122 92 21MB
German Pages 224 Year 1994
GÜNTER KOCH Kausalität, Determinismus und Zufall in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung
ERFAHRUNG
UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 75
Kausalität Determinismus und Zufall in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung
Von
Dr. Günter Koch
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Koch, Günter: Kausalität, Determinismus und Zufall in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung / von Günter Koch. - Berlin: Duncker und Humblot, 1994 (Erfahrung und Denken; Bd. 75) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1992 ISBN 3-428-08058-0 NE:GT
D 188 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-08058-0
Vorwort Die Ausgangsidee zu diesem Buch entstand etwa 1985 in einem Seminar von Prof. Dr. Lorenz Krüger, der damals an der Freien Universität Beriin lehrte. Durch seine umfassende Kenntnis des Problemkreises um Kausalität und Determinismus und seine Fähigkeit, historische Diskussionslinien nachvollziehbar darzustellen, regte er viele damalige Studenten, darunter auch mich, zu eigenem Nachdenken über das Thema an. Herr Privatdozent Dr. David Pearce hat diese Arbeit als Dissertation akzeptiert, betreut und begleitet. Er gab mir unzählige wertvolle Hinweise zu Inhalt und Arbeitstechnik, eröffnete durch seine weltweiten Kontakte auch mir Diskussionsmöglichkeiten mit vielen Wissenschaftlern. Er stand mir mit fachlichem und freundschaftlichem Rat zur Seite, wann immer ich ihn darum bat. Ich schulde ihm rur seine Unterstützung mehr Dank, als ich hier in Worte fassen kann. Für die Fehler in diesem Buch bin ich aber natürlich selbst verantwortlich. Dem Privatgelehrten Herrn Sebastian Kiefer danke ich ft1r viele Diskussionen und Streitgespräche, die meine VorsteIlungen oftmals konkretisiert oder korrigiert haben. Frau Marianne Starck und Frau Dagmar Kleinsorge-Hartung danke ich für ihre Bemühungen um die orthographischen Belange dieses Buches. Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I der Freien Universität verfaßt. Sie wurde in den Jahren 1988 - 1989 durch ein Stipendium nach dem Gesetz zur Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses unterstützt und damit erst ermöglicht. Mein Dank gilt daher nicht zuletzt der Ständigen Kommission zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Günter Koch
Inhaltsverzeichnis I. Einleitung .......................................................................................... 11 11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege............................................. 20 1. Einleitung................................................... ............................................ 20 2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes "Kausalität" ............ 21 a) Das Argument gegen direkte Ursachen ............................................ 22 b) Die Negation kausaler Notwendigkeit .............................................. 25 c) Die Behauptung der Überflüssigkeit des Kausalitätsbegriffes .......... 27 3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels.... .............................. 28 4. Ursachen und Randbedingungen ............................................................ 36 5. Gibt es singuläre Ursachen? oder: Der Fall Ducasse ............................. 39 6. Einzelfall und Regularität ............................ ...................... .................... 43 7. Zusammenfassung ................................................................................. 45
111. Kausalität, Teil 2: Explikationsversuche ........................................... 46 1. Einleitung .............................................................................................. 46 2. Regularitätstheoretische Kriterien für Ursachen ................................... 47 3. Kontrafaktische Kausalanalyse ............................................................. 50 4. Ursachen als INUS-Bedingungen .......................................................... 56 5. Probabilistische Kausalität .................................................................... 58 6. Ein Phantombild der Kausalität.. ....... ..................................... ..... ..... ..... 62
IV. Facetten des Determinismus .............................................................. 68 1. Einleitung .............................................................................................. 68 2. Kausaler Determinismus ..................... .................. ....... ......................... 70 3. Prädestination ........................................................................................ 72 4. Psychologischer Determinismus .................... ....... .................. .............. 77
8
Inhaltsverzeichnis
5. Nomischer Determinismus .................................................................... 78
6. Kausalität und Gesetzlichkeit ................................................................ 82
V. Determinismus in der Praxis. ................................................................ 85 1. Einleitung ...... ........ ........ ........... ........ ........... ............. ........... .................. 85 2. Entwicklungsformen ............................................................................. 86 3. Das Klassische Ideal ............................................................................. 88 4. Zeitinvarianz und Entropieerzeugung ................................................... 89 5. Rekonstruierbarkeit ............................................................................... 90 6. Vorhersagbarkeit ................................................................................... 91
7. Komplexität ........................................................................................... 94 8. Konsequenzen ....................................................................................... 96 9. Ein zweiter Blick auf das INUS-Konzept ............................................ 100
VI. Der Zufall ............................................................................................. 101 1. Einleitung ......... .................................................................................... 101 2. Annäherung an den Zufall .................................................................... 101 3. Koinzidenz ........................................................................................... 106 4. Herrschaftsbereiche des Zufalls ........................................................... 107 5. Zufallsfolgen ........................................................................................ 112 6. Die Folgen echten Zufalls .................................................................... 116 7. Drei Stufen zum absoluten Zufall ........................................................ 119 8. Komplexität und Kausalität .................................................................. 124 9. Der Status des algorithmischen Zufallskriteriums ................................ 125 10. Das Verhältnis von Zufall, Kausalität und Determinismus ................... 128
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus ................................ 132 1. Einleitung ............................................................................................. 132 2. Drei erkenntnistheoretische Ebenen ..................................................... 135 3. Konzeptueller Determinismus .............................................................. 137 4. Epistemischer Determinismus .............................................................. 139 5. Ontischer Determinismus und sein Nachweis ...................................... 142
Inhaltsverzeichnis
9
a) Das genetische Kriterium ................................................................ 144 b) Das komparative Kriterium ............................................................. 145 c) Das komplexitätstheoretische Kriterium.......................................... 146 6. Determinismus und Indeterminismus in wissenschaftlichen Theorien. 150 7. Determinismus als methodisches Prinzip ............................................. 153 8. Zusammenfassung ................................................................................ 155
VIII. Das detenninistische Chaos. ............................................................. 158 1. Einleitung ............................................................................................. 158 2. Das Vielkörper-Problem ...................................................................... 159 3. Kausalität und Chaos............................................................................ 163 4. Naturbeschreibung durch iterierte Funktionen ..................................... 164 5. Chaotische Vorgänge ........................................................................... 166 6. Analyse des Chaos ............................................................................... 170 7. Ist die Chaos-Theorie deterministisch? ................................................. 174 8. Unterstützt die Chaos-Theorie den Determinismus? ............................ 176
IX. Indetenninismus in der Quantenphysik................... ....................... 180 1. Einleitung .......... .............. ..................................................................... 180 2. Die Doppelnatur der Elementarteilchen ............................................... 182 3. Die Interpretation des quantenmechanischen Zustandes...................... 184 4. Die Kopenhagener Interpretation ......................................................... 187 5. Die neoklassische Interpretation ........................................................... 193 6. Der Klassische Realismus und das Lokalitätsprinzip ........................... 195 7. Der Realismus und das Problem der Messung ..................................... 199 8. Skizze einer neorealistischen Interpretation ......................................... 201 9. Mögliche realistische und deterministische Lösungen ......................... 204 10. Der pseudopositivistische Fehlschluß ................................................... 207
Literatur ....................................................................................................... 212 Register ......................................................................................................... 218
I. Einleitung Herrscht in der Natur Detenninismus oder nicht? Gibt es echten Zufall, gar Wunder, oder ist alles Geschehen durch zureichende Ursachen vollständig bestimmt? Trotz aller Anstrengungen, die die Philosophen im Laufe der Jahrhunderte unternommen haben, gibt es bislang keine allgemein akzeptierten Antworten auf diese Fragen. Immer noch und immer wieder verspüren Philosophen, aber auch Wissenschaftler anderer Fachrichtungen aus ganz unterschiedlichen Gründen das Bedürfnis nach erneuter Auseinandersetzung mit diesen alten Problemen. Auch die vorliegende Arbeit versteht sich als ein solcher Versuch. Kausalität, Determinismus und Zufall sind Begriffe, die sich letztlich auf die Grundstruktur des Weltgeschehens beziehen. Sie, aber mehr noch ihre Abkömmlinge und Verwandten, wie Ursache, Glück, Schicksal, Vorherbestimmung, Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit durchsetzen die Alltagssprache und bilden wesentliche Strukturelemente unseres Lebens. Wir gehen selbstverständlich und in der Regel kompetent mit diesen Ausdrücken um. Wirwissen, welche Bedeutung sie haben. Bei vielen philosophischen Themen scheint das selbstverständliche Wissen um Dinge jedoch von dem Augenblick an zu schwinden, wo man beginnt, sie genauer in Augenschein zu nehmen. So ist es auch hier. Die Unsicherheit beginnt bereits bei der Frage, ob Kausalität nicht schlichtweg überflüssig sei. Der Mathematiker und Philosoph Betrand Russell behauptete anfang des Jahrhunderts, Kausalität sei wie die Monarchie ein Überbleibsel überholter Vorstellungen, das nur deshalb noch existiere, weil man irrtümlicherweise annehme, es richte keinen Schaden an. Durch die Auseinandersetzung mit Russells fundamentaler Kritik an "The Notion of Cause" im ersten Teil von Kapitel 11. soll deutlich werden, daß Kausalität auch in der modemen Wissenschaft ihren Platz hat und nicht, wie von RusselI, dem Physiker Ernst Mach und anderen gefordert, durch den Begriff der Funktion ersetzt werden kann. Wenn man auf die Vorstellungen von Ursache und Wirkung nicht verzichten will, dann stellt sich die Frage, was sie denn eigentlich bezeichnen. Sind Ursachen Gegenstände oder Beziehungen, Bedingungen oder Sachverhalte, Einzel-
12
I. Einleitung
fälle oder Klassen von Ereignissen? Soll oder muß man sich letztendlich immer auf elementare physikalische Vorgänge beziehen und alle komplexeren Beschreibungsarten auf Ereignisse solcher Art zurückfUhren bzw. reduzieren? Oder ist gerade das ein verfehlter Ansatz, weil Beschreibungen immer an ganz bestimmte Komplexitätsniveaus und begriffliche Szenarios gebunden sind und nicht mehr passen, wenn man auf ein anderes Niveau oder in einen anderen Theorierahmen überwechselt? Und sind Vorgänge überhaupt erschöpfend erfaßt durch natürliche, innerweltliche Ursachen, die natürliche, innerweltliche Wirkungen hervorrufen, oder gibt es originär verschiedene z.B. natürliche und sogenannte übernatürliche Handlungsebenen, die sich überlagern und miteinander wechselwirken?
Erst wenn klar ist, was unter den Bezeichnungen Ursache, Wirkung und Gesetzmäßigkeit zu verstehen ist, kann man sich, so glaube ich, mit Aussicht auf Erfolg der Frage nähern, ob die Vorgänge in der Welt allesamt streng und eindeutig bestimmt sind, oder ob es auch zufiUlige, spontane Ereignisse gibt. Im zweiten Teil von Kapitel 11. wird es daher ausgehend von einem Alltagsverständnis der Kausalität zunächst darum gehen, die Gegenstände des Diskurses herauszuarbeiten, d.h. Konventionen über die Beschaffenheit der Handlungsträger physikalischer Ereignisse zu formulieren. Im Rahmen dieser Arbeit werden wir davon ausgehen, daß es nur innerweltliche Handlungsträger, nurnatürliche Ursachen und Wirkungen gibt. Die heute häufig auf spirituellem Hintergrund und ohne Beteiligung der professionellen Philosophie geflihrten Diskussionen, ob es der normalen, sinnlichen Erfahrung entzogene oder über sie hinausgehende Wirklichkeiten geben kann oder sogar muß, sind kompliziert und darüber hinaus filr unser Vorhaben fruchtlos. Unsere Überlegungen werden sich auf dem Boden eines nichtreduktiven moderaten Physikalismus bewegen, der besagt, daß zwei Dinge oder Ereignisse, die sich in ihren physikalischen Eigenschaften nicht unterscheiden, auch nicht hinsichtlich anderer Eigenschaften differieren können. (Vgl.: Kapitel 11. Abschnitt 3.) In Kapitel 11. soll begründet werden, warum das Denken in UrsacheWirkung-Beziehungen eine unabdingbare Kategorie menschlichen Erkennens ist, und warum Kausalität nicht durch den Begriff der Funktion ersetzt werden kann. Funktionen bzw. Gesetzmäßigkeiten und Ursachen sind vielmehr gleichermaßen notwendige Ingredienzen auch der modemen wissenschaftlichen Naturbeschreibung und stehen filr zwei Teilaspekte der gleichen Sache.
