind, leichter die Bewegungskontrolle verlieren und noch häufiger stürzen.
Dekubitus Um der Entstehung eines Dekubitus vorzubeugen, bedarf es einer ausreichenden Bewegungsfähigkeit zur Gewichtskontrolle des Körpers. 32
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
BEISPIEL: Als Pflegekraft muss ich für eine Umgebung sorgen, die Bewegung ermöglicht und dem Pflegebedürftigen hilft, über Haltungsbewegung seine Position zu kontrollieren. Es wird ein Umgebungsangebot zur Positionsunterstützung gemacht, um die Eigenbewegung zur Positionskontrolle zu fördern. Möchte der Pflegebedürftige die Position wechseln, geht es nicht um das Umbetten oder Umlagern, sondern um die Bewegungskontrolle von einer Position in eine andere. Superweiche Unterlagen oder Matratzen verringern zwar den Auflagedruck der Haut und dienen zur Vorbeugung von Dekubiti, machen aber immobil, da der Mensch sein Gewicht nicht abgeben kann und sich über seine Muskeln hält und hebt. Die Körperspannung steigt und seine Auflagefläche wird immer kleiner, die Dekubitusgefahr nimmt wieder zu und es bilden sich über einen längeren Zeitraum Kontrakturen. Um einen Dekubitus zu vermeiden, braucht es Bewegung, um regelmäßig das Körpergewicht zu verlagern. Für Bewegung braucht man seine Muskulatur. Muskeln, die jedoch damit beschäftigt sind, nicht abgegebenes Gewicht über die Knochen zu halten und dieses zu heben, können nicht bewegen. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich zu bewegen. Sind die Muskeln frei für Bewegung und ist der Mensch mit wenig Kraftaufwand dazu in der Lage, sich zu bewegen, dann wird er es auch tun.
Thrombose Bei einer Thrombose handelt es sich um ein entstandenes Blutgerinnsel innerhalb des Gefäßsystems. Das betroffene Gefäß ist verengt oder verschlossen und der Blutkreislauf in dem betroffenen Bereich ist gestört. Gefährdete Körperstellen sind die Extremitäten, ganz besonders die Beine. Hauptursache für eine Thrombose sind die sogenannten Virchow‘sche Trias (deutscher Pathologe Rudolf Virchow 1821–1902). Neben der Gefäßwandveränderung, z. B. durch Arteriosklerose, und die Dickflüssigkeit des Blutes, z. B durch Stoffwechselstörungen oder Faktor-5-Gen Defekt (5 % der Bevölkerung haben diesen Gendefekt), steht als Ursache die verlangsamte Blutflussgeschwindigkeit insbesondere durch mangelnde Bewegung.
Pneumonie Eine Pneumonie ist eine Lungenentzündung, hervorgerufen durch Viren oder Bakterien. Anfällig für die Entwicklung einer Pneumonie sind chronisch Kranke und in der Abwehr geschwächte Menschen, aber auch sich wenig bewegende oder im Bett lebende Menschen, denn sie haben eine wenig bewegliche, flache, die Lunge schlecht belüftende Atmung.
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Obstipation Bei der Obstipationsprophylaxe handelt es sich um Maßnahmen, die eine Stuhlverstopfung verhindern sollen, indem sie die natürliche Darmperistaltik (Darmfunktion) unterstützen und anregen. Stuhlprobleme spielen im Alter häufig eine große Rolle, denn es fehlt, bedingt durch die oft körperlichen Einschränkungen, an ausreichender Bewegung. Hinzu kommen dann natürlich erworbene Darmerkrankungen, Ernährungs- und Trinkverhalten sowie Abführmittelmissbrauch oder Nebenwirkungen von Medikamenten.
Kontrakturen Eine Kontraktur ist eine Schädigung des Gelenkes durch dessen Versteifung mit Funktions- und Bewegungseinschränkung. Es kommt zum dauerhaften Flexibilitätsverlust von Muskeln, Sehnen und Bändern mit der Folge einer Verhärtung. Durch die mangelhafte Bewegung wird die Gelenkschmierproduktion eingestellt, die Gelenkkapsel trocknet aus, schrumpft, engt das Gelenk ein und bekommt unter Umständen sogar Risse. Eine derartige Schädigung des Gelenkes ist nicht reversibel (rückbildbar), es bleibt dauerhaft steif. Kontrakturen entstehen durch Immobilität oder Inaktivität (mangelhafte Bewegung), z. B. als Sekundärfolge von Erkrankungen. An jedem Gelenk des Körpers kann eine Kontraktur entstehen, auch an Wirbelkörpern und Fingergelenken, wenn das Gelenk über längere Zeit nicht bewegt wird. Wenn Gelenke nicht bewegt werden, leidet ihr Stoffwechsel und ihre Funktion. „Wer rastet, der rostet.“
Soor und Parotitis Eine Soorinfektion (Pilzinfektion) wird durch einen schlechten physiologischen Zustand der Mundschleimhaut begünstigt. Dieser entsteht aus einer Immunschwäche, einer mangelhaften Mundhygiene oder durch eine fehlende Kau- und Schluckaktivität. Die Mundschleimhaut trocknet durch die fehlende oder unzureichende Einspeichelung aus und daher entfällt auch die Schluckreinigung fast gänzlich. Eine Parotitis ist eine schmerzhafte Ohrspeicheldrüsenentzündung, erworben durch eine mangelhafte Kieferbewegung aufgrund fehlender Kautätigkeit.
Schmerz Der Schmerzzustand eines Menschen wird vom Spannungszustand seiner Muskulatur beeinflusst. Wir nehmen das Schmerzempfinden über unser Nervensystem wahr und unser peripheres Nervensystem befindet sich in unserer Muskulatur. Sind die Muskeln angespannt, werden die Nerven gereizt und Schmerzen stärker empfunden. Es ist also schmerzlindernd, wenn sich die Muskulatur in einem entspannten Zustand befindet. 34
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
Die Position, in der ein Mensch sich befindet, wirkt sich wiederum auf das Spannungsverhältnis seiner Muskulatur und somit auf sein Schmerzempfinden aus. Um den Schmerz zu reduzieren, ist es erforderlich, eine entspannte Position einzunehmen und diese durch entsprechende Unterstützung mittels Umgebungsgestaltung zu optimieren. Eine bewegungsfördernde Umgebungsgestaltung ermöglicht es, den Schmerz über spannungsregulierende Bewegungen zu kontrollieren.
BEISPIEL: Wenn wir Bauch- oder Unterleibschmerzen haben, dann krümmen wir uns, egal ob im Stehen oder im Liegen. Unser Ziel dabei ist es, die gespannte Bauchdecke durch das Gewicht des gestreckten Oberkörpers und der ausgestreckten Beine über das Krümmen zu entlasten, indem wir den Oberkörper und die Beine beugen, dadurch die Bauchdecke entspannen und somit die Schmerzen reduzieren.
Dehydratation Eine Ursache für das mangelhafte Trinkverhalten ist das abnehmende Durstempfinden mit zunehmendem Alter, aber auch die Bewegungsfähigkeit spielt dabei eine große Rolle. Ist der Mensch dazu in der Lage, sich Flüssigkeiten zu beschaffen, an das Trinken zu denken und das Getränk zu sich zu nehmen? Trinken ist eine Bewegungsaktivität und braucht die dafür entsprechenden Bewegungskompetenzen.
Mangelernährung Auch bei der Mangelernährung geht es um Bewegungskompetenzen zur Nahrungsbeschaffung, Zubereitung, Nahrungsaufnahme, Nahrungsverarbeitung und um das Denken ans Essen. Wie das Trinken ist natürlich auch die Nahrungsaufnahme eine Bewegungsaktivität, welche entsprechende Bewegungskompetenzen erfordert.
Gesundheitsförderung Mit dem Kinaesthetics-Konzeptsystem betrachtet man Bewegung nach dem Ursacheund Wirkungsprinzip. Es geht darum, seine Bewegung bewusst wahrzunehmen und zu erkennen, wie man die eigene Bewegung, wenn erforderlich, mittels seiner Ressourcen gesundheitsfördernd anpassen kann. Alle unwillkürlichen Aktivitäten im Körper werden über innere Bewegungsprozesse gesteuert, diese Bewegungsprozesse beeinflussen sich gegenseitig und werden auch von den willkürlich ausgeführten Bewegungen des Menschen beeinflusst. Wie schon erwähnt: „Wer rastet, der rostet!“
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Willkürlich ausgeführte Bewegungen können daher, wenn sie entsprechend effektiv angepasst sind, die inneren unwillkürlichen Bewegungsprozesse unterstützen und so maßgeblich zur Entwicklung von gesundheitsfördernden Prozessen beitragen.
ASTHMA BEISPIEL: Ein 60-jähriger Asthmatiker fing im Schwimmbad an das Apnoe-Tauchen zu trainieren und parallel dazu autogenes Training zu lernen. Über einen längeren Trainingszeitraum von mehreren Monaten schaffte er es, auf dem Hallenboden des Schwimmbades sitzend unter autogenem Training sehr lange die Luft anzuhalten. Er tut das regelmäßig und sein Asthma ist seit dem verschwunden. Nun lässt sich diese, wie jede Geschichte unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, z. B. aus der körperlichen, geistigen oder seelischen Dimension.
SCHLAGANFALL BEISPIEL: Im Jahr 2008 wurde in den Nachrichten darüber berichtet, dass finnische Forscher in einer kleinen Studie entdeckten, dass Schlaganfallpatienten sich besser erholten, wenn sie täglich Musik hörten und ich musste damals schmunzeln. Es hat mich in keinster Weise überrascht, denn Hören ist Bewegung, bringt wie alle Sinnessysteme Bewegungswahrnehmungsprozesse in Gang und fördert dadurch Entwicklungsprozesse im Gehirn. Es hat mich gewundert, dass Forscher so lange dafür gebraucht haben, um diese Erkenntnis zu gewinnen.
WACHKOMA BEISPIEL: Eine extrem viel Kaffee trinkende Frau befand sich über einen langen und unveränderten Zustand im Wachkoma. Sie machte keinerlei Anstalten aufzuwachen, bis plötzlich jemand vom Pflegepersonal auf die Idee kam, ihr den Mund mit einem in Kaffee getränkten Tupfer auszuwischen. Und plötzlich kam eine Reaktion. Wahrnehmung braucht Bewegung und Schmecken ist Wahrnehmen. Das Gehirn hat die Reize empfangen, sie wiedererkannt und darauf reagiert, der erste Schritt ins Bewusstsein zurück ist gemacht, denn durch den bekannten Kaffeegeschmack wurde ein Gesundheitsprozess in Gang gebracht.
Menschen im Wachkoma reagieren auch auf ihre Position und signalisieren über ihre Vitalparameter, ob sie sich in der Position wohlfühlen oder nicht. Sie nehmen die Gegenwart ihrer Angehörigen wahr (z. B. über Stimme, Geruch, Berührung), deutlich erkennbar an den Vitalparametern wie Puls, Blutdruck und Atmung. Anhand der Reaktion 36
Kinaesthetics und Gesundheit – Ganzheitliche Pflege, Prävention, Förderung
des sich im Wachkoma befindenden Menschen beobachtet man auch, wenn dieser die anwesende Person nicht mag. Generell erhöht die Anwesenheit von nahestehenden geliebten Angehörigen die Chance auf das Erwachen enorm. Das kann jedoch auch im negativem Sinne gelten, wenn der Mensch im Wachkoma die anwesende Person nicht mag.
DEMENZ BEISPIEL: Die beste Möglichkeit zur Prävention von Demenz-Erkrankungen ist das Tanzen, denn Tanzen beinhaltet viele Koordinationsbewegungen, fördert Körper, Geist und Seele gleichermaßen, da viele Verknüpfungen und Hirnareale angesprochen werden. Tanzen verbindet zudem, fördert die soziale Integration, vermittelt Lebensfreude und motiviert. Da viele Verknüpfungen im Gehirn beim Tanzen angesprochen werden, sind demenziell Erkrankte leicht über schaukelnde oder schunkelnde rhythmische Bewegungen, z. B. auch in Verbindung mit melodischem Summen oder Gesang, in Bewegung zu bringen. Liegt eine Demenzerkrankung vor, ist die körperliche Bewegung ganz besonders wichtig, um alltägliche Bewegungskompetenzen zu erhalten und Sekundärerkrankungen entsprechend vorzubeugen.
Ein Gehirn, welches Kurzzeitinformationen nicht mehr gut speichern kann, wird noch mit Musik erreicht. So können verloren geglaubte Erinnerungen wieder geweckt werden. Es gibt bestimmte Regionen im Gehirn, in denen die Musik gespeichert ist, und diese Regionen werden durch die Demenzerkrankung nicht beschränkt. Es ist bekannt, dass die Musik unserer Kindheit und Pubertät am längsten berhalten wird, da diese Zeit eine prägende im Leben eines Menschen ist. Das ist bei Frauen die Zeit von 12 bis 22 Jahren und bei Männern von 15 bis 25 Jahren. In der Pflege vergisst man jedoch leider häufig, demenziell Erkrankten Musik aus ihrer Kindheit und Pubertät anzubieten.
SCHMERZ BEISPIEL: Eine Kinaesthetics-Grundkursteilnehmerin besuchte ihre nach einem Unfall mit mehreren Beckenbrüchen im Krankenhaus in der Orthopädie liegende Schwester. Diese hatte trotz hoher Schmerzmitteldosierung starke Schmerzen und konnte ihre Position im Bett kaum ertragen. Das Pflegepersonal durfte ihr keine höhere Schmerzmitteldosis mehr geben und konnte an ihrer Position nichts weiter verändern. Nun hat die Grundkursteilnehmerin bei mir gelernt, bei Menschen, die keine Kontrolle über ihre körperliche Position haben und oder unter Schmerzen leiden (siehe auch fünftes Konzept „Menschliche Funktion“ Einfache Funktion), die funktionale Rückseite der einzelnen Massen innerhalb der eingenommenen Position so zu unterstützen, dass diese einen vollständigen Kontakt zur Umgebung haben, damit sich
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der Auflagedruck über die vergrößerte Auflagefläche verringert, die Muskulatur sich entspannen kann und die Schmerzempfindlichkeit sich reduziert. Das tat sie dann bei ihrer Schwester und erreichte damit eine Schmerzfreiheit. Beim erneuten Besuch ihrer Schwester am nächsten Tag wollte sie dann der leitende Orthopäde sprechen. Sie sollte ihm erklären, wie sie es geschafft hatte, ihre Schwester schmerzfrei zu bekommen und ihm zeigen, was sie mit ihr gemacht hatte.
Schmerzen stören den Heilungsprozess, daher ist es für einen Gesundheits- oder auch Genesungsprozess wichtig, die Schmerzen, soweit es möglich ist, zu reduzieren. Eine entspannte Muskulatur lässt sich leichter bewegen und das gibt einem die Möglichkeit durch kleinste Bewegungen die Körperspannung im Schmerzbereich zu regulieren und den Schmerz somit zu kontrollieren. Die heutige Bevölkerung leidet zunehmend an den sogenannten Wohlstands- oder Sozialisationskrankheiten: Die WHO warnt vor zu wenig Bewegung, erst recht in Verbindung mit ungesunder Ernährung, denn immer mehr Menschen aus wohlhabenden Ländern bewegen sich zu wenig. Mit abnehmender Bewegung steigt das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Krebserkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates. 150 Minuten Bewegung oder 75 Minuten Sport in der Woche reichen gerade so aus, empfohlen ist jedoch das doppelte an Minuten, um seine Gesundheit zu verbessern.
Kinaesthetics in der Langzeitpflege (inkl. Krankheitsbilder) Der Begriff „Langzeitpflege“ wird als Pendant zur Kurzzeitpflege, die maximal auf acht Wochen im Jahr beschränkt ist, gesehen und steht für die medizinische und soziale Betreuung von Menschen, die ihre alltäglichen Aktivitäten durch Krankheit und oder Behinderung über einen längeren oder dauerhaften Zeitraum nicht mehr allein bewältigen können. Die professionelle Pflege über einen ambulanten Pflegedienst findet in der eigenen häuslichen Umgebung statt. Unter Berücksichtigung des Hilfebedarfs bei den alltäglichen Aktivitäten und der unter Umständen beteiligten pflegenden Angehörigen werden erforderliche Leistungskomplexe eingekauft, um die Alltagskompetenz des Pflegebedürftigen zu gewährleisten. Der Unterschied zur stationären Pflege zeigt sich vor allem in der Unterbringung und in der Tagesgestaltung. Immer mehr Einrichtungen der Langzeitpflege lassen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kinästhetisch schulen und versuchen, das Kinaesthetics-Konzeptsystem in die Umsetzung ihrer Pflege zu implementieren. In der pflegerischen Ausbildung ist Ki38
Kinaesthetics in der Langzeitpflege (inkl. Krankheitsbilder)
naesthetics schon länger ein Bestandteil des Curriculums und es wird kinästhetisches Handling durch eine Kinaesthetics anwendende Lehrkraft für Pflege oder eine/n professionell ausgebildete/n Kinaesthetics-Trainer/in vermittelt. Zum Teil werden sogar Kinaesthetics-Grundkurse während der Pflegeausbildung absolviert, denn derzeit gewinnt die Analyse- und Unterstützungsfähigkeit zur Mobilität eines pflegebedürftigen Menschen für die Pflege eine immense Bedeutung.
Individuelle Selbstständigkeit steht im Fokus Seit der Umsetzung der 2. Stufe der Pflegereform am 1. Januar 2017 werden körperliche, kognitive und psychische Faktoren zur Ermittlung der Pflegebedürftigkeit gleichermaßen berücksichtigt, um die Alltagsselbstständigkeit des Pflegebedürftigen zu ermitteln. Durch diesen Perspektivenwechsel wurde eine neue Grundlage geschaffen, auf der für die Pflegeversicherung ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff entstand, was dazu führte, dass aus den Pflegestufen 0–3 die Pflegegrade 1–5 wurden. Die individuelle Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen steht jetzt im Fokus und nicht mehr der in Minuten vorgeschriebene und gemessene Pflegeaufwand. Die kognitiv-psychischen, kommunikativen und verhaltensbezogenen Beeinträchtigungen sowie die dadurch notwendige personelle Unterstützung in allen Aktivitäten des täglichen Lebens werden mithilfe des neuen Begutachtungsinstrumentes (NBA) betrachtet und erfasst – unter Berücksichtigung aller krankheitsbedingten Anforderungen zur Gestaltung des Alltagslebens, einschließlich sozialer Kontakte. Durch passgenaue Hilfen sollen dann die Selbstständigkeit und die Fähigkeiten Pflegebedürftiger erhalten und gestärkt werden. Somit steht seit Inkrafttreten der Pflegereformen sowohl im neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, im Begutachtungsverfahren, in der neuen Pflegedokumentation SIS® als auch in den zu erwartenden neuen Qualitätsindikatoren die selbstständige Mobilität des Pflegebedürftigen im Zentrum des individuell erforderlichen Pflegeaufwands. Das Kinaesthetics-Konzeptsystem ist ein Modell, das als Analysewerkzeug für alle menschlichen Bewegungsaktivitäten dient. Es ist ein hervorragendes Instrument, um die Mobilität und Alltagsselbstständigkeit von Pflegebedürftigen zu erhalten. Es hilft Anwenderinnen und Anwendern Ressourcen zu entdecken und diese zu fördern. Sie sind durch ihre Kinaesthetics-Erfahrungen nicht nur fähig, mobilisierend und motivierend anzuleiten, sondern ermöglichen es dem Pflegebedürftigen, gezielt neue Bewegungskompetenzen zu entwickeln. Pflegende Angehörige können über die Pflegekasse jährlich einen Kinaesthetics-Grund- oder -Aufbaukurs besuchen und haben die Möglichkeit, durch ihre Krankenkasse häusliche Anleitung von einem/er Kinaesthetics-TrainerIn zu bekommen. Ideen und Grundlagen
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Krankheitsbilder in der Langzeitpflege In der Langzeitpflege trifft man auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie z. B. Herzinsuffizienz, Koronare Herzkrankheit (KHK), Hypertonie, Kardiomyopathie, Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), Herzrhythmusstörungen oder Herzklappenerkrankungen. Herz-Kreislauf-erkrankte Menschen sind je nach Krankheitsbild mehr oder weniger stark in ihrer Kraft und Ausdauer von Bewegungsaktivitäten eingeschränkt. Somit ist es wichtig, die Auswirkungen aller alltäglichen Bewegungsaktivitäten in einfacher und komplexer Funktion (siehe Kinaesthetics, fünftes Konzept) auf die Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkennen. Das Ziel ist, mit dem Langzeitpflegebedürftigen gemeinsam für seinen Herzkreislauf entlastende und unterstützende Bewegungssituationen zu entwickeln. Man trifft auf neurologische Erkrankungen, wie z. B. Schlaganfall, Parkinson, Multiple Sklerose, allgemeine Polyneuropathie oder auch auf Pflegebedürftige im Wachkoma. Neurologische Erkrankungen führen durch unterbrochener, stockende oder fehlerhafte Reizweiterleitung zu einem Bewegungsausführungsverlust. Kinästhetisch betrachtet zu einer mehr oder weniger stark eingeschränkten Gewichts- und Bewegungskontrolle. Eine Pflegekraft sollte daher wissen, wie sie die Bewegungsaktivitäten eines neurologisch erkrankten Menschen unterstützen kann, ohne den Gewichts- und Bewegungskontrollverlust zu verstärken. Und was sie tun kann, um den Gesundheitsprozess des Körpers zur Erhaltung oder Förderung der noch verbleibenden Ressourcen zur Gewichts- und Bewegungskontrolle zu ermöglichen. Oder man trifft auf Atemwegserkrankungen, wie z. B. Chronisch Obstructive Pulmonare Disease (COPD), Tuberkulose, Chronische Bronchitis, Asthma bronchiale oder Lungenemphysem. Wir bewegen uns über unsere Muskulatur. Damit unsere Muskeln arbeiten können, brauchen sie Sauerstoff. Der Sauerstoff gelangt über den Gasaustausch durch den Atmungsprozess unserer Lungen in die Blutbahn und von dort in unsere Muskulatur. Unser Atmungsprozess besteht aus drei Phasen, der Einatmungsphase, der Ausatmungsphase und der Atempause, gemeinsam sind sie die Bewegungsaktivität Atmen. Zur Atmung braucht es Bewegung und zur Bewegung braucht es Sauerstoff. Ohne Sauerstoff also keine Kraft in der Muskulatur. Ziel ist es, mit dem Langzeitpflegebedürftigen gemeinsam Bewegungssituationen zu entwickeln, die ihm gleichzeitig das Atmen während seiner Alltagssituationen ermöglichen und zudem seinen Atmungsprozess fördernd und gesunderhaltend oder gesundheitsprozessfördernd unterstützen. Und nicht zu vergessen die Stoffwechselerkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus. Stoffwechselerkrankungen wirken sich auf die Nährstoffaufnahme, deren Verarbeitung und 40
Kinaesthetics in der Langzeitpflege (inkl. Krankheitsbilder)
die dadurch mögliche Energiegewinnung aus. Der Stoffwechselzustand wird je nach Erkrankungssituation mehr oder weniger stark krankmachend beeinflusst. Die häufigste Stoffwechselkrankheit ist der Diabetes mellitus. Bei dieser Erkrankung kann der Körper die mit der Nahrung aufgenommenen Zucker nicht richtig verwerten. Schuld daran ist das unzureichende oder fehlende Hormon Insulin in der Bauchspeicheldrüse. Ohne Insulin keine Energiebedarfsdeckung und ein gefährlicher Anstieg des Blutzuckers im Blut. Die körperliche Bewegung und Bewegungsunterstützung hat Auswirkungen auf die Blutzuckersituation des betroffenen Diabetikers und seinen durch die Krankheit belasteten Körper.
Kinaesthetics: Bewegungskompetenzen und Leitsätze Kompetent bewegen Der Mensch braucht Bewegungskompetenzen, damit er alle seine lebensnotwendigen und alltäglichen Aktivitäten durchführen kann und damit er die Möglichkeit hat, sich seiner jeweiligen Lebenssituation anzupassen und sich zu entwickeln – also sein Leben zu leben.
In drei Schritten zu Bewegungskompetenzen Was bedeutet Bewegungskompetenz? Und woraus besteht sie? Wir erfahren unseren Körper über Druck- und Muskelspannung. Unsere Körpermassen (Körperteile) werden durch die Erdanziehungskraft nach unten gezogen, und wir spüren ihr Gewicht durch den daraus entstehenden Druck auf unsere Knochen und durch die Anspannung in unserer Muskulatur. Über Gleichgewichtsbewegungen regulieren wir den Druck auf unseren Knochen und die Spannung in unserer Muskulatur, somit kontrollieren wir unser Körpergewicht. Für eine Kompetenz und Kontrolle der eigenen körperlichen Bewegung bedarf es immer der drei folgenden, aufeinander aufbauenden Schritte. Der erste Schritt zur Bewegungskompetenz ist die Kompetenz zur Gewichtskontrolle. Um sich bewegen zu können, muss der Mensch dazu imstande sein, das Gleichgewicht seiner Körpermassen über Haltungsbewegungen zu kontrollieren. Kann er das nicht, ist er nicht fähig sich zu bewegen. Wir sind permanent damit beschäftigt, über Haltungsbewegung unser Gleichgewicht zu kontrollieren. Das können Sie zum Beispiel überprüfen, indem Sie versuchen, völlig still zu stehen – es wird Ihnen nicht gelingen.
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Der zweite Schritt zur Bewegungskompetenz ist die Kompetenz zur Bewegungskontrolle. Nach der Gleichgewichtskontrolle geht es um kontrollierte Bewegung. Besitzt der Säugling die Kompetenz, über Haltungsbewegung das Gewicht seines Kopfes auf dem Brustkorb zu kontrollieren, kann er lernen, den Kopf kontrolliert zu bewegen und diesen zu drehen, um sich umzuschauen. Der dritte Schritt zur Bewegungskompetenz ist die Entwicklung der Kompetenz von kontrollierten Bewegungsabläufen durch Bewegungserfahrung und Bewegungsanpassung. Mit der Bewegungskontrolle sammelt der Mensch Erfahrungen. Durch Bewegungsmisserfolge und Bewegungserfolge lernt er sich anzupassen, erwirbt Bewegungskompetenzen und entwickelt sich. Der Mensch lernt kontrollierte Bewegungsabläufe durchzuführen, um alltägliche Dinge zu tun, wie sich zu pflegen, sich anzukleiden, zu essen und zu trinken, auszuscheiden oder auch bewusst zu atmen beziehungsweise einfach nur dazusitzen. Auf diese Weise erwirbt er Bewegungskompetenzen. Grundsätzlich gilt: → keine Bewegung = keine Anpassung → keine Anpassung = keine Kontrolle → keine Kontrolle = kein Lernen neuer Bewegungskompetenzen Denn: → Kompetenz braucht Kontrolle, → Kontrolle braucht Anpassung, → Anpassung braucht Bewegung. Unsere Umgebung ist immer auch unsere Lernumgebung. Sie gibt uns den Bewegungsspielraum vor, in dem wir uns bewegen können, und ermöglicht uns, über Bewegungserfahrungen neue Möglichkeiten zu entdecken, uns über Bewegungsvariationen auszuprobieren und dabei neue Bewegungskompetenzen zu erwerben. Aus den neuen Bewegungskompetenzen entstehen dann wieder neue Lernmöglichkeiten, die es dann wiederum möglich machen, ein Wachstum unserer Lebensqualität zu erreichen. Die Pflegefachkraft ist in der Interaktion mit dem Pflegebedürftigen zugleich auch seine Lernumgebung, wie auch der Pflegebedürftige als Interaktionspartner eine Lernumgebung für die Pflegekraft darstellt. Beide lernen aus unterschiedlichen Sichtweisen heraus, sich anzupassen. Die Pflegekraft lernt sich anzupassen, um dem Pflegebedürftigen zu helfen, seinen Bewegungsweg zu finden und zu gehen und sich dadurch weiterzuentwickeln. Der Pflegebedürftige lernt, sich seiner Bewegungs42
Kinaesthetics: Bewegungskompetenzen und Leitsätze
situation entsprechend anzupassen, seine Ressourcen zu entdecken, sie zu aktivieren und zu mobilisieren, um sich in seiner Bewegungskompetenz weiterentwickeln zu können.
Situativ an den Pflegebedürftigen anpassen Wir sind also stets bemüht, ein Ungleichgewicht wieder ins Gleichgewicht zu bringen – und das ganzheitlich, also Körper, Geist und Seele betreffend, und zwar ein Leben lang. Pflegende, die kein Kinaesthetics anwenden, sind aufgrund ihrer bewegungseingeschränkten Wahrnehmung nicht in der Lage, angepasst zu reagieren. Sie verwenden gelernte, gleichbleibende Techniken und sind oft unbewusst dabei, den Pflegebedürftigen zu manipulieren. Techniken sind gelernte, im Gehirn abgespeicherte Bewegungsabläufe. Ich bezeichne sie als Abspulprogramme, die ohne nachzudenken funktionieren. Es sind erlernte und trainierte Verhaltensweisen, die in Stresssituationen abgerufen werden. Diese Programme sind nicht anpassungsfähig und helfen daher nicht, jemanden zu aktivieren und zu mobilisieren. Alte Verhaltensweisen müssten abtrainiert und neue Verhaltensweisen antrainiert werden. Etwas abzutrainieren dauert länger, als etwas Neues anzutrainieren. Das kinästhetisch-analytische Denken wird in einem Lernprozess erlernt und ein Lernprozess dauert bei jedem Menschen individuell unterschiedlich lange, weil wir alle unterschiedlich lernen. Kinaesthetics-Anwender haben sich das kinästhetisch-analytische Denken in ihren alltäglichen Pflegesituationen antrainiert und die Kompetenz entwickelt, sich schnell situativ an den Pflegebedürftigen anzupassen. Dadurch liefern sie eine qualifiziert hochwertige Pflege ab, sind dabei genauso schnell oder noch schneller als diejenigen, die Kinaesthetics nicht anwenden, deren Pflegequalität durch vollständige Übernahme oder Manipulation geringfügiger ist, und können sogar schwere und schwerstpflegebedürftige Menschen allein versorgen.
Die Lebensqualität aller Beteiligten verbessert sich Die Investition an Zeitaufwand, das kinästhetisch-analytische Denken anzutrainieren, lohnt sich auf lange Sicht enorm, weil die körperliche, geistige und seelische Situation sich für den Pflegebedürftigen und die Pflegekraft drastisch verbessert. Der Pflegebedürftige kann sich optimal in seinen Bewegungskompetenzen entwickeln, seine Gesundheitsprozesse, seine notwendigen Prävensionsmaßnahmen und seine Lebensqualität werden bestmöglich unterstützt. Die Pflegefachkraft erfährt sich als bestmöglich pflegend, geht entspannter und zufriedener nach Hause und wird Ideen und Grundlagen
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nicht mehr unter arbeitsbedingten Rückenschmerzen und einer Stresssymptomatik zu leiden haben. Ihre Krankheitsanfälligkeit reduziert sich auf ein Minimum. Grundlegende Kompetenzen aus der Bewegungsperspektive: –– Kompetenzen zur eigenen Bewegungswahrnehmung, –– Kompetenzen zur Erfahrung der eigenen Bewegungsmöglichkeiten, –– Kompetenzen zur Anpassung der eigenen Bewegung. Das Kompetenzergebnis besteht in der Selbstwirksamkeit für das eigene Tun! In der Präambel zum Expertenstandard „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“ heißt es unter anderem: –– „Mobilitätserhaltung und Mobilitätsverbesserung sind zentrale Ziele einer professionellen Pflege.“ –– „Der vorliegende Expertenstandard definiert Mobilität als die Eigenbewegung des Menschen mit dem Ziel, sich fortzubewegen oder eine Lageveränderung des Körpers vorzunehmen.“ –– „Damit angesprochen sind ausdrücklich auch Menschen mit Demenz, bei denen jedoch manche Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität eine besondere Herausforderung darstellen und in Teilen auch an Grenzen stoßen.“ –– „Der Expertenstandard orientiert sich ausschließlich an der Frage, wie Mobilität erhalten oder verbessert werden kann.“ –– „Die Expertengruppe geht davon aus, dass Pflegefachkräfte grundsätzlich für die Umsetzung dieses Expertenstandards befähigt sind. Wie bei anderen Expertenstandards auch, sollten bei der Implementierung umfangreiche Fortbildungsaktivitäten durchgeführt werden, um die notwendigen Kenntnisse zu vertiefen.“
Kinaesthetics-Leitsätze –– Eine hohe Körperspannung vermeiden. (Um gut wahrzunehmen und gesundheitsfördernd reagieren zu können.) –– Die eigenen Ressourcen und die des Interaktions- und Bewegungspartners (Pflegebedürftiger) wahrnehmen und mit einbeziehen. (Um gesundheitsentwicklungsfördernde Bewegungsprozesse zu fördern.) –– Viel Bewegungsraum nutzen. (Um die Anstrengung angepasst zu dosieren und die Beweglichkeit zu erhalten und zu fördern.) –– Die eigene Bewegung nutzen, um einen anderen Menschen zu bewegen. (Und nicht den Körper durch Heben zu belasten.) 44
Kinaesthetics: Bewegungskompetenzen und Leitsätze
–– In einem für den Interaktions- und Bewegungspartner (Pflegebedürftiger) angemessenen Tempo bewegen. (Um ihn nicht zu manipulieren und ein gemeinsames Bewegen zu ermöglichen, damit er seine Bewegungskompetenzen entwickeln kann.) –– Gewicht über die Knochen abgeben, nicht über die Muskeln halten und heben. (Um eine gesundheitsgefährdende Überlastung der Muskulatur zu vermeiden.) –– An den Körpermassen (Körperteilen) des Interaktions- und Bewegungspartners (Pflegebedürftiger) die Bewegung unterstützen. (Um ihn nicht zu blockieren und seine inneren Bewegungsprozesse nicht gesundheitsgefährdend zu stören.) –– Nie in die Zwischenräume (zwischen den Körperteilen) des Interaktions- und Bewegungspartners (Pflegebedürftiger) greifen. (Um ihn wie oben nicht zu blockieren und seine inneren Bewegungsprozesse nicht gesundheitsgefährdend zu stören.) –– Eine Körpermasse nach der anderen bewegen und nicht zwei oder mehrere Körpermassen auf einmal. (Damit er eine Chance hat, sich mit zu bewegen und seine Bewegung gesundheitsfördernd zu entwickeln.) –– Nicht heben, sondern das Gewicht über die eigenen Knochen oder die Umgebung nach unten zu einer Auflagefläche weiterleiten. (Um die eigene Gesundheit nicht zu gefährden.) –– Achte darauf, dass du und dein Interaktions- und Bewegungspartner (Pflegebedürftiger) euer Körpergewicht gut über eure Rückseiten abgeben könnt. (Damit ihr beweglich bleibt und eure inneren Bewegungsprozesse nicht gesundheitsgefährdend blockiert.) –– Achte auf die Fähigkeiten deines Interaktions- und Bewegungspartners (Pflegebedürftiger) hinsichtlich seiner Haltungsbewegungs- und Transportbewegungskompetenzen, um ihn gegebenenfalls zu unterstützen. (Damit er seine Bewegungskompetenzen hinsichtlich seiner Aktivitäten und seiner Gesundheitsprozesse entwickeln kann.) –– Den Interaktions- und Bewegungspartner (Pflegebedürftiger) in seinem Bewegungsmuster unterstützen oder mit ihm ein für euch passendes Bewegungsmuster finden. (Um ihn hinsichtlich seiner Bewegungskontrolle und Bewegungsentwicklung zu unterstützen.) –– Ziehen und Drücken gezielt einsetzen, um das Gewicht der Körpermassen zu kontrollieren. (Um eine gesundheitsbelastende Überforderung zu vermeiden.) Ideen und Grundlagen
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–– Eine Position finden, in der das Körpergewicht gut kontrolliert werden kann. (Um eine gesundheitsfördernde Kompetenzentwicklung zu ermöglichen.) –– Gewicht erst verlagern und dann die vom Gewicht freie Körpermasse oder den vom Gewicht freien Teil der Körpermasse bewegen. (Um den Organismus nicht durch unnötiges Heben zu belasten.) –– Die Umgebung situationsbedingt anpassen und benutzen. (Um gesundheitsfördernde Bewegungsabläufe zu ermöglichen.)
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Kinaesthetics: Bewegungskompetenzen und Leitsätze
2 Kinaesthetics – Konzeptsystem
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Das aus sechs aufeinander bezogenen, sich gegenseitig beeinflussenden Konzepten bestehende System ist ein Werkzeug, dessen Anwendung das Erkennen von Bewegungsressourcen, die Eigenwahrnehmung in der Bewegung und die wirksame Gestaltung von Aktivitäten unterstützt.
Konzept Interaktion Beim Kinaesthetics-Konzept „Interaktion“ geht es darum, die Kompetenz zu erwerben, noch vorhandene Ressourcen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität einschätzen zu können. Mit dem Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege“ wird das Ziel verfolgt, jedem pflegebedürftigen Menschen eine pflegerische Unterstützung zu geben, die es ihm ermöglicht, seine Mobilität zu erhalten beziehungsweise zu fördern. Grund hierfür ist neben der verminderten Lebensqualität und dem erhöhten Gesundheitsrisiko durch eine eingeschränkte Mobilität auch die gesellschaftliche Teilhabe Pflegebedürftiger. Im Prozesskriterium P1 des Expertenstandards steht: „Die Pflegefachkraft schätzt zu Beginn des pflegerischen Auftrags die Mobilität des pflegebedürftigen Menschen sowie Probleme und Ressourcen im Zusammenhang mit der Erhaltung und der Förderung der Mobilität ein. Sie wiederholt die Einschätzung regelmäßig in individuell festzulegenden Abständen sowie bei Veränderungen der gesundheitlichen Situation.“
Keine Wahrnehmung ohne Bewegung Im ersten Konzept des Kinaesthetics-Konzeptsystems, dem Konzept der „Interaktion“, geht es genau um diese dafür notwendige Einschätzungskompetenz der Pflegefachkraft. Während der Pflegesituation ist die Kompetenz zur Bewegungswahrnehmung und Bewegungsanpassung Grundvoraussetzung für die Qualität der Interaktion und entscheidend für den Verlauf des Interaktionsprozesses zwischen dem Pflegebedürftigen und der Pflegekraft. Es stellt sich für die Pflegekraft die Frage: „Wie nehme ich den pflegebedürftigen Menschen wahr, und wie nimmt er mich wahr?“ Das Konzept Interaktion besteht aus den Themen „Sinne“, „Bewegungselemente“ und „Interaktionsformen“. Es beschäftigt sich mit der Analyse der Interaktion während eines Bewegungsprozesses. Die Kommunikation findet über unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung mittels unserer Sinnesorgane oder Sinnessysteme statt. Wahrnehmung benötigt Bewegung, sie ist ohne die funktionierenden Bewegungsmechanismen unserer Sinnesorgane beziehungsweise Sinnessysteme im Körperinneren nicht möglich. 48
Konzept Interaktion
Die äußere Wahrnehmung vollzieht sich über das Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. SEHEN: Der Augapfel bewegt sich, die Pupille macht sich eng oder weit, das gespiegelte Bild steht auf dem Kopf und muss vom Gehirn umgedreht werden – Sehen beinhaltet viele einzelne Bewegungsmechanismen. Funktioniert ein Mechanismus nicht richtig oder ist ausgefallen, haben wir Sehstörungen oder sind blind. HÖREN: Schallwellen treffen auf unsere Ohrmuschel und bringen das Trommelfell in Schwingung. Hinter dem Trommelfell befinden sich Hammer, Amboss und Steigbügel, die anfangen zu schlagen, dann kommt die Gehörschnecke – alles Bewegungsmechanismen. Gibt es hier eine Störung oder einen Ausfall, sind wir im Hören eingeschränkt oder taub. TASTEN: Wir ertasten unsere Umgebung mit Händen und Fingern. Könnten wir diese nicht bewegen, würden wir nichts erfühlen können. Legt man einen Gegenstand auf die ausgestreckte reglose Hand, spürt man den Moment des Ablegens. Dieses Gefühl lässt wieder nach und kommt erst zurück, wenn die Hand wieder bewegt wird. Ein Insekt auf unserer Haut bemerken wir auch erst, wenn es losläuft. SCHMECKEN: Schmecken können wir nur, wenn die Nahrung zerkleinert und eingespeichelt wird. Dann gelangen die Geschmacksstoffe an die Geschmacksknospen der Zunge. Das Zerkleinern passiert über die Bewegung des Kiefers, dadurch zermahlen die Zähne die Nahrung und die Ohrspeicheldrüse wird durch die Bewegung dazu angeregt, Speichel zu produzieren und abzugeben, was wiederum die Nahrung verflüssigt. Wenn wir nichts riechen, können wir auch nichts schmecken, da Geruchsund Geschmacksinn zusammengehören. Ohne Bewegung sind wir nicht in der Lage, zu schmecken. Legt man einen Zuckerwürfel in die Mitte der ausgestreckten Zunge, schmecken wir ihn nicht. Eine dauerhaft reduzierte Kieferbewegung führt zudem zu einer schmerzhaften Ohrspeicheldrüsenentzündung und verschlechtert den physiologischen Zustand der Mundschleimhaut und somit die allgemeine Mundhygiene. RIECHEN: Riechen ist Bewegung über aktives Einatmen durch die Nase und wird als Schnüffeln bezeichnet. Atmen wir nicht über die Nase ein, dann können wir auch nichts riechen. Auch das Sprechen als Instrument der Kommunikation funktioniert nur über Bewegung. Durch die Lippen- und Zungenbewegungen werden Laute geformt. Die AtKinaesthetics – Konzeptsystem
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mung sowie Bewegungen des Kehlkopfes und der Stimmbänder erzeugen Töne in einer individuellen Stimmfarbe und Lautstärke. Auch hier befinden sich aufeinander abgestimmte und individuell angepasste Bewegungsmechanismen. Kommt es zu einer Störung oder Unterbrechung, sind wir sprachbehindert oder stumm. Unsere innere Wahrnehmung besteht aus unserem Gleichgewichtsempfinden und unserer Empfindung einer Veränderung der Muskelspannung, welche aus der Anspannungsgeschwindigkeit, dem Anspannungsraum und der Anspannungskraft besteht – den sogenannten Bewegungselementen Zeit, Raum und Anstrengung. Wir kontrollieren unser Gewicht (Gewichtskontrolle) über Bewegung (Gleichgewichtsbewegungen), um unser Gleichgewicht aufrechterhalten zu können. Innen- und Außenwahrnehmung beeinflussen sich dabei stets gegenseitig. Die äußere Wahrnehmung überträgt sich über Anspannung und Bewegungsfähigkeit nach innen, und die innere Anspannung überträgt sich über Anspannung und Bewegungsfähigkeit nach außen. Eine erhöhte Anspannung führt immer zu einer mehr oder weniger starken Bewegungs- und somit zu einer mehr oder weniger starken Wahrnehmungseinschränkung.