I. Einleitung
13
Kausalität hat für die Einzelwissenschaften wie für die Philosophie eine gleichermaßen große Bedeutung, doch gibt es Unterschiede in der Perspektive. Während es in den Einzelwissenschaften darum geht, die Ursache-WirkungRelation in konkreten (Klassen von) Fällen und zwischen konkreten (Klassen von) Objekten festzustellen bzw. zu postulieren, geht es der Philosophie um die Klärung des Begriffes selbst. Manche philosophischen Autoren hegen darüber hinaus die Hoffnung, eine strenge Definition der Kausalität geben zu können. Im Kapitel III. werden wir einige solcher Versuche betrachten. Eine wichtige Theorielinie versucht, Verursachung als eine spezielle logische Relation zu kennzeichnen. Die bekanntesten Ansätze dieser Art verstehen Ursachen als in irgendeiner näheren Bestimmung notwendige oder hinreichende Bedingungen für das Zustandekommen der Wirkung, als Spezialfälle eines allgemeinen Gesetzes oder als Förderer der Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer bestimmten Wirkung. Die Diskussion dieser Versuche wird uns am Ende von Kapitel III. zu einer Sammlung von Merkmalen fUhren, die eng mit Kausalität verbunden sind. Der dort aufgelistete Katalog ist aber keineswegs gleichbedeutend mit einer Definition oder Explikation des Begriffes. Die Ergebnisse des Kapitels deuten vielmehr darauf hin, daß defmitorische Bemühungen in bezug auf Kausalität letztlich immer vergeblich bleiben müssen, weil Kausalität so grundlegend und allgegenwärtig ist, daß sie nicht aus der jeweiligen Explikation herausgehalten werden kann. Kausalität ist als inhaltlicher Bestandteil immer schon in den Formulierungen enthalten, durch die sie doch eigentlich erst defmiert werden soll. Dieses Enthalten-Sein ist manchmal nicht auf den ersten Blick erkennbar. Es wird aber sichtbar, wenn man gewisse zentrale Bestandteile von Kausalitätstheorien (z.B. die regularitätstheoretische ceteris-paribus-Klausel oder die von David Lewis kreierte komparative Gesamtähnlichkeit zwischen möglichen Welten), die sich in ihrer Funktion ähneln, genauer unter die Lupe nimmt. Dann tritt zutage, daß diese Ausdrücke ein Wissen um Kausalität bereits voraussetzen, mithin also genau das, was durch sie eigentlich erst expliziert werden soll. Ähnlich grundlegend wie Kausalität ist der Determinismus, dessen Erfassung noch dadurch kompliziert wird, daß er vielfach in einem engen Zusammenhang zu ethischen und religiösen Fragen gesehen wird. In Kapitel IV. werden wir innerhalb der Begriffsfamilie des Determinismus jene Spielart abgrenzen, die für unseren Zusammenhang wichtig ist. Dabei gelangen wir, indem wir die in den Kapiteln 11. und III. behandelten Grundaspekte der Kausalität - Ursache, Wirkung und Gesetzlichkeit - benutzen, zu einer Reihe von Lesarten des De-
14
I. Einleitung
tenninismus, die sich durch ihre unterschiedliche Stärke und ihren Bezug zur Zeit unterscheiden. Zum kausalen Determinismus werden jene Versionen gerechnet, in denen von Ursachen und Wirkungen gesprochen wird, während bei den Fonnen des nomischen Determinismus von Gesetzen oder Funktionen die Rede ist. Ursächliche und gesetzliche Fonnulierungen sind aber nach der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht nicht unabhängig voneinander, sondern unterscheiden sich nur durch die Betonung des einen oder des anderen Teilaspektes der gleichen Sache. In Kapitel V. geht es um den Geltungsanspruch des Detenninismus vor dem Hintergrund praktischer Möglichkeiten, konkrete Phänomene detenninistisch zu fassen. Dabei werden zwei Teilbehauptungen des Detenninismus unterschieden: postdiktiver Detenninismus und prädiktiver Detenninismus. Ersterer steht fUr die Behauptung, vergangene Ereignisse vollständig rekonstruieren zu können, letzterer fUr den Anspruch, künftige Ereignisse exakt vorhersagen zu können. (In der Wissenschaftstheorie sind diese beiden Aufgabenfelder, unter den Stichworten Erklärung und Vorhersage als Maßstab fUr die Qualität wissenschaftlicher Theorien bekannt.) Könnte nun eine beliebige Theorie ein beliebiges Ereignis detenninistisch rekonstruieren oder vorhersagen, dann hätten wir ein Stück detenninistische Erfahrung. In Kapitel V. wird sich zeigen, daß Theorien, je nach der Verlaufsstruktur eines natürlichen Vorganges, einem postdiktiven oder prädiktiven Detenninismus mehr oder weniger nahe kommen, ihn aber letztendlich nicht herstellen können. Erfahrung ist, ganz gleich, ob sie auf detenninistischen oder indetenninistischen Vorstellungen fußt, sowohl aufgrund unvollkommener theoretischer Konzepte wie auch aufgrund der Unmöglichkeit, exakte bzw. eindeutige Daten zu gewinnen, stets indetenninistisch. Erfahrungswissen ist nie ganz exakt und nie ganz sicher. Das könnte ausschließlich an unvollkommenen Theorien und nur begrenzt genauen Meßinstrumenten liegen. Genauso gut könnte aber auch echter Zufall, Indetenninismus in der Natur seine Hand im Spiel haben. Indetenninismus in der Natur würde auch zusätzliche Grenzmarken fUr die menschliche Erkenntnistätigkeit setzen. Hätten wir es mit einer indetenninistischen Natur zu tun, dann wäre Laplaces Traum einer vollständigen Detenninierung der Vorgänge in der Welt nicht nur deshalb unrealistisch, weil die menschlichen Wissenschaftler nicht die intellektuellen und rezeptiven Möglichkeiten des imaginierten Dämons besitzen, sondern auch, weil die Vorgänge selbst nicht durch Ursachen und Gesetze detenniniert wären. Gäbe es echten Zufall, so wären die Möglichkeiten des Menschen, Ereignisse zu erklären, vor-
I. Einleitung
15
herzusagen oder hervorzurufen, auch durch die kausale Offenheit der Natur selbst endgültig begrenzt. Es könnte sich also lohnen, auch den Zufall etwas genauer unter die Lupe die Lupe zu nehmen. Die Frage "Determinismus oder Zufall?" wird manchmal mit der Diskussion über die Willensfreiheit vermischt. Determinismus wird mit Zwang und Zufall mit Freiheit gleichgesetzt oder zumindest in einen engen Zusammenhang gerückt. Die Verbindung dieser beiden Gegensatzpaare beruht meiner Ansicht nach auf einem Mißverständnis, denn es ist schwerlich schlüssig zu begründen, warum die Existenz von Zufall ein Argument ft1r die Willensfreiheit sein sollte. Ob eine Handlungsentscheidung allein auf der Basis von bewußten und unbewußten auf Ursachen ZUTÜckfUhrbaren Gründen oder unter Mitwirkung des Zufalls getroffen wird, macht ft1r die Freiheit des Willens überhaupt keinen Unterschied. Im einen Fall ist der Wille eben durch deterministische, möglicherweise angebbare, Faktoren bestimmt, im anderen Fall wird er durch ein spontanes Geschehen zwar unvorhersehbarer, aber keineswegs freier. Die eigentlichen Gegensatzpaare sind meiner Ansicht nach nicht Willensfreiheit und Determinismus, sondern Determinismus und Zufall auf der einen sowie Zwang und Freiheit auf der anderen Seite. Freiheit ist ein Ausdruck von Befmdlichkeit. Äußere Umstände beeinflussen das Geruhl von Freiheit nur auf dem Weg über die persönliche Beurteilung. So gehört zur Unfreiheit bzw. zum Zwang unabdingbar das Bewußtsein dieser Tatsache. Bestimmungen des Willens, die subjektiv nicht als Zwang empfunden werden, lassen das GefUhl von Freiheit ungetrübt. Zwischen diesen beiden Gegensatzpaaren gibt es neben Unterschieden aber auch Analogien. So sind Zufall und Freiheit nichtpositiv, d.h. durch Zuschreibung von Eigenschaften, sondern nur relativ zu ihren Antibegriffen zu bestimmen. Dem Zufall selbst kommen schlechterdings keine eigenen Merkmale zu. Zufall kann man inhaltlich nur bestimmen, indem man sagt, welche Aspekte des Determinismus er verletzt, d.h. welche der durch Ursache, Wirkung und Gesetzlichkeit hergestellten Beziehungen zwischen aufeinanderfolgenden Ereignissen aufgehoben sind. Bei der genaueren Betrachtung zufälliger Ereignisse muß man angeben, in welcher Hinsicht ein betrachteter Vorgang zufällig ist. Auch ft1r Freiheit gibt es letztlich keine positive Defmition. Sie ist immer nur begreifbar als die Freiheit von irgendeinem Zwang. Und wenn dennoch oft von der Freiheit schlechthin gesprochen wird, ohne daß ein zugehöriger Zwang erwähnt wird, dann gibt es entweder einen Grundkonsens über die Art der Repressalien oder Zwänge, von denen man frei sein will, oder aber die individuel-
16
I. Einleitung
len Freiheitsvorstellungen der Menschen sind, ohne daß dies erkannt wird, unterschiedlich. Der Weg zur Charakterisierung des Zufalls, mit der wir uns in Kapitel VI. hauptsächlich beschäftigen wollen, ist damit vorgezeichnet. Er fUhrt über die schrittweise Aufhebung der kausalen und gesetzmäßigen Bindungen zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen eines Systems zu mehr und mehr Indeterminismus. Zufall liegt in seiner umfassendsten und stärksten Form dann vor, wenn alle - wirklich alle - physikalischen Beschränkungen aufgehoben sind. Orientieren wir uns an einen so umfassenden, von unausgesprochenen d.eterministischen Restriktionen befreiten Zufall, so wird deutlich, daß auch jene Theoretiker, die sich dem indeterministischen Lager zurechnen, noch immer sehr nahe am deterministischen Ende eines durch die Pole Determinismus auf der einen und absoluter Zufall auf der anderen Seite begrenzten Begriffsspektrums liegen. Die Überlegungen über den Zufall fUhren aber nicht nur zur Gewinnung von Bedingungen ftlr unterschiedliche Grade von Zufälligkeit. Am Ende des Kapitels gelangen wir auch zu einer Abgrenzung der Gültigkeitsbereiche jener Begriffe, die wie Irregularität, Indeterminismus, Gesetzlichkeit und Kausalität in der Diskussion um Determinismus und Zufall die hauptsächlichen Handlungsträger sind. In Kapitel IV. werden bereits einige Versionen des Determinismus unterschieden, in Kapitel VII. zeigt sich dann, daß diese Differenzierung nicht ausreicht. Die zuvor stillschweigend vorausgesetzte erkenntnistheoretische Perspektive, die Beurteilung des Determinismus-Problems aus dem Blickwinkel der Erfahrung, wird dort um zwei weitere Ebenen ergänzt. Dazu wird ein vorher bereits implizit benutztes dreistufiges Modell der Erkenntnistätigkeit skizziert, das neben der epistemischen als weitere Bestandteile eine konzeptuelle und eine ontische Ebene enthält. Ursprung der Erfahrung ist danach eine unabhängig existierende Realität (die ontische Ebene), die durch die Wahrnehmungs- und Denkprozesse (die konzeptuelle Ebene) strukturiert wird. Produkt dieses Vorgangs ist die Erfahrung (die epistemische Ebene). Das in den Abschnitten 2.-5. des Kapitels VII. skizzierte erkenntnistheoretische Modell erhebt keinen Anspruch auf Originalität oder Novität, sondern läßt sich meiner Ansicht nach gut in die transzendentalphilosophische Tradition einordnen. Auch wenn die erkenntnistheoretische Skizze sicherlich viele Fragen offenlassen muß, reicht der Umfang der Repräsentation aber, so denke ich, dennoch aus, das Drei-EbenenModell des Determinismus zu tragen.
I. Einleitung
17
Das Determinismus-Problem erscheint nun dreigeteilt. Die Frage nach dem Determinismus muß folglich ftlr jede der Ebenen separat beantwortet werden. Ob Determinismus oder Indeterminismus auf der konzeptuellen Ebene herrscht, hängt ab von der Beziehung zwischen der von der Theorie konstruierten (konzeptuellen) Wirklichkeit und dem mathematischen Modell, das ihr Verhalten beschreibt. Auf der epistemischen Ebene fmden wir, gleichgültig, welche Struktur die konzeptuelle Ebene hat, immer Indeterminismus. Für die ontische Ebene, die Natur, läßt sich eine Entscheidung durch keines der in diesem Kapitel diskutierten Kriterien (und wohl auch durch kein anderes) herbeiführen. Im Rahmen des Drei-Ebenen-Modells werden wechselseitig scheinbar unverträgliche deterministische und indeterministische Positionen relativiert und auf eigene Gültigkeitsbereiche beschränkt. Es wird sich zeigen, daß sie unter diesem veränderten Blickwinkel durchaus miteinander kompatibel sind. So machen die Indeterministen (z.B. Hans Reichenbach) üblicherweise die Ebene der Erfahrung zum Maßstab ftlr das Vorliegen von Determinismus, während die Deterministen (z.B. Max Planck) auf die deterministische Struktur von Theoriegefilgen verweisen. Vertreter beider Sichtweisen gehen erst dann in die Irre, wenn sie versuchen, die Verhältnisse auf der epistemischen bzw. der konzeptuellen Ebene durch einen Analogieschluß auf die ontische Ebene zu übertragen. Versuche, den Determinismus oder sein Gegenteil in der Natur nachzuweisen, haben, so die Konsequenzen der Überlegungen im Kapitel VII., keine Aussicht auf Erfolg und können allenfalls zur Selbstbestätigung der weltanschaulichen Grundhaltung eines Autors dienen. Die Erforschung des inneren Zusammenhanges von Theoriegefilgen und deren Korrespondenz mit der Erfahrung bleibt von dieser Kritik unberührt. Für die Philosophie ist meiner Ansicht nach vielmehr genau dies, die Untersuchung der internen Relationen von konzeptuellen Entitäten wie wissenschaftlichen Theorien, und der Struktur ihres Wechselspiels mit der epistemischen Ebene, eine ausgesprochen fiuchtbare Art, sich mit dem Determinismus auseinanderzusetzen. Mit diesen Schlußfolgerungen ist das wichtigste Ziel dieser Arbeit, eine allgemeine Lösung des Determinismus-Problems zu geben, erreicht. Nun stellt sich die Frage, wie sich das Konzept auf das Verständnis konkreter Theorien auswirkt. Wenn Einzelwissenschaftler sich der Philosophie zuwenden, so drückt sich darin wohl häufig der Wunsch nach einer Neugestaltung der theoretischen Grundlagen ihres Faches und damit der tiefreichenden Reinterpretation empirischer Befunde aus. Das geschieht häufig, wenn alte Vorstellungen im Lichte neuer Daten oder Denkmuster als falsch empfunden werden oder keine natür-
2 Koch
18
I. Einleitung
liehe Eingliederung neuer Erklärungskonzeptionen erlauben. In diesem Sinne kann man die Beschäftigung vieler Physiker mit philosophischen Problemen verstehen, die besonders im Gefolge der Entwicklung der Quantenmechanik sehr intensiv war. Ähnliches darf man wohl auch heute vermuten, wenn viele Autoren sich vor dem Hintergrund gewandelter Vorstellungen über das Verhalten von Systemen mit komplexer Dynamik auf veränderte Weise mit dem Gegensatz von Ordnung und Chaos auseinandersetzen. In den beiden letzten Kapiteln wollen wir uns mit der Chaos-Theorie und der Quantentheorie befassen und den zuvor entwickelten Ansatz dazu benutzen, die Nebel um das deterministische Chaos und die indeterministischen Grundprozesse der Natur ein wenig zu lichten. Der Grund für die Auswahl gerade dieser beiden Fälle ist ihr in gewisser Hinsicht antipodisches Verhältnis. Die eine ist eine deterministische Theorie, die andere eine indeterministische; aus dieser wird die Behauptung abgeleitet, chaotische Vorgänge seien deterministisch, in jene wird der Beleg hineingelesen, daß die natürlichen Ereignisse indeterministisch seien. Beide ansonsten sehr unterschiedlichen Theorien können rur sich in Anspruch nehmen, das Weltbild der Naturwissenschaften in erheblichem Maße beeinflußt zu haben und dies auch gegenwärtig noch zu tun. Die Chaos-Theorie ist die Metatheorie eines neuen Typs von mathematischen Naturbeschreibungen, die sich auf Vorgänge aus sehr unterschiedlichenPhänomenbereichen beziehen. Gemeinsames Kennzeichen dieser Vorgänge ist ihr komplexes Verhaltensmuster, das sie in der Vergangenheit einer konkreten quantitativen Beschreibung weitgehend entzog, auch wenn die das Verhalten der Systemkomponenten regelnden Gesetzmäßigkeiten bekannt waren. Für das Beispiel der Himmelsmechanik heißt dies, daß man zwar die Bewegungsgesetze der einzelnen Planeten kennt, nicht aber das Gesamtverhalten des Sonnensystems daraus ableiten kann. Pikant daran ist, daß Chaos-Theorien, die zur Erklärung solcher, üblicherweise als irregulärer oder zufiUlig bezeichneten Vorgänge geeignet erscheinen, eine deterministische Struktur besitzen. Aus diesem Grund sprechen viele Autoren von einem deterministischen Chaos. Ob die Annahme deterministischer Verhältnisse aber gerechtfertigt ist, ob chaotische Vorgänge, weil sie durch deterministische Theorien beschrieben werden können, darum selbst notwendigerweise deterministisch sind, werden wir in Kapitel VIII. zu beantworten versuchen. Im zweiten Fallbeispiel, der Quantenmechanik, mit der wir uns in Kapitel IX. auseinandersetzen wollen, haben wir es mit einer Theorie zu tun, von der man häufig behauptet, sie beweise ontischen Indeterminismus. Gleichzeitig ist die
I. Einleitung
19
sogenannte Kopenhagener Interpretation, auf die sich solche Behauptungen überwiegend stützen, aber stark empirisch orientiert und gibt sich positivistisch. Im Lichte des Drei-Ebenen-Modells wird deutlich, daß die vermeintlich schlüssige Begründung der Endgültigkeit dieser indeterministischen Naturbeschreibung auf einem pseudopositivistischen Fehlschluß beruht, der durch die Vermischung erkenntnistheoretischer Ebenen entsteht. Dies drückt sich z.B. darin aus, daß die von der Quantenmechanik postulierte konzeptuelle Realität, d.h. das von der Theorie explizit formulierte und implizit unterstellte System von Objekten und Relationen (Siehe: Kapitel VII.), häufig unkritisch mit der ontischen Realität, der Wirklichkeit, identifiziert wird. Aus der Analyse der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik wird, so glaube ich, deutlich, daß ein vielfach geleugneter, unbemerkt eingesickerter naiver Realismus der eigentliche Halt jener Autoren ist, die die indeterministische Struktur der mikrophysikalischen Beschreibung fUr endgültig erachten. Auch die Beschreibung der mikrophysikalischen Grundprozesse kann den ontologischen Anteil das Determinismus-Problems nicht lösen. Das im Rahmen dieser Arbeit dargestellte Konzept ist der Versuch einer allgemeinen Lösung. Er sollte also ohne qualitative Änderung auch fUr beliebige andere Fälle gültig sein und zu prinzipiell gleichen Antworten auf das Determinismus-Problem fUhren. Ändern können sich in Abhängigkeit von der betrachteten Theorie immer nur die Antworten auf die Frage nach dem Determinismus auf der konzeptuellen Ebene, der inneren Struktur einer Theorie. Die Frage, ob unsere Erfahrung deterministischen Charakter hat, steht fest und lautet "Nein". Und die Frage, ob die Natur selbst im Geltungsbereich einer Theorie deterministisch ist oder nicht, kann in Anlehnung an die berühmten Worte Emil Du Bois-Reymonds gleichfalls, wenn auch unbefriedigend, so doch eindeutig beantwortet werden: "Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen."
2·
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege 1. Einleitung Oftmals wird eine, wie Wolfgang Spohn es ausdrückt, krude Gleichsetzung "kausal = deterministisch" vorgenommen.} Doch - und das wird sich auch im Verlauf unserer Diskussion noch zeigen - ist Kausalität die gegenüber dem Determinismus schwächere These über den ursächlichen oder regelhaften Zusammenhang der natürlichen Ereignisse. Damit wir dies in Kapitel VI. schlüssig begründen können, wollen wir uns zunächst genauer mit den konstituierenden Elementen der Kausalität befassen. Die häufig in unterschiedlicher Bedeutung gebrauchten Begriffe Ursache, Wirkung, Ereignis. Regularität usw. sollen ftlr den Rahmen unserer Überlegungen terminologisch festgelegt und in die Skizze eines akzeptablen neuzeitlichen Kausalitätskonzeptes integriert werden. Hier soll nicht versucht werden, eine voll befriedigende Kausalitätstheorie zu entwickeln. Das ist bis zum heutigen Tag weder einem einzelnen Autor noch einer philosophischen Theorietradition gelungen. Der Erfolg eines solchen Vorhabens steht aus Gründen, von denen in den folgenden Abschnitten noch die Rede sein soll, auch nicht in Aussicht. Ziel dieses Kapitels ist auch nicht die Entwicklung einer eigenen oder die Diskussion einer bestehenden Typologie von Ursachen, wie sie Patrick Suppes2 oder Wolfgang Spohn3 unternehmen. Stattdessen soll in diesem und dem folgenden Kapitel bei der Auseinandersetzung mit wichtigen historischen und zeitgenössischen Ansätzen die theoretische Basis bestimmt werden, auf der die nachfolgenden Überlegungen aufbauen. Die Darstellung der diskutierten Positionen erfolgt dabei nur insoweit, wie es ftlr die grobe Sondierung des Terrains und die Aufuahme der ftlr unser Thema wichtigen Aspekte der Kausalität notwendig ist.
} Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983,
s. v.
2 Patrick Suppes, A Probabilistic Theory ofCausality, Amsterdam, 1970. 3 Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983.
2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes "Kausalität"
21
Beginnen soll dieses Kapitel aber mit der Diskussion einer ebenso berühmten wie fundamentalen Kritik an der Existenzberechtigung des Begriffes Kausalität, die Bertrand Russell vor fast siebzig Jahren vorgebracht hat. Dabei wird sich zeigen, daß Russells Argumente auch manchen heutigen Kausalitätstheorien durchaus noch gefährlich werden können.
2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes "Kausalität" In seinem Aufsatz "On the Notion of Cause" schreibt Bertrand Russell: "All philosophers of every school, imagine that causation is one of the fundamental axioms or postulates of science, yet, oddly enough, in advanced sciences such as gravitational astronomy, the word "cause" never occurs. Dr. James Ward, in his Naturalism and Agnosticism, makes this a ground of complaint against physics: the business of science, he apparently thinks, should be the discovery of causes, yet physics never even seeks them. To me it seems that philosophy ought not to assurne such legislative functions, and that the reason why physics has ceased to look for causes is that, in fact, there are no such things. The law of causality, I believe, Iike much that passes muster amoung philosophers, is a relic of a bygone age, surviving, Iike the monarchy, only because it is erroneously supposed to do no harm. ,,4
Kausalität ist nach der von Russell hier vertretenen Ansicht ein irreführender und dem vorwissenschaftlichen Denken angehörender Begriff. Viel angemessener rur die Darstellung des traditionell in der Terminologie von Ursache und Wirkung betrachteten Sachverhaltes sei, darin stimmt er z.B. mit Ernst Mach 5 überein, der Begriff der Funktion. Bevor er jedoch zu dieser Schlußfolgerung gelangt, polemisiert er gegen den Kausalitätsbegriff und versucht zu zeigen, daß dieser unhaltbar ist, auf welche Weise auch immer man ihn versteht. Konkrete Zielobjekte seiner Kritik sind Defmitionen, die aus "Baldwin's Dictionary" stammen. Zunächst Ursache und Wirkung: "'CAUSE AND EFFECT'. (I) Cause and effect .... are correlative terms denoting any two distinguishable things, phases, or aspects of reality, which are so related to each other, that whenever the first ceases to exist, the second comes into existence immediately after, and whenever the second comes into existence, the first has ceased to exist immediately before. ,,6
4 Bertrand RusselI, On the Notion of Cause, Proceedings of the Aristotelian Society, New Series Vol. 13, 1913, S. l. 5 Siehe: RudolfThiele, Zur Charakterisitik von Machs Erkenntnislehre, Halle, 1914, S. 71 ff. 6 Bertrand RusselI, On the Notion of Cause, Proceedings of the Aristotelian Society,
22
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
Russell zitiert noch zwei weitere Defmitionen aus "Baldwin's Dictionary". Zum einen die Defmition von Causality, die dort als notwendige Verknüpfung von Ereignissen in einer zeitlichen Abfolge bezeichnet wird, und zum anderen Cause (notion oj), die er nur einer kurzen Erörterung würdigt und dann als nicht relevant bzw. unsinnig beiseite legt. Seine Kritik an der Kausalität besteht im wesentlichen aus drei Teilen: Erstens bestreitet er, daß die angefUhrte Defmition von Ursache und Wirkung eine Entsprechung in der Realität besitzt. Zweitens negiert er die Möglichkeit, von einer kausalen Notwendigkeit zu sprechen. Und drittens behauptet er, in den fortgeschrittensten Bereichen der modemen Naturwissenschaften seien Ursache und Wirkung überflüssig oder gar Fremdkörper. Wir wollen uns nun mit diesen drei Thesen eingehender befassen und dabei eine erste Annäherung an die Inhalte und Probleme der Kausalität erreichen. a) Das Argument gegen direkte Ursachen
Wenn die Defmition aus "Baldwin's Dictionary" Gültigkeit haben soll, so stellt Russell fest, dann darf zwischen Ursache und Wirkung kein zeitlicher Zwischenraum existieren. Die Wirkung muß unmittelbar auf die Ursache folgen. Wenn nun auf der anderen Seite die Vorgänge in der Natur kontinuierlich verlaufen, dann gilt ftlr jede Ursache zum Zeitpunkt t 1 und jede Wirkung zum Zeitpunkt ~, daß, wie dicht auch immer t 1 und ~ beieinander liegen, stets ein Zeitpunkt t3 existiert, der nach der Ursache und vor der Wirkung liegt, so daß wir das zeitliche Intervall zwischen Ursache und Wirkung beliebig weit verkleinern können, ohne jemals einen unmittelbar der Wirkung vorhergehenden Zeitpunkt zu erhalten, zu dem der Defmition entsprechend die Ursache auftreten soll. Das Argument ist ohne Zweifel gültig ftlr die menschliche Wahrnehmung, deren Unterscheidungsfllhigkeit dicht beieinander liegender Zeitpunkte Grenzen gesetzt sind: Zwischen zwei ftlr die menschliche Wahrnehmung unmittelbar aufeinander folgenden Augenblicken lassen sich apparativ sicher weitere Zeitpunkte und mit ihnen verbundene Ereignisse fmden. Aber auch, wenn man die Kausalrelation nach der obigen Defmition rein mathematisch begründen wollte, wäre diese Schwierigkeit nicht überwunden, denn, würde man den zeitlichen Abstand zwischen den zwei betrachteten Punkten unendlich verkleinern, fUhrte das letztlich nur dazu, daß beide Punkte zusammenfielen, d.h.
New Series Vol. 13, 1913, S. 3.
2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes Kausalität
23
Ursache und Wirkung fänden gleichzeitig statt. Dieses Ergebnis steht natürlich in Konflikt mit dem Grundsatz, daß die Ursache der Wirkung vorausgehen muß. Was wäre die Konsequenz, wenn es keine beliebig kleinen Zeiträume gäbe, wenn es also vorkommen könnte, daß zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten kein dritter existierte?7 Hier kann man zwei Fälle unterscheiden. Der erste ist rein pragmatisch bedingt, und man begegnet ihm Z.B. in den Wirtschaftswissenschaften, wo man mit einem diskontinuierlichen Zeitbegriff arbeitet, wenn gewisse Daten wie die Arbeitslosenzahl oder das Produktionswachstum nur in bestimmten Abständen erhoben werden. Theorien, die sich auf eine solche empirische Basis beziehen, können ungeachtet der Tatsache, daß zwischen zwei Meßzeitpunkten physikalisch Zeit verflossen ist, dennoch sinnvoll von direkten Ursachen sprechen. Der zweite Fall ist hypothetisch. Er wäre dann gegeben, wenn es in der physikalischen Zeit diskrete Augenblicke gäbe. Das ist eine Auffassung, die unter den Physikern durchaus Anhänger hat. Russells Argument würde unter solchen Umständen zwar seiner grundsätzlichen Stringenz beraubt, bliebe aber - immer unter der Voraussetzung der Defmition aus "Baldwin's Dictionary" - weiterhin in Alltagssituationen gültig, denn selbst, wenn die Zeit eine Körnung besäße, wäre diese immer noch so fein, daß zwei direkt aufeinanderfolgende Augenblicke weit unterhalb der menschlichen Unterscheidungsflihigkeit lägen. Die natürlichen Ereignisse würden uns folglich auch dann kontinuierlich und nicht wie in einem alten oder schadhaften Film sprunghaft erscheinen. Aus diesem Grunde würde zwischen dem, was wir im Alltag als Ursache, und dem, was wir als Wirkung bezeichnen, immer ein meßbarer zeitlicher Abstand liegen und damit eine direkte zeitliche Aufeinanderfolge nicht gegeben sein. Hat Russell mit diesem Einwand nun recht gegenüber jenen, die, wie z.B. Curt lohn Ducasse8 oder Wolfgang Spohn9, die Existenz von Ursachen in diesem Sinne behaupten? 7 Dies sagt Russell selbst später ebenfalls in: Bertrand Russel/, The Analysis of Mind, London, 1921. Der Anstoß rur das Inbetrachtziehen einer solchen Möglichkeit war rur ihn offenbar Plancks Quantentheorie, die ja eine kleinste Umsetzungseinheit, das Wirkungsquantum, annimmt. Daraus ergibt sich, daß ein Prozeß wie der Wärmeausgleich nicht länger als kontinuierlicher Vorgang betrachtet werden kann, sondern als Massenphänomen diskreter Zustände vieler einzelner Teilchen verstanden werden muß. 8 Siehe: Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 1-14. 9 Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983, S.270.