BEISPIEL: Sie sitzen mit geschlossenen Augen und spannen Ihren Körper an. Die Anspannung führt dazu, dass Ihr Körper leicht angehoben wird und sich Ihre Kontaktfläche (Auflagefläche) zur Umgebung verkleinert. Sie können sich durch die hohe Körperspannung nicht bewegen und somit Ihren Organismus mit seinen inneren Bewegungsprozessen von innen kaum spüren. Ihre Spannung kommt von innen und überträgt sich nach außen. Die nach außen gerichteten Sinnesorgane sind durch die Anspannung in ihrer Bewegungsfunktion eingeschränkt, was dazu führt, dass Sie auch die äußere Umgebung schlecht wahrnehmen können. Sie können sich in Ihrer angespannten Situation nach innen und außen schlecht bewegen und daher nicht beschreiben, wo Sie sich befinden, sowie außer der hohen Muskelanspannung nicht viel spüren. Wenn Sie sich jetzt – immer noch mit geschlossenen Augen – wieder entspannen, dann vergrößert sich ihre Kontaktfläche (Auflagefläche) zur Umgebung wieder. Sie sind beweglich und spüren die inneren Bewegungsprozesse (Herz-Kreislauf, Verdauung, Atmung usw.) Ihres Körpers. Ihre Entspannung überträgt sich (wie die Anspannung) von innen nach außen. Die äußeren Sinnesorgane sind durch die Entspannung nicht mehr in ihrer Bewegungsfunktion eingeschränkt. Sie können sich innen und außen gut bewegen, also wieder gut wahrnehmen und Ihre Umgebung, in der Sie sich befinden, gut beschreiben. Und das, obwohl Ihre Augen geschlossen sind.
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Konzept Interaktion
Bewegung als Interaktion Bewegt man sich mit einem anderen Menschen, ist dieser ein Interaktionspartner. Man nimmt ihn über die eigene körperliche Bewegung wahr, er ist für uns eine äußere Umgebung. Wir spüren unser Gewicht durch Druck und durch Anspannung, die wir in unserer Muskulatur wahrnehmen. Über Bewegung und die dadurch entstehenden Muskelspannungsveränderungen (innere Wahrnehmung durch unser kinästhetisches Sinnessystem) schätzen wir das Gewicht ein und passen unsere Muskelspannung fortwährend in Bewegung entsprechend an dieses Gewicht an, um es kontrolliert bewegen zu können. Je angespannter eine zwischenmenschliche Kommunikation stattfindet, desto weniger nimmt man durch sie wahr. Je entspannter sie ist, desto besser spürt man die Reaktion des Interaktionspartners auf die an ihn gesendeten Impulse und ist stets in der Lage, sich ihm anzupassen. Der Interaktionspartner –– sieht mich und ich sehe ihn. Wie einer auf den anderen zugeht (Körperstatur, Körperhaltung, Körperanspannung, Körpergeschwindigkeit), wirkt auf unsere Körperspannung und beeinflusst unsere Beweglichkeit und Wahrnehmung. Sieht man z. B. etwas Erschreckendes, dann steigt die Körperspannung und die Beweglichkeit nimmt ab. Das kann bis zur völligen Unbeweglichkeit führen, der sogenannten Starre vor Schreck (Schockzustand). Sieht man hingegen etwas Schönes, dann ist man entspannt und sehr beweglich, nimmt alles genau bis ins kleinste Detail wahr. Eine entspannte Körperhaltung der Pflegekraft entspannt den Pflegebedürftigen und vermittelt ihm Vertrauen und Sicherheit; –– hört mich und ich ihn (Stimmfarbe, Tonlage, Lautstärke). Auch hier beeinflusst das „wie“ unsere Körperspannung und somit unsere Beweglichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Hört man etwas Erschreckendes, dann kann es je nach Anspannung wieder zu einer völligen Unbeweglichkeit führen. Angenehmes Hören entspannt und macht beweglich. Eine angenehme Stimme und Tonlage der Pflegekraft entspannt den Pflegebedürftigen und vermittelt ihm Vertrauen und Sicherheit; –– riecht mich und ich rieche ihn (Körpergeruch, Deodorant, Parfüm). Riecht man etwas Unangenehmes, steigt die Körperspannung. Das „Wie“ kann wieder zu Unbeweglichkeit führen. Bei angenehmen Gerüchen ist man entspannt und sehr beweglich. Daher kommt auch der Spruch: „Ich kann dich gut riechen!“ oder eben „Ich kann dich nicht gut riechen!“ Ein angenehmer Duft vonseiten des Pfle-
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genden entspannt den Pflegebedürftigen und vermittelt ihm Vertrauen und Sicherheit; –– fühlt mich und meine Berührung und ich ihn und seine Berührung. Das „Wie“, der Ort und die Intensität der Berührung haben Auswirkungen auf unsere Körperspannung und somit auch auf unsere Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit. Druck erzeugt in der Regel Druck und Entspannung erzeugt in der Regel Entspannung. Sollte es bei einer Person anders herum sein, dann ist das ein Hinweis auf gelerntes Verhalten durch gemachte Erfahrungen. Anhaltspunkte für dieses gelernte Verhalten findet man häufig in der Biografie. Kriegserfahrungen, Missbrauch oder Gewalt können Auslöser solcher gelernten Reaktionen sein. In jedem Fall steckt etwas dahinter, und man sollte sein Verhalten hinsichtlich der Kommunikation dann auf jeden Fall entsprechend wahrnehmungs- und bewegungsfördernd anpassen. Eine angemessene Berührung entspannt und vermittelt Vertrauen und Sicherheit. Damit der Pflegebedürftige im Bewegungsprozess nicht manipuliert wird, ist es erforderlich, den Einfluss von Zeit, Raum und Anstrengung über den kinästhetischen Sinn (die innere Wahrnehmung über Gleichgewichtssinn und Veränderung der Muskelspannung) präzise wahrzunehmen, damit sich die Pflegekraft mit dem Pflegebedürftigen gemeinsam bewegt.
Elemente der Bewegung Zeit, Raum und Anstrengung sind die Elemente der Bewegung. Sie befinden sich in jedem lebenden, geschlossenen Bewegungssystem und sind auch in der äußeren Umgebung – lebend oder nicht lebend – vorhanden. Alle drei Bewegungselemente beeinflussen sich gegenseitig, ob innerhalb, von außen nach innen oder von innen nach außen. Jeder Mensch bewegt sich in seinem Tempo, innerhalb seiner Bewegungsmöglichkeiten und mit seiner Muskelkraft, angepasst an die äußere Zeit (vorgegebene Geschwindigkeit), den äußeren Raum (äußerer Bewegungsraum) und die äußere Kraft (Umgebungswiderstand). Es ist wichtig, den Einfluss von Zeit, Raum und Anstrengung über den kinästhetischen Sinn wahrzunehmen, um die Elemente effektiv bewegungsfördernd anpassen zu können. Bewegt man sich schneller oder langsamer, großräumiger oder kleinräumiger, kraftvoller oder kraftärmer als der pflegebedürftige Interaktionspartner, behindert man ihn, denn jeder Unterschied in Zeit, Raum und Anstrengung während einer gemeinsamen Bewegungsaktivität wirkt auf die Bewegungsfähigkeit und Bewegungsanpassungsfähigkeit des pflegebedürftigen Interaktionspartners. 52
Konzept Interaktion
BEISPIEL: Sie möchten einem Pflegebedürftigen helfen, vom Stuhl aufzustehen, und stehen räumlich neben ihm, greifen ihm unter die Achsel und wollen ihn schnell mit viel Kraftanstrengung in Richtung Zimmerdecke bewegen, um ihm vom Stuhl aufzuhelfen. Der Pflegebedürftige möchte sich in seiner Wohlfühlgeschwindigkeit räumlich mit dem Oberkörper nach vorn beugen, wenig Kraftanstrengung aufbringen und sein Körpergewicht in der Schwerkraft nutzen, um sich über die Füße aufzurichten. Was wird passieren? –– Die Geschwindigkeiten stimmten nicht überein. Vermutlich kann sich der Pflegebedürftige auch nicht so schnell bewegen, wie Sie es tun. –– Der äußere Bewegungsraum ist ein völlig anderer, denn der Pflegebedürftige will einen ganz anderen Bewegungsraum nutzen. Zudem wird sein innerer Bewegungsraum durch den Griff in die Achselhöhle eingeschränkt und blockiert. Er kann seine Arme nicht mehr zur Gleichgewichtskontrolle nutzen und wird am Vorbeugen des Oberkörpers gehindert. –– Der Pflegebedürftige hat nicht die innere Kraft, um Ihrer Kraft, die äußerlich auf ihn einwirkt, etwas entgegenzusetzen. Er hat keine Chance, sich selbstbestimmt zu bewegen, und kann sich nur ergeben, also nichts mehr tun.
Die Interaktionsformen entstehen aus den Bewegungselementen. Bei einer – wie oben beschrieben – manipulativen, einseitigen Interaktion achtet man innerhalb der Bewegung weder auf die Zeit oder den Raum noch auf die Anstrengung des Interaktionspartners. Ist man mit dem Interaktionspartner hingegen schrittweise oder gleichzeitig gemeinsam in Bewegung, werden die Bewegungselemente des Interaktionspartners beachtet und ressourcenorientiert und kompetenzentwicklungsfördernd interaktiv angepasst. Eine Beziehung besteht aus Bewegung, in der die Interaktionspartner über Anpassung von Zeit (mögliche und angebrachte Bewegungsgeschwindigkeit), Raum (Berücksichtigung der jeweiligen Beweglichkeit und der äußeren Bewegungsraumsituation) und Anstrengung (der individuell möglichen und situationsbezogenen Muskelkraft) gemeinsam etwas entwickeln und dabei miteinander und voneinander lernen. Wir lernen unser ganzes Leben lang immer wieder, über unsere eigene Bewegung Kompetenzen zu entwickeln und uns fortwährend unserer Lebenssituation anzupassen. Wir sind auf der Suche, Wege zu finden, auf denen wir die Selbstkontrolle behalten und unsere Bewegungsmöglichkeiten erhalten oder weiterentwickeln, um unser Leben zu leben.
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BEISPIEL: Ein Patientenlifter ist kein Interaktionspartner und eignet sich nicht zum Lernen, weil er sich nicht anpassen kann und zugleich Raum, Zeit und Anstrengung starr von außen vorgibt. Er kann nicht auf die individuellen Möglichkeiten eines Menschen eingehen und lässt auch keinen Raum für individuelle Bewegungsgestaltung (Manipulation). Es kommt zu keiner großen aktiven Beteiligung der hilfsbedürftigen Person, denn der Patientenlifter bietet keine Möglichkeiten zum Entdecken, Variieren und Entwickeln von Bewegungskompetenzen. Der Einsatz eines Pflegelifters ist dennoch sinnvoll und gerechtfertigt, wenn die Situation des Pflegebedürftigen es erfordert, weil die Handhabung eines sicheren Transfers ohne Lifter schwierig bis unmöglich ist. Achten Sie auf Ihre Wahrnehmung und Kommunikation, folgen Sie dem Pflegebedürftigen und vermeiden Sie zu führen! Im Strukturkriterium S2 des Expertenstandards „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“ steht: „Die Pflegekraft verfügt über die Kompetenz, den pflegebedürftigen Menschen und gegebenenfalls seine Angehörigen über die Bedeutung von Mobilität für die Gesundheit und den Erhalt von Selbstständigkeit zu informieren und sie durch Beratung und Anleitung darin zu unterstützen, Maßnahmen der Erhaltung und Förderung der Mobilität in ihren Lebensalltag zu integrieren.“
Konzept Funktionale Anatomie Beim zweiten Kinaesthetics-Konzeptsystem „Funktionale Anatomie“ geht es darum, wie sich die einzelnen Bestandteile des Körpers zueinander verhalten, wenn sie in Bewegung sind. Im Strukturkriterium S1 des Expertenstandards „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“ steht: „Die Pflegefachkraft verfügt über die Kompetenz, die Mobilität des pflegebedürftigen Menschen, Gründe für Mobilitätsbeeinträchtigungen sowie Umgebungsmerkmale, die für die Mobilität relevant sind, einzuschätzen.“ Hier setzt das zweite Konzept des Kinaesthetics-Konzeptsystems an: Funktionale Anatomie. Es beschäftigt sich mit der menschlichen Anatomie des Körpers in Bezug zur Bewegung. Um in der Bewegung auf den Körper bezogen angepasst, aktivierend und mobilisierend reagieren zu können, bedarf es grundlegender anatomischer Kenntnisse. Unser Organismus hat verschiedene anatomische Strukturen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Aufgaben. Im Bewegungsapparat treffen wir auf stabile und instabile Anteile, die entsprechend entweder der Gewichtsweiterleitung und -abgabe oder der Gewichts- und Bewegungskontrolle zugeordnet werden. In der Anatomie unseres Körpers befinden sich Knochen und Muskeln sowie Körpermassen und Zwischenräume und wir orientieren uns anhand unseres Körpers und/oder an dessen räumlicher Umgebung. 54
Konzept Funktionale Anatomie
Stabile Knochen, anpassungsfähige Muskeln Knochen zeichnen sich dadurch aus, stabil, hart, formbeständig und relativ unempfindlich zu sein. Ihre Aufgabe ist es, das Gewicht zu nehmen, es von einem Knochen auf den anderen weiterzuleiten und bei Kontakt zur Umgebung an diese abzugeben. Damit der Knochen stabil bleibt, muss er Calcium einlagern, das tut er jedoch nur, wenn er gebraucht wird, also Druck spürt. Knochen brauchen Druck, sie sind Teil unseres lebenden Systems und reagieren auf Druck. Ein lebendes System repariert sich selbstständig und baut all das aus, was gebraucht wird. Was nicht gebraucht wird, wird wegrationalisiert und abgebaut. Knochen, die nicht gebraucht werden, erfahren keinen Druck und lagern daher kein Calcium mehr ein. Die Folge: Sie werden instabil und porös und neigen zu Osteoperose. Muskeln haben die Eigenschaften, instabil, weich, anpassungsfähig und relativ empfindlich zu sein. Ihre Aufgabe ist es, das Gewicht über Gleichgewichtsbewegungen zu kontrollieren und bei gewichtsfreien Körperteilen kontrollierte Bewegungsabläufe durchzuführen, damit Bewegungsaktivitäten ausgeführt werden können. Sie verbinden, stützen, umgeben, und bewegen unsere Knochen und formen unseren Körper. Empfindlich sind Muskeln, weil sich in ihnen das periphäre Nervensystem und die Blutgefäße befinden. Muskeln stützen das Knochenskelett, verlagern das Gewicht von einem Knochen auf einen anderen, und da, wo kein Gewicht ist, bewegen sie Knochen. Muskeln bewegen, sie sind nicht für übermäßige, dauerhafte Halte- und Hebeanspannungen von Gewicht zuständig. Missbraucht man sie dazu, dauerhaft angespannt zu sein, werden sie schlecht durchblutet, schmerzhaft, unbeweglich und steif. Man könnte sagen, sie verknöchern und können ihre eigentliche Aufgabe, den Körper zu bewegen, nicht mehr leisten. Auch die Muskulatur ist Teil des lebenden Bewegungssystems Körper. Bekommt sie die Information „du wirst nicht zum Bewegen, sondern zum Halten und Heben gebraucht“, werden die beanspruchten Muskeln entsprechend umgebaut. Die Durchblutung ist aufgrund der anhaltenden hohen Anspannung schlecht, es lagert sich Kalk ab, unwillkürliche und willkürliche Bewegungsaktivitäten sind gestört oder nicht mehr möglich und alle Sekundärerkrankungen einschließlich der Kontraktur werden gefördert.
Kinaesthetics – Konzeptsystem
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BEISPIEL: Steht man hüftbreit, gerade und aufrecht, wird das Gewicht optimal senkrecht über das Knochenskelett zu Boden geleitet. Man ist beweglich und gut in der Lage, über Gleichgewichtsbewegungen durch die Muskulatur das Gewicht zu kontrollieren. Wird man nun angestoßen, dann schwankt man, ist jedoch in der Lage, sich über Bewegung anzupassen und das Gleichgewicht wiederzufinden. Neigt man seinen Körper im Stand jedoch nach vorn, nach hinten oder zur Seite, dann rutscht das Körpergewicht vom Knochenskelett in die Muskulatur, mit der Folge, dass diese sich anspannt, denn sie muss jetzt das aus dem Gleichgewicht geratene Körpergewicht halten und heben. Die Muskulatur kann nicht mehr bewegen, ist nicht mehr in der Lage, sich ohne größere Kraftanstrengung anzupassen und das Gleichgewicht wiederzufinden. Wird man jetzt angestoßen, kommt es zum Fall.
BEISPIEL: Bückt man sich mit dem Oberkörper nach vorn – zum Beispiel, um etwas aufzuheben –, ohne sich mit den Armen auf Knochen der Beine oder auf einer festen Umgebung abzustützen, um das Gewicht abzugeben, dann belastet man seine Muskeln. Sie müssen halten und heben, können das Skelett nicht mehr stützen, und das belastet den Rücken (Bandscheibe).
BEISPIEL: Gelangt man vom Sitzen zum Stehen, indem man mit den Füßen in den Boden drückt und sich über die Oberschenkelmuskulatur in Richtung Zimmerdecke hochhebt, um sich auf die Füße zu stellen, dann ist das sehr anstrengend und nicht physiologisch. Bringt man jedoch den Oberkörper nach vorn in die Beugung, während man mit den Füßen in den Boden drückt, dann wird das Körpergewicht nicht gehoben, sondern es wird über das sich stapelnde Skelett zu Boden geleitet. Dann gelangt man ohne große Anstrengung auf die Füße in den Stand.
MERKE: Der Mensch ist kein Frosch, der hüpft, und kein Vogel, der fliegt. Der Mensch stapelt und geht!
Wir müssen lernen, unser Gewicht auf unsere Knochen zu nehmen und unsere Knochen zu stapeln und wieder zu entstapeln, damit unsere Muskeln unser Gewicht über 56
Konzept Funktionale Anatomie
Bewegung kontrollieren können, unabhängig davon, ob wir uns am Ort bewegen oder fortbewegen. Es geht also darum, den Pflegebedürftigen diesbezüglich anzuleiten oder auf seinem Weg zu begleiten, damit er seine Knochen wiederentdeckt und lernt, sie richtig zu nutzen: nämlich dazu, sein Gewicht über die Knochen abzugeben und sie mithilfe der Muskulatur entsprechend zu stapeln oder zu entstapeln.
Mobilisieren statt manipulieren Unser Gewicht im Körper verteilt sich über sieben Massen (Kopf, Brustkorb, zwei Arme, Becken und zwei Beine), die über sechs Zwischenräume (Hals, zwei Schultergelenke, Taille, zwei Hüftgelenke) miteinander verbunden sind. Die Massen machen unser Gewicht aus. Sie sind stabil, schwer und relativ unempfindlich. In ihnen befinden sich viele große Knochen. Die Aufgabe einer Masse besteht darin, das Gewicht von anderen Massen mit zu übernehmen und das Gesamtgewicht einschließlich ihres eigenen Gewichts bei Umgebungskontakt an die Umgebung abzugeben. Zwischenräume dagegen zeichnen sich durch die Eigenschaften instabil, leicht und empfindlich aus, da sich in ihnen viele Muskeln, verbindende Sehnen und Bänder, große Nervengeflechte sowie Blutgefäße befinden. Ihre Aufgabe ist es, die Massen zueinander über Gleichgewichtsbewegungen in Beziehung zu bringen, das Gewicht der gestapelten Massen zu kontrollieren und die Massen innerhalb ihres Bewegungsspielraumes zu bewegen. Die Massen stehen über die Zwischenräume in Beziehung (Reihenfolge der Massen) zueinander und es folgt in der Bewegung stets eine Masse der anderen. Ein Mensch bewegt physiologisch immer eine Masse nach der anderen und nicht alle Massen zur gleichen Zeit.
BEISPIEL: Nimmt man einen Menschen am Stück aus dem Bett – etwa, damit er an der Bettkante sitzen kann , dann kann er sich nicht mitbewegen, weil man alle Massen zur gleichen Zeit aus dem Bett nimmt. So wird der Mensch manipuliert: Er hat keine Chance sich zu bewegen, er kann sich nur anspannen und zusammenziehen, um ein gutes Zupacken zu ermöglichen. Er wird wie ein Möbelstück transportiert, kann die einzelnen Bewegungsabläufe zum nacheinander folgenden Stapeln seiner Massen nicht erlernen und wird so nicht aktiviert und mobilisiert. Unterstützt man den Menschen jedoch Masse für Masse von der Rücken- in die Seitenposition, führt nacheinander seine Beine aus dem Bett, beugt seinen Kopf in Richtung Brustkorb, verlagert das Oberkörpergewicht über den Ellenbogen und bringt ihn in Richtung Becken zum Sitzen, erfährt und lernt er, wie seine Massen zueinander
Kinaesthetics – Konzeptsystem
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in Beziehung gebracht und gestapelt werden, und ist in der Lage, der Bewegung zu folgen und mitzumachen. Er wird nicht manipuliert, sondern aktiviert und mobilisiert.
Das Gewicht sollte der Schwerkraft folgen Das Oben und Unten hat eine Bedeutung für das Gewicht und die Bewegung, denn das Gewicht folgt der Schwerkraft. Auch sind Oben und Unten für Körper und Raum nicht immer identisch. Das Gewicht wird räumlich immer direkt senkrecht nach unten gezogen und sollte daher auf dem direkten Weg über das Knochenskelett zur Umgebung geleitet werden, damit es nicht über die Muskulatur gehoben werden muss. Um Missverständnisse bei der Kommunikation zu vermeiden, sollte man immer den Raum oder den Körper ansprechen und nicht nur „oben“ oder „unten“ sagen.
BEISPIEL: Sitzt ein Bewohner im Stuhl und eine Pflegekraft sagt: „Kommen Sie mal hoch”, dann hebt der Bewohner meist den Kopf und schaut zur Decke, weil die sich räumlich oben befindet, und fängt an, sich in Richtung nach oben über die Muskeln zu heben – das Gewicht wird entgegen der Schwerkraft gehoben. Das Gleiche passiert, wenn die Pflegekraft vor dem Bewohner steht und dieser zu ihr hochschaut oder wenn die Pflegekraft die Arme von oben reicht, dann muss der Bewohner seine Arme hochheben. Würde die Pflegekraft sagen „Kommen Sie mal auf Ihre Füße”, dann würde der Bewohner nach unten auf seine Füße und auf den Boden schauen und anfangen, sich über die Knochen und Massen zu stapeln – das Gewicht folgt der Schwerkraft. Befindet die Pflegekraft sich auf Augenhöhe oder tiefer, wird der Kopf des Bewohners automatisch wegen des Blickkontakts gesenkt und folgt der Schwerkraft. Reicht die Pflegekraft ihre Arme von oben zur Hilfe, hebt der Bewohner seine Arme und den restlichen Körper. Werden die Arme hingegen von unten gereicht, folgt wieder eine Masse nach der anderen in Richtung Schwerkraft und die Massen stapeln sich.
Die funktionale Vorder- und Rückseite des Körpers sind – wie auch Oben und Unten – nicht immer mit der Vorder- und Rückseite des Raumes identisch. Die funktionale Rückseite des Körpers hat die Eigenschaften, stabil und unempfindlich zu sein und sich zu strecken. Ihre Aufgabe ist es, das Gewicht innerhalb des Körpers über die Knochen der Massen auf ihrer funktionalen Rückseite zu nehmen und bei Umgebungskontakt das Gewicht an die Umgebung abzugeben. Die funktionale Vorderseite des Körpers hat die Eigenschaften, instabil und empfindlich zu sein und sich zu beugen. Ihre Aufgabe ist es, das durch den Körper fließende Gewicht und die körperliche Bewegung zu kontrollieren. 58
Konzept Funktionale Anatomie
Betrachten wir den menschlichen Körper aus der Sicht seiner funktionalen Anatomie, stellen wir fest, dass unsere Zentralmassen Kopf, Brustkorb und Becken bis auf einige kleine Bereiche mit dem Raum identisch sind. Unsere Extremitäten hingegen sind anders: Fußrücken, Schienbein, Kniescheibe und Oberschenkelknochen sowie Handrücken, Elle, Speiche, Ellbogenknochen und Oberarmknochen sind Rückseiten und zeigen räumlich nach vorn. Dass sie räumlich nach vorn zeigen, hat einen Sinn: Der menschliche Körper wäre ohne diese räumliche Verdrehung nicht in der Lage, sich spiralig zu bewegen.
BEISPIEL: Kommt man auf dem Boden liegend ohne sich zu heben von der Rückenposition über Spiralbewegungen zur Zweibeinstandposition (siehe folgende Bildreihe), dann lässt sich nachvollziehen, warum unser Körper zur Hälfte in Vorder- und Rückseite räumlich verdreht ist. Während sich Knochen und Massen langsam höher in den Raum stapeln, wird das Gewicht senkrecht durch die Schwerkraft über unsere funktionale Rückseite gezogen, gleichzeitig kontrolliert die Vorderseite den Gewichtsverlauf.
Die Unterstützung der Bewegung eines Menschen erfolgt also immer an den Knochen auf der funktionalen Rückseite einer Masse. Es darf nicht in die Muskulatur gegriffen werden, weder in den Zwischenräumen noch in der funktionalen Vorderseite einer Masse. Zum einen würde sonst die Bewegung blockiert, zum anderen würden die Gefäße komprimiert und damit die Nerven gereizt: Durchblutung und Rückfluss werden gestört, Reflexe ausgelöst und Schmerzen verursacht.
„Massen fassen und Zwischenräume bewegen lassen!“
Konzept menschliche Bewegung Stabil und doch flexibel Im dritten Kinaesthetics-Konzept erfahren Sie, wie Sie die Bausteine Haltungs- und Transportbewegung nutzen, um Menschen mit geringer Bewegungskompetenz zu mehr Eigenbewegung zu verhelfen. Geforderte Kompetenzen laut Expertenstandard Mobilität Im Expertenstandard „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“ werden in den Struktur- und Prozesskriterien unter anderem folgende Kompetenzen gefordert: Kinaesthetics – Konzeptsystem
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Spiralig von der Rückenposition in die …
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… Bauchposition drehen.
3
Von der Bauchposition spiralig …
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… ins Sitzen drehen. Dann weiter vom Sitzen in den …
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… Handkniestand spiralen.
6
Mithilfe des Sessels zum …
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… Einbeinkniestand spiralen.
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Weiter zum Einbeinstand
1
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RÜCKSEITE STRECKEN
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bis in den … 9
… Zweibeinstand spiralen.
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Es geht auch rückwärts!
VORDERSEITE BEUGEN
RÜCKSEITE STRECKEN
Einbeinstand! 11
Einbeinkniestand!
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Weiter zum …
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… Handkniestand, …
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… dann sitzen, …
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… in die Bauchposition
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und …
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… weiter in die …
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… Rückenposition!
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Mit Hüftprotektoren wäre es sicher nicht so gut und nicht ohne Schmerzen gegangen. Hüftprotektorhose
Konzept menschliche Bewegung
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VORDERSEITE BEUGEN
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RÜCKSEITE STRECKEN
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VORDERSEITE BEUGEN
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TROTZ 83 JAHREN UND ZWEI NEUER HÜFTEN
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Kinaesthetics – Konzeptsystem
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–– Strukturkriterium S2 a: „Die Pflegefachkraft verfügt über die Kompetenz zur Planung und Koordination von Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität.“ –– Strukturkriterium S2b: „Die Einrichtung stellt sicher, dass Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität fester Bestandteil des Internen Qualitätsmanagement sind.“ –– Prozesskriterium P2: „Die Pflegefachkraft plant und koordiniert in enger Absprache mit dem Pflegebedürftigen Menschen und seinen Angehörigen individuelle Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität unter Berücksichtigung seiner Präferenzen und bindet bei Bedarf weitere Berufsgruppen mit ein. Sie sorgt für eine kontinuierliche Umsetzung des Maßnahmenplans.“ Die menschliche Bewegung besteht aus zwei Bewegungsbausteinen: der Haltungsbewegung und der Transportbewegung. So beginnt und endet jede Bewegung immer mit einer Beziehung der Körpermassen zueinander. Über die Haltungsbewegung befinden sie sich gestapelt im Gleichgewicht, und auch während der Bewegung wird das Gewicht der Massen durch die Haltungsbewegung im Gleichgewicht gehalten und kontrolliert. Erst wenn der Mensch über diese Haltungsbewegungskompetenzen verfügt, kann er sich über seine Transportbewegungskompetenzen am Ort bewegen oder fortbewegen. Die Bewegungsbausteine wechseln dabei innerhalb der Bewegung fortlaufend.
Baustein Haltungsbewegung Der erste Bewegungsbaustein ist also die Haltungsbewegung. Diese Bewegung ist stabil, sie bewegt das Gewicht von oben nach unten sowie von unten nach oben über die Zwischenräume von einer Masse zur anderen hin und her. Sie bringt die Massen zueinander in Beziehung, hält sie im Gleichgewicht und kontrolliert somit unser Gewicht. Ohne Haltungsbewegung sackt der Mensch in sich zusammen, da er nicht die Bewegungskompetenzen hat, um seine Position kontrollieren zu können. Wir treffen in der Pflege auf Menschen, die gar keinen Muskeltonus aufweisen, also keine Haltungsbewegungskompetenzen besitzen und völlig erschlafft sind. Und wir treffen auf Menschen, deren Muskeltonus über Haltungsbewegung so hoch ist, dass wenige bis keine Transportbewegungen mehr möglich sind. Menschen, die sich in einer unkontrollierten Position befinden, sieht man häufig in Rollstühlen oder auch liegend im Pflegebett. Sie werden nicht selten für mehrere Stunden ohne beziehungsweise in unzureichender Unterstützung in ihren Rollstühlen oder auch in ihren Pflegebetten gelassen, was zur Folge hat, dass ihr Muskeltonus durch den Zug ihres eigenen Körpergewichts zu steigen beginnt. Es kommt zum Bei62
Konzept menschliche Bewegung
spiel aus diesem Grund auch zum Muskelzittern, wenn das Körpergewicht im Muskel hängen bleibt und den Weg in die Knochen und die Umgebung nicht findet. Das Gewicht der Massen bei diesen Menschen ist nicht senkrecht zur Schwerkraft über ihre Knochen gestapelt und kann daher nicht ausreichend an die Umgebung über ihre funktionale Rückseite abgegeben werden. Es bleibt in den Bereichen (Muskeln, Zwischenräume, funktionale Vorderseite) hängen, die von ihrer anatomischen funktionalen Aufgabe nicht dafür bestimmt sind, das Gewicht zu übernehmen. Menschen mit einem hohen Muskeltonus, wie ihn etwa neurologisch erkrankte Menschen in unterschiedlichster Ausprägung haben, machen zu viel Haltungsbewegung, sie sind daher auch nur eingeschränkt in der Lage, ihre Position kontrollieren zu können. Durch ihre zu hohe Körperspannung können sie sich nicht optimal bewegen, um das eventuell aus dem Gleichgewicht geratene Gewicht wieder ins Lot zu bringen und senkrecht zur Schwerkraft zu stapeln. Ihre Muskeln, Zwischenräume und funktionale Vorderseite halten ihr Körpergewicht fest und heben es. Der Mensch muss seine Haltungsbewegungskompetenzen entsprechend entwickeln, um sie fortwährend dosiert in der jeweiligen Positionssituation anpassen zu können.
BEISPIELE ZUR ANWENDUNG VON HALTUNGSBEWEGUNG: Über Haltungsbewegung lassen sich bei Menschen, deren Muskeltonus zur Gewichtskontrolle nicht ausreicht oder gar nicht vorhanden ist, Haltungskompetenzen aufbauen. In der Haltungsbewegung bewegen sich die Körpermassen immer wieder aufeinander zu. Es baut sich zwischen den Massen im Zwischenraum eine Spannung auf, und durch diese Spannung werden die Massen zueinander in Beziehung gebracht. Eine Masse folgt der anderen und sie schaukeln sozusagen im Gleichgewicht. Setzt man also einen Pflegebedürftigen ohne Haltungskompetenzen hin, muss man ihn stützen, damit seine Massen im Gleichgewicht gestapelt bleiben und er nicht wegkippt. Fängt man dann an, ihn über Haltungsbewegung eine Zeitlang immer kurz vor und zurück zu schaukeln, entsteht in seinen Zwischenräumen eine Spannung und er wird versuchen, auf diese Spannung zu reagieren und Gegendruck aufzubauen, denn Spannung erzeugt Spannung. So lernt er Haltungsbewegungskompetenzen zu entwickeln. Ob er diese während des Schaukelns aufbaut, merkt man daran, dass das Schaukeln mit der Zeit durch den eventuell entstehenden Gegendruck anstrengender wird und die Spannung für den Betreffenden vielleicht irgendwann ausreicht, um allein und frei sitzen zu können, ohne gestützt werden zu müssen.
Ich habe dazu folgende Situation in der Praxis erlebt: In einer Behinderteneinrichtung wurden Bewohner in einen Kreis gesetzt und mit einem Ball zu Bewegungsspielen motiviert. Eine Teilnehmerin – sie war 60 Jahre alt und hatte Trisomie 21 – saß halb liegend erschlafft in einem Rollstuhl und hatte die Augen geschlossen. Sie wurde in ihKinaesthetics – Konzeptsystem
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rem Rollstuhl dazugestellt, obwohl sie sich nicht beteiligen konnte. Ein Mensch mit erschlaffter Muskulatur ist immer müde, was man daran erkennt, dass seine Augen geschlossen sind, weil auch das Öffnen der Lider Kraft kostet, denn sein Kreislauf kommt nicht in Gang. Die Gruppe war beschäftigt und kam ohne mich zurecht, so fiel mein Blick auf eben diese Teilnehmerin, die neben mir saß, und ich dachte: Was kann ich ihr anbieten, damit auch sie die Chance hat, zu lernen und sich zu entwickeln, aktiv beteiligt zu sein und nicht passiv danebenzusitzen und nichts mitzubekommen. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Position und ich dachte: stapel ihre Massen erst einmal richtig senkrecht zur Schwerkraft. Ich stützte sie, indem ich neben ihr sitzend meinen Arm um ihren Rücken legte – ihre Augen waren noch immer geschlossen. Dann begann ich sie in kurzen Bewegungen zügig zu schaukeln, um ihre eigene körperliche Wahrnehmung zu fördern. Nach etwa drei Minuten merkte ich plötzlich, dass sie gegen meine Schaukelbewegungen Spannungen aufbaute, denn durch ihren Widerstand wurde es für mich immer schwerer, sie zu schaukeln. Als ihr Widerstand so groß war, dass ich zu viel Anstrengung brauchte, hörte ich auf. Ihre Augen waren plötzlich offen und ich hatte das Gefühl, sie könnte allein sitzen. Ich nahm meine Hand weg und siehe da, sie hatte Haltungsbewegungskompetenzen aufgebaut und saß kontrolliert allein ohne meine Stütze. Sie saß ganze 15 Minuten kontrolliert allein und hatte ihre Augen offen, dann ließ ihre Körperspannung langsam wieder nach und sie sackte in sich zusammen. Ich war erstaunt, dass wenige Minuten Schaukeln dazu führten, dass die Dame 15 Minuten selbstständig saß. Mir wurde mir klar, dass dies ihr Lernziel war, nämlich Haltungsbewegungskompetenzen zu erlernen, um wieder kontrolliert sitzen zu können. Wenn man ihr vielleicht dreimal am Tag diese Möglichkeit verschafft, dann ist sie vielleicht irgendwann in der Lage, eine halbe oder auch eine ganze Stunde selbstständig und kontrolliert zu sitzen. Ihr Kreislauf wird angeregt und sie nimmt durch die geöffneten Augen wieder mehr von ihrer Umgebung wahr. Über Haltungsbewegung lässt sich bei Pflegebedürftigen, die zu viel Haltungsbewegungskompetenzen haben und deren Muskeltonus so hoch ist, dass dieser die Ausführung von Transportbewegungen für Bewegungsaktivitäten erschwert oder unmöglich macht, nicht nur Spannung auf-, sondern auch abbauen. Druck erzeugt zwar Druck und baut in erster Linie Spannung auf, aber wenn die Spannung so hoch ist, dass es nicht höher geht, erreicht man damit das Gegenteil. Schaukelt man also einen pflegebedürftigen Menschen mit hohem Muskeltonus, dann wird er seine Spannung runterfahren und es entsteht Raum für Transportbewegung, um die Ausführung oder Entwicklung von Transportbewegungskompetenzen zur Ausführung von Bewegungsaktivitäten zu ermöglichen. Hat der Pflegebedürftige über Nacht durch eine schlechte Position über Haltungsbewegung so viel Spannung aufgebaut, dass er sich schwer aus dem Bett be64
Konzept menschliche Bewegung
wegen kann, sollte man ihn vorher einen Moment im Liegen schaukeln, indem man kurz mehrfach an einer Masse zieht oder mehrfach kurz gegen eine Masse drückt, sodass alle Massen in Bewegung kommen. Beim Schaukeln spürt man, wie der Muskeltonus langsam sinkt, es für die Pflegekraft weniger anstrengend wird, die Zwischenräume sich lockern und die einzelnen Massen sich besser bewegen lassen, sodass der Pflegebedürftige über die wiedergewonnene Transportbewegung eine Masse nach der anderen aus dem Bett bekommen kann und nicht, wie sonst im angespanntem Körper, mit fast allen Massen zur gleichen Zeit – was er allein natürlich nicht schafft.
Bewegungsräume lassen sich wieder vergrößern Über Haltungsbewegungen lassen sich auch eingeschränkte Bewegungsräume bei beginnenden Kontrakturen wieder vergrößern.
BEISPIEL: Jeder kennt Verspannungen im Nacken-Schulter-Bereich und spätestens beim nächsten Schulterblick während der Autofahrt merken wir, dass die Drehungsmöglichkeit unseres Kopfes nicht mehr ausreicht, um alles rückwärtig Kommende sehen zu können. Wir kompensieren, indem wir den Brustkorb bei der Drehung mitnehmen. Stattdessen drehen Sie Ihren Kopf, ohne den Brustkorb mitzunehmen, so weit zur Seite, wie es geht. Dann senken Sie den Kopf von dort direkt auf die Schulter herunter. Heben Sie den Kopf aus dieser Stellung wieder hoch und drehen Sie den Kopf von dort aus weiter zur Seite. Sie können den Kopf plötzlich zwei Zentimeter weiter drehen, obwohl es vor dem Runtersenken des Kopfes nicht weiter ging. Sie können dieses Spiel so lange fortsetzen, bis Sie keinen Erfolg mehr haben, denn man kann einen Kopf natürlich anatomisch keine 360° Grad drehen. Der Kopf befindet sich in Haltungsbewegung zum Brustkorb, denn er ist auf ihm gestapelt. Wenn man ihn dreht, begibt er sich über den Zwischenraum Hals in die Transportbewegungsebene. Senkt man ihn dann in Richtung Brustkorb, wechselt der Kopf über den Hals in die Haltungsbewegungsebene und die Transportbewegungsebene entspannt sich wieder. Dadurch wird ein erneuter Bewegungsraum für die danach folgende Transportbewegungsebene geschaffen und der Kopf lässt sich wieder weiter drehen.
Blicken wir jetzt auf eine beginnende noch reversible Kontraktur eines Pflegebedürftigen, etwa im Zwischenraum Schultergelenk. Der Arm des Pflegebedürftigen lässt sich nicht mehr weit genug vom Brustkorb abspreizen (vorwärts, rückwärts, seitwärts). Er befindet sich über dem Zwischenraum Schultergelenk in der Haltungsbewegungsebene zum Brustkorb und wechselt dann zum Abspreizen über den Zwischenraum Schultergelenk in die Transportbewegungsebene. Spreizen Sie den Arm so weit ab, wie es geht, und drücken Sie ihn von da über die Haltungsbewegungsebene im ZwischenKinaesthetics – Konzeptsystem
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raum Schultergelenk mehrfach in den Brustkorb. So lange, bis Sie spüren, dass im Zwischenraum Schultergelenk die Spannung runtergeht und wieder neuer Bewegungsraum für die Transportbewegungsebene geschaffen ist. Dann spreizen Sie den Arm von seiner Position aus weiter ab, vom neuen Ausgangspunkt wechseln Sie wieder in die Haltungsbewegungsebene, indem Sie den Arm erneut mehrfach in den Brustkorb schieben, bis die Spannung nachlässt und Sie den Arm erneut weiter abspreizen können. Das Ganze wiederholen Sie so lange, bis keine weitere Abspreizung des Armes mehr möglich ist. Mehrfach im Laufe des Tages über einen gewissen Zeitraum durchgeführt kommt es zur Kontrakturenrückbildung. Irreversible Kontrakturen lassen sich so jedoch nicht mehr rückbilden, da die Gelenkkapsel bereits geschrumpft ist.
Baustein Transportbewegung Der zweite Bewegungsbaustein ist die Transportbewegung. Diese Bewegung –– ist instabil, –– bewegt das Gewicht der Massen in viele mögliche Richtungen in den Raum, –– ermöglicht der Masse eine gewisse Unabhängigkeit, –– ermöglicht dem Menschen im Zusammenspiel mit der Haltungsbewegung die Bewegung innerhalb einer Position am Ort, –– ermöglicht dem Menschen die Fortbewegung innerhalb einer Position oder von einer Position in eine andere (siehe später => 5 Konzept „Menschliche Funktion – Komplexe Funktion“). Wenn ein Mensch seine Bewegungsaktivität nicht durchführen kann, könnte es daran liegen, dass er nicht in der Lage ist, sein Gleichgewicht zu kontrollieren – ihm also eine ausreichende Haltungsbewegungskompetenz fehlt. Dann ist es erforderlich, ihn in seiner Haltungsbewegungsebene durch Haltungsbewegung zu unterstützen, damit er die erforderlichen Transportbewegungen durchführen kann. Oder er hat ausreichend Haltungsbewegungskompetenzen, aber seine Transportbewegungskompetenzen reichen nicht aus, um die entsprechende Bewegungsaktivität allein durchzuführen. Dann braucht er eine Unterstützung in seiner Transportbewegungsebene, etwa durch Transportbewegung des Armes beim Trinken. Dabei ist es immer wichtig, darauf zu achten, den Pflegebedürftigen an der funktionalen Rückseite seiner Massen zu unterstützen (siehe zweites Konzept „Funktionale Anatomie“). Natürlich gibt es auch die Situation, in denen die Pflegekraft beide Bausteine unterstützen muss. Das ist zum Beispiel bei einer Lähmung der Fall oder wenn der Pflegebedürftige im Koma liegt. Gerade die Haltungsbewegung ist in der Pflege von Koma-Patienten ein wichtiger Aspekt, weil sie häufig außer Acht gelassen wird und für 66
Konzept menschliche Bewegung
die körperliche Bewegung eine Grundvoraussetzung darstellt, damit die Beziehung zur nächstliegenden Masse aufgebaut wird und sie dann besser folgen kann. So kann das Zentralnervensystem (ZNS) auch im Unterbewusstsein die Bewegung während der Versorgung besser nachvollziehen und zuordnen und es kann sich im ZNS etwas entwickeln, damit der Koma-Patient eine Chance hat, aus dem Koma zu erwachen. Es sollten immer beide Bewegungsbausteine unterstützt werden, denn bewegt man den Koma-Patienten nur über Transportbewegung, kann eine Masse nach der anderen schlecht folgen. Die Zwischenräume werden durch das Gewicht der nachfolgenden Masse zunächst überdehnt, bevor die Masse folgen kann, und das wiederum kann Verletzungen zur Folge haben. Schlimmer noch: Bewegt man den komatösen Menschen einfach irgendwie, kommt bei ihm unterbewusst ein Chaos im Gehirn an, und das stresst das ZNS. Es kommt zu noch mehr Spannungen im Gehirn und die Aussicht darauf, dass sich irgendetwas im Hinblick auf die Gesundheitsentwicklung im ZNS entwickelt, tendiert Richtung null. Der komatöse Mensch wird nicht so leicht oder vielleicht nie mehr aus dem Koma erwachen.
Parallele und spiralige Bewegungsmuster Der Mensch kann sich in zwei grundlegenden Bewegungsmustern bewegen: Im parallelen Bewegungsmuster und im spiraligen Bewegungsmuster. Das parallele Bewegungsmuster ist stabil, das Gewicht befindet sich immer auf beiden Körperhälften zur gleichen Zeit, und die Bewegung verläuft geradeaus in eine Richtung. Es bedarf einer intensiveren Haltungsbewegungskompetenz, dadurch ist das Bewegungsmuster anstrengender. Es nutzt weniger inneren Bewegungsraum und kann sich nicht gut anpassen.
BEISPIEL AUFSTEHEN VOM STUHL: Wenn man parallel vom Stuhl aufsteht, beugt man den Oberkörper nach vorn und verlagert das Körpergewicht in Richtung Füße, dabei drückt man gleichzeitig beide Beine in den Boden, das Becken hebt sich an und stapelt sich über die nachfolgende Streckung der Beine auf die Füße, der Oberkörper richtet sich durch die Streckung wieder auf und stapelt sich zurück auf das Becken in den Stand. Um beim parallelem Aufstehen das Gleichgewicht besser kontrollieren zu können, kann man sich mit den Händen auf den Knien abstützen, dann hilft man zudem über das stützende Drücken der Arme und das über die Arme auf die Knie bringende Oberkörpergewicht den Füßen beim Drücken. Eine geeignete Umgebung kann man natürlich auch beim Aufstehen zum Abstützen und Drücken oder aber auch zum Greifen und Ziehen mit den Armen benutzen.
Kinaesthetics – Konzeptsystem
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BEISPIEL ANZIEHEN: Beim parallelen Anziehen werden die Arme oder Beine vom Körper weg diagonal in die Kleidung und diagonal zum Körper hin mit der Kleidung bewegt und alle Körpermassen bewegen sich in einer Achse nacheinander immer mit dem Körpergewicht auf beiden Körperhälften zur gleichen Zeit diagonal weg in die Kleidung und mit der Kleidung diagonal zurück in die Ausgangsposition.
Das spiralige Bewegungsmuster ist instabil, das Gewicht wechselt auf die Körperhälften, die Bewegung verläuft spiralig und wechselt die Richtung, es bedarf einer intensiveren Transportbewegungskompetenz, dadurch ist das Bewegungsmuster weniger anstrengend, es nutzt viel inneren Bewegungsraum und kann sich gut anpassen.
BEISPIEL AUFSTEHEN VOM STUHL: Wenn man spiralig vom Stuhl aufsteht, erfolgt dies über eine Drehung, man verlagert das Gewicht der Körpermassen – eine nach der anderen – auf eine Körperhälfte, beugt den Oberkörper während der Drehung nach vorn und drückt mit dem Fuß in den Boden. Ein Arm, rechts oder links von der gewichttragenden Körperseite, oder auch beide Arme können während der Drehung und Beugung des Oberkörpers zur Gewichtsabgabe und zur Gewichtskontrolle auf das betreffende Knie oder in der Umgebung über Ziehen und Drücken mit eingesetzt werden.
BEISPIEL ANZIEHEN: Beim spiraligen Anziehen werden die Arme und Beine abwechselnd über eine mehr oder weniger starke Drehung und Gewichtsverlagerung auf die jeweils andere Körperhälfte in die Kleidung bewegt. Auch die Zentralmassen Kopf, Brustkorb und Becken verlagern ihr Gewicht über eine Drehung im Wechsel auf die jeweils andere Körperhälfte, um in die Kleidung zu kommen.
Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens seine eigenen individuellen Bewegungsmuster und passt diese fortlaufend mit den körperlichen Möglichkeiten seiner jeweiligen Lebenssituation an. Diese Bewegungsmuster beruhen auf den beiden bekannten Bewegungsmustern „Parallel“ und „Spiralig“ und entstehen unter Einfluss der eigenen Bewegungskompetenzen und der individuellen Bewegungsaktivitäten in Bezug zur Umgebung. 68
Konzept menschliche Bewegung
Konzept Anstrengung Vom Ziehen und Drücken Beim vierten Kinaesthetics-Konzept „Anstrengung“ geht es darum, wie die Druck- und Zugkräfte innerhalb der gemeinsamen Bewegung der Interaktionspartner gezielt eingesetzt werden können. Anstrengung ist der Motor für unsere Bewegung. Dieser Motor besteht aus der Ziehkraft unserer Muskulatur. Sie ist bereits Bestandteil im ersten Kinaesthetics-Konzept „Interaktion“. Dort wird sie als ein Element im Zusammenhang mit den Bewegungselementen Zeit und Raum betrachtet. Die Anstrengung wird in zwei Anstrengungsarten unterschieden: das Ziehen und das Drücken. Der Muskel kann nur ziehen, aber durch das Prinzip des Gegenspielers werden beide Arten der Anstrengung unterschiedlich erfahren. Beim Ziehen führt die Kraft zum Kontaktpunkt hin und beim Drücken vom Kontaktpunkt weg. Über Ziehen und Drücken kontrolliert der Mensch erstens seine Gleichgewichtsbewegungen zur Gewichtskontrolle innerhalb seiner Position und zweitens seine Bewegungsabläufe zur angestrebten Bewegungsaktivität. Wie gut er das in seiner jeweiligen Situation tun kann, ist abhängig davon, wie es ihm gelingt, die Ressourcen Drücken und Ziehen in seiner Umgebung einzusetzen. (Mehr dazu, wenn es um das Konzept „Menschliche Funktion“ geht.) Wir ziehen und drücken vorrangig mit unseren Händen und Füßen, wobei die Hände eher zum Ziehen und die Füße eher zum Drücken genutzt werden, da man mit den Händen die Umgebung besser greifen kann und die Füße eine größere Auflagefläche zum Drücken haben. Deshalb sollte die Pflegekraft darauf achten, dem Pflegebedürftigen bei der Bewegungsunterstützung nicht die Arme und Beine wegzunehmen. Grundsätzlich kann der menschliche Körper mit all seinen Massen ziehen und drücken. Ob wir uns für das Ziehen oder Drücken oder auch für beides entscheiden, ist von unseren Fähigkeiten und Vorlieben zum Ziehen und Drücken abhängig. Auch die Eignung oder Nutzungsmöglichkeit der Umgebung spielt bei der Wahl unserer Anstrengungsart eine Rolle: –– Um optimal ziehen zu können, sollte eine Umgebung zum Greifen zur Verfügung stehen. –– Zum optimalen Drücken sollte die Umgebung fest genug sein, um einen optimalen Druckwiderstand zu gewährleisten. Beim Ziehen im Körperinnern zieht eine Masse (Körperteil) eine andere in der Bewegung hinter sich her. Beim Drücken werden die Massen jeweils von der hinteren Masse Kinaesthetics – Konzeptsystem
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gedrückt und angeschoben. Es kommt sozusagen zu einer Massenbewegung, aktiv ausgelöst über die Muskelkraft oder inaktiv ausgelöst über das Gewicht der Masse (Körperteil) durch die Schwerkraft. Dadurch kommt es je nach Bewegung der Körpermassen zu einer Bewegungsrichtung oder auch zu zwei Bewegungsrichtungen. Parallel oben/unten oder spiralig rechts/links entsteht ein Spannungsbogen beziehungsweise ein Spannungsnetz, welches durch die Muskulatur über die funktionale Vorderseite des Körpers von einem Zwischenraum zum anderen zieht und dafür sorgt, dass eine Masse der anderen folgt und der Körper sich in Bewegung setzt. Entsteht ein Spannungsbogen/-netz, sind 100 % Gewicht (alle Massen) in einer Richtung unterwegs und die aufzuwendende Kraftanstrengung ist hoch. Verteilt sich das Gewicht auf zwei Spannungsbögen/-netze (die Oberkörpermassen bewegen sich in eine Richtung und die Unterkörpermassen in eine andere Richtung oder die rechte Körperhälfte in die eine Richtung und die linke Körperhälfte in die andere), halbiert sich das Gewicht je Bogen/Netz auf 50 % Gewicht und die aufzuwendende Kraftanstrengung ist niedriger.
Unterstützen Sie aktiv in der Bewegung Die Pflegekraft unterstützt den Pflegebedürftigen bei Bedarf aktiv in der Bewegung: je nach Situation –– durch Ziehen und/oder Drücken an der funktionalen Rückseite seiner zu bewegenden Massen –– und/oder inaktiv, also an der Bewegung nur indirekt beteiligt, indem die Pflegekraft dem Pflegebedürftigen als lebendes Umgebungsangebot dient – durch Zug- oder Druckwiderstand (Muskelkraft) oder auch einfach nur als feste knöcherne Umgebung.
BEISPIEL 1: Parallel steht der Mensch über beide Körperhälften gleichzeitig auf, indem er den Oberkörper über das Ziehen – eine Masse nach der anderen in Richtung Füße – nach vorn beugt und den Unterkörper über das Drücken der Füße in den Boden – eine Masse nach der anderen – auf die Füße stapelt, während der Oberkörper durch das rückwärtige Ziehen auf den gestapelten Unterkörper gezogen wird, um sich auf den Unterkörper zu stapeln. Dabei fließt das Gewicht der Oberkörpermassen über einen Spannungsbogen oder ein -Spannungsnetz in eine Richtung und das Gewicht der Unterkörpermassen über einen weiteren Spannungsbogen oder ein ebensolches Netz in eine andere Rich-
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Konzept Anstrengung
tung. Das Körpergewicht verteilt sich in der Bewegung seiner Massen zu je 50 % auf zwei Spannunsbögen oder -netze auf, bis es wieder in einer Position formiert und gestapelt ist.
BEISPIEL 2: Spiralig steht der Mensch mit dem Gewicht über beide Körperhälften wechselnd auf, indem er das Gewicht einer Körperhälfte über das Ziehen, eine Masse nach der anderen, zur Seite beugt, und die andere Körperhälfte durch das Drücken des Fußes in den Boden und das Drücken der Hand auf die Sitzfläche oder Armlehne, den Körper über ein Bein und einen Arm auf beide Beine stapelt. Auch hier verteilt sich das Gewicht auf zwei Spannungsbögen oder -netze zu je 50 Prozent auf, bis es wieder zu 100 Prozent in seiner neuen Position gestapelt ist.
BEISPIEL 3: Das Bewegen im Stuhl nach hinten über das parallele Muster erfolgt wie oben beim Aufstehen. Der Oberkörper wird über das Ziehen nach vorn, eine Masse nach der anderen, in Richtung Füße gebeugt, und es wird mit dem Gewicht des Unterkörpers über das Drücken der Füße, eine Masse nach der anderen, in den Boden gedrückt, bis sich das Gesäß von der Sitzfläche abhebt. Dann werden die Beine über das Drücken gestreckt und das Becken wieder nach hinten zum Setzen in den Stuhl gebracht und letztendlich der Oberkörper wieder nach hinten auf das Becken, in die Position Sitzen, gezogen und gestapelt.
BEISPIEL 4: Spiralig bewegt der Mensch sich sitzend im Stuhl nach hinten, indem er das Gewicht der Massen von der einen zur anderen Körperhälfte über Ziehen und Drücken verschiebt und dann die jeweils gewichtsfreie Körperhälfte durch Ziehen und Drücken der Massen, über die Sitzbeinhöcker gehend, auf der Sitzfläche nach hinten bewegt. Das Ganze wiederholt sich dann immer rechts/links oder links/rechts im Wechsel, bis das Gesäß die Rückenlehne erreicht hat, denn wer gehen will und einen Schritt macht, der muss auch den zweiten Schritt machen.
Jeder Mensch benutzt Ziehen und Drücken individuell nach seinen Fähigkeiten und aus der Umgebungssituation heraus. Die Pflegekraft muss sich in ihrer Unterstützung Kinaesthetics – Konzeptsystem
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beim Ziehen und Drücken selbstverständlich der Bewegung des Pflegebedürftigen anpassen oder ihm hinsichtlich des Ziehens und Drückens ein entsprechend passendes Lernangebot machen.
LERNAUFGABE: Legen Sie sich ins Bett oder auf den Boden und bewegen Sie sich – eine Masse nach der anderen – parallel und spiralig auf dem Rücken liegend in Richtung Kopfende. Achten Sie dabei auf das Ziehen und das Drücken. Beschreiben Sie Ihre Bewegungswege und lernen Sie Ihre Möglichkeiten kennen, das „auf dem Rücken gehen“ parallel und spiralig über Ziehen und Drücken zu gestalten.
Eigenbewegung unterstützen, Mobilität fördern „Eine eingeschränkte Mobilität ist ein Risiko für pflegebedürftige Menschen. Sie kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität bis hin zu einer Ortsfixierung und Bettlägerigkeit führen und mit dem Risiko weiterer gesundheitlicher Beeinträchtigungen (wie z. B. Dekubitus, Sturz) einhergehen. Durch eine regelmäßige Einschätzung der Mobilität, differenzierte Informations- und Edukationsangebote, eine motivierende und mobilitätsfördernde Umgebungsgestaltung, das Angebot sowie die Koordination zielgerichteter, die Eigenaktivität fördernder Maßnahmen kann zur Erhaltung und Förderung der Mobilität beigetragen werden.“ (Aus der Begründung der Zielsetzung des Expertenstandards „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“)
Konzept Menschliche Funktion Kontrollierte Lage Beim Konzept „Menschliche Funktion“ geht es darum, dass sich der Mensch nur fortbewegen kann, wenn er in der Lage ist, das Gewicht seiner Körpermassen in der eingenommenen Position zu kontrollieren. Erhaltung und Förderung der Mobilität laut Expertenstandard Im Expertenstandard „Erhalt und Förderung der Mobilität in der Pflege“ heißt es unter anderem:
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Konzept Menschliche Funktion
–– Strukturkriterium S4b: „Die Pflegekraft verfügt über Kompetenzen zur Ermöglichung und Durchführung von mobilitätsfördernden und -erhaltenden Maßnahmen.“ –– Strukturkriterium S5: „Die Pflegefachkraft verfügt über die Kompetenz, die Angemessenheit und Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen.“ –– Prozesskriterium P4: „Die Pflegefachkraft unterbreitet dem pflegebedürftigen Menschen kontinuierlich Angebote zur Erhaltung und Förderung der Mobilität und führt die mit dem Pflegebedürftigen vereinbarten Maßnahmen durch.“ –– Prozesskriterium P5: „Die Pflegekraft überprüft gemeinsam mit dem pflegebedürftigen Menschen und ggf. seinen Angehörigen sowie weiteren an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen den Erfolg und die Angemessenheit der Maßnahmen. Bei Bedarf nimmt sie auf der Grundlage einer erneuten Einschätzung Veränderungen am Maßnahmenplan vor.“ Die menschliche Funktion besteht aus der „Einfachen Funktion“, welche sich mit der Kontrolle über das Gewicht der einzelnen Körpermassen innerhalb der eingenommenen Position auseinandersetzt, und aus der „Komplexen Funktion“, die sich mit der Bewegung der einzelnen Massen während der Bewegungsaktivität am Ort oder in der Fortbewegung beschäftigt. Wobei die „Einfache Funktion“ immer die Grundvoraussetzung für die „Komplexe Funktion“ ist, denn nur, wenn ein Mensch die Möglichkeit hat, sein Gewicht innerhalb der eingenommenen Position zu kontrollieren, kann er sich innerhalb seiner Position am Ort bewegen oder fortbewegen. Hat der Mensch innerhalb seiner Position keine Kontrolle über sein Gewicht, befindet er sich in einer misslichen Zwangslage – in einer für ihn nicht kontrollier- oder veränderbaren Situation. Eine Position sollte daher beweglich sein und vom Menschen immer kontrolliert und verändert werden können. Damit der Pflegebedürftige innerhalb seiner Position die Möglichkeit zur Gewichtskontrolle hat, überprüft die Pflegekraft, ob sich das Gewicht der einzelnen Massen in der jeweiligen Position an den richtigen Stellen befindet und gut an die Umgebung abgegeben werden kann. Verbleibt ein Mensch hingegen mehrere Stunden innerhalb einer für ihn unkontrollierbaren Position, besteht die Gefahr, in kürzester Zeit sämtliche Sekundärerkrankungen zu erwerben. Zudem hätte er keine Chancen, in irgendeiner Art und Weise Bewegungskompetenzen zu entwickeln, seine Gesundheitsentwicklung zu fördern und seine Lebensqualität zu erweitern. Das Ziel einer optimalen Positionsunterstützung besteht darin, durch eine Gewichtsverteilung mittels Unterfütterung freiliegender funktionaler Rückseiten die Körperspannung des Pflegebedürftigen zu reduzieren. Der Pflegebedürftige wird so nicht mehr durch sein eigenes Körpergewicht an seiner Bewegung gehindert und Kinaesthetics – Konzeptsystem
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hat eine Chance, sich über Muskulatur, Zwischenräume sowie funktionale Vorderseite zu bewegen und über MiKrobewegungen das Gewicht innerhalb seiner Position zu kontrollieren. Menschen im Koma oder mit einer Querschnittlähmung werden sich natürlich auch bei einer optimalen Positionsunterstützung nicht bewegen können, aber ihre Körperspannung würde reguliert, was eventuell Schmerzen minimiert, die Durchblutung gewährleistet und Medikamente besser im Körper verteilen lässt. Zudem verdoppelt sich die Liegedauer aufgrund der punktuellen Druckminimierung durch die Druckverteilung auf die funktionalen Rückseiten der Massen. Der Pflegebedürftige ist entspannter, seine inneren Bewegungsaktivitäten wie Herz-Kreislauf, Atmung, Verdauung usw. werden nicht behindert, er hat weniger Schmerzen, kann besser schlafen und im Sterbeprozess auch leichter sterben.
Unterstützung der Gewichtsabgabe beginnt an den Zentralmassen Bei einem erschlafften Körper fallen die Extremitäten auf dem Rücken liegend immer nach außen, zur funktionalen Rückseite der Körpermassen – also dahin, wo das Gewicht abgegeben werden sollte. Mit der Unterstützung der Gewichtsabgabe beginnt man an den Zentralmassen Kopf, Brustkorb, Becken – egal, ob der Mensch liegt oder sitzt. Im Liegen in der Reihenfolge Kopf, Brustkorb, Becken und im Sitzen in der Reihenfolge Becken, Brustkorb, Kopf. Der rückwärtige Schädelknochen der Zentralmasse Kopf ist rund und hat nur eine kleine Auflagefläche zur Umgebung. Diese Auflagefläche sollte daher über die ganze rückwärtige Schädeldecke vergrößert werden, etwa indem man ein Dusch- oder Badetuch nimmt, es zu einem Viereck faltet und so unter dem Kopf platziert, dass die Ecken des Tuches nach oben, unten, rechts und links neben dem Kopf herausschauen. Dann werden alle vier Ecken nach unten zum Handtuch hin eingeschlagen, sodass vier Keile unter dem Kopf entstehen, die den Schädelknochen stützen und ihm den Kontakt in die Umgebung ermöglichen, um sein Gewicht an sie abgeben zu können. Die Gesichtsmuskulatur, welche zur funktionalen Vorderseite gehört, und die Halsmuskulatur, welche zu den Zwischenräumen gehört, sind entspannt und können sich bei Bewusstsein gut bewegen. Die nächste Zentralmasse ist der Brustkorb, er hat mit beiden Schulterblattvorsprüngen Kontakt zur Umgebung, die restlichen Schulterblattknochenbereiche liegen frei und haben keinen Kontakt. Diese freien Bereiche der Schulterblätter müssen unterfüttert werden, um den Kontakt zur Umgebung herzustellen. Hierfür eignen sich kleine Schaumstoffkeile. Oder man nimmt rechts und links ein normales Handtuch, faltet es zu einem Viereck, geht mit ei74
Konzept Menschliche Funktion
ner Spitze voran in den Hohlraum der Schulterblätter und schlägt die herausstehende Spitze wieder nach unten um, sodass ein Keil entsteht. Der Kontakt ist so über beide Schulterblattknochen vollständig hergestellt, und das Gewicht vom Brustkorb kann optimal an die Umgebung abgegeben werden. Die Muskulatur in der funktionalen Vorderseite im Bereich der Rippen ist entspannt, ebenso die für den Brustkorb zuständigen Zwischenräume Hals, Schultergelenke und Taille. Der Brustkorb lässt sich gut bewegen. Jetzt folgt das Becken. Im Liegen hat es Kontakt über die rückwärtigen Vorsprünge der Hüftknochen sowie über die Steißbein- und Kreuzbeinregion. Der Hauptteil beider Hüftknochen liegt frei und hat keinen Kontakt zur Umgebung, um das Gewicht abgeben zu können. Schieben Sie im Liegen rechts und links Ihre Hände mit den Handwurzelknochen nach oben unter das Gesäß in diesen Hohlraum. Das Gewicht des Beckens gelangt jetzt über die beiden großen Beckenknochen und Ihre Handwurzelknochen zum Boden, die Muskeln können sich entspannen und der Schmerz lässt nach. Da, wo Ihre Hände sind, müssen Sie die Hüftknochen unterfüttern, das können Sie wieder mit Schaumstoffkeilen tun, oder Sie nehmen wieder normale viereckig gefaltete Handtücher, die Sie wie bei den Schulterblättern mit der Spitze in den Hohlraum führen und dann wieder die gegenüberliegende Spitze nach unten hin einschlagen. Die Bauchmuskulatur – auf der funktionalen Vorderseite liegend – entspannt sich, ebenso die Zwischenräume Taille und Hüftgelenke.
Extremitäten müssen unterstützt werden Nach den Zentralmassen werden die nach außen gekippten Extremitäten an ihrer funktionalen Rückseite unterstützt. Sowohl Arme als auch Beine haben kaum wirklich Kontakt zur Umgebung. Oberarmknochen, Elle und Speiche sowie die Handrücken müssen über ihre gesamte Fläche unterstützt werden. Die funktionale Vorderseite, bestehend aus Handhöhle, Unterarminnenfläche, Ellenbeuge und Oberarminnenseite darf keinen Kontakt zur Umgebung haben. Sie ist für die Bewegung zuständig und muss frei und entspannt sein. Außerdem befinden sich dort Blutgefäße und Nerven, die bei Umgebungskontakt durch das eigene Gewicht komprimiert werden. Das verschlechtert die Durchblutung, führt zum Gewebeflüssigkeitsstau, löst Reflexe aus und führt zu Schmerzen. Die nach außen gekippten Beine werden ähnlich den Armen auf ihrer funktionalen Rückseite – Oberschenkelknochen, Schien- und Wadenbein, Fußaußenkante und Fußrücken – unterstützt. Der Fuß darf nicht hängen, er muss sich gegen eine feste Umgebung lehnen können, damit kein Spitzfuß entsteht. Das Fersenbein ist ein Knochen, dieser muss nicht frei liegen. Wenn das Gewicht auf der ganzen Rückseite des Beines Kinaesthetics – Konzeptsystem
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unterstützt ist, kommt dort kein weiteres Gewicht mehr an, außer das Gewicht des Fersenbeines selbst. Das Fersenbein ist rund wie der Schädelknochen, daher kann man die Auflagefläche vom Fersenbein wie beim Kopf mit entsprechender Unterfütterung vergrößern, etwa durch einen Fersenring. Auf keinen Fall darf Gewicht auf der funktionalen Vorderseite des Beines liegen, denn der Blut- und Gewebefluss wird durch das eigene Gewicht gestört und die Nerven werden gereizt. Die Unterstützungsbereiche bleiben auch in der Sitzposition bestehen. Beim Sitzen unterstützt man jedoch das Becken zusätzlich seitlich unter dem Becken mit Keilen oder gefalteten Handtüchern, um die Kontaktfläche Beckenrandknochen, Sitzbeinhöcker und Oberschenkelknochen zu vergrößern. Wenn uns das Gesäß im Sitzen weh-
tut, schieben wir uns rechts und links auch gerne die Handflächen unter unser Gesäß, um eine bessere Auflagefläche für das Becken zu haben. 76
Konzept Menschliche Funktion
Die „Komplexe Funktion“ kann erst erfolgen, wenn der Pflegebedürftige die Kompetenz „Einfache Funktion“ besitzt. Menschen sind gehende Lebewesen, und Gehen erfolgt in drei Schritten: 1) Gewichtverschiebung, 2) Bewegung der gewichtsfreien Körperregion, 3) erneute Gewichtsverteilung oder Gewichtsrückgabe. Komplexe Bewegungen erfolgen über Gewichtsverschiebung: Wenn der Mensch steht, hat er sein Körpergewicht auf beide Beine verteilt abgegeben. Um einen Schritt machen zu können, muss er sein Gewicht auf ein Bein verschieben, um mit dem gewichtfreien Bein einen Schritt zu machen. Danach verschiebt er das Gewicht zurück und verteilt es wieder auf zwei Beine, und das Ganze beginnt von vorn. Gehen erfolgt nicht nur aus dem Stehen heraus, sondern in jeder Position: –– gehen auf dem Rücken, –– auf der Seite liegend, –– auf dem Bauch (Robben), –– im Sitzen, –– im Handkniestand auf allen vieren – „Vierfüßler“ (Krabbeln), –– im Einbeinkniestand, –– im Einbeinstand –– und im Zweibeinstand. Probieren Sie es aus! Auch jede Bewegungsaktivität beinhaltet die genannten drei Schritte, wenn man das Gewicht nicht anhebt.
BEISPIEL 1: Eine Nachtwache war Teilnehmerin bei einem Kinaesthetics-Grundkurs, als wir uns mit dem Konzept „Menschliche Funktion“ auseinandersetzten. Plötzlich sagte sie: „Jetzt verstehe ich, warum Frau Müller tagsüber nicht trinkt, sie kann es so ja gar nicht! Ich habe mich gewundert, als der Spätdienst bei der Übergabe davon sprach, dass Frau Müller den ganzen Tag nichts trinkt und im Rollstuhl schläft und es unbedingt notwendig ist, eine Flüssigkeitsbilanzierung bei ihr zu machen.“ Darauf erwiderte ich: „Das kann nicht sein! Sprechen Sie von der Frau, die nachts, wenn ich bei ihr in das Zimmer komme, wach im Bett liegt und immer so einen unbändigen Durst hat, dass sie den Trinkbecher, auf der Seite liegend in einem Zug leert?" Frau Müller hat tagsüber im Sitzen keine Kontrolle über ihr Gewicht (Einfache Funktion) und kann daher auch nicht im Sitzen trinken (Komplexe Funktion). Im Bett, auf
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der Seite liegend ist das anders, da hat sie die Gewichtskontrolle innerhalb ihrer Position (Einfache Position) und kann somit auch die erforderlichen Bewegungen zum Trinken kontrolliert ausführen (Komplexe Funktion). Durch ihre Situation hat sich bei Frau Müller der Tag-Nacht-Rhythmus verschoben. Sie ist nachts wach und holt das Trinken nach, weil sie im Liegen auf der Seite eine Position hat, um kontrolliert trinken zu können – im Sitzen wäre sie aspirationsgefährdet. Und weil sie nachts wach ist, holt sie den Schlaf tagsüber nach. Das Trinken im Sitzen ist nicht für jeden Menschen zwangsläufig die beste Position!
BEISPIEL 2: Ein 40 Jahre alter Mann mit spastischen Hemiparesen in beiden Beinen und im linken Arm hat sich immer morgens auf dem Toilettenstuhl vor dem Waschbecken den Oberkörper gewaschen und sich angezogen. Er wurde dafür von den Pflegekräften vom Bett auf den Toilettenstuhl transferiert. Der Unterkörper wurde anschließend im Bett versorgt, danach wurde er vom Bett in den Rollstuhl gebracht. Er war nicht inkontinent und hatte zum Wasserlassen eine Urinflasche am Bett. Er hat nie auf dem Toilettenstuhl abgeführt, sondern auf der Seite liegend im Bett, und klingelte natürlich, wenn er fertig war. Die Pflegekräfte waren immer sehr verärgert und schimpften mit ihm, er hätte doch gerade auf dem Toilettenstuhl gesessen. Die Situation ist ähnlich wie bei Frau Müller. Der 40-Jährige hat keine ausreichende Kontrolle über das Sitzen, um im Sitzen ausscheiden zu können, denn auch das Ausscheiden ist eine Bewegung, vor allem eine Bewegung im Becken. Auf der Seite liegend hingegen schaffte er es, weil er das Gewicht vom Becken auf die Knie brachte und sein Oberkörpergewicht auf seine Arme verschob. Das Becken war frei für Bewegung und seine Unterarme halfen ihm zu drücken, denn mit seinen Füßen konnte er im Sitzen nichts tun. Ausscheidung passiert im Becken, daher muss man das Becken bewegen können, und da, wo Gewicht ist, kann man nicht bewegen. Außerdem ist jede Aktivität eine Ganzkörperaktivität, denn der ganze Körper ist beteiligt.
Wie man sieht: Bewegung ist immer individuell und bedarf daher der ständigen individuellen Anpassung.
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Konzept Umgebung Anpassung ist gefragt Beim sechsten Konzept des Kinaesthetics-Konzeptsystems geht es darum, die Umgebung so zu gestalten, dass die eigenständige Mobilität gefördert wird. Der Mensch ist immer von einer unbelebten, aber häufig auch von einer belebten Umgebung umgeben, welche ihn bei seinen Bewegungsaktivitäten in seiner Bewegungskompetenz und in seinen Bewegungsmöglichkeiten beeinflusst. Eine unbelebte Umgebung verändert sich nicht, aber sie kann sich auch nicht anpassen, während eine belebte Umgebung nie fest/statisch ist, aber eine individuelle Anpassungsfähigkeit besitzt. Wir haben in gewissem Maße die Möglichkeit, unsere Umgebung nach unseren Bedürfnissen bewegungsfördernd zu gestalten. Sind diese Möglichkeiten jedoch erschöpft, dann bleibt uns nur der Weg, uns in der Bewegung der Umgebung anzupassen. Die Umgebung hat eine Auswirkung darauf, wie gut der Mensch seine funktionale Anatomie nutzen kann. Sie hat einen Einfluss darauf, welches Bewegungsmuster entsteht. Auch hat die Umgebung einen Einfluss darauf, wie der Mensch über Ziehen und Drücken seine Anstrengung regulieren kann, und somit einen Einfluss darauf, wie anstrengend es für den Menschen ist, sich in der Umgebung zu bewegen. Die Umgebung ist maßgeblich daran beteiligt, wie leicht oder schwer es dem Menschen fällt, das Körpergewicht innerhalb der eingenommenen Position zu kontrollieren und sich in dieser Position am Ort zu bewegen oder fortzubewegen.
Beispiele für eine Analyse der Umgebung Kleidung sollte so anpassungsfähig sein, dass sie den menschlichen Körper in seiner Bewegungsfreiheit nicht einschränkt oder behindert. Schuhe sollten den Füßen Halt geben, aber sie nicht einengen, nicht in ihrer Beweglichkeit behindern und schon gar keine Schmerzen verursachen. Möbel, die uns in unserer häuslichen Umgebung umgeben, sind genormt und in den allermeisten Fällen für den Menschen nicht passend, denn den genormten Menschen gibt es nicht. Das ist für einen gesunden und beweglichen Menschen nicht weiter schlimm, denn ihm gelingt es, sich mit seinen Bewegungskompetenzen der Umgebung anzupassen. Schwierig wird es hingegen für pflegebedürftige Menschen. Sie sind nicht immer in der Lage, sich mit ihren noch vorhandenen Bewegungskompetenzen der Umgebung anzupassen, und können dadurch nicht alle Bewegungsaktivitäten ihres Lebens Kinaesthetics – Konzeptsystem
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ohne Umgebungsanpassung oder Unterstützungsangebote selbstständig durchführen. Pflegerollstuhl und Pflegebett sollten daher die Fähigkeit besitzen, sich an jede erdenkliche Situation im Alltag des Pflegebedürftigen anpassen zu lassen, um dessen Gewichts- und Bewegungskontrolle zu fördern. Der Stuhl sollte für eine optimal zu kontrollierende Sitzposition die richtige Höhe haben, um sowohl eine aufrechte Stellung des Beckens als auch den vollständigen Fußbodenkontakt der Füße zu gewährleisten. Die Beine dürfen nicht hängen, sonst kippt das Becken in Richtung Liegen und die funktionalen Vorderseiten der Oberschenkel bekommen Kontakt zur Sitzfläche, was die Blutgefäße durch das eigene Gewicht komprimieren würde. Die Folge wäre eine gestörte Durchblutung, wodurch Beine und Gesäß einschlafen. Zudem könnten Reflexe oder ein Zittern der Muskeln ausgelöst werden. Die Rückenlehne sollte hoch genug und gerade sein, um beim Zurücklehnen eine gute Gewichtsweiterleitung und -abgabe über die Schulterblätter zu ermöglichen. Hat der Mensch keine Kopfkontrolle, muss die Rückenlehne für eine rückwärtige Gewichtsabgabe des Kopfes verlängert werden. Die vorhandenen Stuhllehnen sollten der Oberarmlänge entsprechend einstellbar sein und dem Unterarm einschließlich der Hand in Länge und Breite genügend Auflagefläche bieten.
Situationsbezogene Umgebungsanalysen Umgebung Transportrollstuhl Die Sitzfläche hängt durch und das Becken sitzt nicht richtig, die Rückenlehne gibt nach hinten nach und ist ausgebeult, daher fällt der Oberkörper beim Anlehnen nach hinten rein, die Schultern werden nach vorn geschoben und der Kopf kippt mit dem Kinn in Richtung Brustbein. Bei täglicher und stets andauernder Fehlstellung entwickelt sich ein Buckel in der Hals- und Brustwirbelsäule. Die Atmung ist dadurch massiv eingeschränkt und das Essen und Trinken birgt eine hohe Aspirationsgefahr. Die Armlehnen haben eine falsche, oft nicht einstellbare Höhe, sodass der Schultergürtel entweder hochgedrückt wird oder herunterhängt. Und sie sind viel zu schmal und zu kurz zur Gewichtsabgabe der Unterarme und Hände. Die Sitzhöhe stimmt meist nicht, was bei zu kleinen Menschen wieder zur Folge hat, dass die funktionale Vorderseite der Oberschenkel mit den Blutgefäßen und Nerven durch das eigene Körpergewicht komprimiert wird – besonders gesundheitsgefährdend für Diabetiker, gefäßerkrankte und herz-kreislauf-erkrankte Menschen. Die Fußstützen sind zwar oft verstellbar, aber haben eine viel zu kleine Auflagefläche für die Füße. Unsere Füße helfen uns, das Gewicht und die Bewegungen unseres Beckens durch Drücken zu 80
Konzept Umgebung
kontrollieren. Haben sie jedoch eine zu kleine Auflagefläche, fällt uns das Drücken in die Fußstützen schwer.
Umgebung Pflegebett Für einen bettlägerigen Menschen ist das Pflegebett nicht nur zum Schlafen da, denn er isst darin, scheidet darin aus, wäscht, pflegt und kleidet sich darin, beschäftigt sich darin und pflegt seine sozialen Kontakte darin. Es ist für ihn also Schlafzimmer, Küche, Bad und Wohnraum zu gleichen Teilen. Sein ganzes Leben spielt sich darin ab, deshalb benötigt das Pflegebett viele Möglichkeiten zur Anpassung und Gestaltungsveränderung. So sollte ein Pflegebett in der Höhe derart verstellbar sein, dass dem Pflegebedürftigen – an der Bettkante sitzend – der Kontakt zum Fußboden mit aufrecht-stehendem Becken möglich ist. Kopf- und Fußende sowie Bettbegrenzer und Matratze sollten zum Ziehen und Drücken genutzt werden können, um das Körpergewicht und die Bewegungen gut kontrollieren zu können. Es sollte natürlich auch die Positionsveränderung vom Liegen zum Sitzen mit Fußsohlenkontakt (wie auf dem Stuhl sitzend) ermöglichen. Gerade bettlägerige Menschen benötigen ein Bett, das breit genug ist, um ohne Probleme von der Rückenposition in die Bauchposition wechseln zu können, ohne dabei Angst haben zu müssen, aus dem Bett zu fallen. So geben Niederflurbetten dem Pflegebedürftigen mehr Förder- und Bewegungsmöglichkeiten.