24
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
Ducasse versucht, diese Kritik auf zwei Arten zu entkräften. 10 Erstens faßt er Ursache und Wirkung als raurnzeitlich ausgedehnt - also als Ereignisse - auf, während Russell zwar ebenfalls von Ereignissen spricht, aber offenbar Zustände meint. 11 Zweitens wendet er einen Kunstgriff an, indem er alles zur Ursache rechnet, was vor einem festgesetzten Zeitpunkt in einem gewissen Raumsektor geschieht, und zur Wirkung all das erklärt, was nach diesem Zeitpunkt in dem betreffenden Raurnsektor geschieht. Auf diese Weise folgen Ursache und Wirkung unmittelbar aufeinander, und es gibt keinen zeitlichen Zwischenraum für das Eingreifen intervenierender Einflüsse. Das folgende Schaubild soll das veranschaulichen: - - - Ursache -----f-----Wirkung - - - Zeit------------------------~
Abb.l
Diese Ansicht scheint mir zwar dem Russellschen Einwand begegnen zu können, weist aber eine gravierende Schwäche auf: Die Menge der Ereignispaare, die zueinander in einer Ursache-Wirkung-Beziehung stehen, wird auf solche beschränkt, die unmittelbar aufeinander folgen. Im Alltag verwenden wir aber die Begriffe von Ursache und Wirkung nicht nur dort, wo wir keinen zeitlichen Abstand zwischen Ursache und Wirkung mehr feststellen können, sondern sogar hauptsächlich in Fällen, in denen der zeitliche Abstand mehr als offenkundig ist. Die Behauptung, daß ein brennendes Streichholz einen Waldbrand verursacht hat, bleibt auch dann wahr, wenn das Streichholz zu Asche geworden ist, lange bevor der Wald in Flammen steht. Zwischen Ursache und Wirkung liegt also gewöhnlich ein gewisser Zeitraum. Dies bedeutet, wie Russell darlegt, daß eine Ursache meistens keinen direkten Kontakt zur Wirkung hat. Vielmehr muß man innerhalb des zwischen Ursache und Wirkung liegenden Zeitintervalls von Kausalrelationen zwischen früheren und späteren Ereignissen ausgehen, so daß die Ursache nur vermittelt über die unendlich vielen Zwischenstufen der kontinuierlichen Entwicklung die Wirkung hervorbringt. Auch eine Notwendigkeit ist beim Alltagsgebrauch nicht gefordert, 10 Curt lohn Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causa! Relation, in: Curt lohn Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 3 und S. 5. 11 Siehe: Bertrand RusselI, On the Notion of Cause, Proceedings of the Aristotelian Society, New Series Vol. 13, 1913. Vergleiche hier insbesondere die unterschiedlichen Redeweisen: S. 7 und S. 18.
2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes Kausalität
25
denn wir würden selbstverständlich daran festhalten dürfen, daß ein bestimmtes Streichholz einen Waldbrand verursacht hat, ohne gleichzeitig behaupten zu müssen, jedes brennende Streichholz fIlhre zu einem Waldbrand. Eines allerdings ist gefordert: Es muß - mindestens - eine Entwicklungslinie zwischen Ursache und Wirkung geben, eine Linie, die nicht unterbrochen sein darf. Der wissenschaftliche Sprachgebrauch ist ähnlich. In der Umweltforschung beispielsweise geht man seit einigen Jahren der Frage nach, welche Faktoren für das Waldsterben verantwortlich sind. Als einen möglichen Kandidaten hat man Autoabgase in Betracht gezogen. Die in den Abgasen enthaltenen verdächtigen Stoffe entfalten die ihnen unterstellte schädliche Wirkung aber erst nach einer gewissen Zeit (und nachdem sie sich chemisch verändert haben, so daß man sie in diesem Zustand kaum noch als Autoabgase bezeichnen kann). Gewöhnlich verstehen wir also unter einer Ursache den Anfangspunkt einer Kausalkette, der nur indirekt mit der Wirkung in Verbindung steht. Eine der Wirkung direkt vorausgehende Ursache, von der "Baldwin's Dictionary" spricht, ist in einer Welt der kontinuierlichen Veränderungen zwar nicht unmöglich, spielt aber filr unser gewöhnliches Verständnis von Verursachung keine große Rolle. Ist es aber darum, wie Russell weiter folgert, falsch, vom Anfangspunkt einer Kausalkette als Ursache zu sprechen, weil man all die zwischen Ursache und Wirkung liegenden Entwicklungsstufen mit ebensoviel Recht Ursachen oder Wirkungen nennen darf wie die anfänglich so bezeichneten? Dieser Einwand ist nur triftig, wenn man von einer Ursache behauptet, sie sei die Ursache schlechthin. Gibt man zu, daß es eine Sache der Konvention ist, wo man den Beginn einer Kausalkette festlegt, und welches ihrer Glieder man als Wirkung bezeichnet, dann geht diese Kritik ins Leere. Man kann also Russell im Grundsatz bei seiner Argumentation gegen direkte Ursachen zustimmen, da sie, wenn schon nicht unmöglich, so doch im alltäglichen Diskurs praktisch nicht vorhanden sind. "The notion of cause" ist darum, wie gezeigt, aber noch lange nicht als obsolet erwiesen worden. Sehen wir, was Russell weiter vorzubringen hat. b) Die Negation kausaler Notwendigkeit
Der Grundsatz der notwendigen Abfolge (ebenfalls enthalten in dem obigen Zitat aus "Baldwin's Dictionary") besagt, daß immer, wenn eine gewisse Ursache auftritt, sich auch die zugehörige Wirkung einstellen muß. Wenn jemand eine bestimmte Handlung begeht, um einen Effekt zu erzielen, also beispiels-
26
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
weise eine Münze in einen Automaten wirft, um sich Zigaretten zu ziehen, dann können innerhalb des Zeitraumes, der zwischen dem Einwerfen der Münze und der Entnahme der Packung verstreicht, Umstände eintreten, die den erwarteten Effekt zunichte machen. Etwas ist notwendig, wenn es wahr unter allen möglichen Umständen ist, daher bedeutet die Existenz von Ausnahmen eine Widerlegung der Notwendigkeit. Wenn es z.B. ein Erdbeben gibt oder der Automat durch eine Bombe zerstört wird, und so die Wirkung nicht eintreten kann, ist der durch den Ausdruck notwendige Abfolge erhobene Anspruch auf ausnahmslose Gültigkeit scheinbar zunichte gemacht. Der zeitliche Abstand zwischen Ursache und Wirkung wird hier also ein weiteres Mal Ansatzpunkt rur Russells Kritik. Zweifellos gibt es Ausnahmen von solchen Regeln, wie sie durch das Automatenbeispiel exemplifiziert werden, doch dieser Sachverhalt kann auch in einer Weise interpretiert werden, der in Übereinstimmung mit der Annahme kausaler Notwendigkeit steht. Dazu werden die Randbedingungen in die Kausalrelation einbezogen und die Notwendigkeit des Eintretens der Wirkung nach dem Erscheinen der Ursache auf das Vorhandensein von günstigen Randbedingungen beschränkt. In Abschnitt 4. werden wir hierauf zurUckkommen. Russells Kritik triffi auch hier wieder nur eine naive Auffassung von Kausalität, nach der eine Ursache (im Sinne eines einzelnen Faktors) allein bereits mit Notwendigkeit die Wirkung nach sich zieht. Eine solche Auffassung, wie sie sich z.B. noch bei Baruch de Spinoza fmdet l2 , war aber zu der Zeit, in der Russells Kritik datiert, schon lange nicht mehr gängige Auffassung von Philosophen und Wissenschaftlern. (Siehe auch: Kapitel IV., Abschnitt 6.) Die generelle Unzuverlässigkeit von Wahlprognosen, Voraussagen über wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklungen ist unter anderem darauf zuruckzufilhren, daß es sich bei einem Wirtschafts- oder Staatssystem weder um ein vollständig determinierbares noch um ein abgeschlossenes System handelt, da es immer nicht berUcksichtigte innere oder von außen kommende Faktoren wie z.B. geistige Strömungen, die Wetterverhältnisse etc. gibt, die auf das betrachtete Szenario einwirken. Die Lücke zwischen Ursache (gesellschaftliche Bedingungen zum Zeitpunkt t l ) und Wirkung (gesellschaftliche Bedingungen zum Zeitpunkt t2) hat also ganz deutlich praktische Auswirkungen. (DarUber hinaus gelten in menschlichen Gesellschaften offenbar die gleichen auf den ersten Blick sehr seltsamen Gesetzmäßigkeiten wie für andere 12 Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg, 1976, Axiome 3 u. 4., S. 4 f.
2. Russells Kritik an der Berechtigung des Begriffes "Kausalität"
27
sogenannte Systeme mit komplexer Dynamik, über die im Kapitel VIII. noch zu reden sein wird.) c) Die Behauptung der Überjlüssigkeit des Kausalitätsbegriffes
Russells Behauptung, gerade in den fortgeschrittensten Wissenschaften (er erwähnt die Newtonsehe Gravitationstheorie) werde von Kausalität gar nicht mehr gesprochen 13 , mag zwar in einem gewissen Sinn zutreffen, doch ist damit noch lange nicht gesagt, daß ihnen auch das Denken in der Kategorie Kausalität abgeht. Zufälligerweise bietet die von Russell in Anspruch genommene Gravitationstheorie Beispiele, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. So spielte die Annahme zusätzlicher Gravitationsquellen (bis dahin unberücksichtigter Ursachen also), die man zur Erklärung der Bahnabweichungen bekannter Planeten einführte, eine große Rolle bei der Entdeckung neuer Planeten. Die annähernd zu gleicher Zeit und unabhängig voneinander auf der Basis der Newtonschen Gesetze durchgeführten Berechnungen von Adams und Le Verrier ermöglichten im Jahre 1846 die Lokalisierung des Planeten Neptun, dessen Masse die zuvor ungeklärten Bahnstörungen des Uranus hervorruft. Durch entsprechende Berechnungen kam es zur Entdeckung des Pluto im Jahre 1930. Zwar mögen die Newtonsche und andere Theorien nicht explizit von Ursache und Wirkung sprechen, durch ihre Anwendung lassen sich aber Hypothesen über Ursachen und Wirkungen aufstellen. Die Funktion ist nur eine allgemeine Zuordnungsregel. Damit daraus eine konkrete Aussage wird, bedarf es individueller Entitäten - und diese sind nichts anderes als Ursachen. Erst wenn eine Zuordnungsvorschrift bzw. eine mathematisch formulierte physikalische Gesetzmäßigkeit individuelle Entitäten wie Meßwerte oder Bedingungen in Beziehung setzt, ergibt sich eine sinnvolle Aussage (Siehe: Kapitel V.). Was nach dieser Kritik Russells übrig bleibt, nämlich die Beschreibung der Natur
13 Zur Unterstützung dieser Auffassung könnte eine Stelle aus dem dritten Buch von Newtons "Principia" herangezogen werden, wo er einräumt, eine Ursache rur die Schwere der Körper nicht gefunden zu haben. Es sei genug, daß Gravitation existiere und sich gemäß der Gesetze verhalte, die er angegeben habe. An dieser Stelle sagt Newton aber weder, er glaube, es gebe keine Ursache, noch, es sei sinnlos, eine zu suchen, sondern nur, daß er noch keine habe finden können. Vgl.:Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg, 1988, S. 230.
28
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
durch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten - seien sie deterministisch oder probabilistisch - bildet die Basis, auf welcher der heutige Kausalitätsbegriff fußt. 14
3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels Wenn man davon redet, daß etwas die Ursache von etwas anderem ist, dann stellt sich die Frage, zu welcher Sorte von Gegenständen dieses Etwas gehört. Stellt man Berechnungen an, so ist klar, daß die Objekte dieser Rechnungen Zahlen sind. Bei der Behandlung von Fragen der Kausalität sind die Akteure des Szenarios nicht ohne weiteres bestimmt. Unterschiedliche Auffassungen über die Gegenstände der Kausalrelation genügen oftmals bereits, um Erwägungen zum Thema Kausalität mit auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Resultaten schließen zu lassen, ohne daß in der Analyse notwendigerweise Fehler enthalten sind. Zunächst einmal kann man davon sprechen, daßDinge (vor allem raumzeit~ Iicher Art) etwas verursachen: "Die Kerze scham Licht." oder: "Das Auto hinterließ eine Bremsspur." oder: "Der Alkohol brachte ihn um." Von Gegenständen spricht beispielsweise David Hume in seiner berühmten Defmition der Kausalität. Mir scheint, daß hier noch sehr deutlich der Zusammenhang zwischen Verursachung und der Zuschreibung von Verantwortlichkeit durchscheint. Gegenstände werden in irgendeinem Sinne zu handelnden Personen gemacht. Die Verwendung einer solchen Redeweise ist im Alltag ebenso wie in einem wissenschaftlichen Zusammenhang aber trotzdem vernünftig, wenn man sich über die Implikationen im klaren ist. Man kann weiterhin davon reden, daß Vorgänge oder Ereignisse etwas verursachen: "Der Brand brachte ihn um seinen Besitz." oder: "Das Tropfen des Wasserhahns ließ ihn nicht einschlafen." Wenn über Kausalität theoretisiert wird, dann sind meistens Ereignisse die Träger der Handlung. Sie können durch 14 Russell scheint seine Meinung über das Konzept von Kausalität später revidiert zu haben. In: Bertrand Russell, Human Knowledge, New York, 1948, insbesondere im Teil 6, macht er expliziten und positiven Gebrauch von derkausalistischen Interpretation der Naturgesetze. Ich habe dennoch diese ältere Auffassung Russells dargestellt, weil sie einerseits durch die Diskussion der Einwände eine erste Abgrenzung gegen frühere Vorstellungen über Kausalität ermöglicht, und andererseits einige wichtige Elemente enthält, die auch neueren Ansätzen durchaus noch Probleme bereiten. Als ein Beispiel sei hier die Theorie Wolfgang Spohns genannt, der von direkten Ursachen spricht, ohne die Russellschen Einwände gegen diesen Begriff ausräumen zu können.