Während der Aktivität „Ausscheiden“ Sind die Toilette oder der Toilettenstuhl für den Pflegebedürftigen zu hoch, wird die Ausscheidung für ihn schwierig, möglicherweise sogar gesundheitsgefährdend oder lebensbedrohlich. Beim Ausscheiden müssen die Füße vollständigen Bodenkontakt haben, damit der Oberkörper sich nach vorn beugen kann, um sein Gewicht vom Becken weg in die Füße zu verschieben und die Hände (oder sogar die Unterarme) sich auf den Knien abstützen und drücken können, damit das Gewicht aus dem Becken in die Füße kommt und es frei ist für die Ausscheidungsbewegungen. Bei einer zu hohen Toilette oder einem zu hohen Toilettenstuhl ist das nicht möglich: Das Gewicht bleibt im Becken, der Mensch kann nicht die erforderlichen Ausscheidungsbewegungen machen und muss pressen. Der Druck geht dann nicht nach unten weg, um den Stuhlgang hinaus zu befördern, sondern er steigt nach oben in Richtung Lunge. Die Luft wird angehalten, und der Druck steigt weiter in Richtung Herz und Kopf. Der Pflegebedürftige schafft es nicht – oder nur mit hoher Anstrengung – auszuscheiden. Sein Risiko, während der Ausscheidung oder danach eine Embolie, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu bekommen, steigt. Und befinKinaesthetics – Konzeptsystem
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det sich in seinem Körper ein Aneurysma, kann es durch den aufsteigenden Druck jederzeit platzen.
Gehhilfen Ein Rollator muss richtig eingestellt werden. Daher stellt sich die Frage: Dient der Rollator den Armen beim Gehen zur Gleichgewichtskontrolle oder dient er der Gewichtsabgabe, um die Beine beim Gehen besser anheben und bewegen zu können? Anschließend ist noch im Einzelfall zu klären, ob ein Rollator oder ein Gehstock beziehungsweise Gehbock besser geeignet ist, um die Bewegungsaktivität Gehen besser und kontrollierter ausführen zu können.
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Konzept Umgebung
3 Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder Deutschlands ehemaliger Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr wurde im Jahr 2011, aufgrund des enormen Ausmaßes der Pflegedokumentation mit der erforderlichen Entbürokratisierung der Pflege konfrontiert und beauftragte zur Klärung als unabhängige Ombudsfrau Elisabeth Beikirch. Auf den Prüfstand stellte man den generellen Prüfwahn sowie den Datenschutz und natürlich die Pflegedokumentation und die Expertenstandards der Pflege. Das Ziel war eine zeitgemäße, aber realistisch durchführbare Dokumentation für die Pflege, was die Abkehr von der herkömmlichen Grundtheorie als Dokumentationsgrundlage zur Folge hatte. Diese sollte ersetzt werden von einer fachlichen Expertise durch entsprechende Ausbildung und Schulung, unterstützt durch hilfreiche Fachliteratur und die dafür formulierten QM-Leistungsbeschreibungen in Verbindung mit den Pflegestandards. Als neue Ausgangssituation der Entbürokratisierung entstand das neue Strukturmodell, welches dem „Humanistischen Menschenbild“ zugrunde liegt und das auch das „Holistische Menschenbild“ beinhaltet. „Das humanistische Menschenbild geht von der Annahme aus, dass der Mensch im Grunde gut ist. Er fähig und bestrebt ist, sein Leben selbst zu bestimmen und ihm Sinn und Ziel zu geben. Der Mensch ist eine ganzheitliche Einheit von Körper, Geist und Seele. In neueren Ansätzen wird die stark individuelle Sichtweise ergänzt durch die Betonung der sozialen und gesellschaftlichen Bezogenheit des Menschen.“ Fünf Grundannahmen des Menschenbildes der humanistischen Psychologie und Pädagogik: –– Der Mensch hat einen konstruktiven Kern. –– Der Mensch strebt danach, sein Leben selbst zu bestimmen, ihm Sinn und Ziel zu geben – Autonomie. –– Alle Menschen sind gleichwertig und gleichberechtigt – die Würde des Menschen ist unantastbar. –– Der Mensch ist eine ganzheitliche (Körper-Seele-Geist) eine ganzheitliche Einheit –– Der Mensch lebt im Spannungsfeld: Autonomie – Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit). Das holistische Menschenbild hat seinen Ursprung im Altgriechischen und meint so viel wie ganz, nichts ausschließend. Der Holismus ist eine Theorie, die sich mit den Phänomenen beschäftigt, wieso das „Ganze“ mehr ist als die Summe der einzelnen Bestandteile. Holismus betrachtet den Menschen unter Bezugnahme seiner vier Aspekte, die sich auf spirituelle, psychische, biologische und soziale Perspektiven beziehen. Alle vier 84
Konzept Umgebung
Aspekte stehen nicht separat beisammen, sondern sind in Wechselbeziehung zueinander und beeinflussen sich somit gegenseitig. Leitgedanke im Holismus ist die ganzheitliche Betrachtung der Person. Der Mensch muss immer im Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachtet werden. Im Hinblick auf die Ausübung des Berufes der Krankenschwester bedeutet das, dass sie den Patienten als ganzheitliches Wesen anerkennen muss und ihn nicht lediglich auf seine Symptome reduzieren darf. Dies beinhaltet, dass sie sowohl seine biografischen Daten als auch sein soziales Umfeld berücksichtigen sollte, um eine bessere Pflege planen und auch durchführen zu können. Das „Humanistisch-Holistische Menschenbild“ findet sich auch im kinästhetisch-analytischen Denken wieder. Der Mensch ist Ursache und Wirkung seines Verhaltens. Alles, was lebt, bewegt sich. Jede Bewegung erzeugt eine Spannung, die fortlaufend bewegungsfördernd reguliert und angepasst werden muss. Wie die holistische Theorie über „das Ganze“ ist auch die Bewegung mehr als die Summe aller Teile. Sie ist wahrnehmungsbestimmt, individuell und zielorientiert. Der Mensch nimmt individuell wahr über Bewegung, kommuniziert individuell über Bewegung, passt sich individuell an über Bewegung, lernt individuell über Bewegung und entwickelt sich individuell über Bewegung in Körper, Geist und Seele sein Leben lang.
Die Strukturierte Informationssammlung Ein Teil des Strukturmodells ist die sogenannte SIS®. Hierbei handelt es sich um eine Strukturierte Informationssammlung zur Einschätzung des Pflege- und Betreuungsbedarfes einer in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkten hilfebedürftigen Person. Sie beinhaltet eine Bewohner/Kundeneinschätzung, eine fachliche Einschätzung und eine Risikobewertung und orientiert sich an sechs pflegewissenschaftlichen Themenfeldern, die alle pflege- und betreuungsrelevanten Aspekte einschließlich Ressourcen, möglichen Risiken und biografischen Informationen erfasst und von der Pflegefachkraft zur Erstellung eines auf die pflegebedürftige Person abgestimmten Maßnahmenplans genutzt wird. Der Fokus liegt auf der impliziten Zielformulierung durch gezielte Einstiegsfragen, Problemdefinitionen und fachliche Setzung. Die Maßnahmenplanung erfolgt je nach Einrichtungsgegebenheit z. B. als Früh-, Spät- und Nachtdienst-Maßnahmenplan oder Tagesplan oder Strukturpläne. Im Mittelpunkt der Entbürokratisierung stehen ein personenzentrierter Ansatz, das Vertrauen in die Fachlichkeit der Pflege, eine schnelle Orientierung mit besserer Übersicht sowie die dringend erforderliche Zeitersparnis. Dies ist verbunden mit: einem neuen Konzept zum Einstieg in den Pflegeprozess durch die SIS®, der Orientierung an den Bedürfnissen und Wünschen des Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Pflegebedürftigen und dem gezielten und frühzeitigen Erkennen von abweichenden Veränderungen und der Schaffung von Freiraum für fachliche Entscheidungen sowie Übung und Reflexion. Die Reset-Taste wurde gedrückt. Die Pflegedokumentation steht für einen Paradigmenwechsel in der Pflegedokumentationsstruktur. Die Pflege wendet sich ab von der Prüfinstanz- und Angstdokumentation, zurück zur lebbaren beruflichen Alltagsdokumentation.
Weniger ist mehr! Es besteht keine Notwendigkeit, Regelleistungen täglich zu dokumentieren, nur Abweichungen sollten festgehalten werden. Die Evaluation erfolgt in Stufen: 1. Veränderung in Form von Abweichung 2. längere Abweichungen 3. langfristige Abweichungen Standards sollten nicht mehr als eine Seite umfassen, denn mehr wird vom Personal inhaltlich nicht gelesen, wahrgenommen oder erfasst, stattdessen lieber Verweise auf Pflegefachbücher etc. einbringen. Und es müssen keine Trink-Protokolle oder Ähnliches gesammelt und angehäuft werden. Durch die Umkehr der Pflege zu einem erneuten Paradigma wurde der 6-schrittige Pflegeprozess von Fiechter und Meier wieder auf den anfänglich 4-schrittigen Pflegeprozess reduziert. Der Maßnahmenplan erfüllt den Zweck einer Pflegeplanung.
DER PFLEGEPROZESS: „DAS 4-SCHRITT-MODELL DER WHO“ (ÜBERTRAGUNG DER LERNSPIRALE) 1) Assessment (VARIATION) Einschätzung der Situationen 2) Planning (ENTSCHEIDUNG) Planung 3) Intervention (TUN) Durchführung 4) E valuation Beurteilung der Wirkung
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Konzept Umgebung
(ANALYSE)
Neue Grundstruktur der Pflegedokumentation: –– Stammblatt –– Strukturierte Informationssammlung → Individueller Maßnahmenplan → Berichteblatt → Behandlungspflege → Zusatzdokumente zum Risikomanagement
Strukturierte Informationssammlung SIS® SIS® ist die Strukturierte Informationssammlung zur Einschätzung des Pflege- und Betreuungsbedarfes einer in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkten, hilfebedürftigen Person. In den in der SIS enthaltenden Themenfelder 1– 6 werden alle pflege- und betreuungsrelevanten Aspekte einschließlich von Ressourcen, möglichen Risiken und hilfreichen biografischen Informationen erfasst und dokumentiert und von der Pflegekraft zur Erstellung eines auf die pflegebedürftige Person abgestimmten Maßnahmenplans genutzt. THEMENFELD 1 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung der zeitlichen, persönlichen und örtlichen Orientierung sowie die Erkennung der sich herauskristallisierenden Risiken und Gefahren während des Interaktionsprozesses. Es werden zudem herausfordernde Verhaltensweisen wie Unruhe oder Aggressivität im Kontext zu der pflegerischen Situationen beschrieben. THEMENFELD 2 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung der Bewegungsfreiheit und Bewegungsfähigkeit zur Alltagsbewältigung innerhalb und außerhalb des eigenen Wohn- und Lebensbereichs unter Berücksichtigung herausfordernder Verhaltensweisen und der Teilhabe an der Alltagswelt. THEMENFELD 3 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung gesundheitlicher Einschränkungen, Belastungen und Folgen und den dadurch erforderlichen Unterstützungsbedarf auch in Bezug auf Risiken und Phänomene. THEMENFELD 4 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung hinsichtlich der körperlichen Selbstversorgung unter Berücksichtigung der individuellen Wertvorstellungen. THEMENFELD 5 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung von Aktivitäten im Bereich sozialer Beziehungen im häuslichen Umfeld Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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oder außerhalb und die eventuell dafür erforderlichen Unterstützungen hinsichtlich Planung, Gestaltung und Durchführung. THEMENFELD 6 beinhaltet die individuelle und situationsgerechte Erfassung und Beschreibung der Wohn- und Häuslichkeitssituation.
Einstiegsfragen Was bewegt Sie im Augenblick? Was brauchen Sie? Was können wir für Sie tun? Diese drei Fragen eignen sich als Eröffnungsfragen zum Einstieg in das Gespräch, dürfen aber auch anders gestellt werden. Bei stark kognitiv eingeschränkten Menschen kann das Gespräch auch stellvertretend mit dem Angehörigen und/oder Betreuer geführt werden. Dies muss dann jedoch entsprechend vermerkt werden. Entscheidend ist, dass hier der wörtliche Originalton ungefiltert wiedergegeben wird (das bedeutet, auch Worte, welche einer verbalen Entgleisung gleichkommen). Das Hauptproblem und die Wünsche der pflegebedürftigen Person benennen, auch die an das Pflegepersonal. Den Unterstützungsbedarf aus seiner Sicht wiedergeben. Kennt oder sieht der Pflegebedürftige Risiken bei sich selbst?
Kinästhetische Betrachtung Die oben stehenden drei Fragen haben schon den grundlegenden kinästhetischen Bewegungsaspekt beinhaltet. Was bewegt Sie? Was brauchen Sie? Was können wir für Sie tun? Über diese Fragen an die pflegebedürftige Person werden Körper, Geist und Seele in Bewegung gebracht. Die Reaktionen machen es möglich, vorhandene Bewegungseinschränkungen durch Spannungen über Wahrnehmungs- und Kommunikationsbewegungen aufzuspüren. Jede Form von Bewegung setzt etwas in Bewegung, dadurch werden Bewegungsmöglichkeiten und Bewegungsblockaden erkennbar. Pflegerische Probleme und gesundheitliche Risiken werden sichtbar oder vorhersehbar (siehe erstes Konzept „Interaktion“).
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Konzept Umgebung
Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten Hier werden die individuelle, situationsgerechte Erfassung und Beschreibung der zeitlichen, örtlichen und persönlichen Orientierung beschrieben. –– Kann der Betroffene Handlungsabläufe/-aufforderungen hören, sehen, fühlen, verstehen, umsetzen und durchführen? –– Ist eine Gesprächsführung in Worten und Sätzen möglich? –– Werden mögliche Risiken und Gefahren erkannt? –– Gibt es Umherwandern, Weglaufen, aggressiv-abwehrendes Verhalten oder nächtliche Unruhe? –– Sind Gewohnheiten, Bedürfnisse, Wünsche und biografische Daten diesbezüglich bekannt? Beispiel Pflegefachkraft-Einschätzung: Kann Tagesablauf nicht mehr strukturieren, zeitliche Orientierung fällt schwer, durch zunehmende körperliche Einschränkungen zieht der Betroffene sich zurück, das Sprechen fällt schwer, hört schlecht etc. Verständnisprozess wird schriftlich festgehalten. Beispiel: Angebot zur Tagesgestaltung und zu gemeinsamen Aktivitäten auf dem Wohnbereich, in Einzeltherapie wie z. B. Gedächtnistraining, Selbstübung, z. B. 2-mal die Woche Logopädie-Übungen zur Sprachförderung. Alle Themenfelder immer nur stichpunktartig ausfüllen, denn eine genauere Beschreibung erfolgt dann im abzuleitenden Maßnahmenplan. Auch dürfen Probleme nur in einem Themenfeld beschrieben werden. Kinästhetische Betrachtung des Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Man kann nicht „nicht kommunizieren“, denn alles, was lebt, ist in Bewegung und Bewegung ist Kommunikation (eigene Bewegungswahrnehmung). Zur Kommunikation brauchen wir unsere Sinnessysteme und diese funktionieren (wie bereits erklärt) über Bewegung. Wenn Bewegung da ist, ist auch Kommunikation da. Es ist nur die Frage, ob bewusst oder unbewusst, und Kommunikation findet immer über die Dimensionen Körper, Geist und Seele statt.
Körper Wahrnehmung beginnt mit der Reizaufnahme über die Sinnessysteme. Sie werden Wahrnehmungsorgane genannt und diese Wahrnehmungsorgane in unserem Körper können nur wahrnehmen, wie sie beweglich sind und funktionieren. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Geist Der Geist muss die wahrgenommenen Reize zuordnen und interpretieren. Seine Interpretationsfähigkeit hängt von seiner geistigen Beweglichkeit und seinen bereits gemachten Erfahrungen ab. Er vergleicht die wahrgenommenen mit den zuvor gesammelten und den bereits abgespeicherten Informationen. Das ganze Lebenlang studiert er mithilfe des Körpers Neues, um dann zuzuordnen oder separat abzuspeichern.
Seele: Die Seele beurteilt die Informationen als positiv oder negativ in Form von Gefühlen (Freude, Traurigkeit, Wut, Angst etc.) und ruft z. B. Reaktionen wie Ablehnung oder Aufgeschlossenheit hervor. Wie sie reagiert, ist von ihrer Beweglichkeit und ihren gemachten Gefühlserfahrungen abhängig, denn Verhalten ist erlernt. Wie schon unter dem Konzeptsystem „Interaktion“ erläutert, braucht es zur Wahrnehmung und Kommunikation Bewegung. Es stellt sich die Frage, wie beweglich sind Körper, Geist und Seele der betreffenden Person und wie hoch ist ihre Anspannung zum Zeitpunkt der jeweiligen Kommunikation und warum?
Kinaesthetics-Konzept „Interaktion“ Über Bewegung sind wir mit unserem Körper und unserer Umgebung in Interaktion. Unsere Sinnessysteme machen es uns möglich, unsere Bewegung zu kontrollieren und unsere Bewegungsfähigkeiten auszuprobieren, indem wir neue Bewegungserfahrungen machen. Wir entwickeln dabei neue Bewegungsabläufe und lernen uns fortlaufend individuell anzupassen. Bewegung ist Interaktion und über Interaktion kommt man in Bewegung. Wir nehmen über die Bewegung alle funktionsfähigen Sinnessysteme wahr und folgen der Wahrnehmungsbewegung.
BEISPIEL: Sie wollen über die linke oder rechte Körperseite im spiraligen Bewegungsmuster vom Stuhl aufstehen. Ihre Augen blicken dabei angestrengt in die entgegengesetzte Richtung (fixieren Sie einfach einen Punkt). Sie werden feststellen, dass die Bewegung des Körpers in die entgegengesetzte Blickrichtung der Augen dazu führt, dass das Aufstehen vom Stuhl schwierig bis unmöglich wird, weil die Spannung im Körper durch die Blickrichtung der Augen den Spannungsaufbau in die andere Richtung für die körperliche Bewegung behindert. Das betrifft alle Sinnesorgane, auch das Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen. Zudem befinden sich Augen, Ohren, Nase und Mund am Kopf und dieser wird automatisch mit in die Richtung der Spannung (Blickrichtung, Hörrichtung, Geruchsrichtung usw.) bewegt.
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Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
Dies geschieht in einer für uns möglichen Zeit, in dem für uns vorhandenen Bewegungsraum und mit der uns zur Verfügung stehenden Anstrengungskraft. Unsere Bewegungsfähigkeit ist entscheidend für unsere Interaktionsfähigkeit und diesbezüglich für die Interaktionsmöglichkeit unseres Interaktionspartners uns gegenüber. Dadurch ist sie maßgeblich an der zwischen uns entstehenden Interaktionsform beteiligt.
Es spielt zudem eine Rolle, ob die Person in ihrer Aufmerksamkeit während der Wahrnehmung und Kommunikation nach außen oder in das Körperinnere orientiert ist. Und unter Umständen, welches Sinnesorgan und welche Körperhälfte (z. B. linkes oder rechtes Ohr oder Auge) während der Kommunikation dominant ist. Die Dominanz befindet sich vorrangig je nach Situation in dem am besten beweglichen Sinnesorgan. Sind wir zum Beispiel Kontaktlinsenträger und haben eine Linse verloren, übernimmt das Auge die Dominanz, in dem sich die Kontaktlinse noch befindet. Genauso wäre es mit dem Hören, Tasten, Schmecken oder Riechen. Unsere Achtung und Aufmerksamkeit ist da, wo wir am besten wahrnehmen können, auch Körper, Geist und Seele betreffend. Ein Musiker beispielsweise achtet besonders auf sein Gehör und ein Maler auf seine Augen.
KOMMUNIKATIONSBEISPIEL AUS DER PRAXIS: Eine durch einen Schlaganfall körperlich und geistig eingeschränkte Frau begabt sich seit einiger Zeit aus unerklärlichen Gründen, nachdem sie vom Sitzen im Rollstuhl zum Liegen in das Bett transferiert wurde, in die körperliche Überstreckung. Den Pflegekräften fiel es schwer, sie mit dieser Überstreckung im Bett zu bewegen und sie auch später wieder aus dem Bett zu holen, da sie in dieser überstreckten Körperhaltung blieb. Für die Gesundheit der Frau war die überstreckte Position aufgrund der angespannten funktionalen Vorderseite ihres Körpers auch nicht förderlich. Ihr Gefährdungspotenzial für Sekundärerkrankungen war gestiegen. Auf meine Frage, wann sich die Frau so verhält, sagte man mir, sobald sie im Bett liegt. Ich versuchte die Frau mit meiner Stimme und über körperliche Bewegungsimpulse aus der Überstreckung zu bekommen, aber sie reagierte nicht. Ich beobachtete ihre Reaktion und versuchte ihre Wahrnehmung nachzuvollziehen. Dann folgte ich ihren Augen und da bemerkte ich ein Mobile an der Decke hinter ihrem Kopfende. Es war nicht direkt über ihrem Kopf und mir kam die Idee es abzunehmen, um zu gucken, wie sie reagierte. Sie folgte dem Mobile in meiner Hand, erst mit ihren Augen und dann mit dem ganzen Körper. Er entspannte sich und beugte sich, als ich das Mobile auf der Höhe ihrer Füße an die Decke hielt. Der Grund für ihre körperlich angespannte Überstreckung lag also an der Wahrnehmung und Kommunikation mit dem Mobile, welches, wie ich später erfuhr, vor einiger Zeit von ihrem Mann angebracht worden war.
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BEISPIEL: Die Pflegekraft betritt den Raum und trifft auf eine Person, die in der linken Hand einen Blindenstock hält, daher vermutlich stark sehbehindert oder blind ist und Linkshänder zu sein scheint. In ihren beiden Ohren befinden sich Hörgeräte, welche eine mehr oder weniger starke Hörbehinderung vermuten lassen. Wie würden Sie auf die Person zugehen und mit ihr kommunizieren und warum? Sie würden vermutlich gerade auf die Person zugehen und sie laut und deutlich ansprechen, weil sie auf beiden Ohren Hörgeräte trägt, und sie über leichten Druck, vermutlich mit ihrer rechten Hand auf dem linken Handrücken, dem Unterarm, den Oberarm oder der linken Schulter mittels Initialberührung begrüßen, weil sie vermutlich blind ist und Linkshänder zu sein scheint.
Kinaesthetics-Konzept „Funktionale Anatomie“ in Bezug zur Interaktion/Kommunikation Muskeln bewegen Knochen, Zwischenräume bewegen Massen und die Vorderseite bewegt die Rückseite. Ohne Bewegung keine Kommunikation zwischen den anatomischen Elementen in unserem Organismus.
Kinaesthetics-Konzept „Menschliche Bewegung“ in Bezug zur Interaktion/Kommunikation Jeder Mensch lernt zeit seines Lebens seine persönlichen Bewegungskompetenzen kennen und entwickelt daraus seine Bewegungsmuster. Diese werden über Kommunikation umgebungs- und situationsbezogen angepasst und verändert.
Kinaesthetics-Konzept „Anstrengung“ in Bezug zur Interaktion/Kommunikation Die Anstrengung ist der Motor für unsere Bewegung und daher unerlässlich für jede Art der Kommunikation. Sie sollte während der Interaktion mit einem Bewegungspartner dosiert, dem Schwächeren gegenüber angepasst, eingesetzt werden, um eine Überanstrengung zu vermeiden, aber auch fordernd sein, um eine Entwicklung zu ermöglichen.
Kinaesthetics-Konzept „Menschliche Funktion“ in Bezug zur Interaktion/Kommunikation Die menschlichen Funktionen sind abhängig von der Bewegungsfähigkeit eines Menschen. Der Mensch muss die eingenommene Position kontrollieren können. Und er muss aus den für ihn kontrollierbaren Positionen jeweils die geeignetste Position für 92
Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
seine jeweiligen Aktivitäten auswählen können. Es geht um die Gewichtskontrolle innerhalb einer Position und es geht um die kontrollierte Bewegung innerhalb einer Aktivität und auch das ist Kommunikation. Je leichter das eigene Körpergewicht in der eingenommenen Position kontrolliert werden kann, um so beweglicher ist der Mensch und umso besser kann er über seine Sinnes-Systeme wahrnehmen und kommunizieren, denn Kommunikation braucht Bewegung.
Kinaesthetics-Konzept „Umgebung“ in Bezug zur Interaktion/ Kommunikation Die Umgebung sollte ausreichend Gewichts- und Bewegungskontrolle ermöglichen, um in jeder Situation die Kommunikation zwischen Körper, Geist und Seele zu fördern. Menschen mit Herz- Kreislauf-Erkrankungen können je nach Krankheitssituation auch mal mit ihrer Aufmerksamkeit im Körperinnern sein, die äußere Wahrnehmung wird dann eingeschränkt sein. Sie horchen z. B. auf ihren Herzschlag, achten auf Schmerzen, Schwindel, Atemsituation und Körperkraft. Der körperliche Zustand wird über den Geist analysiert. Um den eigenen Gesundheitsprozess unterstützen zu können, ist die innere Wahrnehmung wichtig. So kann der herz-kreislauf-erkrankte Mensch auf die Informationen seines Körpers bezüglich seiner inneren Bewegungsprozesse achten und sich der Situation entsprechend in seiner Bewegung gesundheitsfördernd anpassen. Ängste, die aufgrund der wahrgenommenen Situation entstehen können, erhöhen die körperliche Anspannung, behindern oder verhindern die erforderliche körperliche Bewegungsanpassung und wirken sich gesundheitsgefährdend aus. Solche Ängste müssen daher entsprechend über Bewegung abgebaut werden, z. B. über eine beruhigende Initialberührung (Wahrnehmungsbewegung Fühlen) oder eine beruhigende Stimme (Wahrnehmungsbewegung Hören). Kreislauf – beruhigend → bewegungsfördernd = wahrnehmungsfördernd Neurologisch erkrankte Menschen haben je nach Krankheit und Krankheitssituation durch die Reizweiterleitungsstörungen oder -unterbrechungen Schwierigkeiten, innen und außen richtig wahrzunehmen oder auch das Wahrgenommene über den Geist richtig zu verarbeiten und/oder auch auf das Wahrgenommene zeitnah und richtig zu reagieren. Sie haben häufig keine angepasste Körperspannung, sondern keine oder eine viel zu hohe. Eine eingeschränkte Wahrnehmung, Wahrnehmungsverarbeitung und Kommunikationsfähigkeit kann zudem zu einer seelischen Belastung führen und die Anspannung im Körper erhöhen. Die höhere Anspannung behindert dann zusätzlich die bereits eingeschränkte Wahrnehmungs-, Wahrnehmungsverarbeitungs- und KommunikationsfäKinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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higkeit und wirkt sich störend auf innere Bewegungs- und Gesundheitsprozesse aus. Daher sollte man während der Interaktion besonders auf die Bewegungselemente achten und der betreffenden Person genügend Zeit zur Wahrnehmung, Wahrnehmungsverarbeitung und Reaktion einräumen. Atemwegserkrankte Menschen sind je nach Krankheitssituation eher nach innen orientiert, besonders bei unzureichendem Gasaustausch und akuter Atemnot. Die äußere Wahrnehmung kann deshalb je nach Atemsituation eingeschränkt sein. Eventuelle Erstickungsängste führen zu einem erhöhten, die Bewegung einschränkenden Muskeltonus, was dazu führt, dass die ohnehin erschwerte Atmung zusätzlich behindert wird. Eine verbale Kommunikation ist je nach Bewegungs- und Luftsituation zur Stimmbildung mehr oder weniger stark beeinträchtigt, daher sollte die Kommunikation an die Atemsituation angepasst werden. Eine Beruhigung und Reduzierung des Muskeltonus kann durch eine anhaltende Initialberührung, eine Kontaktatmung oder über eine ressourcenabhängige, die Atmung unterstützende Position und eine Atembewegungsunterstützung erreicht werden. Stoffwechselerkrankte Menschen können je nach Krankheitssituation (Stoffwechselsituation) und Krankheitsauswirkung in der körperlichen Wahrnehmung nach innen und außen orientiert und in der geistigen Verarbeitung eingeschränkt sein und diese Einschränkungen führen auch zu einer seelischen Belastung.
BEISPIEL: Geht eine Pflegekraft ohne Bewegungs- und Wahrnehmungskenntnisse zu einer sich im Wachkoma befindende Person, dann verursacht sie Stress, durch die für den sich im Koma befindenden Menschen im Unterbewusstsein nicht nachvollziehbaren Handlungen. Und dieser Stress wirkt sich negativ auf die im Körperinneren ablaufenden Bewegungs- und Gesundheitsprozesse des komatösen Menschen aus, deutlich erkennbar an den Vitalparametern. Das Gehirn schläft nie, auch nicht unter einer Narkose, es bekommt im Unterbewusstsein immer alles mit, es ist nur die Frage „wie“. Beginnt man die Bewegungsunterstützung des Körpers hingegen mit einer nachvollziehbaren Initialberührung und unterstützt die Bewegung des Körpers an den funktionalen Rückseiten der Massen, eine Masse nach der anderen in der Reihenfolge folgend, mit der nachvollziehbaren Druckinformation auf der funktionalen Rückseite in die Umgebung, kann das Unterbewusstsein im Gehirn folgen. Bewegungswahrnehmungs- und Gesundheitsprozesse werden gefördert.
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Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
BEISPIEL: Demenzerkrankte Menschen haben durch den geistigen Abbau je nach Krankheitsstadium Wahrnehmungs- und Kommunikationsprobleme. Bei diesen Menschen ist es wichtig, eindeutige nonverbale Bewegungskommunikationssignale zu geben. Zum Beispiel kann es erforderlich sein, den Blickkontakt zu halten oder durch Berührung mit entsprechendem Druck oder Zug an den anatomisch richtigen Orten der funktionalen Anatomie nachvollziehbare Wege aufzuzeigen bzw. das Bewegungsmuster der betreffenden Person für sie erkennbar einzuleiten. Die Kommunikation sollte so gestaltet sein, dass der demenziell Erkrankte in Körper, Geist und Seele sich gut bewegen, wahrnehmen, verarbeiten und reagieren kann.
Gerade demenziell erkrankte Menschen sind auf ihre emotionale (seelische) Wahrnehmung angewiesen, weil sie die geistige Wahrnehmung nicht mehr vollständig zur Verfügung haben. Sie sind daher sehr empfindsam und reagieren unmittelbar auf Spannungsveränderungen. Beispielsweise bemerken sie sofort, wenn die Pflegekraft angespannt ist oder anders ist als sonst. Das Verhalten der Pflegekraft überträgt sich. Ist diese angespannt, spannt sich auch der Erkrankte an, lässt sich kaum noch bewegen oder reagiert sogar mit Abwehrhaltung. Es ist ähnlich wie die Situation zwischen Mutter und Säugling/Kleinkind. Der Säugling kennt die Spannungen seiner Mutter genau. Will diese jetzt abends mit einer Freundin ausgehen, ist sie emotional aufgeregt (Vorfreude). Der Säugling spürt diese Spannung des Aufgeregtseins und das beunruhigt ihn. Folglich überträgt sich die Spannung der Mutter und der Säugling wird unruhig. Er wird nicht schlafen können und am Ende bleibt die Mutter zu Hause. In der Kommunikation mit demenziell erkrankten Menschen ist es wichtig, nonverbal kommunizieren zu können, also primär auf die eigenen Gefühlswahrnehmungen zu achten, ähnlich wie bei der Validation. Was tun Sie, wenn Sie sich in einem fremden Land befinden, dessen Sprache Sie nicht sprechen, wenn Ihnen Einheimische begegnen und Sie Hilfe brauchen? Ich bin mir sicher, Sie werden ihrem Gegenüber in die Augen sehen, um deutlich zu machen, dass Sie eine Interaktion eingehen wollen. Sie werden sprichwörtlich mit „Händen und Füßen“ reden und die Mimik Ihres Gegenübers betrachten, um das Gegenüber auch einzuschätzen, ob es vertrauenswürdig ist oder ob Sie Angst haben müssen, durch das Gegenüber gefährdet zu sein.
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BEISPIEL: Eine Schülerin aus der Schule bat mich nach einer Praxisbegleitung, doch einmal mit ihr zu einer an Demenz erkrankten alten Dame zu gehen. Die Tochter wurde von ihr informiert, gab ihr Einverständnis und war ebenfalls anwesend. Sie besuchte ihre Mutter fast täglich in der Pflegeeinrichtung. Schülerin und Tochter erzählen mir von der schon erdenklich langen, extrem hohen und immer höher werdenden Körperspannung der alten Dame im Pflegestuhl. Gemeinsam gingen sie mit mir zu der Frau und ich stellte Folgendes fest: Diese befand sich mit geschlossenen Augen, vollständig einschließlich des Gesichts angespanntem Körper in einem Pflegestuhl. Ich sah sofort, dass ihre körperlichen Zentralmassen - Kopf, Brustkorb und Becken - nicht richtig gestapelt waren. Die Arme hatten keine ausreichende Auflagefläche und zogen mit ihrem Gewicht am Brustkorb. Ebenso die Beine, sie hatten keinen Kontakt über die Füße zum Boden und zogen am Becken. Das Körpergewicht der Frau befand sich in der Muskulatur der funktionalen Vorderseite der Körpermassen und in den Zwischenräumen zwischen den Massen. Ich beginne ihren, im Pflegestuhl gerutschten, angespannten Körper über Haltungsbewegung (Konzept „Menschliche Bewegung“ Thema Bewegungsbausteine) zu lockern und bewege ihn anschließend über das spiralige Bewegungsmuster (Gehen im Sitzen) nach hinten in den Stuhl, um die Zentralmassen wieder zu stapeln. Ich bitte die Schülerin, mir ein paar Handtücher zu holen. Anschließend platzierte ich zwei zu Keilen gefaltete Handtücher seitlich – jeweils eins rechts und eins links – unter dem Becken, um eine bessere Auflagefläche zur Gewichtsabgabe für das Becken zu bekommen. Damit der Brustkorb nicht mehr in die ausgehöhlte Rückenlehne des Pflegestuhls fällt und dadurch das Becken hinter sich herzieht, lege ich ein aufgerolltes Badetuch entlang der Wirbelsäule in den Rücken. Der Kopf wird zusätzlich mit einem gefalteten Badetuch unterstützt, da die vorhandenen Kissen zu weich sind und keine gute Auflagefläche zur Gewichtsabgabe des Kopfes ermöglichen. In Höhe der Schulterblätter platzierte ich ebenfalls je rechts und links ein zu einem Keil gefaltetes Handtuch für eine bessere Auflage und Gewichtsabgabe der Schulterblätter in die Rückenlehne. Dann frage ich die Schülerin nach einem Fußhocker für die Beine. Da keiner da ist, holt sie ein paar dicke schwere Bücher. Die platzierte ich unter die Füße und bringe die Beine in eine 90-Grad-Stellung zum Becken, damit das zuvor hängende Gewicht der Beine nicht mehr das Becken aus seiner aufrechten Position ziehen kann. Zudem hat die alte Dame jetzt die Möglichkeit, über das Drücken der Füße in den Boden (in die unter den Füßen stehenden Bücher) Mikrobewegungen zu machen und die Druckverhältnisse auf dem Becken zu kontrollieren. Da die Armlehnen nicht verstellbar sind, suchen wir uns zur Erhöhung feste Materialien, um ein Herunterhängen der Arme zu verhindern und eine gute Auflagefläche für die funktionale Rückseite der Arme zu gewährleisten. Somit kann die alte Dame, wenn möglich, über das Drücken der Arme in die Umgebung das Gewicht vom Brustkorb kontrollieren. Sie sitzt jetzt völlig entspannt in ihrem Pflegestuhl und hat die Augen geöffnet. Ihre Tochter fängt an zu weinen, sieht ihrer Mutter in die Augen und sagt: „Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann du das letzte Mal die Augen geöffnet hattest, als ich dich besuchte.“
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Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
Anschließend erkläre ich Tochter und Schülerin, worauf man bei einer Sitzposition achten muss, damit der Sitzende nicht die Kontrolle über das eigene Körpergewicht verliert. Ich erkläre ihnen, dass bei einer hohen Körperspannung die Augen meist geschlossen sind, weil das Offenhalten der Augen auch Kraft kostet. Diese Kraft ist oft nicht mehr da, wenn das eigene Körpergewicht an der Muskulatur zieht. Die Körperanspannung schaukelt sich hoch, Bewegung, Wahrnehmung und Kommunikation werden schwer bis unmöglich. Kann der Mensch sich selbst in seiner Umgebung und die Umgebung nicht richtig wahrnehmen, kann er auch nicht auf sie reagieren. So nimmt er nicht mal wahr, wenn die Situation für die eigenen Gesundheitsprozesse im Körper eine Bewegungsanpassung verlangt. Der Pflegebedürftige befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem er selbst nicht mehr herauskommt. Um Wahrnehmung und Kommunikation auch im Bezug zur eigenen Gesundheitskontrolle zu unterstützen, müssen wir Bewegung fördern. Für Bewegung bedarf es immer einer geeigneten Umgebung, die uns Möglichkeiten oder Angebote zur Bewegungswahrnehmung und Bewegungsentwicklung bietet, nur so können wir lernen, uns an unsere Lebenssituation anzupassen.
BEISPIEL: Ich war mit einer „Kinaesthetics-in-der-Pflege-Grundkursgruppe“ in einer Einrichtung auf der Dementen-Station, wobei nur ein Teilnehmer auf dieser Station arbeitete. Allen anderen Teilnehmern einschließlich mir waren die Bewohner nicht bekannt. Wir kamen gerade zur Mittagszeit und übernahmen sogleich die Essen-Anreichung bei einer Gruppe demenziell Erkrankten im Essensbereich. Alle Grundkursteilnehmer einschließlich mir hatten Probleme bei der Nahrungsanreichung, außer dem Teilnehmer, welcher dort arbeitete. Die Bewohner hatten eine ziemlich angespannte Körperhaltung uns gegenüber und öffneten den Mund nur spärlich oder gar nicht. So kam es, dass der dort arbeitende Kursteilnehmer uns nacheinander ablöste. Kaum, dass er übernommen hatte, entspannten die Bewohner, öffneten den Mund und fingen an zu essen. Die Situation ließ sich folgendermaßen erklären: Wir waren Fremde und die Bewohner spürten das, auch wenn sie zum Teil stark abwesend erschienen. Unsere Körperausstrahlung, Körpererscheinung, Körperhaltung, Körpergerüche, Körperberührung und unsere Stimmen waren ihnen fremd, daher ihre hohe Körperspannung. Eine hohe Körperspannung behindert die körperliche Bewegungs-, Wahrnehmungsund Kommunikationsfähigkeit. Somit war die Bewegungsanpassung an die jeweilige Nahrungsdarreichungssituation eingeschränkt und die Aspirationsgefahr durch die erschwerte Kau- und Schlucksituation aufgrund der angespannten Muskulatur erhöht. Die Bewohner erkannten jedoch sofort den ihnen bekannten Kursteilnehmer. Sie fühlten sich sicher und entspannten sich. Ihre körperliche Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit war wieder uneingeschränkt möglich, sie konnten sich der Nahrungsdarreichungssituation entsprechend gut anpassen und die Nahrung ohne Probleme mit gesunkener Aspirationsgefahr zu sich nehmen.
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Exkurs: Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz Zielsetzung: Jeder pflegebedürftige Mensch mit Demenz erhält Angebote zur Beziehungsgestaltung, die das Gefühl, gehört, verstanden und angenommen zu werden sowie mit anderen Personen verbunden zu sein, erhalten oder fördern. Begründung: Beziehungen zählen zu den wesentlichen Faktoren, die aus Sicht von Menschen mit Demenz Lebensqualität konstituieren und beeinflussen. Durch personen-zentrierte Interaktions- und Kommunikationsangebote kann die Beziehung zwischen Menschen mit Demenz und Pflegenden sowie anderen Menschen in ihrem sozialen Umfeld erhalten und gefördert werden. Das setzt voraus, dass die Pflegefachkraft versteht, woraus eine Beziehung in der Pflege besteht. Im Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ kann man Folgendes im Strukturkriterium S1a lesen: Die Pflegekraft hat eine personenzentrierte Haltung in der Pflege von Menschen mit Demenz entwickelt. Darunter beschrieben findet man z. B. : „Eine als gut zu bezeichnende Pflege von Menschen mit Demenz besteht also im Wesentlichen aus einer Reihe qualitativ hochwertiger Interaktionen, die den Betroffenen in dem Gefühl bestärken, gehört, verstanden und angenommen zu werden, und weniger aus störungsfreien Abläufen der jeweiligen Pflegeeinheit bzw. der häuslichen Situation … Dafür bedarf es in Ergänzung zur verbalen auch der nonverbalen Kommunikation …" Kinästhetisches Arbeiten basiert auf einer personen-zentrierten Haltung in der Pflege. Die pflegerische Unterstützung wird als Interaktionsprozess zweier Interaktionspartner (Pflegebedürftiger und Pflegekraft) gesehen. Hier steht als allererstes das erste Konzept „Interaktion“ des Kinaesthetics-Konzeptsystem mit den Themen Sinne, Bewegungselemente und Interaktionsformen zur Verfügung. Durch den Interaktionsprozess kommen Pflegekraft und Pflegebedürftiger zunächst in die erste Phase des Interaktionsprozesses „der Wahrnehmungsbewegung“ durch die bewegungsaktiven und angesprochenen Sinnessysteme. Mit der zweiten Phase des Interaktionsprozesses folgt die Analysephase über die Bewegungselemente, also die Zeit, den Raum und die Anstrengungssituation des gegenseitigen Agierens und Reagierens. Und die dritte Phase des Interaktionsprozesses beinhaltet die Variations- und Anpassungsphase, in der sich die Interaktionsformen des Interaktionsprozesses entwickeln, die letztendlich über die Beziehungsgestaltung der Interaktionspartner entscheiden. Die Pflegekraft lernt über bewusste Bewegungswahrnehmungsanalysen individuelle Variationsangebote zu machen und durch interaktionsfördernde Anpassungsentscheidungen und die daraus entstehenden Interaktionsformen Beziehungen zu gestalten. 98
Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
Das Kinaesthetics-Konzeptsystem ist ein Analysewerkzeug für alle menschlichen Aktivitäten, es ist gerade für die nonverbale Kommunikationsfähigkeit prädestiniert, weil es in diesem Konzeptsystem immer um die körperliche Bewegungswahrnehmung und Bewegungsanpassung geht. Habe ich meinen Körper verloren, so habe ich mich selbst verloren. Finde ich meinen Körper, so finde ich mich selbst. Bewege ich mich so lebe ich und bewege die Welt. Ohne diesen Leib bin ich nicht, und als mein Leib bin ich. Nur in der Bewegung aber erfahre ich mich als mein Leib, erfährt sich mein Leib, erfahre ich mich. Mein Leib ist die Koinzidenz von Sein und Erkenntnis, von Subjekt und Objekt. Er ist der Ausgangspunkt und das Ende meiner Existenz. Vladimir Iljineaus: Praxis der Psychomotorik, Jg. 20 (2), Mai 1995, 63
Kinaesthetics gehört mit zur Basalen Stimulation, denn wie wir bereits wissen ist Wahrnehmung Bewegung. Es geht um den Einsatz bewusster Sinnesreize zur gezielten Reizwahrnehmung, Reizverarbeitung und Reizreaktion.