3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels
29
den Spezialfall des Ereignisses ohne zeitliche Ausdehnung, den Zustand, ersetzt oder ergänzt werden: "Der Zustand ZI des Systems S zum Zeitpunkt t l hatte den Zustand Z2 des Systems S zum Zeitpunkt tz zur Folge." Auch Dispositionen oder Fähigkeiten können etwas verursachen: "Die Löslichkeit von Salz ist die Ursache dafUr, daß es zur Beseitigung von Glatteis benutzt wird." oder: "Sein Charme macht ihn zu einem gefragten Gesprächspartner." Nancy Cartwright bezieht sich in ihrem Buch "Nature's Capacities and their Measurement"15 explizit auf Fähigkeiten dieser Art und meint, in ihnen die besten Kandidaten ftlr Ursachen gefunden zu haben. Selbst Gesetzmäßigkeiten können als Ursachen betrachtet werden: "Das Gesetz der großen Zahl sorgt daftlr, daß die Lottokugeln aus der Trommel ungefähr gleich häufig gezogen werden." oder: "Das Gesetz der natürlichen Auslese ist eine Ursache ftlr die Evolution der Arten." Und natürlich können auch Verhaltensweisen oder Handlungen Ursachen sein: "Das 'Fegen' der Rothirsche verursacht große Waldschäden." Die Auswahl der Beispiele könnte leicht vergrößert werden. Vermutlich ist alles, über das man sinnvoll reden kann, in der Lage, als Ursache und Wirkung in einer Kausalrelation zu fungieren. Das gilt ftlr konkrete Gegenstände ebenso wie ftlr Staaten oder Ideen. Hier soll nicht darüber diskutiert werden, weIche dieser Redeweisen angemessen sind oder nicht und weIche gänzlich sinnlos oder besser zu vermeiden sind, denn das scheint ein ausgesprochen schwieriges Thema zu sein, bei dem sehr unterschiedliche methodische, psychologische, soziale und kulturelle Probleme eine Rolle spielen. Im Interesse einer kurzen und prägnanten Darstellung der Verhältnisse mag es vernünftig sein, z.B. von den Schäden zu reden, die Alkohol der Volksgesundheit zuftlgt, doch es wäre absurd, wenn man deshalb eine chemische Substanz als TeuJelszeug an den Pranger stellte oder sie gar noch bestrafen wollte, wie seinerzeit Xerxes, der das Meer auspeitschen ließ, nachdem er den Krieg gegen die Griechen verloren hatte. Im Rahmen einer detaillierten Erörterung von Kausalität wäre es wohl am besten, den Begriff Verursachung - außer im Zusammenhang menschlicher Handlungen (und vielleicht sogar auch dort) gänzlich zu tilgen und ihn durch einen neuen unbelasteten zu ersetzen, weil der Ausdruck zu sehr auf einem archaischen und anthropomorphen Streben nach der Zurechnung von Verantwortung basiert.l 6 Doch ist diese Forderung wohl 15 Nancy Cartwright, Nature's Capacities and their Measurement, Oxford, 1989. 16 Siehe: Hans Kelsen, Die Entstehung des Kausalgesetzes aus dem Vergeltungsprin-
30
11. Kausalität, Teil I: Zugänge und Abwege
illusorisch: Erstens ist Ersatz nicht in Sicht, und zweitens bleibt in bestimmten Zusammenhängen, wie der Biologie, den Gesellschaftswissenschaften oder der Psychologie selbst die Verwendung von teleologischen Termini im Zusammenhang mit Ursache und Wirkung sehr nützlich, ohne daß dies notwendig erweise zu einem Importieren von vorwissenschaftlichen Anschauungen fUhrt. Wenn wir daher im folgenden weiter von Verursachung sprechen, so impliziert dies keine aktive, handelnde Rolle der Ursache und eine passive, erleidende der Wirkung. Die Ursache bringt durch ihre Existenz zum Zeitpunkt t l und nichts darüber hinaus die Wirkung zum Zeitpunkt t2 hervor. Im weiteren Verlauf wollen wir als Ursachen nur Bedingungen, Zustände und Ereignisse zulassen. Zwischen den drei Begriffen besteht folgende Beziehung: Zustände sind vollständig bestimmte physikalische Bedingungen, und Ereignisse bestehen aus einer zeitlichen Abfolge von Zuständen. Das heißt nicht, daß es andere bzw. anders bezeichnete Ursachen und Wirkungen nicht gibt oder andere Gegenstände nicht sinnvoll als solche eingesetzt werden könnten. Und es heißt natürlich auch nicht, daß bei der Analyse von Ereignissen und Zuständen diese selbst als physikalische Entitäten in der Erörterung auftreten. Auf die Unsinnigkeit einer solchen Vorgehensweise hat u.a. Jaegwon Kim l7 hingewiesen. Wenn also von Ereignissen die Rede ist, dann hat man es natürlich mit Sätzen zu tun, die auf Ereignisse verweisen. Logische Beziehungen bestehen zwischen Sätzen, kausale Beziehungen zwischen Ereignissen. Autoren, die ihre Verpflichtung gegenüber der Analytischen Philosophie so verstehen, daß sie die Probleme vorzugsweise mit den Mitteln der Logik angehen, werden versuchen, die Widrigkeiten und Unübersichtlichkeiten der realen Dinge möglichst zurückzuschrauben, um dann in aller AusfUhrlichkeit die logischen Beziehungen von Sätzen über die Wirklichkeit zu behandeln. Beispiele hierfilr sind David Lewis, aber auch Spohn. Ersterer bedient sich zur Kausalanalyse des Mittels der Mögliche-Welten-Semantik, letzterer plädiert fUr die Verwendung von Sachverhalten als Träger von Ursache-Wirkung-Beziehungen: "Sachverhalte sind rur sie (die Philosophen, G.K.) Dinge, die typischerweise durch Daß-Sätze dargestellt werden; dabei ist rur einen Sachverhalt immer nur
zip, Erkenntnis, Vol. 8, 1939/40, S. 69-130. 17 Jaegwon Kim, Causes and Events: Mackie on Causation, Journal of Philosophy, Vol. 68, 1971, S. 426-441.
3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels
31
wesentlich, was im Daß-Satz ausgesagt ist; für sein Vorliegen irrelevant ist hingegen die Art, wie er sich realisieren mag."18 (Hervorhebungen im Text)
Die Hoffnung dabei ist, daß man sich nicht mit der Komplexität der Ereignisse herumschlagen muß (Ein makroskopisches Ereignis läßt sich bei allem Fleiß nicht vollständig beschreiben), sondern sie im Idealfall durch schlichtes Bezeichnen zu Referenten der logischen Terme und Sätze macht. HierfUr zahlt man einen hohen Preis. Zunächst verschiebt man das Problem der Identifizierung und Beschreibung von Ereignissen auf die Referenz zwischen logischer Sprache und Wirklichkeit, und zum zweiten folgt aus der nicht vollständig beschriebenen Wirklichkeit bereits mit Notwendigkeit, daß man nur zu probabilistischen Zusammenhängen zwischen Ursachen und Wirkungen gelangen kann (Siehe: Kapitel III.), denn die in der Beschreibung unberücksichtigten Aspekte sind nicht notwendigerweise marginal (Siehe: Abschnitt 4.). Das Festhalten an der Rede von Ereignissen schützt aber nicht vor unreflektiert in die Analyse eingehenden weltanschaulichen Vorentscheidungen. Das zeigt sich bei Donald Davidson, wenn er sagt: "When it is pointed out that striking a match was not sufficient to light it, what is not sufficient is not the event, but the description of it - it was a dry match, and so on.,,19
Unterstellt man, Ereignisse seien deskriptiv unerschöpflich (Darin stimmen Spohn und Davidson überein.), dann ist die Behauptung von Davidson nicht beweisbar und daher lediglich eine metaphysische Aussage, die ein in diesem Falle deterministisches Weltbild zum Ausdruck bringt. Die Voraussetzung fUr einen Beweis der Behauptung wäre die Möglichkeit einer vollständigen Beschreibung von Ereignissen, und genau die ist ja ausgeschlossen. Doch verfolgen wir Spohns Versuch zur Reduktion der Komplexität realer Phänomene weiter. Spohns Hoffnung ist: "Denn wenn dieser Physikalismus richtig ist, so dürfen wir Ereignisse mit wahren, physikalisch maximal spezifizierten Sachverhalten identifizieren. Zwar mag in dem für ein Ereignis charakteristischen Raum-Zeit-Gebiet unbeschreiblich viel passiert sein; aber all das unbeschreiblich Viele, was dann zu diesem Ereignis gehört, ist durch die grundlegende physikalische Beschreibung schon eindeutig bestimmt. ,,20 18 Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983, S.8. 19 Donald Davidson, The Logical Form of Action Sentences, in: Donald Davidson, Essays on Actions and Events, Qxford, 1983, S. 120. 20 Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983,
32
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
Der Physikalismus, auf den sich Spohn in diesem Zitat bezieht, fordert, daß zwei Dinge, die sich nicht in ihren grundlegenden Eigenschaften unterscheiden, auch nicht hinsichtlich irgendwelcher anderer Eigenschaften verschieden sein können. 21 Nun ist zwar verständlich, daß Spohn hier den Zweck verfolgt, physikalische Entitäten (Ereignisse) durch die Referenzklassen linguistischer Entitäten (Sachverhalte) zu ersetzen, weil diese (wie z.B. auch Propositionen) naturgemäß einer Analyse mit den Mitteln der formalen Logik leichter zugänglich sind. Beide Entitäten aber zu identifizieren heißt einen essentiell wichtigen Unterschied verwischen. Versucht man zu verstehen, was Spohn hier mit Ereignissen meint, deren Geschehen schon durch die grundlegende physikalische Beschreibung bestimmt sei, dann ist eine Möglichkeit, sie als eine referentiell unterdeterminierte Menge von Mengen von Zuständen zu betrachten, die weder räumlich noch zeitlich verbunden sein müssen, sondern deren Einheit semantisch hergestellt wird. Solcherart sind die meisten Geschehnisse, die wir gewöhnlich alsein Ereignis oder eben einen Sachverhalt betrachten. Eine Protestdemonstration kann aus einigen tausend einzelnen Demonstranten bestehen. Bewegen sich Polizisten oder Passanten durch den Zug, so entstehen offensichtlich Löcher in diesem Ereignis, ohne daß es dadurch aufhört, eine sinnvolle Einheit zu bilden. Gleiches gilt fllr den Ausdruck "Professor X lehrte zehn Jahre lang an der Freien Universität Berlin. " Auch hier wird man einräumen, daß Professor X gelegentlich schlief oder gar in Urlaub fuhr, ohne daß dadurch die ausgedrückte Tatsache in Frage gestellt werden müßte. Ist die Vermutung richtig, daß Spohn sich auf Zustandscluster bezieht (und der Ausdruck physikalisch maximal spezifiziert legt das nahe), dann sind Sachverhalte Ausschnitte aus raumzeitlich kontinuierlichen Vorgängen. Obwohl wir im Alltag mit dem Ausdruck Ereignis häufig solche Cluster bezeichnen, läßt sich daran nicht ohne weiteres die Hoffnung knüpfen, die Beschreibung der physikalischen Situation auf diese Art vollständig geben zu können. Ganz sicher gilt ftlr makroskopische Zustände - und mit diesen befaßt sich Spohn in der Hauptsache -, daß auch sie wie Ereignisse sprachlich nicht vollständig beschrieben werden können, denn die Komplexität entsteht nicht nur durch das Hinzutreten der Dynamik, sondern auch durch die große Anzahl der zu beschreibenden Elemente und Eigenschaften (Vgl.: Kapitel V.). Ungeachtet der S.179. 21 Wolfgang Spohn, Eine Theorie der Kausalität, Habilitationsschrift, München, 1983, S.178.
3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels
33
Richtigkeit oder Falschheit der Vennutung, daß Spohn mit dem Ausdruck Sachverhalte auf die Zustandscluster abzielt, könnte es doch nur durch starke Magie gelingen, die real gegebene komplexe Verursachungslage filr Makrophänomene auf leicht handhabbare linguistische Entitäten zu reduzieren, ohne daß dabei etwas verlorengeht. Dementsprechend beinhaltet die Verwendung von Sachverhalten ebenso wie die Rede von Zuständen und Ereignissen im Rahmen von Kausalitätstheorien eine prinzipiell unvollständige Repräsentation der Realität. Das hat natürlich zur Folge, daß (von den raumzeitlichen Unterschieden abgesehen) in ihrer linguistischen Repräsentation gleiche Ereignisse oder Zustände sich physikalisch und damit auch kausal relevant unterscheiden können. (Auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden wir im nächsten Kapitel noch ausftlhrlicher zurückkommen.) Für die Wahl von Bedingungen, Zuständen und Ereignissen als Gegenstände der Kausalrelation gibt es mindestens drei, wie ich glaube, gute Gründe: Erstens beziehen sich die meisten Autoren auf Ereignisse oder Zustände, zweitens lassen sich wegen der Allgemeinheit der Begriffe viele andere Beschreibungen von Entitäten und Vorgängen in Beschreibungen von Zuständen oder Ereignissen übersetzen, und drittens sind Ereignisse höheren und niedrigeren Komplexitätsstufen gegenüber offen, d.h. ein Ereignis E kann in Teilereignisse F l' ... , Fn zerlegt und als Teilereignis eines komplexeren Ereignisses G dargestellt werden. Betrachtet man etwa kollektive Phänomene, so kann man solche fmden, bei denen sich das Phänomen als Summe der Wirkungen von Elementarereignissen (Der Ausdruck Elementarereignis besagt an dieser Stelle nur, daß es sich um Elemente des kollektiven Phänomens handelt, nicht etwa, daß es sich um nicht weiter analysierbare atomare Ereignisse handelt.) ergibt wie etwa in der Ausbildung eines Gravitationsfeldes - und andere, die nicht auf ihre Einzelereignisse reduzierbar sind wie etwa der Druck eines Gases, der sich zwar durch die Stöße einer Vielzahl von Atomen oder Molekülen z.B. gegen eine Gefilßwandung entsteht, sich aber nicht additiv aus dem Druck der einzelnen Partikel zusammensetzt. Eine kausale Rückftlhrung von kollektiven auf elementare Vorgänge.ist zwar möglich, sie kann aber auch in der Gegenrichtung fonnuliert werden. So kann man zwar sagen, daß der gegenwärtige mentale Zustand eines Menschen vom Zustand seiner Gehirnzellen verursacht wird, doch ist ebenso der Satz richtig, daß mentale Ereignisse neuronale Vorgänge hervorrufen. Eine sehr schöne Anwendung dieser These auf das Leib-Seele-Problem, in der die Möglichkeit ausgeftlhrt wird, neuronale und mentale Vorgänge auf unterschiedlichen Kom3 Koch
34
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
plexitätsniveaus zu beschreiben, ohne daß man dabei eines auf das andere reduzieren kann, fmdet sich bei lohn Searle. 22 Eine andere Form von NichtReduzierbarkeit oder Nicht-Separierbarkeit triffi man in der Quantenmechanik an. Ein aus mehreren Teilsystemen (Partikeln) zusammengesetztes System kann einen Zustand (im quantenmechanischen Sinne) besitzen, ohne daß gleichzeitig die Teilsysteme in einem bestimmten Zustand sind (Mit diesem Problem werden wir uns im Kapitel IX. ausfilhrlicher befassen). Eine linguistische Repräsentation des Zustandes eines physikalischen Systems wäre dann vollständig, wenn wir eine in dem Sinne maximale Beschreibung seiner Eigenschaften hätten, daß zu ihr nichts hinzugefilgt werden kann, das nicht entweder relativ zum vorhandenen Satzcorpus redundant ist oder zu ihm in Widerspruch steht. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich mich häufig auf den physikalischen oder mechanischen Zustand eines Systems beziehen, der z.B. durch den Ort eines Körpers und seinen Impuls vollständig bestimmt wird. (Dieser mechanische Zustand ist aber natürlich nur dann wirklich physikalisch vollständig, wenn die Geschehnisse der Natur sich auf mechanische Parameter zurückführen lassen, oder genauer gesagt: wenn ein Physikalismus, wie ihn Spohn in dem obigen Zitat formuliert, mit den Beschreibungsmitteln der Mechanik auskommt.) Wenn Zustände bzw. Bedingungen die Gegenstände der Kausalrelation sind, so darf natürlich nicht vergessen werden, daß die Relation selbst bzw. die Gesetzmäßigkeiten, nach denen die Zustände aufeinander folgen, selbst ebenso wichtig filr deren Zustandekommen sind. Ereignisse sind folglich keine Primitiva, sondern bereits von diesen zwei Sorten Faktoren - Zuständen und Gesetzen - bestimmt, wobei hier durchaus offen bleiben kann, ob diese Gesetze deterministisch oder probabilistisch sind. Auch Gesetze tragen also zum Zustandekommen und damit zur Verursachung von Ereignissen bei. Physikalische Gesetze sind kontingent, d.h. auch andere als die tatsächlich eintretenden Wirkungen könnten einer gegebenen Ursachenkonstellation folgen, ohne daß daraus ein logischer Widerspruch entstünde. Es mag sein, daß innertheoretische Unverträglichkeiten auftreten würden, wenn die Gravitationskraft sich statt mit dem Quadrat der Entfernung mit der dritten Potenz änderte, doch denkbar bleibt diese alternative Gesetzmäßigkeit durchaus.
22 Siehe: John Searl, Minds, Brains and Science, Cambridge, 1984, besonders S. 1827.
3. Akteure und Szenarios des kausalen Schauspiels
35
In der Redeweise der Mögliche-Welten-Semantik hieße das: "Es gibt mögliche Welten, die bis zum Zeitpunkt 10 der wirklichen Welt absolut gleichen, vom Zeitpunkt t) an sich aber von ihr unterscheiden." Da diese möglichen Welten zum Zeitpunkt 10 mit der wirklichen Welt übereinstimmten, muß ihr Zustand dem der wirklichen Welt vollständig geglichen haben. Für die zum Zeitpunkt t) vorhandenen Unterschiede kann es also keine anderen als entwicklungsgesetzliche Ursachen geben. Die Aufeinanderfolge von Zuständen liefert Gesetzmäßigkeiten, und die Gesetzmäßigkeiten sagen uns, wie Zustände aufeinander folgen. Mit der Deklarierung von Gesetzen als eine von zwei Sorten Determinanten sollen aber keine neuen physikalischen oder metaphysischen Entitäten propagiert werden. Physikalische Gesetze sind ja nichts anderes als die Regeln, nach denen Zustände ineinander übergehen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wollen wir hier unter Ursachen ausschließlich Bedingungen, Zustände und Ereignisse verstehen, denn auch in alltäglichen Situationen sprechen wir relativ selten von Gesetzmäßigkeiten als Ursachen. Sie werden stattdessen häufig implizit vorausgesetzt. Als notwendige Bestandteile von Kausalerklärungen sind Gesetze ohnehin akzeptiert. Schon lange vor Carl Gustav Hempel23 haben Charles Sanders Peirce24, John Stuart Mill25 , oder auch Hermann Lotze26 diese Ansicht vertreten. Hempel und Paul Oppenheim weisen in ihrem bekannten Aufsatz "Studies in the Logic of Explanation"27 selbst auf einige frühere Autoren hin. In der alltäglichen Rede spielen Ereignisse eine ungleich größere Rolle als Zustände, da sämtliche Ursachen, von denen wir gewöhnlich sprechen, trotz der Tatsache, daß wir sie manchmal als Zustände bezeichnen, eine zumindest minimale zeitliche Ausdehnung besitzen und damit defmitionsgemäß Ereignisse sind. (Der Satz "Der Patient hat jetzt eine Körpertemperatur von 39 Grad Celsius" wird aufgrund einer Messung aufgestellt, die einige Minuten in Anspruch nimmt.) Zustände sind deshalb fUr uns kaum handhabbar, weil unsere Wahrnehmung auf eine zeitliche Ausdehnung der Phänomene angewiesen ist. 23 Carl Gustav Hempel, The Function of General Laws in History, Journal of Philosophy, Vol. 39, 1942, S. 35-48. 24 Chorles Sanders Peirce, Entwurf und Zufall, in: Chorles Sanders Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß, Aachen, 1988, S. 118. 25 John Stuart MiII, A System ofLogic, in:John Stuart MiII, Collected Works of John Stuart Mill, Vol. VII, Toronto, 1974, S. 464. 26 Hermann Latze, Grundzüge der praktischen Philosophie, Leipzig, 1884, S. 30. 27 Carl Gustav Hempel, Paul Oppenheim, Studies in the Logic of Explanation, Philosophy ofScience, Vol. 15, S. 135-175.
36
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
Ohne dieses Thema hier allzu weit ausfUhren zu können, möchte ich nur darauf hinweisen, daß z.B. das Auge zu jedem beliebigen Zeitpunkt blind ist, da gehen wir einmal von einem kontinuierlichen Weltverlauf aus - die Zahl der Photonen, die die Netzhaut erreichen, mit der Verkleinerung des gewählten Zeitintervalls schließlich praktisch Null erreicht - und zur Wahrnehmung eines Objektes bedarf es weit mehr als nur eines Photons. Das Auge braucht also einen Zeitraum, der nicht beliebig klein sein darf, um überhaupt etwas sehen zu können. Ähnliches gilt nicht nur fUr unsere Sinnesorgane, sondern auch fUr physikalische Phänomene wie Geschwindigkeit, Temperatur und Druck, die sich ohne zeitliche Ausdehnung schlechterdings nicht verstehen ließen.
4. Ursachen und Randbedingungen Um die Erfolgsaussichten einer Kausalbehauptung zu erhöhen, ist es nützlich, sie nicht nur auf eine einzige gesetzliche Beziehung zu stützen, sondern auch möglichst viele weitere Gesetze ebenso wie eine möglichst große Menge an zusätzlichen Fakten in Rechnung zu stellen. Die Frage nach der Ursache schlechthin ist nur dann angemessen gestellt, wenn man bedenkt, daß bei Berücksichtigung der - möglicherweise unendlichen - Vielfalt von Ursachen aus der Masse der Gesetze und Tatsachen eine herausgegriffen und ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird, während der Rest unter die Randbedingungen subsumiert wird. Man kann mit dem gleichen Recht jede Randbedingung zur Ursache erklären und die vorher als Ursache betrachtete Bedingung als Randbedingung ansehen. Entsprechendes gilt, wenn man Verursachung über mehrere Zeitpunkte hinweg verfolgt. Es lassen sich in natürlichen Vorgängen zwar lineare Kausalprozesse fmden, doch darf man dabei nicht vergessen, daß sie, wie Norwood Russell Hanson28 es ausgedrückt hat, eher Spinnennetze als Markov-Ketten sind, d. h. wenn man eine Reihe von Ereignissen hat: EI' E2, ... , En, und EI verursacht E2, E2 verursacht EJ, ... , dann liegt in der Auswahl der Ereignisse, die man als Glieder der Kausalkette bestimmt, ein Moment der Willkür. Schließlich wird E2 nicht nur von EI,verursacht, und E2 verursacht EJ nicht allein. Immer wieder wirken äußere Einflüsse in die Kette hinein, und von der Kette gehen Wirkungen auf äußere Ereignisse aus. Dennoch kann das Ziehen einer kausalen Linie durch die Zeit durch pragmatische Gründe gerechtfertigt sein.
28 Norwood Russell Hanson, Causal Chains, Mind, Vol. 64, 1955, S. 289-311.
4. Ursachen und Randbedingungen
37
Nicht minder willkürlich ist die Festlegung des Anfangs der Verursachungslinie, denn es ist eine Frage des gerade vorhandenen Interesses, welchen Zeitpunkt man zum Ausgangspunkt der Kausalkette macht. Für das Beispiel eines Waldbrandes heißt dies, daß wir mit dem gleichen Recht das trockene Grasbüschel, das vom Streichholz in Brand gesetzt wird, oder den Busch, auf den das Feuer übergreift, oder den ersten Baum zur Ursache des Waldbrandes erklären könnten. Es ist wahrscheinlich in höchstem Maße eine Sache der Konvention, der Erfahrung, des Wissensstandes und vieler anderer Faktoren, wann die Frage nach der Ursache eines Ereignisses als beantwortet gilt bzw. wann sie überhaupt gestellt wird. Man kann leicht erkennen, wie unterschiedlich die Antworten nach der oder den Ursachen eines Ereignisses ausfallen können, wenn man einen Verkehrsunfall analysiert. Ein Bekannter des Fahrers eines der beteiligten Fahrzeuge könnte die Frage stellen: "Wie ist der Unfall passiert?" Der Fahrer antwortet darauf: "Die Bremsen haben versagt." Und der Bekannte mag zufrieden sein. In einem Gerichtsprozeß tauchen dann aber vielleicht weitergehende Fragen auf, die auf eine genauere Klärung des Bremsversagens zielen. War es ein Fehler der Werkstatt? Hat der Fahrer nicht ausreichend rur die Verkehrssicherheit seines Fahrzeugs gesorgt? Oder ist der Defekt durch irgendeine andere Ursache hervorgerufen worden? Wenn das geklärt ist, dann mag der Richter zufriedengestellt sein, doch andere Interessen können noch tiefer reichende Antworten erfordern. Nehmen wir an, es habe sich herausgestellt, daß die Bremsen durch irgendeinen äußeren, nicht in der Verantwortlichkeit des Fahrers liegenden Einfluß in ihrer Funktion beeinträchtigt waren. Ein Hersteller von Bremsen, der daran interessiert ist, daß seine Produkte einen guten Ruf behalten, wird dann sehr viel intensiver nach der Ursache oder den Ursachen forschen, um seine Bremsen in Zukunft zu verbessern. (Wobei er allerdings kaum daran interessiert sein dürfte, die möglicherweise im Augenblick gegebene Unzuverlässigkeit seines Produktes einem größeren Publikum, insbesondere möglichen Kunden bekannt zumachen.) Die Frage nach den Ursachen des Unfalls wird in vielen Fällen unterschiedlich beantwortet werden, und es ist nicht möglich, eine Antwort vor allen anderen als die richtige oder angemessenste auszuzeichnen. Maßgeblich ist das Interesse, das mit der Frage verbunden ist. Man kann also festhalten, daß die Bezeichnung von Ursachen in zweifacher Hinsicht willkürlich ist: erstens in der Wahl des Zeitpunktes, der als Beginn einer Kausalkette willkürlich gewählt
38
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
wird, und zweitens in der Auswahl der Bedingungen, die als die Ursache(n) bezeichnet werden. Wie im konkreten Fall eine Auswahl getroffen wird, ist jeweils eine sehr komplizierte Angelegenheit, die hier nicht besprochen werden kann. Schließlich und endlich ist auch nicht immer klar, welche Antwort eigentlich gesucht wird, und schon gar nicht, daß die gegebene und akzeptierte Antwort gültig ist und bleibt. Ein Teil dieser Fragestellung fUhrt hinüber in das Gebiet der Psychologie in die sogenannte Attributionsforschung. Nancy Cartwright29 meint, diese Relativierung der Ursachen auf das jeweilige Interesse filhre zu einer Subjektivierung des Erklärungsbegriffes. Statt dessen solle man auf laws 0/ association verzichten, und sich auf Kausalgesetze ihrer Lesart beziehen. Damit sind Regeln des Typs: "Unkrautvernichtungsmittel beseitigen Unkraut" gemeint. Dieser Vorschlag ist aber nicht mehr als Augenwischerei, ist doch hier das Interesse in das Kausalgesetz hineingepackt. Und ebenfalls hineingesteckt hat man einmal mehr das probabilistische Erklärungsmodell, denn auch der härteste Determinist würde zugeben, daß eine Regel über Unkraut und Unkrautvernichtungsmittel nicht ausnahmslos gilt. Allein schon aus dem Grund, weil Kausalgesetze dieser Art so grob formuliert sind, daß sich alle möglichen positiven und negativen Faktoren undifferenziert in dem Szenario tummeln können. Dies zu verhindern, sollte man im Zuge einer prinzipiellen Analyse eher bestrebt sein, Phänomene zu betrachten, die möglichst einfach sind. Sicher triffi es zu, daß sich im Lichte dieses Ansatzes die Frage, was denn eine Ursache - außer ihrer zeitlichen Priorität gegenüber der Wirkung - als Ursache qualifiziert, gar nicht erst stellt. Doch ist das überhaupt ein Problem? Meiner Ansicht nach unterscheidet Ursache und Wirkung tatsächlich nichts weiter als ihre Position im Zeitstrom. Trotz gewisser Überlegungen, insbesondere im Bereich der Elementarteilchenphysik, die eine zeitlich rückwärts gerichtete Verursachung in Betracht ziehen, ist die Faktizität entsprechender Phänomene bisher nicht erwiesen. Solange das aber nicht der Fall ist, muß eine Theorie der Kausalität diese Möglichkeit, die meiner Ansicht nach zu einer erheblichen Komplizierung der schon jetzt nicht eben übersichtlichen Debatte filhren würde, explizit berücksichtigen. Die von Georg Henrik von Wright filr die Makrophysik aufgestellte These, daß eine jetzt ausgefilhrte Handlung frühere physiologische Vorgänge hervorrufen kann, ist dagegen falsch. (Siehe: Kapitel III., Abschnitt 3.)