Basale Stimulation Basale Stimulation ist die Förderung der Wahrnehmung durch die bewusste Zuführung einfacher Reize wie Berührung, Druck, Reibung, Wärme, Kälte, Vibration, Gerüche, bekannte Stimmen und Musik. Pflegebedürftige oder Patienten der Basalen Stimulation sind: –– Bewusstlose, –– Beatmete, –– Desorientierte, –– Somnolenzpatienten (krankhafte Schläfrigkeit), Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Schädel-Hirn-Traumatisierte, Menschen nach hypoxischem Hirnschaden (Sauerstoffmangel), Hemiplegiepatienten, Morbupatienten-Alzheimer-Erkrankte, Patienten mit Appalischem Syndrom.
Ein bewusstloser Mensch kann nicht wechselseitig kommunizieren und es ist nicht erkennbar, inwieweit der Betroffene bestimmte Reize aufnimmt. Beim Übergang von der Bewusstlosigkeit zum Bewusstsein lassen sich Reaktionen auf Schmerzen und zunehmend auch Reaktionen auf andere Reize beobachten. Da nicht nachvollziehbar ist, ob der bewusstlose Mensch Teile seiner Umwelt wahrnimmt, sollte man ihm immer wieder Reize anbieten. Die Wahrnehmung eines Menschen findet über seine Sinne statt: –– Sehsinn, –– Gehörsinn, –– Geschmackssinn, –– Geruchssinn, –– Tastsinn, –– Kinästhetisches Sinnessystem. Angebote der Basalen Stimulation: –– Somatische Stimulation (Soma = Körper) Wiederherstellung der Orientierung, Erfahrung und Wahrnehmung des Körperschemas, Grenzen und Abgrenzungen erfahrbar machen. –– Vestibuläre Stimulation Wiederherstellung der Orientierung im Raum, Gleichgewichtssinn trainieren. –– Vibratorische Stimulation Erfahrungen der Körpertiefe, Aufmerksamkeit wecken. –– Visuelle Stimulation Orientierung im Raum, Orientierung über den Sinneszusammenhang der Situation durch das Sehen. –– Auditive Stimulation (über das Gehör). Umweltkontakt herstellen, Erinnerungen mobilisieren über Geräusche, Stimmen oder Musik. –– Orale Stimulation. Erfahrung der Umwelt, Befriedigung, Lusterlebnis über das Kauen und Schmecken. 100
Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
–– Nasale Stimulation. Erfahrungen der Umwelt, Erinnerungen mobilisieren durch Gerüche. –– Taktil/Haptische Stimulation (taktil = tasten, haptisch = greifen). Berührungsreiz auslösen, Umwelt erfahren. –– Atmung Die Atmung erfahrbar machen.
Somatische Stimulation = Körperstimulation Ziele: –– Kontakt zur Umwelt, –– Neuentdeckung des Körperschemas. Maßnahmen: –– harte Umgebungsgestaltung, –– Extremitäten in Gelkissen einschlagen, –– Körper ertasten lassen, z. B. das Gesicht, –– Baden mit Körperkontakt, –– Duschen mit unterschiedlichen Wasserstrahlen, –– unterschiedliche Wassertemperatur, –– verschiedene Duschmittel, –– den Körper eincremen, –– die Haut föhnen, –– die Haut rubbeln, frottieren, bürsten, –– Massagen, –– Berührung mit unterschiedlichen Materialien.
Vestibuläre Stimulation Ziele: –– Gleichgewichtsregulierung, –– Gleichgewichtsstabilisierung. Maßnahmen: –– Kinaesthetics – den Körper durch die Grundpositionen bewegen, –– schaukeln, z. B. in einer Hängematte oder im Schaukelstuhl, –– Bewegung des Kopfes, –– Bewegung der Augen (Blick), –– den Finger zur Nase führen, –– Positionswechsel.
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Vibratorische Stimulation: Ziel: –– Erfahren der Körpertiefe. Maßnahmen: –– Stimmgabel ansetzen, –– Vibrax ansetzen, –– Musikinstrumente, –– Musikbett.
Visuelle Stimulation: Ziel: –– Orientierung. Maßnahmen: –– farbliche Umgebungsgestaltung, –– Lichtspiele, –– Bilder, –– Fotos, –– Filme.
Auditive Stimulation: Ziele: –– Töne, Laute, Geräusche unterscheiden, –– Orientierungshilfen erarbeiten, –– Kommunikationsmittel einsetzen lernen. Maßnahmen: –– Töne und Laute einsetzen, –– Stimmen einsetzen, –– Musik, laut oder leise.
Orale Stimulation: Ziele: –– Schlucken wieder erlernen, –– Mund schließen lernen, –– Speichelfluss verhindern, 102
Themenfeld 1 – kognitive und kommunikative Fähigkeiten
–– kauen wieder lernen, –– Geschmacksanregung. Maßnahmen: –– Schlucktraining, –– Geschmacksqualitäten erkennen und neu unterscheiden lernen, –– Gewürze, süß, sauer, salzig, bitter, Lebensmittel schmecken, –– Kältereiz, –– Wärmereiz, –– Massage der Zunge mit der Zahnbürste, –– Gegenstände fühlen mit dem Mund, –– gurgeln, –– Wangen aufblasen.
Nasale Stimulation: Ziel: –– Geruchsstoffe erfahren, einordnen und neu erleben. Maßnahmen: –– Duftlampen einsetzen, –– Parfüme, –– Blumen, –– Essen riechen lassen (Obst, Gemüse, Gewürze oder auch Gekochtes).
Taktil-Haptische Stimulation: Ziele: –– gezieltes Tasten, –– gezieltes Greifen. Maßnahmen: –– Gegenstände, Materialien, Stoffe erfahren, fühl- und tastbar, –– auf dem Rücken schreiben, –– Reissäcke, –– fühlen mit Händen, Körper und Füßen.
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Atmungsstimulation: Ziel: –– Atmung erfahrbar machen, –– bewusst atmen. Maßnahmen: –– Auflegen der Hände, –– ASE (Atem stimulierende Einreibung, siehe Massagen), –– Atemübungen, –– Aufblasen eines Luftballons, –– Watte pusten, –– Atemspiele.
Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit Inwieweit ist die pflegebedürftige Person in der Lage, sich frei und selbstständig innerhalb des Wohnbereiches zu bewegen? Gibt es Hilfsmittel zur Mobilität und welcher Art sind sie, wie werden sie genutzt und bedarf es dabei einer Unterstützung? Gibt es Bedürfnisse, Gewohnheiten, Wünsche und biografische Daten diesbezüglich? Beispiel PFK-Einschätzung: schlaffe Lähmung im rechten Arm, eine selbstständige Bewegung ist nicht möglich, es muss assistierend unterstützt werden. Finger sind nur eingeschränkt leicht bewegungsfähig. Standfähigkeit ist erhalten geblieben, kann den Unterarm-Rollator mit einer Hand nutzen. Sturzgefahr durch … kontinuierliche KG, laufen am Rollator wieder möglich. Oder auf eigenen Wunsch im Bett lebend. Durch regelmäßige KG können mit personeller Hilfe Bewegungswünsche umgesetzt werden etc. Verständnisprozess wird schriftlich festgehalten. Beispiel: Pflegebett mit geteilten Seitenteilen, Nutzung der oberen Seitenbegrenzer für die eigenständige Bewegung in der Nacht. Rollator: Übungen zweimal die Woche mit der KG, zum aufrechten Sitzen im Bett und Umsetzen auf den Toilettenstuhl.
Kinästhetische Betrachtung Beispiel generelles Gehen im höheren Lebensalter („Altersgangbild“) –– Wahrnehmungseinschränkungen, –– Orientierung nach vorn, –– Begrenzung des inneren Bewegungsraumes durch Kopf-, Oberkörper- und Kniebeugung, 104
Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit
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Kleinschrittigkeit, geringe Schritthöhe, reduzierte Gehgeschwindigkeit, weniger Fußabrollen.
Interaktion Eingeschränkte Beweglichkeit der Sinnesorgane, daher eingeschränkte Wahrnehmung mit der Folge eingeschränkter Bewegungsanpassung. Eingeschränkte Bewegungsfähigkeit durch veränderte Bewegungselemente aufgrund von Abbauprozessen und Erkrankungen des Bewegungsapparates, wie z. B. durch Begrenzung des inneren Bewegungsraumes aufgrund degenerativer Alterungsprozesse z. B. der Gelenke bei schmerzhaften deformierten Füßen.
Funktionale Anatomie Abnahme der körperlichen Aktivität mit damit einhergehender Abnahme der Muskulatur und Stabilität der Knochen. Oft sieht man eine leichte Oberkörperbeugung der Massen im Bereich des Thorax, z. B. bedingt durch Osteoporose oder aufgrund des altersbedingten Elastizitätsverlustes der Bandscheiben, was zu einer Verlagerung des Körperschwerpunktes führt. Um diese Schwerpunktverlagerung auszugleichen, beobachtet man eingeengte Zwischenräume, z. B. sichtbar an den leicht gebeugten Kniegelenken. Der Blick richtet sich durch die Beugung eher nach unten und grenzt den Blickwinkel ein, erhöht jedoch unter Umständen das Sicherheitsgefühl beim Laufen durch den direkten Blick auf den Boden. Die funktionale Vorderseite ist gebeugt.
Anstrengung Abnahme der körperlichen Muskelkraft als Folge abnehmender Bewegung aufgrund eingeschränkter Beweglichkeit durch Altersabbau und oder durch eventuelle Erkrankungen.
Menschliche Funktion Das Gehen ist ein Positionswechsel vom Einbeinstand rechts zum Einbeinstand links und umgekehrt. Durch den Einsatz von einem oder zwei Stöcken, einem Deltarad bzw. Rollator verändert sich die Position von einem Zweibeinstand zu einem Handfußstand, zum sogenannten „Dreifüßler“ bei der Verwendung von einem Stock oder dem „VierKinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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füßler“, wenn die Gewichtsabgabe verteilt über Beine und Arme erfolgt. So ist die Unterstützungsfläche dem Zweibeinstand gegenüber deutlich vergrößert. Durch die Beugung beim Stehen und Gehen erkennt man eine Orientierung zur Vorderseite ähnlich einer Embryonalstellung. Da während der Embryonalzeit der Bewegungsraum durch den Uterus (Gebärmutter) begrenzt ist, kann der äußere Bewegungsraum auch hier nicht so genutzt werden. Die Kleinschrittigkeit und die Unterstützung durch eines der vorher genannten Hilfsmittel zeigt eine Rückentwicklung in Bezug auf das Laufen (lernen) in niedrigere Positionen durch den vermehrten Einsatz der Extremitäten.
Umgebung Veränderte Auflagefläche der Füße aufgrund altersbedingter Fußveränderungen und veränderte Körperhaltung. Der Bewegungsradius eines Menschen wird ganzheitlich immer auch unter der Berücksichtigung von Körper, Geist und Seele betrachtet. Jeder Mensch hat zum Beispiel je nach Aktivität eine dominante Körperseite, welche uns Orientierung gibt und die Kontrolle über die jeweilige Aktivität übernimmt. Es stellen sich also Fragen wie diese: An welcher Seite des Raumes stellt man das Bett an die Wand oder wie ordnet man generell die Möbel oder die zum Leben notwendigen Wohn-, Haushalts- und Lebensutensilien an, damit man sich körperlich bewegen, geistig zurechtfinden und seelisch wohlfühlen kann?
BEISPIEL: Beobachten Sie mal, welche Aktivitäten Sie mit welcher Hand ausüben! Sie werden überrascht sein, dass es auch Aktivitäten gibt, die Sie als Rechtshänder mit links machen oder als Linkshänder mit rechts. Testen Sie dann mal, wie es mit der anderen Hand funktioniert.
BEISPIEL: Wir können das Auto besser mit der linken Hand lenken als mit der rechten Hand, auch wenn wir Rechtshänder sind, weil die rechte Hand die meiste Zeit am Schaltknüppel ist und die linke Hand dadurch oft allein lenken muss. Müssten wir als Fahrer plötzlich auf der rechten Seite des Autos sitzen, dann hätten wir große Probleme, da wir mit der linken Hand schalten müssten. Unser Körper ist die Bewegung nicht gewohnt, unser Geist ist das Steuern der Bewegung nicht gewohnt und unsere Seele fühlt sich nicht wohl aufgrund der höheren körperlichen Anspannung.
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Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit
BEISPIEL: Jeder Mensch hat ein Standbein und ein Spielbein, beobachten Sie es. Man sieht es daran, wie Menschen stehen, denn man steht nicht lange mit dem Gewicht auf beiden Beinen, sondern verlagert das Gewicht auf ein Bein, um das andere zu entlasten. Dabei haben wir ein bevorzugtes Standbein, es wird zwar auch mal gewechselt, aber meistens nur für eine kurze Zeit. Zudem gehen wir in der Regel immer mit demselben Bein los, überprüfen Sie es. Und wenn wir genötigt werden, mit dem falschen Bein anzufangen, bleiben wir kurz darauf wieder stehen und korrigieren es. Mit dem falschen Bein zu starten, fühlt sich durch die ungewohnte Bewegung und die daraus konsultierende höhere Körperspannung komisch an, denn wir haben durch die höhere Körperspannung weniger Kontrolle, ja, können sogar die Orientierung verlieren und stürzen. Daher kommt auch der Spruch: „Bist du heute mit dem falschen Fuß aufgestanden?" Für demenziell erkrankte Menschen kann so ein Irrtum deshalb fatale Folgen haben. Wir haben unsere Alltagsaktivitäten in der Regel immer mit einer dominanten Seite erlernt, zu einer Umorientierung oder beidseitigen Aneignung kommt es durch äußere Umstände oder körperliche Einschränkungen, wie z. B. durch Schmerzen oder Lähmungen. Ein Um-Training fordert und fördert natürlich nicht nur unseren Körper in seiner Beweglichkeit, sondern auch unseren Geist (Gehirn). Ich habe da an mir z. B. eine Beobachtung gemacht. Als Lehrerin für Pflegeberufe und Kinaesthetics-Trainerin stehe ich häufig neben einem Flipchart, um das zu erläutern, was auf dem Flipchart steht. Ich stellte fest, dass meine bevorzugte Standseite von mir aus gesehen links neben dem Ständer ist und ich mich also über links gedreht dem Ständer zuwende, wenn ich erkläre. Dann habe ich mich öfter mal ganz bewusst auf die andere Seite (rechts neben des Flipchart mit rechts gedrehter Flipchartzuwendung) gestellt und mir sind ganz andere Erklärungsbeispiele und Verknüpfungen in den Sinn gekommen. Das fand ich sehr interessant und inspirierend zugleich. Seitdem wechsle ich die Seiten ganz bewusst hin und her, um meine Gehirnbewegungsaktivitäten zu fördern. Eine neu erworbene Bewegungsanpassungsfähigkeit kann also sehr hilfreich sein, denn sie ermöglicht wieder neue Bewegungsentwicklungsprozesse und gibt dem Betroffenen ein gutes Gefühl für die Seele, und das stärkt das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Pflegebedürftige sollten dadurch jedoch nicht überfordert werden.
BEISPIEL: Beginnt die Pflegekraft z. B. bei einem komatösen Menschen die Bewegung mit der ihr bekannten dominanten Körperseite, dann kann das Unterbewusstsein die Bewegung besser erkennen und zuordnen, während der Beginn mit der nicht dominanten Körperseite vielleicht im Unterbewusstsein zu Irritationen führt und Stress verursacht, weil die Bewegung nicht richtig zugeordnet werden kann. Der Zustand des komatösen Menschen könnte sich manifestieren. Das Gehirn könnte durch die
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Forderung der ungewohnten Bewegung aber auch beginnen, neue Verknüpfungen zu erstellen und sich zu entwickeln. Die Grenzen für eine angemessene Forderung, eine Überforderung oder eine Unterforderung sind, je nach Mensch und Situation, unterschiedlich und müssen durch eine gute Wahrnehmung und Beobachtung herausgefunden werden, um als Pflegekraft angemessen unterstützend und entwicklungsfördernd reagieren zu können.
BEISPIEL: Die Teilnehmer meines Grundkurses lernten während des zweiten Grundkurstages,– es handelte sich um einen viertägigen Grundkurs–, im Konzept „Funktionale Anatomie“ das Thema Orientierung kennen. Beim Thema Orientierung geht es, wie schon öfter erwähnt, um die funktionalen Vorder- und Rückseiten des menschlichen Körpers und um deren Eigenschaften und Aufgaben in Bezug zur Gewichtsabgabe und Gewichtsweiterleitung innerhalb einer Position und während der Bewegung. Nach den zwei Tagen waren die Teilnehmer vier Wochen in der Praxis, bis wir uns am dritten Tag wiedersahen und ich die Teilnehmer nach ihren gemachten praktischen Erfahrungen befragte. Ein Teilnehmer erzählte dann von seiner Situation, die ihn total überrascht und beeindruckt hatte. Er pflegte schon mehrere Jahre in seiner Einrichtung eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau. Sie konnte sich schon länger nicht mehr bewegen und brauchte eine Positionsunterstützung im Bett. Das Sprechen war ihr auch nicht mehr möglich, sie war aber bei vollem Verstand und kommunizierte mit Ja und Nein über den Liedschluss ihrer Augen. Von Beruf war sie früher Krankengymnastin gewesen und kannte sich mit der körperlichen Bewegung aus. Der Teilnehmer erzählte, er ging zu ihr und fragte sie, ob er mal was völlig anderes ausprobieren dürfe, und sie willigte ein. Dann nahm er alle Positionsunterstützungsmaterialien aus dem Bett und sagte zu ihr, sie solle sich nicht wundern, wenn er ihre Position jetzt ganz anders unterstützen würde als gewohnt. Dann unterfütterte er die Hohlräume ihrer freiliegenden funktionalen Rückseiten. Er stellte dadurch deren vollständigen Kontakt zur Umgebung her und ermöglichte somit die vollständige Gewichtsabgabe über die Knochen der funktionalen Rückseite in die Umgebung. Die Muskeln waren jetzt entlastet, vollständig entspannt und frei beweglich. Und plötzlich konnte die Bewohnerin eines ihrer Beine wieder leicht bewegen und beide waren überwältigt. Eine ähnliche Situation erlebte eine Kursteilnehmerin mit einer ebenfalls an Multipler Sklerose erkrankten bewegungsunfähigen Bewohnerin. Sie tat das Gleiche wie ihr Kurskollege. Sie entfernte alle Positionsunterstützungsmaterialien und unterstützte die funktionale Rückseite mit Handtuchkeilen, wie sie es bei mir im Kurs gezeigt bekommen und erfahren hatte. Ihre Bewohnerin war darauf in der Lage, sich über ihr Bein auf die Seite zu drehen, was vorher unmöglich gewesen war. Sie war so aufgeregt, dass sie sofort alle arbeitenden Kollegen herbeiholte, um ihnen das zu zeigen, denn sie dachte, das glaubt mir doch sonst keiner.
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Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit
BEISPIEL: Die Pflegekräfte eines ambulanten Pflegedienstes hatten Probleme, eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau im Alter von 50 aus dem Bett in den Rollstuhl zu transferieren. Die Frau hatte keinerlei Kontrolle über ihre Beine und jede Bewegung der Beine durch die Pflegekräfte führte zu einem überhöhten zitternden Muskeltonus. Ich zeigte den Pflegekräften, dass sie nur an der funktionalen Rückseite der Beine anfassen dürfen und während sie die Beine bewegen, darauf achten müssen, dass das Gewicht der Beine über die Knochen in die Umgebung gelangen und abgegeben werden kann. Wenn sie das nicht tun, bleibt das Gewicht in der Muskulatur hängen und es führt dazu, dass die ohnehin beeinträchtigten Nervenreizweiterleitungen gestört werden und die Beine zittern. Beim Sitzen an der Bettkante wird das Gewicht des Oberkörpers durch Vorbeugung und über Druck durch die Hände auf den Knien in die Füße gebracht. Dann kann das Becken, wenn es sich durch den vorgebeugten Oberkörper vom Bett anhebt, Schritt für Schritt in den seitlich neben dem Bett stehenden Rollstuhl wandern.
BEISPIEL: Während einer Kinaesthetics-Fortbildung ging ich mit Kursteilnehmern zu einer leicht demenziellen erkrankten Bewohnerin. Die Pflegebedürftige wurde immer durch zwei Pflegekräfte in den Rollstuhl gehoben. Anschließend fuhr man sie mit dem Rollstuhl in den Speisesaal zum Essen. Als wir ihr Zimmer betraten, lag die alte Dame in einem großen, auf Knopfdruck verstellbaren Fernsehsessel, in den sie ebenfalls gehoben wurde. Ich stellte mich vor und fragte sie, in was für einem tollen, großen, auf Knopfdruck verstellbaren Fernsehsessel sie sich befinden würde. Darauf antwortete sie: „Ja, den haben mir meine Kinder geschenkt und der war sehr teuer. Als ich sie fragte, wie die Bedienung des Sessels funktionierte, zeigte sie mir die Knöpfe und brachte den Sessel von der Liegeposition in die Sitzposition. Auf meine Frage hin, ob der Sessel denn auch für sie bequem sei, stutzte sie … „Hm, wenn Sie mich so fragen, eigentlich nicht und der war ja so teuer.“ Alle Anwesenden, einschließlich der Bewohnerin, mussten lachen. Es ist leider häufig so, dass teure Dinge (egal ob sie nun von Angehörigen oder anderen Personen kommen) angeschafft werden, ohne vorher zu prüfen, ob diese überhaupt passen oder sinnvoll sind. Dann sagte ich zur Bewohnerin: „Sie sollen ja jetzt in dem Rollstuhl zum Speisesaal gefahren werden, denn es gibt gleich Mittagessen.“ Ich fuhr den Rollstuhl mit weg geklappter Seitenlehne von der Bewohnerin aus rechts im 90°-Grad-Winkel an den Fernsehsessel. Und fragte: „Wie kommen Sie denn jetzt in den Rollstuhl rein und wie kann ich Ihnen dabei helfen?“ Darauf die Bewohnerin: „Ja, … wie komme ich denn jetzt da rein?“ Und rutschte gehend, während sie das sagte, in ihrem Fernsehsessel nach vorn. Dann griff sie an die ihr gegenüberliegende Lehne des Rollstuhls und begann über Ziehen mit dem linken Arm an der Rollstuhllehne und über Drücken mit dem rechten Arm von der Ses-
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sellehne ihr Körpergewicht in die Füße zu bringen und wanderte dann mit dem Becken Schritt für Schritt langsam seitlich in den Rollstuhl. Alles ganz ohne meine Hilfe. Die anwesenden, an dem Kurs teilnehmenden Pflegekräfte konnten es nicht fassen. Dann klappte ich die rechte Armlehne des Rollstuhls wieder zurück und fragte die Bewohnerin, ob ihr schon mal jemand gezeigt habe, wie der Rollstuhl funktioniert. Sie verneinte und ich zeigte ihr, wie sie die Räder des Rollstuhls betätigen musste. Ich erklärte ihr auch, wie sie um die Kurve kommen kann, indem sie ein Rad nach vorn zieht und das andere gleichzeitig nach hinten. Ihre sich auf dem Boden befindenden Füße liefen mit und sie setzte sich in Bewegung, rechts herum und geradeaus durch die Tür Richtung Speisesaal.
Pflegekräfte fragen meist leider gar nicht erst, wie kommen Sie da hin und wie kann ich Ihnen helfen. Sie machen einfach und der Pflegebedürftige ist überrumpelt und reagiert mit einer hohen Körperspannung. Er kann sich dann kaum noch bewegen und weiß zudem nicht wie, weil die Pflegekraft ihn manipuliert.
Interaktion Ist die betreffende pflegebedürftige Person bezüglich der Interaktion beweglich und wenn nicht, hat sie die entsprechenden Hilfsangebote, um in ihrem häuslichen Umfeld unter Berücksichtigung von Körper, Geist und Seele angemessen und ausreichend agieren zu können?
Funktionale Anatomie Ist die Funktionale Anatomie des Pflegebedürftigen innerhalb des Wohnbereiches und Aktionsradius' mobilitäts- und bewegungsfördernd unterstützt?
Menschliche Bewegung Hat der Pflegebedürftige in seinem Wohnbereich und Aktionsradius die Möglichkeit, sich in seinen gewohnten Bewegungsmustern zu bewegen, oder muss er sich neue Bewegungsmuster aneignen und diese erlernen?
Anstrengung Hat der Pflegebedürftige in seinem Mobilitäts- und Beweglichkeitsradius hinsichtlich seiner bevorzugten und nutzbaren Anstrengungsart genügend Möglichkeiten, sich entsprechend festzuhalten und zu ziehen oder abzustützen und zu drücken?
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Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit
Menschliche Funktion Kann der Pflegebedürftige in seinem Mobilitäts- und Beweglichkeitsradius die für seine Aktivitäten erforderlichen Positionen einnehmen, diese entsprechend kontrollieren und seine Bewegungsaktivitäten ausführen?
Umgebung Ist die Umgebung so gestaltet, dass der Pflegebedürftige sich gut in seinem Mobilitäts- und Bewegungsradius bewegen kann und ist ausreichend Raum für Bewegungsentwicklungsprozesse diesbezüglich vorhanden?
Körper Die Beweglichkeit des Körpers ist eine Grundvoraussetzung zur körperlichen Mobilisation. Und eine angemessene körperliche Bewegung ist zur Gesunderhaltung des Körpers unerlässlich.
Geist Die Mobilität des Körpers hält den Geist beweglich und fördert geistige Denkprozesse. Wissenschaftler fanden heraus, dass man über den Geist sogar in gewisser Weise seine Muskulatur trainieren kann. Keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass schon der Gedanke aus einer Bewegung besteht und dieser Gedanke, meinen Muskel zu bewegen, nun eine Nachricht an den Muskel aussendet und somit eine gewisse Spannung auslöst.
Seele Die körperliche Beweglichkeit und die geistigen Denkprozesse bringen auch die seelischen Empfindungen in Bewegung und können z. B. eine seelische Zufriedenheit ermöglichen. So werden Bewegungs- und Gesundheitsprozesse in allen drei Dimensionen gefördert. Der Bereich Mobilität und Beweglichkeit im gewohnten Bewegungsradius muss individuell unter Berücksichtigung der Erkrankung und in Bezug zu ihr betrachtet und analysiert werden. Also: Betrachtung von Herz-Kreislauf-Bewegungen (unwillkürlich) und körperliche Beweglichkeit (willkürlich) unter Berücksichtigung der körperlichen, geistigen und seelischen Mobilität und Beweglichkeit. Betrachtung von neurologischen Bewegungen (willkürliche vom ZNS ausgehend und unwillkürliche von den peripheren Nerven (Reflexen) ausgehend) unter Berücksichtigung der körperlichen, geistigen und seelischen Mobilität und Beweglichkeit. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Betrachtung von Atembewegungen (unwillkürlich) unter Berücksichtigung der körperlichen, geistigen und seelischen Mobilität und Beweglichkeit. Betrachtung von Stoffwechselbewegungen (unwillkürlich) unter Berücksichtigung der körperlichen, geistigen und seelischen Mobilität und Beweglichkeit.
BEISPIEL: Herr M. ist ein 75-jähriger Mann, der vor 20 Jahren durch einen Verkehrsunfall ein schweres Schädelhirntrauma erlitt. Er hat viele Jahre im Koma gelegen und leidet heute unter Krampfanfällen, und bekommt häufig eine Aspirationspneumonie.
Beobachtungswahrnehmung Interaktion Alle Sinne von Herrn M. sind beweglich und einsetzbar. Da Herr M. sich verbal nicht äußern kann, ist nur ein Mutmaßen der Pflegenden über sein Wahrnehmungsverständnis möglich. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Herr M. erhält durch das Pflegepersonal die Möglichkeit zur Selbsterfahrung und wird in seiner Sinneswahrnehmungsentwicklung gefördert. Das Zusammenspiel der Bewegungselemente der Interaktionspartner (Herr M. und das Pflegepersonal) ist gestört. Herr M. benötigt viel innere Zeit, um die Aufforderungen des Pflegepersonals zu verarbeiten und umzusetzen. Sein innerer Bewegungsraum ist klein und seine innere Anstrengung groß. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Gibt das Pflegepersonal Herrn M. ausreichend Zeit, kann sich dieser aktiv am Bewegungsprozess beteiligen. Die Pflegekraft passt sich während der Bewegung an seine Bewegungselemente an, dadurch lernt Herr M. den äußeren Bewegungsraum mit Unterstützung zu nutzen und seinen inneren Bewegungsraum zu vergrößern, wodurch seine Anstrengung sinkt. Die Interaktionsform ist eher einseitig und kommt vonseiten der Pflegekraft, ansonsten gleichzeitig gemeinsam, da Herr M. Sehr viel Unterstützung von außen benötigt. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Unter gleichzeitig gemeinsamer Bewegung lernt Herr M. Schritt, für Schritt während der Interaktion zu interagieren.
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Themenfeld 2 – Mobilität und Beweglichkeit
Funktionale Anatomie Das Gewicht von Herrn M. wird über seine Zentralmassen eher gehoben und nicht großflächig über die funktionalen Rückseiten seiner Massen in die Umgebung abgegeben. Sein Zwischenraum Taille ist durch seine Wirbelsäulenkrümmung stark blockiert. Die linken Extremitäten werden zwar bewegt, aber nicht, um die Zentralmassen zu bewegen. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Herr M. lernt seine Extremitäten einzusetzen, um seine Zentralmassen zu bewegen. Das Gewicht von Herrn M. liegt – durch Unterfütterung freiliegender funktionaler Rückseiten–, auf seinen Zentralmassen und wird großflächig über die funktionalen Rückseiten an die Umgebung abgegeben. Über Anpassung der Umgebung erfährt Herr M. Orientierung nach unten. Menschliche Bewegung, Herr M. hat im Sitzen wenig Haltungsbewegung. Aufgrund der Grobmotorik seines linken Armes kann er diesen nur bedingt einsetzen. Herr M. wird überwiegend parallel bewegt. Herr M. bekommt ein Keilkissen seitlich rechts unter das Becken zur Unterstützung der rechten Beckenseite und einen Hocker für die Füße, um seine Haltungsbewegung zur Gewichtsregulation zu unterstützen.
Anstrengung Herr M. kann die Zieh- und Druckkraft gut einsetzen, setzt sie jedoch nach seinen nicht bewegungsentwicklungsfördernden Vorstellungen ein und seine Kompetenz diesbezüglich reicht nicht zur Fortbewegung aus. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Herr M. lernt seine Anstrengungskompetenzen mit Hilfe von außen effektiver für seine Bewegungsaktivität einzusetzen.
Menschliche Funktion Sitzen ist für Herrn M. ohne Unterstützung nicht möglich (siehe oben unter Menschliche Bewegung). In Rückenposition kann Herr M. sich nur am Ort bewegen. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Bewegung im Sitzen durch bessere Gewichtsorganisation im Lernprozess mit Hilfestellung, z. B. durch Anreichung beim Sich-Pflegen, Sich-Ankleiden oder Essen und Trinken möglich. Fortbewegung z. B. kopfwärts im Bett nur mit Hilfe möglich.
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Umgebung Die Weichlagerungsmatratze verhindert bei Herrn M. jegliche Bewegung und Bewegungsentwicklungsmöglichkeit. Gesundheitsbewegungskompetenzentwicklungsprozess Eine auf Herrn M. angepasste Umgebung, wie beim Sitzen das Keilkissen für sein rechtes Becken und ein Fußhocker für seine Füße und im Bett eine festere Matratze, fördert seine vorhandenen Bewegungsressourcen und ermöglicht Herrn M. über Lernprozesse die Entwicklung neuer Bewegungskompetenzen. Das gibt Herrn M. die Chance, über Bewegungsanpassung seine inneren Bewegungsprozesse zu unterstützen und seinen Gesundheitsbewegungsprozess über Kompetenzentwicklung zu fördern.
Fazit Bekommt Herr M. ausreichend Zeit, kann er sich aktiv beteiligen. Durch entsprechende Unterstützung seiner rechten Beckenseite und seiner Füße kann Herr M. allein sitzen. Durch Bewegungsanleitung kann Herr M. über Ziehen und Drücken seine Bewegungsaktivität effektiv mitgestalten. Durch eine angepasste Umgebung kann Herr M. seine vorhandenen Bewegungskompetenzen nutzen, neue Bewegungskompetenzen entwickeln und seine Gesundheitsentwicklung fördern.
Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen Es geht hier nicht um die Aufzählung von Diagnosen, ärztliche Therapien und Medikamente, denn diese sind schon in anderer Weise erfasst und dokumentiert. Die Frage ist, was für einen Unterstützungsbedarf hat die pflegebedürftige Person durch ihre gesundheitliche Situation? Es geht um Einschränkungen und Belastungen und deren Folgen wie z. B. hält der Betroffene sich an Verordnungen des Arztes und nimmt er seine Medikamente selbstständig ein? Inwieweit liegen durch Krankheit und Therapie bedingte sowie für Pflege und Betreuung relevante Einschränkungen vor? Wird die Erkrankung angenommen und sind individuelle Belastungsfaktoren zum Handlungsbedarf oder Unterstützungsbedarf bei der Bewältigung von Risiken und Phänomenen, z. B. Schmerz, Inkontinenz oder deren Kompensation, da? Gibt es Gewohnheiten, Wünsche, Bedürfnisse und biografische Daten diesbezüglich?
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Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
Beispiel PFK-Einschätzung: Muss sich beim Schlucken konzentrieren, um sich nicht zu verschlucken – Aspirationsgefahr. Bekommt 10 unterschiedliche Tabletten in verschiedenen Größen. Thromboserisiko durch … etc. Beobachtung der Vitalwerte (welche) …, z. B. Schmerzerfassung anhand der Schmerzskala über 7 Tage usw. Verständnisprozess wird schriftlich festgehalten. Beispiel: Arztkontakt zur Überprüfung der Medikamente auf eine andere Applikationsform. Medikamentenmanagement übernimmt die Einrichtung.
Kinästhetische Betrachtung: Die Anforderungen und Belastungen sollten unter dem Aspekt der analytischen Bewegungssituation in Körper, Geist und Seele betrachtet werden und diesbezüglich bewegungs-, präventions- und gesundheitsprozessfördernd sein, um eine mögliche Alltagstauglichkeit zu gewährleisten. Es steht die „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Vordergrund.
BEISPIEL HERZ-KREISLAUF-ERKRANKUNG: Eine regelmäßige Bewegung trainiert das Herz und das wirkt sich positiv auf den Blutdruck aus. In Verbindung mit zucker- und salzarmer Ernährung sowie Gewichtsreduktion bei Übergewicht reduzieren sich die blutdrucksenkenden Medikamente und werden zum Teil manchmal sogar überflüssig.
BEISPIEL NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Ich gab gerade in einer Einrichtung eine Fortbildung zum Thema „Positionsunterstützung“, als die PDL in die Fortbildungsgruppe kam und mich bat, doch eine im Bett lebende demente Bewohnerin in Augenschein zu nehmen und den Teilnehmern die Positionsunterstützung praktisch vor Ort zu zeigen. Also ging ich mit ihr und der Gruppe zu der besagten Bewohnerin und fand, nachdem ich diese begrüßte und nach Einverständnis die Bettdecke entfernte, folgende Situation vor: Die Bewohnerin lag auf einer Antidekubitus-Wechseldruckmatratze und befand sich in der Rückenposition in einer Embrionalstellung. Ihr Muskeltonus war sehr hoch. Ihr Kopf lag scheinbar in einem dicken Federkissen. Die Arme befanden sich komplett in Beugestellung mit Faustschluss der Hände ganz eng auf dem Brustkorb an den Körper gezogen. Im Brustkorb war keinerlei Atembewegung sichtbar, als würde die Frau nicht atmen. Ihre Beine waren ebenfalls in Beugestellung und waren mit Fußstreckung (Spitzfuß) an das Becken gezogen, ohne Kontakt der Füße zur Matratze. Zwischen ihren Knien
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befand sich ein kleines Kissen und unter ihren angewinkelten Beinen ein großes Feder-Kopfkissen. Die Frau beugte ihre komplette funktionale Vorderseite, hatte alle Zwischenräume zu und eine extrem hohe Muskelspannung. Ich entfernte zunächst das Kissen zwischen den Knien und das unter ihren gebeugten Beinen. Dann fuhr ich mit meinem Arm unter ihrem Kopfkissen durch, es gelang mir ohne Probleme, weil die Frau gar nicht mit ihrem Kopf im Kopfkissen lag. Ein Federkissen wird nicht fest, egal wie fest man es zusammendrückt, da sich zwischen den Federn Luft befindet. Der Kopf braucht aber eine feste Unterstützung, um sein Gewicht in der Umgebung loszuwerden, also abgeben zu können. Da dies der Frau in diesem Federkissen natürlich nicht möglich war, hielt sie das Gewicht über ihre Muskulatur im Hals und die Muskulatur der funktionalen Vorderseite des Kopfes, also die Muskeln im Gesicht. Als ich das Kopfkissen unter ihrem Kopf mit Leichtigkeit herausziehen konnte, war es für alle Anwesenden eindeutig sichtbar, dass sie den Kopf hob. Damit die Frau ihren gehobenen und gehaltenen Kopf ablegt, bringt es nichts, gegen ihre Stirn zu drücken, weil sie dann natürlich dagegen drückt (denn Druck erzeugt Gegendruck) und ihren Kopf noch mehr hebt. Ich ließ mir ein großes Badetuch und sechs normale Handtücher bringen. Dann faltete ich das Badetuch zu einem Viereck und klappte eine Ecke um. Mit dieser umgeklappten Ecke auf meinem Handteller drückte ich unterhalb ihres Kopfes gegen ihren Schädelbasisknochen und sie drückte dann Richtung nach unten dagegen. Ich reduzierte langsam den Druck und sie reagierte mit einer langsamen Entspannung. Das tat ich so lange, bis ihr Kopf abgelegt war. Dann klappte ich die drei (oben-rechtslinks) am Kopf herausschauenden Ecken nach unten hin zu Keilen um. Ihr Kopf lag jetzt gestützt von vier Keilen und konnte sein Gewicht über diese vollständig an die Matratze abgeben. Das hatte zur Folge, dass sich ihre Muskeln im Hals und im Gesicht entspannten. Den Pflegekräften fiel auf, dass das Gesicht der Frau plötzlich ganz anders aussah, sie war kaum wiederzuerkennen. Ich fuhr fort und widmete meine Aufmerksamkeit ihrem Brustkorb. Sie hob ihn mit der Hilfe ihrer angewinkelten und angezogenen Arme hoch und es waren keinerlei äußerliche Atembewegungen sichtbar. Hier ist es wie beim Kopf, drückt man ihre Schultern herunter, wird sie nach oben dagegen drücken und ihren Brustkorb noch mehr heben. Ich legte meine Hand, zusammengezogen als Faust, unter ihr fast vollständig freiliegendes rechtes Schulterblatt und drückte mit meinem Handrücken von unten dagegen. Sie spürte den Druck und reagierte mit Gegendruck gegen meine Faust in Richtung nach unten. Ich reduzierte langsam den Druck, sie passte sich an und ich öffnete langsam meine Faust, bis ihre Brustkorbseite entspannt über ihr Schulterblatt auf meinem ausgestreckten Handrücken zum Liegen kam. Und plötzlich fiel ihr gebeugter Arm von ihrer Brust und streckte sich, inklusive ihrer zuvor zur Faust geballten Hand, und sie machte einen tiefen Atemzug auf der rechten Lungenseite. Ihr Brustkorb hob sich beim Einatmen 3–5 cm an. Ich platzierte ein zu einem Keil gefaltetes normales Handtuch unter ihrem rechten Schulterblatt und zog zeitgleich meine Hand wieder heraus.
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Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
Auf der anderen Seite des Brustkorbes herrschte noch der alte Zustand und keine Atembewegung war sichtbar. Die gleiche Vorgehensweise führte ich auf der linken Brustseite durch und auch da passierte das Gleiche. Dann sagte ich zu den Teilnehmern: „Wir haben Glück, sie hat noch keine Kontrakturen in den Armen, es hatte nur den Anschein.“ Sie hatte sozusagen eine „Scheinkontraktur“, weil sie ihren Brustkorb über das Beugen der Arme hochgehoben und gehalten hat, da ihre Umgebung ihr keine geeignete Gewichtsabgabe ermöglichte. Jetzt kommen wir zu ihrem Becken. Das Becken liegt nicht richtig, weil das Gewicht der Beine, die keinen Kontakt zur Umgebung haben, am Becken zieht. Ihre Bauchdecke ist daher extrem angespannt, was ihre Kreislaufsituation und Verdauung negativ beeinflussen wird. Zunächst verhelfe ich ihrem Becken zu einer besseren Auflagefläche, indem ich ihr rechts und links unter die freiliegenden Beckenschaufeln jeweils ein zu einem Keil gefaltetes Handtuch in den Hohlraum schiebe. Dann bekommt sie unter ihren schwebenden Fußballen ein aufgerolltes Handtuch, ebenso unter die schwebenden Fersenbeine, um den Kontakt zur Gewichtsabgabe über die Matratze herzustellen. Die Fußhöhle muss frei bleiben, sonst wird der Beugereflex ausgelöst. Durch die Unterstützung der Füße konnte das Gewicht der Beine den Weg in die Matratze finden. Bauchdecken- und Beinmuskulatur entspannten sich und die vorher zusammengepressten Knie gingen von allein auseinander. Die Beine standen hüftbreit angewinkelt entspannt im Bett. Wenn man etwas zwischen zusammengepresste Knie schiebt, verstärkt man den Druck des Zusammenpressens nur, es ist völlig kontraproduktiv und verstärkt die Gesundheitsgefährdung. Auch darf man auf keinen Fall Positionsmaterialien in die Bereiche der funktionalen Vorderseite bringen (2. Konzept, Thema Orientierung Raum und Körper und 5. Konzept, Einfache Funktion – Position). Die Ursache für das Zusammenpressen der Knie liegt an der mangelnden Gewichtsabgabemöglichkeit des Körpers und dem daraus resultierenden „Sichheben“.
Alle anwesenden Pflegekräfte schauten sich fassungslos an, dann wandten sie sich an ihre PDL und fragten: „Was machen wir bloß mit unseren Pflegebedürftigen?“ Daraufhin sagte ich: „Jeder Mensch pflegt nach bestem Wissen und Gewissen, wenn man es nicht besser weiß, kann man es nicht richtig machen, und dafür besuchen Sie ja diese Fortbildung.“ Dann fragte mich die PDL, was ich von diesen Wechselluftdruckmatratzen halten würde und ich: „Ehrlich gesagt nichts, ich würde sie sofort entfernen, weil sie den Muskeltonus erhöht und immobil macht. Die Pflegebedürftige liegt ja jetzt noch auf dieser Matratze und die Keile helfen ihr trotzdem, ihr Körpergewicht über ihre funktionale Rückseite abzugeben. Laut Hersteller soll man auf dieser Matratze jedoch keine großartigen Positionshilfen verwenden. Wenn wir zwei Wochen im Zelt verreisen und auf einer Luftmatratze schlafen, dann kommen wir mit Rückenschmerzen aus dem Urlaub und müssen zum Masseur. Dieser muss unsere angespannten, schlecht bewegliKinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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chen und schlecht durchbluteten und schmerzenden Muskeln wieder lockern, damit sie wieder durchblutet und beweglich sind und nicht mehr schmerzen.
BEISPIEL WACHKOMA ERBRECHEN: Ein älterer Mann im Wachkoma wurde tagsüber in einen Pflegerollstuhl mobilisiert. In seinem Bett befand sich eine Wechselluftdruckmatratze. Immer wenn er vom Pflegerollstuhl in das Bett transferiert wurde, fing er nach kurzer Zeit an sich zu erbrechen. Nach langem Überlegen nahmen die Pflegekräfte versuchsweise die Wechselluftdruckmatratze aus dem Bett raus und sein Erbrechen war schlagartig vorbei. Das Liegen auf einer Wechselluftmatratze ist vom Empfinden ähnlich, wie auf dem Wasser zu sein. Nicht jeder Mensch ist in der Lage, sich mit seiner Bewegung dem Schaukeln anzupassen und mancher wird seekrank. So wie sich auch nicht jeder Mensch auf einem Wasserbett entspannen kann. Wenn sich der Mensch in Rückenposition auf der Wasseroberfläche lang macht und sich entspannt (im Vertrauen getragen zu werden) und die Muskelspannung loslässt, wird er durch die Oberflächenspannung des Wassers getragen. Sobald er jedoch eine kleine Muskelspannung aufbaut, sinkt er wie ein Stein. Es gibt Menschen, die gar nicht dazu in der Lage sind, sich auf dem Wasser zu entspannen, um vom Wasser getragen werden zu können.
BEISPIEL ATEMWEGSERKRANKUNG: Es war eine Situation, in der ich als Prüferin mit einer Kollegin und der begleitenden Praxisanleitung eine praktische Altenpflegeprüfung in einer Altenpflegeeinrichtung abnahm. Eine im Bett lebende Frau wurde von der zu prüfenden Schülerin im Bett versorgt. Bei der Vorstellung der Bewohnerin, vor der Maßnahme – Durchführung im Stationszimmer –, hieß es, die Bewohnerin wäre sehr aufgeregt, denn es wäre ihre erste Prüfungssituation. Die Pflegebedürftige litt an einer chronischen Atemwegserkrankung und hatte ebenfalls leichte Herz-Kreislauf-Probleme. Die Schülerin entfernte die Bettdecke und alle Positionsunterstützungsmaterialien aus dem Bett der Pflegebedürftigen. Dann half sie ihr, sich im Bett mithilfe einer Waschschüssel zu waschen, abzutrocknen, einzucremen und anzuziehen. Während der Versorgungshilfe befand sich die Pflegebedürftige in einem relativ hohen Muskeltonus, da sie Schwierigkeiten hatte, ihr Gewicht über ihre funktionale Rückseite abzugeben. Dieser Zustand verschlimmerte sich noch, als die Schülerin sie aufforderte, Bewegungsübungen im Bett zu machen. Sie sollte die Beine wechselseitig hochheben und die Füße anziehen und strecken. Die Frau führte die Bewegungen durch, aber bekam dabei Schwierigkeiten mit der Sauerstoffversorgung, da sie unter der noch höheren Anspannung durch die Bewegungsübungen nicht atmen konnt und lief zunehmend blauer an. Immer wieder machte die Schülerin kleine Pausen, die jedoch
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Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
keinerlei Verbesserungen der Situation nach sich zogen. Die Schülerin erkannte das Problem nicht, sie nahm an, die Bewohnerin sei wegen der Prüfungssituation aufgeregt und würde sich in ihre Aufregung reinsteigern. Zum Glück brach sie die Bewegungsübungen dann ganz ab, sonst hätte ich unter den Gesichtspunkten „der gefährlichen Pflege“ einschreiten müssen. Nach der Versorgung, in der Eigenreflexionszeit, die zur praktischen Prüfung gehört, erklärte die Schülerin den Abbruch der Bewegungsübungen dann mit der gesteigerten Nervosität der Bewohnerin. Im anschließenden Reflexionsgespräch mit ihrer Praxisanleitung, ohne die Schülerin, im Reflexionsgespräch mit ihrer Praxisanleitung, brachte diese dann dasselbe Argument und ich musste die Praxisanleitung dann leider eines Besseren belehren. Denn es lag keineswegs an der Prüfungssituation, die Pflegebedürftige hatte bei der hohen körperlichen Anspannung keine Chance zu atmen. Sie konnte ihr Körpergewicht schon während der Körperpflege nicht vernünftig abgeben und hatte die ganze Zeit über eine erhöhte Körperspannung, mit dem Resultat „eingeschränkter Atembewegungen“. Durch die Bewegungsübungen wurde ihre Körperspannung dann so hoch, dass sie gar nicht mehr atmen konnte, weil sie keine Positionsunterstützungsmaterialien im Bett hatte, um besser ihr Gewicht über die funktionale Rückseite abgeben zu können. Sie musste ihr Gewicht zum größten Teil die ganze Zeit halten und heben– und das, obwohl sie eine chronische Atemwegserkrankung hatte und unter leichten Herz-Kreislauf-Problemen litt.
Die Praxisanleitung hatte leider keinerlei Kenntnisse über Kinaesthetics in der Pflege, aber die Schülerin hatte bei mir in ihrer theoretischen Ausbildung einen Kinaesthetics-Grundkurs absolviert und wusste um die anatomischen Zusammenhänge innerhalb einer Position auch in Bezug auf die körperliche Bewegung. Ich legte der Praxisanleitung nahe, doch einen solchen Grundkurs zu besuchen, schon unter dem Gesichtspunkt, dass sie als Praxisanleitung durch ihre anzuleitenden Schüler mit diesem Thema konfrontiert wird, denn Kinaesthetics ist Bestandteil des Curriculums der Ausbildung. Das Atmen ist in erster Linie eine unwillkürliche Aktivität, die über das Atemzentrum im verlängerten Rückenmark gesteuert wird. Sie kann jedoch auch zum Teil willentlich aktiv beeinflusst werden. Um in jeder Position und während jeder Aktivität gut atmen zu können, ist es generell und insbesondere bei atemwegserkrankten Menschen wichtig, auf die funktionale Anatomie des Körpers zu achten. Das Gewicht des Körpers sollte gut über die Knochen, die Massen und die funktionale Rückseite in die Umgebung abgeleitet werden können, damit der Mensch entspannt ist und sich gut bewegen kann. So kann er sich über Ziehen und Drücken (siehe Konzept Anstrengung) während der Einatmungsphase gut strecken, bei der Ausatmungsphase gut beugen und sich in der Atempause entspannt in die Ausgangsposition zurückbegeben. Wie jede Aktivität ist auch das Atmen eine Ganzkörperaktivität. Der ganze Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Körper ist daran beteiligt, das Gleichgewicht innerhalb der Position zu kontrollieren und die Atembewegungen auszuführen (siehe Konzept Menschliche Funktion). Die beste Position für die Atmung sind die Bauchposition, der Kutschersitz oder auch der Handkniestand. In diesen Positionen wird die Atmung nicht durch die Schwerkraft behindert, sondern unterstützt. Die Extremitäten können zudem durch aktives Drücken in die Umgebung die Gewichts- und Bewegungskontrolle während der Atmung gut unterstützen. Es kann eventuell durch die Atmungserkrankung anfallendes Sekret in der Lunge mithilfe der Schwerkraft direkt über die Atemwege ohne große Kraftanstrengung durch leichtes Hüsteln herausbefördert werden. Die schlechteste Position für die Atmung ist die Rückenposition. In dieser Position müssen die Atembewegungen entgegen der Schwerkraft ausgeführt werden. Die Extremitäten können nicht gut zum Drücken in die Umgebung genutzt werden, um die Atembewegungen zu unterstützen. Das Sekret fließt in entgegengesetzter Richtung der Atemwege und sammelt sich in den rückwärtigen Lungenarealen im Rücken. Es kann nur mit größerer Kraftanstrengung entgegen der Schwerkraft in Richtung Brustkorb in die Atemwege abgehustet werden.
BEISPIEL ATEMWEGSERKRANKUNG „HUSTEN“ (ist wie jede Aktivität eine Ganzkörperaktivität) Konzept – „Interaktion“ Wahrnehmung erfolgt über den kinästhetischen Sinn „die Atmungs- und Hustenbewegungen“ und über den Hör-Sinn „die Atmungs- und Hustengeräusche“ (durch Sekret usw.). Den Zeitraum und -verlauf des Hustens bestimmt der atemwegserkrankte Mensch willentlich selbst oder das Husten entsteht unwillentlich aus dem Reflex heraus. Der innere Raum (Thorax) muss sich weit und eng machen können. Die Anstrengung beim Husten ist meist hoch, da eine ungewohnte Beanspruchung der Bauch- und Brustmuskulatur erforderlich ist. Der Atemwegserkrankte führt die Aktivität Husten selbstständig einseitig durch oder wird durch eine Pflegekraft schrittweise oder gleichzeitig gemeinsam unterstützt.
Menschliche Bewegung In den Zentralmassen findet überwiegend Haltungsbewegung statt und die Arme unterstützen über Transportbewegung das „Einziehen und Weiten“ beim Einziehen der Luft und das „Drücken und Eng-Machen“ beim Ausstoßen der Luft während des Hustens.
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Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
Anstrengung Der Hustende atmet die Luft über Ziehen ein und befördert die Luft intervallartig über Drücken wieder heraus. Es wird außerdem Druck durch Arme, Becken und Beine über die Unterstützungsfläche an die Umgebung abgegeben.
Menschliche Funktion Das Husten ist eine Bewegung am Ort. Die geeignetste Position zum Husten ist der Handkniestand, im Volksmund auch „Vierfüßler“ genannt, weil die Atemwege sich in Richtung der Schwerkraft befinden. So kann auch anfallendes Sekret gut abtransportiert werden und Arme und Füße haben einen guten Kontakt zur Umgebung, um die Aktivität Husten optimal unterstützen zu können. Grundsätzlich kann der Mensch in jeder Position husten, er sucht sich jedoch meist unbewusst, schon wegen der eingeschränkten Atmung und der eventuellen Angst zu ersticken, die optimale Position für seine Bewegungsressourcen aus.
Umgebung In der Position Sitzen müssen die Massen Gesäß und Beine das Gewicht an die Umgebung abgeben können. Die Arme unterstützen den Brustkorb und brauchen eine feste Unterstützungsfläche zum Drücken.
BEISPIEL 1 NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Bleibt bei neurologisch erkrankten Menschen das Körpergewicht innerhalb der eingenommenen Position oder während der Bewegung in der Muskulatur, den Zwischenräumen oder der Funktionalen Vorderseite hängen, führt dies zu Muskelzuckungen. Das Gewicht kann nicht über die funktionale Rückseite der Massen und den Knochen in die Umgebung abgegeben werden. Es kommt zu einer überhöhten Spannung durch das eigene Körpergewicht und die betroffene Muskulatur fängt an zu zittern. Drückt man das Gewicht in den nächstmöglichen Knochen, findet es den Weg über die funktionale Rückseite der Masse in die Umgebung und das Zittern hört auf. Über eine kinästhetische Waschung kann z. B. die Reizweiterleitung zur Bewegungskontrolle gefördert werden.
BEISPIEL 2 NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Ich wurde von einem ambulanten Pflegedienst gebeten, mir die Versorgungssituation einer an Multipler Sklerose erkranken Frau anzusehen. Die Pflegekräfte hatten erhebliche Probleme beim Anziehen der Kompressionsstrümpfe, da die Frau keinerlei Kontrolle über ihre Beine hatte. Diese gerieten beim Anziehen sofort in einen über-
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höhten, nicht kontrollierbaren zitternden Muskeltonus. Wie bereits beschrieben, ist die Ursache für das Muskelzittern das eigene Körpergewicht, welches in der Muskulatur hängen bleibt und an ihr zieht. Ich zeigte den Pflegebedürftigen, wie sie dieses in den Muskeln hängende Gewicht aus den Muskeln über Druck auf Knochen in Richtung eines Knochens mit Umgebungskontakt wegdrücken können, damit die Bewegungskontrolle in den betroffenen Muskeln wieder möglich ist. Wenn sie beim Anziehen der Kompressionsstrümpfe das Gewicht über die Fußsohlenknochen ableiten, z. B. indem sie den Fuß der Klientin gegen ihren Hüftknochen, Oberschenkelknochen oder Schulterknochen stellen und sich mit dem eigenen Körpergewicht dagegenstemmen, um das Gewicht des Beines der Klientin in deren Becken zu drücken, können sie dabei ohne Probleme den Kompressionsstrumpf hoch bewegen.
BEISPIEL 3 NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Ich begleitete eine Kursteilnehmerin in einer Klinik auf die neurologische Station und in ein Zimmer mit Schlaganfallpatienten. Dort lag eine Frau, schätzungsweise Ende 60 oder Anfang 70, mit einer stark schmerzenden Hemiparese des linken Beines im Bett. Das Bein lag erhöht auf einem Kissen und sie hielt es trotz Schmerzmitteln kaum aus. Für mich war klar ersichtlich, dass die Patientin das Gewicht ihres gelähmten Beines über das weiche Kissen darunter nicht in die Umgebung abgeben konnte. Das Gewicht des Beines zog an der Muskulatur und verursachte vermutlich dadurch die Schmerzen. Ich brachte ihren Fuß in 90°-Grad-Stellung und drückte das Gewicht ihres Beines über ihr Fersenbein in ihr Becken. Mein Verdacht bestätigte sich, denn der Schmerz hörte sofort auf und sie rief: „Lassen Sie nicht locker, bitte lassen Sie nicht locker!“ Und ich antwortete: „Lasse ich nicht, aber ich kann ja nicht den ganzen Tag hier stehen bleiben und gegen Ihre Ferse drücken. Wir müssen Ihr Gewicht so organisieren, dass es in die Umgebung abgegeben werden kann. Können Sie sich an die Bettkante setzen?“ Und sie antwortete: „Ja, aber lassen Sie nicht locker.“ Die Kursteilnehmerin stellte das Bett auf die ungefähre Sitzhöhe der Patientin, während ich weiter drückte. Dann bewegte die Patientin sich langsam an die Bettkante, während ich weiter drückend ihrer Bewegung folgte. Als die Patientin in der Sitzposition angekommen war, beugte ich das gestreckte Bein, drückte dabei das Gewicht aber weiterhin in die Knochen der Patientin, über die funktionale Rückseite am Schienbein oberhalb des Knöchels und unterhalb der Kniescheibe, bis es stand und das Eigengewicht des Beines den Weg über die Fußsohle in den Boden fand. Die Patientin war glücklich und erleichtert. Sie bat mich, doch dem Pflegepersonal zu erklären, worauf sie achten müssten, damit sie keine Schmerzen erleiden müsste.
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BEISPIEL 4 NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Ich war zusammen mit einer Kollegin bei einer praktischen Pflegeprüfung einer Schülerin. Es handelte sich um eine 24-Stunden-Pflege von einem jungen beatmungspflichtigen Klienten, welcher mit 19 Jahren einen sehr seltenen Rückenmarksinfarkt hatte. Der junge Mann war Mitte 20, wohnte in einer eigenen Wohnung und studierte an der Universität. Er konnte nur seinen Kopf bewegen und hatte sonst keinerlei Bewegungskontrolle. Bei jeder körperlichen Bewegung durch das Pflegepersonal erhöhte sich sein Muskeltonus extrem unkontrolliert und der ganze Körper begann zu zittern. Mit Druck auf seine Körpermassen in die Umgebung entspannte sich die Muskulatur wieder und das Zittern hörte auf. Mir fiel auf, dass der Körper des jungen Mannes trotz seiner Ganzkörperlähmung muskulös war. Aufgrund des häufigen Muskelzitterns war es mir aber klar. Dieses Muskelzittern war sein Muskelund Herz-Kreislauf-Training. Ohne dieses ständige Muskelzittern wäre seine Muskelmasse längst abgebaut und seine Kreislaufsituation in einem schlechteren Zustand.
BEISPIEL MULTIPLES SKLEROSE, THEMA AUSSCHEIDUNG: Der Ehemann einer MS-kranken Frau besuchte bei mir einen Kinaesthetics-Grundkurs für pflegende Angehörige. Als wir uns mit dem Konzept „Menschliche Funktion“ in Verbindung mit der „Gesundheitsentwicklung“ und dem Thema „Ausscheiden“ beschäftigten, erzählte er, dass es seiner Frau immer große Schwierigkeiten bereiten würde, ihren Stuhlgang auf der Toilette auszuscheiden. Ich analysierte zusammen mit den Teilnehmern die Situation bei der Ausscheidung auf der Toilette in verschiedenen Variationen. Zunächst ist es, wie schon im Kapitel „Gesundheitsentwicklung“ erläutert, wichtig, das Gewicht vom Becken in die Füße zu verschieben, indem man den Oberkörper nach vorn beugt. So hängt das Becken frei über der Toilette, der Druck geht beim Anpressen schräg nach unten und der Stuhl folgt dem Druck in die Toilette. Der Bewegungsablauf ist das parallele Bewegungsmuster (Konzept Menschliche Funktion), da sich das Körpergewicht auf beiden Körperhälften zur gleichen Zeit senkrecht zwischen oben und unten verschiebt. Wenn man das Gewicht zusätzlich auf eine Seite neigt, befindet man sich in einem spiraligem Bewegungsmuster, weil das Körpergewicht über die Seite wechselt. So entsteht auf der gegenüberliegenden Seite ein größerer Raum und der Stuhlgang lässt sich leichter anpressen. In welche Richtung die Neigung erfolgen sollte, ist abhängig von der dominanten oder gesunden (Schlaganfall) Körperseite des jeweiligen Menschen. Am nächsten Kurstag berichtete der Mann, dass diese Art des Ausscheidens seiner Frau sehr geholfen hätte und sie keinerlei Probleme mehr bei ihrer Stuhlausscheidung hatte.
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BEISPIEL THEMA BEWEGUNG IM BECKEN: Eine weitere hilfreiche Variante der Stuhlausscheidung durch das Konzept „Anstrengung“ über den aktiven Einsatz der Anstrengungsarten oder -formen Ziehen & Drücken: Zieht man während der Ausscheidung auf der Toilette mit den Armen den Oberkörper in Beugung nach vorn, um das Gewicht des Oberkörpers einschließlich Becken in Richtung Füße zu verschieben, erhöht sich das Spannungsnetz im Körper. So kommt mehr Druck auf die Füße und die Muskulatur im Becken kann noch effektiver pressen. Aus diesem Grund sind vermutlich z. B. auch das Gebär-Seil oder der Gebärhocker entstanden.
Bobath-Konzept oder Kinaesthetics-Konzept Der Unterschied zwischen dem Bobath-Konzept und dem Kinaesthetics-Konzept ist, dass das Bobath-Konzept in erster Linie ein Therapie-Konzept ist, mit dem Ziel, die durch eine neurologische Erkrankung verlorenen Bewegungsfähigkeiten zurückzugewinnen. Es kommt insbesondere zur Anwendung bei Schlaganfallpatienten. Diese werden über die betroffene Körperhälfte bewegt, um das Zentralnervensystem dazu zu bewegen, einen regenerierenden oder neu strukturierenden Gesundheitsentwicklungsprozess der betroffenen Hirnregionen zur Bewegungssteuerung einzuleiten. Die Möglichkeit der Ressourcenrückgewinnung wird jedoch individuell in Qualität und Quantität am Alter orientiert begrenzt eingeschätzt. Entscheidend für den Erfolg ist der zeitnahe, möglichst sofortige Beginn der Therapie. Ein Schlaganfall kann Menschen jeden Alters treffen, sogar ungeborenes Leben während der Entwicklung im Mutterleib. Je jünger der betroffene Mensch ist, umso größer sind seine Chancen zur Rückgewinnung der betroffenen Bewegungskontrolle. Bei einem sehr alten Menschen ist dieser mögliche Entwicklungszeitraum sehr gering. Er wird auf 6 Monate bis maximal 1 bis 2 Jahre eingestuft und dann ist die Therapiephase beendet. Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf der Therapie, sondern auf einer Kompensation durch die noch vorhandenen Fähigkeiten. Und hier setzt in erster Linie das kinästhetische Denken an, denn da stehen die Ressourcen im Vordergrund und nicht die Probleme. Der betroffene Mensch muss jetzt lernen mit seinen verbleibenden Defiziten zu leben und seine vorhandenen Bewegungsressourcen zu nutzen, um seine Defizite mit seinen vorhandenen Bewegungsressourcen zu kompensieren, und sich so seiner Lebenssituation anzupassen. Bei Bobath geht es um Rückgewinnungsprozesse und bei Kinaesthetics um angepasste Veränderungsprozesse. 124
Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
Eine reine Therapieversorgung durch das Bobath-Konzept birgt bei einer längeren Therapiezeit die Gefahr des Ressourcenverlustes aufgrund der Ressourceneinschränkung durch die Therapie.
Interaktion Es geht um krankheitsbezogene Interaktionsprozesse über Wahrnehmung von Zeit, Raum und Anstrengung bis hin zur Interaktionsform in Bezug zu Körper, Geist und Seele.
Funktionale Anatomie Die funktionale Anatomie des menschlichen Körpers muss so genutzt werden, dass ein die Krankheit betreffender Gesundheitsprozess ermöglicht wird.
BEISPIEL: Drückt Körpergewicht vor allem dauerhaft auf die funktionale Vorderseite des Körpers, werden die Blutgefäße und Nerven komprimiert, was zur Folge hat, dass der Blutdruck steigt und Nerven gereizt werden. Die Durchblutung ist sowohl im Hinals auch im Abfluss gestört, da sowohl Venen als auch Arterien unter dem eigenem Körpergewicht (Druck) zu leiden haben. Das ist schlecht für herz-kreislauf-erkrankte Menschen, für Menschen mit Venen- und Arterienleiden. Es kann zu Taubheitsgefühlen kommen und im schlimmsten Fall kann betroffenes Gewebe absterben. Neurologisch Erkrankte müssen zudem mit unkontrollierten, durch das Gewicht ausgelösten Nervenreaktionen rechnen.
BEISPIEL: Die physiologische, körperliche Bewegung durch die Grundpositionen Beugen und Strecken und die Gewichtsabgabe über die funktionale Rückseite führt zu einer Aktivierung der Akupressur- und Akupunkturpunkte. Sie werden über den Gewichts- und Bewegungsverlauf von einer Grundposition in die nächsthöhere oder -tiefere entlang der Meridiane stimuliert. Bewegungen der Hände und Füße sind besonders stimulierend, aber auch Gesichtsübungen wie Grimassenschneiden oder Lachen. Beim Lachen werden sämtliche Gesichtsmuskeln aktiviert und die entsprechenden Akupressurpunkte/Akupunkturpunkte stimuliert. Durch das Lachen werden die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert (Lachtherapie). Bewusstes Fußabrollen von der Ferse bis zum Fußballen aktiviert beim Gehen nicht nur die Venenmuskelpumpe, sondern stimuliert auch die Akupressurpunkte der Fußsohle. Und Fingergymnastik zum Beispiel mit Handkugeln fördert nicht nur die Handmotorik, sondern stimuliert ebenfalls die Akupressurpunkte der Handinnenfläche.
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Menschliche Bewegung Die Bewegungsbausteine und Bewegungsmuster müssen auf die Krankheit bezogen angepasst werden.
BEISPIEL: Bei neurologisch Erkrankten müssen zum Teil beide Bewegungsbausteine unterstützt werden, um eine möglichst gute und störungsfreie Reizweiterleitung zu gewährleisten und eine normale Grundspannung zwischen den Körpermassen aufzubauen.
Anstrengung Die Anstrengungsarten werden hinsichtlich der Fähigkeiten (Ressourcen) im Einklang mit der Erkrankung ermöglicht und gefördert.
Menschliche Funktion Die Position sollte so gewählt werden, dass sie die Krankheitssituation nicht verschlechtert und gleichzeitig die angestrebte Aktivität ermöglicht.
BEISPIEL: Für Herz-Kreislauf-erkrankte und Reflux-erkrankte Menschen ist beim Liegen die linke Körperseite die physiologisch gesündeste Position. Denn auf der linken Körperhälfte liegend unterstützt man das Herz, weil es sich leicht links befindet und die Aorta nach links in den Bauchraum führt. Das Herz muss so nicht entgegengesetzt der Schwerkraft pumpen. Und wenn man auf der rechten Seite liegt, befindet sich der Magen oben und die Säure läuft durch die Schwerkraft runter in die Speiseröhre, denn der Magen liegt auf der linken Seite und die Speiseröhre befindet sich in der Mitte des Körpers. Auf der linken Seite liegend hat man das Problem nicht, ist daher nicht so stark refluxgefährdet.
Umgebung Die Umgebung sollte so gestaltet sein, dass das Leben mit der Erkrankung in bestmöglicher Qualität erhalten bleibt und der Gesundheitsprozess in Bezug auf die Krankheit gefördert wird. Der Körper leidet an der Erkrankung und braucht die bestmöglichste Bewegungsunterstützung, um sich gesundheitsfördernd entwickeln zu können.
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Themenfeld 3 – Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen
Geist Der Geist leidet mit dem Körper an der Erkrankung und muss lernen, über situationsbezogene gesundheitsfördernde Bewegungsanpassung den Körper zu kontrollieren.
Seele Die Seele braucht trotz Erkrankung positive Empfindungen wie z. B. Zuversicht, um sich zu motivieren.
Themenfeld 4 – Selbstversorgung Inwieweit ist die pflegebedürftige Person in der Lage, die eigene Körperpflege, das Ausscheiden mit Vor- und Nachsorge sowie das An- und Auskleiden oder das Essen und Trinken etc. selbstständig oder mit Unterstützung umzusetzen und durchzuführen? Ziel ist die größtmögliche Unterstützung zur Eigenständigkeit, das bedeutet Kompetenzen „wieder zu erlernen oder neu zu entwickeln“! Also inwieweit ist die Fähigkeit zur Körperpflege, zum Kleiden, zur Ernährung und zur Ausscheidung eingeschränkt? Was hat die pflegebedürftige Person für Gewohnheiten, wie ist ihr Schlafrhythmus (wann wird beispielsweise zu Bett gegangen, gib es Schlafstörungen, Ruhezeiten am Tage, wann wird aufgestanden, gibt es spezielle Bettwäsche, ein spezielles Bett, wann wurde geduscht, gebadet etc.). Ist er/sie Vegetarier, pflegt er/sie Rituale, hat er/sie Wünsche bezüglich der Kleidung (trägt nur Röcke und Blusen, Büstenhalter; trägt immer Krawatten, Hosenträger etc.) oder bezüglich der Pflegeprodukte (welche Seifen oder Parfums, Pflegemittel, welches Make-up, welche anderen Besonderheiten etc.) und gibt es biografische Daten dazu? PFK-Einschätzung: Besonderheiten aufgrund der Bewegungseinschränkung in dem Arm, der Hand, dem Finger, der Schulter auf der Seite … (Stehfähigkeit nicht vorhanden, unselbstständige Durchführung, braucht personelle Hilfe, trägt Stützkorsett), trägt orthopädisch angepasste Schuhe, Bort Peroneusschiene usw., Trink-, Ernährungsprotokoll (warum wie viel Tage Beobachtung), Untergewicht, Übergewicht, isst gerne Schwarzsauer, Nudeln, Kartoffeln, Hausmannsgerichte, Suppen, Eintöpfe, trinkt gerne Cola, Kaffee, Tee, zum Abendessen gerne ein Glas Bier, Rotwein etc., lehnt Kohlenhydrate ab, mag keinen Speck, trinkt niemals Kamillentee etc. Verständnisprozess wird schriftlich festgehalten, Beispiel: Hilfestellung bei der Körperpflege am Waschbecken, beim An- und Auskleiden sowie beim Toilettengang durch das Pflegepersonal, Hilfsmittel: Inkontinenzartikel, Antithrombosestrümpfe Klasse 2 mit Anziehhilfe, Mahlzeiten in der Gemeinschaft, tagsüber im Wohnbereich oder in der Gruppe im Dementen-Bereich, im Zimmer etc., Baden oder Duschen täglich am Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Abend, vor dem Zu-Bett-Gehen, am Morgen vor dem Frühstück, nach dem Frühstück etc., Pflegemittel werden durch Tochter, Sohn, selbstständig durch Betroffenen beschafft, Diäten: Schonkost etc.
Kinästhetische Betrachtung Es geht um die Fähigkeiten zur kontrollierten Durchführung der alltäglichen Aktivitäten des täglichen Lebens. Jede alltägliche Aktivität ist eine Ganzkörperbewegung unter Beteiligung von Körper, Geist und Seele. Die Pflegekraft muss die Situation ganzheitlich individuell betrachten können, um effektive Lernangebote anbieten zu können, die dem Menschen helfen, sich seiner alltäglichen Aktivitäten bezüglich zu entwickeln und ein hohes Maß an Lebensqualität zu erreichen.
Thema Essen und Trinken Körper Essen und Trinken dient der Ernährung unseres Körpers. Ein Mangel an Nahrung und Flüssigkeit führt zum Verhungern und oder Verdursten des Organismus. Die Nahrung ist eine Grundvoraussetzung für unsere Existenz. Der Körper verdaut die aufgenommene Nahrung und verwandelt sie in Energie, um unsere Körperzellen zu ernähren, zu erneuern und zu vermehren. Wie bei allem im Leben ist ein zu wenig oder zu viel ungesund, deshalb sollte man sich immer daran halten, so viel wie nötig und so wenig wie möglich an Essen und Trinken zu sich zu nehmen. In jedem von uns lagern bis zu 140 Milliarden Fettzellen. Sie dienen als Depot-Energiespender für schlechte Zeiten. Bei einem Übermaß an Fettaufnahme wird der Körper stark belastet und es kommt zu Übergewicht. Unsere Oberhaut die Epidermis hat eine Dicke von 0,03 bis 0,04 Millimeter und ist extrem dehnbar, da die Fettzellen darunter sich um das 20-Fache ausdehnen können. In der Unterhaut befinden sich zwischen Blutgefäßen und Nerven die Talgdrüsen, welche die Oberhaut mit Lipiden aus dem Fettgewebe versorgen, um sie vor Witterungseinflüssen zu schützen. Im Unterhautfettgewebe sind unzählige unreife Fettzellen eingelagert, diese können sich bei Bedarf in reife Fettzellen entwickeln. Bei dauerhafter übermäßiger Fettaufnahme wird in den Herzmuskelzellen immer mehr Fett eingelagert, welches diese in weiße Fettdepots verwandelt. Die Fresszellen des Abwehrsystems können die Fettansammlungen nicht mehr bewältigen, was zu Arteriosklerose in den Herzkranzgefäßen führen kann.. Der Botenstoff Angiotensin II regt die Zellteilung an und der Herzmuskel vergrößert sich. Bei zu viel Fett tritt das 128
Themenfeld 4 – Selbstversorgung
Sättigungsgefühl nicht ein, da das Sättigungshormon Leptin die Blut-Hirn-Schranke wegen des zu hohen Blutfettspiegels nicht überwinden kann. Forscher entdeckten im Bauchfett Entzündungen, die Insulinresistenzen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hervorrufen können. Das Unterhautfettgewebe ist harmloser, da es weniger von dem schädlichen Enzym Interleukin-6 enthält. Wenn man schlank und beweglich bleibt und sich wohlfühlt auch im Alter, dann ist man richtig ernährt. Durch unsere Herkunft (unterschiedliche Kontinente = unterschiedliche Essenskultur) und die Mischung der Genetik (durch Völkerwanderung und -vermischung) sind unterschiedliche Verbrennungstypen entstanden. Jede einzelne Zelle unseres Körpers funktioniert wie ein Mikro-Kraftwerk, welches Energie produziert. Ein Kohleofen sollte nicht mit Holz geheizt werden und ein Holzofen nicht mit Kohle. Das führt zu Problemen bei der Verbrennung und die Leistung ist nicht optimal. Um uns richtig zu ernähren, sollten wir wissen, was für ein Verbrennungstyp wir sind, nur so können wir durch falsche Energielieferanten (Nahrungsmittel) auftretende Probleme und Gesundheitsrisiken vermeiden. Unser Körper braucht neben Vitaminen und Mineralstoffen Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate. Je nach Ernährungstyp ist Eiweiß aber nicht gleich Eiweiß, Fett nicht gleich Fett und Kohlenhydrate sind nicht gleich Kohlenhydrate. Ebenso ist die regelmäßige, gleichbleibende Nahrungsaufnahme wichtig, denn ein Ofen muss auch regelmäßig und bedarfsorientiert befeuert werden, damit es nicht zu einem Energieverlust oder Energieüberschuss und somit zu einem Ungleichgewicht in der Energieproduktion kommt. Eine weitere und immer mehr zunehmende Problematik, vermutlich auch durch das reichhaltige Überangebot an Nahrungsmitteln und deren Zusatzstoffe wie Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker, sind die Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Nahrungsmittelallergien und beide wirken sich schlecht auf die Stoffwechselsituation des Betroffenen aus. Wir essen Lebensmittel, doch unser Körper kann nur Nährstoffe verwerten. Er benötigt Eiweißstoffe, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine und Mineralstoffe. Sie haben die Aufgaben, unseren Körper aufzubauen und zu erhalten, ihn mit Energie zu versorgen und ihn vor Störungen im lebensnotwendigen Stoffwechsel zu schützen. „Essen hält Körper, Geist und Seele zusammen!“ Diese Weisheit ist schon uralt. Denn Nahrung bringt uns die Energie, um zu leben, zu wachsen und uns zu entwickeln in Körper, Geist und Seele. Unser Geist bekommt die nötige Energie, um zu denken, und unsere Sinne machen es uns möglich, die zugeführte Nahrung über unsere Seele zu empfinden. Der Mensch ist in Körper, Geist und Seele das, was er isst!
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Interaktion In Ruhe essen und trinken! Denn wie schon erwähnt: „Gut gekaut ist halb verdaut.“ Und man realisiert viel intensiver, was man isst. Das Sättigungsgefühl tritt zudem erst 30 Minuten nach der ersten Nahrungsaufnahme ein. Mit allen Sinnen genießen! Wir haben in der Regel auf das Appetit, was unser Körper braucht, also was ihm fehlt (Kinesiologie) und reagieren auf Nahrungsgerüche, Nahrungsaussehen und Nahrungsgefühl (taktil-haptisch). Das hat die Natur so eingerichtet, um einem Nährstoffmangel vorzubeugen. Das Auge ist mit! Die Nase isst mit! Das Fühlen und Schmecken isst mit! Wir sehen das Essen, wir riechen das Essen, wir fühlen es beim Zubereiten und Zu-unsNehmen und wir schmecken es. Sehr wahrnehmungssensible Menschen spüren schon, bevor sie das Essen zu sich nehmen, über ihre Sinnessysteme, ob ihnen das Nahrungsmittel bekommt und sie es vertragen oder nicht.
Funktionale Anatomie Ist das Gewicht gut über die stabilen Teile der Funktionalen Anatomie (Knochen, Massen, funktionale Rückseite) abgegeben und sind die zur Nahrungsaufnahme erforderlichen Massen (Kopf, Arm, Brustkorb) frei von Gewicht und beweglich, so ist die Voraussetzung zu einer Nahrungsaufnahme gegeben.
Menschliche Bewegung Die Nahrungsaufnahme erfolgt je nach Aneignung/Neigung in einem parallelen oder spiraligen Bewegungsmuster. Wenn nötig, die entsprechenden Bewegungsbausteine und individuellen Bewegungsmuster unterstützen. Nach einem Schlaganfall mit Schluckstörung (durch die Halbseitenlähmung/Hemiplegie) muss z. B. die Nahrungsaufnahme über ein spiraliges Bewegungsmuster erfolgen. Ist die nicht betroffene Seite die bevorzugte Kau- und Schluckseite, gibt es kein großes Problem, anders herum jedoch schon.
Anstrengung Essen und Trinken ohne viel Anstrengung ermöglichen, denn eine hohe Körperspannung vergrößert das Verschluckungsrisiko/Aspirationsrisiko und wirkt sich störend auf den Verdauungsprozess aus, welcher ja bereits durch Nahrungszerkleinerung und Einspeichelung im Mund beginnt. 130
Themenfeld 4 – Selbstversorgung
Menschliche Funktion Eine zur Nahrungsaufnahme geeignete Position finden lassen und gegebenenfalls bei der Positionseinnahme und/oder Nahrungsaufnahme unterstützen. Die Nahrungsaufnahme, Nahrungszerkleinerung und Nahrungsvorverdauung beginnt im Mund und die dafür erforderlichen Bewegungsabläufe brauchen die Bewegungsunterstützung des Kopfes. Aber auch der Brustkorb, die Arme, das Becken und die Beine unterstützen die Aktivität Essen und Trinken, probieren Sie es aus. Haben die Füße keinen vollständigen Kontakt zum Boden (Auflagefläche), fällt das Kauen und Schlucken schwerer und das Aspirationsrisiko beim Essen und Trinken steigt.
Umgebung Eine optimale Umgebung für eine genussvolle, leicht aufnehmbare, verwertbare und verdauliche Nahrungsaufnahme schaffen. Wenn erforderlich, eine Positionsunterstützung durch Umgebungsgestaltung ermöglichen und entsprechende Ess- und Trinkhilfsmittel zur Verfügung stellen.
BEISPIEL TRINKEN IM SITZEN: Pflegebedürftige werden oft zum Essen und Trinken aus dem Bett mobilisiert, da die Sitzposition auf einem Sitzmöbel aufrechter möglich ist, die Beine sich zum Becken im 90°-Grad-Winkel befinden und die Fußsohlen Kontakt zum Boden (Auflagefläche) haben. Ist das Körpergewicht des Pflegebedürftigen in dieser Position kontrolliert abgegeben, kann der Kopf leichter nach vorn geneigt werden. Dadurch können die Trink- und Schluckbewegungen besser angepasst werden und die Aspirationsgefahr wird geringer. Bei alten und geschwächten Menschen ist das Durstempfinden herabgesetzt, da muss nicht zu der Angst, durch Trinken häufig Wasser lassen zu müssen, auch noch die Angst des Verschluckens hinzukommen. Manchen Pflegebedürftigen ist es aufgrund der körperlichen Verfassung nicht möglich, den Arm mit dem gefüllten Trinkgefäß in der Hand an den Mund zu führen. Entweder das Pflegepersonal unterstützt oder das Trinken wird gänzlich unterlassen.