29 Nancy Cartwright, How the Laws ofPhysics Lie, Oxford, 1983, S. 29.
5. Gibt es singuläre Ursachen? oder: Der Fall Ducasse
39
s. Gibt es singuläre Ursachen? oder: Der Fall Ducasse Immer wieder ist der Gedanke formuliert worden, es gäbe - anders als dies die Regularitätstheorie der Kausalität annimmt - die Möglichkeit, von Ursachen zu sprechen, ohne sich auf Regularitäten beziehen zu müssen. Ein Vertreter dieser Auffassung ist Curt John Ducasse30 , der, obwohl er stark kritisiert wurde 31 , auch heute noch Verteidiger fmdet. 32 Zur Begründung seiner These befaßt er sich zunächst mit der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, wie sie von Hume beschrieben wurde, und stellt fest, daß der regelhafte UrsacheWirkung-Nexus durch keine Sinneswahrnehmung zu entdecken ist.33 Ja, in der Tat sagt er selbst, daß es sich dabei um eine Relation handelt. Und trotzdem steht er nicht an, im darauffolgenden Satz zu behaupten, man könne eine Relation beobachten: "It (Die kausale Relation, G.K.) is, as we have seen, a relation which has individual concrete events for its tenns; and, as analysed by us, its presence among such events is to be observed every day.,,34
Wie das möglich sein soll, erklärt er sogleich: "We observe it, whenever we perceive that a certain change is the only one to have taken place immediately before in the immediate environment of another.,,35 (Hervorhebung im Text)
Festzulegen, daß wir A (ein physikalisches Objekt, eine Eigenschaft oder eine Relation) beobachten, wenn wir Handlungen, z.B. (H 1, H2, ... , Hn) durchftlhren, hat auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit den sogenannten operationalen 30 Siehe: Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968. S. 1-14 und: Curt John Ducasse, On the Analysis ofCausality, a.a.O., S. 15-20. 31 Siehe Z.B.: Bernard Berofsky, Causality and General Laws, Journal of Philosophy, Vol. 63, 1966, S. 148-157. 32 Siehe z.B.: Edward Madden, James Humber, Nomological Necessity and C. J. Ducasse, in: Tom L. Beauchamp (Hrsg.), Philosophical Problems of Causation, Encino, California, 1974, S. 163-178 und: Donald Davidson, Kausale Beziehungen, in: Günter Posch (Hrsg.), Kausalität - Neue Texte, Stuttgart, 1981, S. 79- 101. 33 Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability ofthe Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 8 f. 34 Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability ofthe Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 9. 35 Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability ofthe Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 9.
40
11. Kausalität, Teil I: Zugänge und Abwege
Defmitionen, wie sie von den logischen Empiristen fUr nicht direkt beobachtbare physikalische Größen und Entitäten vorgeschlagen worden sind. Doch sollte nun auch klar gemacht werden, wie diese Beobachtungen gemacht und wie sie interpretiert werden sollen. Ducasse präzisiert seine Auffassung, indem er sagt, es handele sich um die einzige Veränderung, die sich in einer raumzeitlichen Umgebung vollzogen habe, womit er offenbar auf Millsmethod 0/ difJerence anspielt. 36 Auch Mill problematisiert die Beobachtung nicht und stellt Fakten einfach fest37 , doch steht wohl außer Zweifel, daß die Betrachtung von zwei Ereignissen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten eine Sache ist, die bereits ein erhebliches Maß an (kausal relevanter) Theorie verlangt. Man muß zur Unterstützung dieser eigentlich trivialen Wahrheit, die dennoch der empiristischen Philosophie immer wieder entgleitet, nicht unbedingt Kant bemühen. Norwood Russell Hanson schreibt: "Seeing bridges this, for a while seeing is at the least a 'visual copying' of objects, it is also more than that. It is a certain sort of seeing of objects: seeing that ifx were done by y would follow. This fact is got lost in all the talk about knowledge arising from a sense experience, memory association and correlation. Memorizing, associating, correlating and comparing mental pictures may be undertaken ad infinitum without one step having been taken towards scientific knowledge, that is propositions known to be true. ... But physical science is not just a systematic exposure of the senses to the world; it is also a way of thinking about the world, a way of forming conceptions. The paradigm observer is not the man who sees and reports what all normalobservers see and report, but the man who sees in familiar objects what no one else has seen before."38 (Hervorhebung im Text)
Zwei Ereignisse aufeinander zu beziehen, zwischen ihnen eine Beziehung zu erkennen oder zu postulieren, erfordert weitere aktive Leistungen des erkennenden Subjektes, die es überhaupt erst möglich machen, von Stasis oder Veränderung, raumzeitlicher Nähe oder einem Vorher-Nachher zu sprechen. Um wieviel näher der wissenschaftlichen Praxis (in diesem Fall kein philosophischer Vorzug) beispielsweise Nancy Cartwright ihre Analyse beginnt, mag folgendes Zitat illustrieren:
36 John Stuart MilI, A System ofLogic, in:John Stuart MiII, Collected Works of John Stuart Mill, Vol. VII, Toronto, 1974, S. 391. 37 John Stuart MilI, A System ofLogic, in:John Stuart MiII, Collected Works of John Stuart Mill, Vol. VII, Toronto, 1974, Buch III. 38 Norwood Russell Hanson, Patterns ofDiscovery, Cambridge, 1958, S. 29 f.
5. Gibt es singuläre Ursachen? oder: Der Fall Ducasse
41
"How do we find out about causes when we cannot do experiments and we have no theory? Usually we collect statistics. ,,39
Ein großer Teil der heutigen Wissenschaftstheorie verliert, während er sich mehr und mehr der fachwissenschaftlichen Diskussion anzunähern sucht, viele Ergebnisse der Philosophiegeschichte aus den Augen, vergiBt, wieviel bereits an Erfahrung und Regelwissen dazu nötig ist, ein Ereignis oder Objekt wahrzunehmen und es zu anderen gleichartigen oder verschiedenen innerhalb eines mehr oder weniger homogenen, mehr oder weniger differenzierten Gedankensystems in eine bestimmte Beziehung, z.B. die von Ursache und Wirkung, zu setzen. Nach Ducasse ist C schon die (hinreichende) Ursache fllr K, wenn drei Bedingungen erfUllt sind: "I. The change C occurred during a time and through aspace terrninating at the instant I at the surface S. 2. The change K occurred during a time and through aspace beginning at the instant I at the surface S. 3. No change other than C occurred during the time and through the space ofC, and no change other than K during the time and through the space of K." (Mit "surface" ist die Oberfläche eines Objektes gemeint. G.K.)40
Ducasse fällt hier weit hinter Kant zurück, dem sehr wohl klar war, daß es mit dem platten hyperempiristischen Hinweis: "Schau doch einfach hin, und du wirst schon sehen, daß der geworfene Stein fllr das Zerbrechen der Fensterscheibe verantwortlich war," nicht getan ist. DarUber hinaus verstehen wir unter einer Ursache keineswegs, was Ducasse als die einzige Veränderung im einem raumzeitlichen Sektor bezeichnet (Die einzige Veränderung in einem Sektor ist zugleich auch die gesamte Veränderung.), sondern jenen Teil davon, der relevant war fllr das Zustandekommen der Wirkung. Donald Davidson versucht, den singularistischen Standpunkt zu verteidigen, indem er darauf hinweist, daß der Satz "Die Ursache dafllr, daß dieses Streichholz brennt, ist, daß es (an einer Reibfläche) gerieben wurde"41 auch dann wahr bleibt, wenn nicht alle vorhandenen Bedingungen genannt wurden. Er erklärt dieses Manko zu einem der Kennzeichnung der Ursache. Die anderen, ungenannten Merkmale dieses Ereignisses seien ja, so argumentiert er weiter,
39 Nancy Cartwright, Nature's Capacities and their Measurement, Oxford, 1989, S. 11. 40 Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability ofthe Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 3 f. 41 Donald Davidson, Kausale Beziehungen, in: Günter Posch (Hrsg.), Kausalität Neue Texte, Stuttgart, 1981, S. 91.
42
11. Kausalität, Teil 1: Zugänge und Abwege
vorhanden gewesen, da die Wirkung so eingetreten ist, wie sie eingetreten ist. Bei singulären Sätzen gehe es nicht um die Kausalanalyse, sondern um die Fonnulierung von kausalen Relationen, die in Fonn eines zweistelligen Prädikates C(a,b) mit dem Sinne a verursacht b ausgedrückt werden. Doch auf den zweiten Blick wird deutlich, daß der singularistische Standpunkt nicht gleichberechtigt neben dem regularitätstheoretischen gilt, sondern letzterer vielmehr singuläre Aussagen erst sinnvoll macht. Davidson hat zwar recht, wenn er behauptet, man könne wahre Aussagen über kausale Beziehungen machen, ohne die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu kennen, doch muß man umgekehrt sagen, daß wir solche Behauptungen vernünftigerweise nur erheben, wenn es neben einer raumzeitlichen Nähe zwischen Ursache und Wirkung auch noch Grund filr die Annahme eines regelhaften Zusammenhanges gibt. Wir würden nicht, wie Ducasse (teilweise unterstützt von Davidson und anderen) suggerieren will, von einem Ereignis C annehmen, daß es hinreichend war, um die Wirkung K zu erzielen42 , wenn diese Beziehung ein einmaliger Fall wäre und keine wie auch immer gearteten Analogien zu anderen Erfahrungen zeigte, die die Übertragung bereits bekannter Kausalbeziehungen auf einen neuen Fall möglich machen würden. Unter dieser Voraussetzung wäre es nämlich nicht mehr möglich, kausale von non-kausalen bzw. zufiUligen Geschehnissen abzugrenzen. Wunder und der nonnale Lauf der Welt wären ununterscheidbar. Nehmen wir einmal an, es gäbe Wunder in dem Sinne, daß es sich um Ereignisse handelt, die keine innerweltliche oder natürliche Ursache haben. (Das folgende Argument gilt analog filr echten Zufall. Siehe: Kapitel VI.) Ein vereinfachtes Beispiel: C sei das Geschehen in einer Kirche zwischen den Zeitpunkten t l und t 2 . K sei das Geschehen in einer Kirche zwischen den Zeitpunkten t2 und t3 . Zwischen ~ und t3 fmdet eine Erscheinung der Jungfrau Maria (W) statt. Folgt man Ducasse, dann war C die Ursache filr Wallein aus dem Grund, weil C und Kam gleichen Ort unmittelbar aufeinander folgten. Das ist ganz offensichtlich nicht der eigentliche Inhalt der Kausalrelation. Unser Beispiel zeigt deutlich, daß man der sinnlosen Schlußfolgerung, der Zustand zum Zeitpunkt t l sei die Ursache filr die Erscheinung gewesen, nur dann entgehen kann, wenn man mehr verlangt als raumzeitliche Nähe - und dieses Mehr ist Regulari-
42 Curt John Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causal Relation, in: Curt John Ducasse, Truth, Knowledge and Causation, New York, 1968, S. 3 f.
6. Einzelfall und Regularität
43
tät. Nur durch Regularitäten können wir überhaupt Wunder (oder Zufall) von verursachten Ereignissen unterscheiden.