Interaktion Variante 1 mit Unterstützung durch die Pflegekraft Die Bewegung des Armes wird durch Kontakt an der Hand und dem Ellenbogen über den kinästhetischen Sinn in angepasster Zeit im angepassten Bewegungsraum und mit angepasster Anstrengung in gleichzeitig gemeinsamer Interaktion unterstützt. So Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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sind beide Arme entlastet, weil der nicht trinkende Arm unwillkürlich auch Spannung aufbaut, um das Gleichgewicht des Oberkörpers zu kontrollieren. Dann sind die hauptsächlich am Trinken beteiligten Massen entspannter. Variante 2 selbstständig durch angepasste Umgebung Das Gewicht des trinkenden Armes wird über den Ellenbogen durch eine in richtiger Höhe angebrachte Unterstützungsfläche (beispielsweise durch einen Tisch) an die Umgebung abgegeben. So muss nur noch der Unterarm mit Trinkgefäß den kurzen Weg zum Mund hin nach oben gebeugt werden. Bewegt sich der Oberkörper dabei weit genug zur Seite in Richtung Trinkarm, hilft das verschobene Gewicht, das Trinkgefäß über den Unterarm nach oben zum Mund zu bewegen.
Funktionale Anatomie Je besser das Körpergewicht organisiert über die Knochen abgegeben werden kann, umso gewichtsfreier und beweglicher sind die Muskeln, um die Trinkbewegungen ausführen zu können. Die unmittelbar am Trinkprozess beteiligten Massen müssen über die zuständigen Zwischenräume frei beweglich sein. Und das Gewicht muss über die funktionalen Rückseiten der restlichen Massen an die Umgebung abgegeben werden.
Menschliche Bewegung Das Trinken mit einer Hand ist eher ein spiraliges Bewegungsmuster. Wird das Trinkgefäß mit beiden Händen umschlossen und zum Mund geführt, ist das Bewegungsmuster parallel. Das Trinkbewegungsmuster sollte immer ressourcenorientiert angepasst werden.
Anstrengung Die aufgebrachte Anstrengungsart ist das Ziehen. Der Oberkörper wird über die Bewegung zur Seite zum trinkenden Arm gezogen. Der trinkende Arm folgt dabei mit dem Trinkgefäß und wird in Richtung Kopf gezogen. Auch das Einflößen oder Einziehen in den Mund erfolgt über Ziehen der Hand, des Kopfes und der Lippen nach hinten.
Menschliche Funktion Eine zum Trinkprozess geeignete Position auswählen, in der der Pflegebedürftige sein Körpergewicht und seine Bewegung kontrollieren kann. Es ist nicht immer die Sitzposition (siehe Konzeptsystem „Menschliche Funktion – Einfache & Komplexe Funktion“). 132
Themenfeld 4 – Selbstversorgung
Umgebung Die Umgebung positionsgerecht und aktivitätsbewegungsfördernd gestalten.
BEISPIEL HERZ-KREISLAUFERKRANKUNG: Gut gekaut ist halb verdaut. Eine schlechte/gestörte Verdauung belastet den Kreislauf.
BEISPIEL ATEMWEGSERKRANKUNGEN: Luftnot behindert die Kau- und Schluckbewegungen für eine gefahrlose Nahrungsaufnahme und das Aspirationsrisiko ist durch die angespannte Situation sehr hoch. Es ist erforderlich, die Position so zu wählen und zu unterstützen, dass sowohl die Atembewegungen als auch die Trink- und Nahrungsaufnahmebewegungen kontrolliert ausgeführt werden können.
BEISPIEL NEUROLOGISCHE ERKRANKUNGEN: Neurologisch Erkrankte bekommen im Verlauf ihrer Erkrankung häufig Schluckbeschwerden. Die meisten Menschen haben beim Kauen eine bevorzugte Seite. Es lässt sich beobachten und der Zahnarzt kann es am Abnutzungszustand der Zähne erkennen. Die bevorzugte Kau-Seite ist beweglicher, sie kann nicht nur besser kauen, sondern auch besser schlucken. Diese Information ist hilfreich für die Nahrungsanreichung und wichtig für die Aspirationsprophylaxe, besonders im Zusammenhang mit Schluckproblemen. Der Saugreflex bleibt bis zum Lebensende erhalten, auch bei an Demenz Erkrankten. Leider wird demenziell Erkrankten die Möglichkeit, Ihre Nahrung über eine Flasche mit Sauger zu sich zu nehmen, häufig nicht angeboten.
BEISPIEL STOFFWECHSELERKRANKUNGEN: Je bewegungsfördernder die Bewegung, umso besser die Stoffwechselsituation des Körpers. Auch die ausgewählten Lebensmittel fördern oder hemmen die Kau- und Aufnahmebewegungen des Körpers.
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Thema Ausscheidung Körper Ausscheiden bedeutet Loswerden von Abfallprodukten. Verdauungsprobleme sind Ausscheidungsbewegungsprobleme und diese wirken sich auf den Körper, aber auch auf geistige Denkprozesse und seelische Empfindungen aus. Die Verdauungsbewegungen und Ausscheidungsbewegungen sollten, wie bereits unter Kinaesthetics-Gesundheitsentwicklung im Beispiel Stuhlausscheidung erläutert, gesundheitsprozessentwicklungsfördernd unterstützt werden. Die Ernährung und körperliche Bewegung des Organismus sollten verdauungsbewegungsfördernd individuell an die jeweilige Person angepasst sein.
Geist Wie wird man geistigen Ballast wieder los? Über Bewegung, indem man herausfindet, welche Art von Bewegung hilfreich ist, die individuelle geistige Bewegung zu unterstützen, z. B. durch Lesen, Hörbücher hören, Schwimmen oder Laufen oder Kaugummikauen oder auch Spazierengehen. Jeder Mensch hat einen individuellen, unterschiedlich beweglichen Geist und braucht individuell den Geist fördernde Bewegungsreize.
Seele Wie wird man seelischen Ballast wieder los? Auch über Bewegung, indem man herausfindet, welche Art von Bewegung für die individuelle seelische Bewegung hilfreich ist und die seelische Bewegung unterstützt, wie z. B. durch Atemübungen, Entspannungsübungen, etwa. in Form von Yoga. Oder durch Singen oder Musikhören, dadurch kann man z. B. gut seine Emotionen herauslassen. Ein Gespräch führen oder ein Tagebuch schreiben sind auch Möglichkeiten, um seelischen Ballast loszuwerden. Die körperliche Ausscheidung kann mit vielerlei Gefühlen aus der Situation heraus verbunden sein, z. B. einer pflegerischen Abhängigkeit oder diesbezüglichen Erlebnisse aus der Vergangenheit, wie Erziehung oder auch Krieg.
Interaktion Beim Ausscheiden ist der Mensch in einer intimen Interaktion mit seinem Körper, er befindet sich geistig durch Eigenwahrnehmung im Körperinneren. Aber auch äußere Wahrnehmungsbewegungen können das Ausscheiden unterstützen (siehe unten zur Umgebung) oder behindern.
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Themenfeld 4 – Selbstversorgung
Funktionale Anatomie Ist das Gewicht gut über die stabilen Teile (Knochen, Massen, funktionale Rückseite) an die funktionale Anatomie abgegeben und ist die zur Ausscheidung erforderliche Masse im Becken frei von Gewicht und beweglich, so ist die Voraussetzung zur Ausscheidung gegeben.
Menschliche Bewegung Ausscheidung über das parallele Muster = kompakt Der Enddarm verläuft in einer Graden, daher ist es möglich, über das parallele Muster auszuscheiden. Ausscheidung über das spiralige Muster, durch Rechts- oder Links-Neigung = Kompost Der restliche Darm verläuft über die Körperseiten wechselnd in Darmschlingen, sodass das spiralige Bewegungsmuster den Stuhltransport über die Darmperistaltik unterstützt. Wie sind die individuellen geistigen Denkprozesse und die individuellen seelischen Empfindungen, eher parallel gradlinig oder spiralig querdenkend und -fühlend?
Anstrengung Ausscheidung ohne viel Anstrengung ermöglichen. Die körperliche Ausscheidung beinhaltet eher die Anstrengungsart Drücken. Das Drücken kann jedoch auch über das Ziehen, zum Beispiel durch die Arme, unterstützt werden (zuvor erwähnt im Beispiel zu Themenfeld 3).
Menschliche Funktion Eine zur Ausscheidung geeignete Position finden und gegebenenfalls bei der Positionseinnahme und/oder Ausscheidung unterstützen.
Umgebung Körper, Geist und Seele sind auch an der Ausscheidung gemeinschaftlich beteiligt. Nicht ohne Grund gleichen die Bäder und Toiletten heutzutage schon manchmal einer Wellnessoase. Da gibt es z. B. Bilder wie Meer- und Strandmotive, entsprechende Deko, wie z. B. Muscheln zum Anfassen, Musik oder Wassergeräusche, Raumdüfte, beheizte Toilettendeckel und vieles mehr.
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BEISPIEL HERZ-KREISLAUF-ERKRANKUNG: Wie schon erwähnt ist eine schlechte Verdauung herz-kreislauf-belastend und es gibt alte und auch kranke Menschen, die unter dem Verdauungs- und Ausscheidungsprozess kollabieren. Das Blut wird nach dem Essen hauptsächlich zur Verdauung benötigt und währenddessen wird das Gehirn auf Sparflamme mit Blut versorgt. Ist die Versorgung durch die schlechte Kreislaufsituation aufgrund des Alters oder der Erkrankung sowieso schon herabgesetzt, dann kommt es während der Verdauung und Ausscheidung zu einer extremen Mangelversorgung, wodurch der Kollaps ausgelöst wird. Wie bereits unter dem Kapitel Gesundheitsentwicklung erläutert, kann zudem eine falsche Ausscheidungsbewegung den Druck im Körper erhöhen und eine Kettenreaktion auslösen, die z. B. zu einem Herzinfarkt, einer Embolie oder einem Schlaganfall führt.
BEISPIEL ATEMWEGSERKRANKUNG: Atmung und Kreislauf gehören zusammen, denn der Herzmuskel muss mit Sauerstoff versorgt werden, um seine Arbeit tun zu können, und die Lunge braucht ausreichend Blut für den Gasaustausch. Es ist also nicht verwunderlich, dass auch atemwegserkrankte Menschen während der Verdauung und Ausscheidung Probleme bekommen können. Steigt der Druck im Körper bei der Verdauung und Ausscheidung an und kann nicht entsprechend physiologisch entweichen, dann wird die vielleicht ohnehin problematische Atmung z. B. bei einem Asthmatiker noch problematischer und es kann zu einer extremen Atemnot kommen. Die Atembewegungen müssen dann während der Verdauung und Ausscheidung gesundheitsprozessfördernd unterstützt werden.
BEISPIEL NEUROLOGISCHE ERKRANKUNG: Neurologisch erkrankte Menschen haben Bewegungssteuerungskontrollprobleme aufgrund ihrer gestörten Reizweiterleitung. Da auch die Verdauungs- und Ausscheidungsprozesse Bewegungen sind, kann es diesbezüglich für neurologisch Erkrankte natürlich Probleme geben. Hier ist eine Bewegungsunterstützung erforderlich, die die Reizweiterleitung weder blockiert noch behindert, sondern die Reizweiterleitung bewegungsfördernd aktiviert und stimuliert.
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BEISPIEL STOFFWECHSELERKRANKUNGEN: Wie schon bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme erwähnt: je bewegungsfördernder die Bewegung, umso besser die Stoffwechselsituation des Körpers, denn wie bereits mehrfach genannt ist „gut gekaut halb verdaut". Auch fördern oder hemmen hier die ausgewählten Lebensmittel die Verdauungs- und Ausscheidungsbewegungen des Körpers.
Thema Pflegen Sich zu pflegen bedeutet nicht nur die körperliche Reinigung durchzuführen, man ist dabei in Kommunikation mit dem eigenen Körper und spricht immer auch den Geist und die Seele an. Die eigene Körperpflege trägt ganz entscheidend zum Wohlbefinden eines Menschen bei. Verschiedene Kulturen führen Reinigungsrituale durch, um auch eine seelische Reinigung zu erreichen. Die heutige Gesellschaft macht Wellness-Urlaub, um sich ganzheitlich etwas Gutes zu tun und gesundheitlich-prophylaktische Psychohygiene zu betreiben. Die körperliche Pflege hat also eine gesundheitsfördernde und das Wohlbefinden fördernde Bedeutung.
Körper Die körperliche Pflege besteht darin, ihn zu reinigen und gesund zu erhalten. Ganzkörperwaschungen: –– Belebende Waschung: Sie regt die Durchblutung und den Kreislauf an, kann jedoch auch körperlich verwirren (Orientierung). Die Waschrichtung ist entgegengesetzt der Haarwuchsrichtung. –– Beruhigende Waschung: Sie hat eine beruhigende, streichelnde Wirkung, macht unter Umständen müde und senkt den Blutdruck, sie kann auch körperlich verwirren (Orientierung). Die Waschrichtung verläuft mit der Haarwuchsrichtung. –– Kinästhetische-Waschung: Sie hilft zur Körperorientierung, fördert die Bewegung und unterstützt die inneren Prozesse in unserem Organismus. Der Körper wird dem Verlauf nach über die funktionale Rückseite zur Streckung nach unten gewaschen, abgetrocknet oder eingecremt und dem Verlauf nach über die funktionale Vorderseite zur Beugung nach oben gewaschen, abgetrocknet oder eingecremt.
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Beispiel Basale Stimulation (Körperkontur, Körperhaltung und Gangbild) Wenn man bei einer auf dem Rücken liegenden Person zu zweit mit einem trockenen Waschlappen unter Druck in entgegengesetzter Richtung (einer beginnt am Scheitelpunkt des Kopfes und der andere an der Fußaußenkante) und gleicher Geschwindigkeit in mehrfacher Wiederholung (zirka 7 bis10 mal immer in gleicher Richtung vom Scheitelpunkt zur Fußaußenkante oder von der Fußaußenkante zum Scheitelpunkt) die seitliche Körperkontur entlangfährt, dann wird die Person, wenn sie aufsteht und geht, Schwierigkeiten haben, gerade zu gehen. Ihre Körperhaltung wird eine sichtbare Schräglage haben, es können zudem Schwindelgefühle auftreten. Um den Zustand wieder zu korrigieren, ist es erforderlich, die gleiche Prozedur andersherum (der am Scheitelpunkt begonnen hat, beginnt dann auf seiner Seite an der Fußaußenkante und umgekehrt) nochmals durchzuführen. Diese Art der Stimulation würde sich bei Hemiplegikern anbieten, um die körperliche Schräglage durch den Schlaganfall zu korrigieren.
Geist Der Geist wird ja auch als das höhere Selbst bezeichnet. Er ist wie auch Körper und Seele stets in Bewegung. Den Geist zu pflegen bedeutet, ihn zu fordern. Nicht überfordern und nicht unterfordern, sondern fordern, herausfordern, fördern. Sich mit einem Thema zu beschäftigen, das ihn interessiert, den Geist weckt, ihn wach macht. Ihm die Möglichkeit gibt, Dinge zu verarbeiten, neu zu sortieren, Ordnung zu schaffen in seinem Chaos, damit er wieder ein neues Chaos verursachen kann. Lernen und Entwicklung ist ein Wechsel von Chaos und Ordnung. Deshalb ist es auch zum Lernen erforderlich, erst einmal Chaos zuzulassen. Ich würde sagen Chaos ist Anspannung und Ordnung ist Entspannung. Beim Ordnen wird natürlich auch verdaut und entsorgt bzw. ausgeschieden. Man könnte auch sagen, es ist eine Art geistige Reinigung.
Seele Eine bewusste Zeit für die Seele zu haben und eine Art seelische Reinigung durchzuführen bedeutet, die Seele baumeln zu lassen, mit den Sinnen bewusst zu genießen, sich etwas Gutes zu tun. Sich des Lebens und der Lebendigkeit bewusst zu sein und sich bewusst wahrzunehmen. Über welche Sinnessysteme man besonders entspannen, abspannen kann, das ist bei jedem Menschen individuell verschieden, da wir verschiedene Erfahrungen gemacht und Vorlieben entwickelt haben.
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BEISPIEL: Ein ambulanter Pflegedienst bat mich, mir eine im Bett lebende alte Dame mit hohem Muskeltonus und extremer Streckkontraktur der Beine in überschlagener Position anzusehen. Sie machten sich Sorgen, weil die Frau bei jeder Bewegung durch das Pflegepersonal während der Versorgung so laut schreien würde, dass es im ganzen Wohnblock zu hören war und sich sicher irgendwann jemand beschweren würde oder die Polizei rufen würde wegen angenommener Misshandlung. Hinzu kommt noch, dass die Intimpflege der Frau durch die gestreckten, eng übereinandergeschlagenen Beine nicht mehr durchführbar war. Ich sah, wie erwartet, dass der Muskeltonus der Frau extrem hoch war, weil sie ihr ganzes Körpergewicht durch Überstreckung hochhob. Sie konnte es nicht wirklich richtig in der Umgebung abgeben. Alle Zwischenräume schienen vollends geschlossen zu sein. Ich fuhr mir das Bett auf Arbeitshöhe und stellte mich im Ausfallschritt an das Bettende. Dann nahm ich den Fuß des oben liegenden Beines der übereinandergeschlagenen Beine in meine Hände, drückte mit meinem Körpergewicht durch rhythmisches Vorbeugen meines Oberkörpers langsam stoßweise schaukelnd (über Haltungsbewegung) das Gewicht des Beines fortwährend ins Becken der Frau und brachte ihren steifen Körper in Bewegung. Die Massen stießen sich bis zum Kopf durch mein stetig kurzes Drücken über den Fuß in Richtung Becken von einer Masse zur anderen an und ließ ich locker, fielen die Massen am Bein beginnend zurück und das Gewicht der Massen zog eine Masse nach der anderen Richtung Fuß hinter sich her. So lockerten sich die angespannten Zwischenräume zwischen den Körpermassen. Zum Erstaunen der anwesenden Pflegekräfte schrie die alte Dame nicht, sondern stöhnte nur unter dem Lockern ihrer Körperspannung. Denn ich half der Frau das Gewicht ihrer Körpermassen zu kontrollieren, indem ich es über Haltungsbewegung in Bewegung brachte. Sie musste es so nicht mehr festhalten und konnte ihre Körperspannung lockern, also langsam loslassen. Das dauert natürlich seine Zeit. Stellen Sie sich vor, Sie sind vor lauter Anspannung regelrecht verkrampft, dann können Sie auch nicht so einfach lockerlassen. Eine extreme Anspannung kann sich nur langsam lösen, die zuvor komprimierten Blutgefäße werden wieder durchlässiger, die Durchblutung der betroffenen Muskeln ist wieder ausreichend gewährleistet und Schmerzen lassen langsam nach. Die alte Dame wurde etwas lockerer und ich begann das Bein im Hüftgelenk zu bewegen, um zu sehen wie groß der Bewegungsraum in diesem Zwischenraum war. Da das Knie sich nicht beugen und anwinkeln ließ, bewegte ich das ganze Bein soweit es ging in Richtung Decke, ohne es zu heben, indem ich das Gewicht des Beines dabei in das Becken der Frau drückte. Es ließ sich nur zwei Zentimeter aufwärts bewegen, nicht genug, um eine Intimpflege durchführen zu können. An dieser Bewegungsgrenze drückte ich das Bein erneut langsam stoßweise über Haltungsbewegung in das Becken, bis das Hüftgelenk lockerer wurde und ich das Bein weiter
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aufwärts bewegen konnte. Von der neuen Bewegungsgrenze aus drückte ich wieder in das Becken usw. (siehe auch Konzept „Menschliche Bewegung – Bewegungsbausteine“), das tat ich so lange, bis kein Erfolg mehr über die Haltungsbewegung erreicht wurde. Am Ende lag das Bein um die 15 bis 20 Zentimeter aufwärts im Abstand zum untersten Bein und man konnte den Intimbereich gut erreichen, um ihn zu versorgen. Die Pflegekräfte bekamen große Augen und konnten es gar nicht glauben. Sie sagten, die Pflegebedürftige hätte vor ein oder zwei Jahren mal Physiotherapie bekommen, und fragten mich, ob das nicht eigentlich die Aufgabe eines Physiotherapeuten ist. Und ich antwortete ihnen, dass es unsere tägliche Arbeit ist, Menschen darin zu unterstützen, sich zu bewege,n und ihnen zu helfen, ihre Bewegungsfähigkeit zu erhalten. Nicht wir unterstützen den Physiotherapeuten, sondern der Physiotherapeut unterstützt uns. Vollendete Kontrakturen sind irreversibel und lassen sich natürlich nicht mehr rückbilden. Umso wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die Zwischenräume der pflegebedürftigen alten Dame sich wieder besser bewegen können. Es reicht nicht, wenn ein Physiotherapeut zweimal die Woche kommt. Alle Zwischenräume müssen mindestens dreimal am Tag bewegt werden oder bei extremer Anspannung der Zwischenräume wie in diesem Fall auch über Haltungsbewegung gelockert werden. Ich zeigte den Pflegekräften noch, wie sie über Positionsunterstützung dafür sorgen können, dass die alte Dame sich gar nicht erst so extrem anspannt und hochhebt (siehe auch Konzept „Menschliche Funktion – Einfache Funktion“).
Interaktion Während der Körperpflege ist der Mensch normalerweise mit sich selbst in Interaktion. Muss die Körperpflege aufgrund von Pflegebedürftigkeit teilweise oder vollständig von Pflegekräften übernommen werden, ist es wichtig, die Eigenwahrnehmung und Selbstkommunikation des Pflegebedürftigen zu aktivieren und zu mobilisieren.
Funktionale Anatomie Der Pflegebedürftige sollte während der Körperpflege seine funktionale Anatomie erfahren können, um sich seiner körperlichen Anatomie und Beweglichkeit bewusst zu sein.
Menschliche Bewegung Der Pflegebedürftige sollte seine Bewegungsmuster während der Körperpflege erfahren und lernen, diese bewusst anpassend und aktivierend zu gestalten.
Anstrengung Fordern, aber nicht überfordern. Dem Pflegebedürftigen das Ziehen und Drücken während des Sich Pflegens ressourcenabhängig gestalten und es für ihn erfahrbar machen. 140
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Menschliche Funktion Den Pflegebedürftigen dabei unterstützen, eine geeignete Position zur Durchführung der Körperpflege zu finden und die zur Körperpflege erforderlichen Bewegungsabläufe zu gestalten.
Umgebung Die Umgebung für den Pflegebedürftigen erfahrbar machen und mit ihm entsprechend der Körperpflege bewegungsfördernd gestalten.
BEISPIEL: Es gibt weiche, mittelharte und harte Zahnbürsten. Verwendet der Pflegebedürftige beim Putzen viel Kraft, dann entsteht viel Druck auf dem Zahnfleisch, daher sollte der Pflegebedürftige dann eine weiche Zahnbürste benutzen, um sein Zahnfleisch nicht zu verletzen. Bei wenig Kraft reicht der Druck zum Reinigen der Zähne bei einer weichen Zahnbürste unter Umständen nicht aus, dann braucht der Pflegebedürftige eine harte Zahnbürste. Und bei normaler Kraftanstrengung ist die mittelharte Zahnbürste zu empfehlen. Mit Zahnbürsten die Zähne zu putzen, fördert die Handmotorik. Elektrische Zahnbürsten sollten daher nur verwendet werden, wenn eine gute Zahnreinigung aufgrund von Zeit, Raum und Anstrengung (Konzept Interaktion Bewegungselemente) nicht mehr gewährleistet ist.
Sich kleiden können Die Kleidung zieht uns nicht nur an und ist weit mehr als ein Schutz vor Wärme und Kälte. Sie spiegelt auch die Persönlichkeit und den sozialen Stand eines Menschen wider und kann vorteilhaft oder unvorteilhaft sein. Über die Kleidung stellt der Mensch etwas dar. Er identifiziert sich mit etwas und kann seinen persönlichen Typ kreieren. Kleidung ist deshalb auch ein Lebensgefühl. Sie sollte unseren Typ unterstreichen, bequem sein und unsere Beweglichkeit fördern.
Körper Der Körper erfährt Schutz durch die Kleidung, die ihn umgibt.
Geist Der Geist wird angeregt durch die Ausstrahlung der Farben und Materialien. Er wird durch die Kleidung inspiriert, z. B. eine Rolle zu spielen. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Seele Die Seele fühlt sich durch die Farben und Materialien der Kleidung geborgen und wohl oder nicht geborgen und unwohl. Die Seele kleidet sich oder verkleidet sich. Sie setzt sich bildlich gesehen eine Maske auf und die Kleidung hilft ihr dabei, eine Rolle zu spüren – sprich „Kleider machen Leute“ – und/oder sich sicher und wohlzufühlen.
Interaktion Wie geht man mit seiner Kleidung in Interaktion, gestaltet Zeit, Bewegungsraum und Anstrengung. Einseitig, schrittweise oder gleichzeitig gemeinsam?
Funktionale Anatomie Wie werden das Körpergewicht und die Bewegung jeweils während des An- und Auskleidens organisiert und wie kommen die Körpermassen in und aus der Kleidung?
Menschliche Bewegung Welches Bewegungsmuster wird jeweils zum An- und Auskleiden bevorzugt, oder wird gewechselt?
Anstrengung Wird die Kleidung beim An- und Ausziehen über die Massen gezogen oder werden die Massen in die Kleidung gedrückt?
Menschliche Funktion In welcher Position findet jeweils das An- und Auskleiden statt und wird die Position zwischendurch gewechselt?
Umgebung Wie wird die Umgebung zum An- und Auskleiden am besten gestaltet? Und nicht zu vergessen: Die Kleidung selbst ist auch eine Umgebung. Bevorzugt man beispielsweise enge oder weite Kleidung? Starre oder elastische Kleidung? Weiche oder raue Kleidung? Kunstfaser oder Naturfaser?
BEISPIEL: Enge und elastische Kleidung fördert die Anstrengungskraft des Ziehens und Drückens. Normal geschnittene Kleidung ohne Elastan-Anteil fördert die Erhaltung und Entwicklung des inneren Bewegungsraumes (Konzept Interaktion Bewegungselemente). Streck- und Dehnbewegungen sind gut für die Elastizität von Muskeln, Sehnen und Bändern. 142
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Allergien Die Inhaltsstoffe, aus denen die Pelz-, Leder-, Stoff- oder Wollmaterialien der Kleidung bestehen, können Allergien verursachen und zu Hautreaktionen führen. Diese machen sich dann durch Hautausschläge, Kratzspuren oder Juckreiz auf der Haut bemerkbar. Fell und Tierhaare können sogar Erkältungssymptome verursachen oder – schlimmer – zu Atemproblemen führen. Wasch- und Pflegemittel der Kleidung können ebenfalls allergieauslösende Stoffe beinhalten. Bei Allergien wird das Abwehrsystem des menschlichen Organismus fälschlicherweise und als Überschussreaktion in Bewegung gebracht. Histamin wird ausgeschüttet und die Haut- und Schleimhäute schwellen an, im schlimmsten Fall kommt es zu einem lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock. Allerdings tritt dieser meist bei Nahrungsmittelallergien auf.
Farben Farbe bringt im wahrsten Sinne des Wortes Bewegung und Leben ins Spiel. Durch Farben fühlen wir und werden inspiriert. Wäre die Welt um uns farblos und trist, fehlte uns Energie.
BEISPIEL FARBENBLINDE MENSCHEN: Farbenblinde Menschen können bestimmte Farbtöne nicht voneinander unterscheiden (es gibt rund 300 Millionen Menschen auf der Welt). Aufgrund der Entwicklung einer Spezialbrille durch einen amerikanischen Brillenhersteller ist es ihnen möglich geworden, Farben zu unterscheiden und zu sehen. Es gibt Videos dazu im Netz, die zeigen, wie überwältigt und emotional ergriffen betroffene Menschen reagieren. Sie wollen die Brille nicht mehr absetzen. Farben drücken etwas aus und bringen uns über das Sehen in Bewegung. Viele Menschen haben zum Beispiel eine oder mehrere Lieblingsfarben, mit denen sie sich wohl bis glücklich fühlen.
Farbtypen Die unterschiedlichen menschlichen Farbtypen hängen mit der Farbe der Haut zusammen, die von rosa, über bläulich, und olivfarben bis braun und schwarz, je nach Hauttyp, schimmern kann. Durch die Farbe der Kleidung wird dieses Schimmern günstig, frisch, gesund oder ungünstig, welk, krank hervorgehoben.
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Es gibt hauptsächlich 4 verschiedene Farbtypen: –– den sogenannten Frühlingstyp, –– den sogenannten Sommertyp, –– den sogenannten Herbsttyp, –– den sogenannten Wintertyp. Farben geben wie alle Dinge unterschiedliche Energien ab und diese wirken auf die Umgebung. –– Die Farbe Rot ist sehr energiereich, gibt viel Wärme ab, macht aggressiv, regt den Kreislauf und den Stoffwechsel an. Wenn man immer unter kalten Füßen leidet, sollte man rote Socken tragen. Blaue Socken sind da nicht so hilfreich. –– Die Farbe Blau ist kühl, man friert schneller (je dunkler, desto kühler), sie bremst den Appetit, vermittelt ein Gefühl von Frische und kann sich daher fördernd auf die Atmung auswirken. –– Die Farbe Gelb erhöht die Aufmerksamkeit, man kann sich besser konzentrieren und eine schwarze Schrift liest sich besser auf gelbem Untergrund als auf weißem, dies ist hilfreich für die Umgebungsgestaltung von Demenzkranken. –– Die Farbe Lila fördert unsere Kreativität und ist daher gut fürs Erlernen geistiger Denkprozesse geeignet, z. B. im Bereich Therapie. –– Die Farbe Grün hat eine stark beruhigende Wirkung, deshalb sind OP-Räume grün gestaltet, und sie wirkt auch beruhigend auf den Kreislauf. –– Die Farbe Orange gibt ein harmonisches Gefühl von Geborgenheit. Eine gute Unterstützung für neurologisch Erkrankte oder seelisch depressive Menschen. Sie können es ausprobieren, indem Sie sich unter ein einfarbiges Tuch der jeweiligen Farbe setzen. Blinde feinfühlige Menschen können die Farbe und das Material taktil-haptisch erfühlen.
Ruhen, schlafen und sich entspannen Ruhen und Schlafen ist ein elementares Grundbedürfnis des Menschen. Ein Drittel des Lebens verbringen wir mit Schlafen. Unser Körper und unsere Psyche regenerieren sich während der verschiedenen Schlaf- und Traumphasen. Schlafmangel und Schlafentzug haben deshalb immer Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Wir folgen in unserem Schlaf-Wach-Rhythmus dem Hell-Dunkel-Rhythmus der Natur.
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Der gesunde Schlaf Körper Der menschliche Körper hat nur begrenzte Energiereserven zur Verfügung, um seine täglichen Aktivitäten bewältigen zu können. Aus diesem Grund braucht der Körper Schlaf, um sich zu regenerieren und neue Energie zu sammeln. Im Schlaf werden Körperfunktionen wie Atmung, Puls und Stoffwechsel verlangsamt. Der Muskeltonus lässt nach, Blutdruck und Körpertemperatur sinken ab. Um schlafen zu können, muss sich der Körper fallen lassen und dazu muss die gesamte Muskulatur sich entspannen. Entspannen kann sich die Muskulatur jedoch nur, wenn sie nicht mit Halten und Heben des Körpergewichtes beschäftigt ist. Und das setzt voraus, dass das Körpergewicht vollständig über die Knochen auf der Funktionalen Rückseiten der Massen des Körpers an die Umgebung abgegeben wird. Je größer die Abgabefläche für das Körpergewicht, umso größer die Entspannung der Muskulatur und umso schneller und besser der Schlaf.
Geist und Seele Die Aktivität unseres Geistes sowie unser seelisches Empfinden beeinflussen unsere Muskelspannung, sie tragen zu der möglichen körperlichen Entspannung oder Anspannung bei und fördern oder behindern unseren Schlaf. Unser Geist und unsere Seele ruhen nicht, sie verarbeiten den Tag, während unser Körper schläft. Die Denkprozesse werden während des Schlafes nicht weniger, sie sind nur anders. Ein Mensch von 70 Jahren hat im Durchschnitt 6 Jahre mit Träumen verbracht. Für einen gesunden und erholsamen Schlaf sind also die geistige Aktivität, das seelische Empfinden und die Schlafposition sowie die Schlafumgebung entscheidend. Die Voraussetzung für einen erholsamen Schlaf ist Entspannung und Entspannung bedeutet loslassen. Um sich richtig entspannen zu können, braucht man eine für sich geeignete Schlafposition und eine gute Umgebung zur optimalen Gewichtsabgabe. Die optimale Gewichtsabgabe entspannt unsere Muskulatur, die ist dann frei für Bewegung zur Gewichtskontrolle innerhalb der Position. Es können jederzeit unterbewusst Mikrobewegungen stattfinden, um Druckveränderungen durchzuführen und Gewebeschäden durch Drucküberlastung zu verhindern.
Interaktion Wird die Wahrnehmung entsprechend unterstützt und gefördert? Je entspannter die Muskulatur, desto bewegungsfähiger der physiologische Körper, umso besser die Wahrnehmung, die Wahrnehmungsverarbeitung und die Reaktionsfähigkeit des Organismus. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Funktionale Anatomie Ist das Körpergewicht gut kontrolliert abgegeben und die Orientierung gewährleistet, um sich gut bewegen und somit gut schlafen zu können?
Menschliche Bewegung Wie bewegt sich die schlafende Person im Bett, ist das gewohnte Bewegungsmuster zum Positionswechsel anwendbar, um einen guten Schlafverlauf zu gewährleisten?
Anstrengung Ist die gewohnte und mögliche Anstrengungsart aufgrund der diesbezüglichen Anstrengungsressourcen zur Gewichts- und Bewegungskontrolle für eine problemlose Schlafsituation anwendbar?
Menschliche Funktion Wurde eine einschlaffördernde und bewegungsfördernde und den Schlaf kontrollierende Position gefunden?
Umgebung Wird die Schlafposition durch die Umgebung optimal gewichts- und bewegungskontrollierend unterstützt?
BEISPIEL: Während eines Kinaesthetics-Aufbaukurses in einer Einrichtung für Behinderte ging es um einen 26 Jahre alten jungen Mann, der tagsüber in der Einrichtung war und ansonsten bei seinen Eltern lebte. Er hatte eine durch Skoliose entstandene stark deformierte Wirbelsäule. Diese stülpte sich so sehr seitlich nach vorn, dass die Bauchorgane in einer großen Wölbung vorstanden. Er befand sich in einem Pflegerollstuhl mit Sitzschale und musste zum Wechseln der Inkontinenzmaterialien auf einen dafür vorgesehenen Pflegetisch transferiert werden. Der Transfer gestaltete sich wegen der angepassten Sitzschale schwierig und konnte nicht vollständig ohne ein kurzes Anheben bewerkstelligt werden, da die Sitzschale keinen Bewegungsraum zuließ. Der junge Mann war sehr angespannt und weinte bei jeder vom Pflegepersonal durchgeführten Bewegung seines Körpers. Aufgrund seiner Bauchwölbung durch die Skoliose konnten die Eltern und das Pflegepersonal ihn im Bett nur auf dem Rücken positionieren, dadurch hatte er ein erheblich hohes Dekubitusrisiko und zeigte bereits diverse Hautrötungen. Er weinte viel und schlief sehr schlecht durch die von der Rückenposition und dem Eigengewicht und dem Druck auf die Wirbelsäule verursachten Rückenschmerzen.
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Das Pflegepersonal wollte gerne eine andere Position für ihn finden, um den Rücken zu entlasten. Nach leichtem Anheben aus der Sitzschale rollte ich ihn vorsichtig über die Rollstuhlseite zunächst in die Seitenposition auf die Pflegeliege. Dann suchten wir brauchbares Unterstützungsmaterial für die Bauchposition zusammen. Es werden die funktionalen Rückseiten der räumlichen Vorderseite des Körpers unterstützt. Das betrifft am Kopf die Bereiche Stirn oder Jochbein, am Brustkorb die Bereiche Schlüsselbeine und Schultern. Die Arme werden je nach Position am Oberarmknochen, Ellenbogen, an Elle und Speiche sowie Handrücken oder Handballen unterstützt. Das Becken bekommt eine Unterstützung an den räumlich nach vorn zeigenden Hüftbeinknochen der Beckenschaufeln. Die Beine werden in den Bereichen Oberschenkelknochen, Schienbein und Fußrücken unterstützt. Die gesamte Unterstützung muss so hoch unterfüttert sein, dass der vorgewölbte Bauch durch die Skoliose nicht aufliegt, damit die Organe vom Körpergewicht nicht gedrückt/erdrückt werden. Der junge Mann entspannte sich während meiner Unterstützung und lächelte uns an, was er zuvor laut dem Pflegepersonal noch nie getan hatte. Es dauerte keine 5 Minuten und er war eingeschlafen. Wir sicherten den Pflegetisch an den Seiten, verdunkelten den Raum und begaben uns ins Nebenzimmer. Alle waren begeistert.
Worum geht es in einer Position? In einer Position geht es darum, das Körpergewicht kontrolliert über die Körperteile (die Massen) an die Umgebung abzugeben. Das bedeutet, über Haltungsbewegung zwischen den Körperteilen (in den Zwischenräumen) das Gewicht der Massen auszubalancieren und es hin und wieder zu verlagern, damit kein schmerzhaftes Druckgeschwür entsteht. Unser Körper besteht aus 7 Körperteilen, einem Kopf, einem Brustkorb, zwei Armen, einem Becken und zwei Beinen. Diese Körperteile bezeichnet man in der Kinaesthetics als Massen, sie sind schwer, stabil, haben viele große Knochen und machen das Körpergewicht aus. Jede Masse muss die Möglichkeit haben, ihr Gewicht an die Umgebung abzugeben oder es an eine andere Masse weiterzuleiten. Alle Massen sind durch Zwischenräume miteinander verbunden. Diese 6 Zwischenräume, ein Hals, zwei Schultergelenke, eine Taille und zwei Hüftgelenke sind weich, instabil, haben viele verbindende Muskeln, sind beweglich und sollten nicht durch Kissen oder Ähnliches blockiert werden. Sie ermöglichen es, unsere Massen zu bewegen und bringen sie zueinander in Beziehung. Der Kopf wird über die Bewegung des Halses kontrolliert und er steht über diesen in Beziehung zum Brustkorb. Der Brustkorb steht über die Schultergelenke in Beziehung zu den Armen und über die Taille in Beziehung zum Becken. Wir kontrollieren über Schultergelenke und Taille unseren Brustkorb. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Die Schultergelenke kontrollieren zudem natürlich das Gewicht und die Bewegung unserer Arme. Unsere Arme haben eine ganz besondere Beziehung zu unserem Brustkorb und helfen ihn zu steuern und zu kontrollieren. Das Becken steht über die Taille in Beziehung zum Brustkorb, und über die Hüftgelenke in Beziehung zu den Beinen. Diese Zwischenräume ermöglichen uns die Kontrolle des Beckens. Über die Hüftgelenke kontrollieren wir zudem das Gewicht und die Bewegung unserer Beine. Die besondere Beziehung der Beine zum Becken hilft uns, das Becken zu steuern und zu kontrollieren. Ein weiterer, wichtiger Aspekt für eine kontrollierte Position ist die Berücksichtigung der funktionellen Vorderseite und Rückseite der Massen. Die Vorderseite einer Masse besteht zum größten Teil aus Muskeln, Nerven und Blutgefäßen. Sie ist instabil, anpassungsfähig, weich, empfindlich, beugt und kontrolliert unser Gewicht über Bewegung. Die Vorderseite sollte nicht mit Druck oder Gewicht belastet sein, da dies den Beugereflex auslöst, die Blutzirkulation durch den Druck auf die Gefäße beeinträchtigt und Schmerz auslösen oder verstärken kann. Es sollten also keine Kissen, Knierollen oder Ähnliches in die räumlich nach hinten zeigende Vorderseite der Extremitäten drücken. Die Rückseite einer Masse besteht zum größten Teil aus Knochen. Sie ist stabil, formbeständig, hart, unempfindlich, streckt und gibt das Gewicht an die umliegende Umgebung ab. Je mehr Umgebung, desto besser ist die Gewichtsabgabe über die Rückseite gewährleistet. Die Muskulatur auf der Vorderseite ist dann nicht mehr mit Halten oder Heben durch nicht abgegebenes Gewicht belastet. Der Mensch ist entspannt, kann sich gut bewegen und sein Gewicht in der Umgebung kontrollieren. Er hat die Kontrolle über seine Position und das Schmerzempfinden reduziert sich so auf ein Minimum. Für eine gute Positionsunterstützung eignen sich gefaltete oder aufgerollte Handtücher, Bettlaken, Bettbezüge oder Tagesdecken, aber auch Keile aus festerem Schaumstoff oder kleine, festere, nicht zu dicke Kissen, um freiliegende Rückseiten auszupolstern und somit für eine optimale druckreduzierende Gewichtsabgabe zu sorgen. Die Muskelanspannung und das Schmerzempfinden sind reduziert. Dicke Federkissen sind nicht geeignet, da man auf ihnen schwebt und das eigene Gewicht hebt. Die Muskelanspannung und zwangsläufig das Schmerzempfinden ist hier sehr hoch!
Der körperliche Schlaf verläuft in 5 Phasen: 1. Phase – Einschlafphase (Dämmerzustand zwischen Wachsein und leichtem Schlaf ) 2. Phase – leichter Schlaf 3. Phase – beginnender Schlaf 148
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4. Phase – Tiefschlaf 5. Phase – REM-Schlaf (REM = rapid eye movements) Die Phasen 1–4 werden als NON-REM Schlaf bezeichnet. Es sind ruhige Schlafphasen. Nach der 4ten Schlafphase werden nach etwa 20–30 Minuten die Phasen 3 und 4 wieder rückwärts durchlaufen. Es folgt die Phase 5, die etwa 70–90 Minuten nach dem Einschlafen beginnt. Ein physiologischer Schlaf ist ein regelmäßiger, wiederkehrender, physiologischer Erholungszustand mit Veränderung der Bewusstseinslage. Er dient als Aufbau- und Erholungsphase und ist lebensnotwendig. Ein gestörter Schlaf führt zu seelischen und körperlichen Gesundheitseinschränkungen. Der Schlafbedarf eines gesunden erwachsenen Menschen beträgt: –– 7–8 Stunden, –– ab 50 Jahre 5–6 Stunden, –– ab 70 Jahren 5,5 Stunden.
Schlaftypen Es gibt Morgenmenschen und Abendmenschen. Morgenmenschen entfalten sich schnell in den Tag hinein und tauchen am Abend schnell in die Tiefschlafphase. Abendmenschen entfalten sich langsam in den Tag hinein und erreichen den Tiefschlaf in der Nacht, meist gegen Ende der Schlafzeit.
Das „Nickerchen“ zwischendurch Das Ruhen oder Ausruhen dient der kurzzeitigen Erholung und ist je nach körperlicher oder psychischer Belastung während des Tages erforderlich. Besonders ältere Menschen brauchen diese sogenannte Ruhepause, um wieder fit zu sein. Für ältere Menschen ist das Mittagsschläfchen ein bewährtes Ritual, welches die Verdauungsvorgänge unterstützt und die notwendige Energie bringt.
Voraussetzungen für gutes Schlafen Wichtig ist ein geregelter Tagesablauf, der in zeitliche Einheiten gegliedert ist und dadurch einen Rhythmus erhält. Handlungen wie abendliche Mundpflege, der Gang zur Toilette, das Zurechtlegen der Wäsche für den nächsten Tag, das Einnehmen der Medikamente, der Schlaftrunk, die Bettlektüre und die Einschlafposition sind wichtige OrienKinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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tierungspunkte und sollten zu festen Zeiten ausgeführt werden, denn Rhythmus und Regelmäßigkeit schaffen Vertrauen und Sicherheit.
Einschlafgewohnheiten –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
Einhalten fester Schlaf- und Aufstehzeiten Einen Abendspaziergang machen Ein beruhigendes Buch lesen oder beruhigende Musik hören Entspannungsübungen, z. B. „Autogenes Training“, durchführen Rhythmische Einreibungen, z. B. ASE (Atemstimulierende Einreibung) bekommen Warme Milch mit Honig oder Beruhigungstee trinken Verzicht auf anregende Genussmittel am späten Nachmittag Ein warmes Bad oder Fußbad evtl. mit Zusätzen wie Lavendel oder Melisse Eine liebevolle pflegerische Hilfestellung, die Gewohnheiten berücksichtigt Eine individuelle und angepasste Schlafposition Warme Socken oder Bettschuhe wegen kalter Füße
Gestörter Schlaf Zirka 30–40 % der über 65-Jährigen klagen über Schlafstörungen. Bevor man von Schlafstörungen spricht, muss abgeklärt werden, ob die Schlafstörungen altersbedingte Veränderungen oder wirkliche Schlafstörungen sind. Altersbedingte Schlafstörungen können meistens bereits durch ein Gespräch gelöst werden. Am häufigsten wird über erschwertes Einschlafen oder zu frühes Aufwachen geklagt.
Ursachen für Einschlafstörungen –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– ––
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Eine hohe Körperspannung durch eine anstrengende Position Eine innere Unruhe Emotionen, wie große Freude, Aufregung, Trauer und Sorgen Eine schwere Mahlzeit am Abend oder zu spätes Essen Anregende Getränke wie Kaffee oder Tee am späten Nachmittag Zu geringe körperliche Anforderung am Tage Körperliche Symptome wie Husten, Schmerzen oder Juckreiz Schnarchen des Bettnachbarn Ein ungewohntes Bett Eine zu weiche Matratze Eine ungewohnte Umgebung Ungewohnte optische und akustische Reize Ein veränderter Tagesrhythmus
Themenfeld 4 – Selbstversorgung
Ursachen für frühes Aufwachen können sein –– –– –– –– –– ––
Zu frühes Zu-Bett-Gehen (besonders im Heim) Schmerzen beim Liegen Hunger Verdauungsprobleme Harndrang Störungen in der Leichtschlafphase, z. B. durch die Nachtwache
Verschiedene Schlafstörungen –– Einschlafstörungen – Einschlafzeit über 30 Minuten –– Durchschlafstörungen – wenn die nächtliche Wachzeit mehr als 30 Minuten beträgt –– Chronische Schlafstörungen – mindestens 3-mal pro Woche über 4 Wochen hinweg Die häufigsten Ursachen für chronische Ein- und Durchschlafstörungen im Alter liegen im psychosozialen Bereich: –– Ängste –– Verlusterleben –– Gefühle der Einsamkeit –– Sorgen um die Familie –– Angst vor der kommenden schlaflosen Nacht
Andere, oft schwerwiegende Ursachen für chronische Ein- und Durchschlafstörungen im Alter: Physisch bedingt: –– Herz- Kreislauferkrankungen –– Lungenerkrankungen –– Stoffwechselerkrankungen –– Neurologische Erkrankungen –– Obstipation –– Nyhturie Psychisch bedingt: –– Stress –– belastende Lebensereignisse –– Depressionen –– Sucht Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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–– Demenz –– Angstzustände Pharmakologisch bedingt: –– Alkohol/Nikotin –– Diuretika –– Koffein
Anforderungen an das Pflegebett Das Pflegebett sollte auf die individuelle Pflegesituation abgestimmt sein und die pflegerische Hilfestellung erleichtern. –– Eine ausreichende Breite und Länge des Bettes, –– eine in der Höhe verstellbare Liegefläche, –– die Verstellbarkeit von Rücken und Kopfteil, –– ein ausreichend langes Rückenteil, –– Beweglichkeit des Bettes durch feststellbare Räder, –– Bettleiter oder Tau für das Bett zum Hinsetzen, –– Bettbegrenzer, –– evtl. Urin-Flaschenhalter gehören dazu.
Bettzubehör –– –– –– –– –– ––
Eine atmungsaktive Gummiunterlage Stecklaken Krankenunterlage eine nicht zu weiche Matratze für eine gute Gewichtsabgabe einen waschbaren Matratzenschutz aus weichem luftdurchlässigem Material eine Zudecke/eventuell eine Gewichtsdecke zur besseren Gewichtsabgabe (wodurch eine bessere Muskelentspannung möglich wird) und Wahrnehmungsförderung.
Themenfeld 5 – Leben in sozialen Beziehungen Inwieweit kann die pflegebedürftige Person Aktivitäten im näheren häuslichen Umfeld selbstständig oder mit Unterstützung gestalten, wer unterstützt aus dem privaten Umfeld oder Besuchsdienst etc.? Gewohnheiten, Wünsche, Bedürfnisse und biografische Daten beschreiben (Hobbies, Sammelleidenschaft, was wurde gern gelesen: Bücher (Krimis, Biografien, Romane), Zeitschriften – welche?, Zeitungen – welche?, Fern152
Themenfeld 5 – Leben in sozialen Beziehungen
sehsendungen – welche?, Vereine, Politische Vereine, Theater, Musik – welche? (Oper, Konzerte etc.), kirchliches Engagement etc. PFK-Einschätzung: Hat eine Tagesstruktur, die auf die häusliche Situation der Familie ihrer Tochter/ihres Sohnes abgestimmt ist; aus ihrem früherem Leben ist sie/er eine andere Tagesstruktur gewöhnt gewesen und würde diese gerne wieder aufnehmen, hat als Pflegefachkraft, Busfahrer*in, Polizist*in im Schichtdienst gearbeitet, daher ein wechselndes Schlafmuster, Tagestruktur, hätte gerne Kontakt mit Gleichaltrigen, die ähnlich erkrankt sind, etc. Verständnisprozess wird schriftlich festgehalten, Beispiel: Teilnahme an ähnlichen Hobbys, Gottesdienste ermöglichen, Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten, Theaterbesuchen, Begleitung durch wen? Besuche der Familie, der Tochter, der Freundin, des Freundes, ehem. Kollegen, Nachbarn etc. – zu ungeregelten Zeiten.
Kinästhetische Betrachtung Wie beweglich ist die betreffende Person in Körper, Geist und Seele auf das eigene Leben bezogen, soziale Kontakte, Biografie und Interessen betreffend? Wie kann man sie diesbezüglich bewegungs- und entwicklungsfördernd unterstützen?
BEISPIEL: Nehmen wir als Beispiel Stephen Hawkin (1942–2018), den britischen Physiker und Astrophysiker. Er war von 1979 bis 2009 Mathematiker an der Universität Cambridge und wurde trotz seiner Erkrankung ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) im Alter von 21 Jahren durch seinen im hohen Maße beweglichen Geist 76 Jahre alt.
Oder wie viele Beispiele finden wir in der Pflege, z. B. alte Menschen, die erwachsene pflegebedürftige behinderte Kinder haben, mit denen sie seelisch stark verbunden sind und die sie im wahrsten Sinne des Wortes buchstäblich am Leben halten, weil die Kinder sie durch das Sorgen und Umsorgen immer wieder aufs Neue in Bewegung bringen. Genauso sind es aber auch geliebte Haustiere, die versorgt werden müssen und die man nicht allein zurücklassen will. Der alte Mensch wird durch die Versorgung des Tieres körperlich, geistig und seelisch in Bewegung gehalten. Er muss planen, organisieren und dem Tier Aufmerksamkeit und Liebe schenken. Im Gegenzug bekommt der alte Mensch aber vom Tier auch was zurück, denn er fühlt sich durch das Tier gebraucht, wertgeschätzt und geliebt.
Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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BEISPIEL „WIR SIND KLEIN UND IHR SEID ALT“: Es gab auf dem Kölner Fernsehsender VOX am 25.02.2019 ein Projekt, in dem acht Senioren (sieben Frauen und ein Mann) aus einer Seniorenresidenz ihre Freizeit zusammen mit vier Jahre alten Kindern verbrachten. Das Projekt wurde von einem Arzt, einer Soziologin und Gerontologin, einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und einer Gerontopsychiaterin begleitet. Die Experten waren überzeugt davon, dass beide Seiten davon profitieren werden. Die Kinder würden die Senioren aus ihrer Passivität holen und im Gegenzug dazu lernen, Rücksicht zu nehmen und sich anzupassen. Die Annahme der Experten bestätigte sich dann auch im Verlauf des Projektes. Die Senioren waren nach dem Projekt fitter und vitaler, sie waren förmlich aufgeblüht und die Kinder entwickelten eine rücksichtsvolle, anpassungsfähige emotionale Reife.
Mein Fazit: „Alte Menschen brauchen Kinder und Kinder brauchen alte Menschen.“
Mehrgenerationshäuser Das Konzept der Mehrgenerationshäuser sieht das Zusammenleben von unterschiedlichen Generationen vor, die sich gegenseitig unterstützen und so ein eigenes soziales Netzwerk unter dem Synonym des Gebens und Nehmens betreiben. Es leben beispielsweise Jung und Alt, vom Säugling bis zum Greis, zusammen unter einem Dach, wie in einer Art Wohn- oder Hausgemeinschaft, mit der Auflage gegenseitiger Verpflichtungen. Dieses Konzept des sozialen Miteinanders ähnelt dem einer Großfamilie. Durch die heutigen Lebensumstände ist ein Zusammenleben von Eltern, Kindern, Enkeln und Urenkeln selten geworden.
Sich beschäftigen, lernen und sich entwickeln Körper Um sich körperlich entwickeln zu können, muss man seinen Körper bewegen. Der Körper erfährt seine Grenzen und hat die Möglichkeit, sich durch Training und/oder Bewegungsanpassung zu entwickeln.
Geist Der Mensch entdeckt seine Ressourcen über seine körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Für den Geist bedeutet es, sich mit der körperlichen Bewegung aus154
Themenfeld 5 – Leben in sozialen Beziehungen
einanderzusetzen und dabei seine geistigen Interessen zu entdecken und kennenzulernen.
Seele Die Seele macht negative und positive Erfahrungen. Sie muss lernen, diese zu realisieren und zu verarbeiten, um an ihnen zu wachsen und die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Interaktion Fühlt der Pflegebedürftige sich im sozialen Umfeld körperlich, geistig und seelisch wahrgenommen, beachtet und integriert?
Funktionale Anatomie Werden die funktionalen anatomischen Ressourcen des Pflegebedürftigen im sozialen Miteinander berücksichtigt und unterstützt?
Menschliche Bewegung Findet der Pflegebedürftige sich mit seinem Bewegungsmustern im sozialen Miteinander akzeptiert?
Anstrengung Wird die Anstrengungsart und die Anstrengungskraft des Pflegebedürftigen im sozialen Miteinander angenommen und unterstützt?
Menschliche Funktion Findet der Pflegebedürftige seine Position im sozialen Miteinander und kann er sich in ihr bewegen?
Umgebung Ist die Umgebung für den Pflegebedürftigen zur Bewegung im sozialen Miteinander geeignet? Wird er motiviert und kann er Hobbys, Gesellschaftsspiele, Freizeitangebote oder Veranstaltungen wahrnehmen? Jede Erkrankung hat ihre Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen im Leben. Sie führt je nach Krankheitsausprägung zu mehr oder weniger starken Beeinträchtigungen. Es ist grundsätzlich wichtig, über physiologische Bewegungsanleitung und Bewegungsunterstützungen den Gesundheitsprozess des pflegebedürftigen Menschen selbstregulierungsfördernd zu unterstützen. Herz-Kreislauf Erkrankungen können z. B. bei sehr starker Ausprägung die soziale Teilhabe behindern oder sogar verKinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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hindern. Der Kreislauferkrankte fühlt sich müde, ist schnell aus der Puste und verfügt über wenig Kraft. Atemwegserkrankte zeigen die gleichen Symptome. Erschwerend kommt bei ihnen dann oftmals bei extremer Atemproblematik die zur verbalen Kommunikation fehlende Luft hinzu. Neurologische Erkrankungen erschweren das Leben in sozialen Beziehungen durch die zumeist mehr oder weniger starken neurologisch bedingten (sensorisch/motorisch) Einschränkungen aller Bewegungsabläufe. Stoffwechselerkrankungen haben unter Umständen eine Auswirkung auf die Wahrnehmung, das Bewusstsein und die körperliche Bewegung. Daher können auch sie Auswirkungen auf soziale Beziehungen haben.
Themenfeld 6 – Wohnen/Häuslichkeit Inwieweit können individuelle Bedürfnisse und Bedarfe im Hinblick auf das Wohnen im stationären oder häuslichen Bereich umgesetzt werden? Die Umsetzung ist wichtig, weil sie Wohlbefinden und die Möglichkeit sich zu orientieren bieten kann. Es geht dabei um Sicherheit durch Vertrautes, insbesondere in der unmittelbaren Lebesunwelt (Eigenes Appartement, Einzelzimmer, Doppelzimmer, Küchenzeile für bestehende Selbstversorgung, Biografie, insbesondere bei Menschen mit Demenz) und es geht um Gewohnheiten, Wünsche, Bedürfnisse.. PFK-Einschätzung: Herr/Frau … schätzt seine/ ihre vertraute/n Gegenstände aus seiner/ihrer Wohnung und möchte einige um sich haben, hat liebgewonnene Rituale: Mittagsstunde auf dem Sofa, im Fernsehsessel mit Hocker zum Bein-Hochlegen etc. Verständigungsprozess wird schriftlich festgehalten, Beispiel: Der Lieblingssessel wird von der Familie mitgebracht, das Zimmer wird von den Angehörigen, Betreuern, anderen Personen individuell mit Erinnerungsstücken, mitgebrachten Fotos, vertrauten Gegenständen eingerichtet. Das Bett von Herrn/Frau… wird mit der rechten Seite an die Wand gestellt (gewohnter Ausstieg aus dem Bett links), Pflegebett mit geteilten Seitenteilen (oben), Herrn/Frau … Mittagsruhe im Bett anbieten etc.
Kinästhetische Betrachtung Die eigene Häuslichkeit ist die Umgebung für die körperliche, geistige und seelische Bewegung. Der jeweilige Mensch sollte mit ihr vertraut sein und er sollte sich in ihr zu Hause fühlen. Sie sollte so gut es geht angepasst sein und Raum geben, um Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Das bedeutet, anpassungsfähig und wandelbar zu sein, wenn die momentane oder die grundlegende Situation es erfordert. 156
Themenfeld 6 – Wohnen/Häuslichkeit
Kann die betreffende Person aufgrund der Entfernung z. B. zur Ausscheidung nicht mehr die Toilette aufsuchen, braucht sie vielleicht ein anderes, näher gelegenes Zimmer (Umzug), ein neues, dichteres Bad (Umbau) oder einen Toilettenstuhl.
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Diesen Spruch kennt, glaube ich, jeder. Er steht für die Aussage, dass ein Mensch, der sein ganzes Leben an einem bestimmten Ort verbracht hat, nicht mehr körperlich, geistig oder seelisch willens und in der Lage ist, sich zu bewegen und diesen Ort zu verlassen. Nötigt man ihn dazu, baut er Druck auf und widersetzt sich der erforderlichen anpassenden Bewegung. Und das bedeutet für ihn dann meist das Lebensende, weil sein Lebensmut und seine Lebensgeister ihn verlassen. Er hat in seinem Leben keine örtliche Veränderung erlebt und somit nicht gelernt, sich diesbezüglich anpassen zu können. Es gibt noch einen weiteren Spruch, den jeder kennt und der sich auch in diesem Zusammenhang übertragen lässt.
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ Wenn der Mensch hingegen in seinem Leben oft umgezogen ist, dann hat er es gelernt, sich in seiner Wohn- und Häuslichkeit immer wieder neu orientieren und anpassen zu können, weil er es musste, und daher wirft es ihn nicht aus der Lebensbahn. So stört es ihn auch nicht im Alter, wenn er sein Zuhause verlassen muss, weil er beispielsweise nicht mehr allein ohne Hilfe leben kann. Hatte der Mensch ein bewegtes Leben, ist er auch im Alter beweglicher.
„Windstürme des Lebens.“ Die „Windstürme des Lebens“ stehen symbolisch für die Lebensereignisse eines Menschen. Ist der Mensch in seinem Leben sehr behütet aufgewachsen und hat sein Leben ohne große körperliche, geistige oder seelische Probleme leben können, dann hat er nicht gelernt, sich mit Problemen auseinanderzusetzen und sich anzupassen. Treten im Alter dann vielleicht körperliche, geistige oder seelische Probleme auf, zerbricht er daran. Hat er im Leben schon viele „Windstürme des Lebens“ erlebt, dann hat er sie durch Anpassung überstanden und sie haben ihn stark gemacht. Er ist daran gewachsen und Veränderungen im Alter werden ihn nicht brechen. Stellen Sie sich eine Pflanze vor, die im Gewächshaus groß wird und die man dann in ein raues Klima entlässt: Sie wird vermutlich nicht lange überleben. Nehmen Sie eine Pflanze, die in der Natur unter extremen Bedingungen gewachsen ist, sie wird vermutlich alles überstehen, weil sie gelernt hat, sich an die „Windstürme des Lebens“ anzupassen.
Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Wo fühlt man sich zu Hause? → Im Außen oder im Innen? → In der Umgebung oder im Körper? Ich glaube, solche oder so ähnliche Fragen kommen einem in den Sinn, wenn man sich fragt, wo oder was für einen persönlich das „Zuhause“ ist. Es gibt Menschen, die sind sehr in sich zu Hause. Ihr Fokus befindet sich auf ihre Körperlichkeit (Körper, Geist und Seele) gerichtet. Alles, was nicht den direkten Körper umgibt, ist nicht so wichtig. Aber auch hier gibt es noch die Unterscheidung zwischen Innen (inside) und Außen (outside). Das Innere des Körpers betrifft den Geist und die Seele und die innere körperliche Bewegung und Bewegungswahrnehmung wie körperliche Fitness. Das Äußere beschränkt sich auf das körperliche Aussehen wie die Figur, die Frisur oder die Kleidung oder die nach außen wirkende Sportlichkeit. Dann gibt es Menschen, die verbinden mit Zuhause das, was sie umgibt, wie z. B. das Land oder den Ort, in dem sie leben. Aber auch die eigene Häuslichkeit, also die Wohnung oder das Haus. Und auch hier gibt es die Unterscheidung zwischen Innen (inside) und Außen (outside). Ein Mensch, der den Fokus mehr auf das Außen gerichtet hat, hält sich vermutlich auch mehr draußen auf. Ist der Fokus nach innen gerichtet, kommt man vermutlich auch nicht gerne aus seinen vier Wänden heraus. Es ist nicht unerheblich zu wissen, was für ein Mensch man ist, wenn es darum geht, zu entscheiden, wo man zu Hause ist und wie das Zuhause aussehen sollte, wenn man pflegebedürftig ist oder wird. Die Krankheitsumstände, durch z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Neurologische Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen tragen natürlich maßgeblich zu dieser Entscheidung bei, denn das Leben dreht sich mit um die geistige, körperliche und seelische Gesundheit und den aktuellen Gesundheitsprozess. Die Bewegungsfähigkeiten und die notwendige den Gesundheitsprozess fördernde Bewegungsunterstützung sind hierbei für die Lebensqualität entscheidend. Wie bewegungsfördernd ist der Pflegebedürftige selbst (z. B. durch die eigene Motivation) und wie bewegungsfördernd ist sein Zuhause hinsichtlich seines geistigen, körperlichen und seelischen Gesundheitszustandes?
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Themenfeld 6 – Wohnen/Häuslichkeit
Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder Keine BESTEHENDEN Risiken eintragen, die werden/sind den Themenfeldern zugeordnet! Ausschließlich potenzielle Gefahren – Risiken für den Betroffenen werden eingeschätzt! Ableitung aus den einzelnen Themenfeldern zur Gefährdung und weiteren Einschätzung zum Dekubitus, Sturz, Inkontinenz, Schmerz, Ernährung (Essen und Trinken). Wird ein Risiko angekreuzt, muss die Pflegefachkraft zusätzlich eine Entscheidung zu der Kategorie „vertiefende Einschätzung notwendig“ ja/nein treffen, um entscheiden und festlegen zu können, ob die Notwendigkeit besteht, weitere Assessments (Differentialassessments) einzusetzen, Beispiel: Ernährungsassessment, Bradenskala, Schmerzskala, BESD-Skala bei Demenz, MMST Mini Mental Status Text (Demenztest beinhaltet Merkfähigkeit, Orientierung, Aufmerksamkeit, Rechnen usw.) etc. Im Feld Sonstiges muss das INDIVIDUELLE Risiko/Phänomen eingetragen werden wie zum Beispiel: Intertrigo, Zystitis, Thrombose, Soor-Parotitis, Aspirationsgefahr, Pneumonie etc. Auch hier muss ein Differenzialassessment durch die Pflegefachkraft festgelegt werden.
Kinästhetische Betrachtung Risiken und Phänomene beinhalten die Gefahr der möglichen Sekundärerkrankungen, wie sie bereits unter dem Kapitel Gesundheitsprävention aufgeführt und erläutert wurden („sich bewegen können“ und „vitale Funktionen aufrechterhalten können“). Bewegung ist lebensnotwendig und unerlässlich für die Gesundeerhaltung und eine gesunde Lebensentwicklung. Ist ein Mensch krank und bewegt sich selbst oder wird bewegt, fühlt er sich gesünder als ein Mensch, der krank ist und sich nicht bewegt und der nicht bewegt wird. Ein gesunder Mensch, der sich regelmäßig bewegt, fühlt sich fitter und vitaler als ein Mensch, der kaum Bewegung erfährt. Bewegung fördert den Blutkreislauf und sorgt für eine gute Sauerstoffversorgung der Zellen. Die Produktion der roten Blutkörperchen wird angeregt und unser Stoffwechsel funktioniert besser. Alle Aktivitäten im Inneren unseres Körpers funktionieren über Bewegung und werden durch aktive Bewegung unterstützt. Je höher und andauernder die Körperspannung, umso gestörter die Bewegungsprozesse im Körperinneren und die Gefahr für gesundheitsgefährdende Prozesse. Eine unzureichende Bewegung führt zu Störungen und verursacht Schäden, wie z. B. eine Kontraktur. Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Körper Ein Mangel an ausreichender Bewegung führt zu einem körperlichen Abbau und bringt körperliche Beschwerden und körperliche Einschränkungen mit sich. Der Körper ist ein lebendes, geschlossenes Bewegungssystem, welches sich fortlaufend über Bewegung kontrolliert, sich anpasst und sich entwickelt. Hält man es nicht ausreichend in in Gang, kann es sich nicht mehr kontrollieren, nicht mehr anpassen und schon gar nicht mehr entwickeln. Sind die vitalen Funktionen des Körpers gestört, ist die Gesundheit beeinträchtigt und diese Beeinträchtigung kann so groß sein, dass dieser verkümmert, abbaut und stirbt.
Geist Ein körperlicher Abbau und die Beeinträchtigung der vitalen Funktionen kann immer auch, je nach Art und Stärke, die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und hat immer auch einen mehr oder weniger starken geistigen Abbau zur Folge. Der Geist braucht fortwährend neue Informationen, um sich zu kontrollieren, sich anzupassen und sich zu entwickeln. Informationen bekommt er über Bewegung. Bleibt diese aus, wird auch er verkümmern, abbauen und sterben.
Seele Keine Bewegung = keine Informationen und keine Erfahrung. Die Seele braucht also Erfahrungen, um zu empfinden, sonst verkümmert sie. Hat man keine Bewegung, kann man nichts erfahren und nichts empfinden. Je nach Art und Schwere der Erkrankung leidet die Seele und es werden z. B. Ängste freigesetzt. Auch die Seele kann abbauen, verkümmern und sterben.
Interaktion Bewegung ist die Voraussetzung für Wahrnehmung und Wahrnehmung ist die Voraussetzung für eine angepasste gesundheitsfördernde Reaktion.
Funktionale Anatomie Eine an die funktionale Anatomie angepasste Bewegung beugt Erkrankungen vor und fördert Gesundheitsprozesse.
Menschliche Bewegung Ein angepasstes ressourcenorientiertes Bewegungsmuster beugt Erkrankungen vor und fördert Gesundheitsprozesse.
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Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder
Anstrengung Fordern, aber nicht überfordern heißt die Devise, denn Überforderung kann wie Unterforderung krank machen. Eine angepasste Anstrengung und eine ressourcenorientierte Anstrengungsform hingegen fördert Gesundheitsprozesse.
Menschliche Funktion Eine für die jeweilige Aktivität angemessene und gesundheitsfördernde Position und Bewegungsanpassung gewährleisten.
Umgebung Eine schlechte Umgebung erhöht das Gesundheitsrisiko. Ist die Umgebung gesundheitsfördernd gestaltet? Zum Beispiel durch: –– bequeme Kleidung, –– festes, nicht rutschendes Schuhwerk, –– erforderliche Gehhilfen, –– entsprechend harte Matratze, –– evtl. Bettleiter oder Bett-Tau, –– entsprechend angepassten Stuhl oder Rollstuhl, –– Vermeidung von Stolperfallen, –– Haltegriffe in entsprechender Höhe. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, Menschen auch zu tragen. Menschen müssen getragen werden, wenn: –– man sie nicht bewegen darf, bei unklaren Verletzungen, z. B. nach einem Unfall, –– sie sich nicht bewegen dürfen, wegen einer Erkrankung, Verletzung oder Operation, –– wenn man sie nicht bewegen kann, weil sie schon so versteift sind oder man keine Bewegungsmöglichkeit erkennt. Ein Mensch, der sich bewegen darf, sollte immer auch zur Eigenbewegung motiviert werden und nur die Hilfe zur Selbsthilfe erfahren! Befindet sich der Mensch zum Beispiel im Koma und darf bewegt werden, so sollte die Pflegekraft ihn bewegen und nicht heben, damit er eine Chance hat sich zu entwickeln. Die Bewegung des Körpers durch die Pflegekraft wird vom komatösen Menschen mehr oder weniger bewusst oder unbewusst wahrgenommen und erfahren. Dadurch können sich Reizweiterleitungen und Reaktionen entwickeln. Die körperliche Bewegung durch die Pflegekraft unterstützt Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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die inneren Prozesse des Organismus wie Verdauung, Herz-Kreislauf usw. und es werden alle Prophylaxen automatisch mit einbezogen und abgedeckt. Bei der Bewegungsunterstützung eines Menschen ist Folgendes zu beachten: –– Nur Hilfe zur Selbsthilfe geben. –– Ressourcen einfordern. –– Wenn möglich fragen: „Wie wollen Sie Ihren Weg von A nach B gestalten und wie kann ich Ihnen helfen?“ –– Heben und Tragen vermeiden. –– Den Körper der betreffenden Person seinen anatomischen Gegebenheiten entsprechend bewegen und unterstützen. –– Fähigkeiten und Vorlieben der zu unterstützenden Person beim Bewegungsablauf berücksichtigen. –– Den ganzen Körper einsetzen und bewegen und nicht aus einer starren Position heraus agieren. Umgebungsgestaltung: –– geeignetes festes Schuhwerk für einen guten Stand, –– bequeme Kleidung, in der man sich gut bewegen kann, –– Hilfsmittel einsetzen, um die Belastung zu minimieren, –– Arbeitsplatz gestalten, –– entsprechende Arbeitshöhe einrichten, –– für eine unterstützende Auflagefläche sorgen. Hilfsmittel: –– elektrische Pflegebetten, –– Betten-Lifter, –– Rollstühle, –– Gehhilfen, –– Stehhilfen, –– Drehscheiben, –– Bettleitern, –– Bettentau, –– Gleitmatten, –– Haltegriffe, –– Rutschbretter.
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Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder
Vitale Funktionen aufrechterhalten Körper Sind die vitalen Funktionen des Körpers gestört, so ist die Gesundheit beeinträchtigt und diese Beeinträchtigung kann so groß sein, dass sie zum Tode des Organismus führt.
Geist Eine Beeinträchtigung der vitalen Funktionen kann auch immer je nach Art und Stärke die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
Seele Je nach Art und Schwere der Erkrankung leidet die Seele und es werden z. B. Ängste freigesetzt.
Interaktion Unser Organismus lebt durch das Zusammenspiel von Nervensystem, Organen und Blutkreislauf. Dieses Zusammenspiel ist durch die angepassten Bewegungsabläufe in Zeit, Raum und Anstrengung durch schrittweise oder gleichzeitig gemeinsame Interaktion aufeinander abgestimmt. Eine Bewegungsstörung, in welchem der drei Bereiche auch immer, wirkt sich negativ auf die Interaktion aus und hat eine Auswirkung auf das Zusammenspiel und die Abläufe in unserem Organismus. Die vitalen Funktionen werden beeinträchtigt und können aufgrund von fortschreitenden, bewegungshemmenden Kettenreaktionen sogar zum Erliegen (Stillstand) des Organismus kommen. Bewegung ist der Schlüssel zur vitalen Aufrechterhaltung unserer Funktionen, denn ohne Bewegung keine Anpassung und ohne Anpassung keine Gesundheitsentwicklung.
Funktionale Anatomie Wichtig ist das Achten auf die Aufgaben der funktionalen Anatomie, um den in seinen Vitalfunktionen geschwächten Organismus nicht noch zusätzlich zu belasten. Die Knochen, die Massen und die funktionale Rückseite des Körpers sind für die Gewichtsabgabe und Gewichtsweitergabe zuständig, während die Muskeln, die Zwischenräume und die funktionale Vorderseite des Körpers für die Gewichtskontrolle (über die stabile Haltungsbewegung) und für die Bewegungskontrolle (über die instabile Transportbewegung) zuständig sind.
Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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Menschliche Bewegung Bei einer eingeschränkten oder schlechten vitalen Funktion des Körpers sollte bevorzugt das spiralige Bewegungsmuster angewandt werden, da es weniger anstrengend ist und den Organismus nicht so schnell überfordert.
Anstrengung Je größer die Anstrengung, desto größer der Druck. Ein dauerhafter Druck stört die Vitalfunktionen des Körpers. Der Wechsel von Anspannung und Entspannung unterstützt den Kreislauf und somit die Vitalfunktionen. Die körperliche Anstrengung muss der körperlichen Situation des Pflegebedürftigen angepasst werden. Anpassung bedeutet, den Raum für Entwicklung zu geben, also nicht zu unterfordern, sondern zu fordern, aber auch nicht zu überfordern.
Menschliche Funktion Deshalb sollten auch nur Positionen eingenommen werden, die vom Gewicht her kontrollierbar sind und nicht überanstrengen und die für die jeweilige Aktivität geeignet sind.
Umgebung Fördert die Umgebung die Bewegung, hat der Körper die Möglichkeit, sich ohne Anstrengung anzupassen und dadurch seine Vitalfunktionen innerhalb des Körpers zu unterstützen.
Kinaesthetics in der Palliativpflege Themen: –– Bewusstsein –– Unruhe –– Schmerzen –– Schwäche –– Atmung
Bewegung Wahrnehmung/Kontrolle/Absicht sind die Themen wie z. B. Atmung Spannungsanpassung Fragen: 1. Fokus auf Leben oder Sterben? 2. Was für Positionen stehen im Vordergrund? 164
Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder
3. 4.
Was für Aktivitäten stehen im Vordergrund? Steht eine Sterbeprozess-Begleitung an?
Ziele: –– Unterstützung der eigenen körperlichen Wahrnehmung. –– Unterstützung der inneren Prozesse des Körpers. –– Während des Sterbeprozesses effektiv die Lebensaktivitäten unterstützen. –– Positionsunterstützung im Sterben durch Unterstützung der Gewichtsabgabe und -kontrolle zum Entspannen und Loslassen. –– Den Sterbeprozess als Entwicklung im Zusammenhang mit Lernprozessen betrachten. –– Förderung der verbleibenden Lebensqualität.
BEISPIEL: Eine Trainerkollegin, die schon viele Jahre als Ergotherapeutin auf einer Wachkomastation arbeitete, stellte fest, nachdem sie ihre Klienten kinästhetisch bewegte, dass diese plötzlich verstarben oder Reaktionen zeigten und langsam ins bewusste Leben zurückfanden. Wir unterhielten uns über ihre Beobachtungen und ich sagte zu ihr, dass es mich nicht wirklich überrascht, da Sterben und Leben beides Bewegungsprozesse sind. Ein Koma-Patient kann weder das eine noch das andere, wenn er pflegerisch mit allem versorgt wird außer mit physiologischer körperlicher Bewegung. Er befindet sich in einer Stagnationsphase, aus der er allein nicht herauskommt. Er hat keine Chance, sich zu entwickeln und in die eine oder andere Richtung zu gehen. Fängt man an, ihn körperlich physiologisch zu bewegen, bringt man Bewegungswahrnehmungsprozesse und Bewegungsreaktionsprozesse in Gang, hilft ihm, sich zu entwickeln und sich zu entscheiden, zu sterben oder zu leben. Wie in dem Kapitel Kinaesthetics-Grundlagen beschrieben, gehört der menschliche Organismus (wie alle Lebewesen) zu den sich selbst erschaffenden, sich selbst steuernden und selbst regulierenden kybernetischen Systemen. Bewegt man den Komapatienten, braucht kein außenstehender Mensch (Angehöriger) eine Entscheidung zu treffen. Das finde ich für beide Parteien (Komapatient und Angehörige) humaner und ethisch vertretbarer. Einen Komapatienten, wie damals im Fall Terri Schiavo (ihr Körper brauchte damals 13 Tage nach Einstellung der Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr), verdursten und verhungern zu lassen, halte ich für den falschen Weg, denn dann hat der Komapatient keine Wahl sich zu entscheiden, er wird zwangsläufig sterben. Ein Organismus braucht Bewegung, um zu leben und letztendlich auch um zu sterben. Beim Verhungern-Lassen ist die Bewegungsrichtung entschieden, nur eben nicht vom Organismus selbst. Und wir dürfen nicht vergessen, dass eine Entscheidung zum aktuellen Zeitpunkt häufig anders ausfällt als in der Vorstellungssituation vorher. Nicht ohne Grund ist die Last der Entscheidung, lebensverlängernde Maß-
Kinaesthetics am Beispiel der SIS®-Themenfelder
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nahmen einzustellen, für die Angehörigen oftmals erdrückend. Und wie oft ist es dann doch schon vorgekommen, dass plötzlich ein Mensch aus dem Koma erwacht ist, auch noch nach Jahrzehnten. Und ich bin überzeugt davon, dass die Ursache des Erwachens in irgendeiner Art und Weise mit der Anbahnung und Unterstützung von Bewegungsprozessen zu tun hat.
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Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder
Schlusswort Ich möchte hier noch einmal das Beispiel aus meinem Vorwort aufgreifen. Nachdem ich in einem sowohl schrittweisen als auch gemeinsamen Interaktionsprozess die an Demenz erkrankte alte Dame unterstützte, vom Bett in den Rollstuhl zu gehen, stellte ich fest, dass diese eingenässt war. Eine der an dem Kurs teilnehmenden Pflegekräfte übernahm es dann, die alte Dame diesbezüglich zu versorgen. Obwohl die Pflegekraft gerade den Interaktionsprozess und die sich daraus entwickelnde Beziehung zwischen mir und der Bewohnerin mitbekommen hatte, zerrte sie an der Kleidung der alten Dame herum, ohne diese wirklich zu beteiligen. Sie zog sie aus und an wie eine Puppe. Die alte Dame verstand nicht, wie ihr geschah, machte sich steif und versuchte sich der Situation zu entziehen. Der Pflegekraft fiel es überhaupt nicht auf, dass sie die Bewohnerin manipulierte. Sie wollte sicherlich nur helfen und die Bewohnerin aus ihrer nassen und vermutlich unangenehmen Situation befreien. Und trotzdem macht es mich betroffen, wenn ich so etwas sehe. Mir wird durch solche Situationen in der Pflege immer wieder bewusst, wie viele Pflegekräfte nur funktionieren, ohne bewusst wahrzunehmen. Sie sind dann nicht wirklich in der Lage zu kommunizieren und in die Beziehungsebene zu gehen. Keine Beziehung ohne Kommunikation und keine Kommunikation ohne Wahrnehmung. Pflegekräfte müssen lernen, die Pflege als interaktionsbezogene Beziehungsprozesse zu begreifen. Das Kinaesthetics-Konzeptsystem hilft der Pflege, über eine bewusste und fokussierte Bewegungswahrnehmung die Auswirkungen ihres Handelns zu verstehen. Ich hoffe, ich konnte Sie von der Wichtigkeit des kinästhetischen Know-how‘s in der Pflege überzeugen und Sie, schon Ihrer eigenen Gesundheit und Lebensqualität zuliebe, dazu bewegen, sich mit dem Thema, wenn nicht schon getan, auseinanderzusetzen. Für ein bestmögliches selbstbestimmtes, selbstständiges und lebensbejahendes Leben.
Schlusswort
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Denn:
Bringt der Mensch auf Knochen sein Gewicht, fühlt er wie eine Feder sich So leicht spürt er genau, wo in der Bewegung ist ein Stau. Er passt sich an in Zeit und Raum, mit wenig Kraft, man glaubt es kaum. Auch ist er in sich orientiert, wenn er sein Gewicht ausbalanciert. So stapelt er fortwährend seine Massen, an denen kann man ihn gut fassen. Immer dabei, seine Ressourcen zu entdecken, bewegt er sich in alle Ecken. Er zieht und drückt sich forschend durch das Leben, um immer etwas zu erleben. Parallel oder spiralig, wie es ihm gefällt oder seine Umgebung sich verhält. Ich wünsche Ihnen alles Gute! Birgit Grüneberg
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Einschätzung von pflegesensitiven Risiken und Phänomenen im Kontext der Themenfelder
Autorin Birgit Grüneberg ist nach abgeschlossener Pflegeausbildung als Lehrerin für Pflegeberufe im AWO Bildungscampus (ehemals AWO Bildungszentrum) in Preetz tätig. Sie ist ausgebildete Kinaesthetics-Trainerin und neben ihrer Pflegelehrtätigkeit als solche in der Aus-, Fort- und Weiterbildung für Pflegekräfte und pflegende Angehörige tätig.
Autorin
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