6. Einzelfall und Regularität Singuläre Ursache-Wirk-ung-Verhältnisse sind also Instanzierungen von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Umgekehrt gelangen wir zu Regularitäten aber nur - und hier haben einige Befilrworter des singularistischen Standpunktes ohne Zweifel recht - durch die aus singulären Fällen gewonnenen Erfahrungen. Im letzten Abschnitt haben wir darauf hingewiesen, daß singuläre Erfahrungen ihrerseits ohne Regelsystem nicht möglich sind. Die Kritik am singularistischen Standpunkt kann sich also nicht gegen die Auffassung richten, wonach Kausalität am Einzelfall beobachtet werden kann, sondern nur gegen die Behauptung, Ursache-Wirkung-Verhältnisse könnten ohne die Bezugnahme auf Regularitäten belegt werden. Erfahrungsbildung vollzieht sich stets am Einzelfall vor dem Hintergrund von Regularität bzw. Allgemeinheit. Wie dies anband der ontogenetischen Entwicklung der Individuen oder im Rahmen einer philosophischen Erkenntnistheorie zu erklären ist, wollen wir in diesem Zusammenhang nicht diskutieren. Da also von Kausalität ohne Regularität nicht sinnvoll gesprochen werden kann, scheint die Konsequenz nahezuliegen, daß Kausalrelationen sich nicht auf einzelne Ereignisse, sondern auf Klassen von Ereignissen beziehen. In Anlehnung an Hume (Vgl.: Kapitel III., Abschnitte 2. u. 3.) müssen wir fordern, daß die Elemente der Klassen von Ursachen und Wirkungen in einer bestimmten Hinsicht gleichartig sind. Worin aber besteht diese Gleichheit und wann liegt sie vor? Was bestimmt die Identität einer Kausalrelation? Wird von dieser Relation ein bestimmtes Spiel - etwa Billard - exemplifiziert oder der Zusammenstoß zweier Kugeln aus Elfenbein? Oder muß ein bestimmter Stoß zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort ausgefilhrt werden, um mit einem anderen gleichartig zu sein? Diese Fragen zwingen dazu, den Begriff der Regularität zu präzisieren. Wir werden, wenn wir nach Ursachen filr das Kollisionsverhalten der Kugeln suchen, in die Nähe der physikalischen Stoßgesetze kommen, Gesetzen also, die sich auf etwas beziehen, das über einen konkreten Billardtisch und einen bestimmten Satz Kugeln hinausgeht und filr alle Billardtische und alle Kugeln an allen Orten und zu allen Zeiten gelten, wenn bestimmte Bedingungen konstant bzw. innerhalb gewisser Grenzen gehalten werden. Es ist keine über-
44
11. Kausalität, Teill: Zugänge und Abwege
triebene Anbetung der naturwissenschaftlichen Gesetze, wenn Kausalität in eine enge Beziehung mit ihnen gerückt wird. Sie sind die Regeln mit der größten Verläßlichkeit und Reichweite. Der Aspekt der Allgemeinheit ist aber auch im alltäglichen Reden über Ursachen zu spOren. Bestimmte Zusammenhänge, die sich im Wandel der Ereignisse immer oder sehr häufig wiederholen, geben uns die Möglichkeit, zukünftige Geschehnisse zu antizipieren. Das ist bei vielen Gelegenheiten, z.B. beim Überqueren einer Straße, ebenso selbstverständlich wie lebenswichtig. Menschen, die die Fähigkeit zur Einschätzung der Geschwindigkeiten herannahender Fahrzeuge noch nicht oder nicht mehr besitzen, geraten dadurch schnell in Gefahr. Natürlich sind unsere alltäglichen Abschätzungen weit davon entfernt, wissenschaftliche Exaktheit zu besitzen, doch gilt ein wichtiges Charakteristikum jener auch fUr sie: Je allgemeiner eine Regel ist, d.h. auf je mehr Fälle sie erfolgreich angewendet werden kann, um so wertvoller ist sie. Darum tendiert auch die Alltagserfahrung letztendlich zu universellen Gesetzen, wenn sie auch selten darin mündet. Kausalität ist also immer gebunden an eine Regelhaftigkeit, die aber neben dem Vorliegen der Ursache noch gewisse weitere Bedingungen erfordert. Um sicherzustellen, daß die Bedingungen, die fUr die Geltung der Regel entscheidend sind, auch vorliegen, fUhrt man Anforderungen wie ceteris paribus oder kausale Homogenität ein, die sich auf den kausalen Hintergrund beziehen. Sollen solche Anforderungen praktischen Nutzen haben, dann müssen sich zwei Situationen aber auch noch in anderen Hinsichten unterscheiden dürfen als nur in ihrer raumzeitlichen Lage, da sonst jeder kleinste Unterschied, sagen wir ein Staubteilchen auf einer Billardkugel, die Übertragung der ohne die Anwesenheit des Staubteilchens gültigen Kausalbeziehung auf den neuen Fall verböte. Jeder Versuch zu bestimmen, welche Faktoren notwendig, welche neutral und welche störend sind, erfordert bereits Wissen über die Kausalstruktur des untersuchten Phänomens. Für die praktische Verursachungsanalyse ergeben sich daraus keine großen Probleme, wohl aber fUr eine Defmition von Ursache und Wirkung im Rahmen einer Kausalitätstheorie, denn diese muß, um Zirkularität zu vermeiden, ohne Begriffe wie ceteris paribus, kausale Homogenität u.ä. auskommen. Besonders im Kapitel III., wo wir uns mit einigen philosophischen Kausalitätstheorien befassen wollen, werden wir darauf zu achten haben, ob und inwieweit das jeweils gelingt.
7. Zusammenfassung
45
7. Zusammenfassung Wir haben in diesem Kapitel gesehen, daß Kausalität kein Relikt einer überwundenen WeItsicht ist, sondern auch in der modemen Wissenschaft ihren Platz beansprucht. Die von Russell gegen die Kausalität vorgebrachten Einwände sind, wo sie treffen, schlagende Argumente gegen antiquierte oder inadäquate Kausalitätsbegriffe, nicht jedoch gegen Kausalität überhaupt. Die Befilrworter einer Beibehaltung des Begriffes müssen weder behaupten, das Vorhandensein einer Ursache allein reiche aus, die Wirkung zu erzielen (Es sei denn, damit ist der Zustand des ganzen Universums zu einem gegebenen Zeitpunkt im Verein mit allen geltenden Gesetzmäßigkeiten gemeint.), noch müssen sie darauf bestehen, daß Ursache und Wirkung unmittelbar aufeinander folgen. Als Träger der Kausalrelation im Rahmen einer philosophischen Diskussion scheinen Zustände, Ereignisse und Bedingungen die am besten geeigneten Entitäten zu sein. Ursachen und Randbedingungen sind Gruppierungen von Faktoren, die sich nicht notwendig aus der physikalischen Situation, sondern vielmehr aus der jeweiligen Interessenlage desjenigen ergeben, der eine Verursachungshypothese aufstellen will. Die Auffassung, man könne sinnvoll von singulären Ursachen sprechen, ohne auf Regularitäten Bezug zu nehmen, ist ebenso falsch wie die Ansicht, Gesetzmäßigkeiten könnten unabhängig vom Einzelfall gefunden werden oder gültig sein. Beide sind Aspekte der Kausalität und - wie an vielen Stellen dieser Arbeit unterstrichen werden wird - untrennbar miteinander verbunden. Schließlich bedarf es filr die Anwendung von Kausalwissen auf einen konkreten Fall, etwa zum Zwecke der Vorhersage, der Beantwortung zweier Fragen: Erstens, ist eine gewisse vorgefundene Ursache kausal äquivalent mit einer Klasse von Ursachen, deren Wirkungen ich kenne? Und zweitens, ist der kausale Hintergrund filr eine Verwirklichung der unterstellten Ursache-Wirkung-Beziehung geeignet?
111. Kausalität, Teil 2: Explikationsversuche 1. Einleitung Bevor wir uns einigen Versuchen zuwenden, den Kausalitätsbegriff inhaltlich zu klären, wollen wir zunächst Anforderungen fonnulieren, an deren Erftlllung wir ihren Erfolg messen können. Eine befriedigende Theorie der Kausalität sollte folgende Bedingungen erftlllen: Erstens, die defmitorische Bestimmung der Begriffe Ursache und Wirkung darf nicht zirkulär sein. Daraus folgt, daß sie ohne die AusdrUcke Gesetzlichkeit, Verursachung etc. auskommen muß, denn diese stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Ausgangsbegriffen und fUhren wieder auf sie zurück. Zweitens, eine Bestimmung der Begriffe Ursache und Wirkung darf diesen keine neuen Eigenschaften beilegen, d.h. Defmiens und Defmiendum müssen wechselseitig durcheinander ersetzbar sein. Drittens, eine Bestimmung der Begriffe Ursache und Wirkung sollte ihrer gewöhnlichen Bedeutung möglichst nahe kommen, so daß wichtige Verwendungsweisen der Begriffe erhalten werden. Viertens, eine Theorie der Kausalität sollte allgemeine Bedingungen daftlr liefern, wann ein Ereignis Ursache eines anderen Ereignisses ist und wann nicht. Es ist auffällig, daß die Untersuchungen der meisten Autoren sich im wesentlichen auf den Begriff der Ursache konzentrieren, während die Wirkung sozusagen als Abfallprodukt der Ursachenbestimmung anflUlt. Eine Erklärung hierftlr mag sein, daß wir gewöhnlich am Zustandekommen eines Ereignisses interessiert sind und daher eben Ursachenanalyse betreiben. Es gibt aber auch Fälle - einige sind erst in neuerer Zeit ins Blickfeld der Forschung gerückt -, wo das nicht so ist. Man denke in diesem Zusammenhang an den großen, viele wissenschaftliche Disziplinen tangierenden Problemkomplex der Folgenabschätzung neuer Technologien. Unter einer solchen Problemstellung ist man bestrebt, die möglichen Folgen oder Wirkungen eines Ereignisses zu prognostizieren, anstatt das Zustandekommen eines Ereignisses ursächlich zu analysieren. Ob die traditionell ursachenorientierte philosophische Kausalitätstheorie auf diese Verstärkung der prognostischen Perspektive mit tiefgreifenden
2. Regularitätstheoretische Kriterien rur Ursachen
47
Veränderungen reagieren muß, oder ob die notwendigen begrifflichen Mittel bereits jetzt vorhanden sind, soll hier aber nicht geklärt werden.
2. Regularitätstheoretische Kriterien fUr Ursachen Die erste explizite und heute noch relevante Defmition von Ursache stammt von David Hume und hat im Laufe ihrer Geschichte erhebliche Kritik ebenso wie Reformulierungsversuche hinnehmen müssen. Heute fIrmiert ein Teil von ihr unter dem Namen Regularitätstheorie. Dieser Teil aus der "Enquiry concerning human understanding" defmiert eine Ursache als ... "... einen Gegenstand, dem ein anderer folgt, wobei allen Gegenständen, die dem ersten gleichartig sind, Gegenstände folgen, die dem zweiten gleichartig sind."I.
Es ist unschwer zu erkennen, daß die im letzten Kapitel erwähnte, von Russeil untersuchte Defmition aus "Baldwin's Dictionary" sich stark an die Hurnesche anlehnt. Hurne betont aber, daß eine notwendige Verknüpfung ontologisch nicht beweisbar ist. 2 Seiner Ansicht nach empfinden wir eine notwendige Verknüpfung aufgrund unserer durch Erfahrung gebildeten Gewohnheit. Sie ist also zunächst eine vom epistemischen Zustand einer Person abhängige Denkgewohnheit. Hume muß aber darüber hinaus an die Geltung des universellen Kausalitätsprinzips geglaubt haben, denn nur so ist seine Argumentation gegen Wunder und Zufall verständlich3 (Siehe auch: Kapitel IV. und VI.). Da wir im folgenden eine Reihe von Ansätzen diskutieren wollen, die mit den Mitteln der Logik formuliert sind, werden wir filr den Rest dieses Kapitels Sätze über Ereignisse sowie ihre Beziehungen untereinander und zur Realität betrachten. Mit kleinen Buchstaben wie a, b, ... sind Ereignisse bezeichnet, die durch Sätze repräsentiert werden. Diese Sätze sollen als Beschreibungen und nicht als Bezeichnungen verstanden werden. A, B, ... sind Klassen von Ereignissen, deren Elemente kausal gleichwertig (Vgl.: Kapitel 11., Abschnitt 6.) sind; al ist also ein bestimmtes Element aus A, bx ist ein beliebiges Element
I David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg, 1973, S.92. 2 Siehe: David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg, 1973, S. 77. 3 Siehe: David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg, 1973, S. 128-155.
48
III. Kausalität, Teil 2: Explikationsversuche
aus B. Humes kausaltheoretischer Ansatz läßt sich dann wie folgt refonnulieren: (Pri) aj liegt zeitlich vor bj . (Kon) aj und bj sind raumzeitlich verbunden. (Reg) aj ist Ursache von bj gdw.: Es gibt ein allgemeines Gesetz, so daß ftlr alle --+Z vollständig bestimmt wird. Verhält sich das System nach den Regeln der Klassischen Mechanik, so sind Ort, Impuls, kinetische Energie usw. eindeutig bestimmt, und es gibt auch eine Funktion Vx =flsiflt, die die Geschwindigkeit der Punktmasse in x-Richtung liefert. Sagen wir, die Punktmasse bewegt sich relativ zur x-Achse, zur y-Achse und zur z-Achse mit jeweils 1 cm/s. Die Gesamtgeschwindigkeit relativ zum Bezugssystem ist die Vektorsumme dieser drei Einzelgeschwindigkeiten, also ca. 1,732 cm/s. Die kinetische Energie (Ekin = 1/2 m v2) beträgt folglich: 1,5.10-7 J. Wenden wir auf den Parameter x nun die Defmition einer Zufallsfolge an und sehen, was geschieht. Zuvor ist allerdings eine Einschränkung notwendig: Da es in einer kontinuierlichen Abfolge nicht zwei direkt hintereinanderliegende Augenblicke gibt, wollen wir eine kleinste Zeiteinheit tel = Is einfUhren. Die Ziffern einer Zufallsfolge sollen den Wert von x zu jeweils aufeinanderfolgenden diskreten Augenblicken liefern. Als Zahlenraum legen wir die Ziffern des Dezimalsystems zugrunde. Die Wertefolge von x soll nun eine Zufallsfolge bilden, wahrend die anderen Parameter weiter von der deterministischen Funktion bestimmt werden. Unsere Zufallsfolge F ftlr x laute: Fx = (1,4,1,4,2,1,3,5, ... )
Wenn die Punktmasse sich zum Zeitpunkt to am Ort 00 = [4;4;4] befunden hat, so befmdet sie sich nach einer Sekunde bei 1 = [1;4,01;4,01], nach zwei Sekunden bei 02 = [4;4,02;4,02], nach drei Sekunden bei 03 = [1;4,03;4,03] usw. Wahrend der Körper sich zur y- und z-Achsekontinuierlich bewegt, hüpft er bezüglich der x-Achse hin und her und nimmt zuflUlig aufeinanderfolgende Werte an. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Gesamtgeschwindigkeit und die kinetische Energie relativ zum Ursprung. Zwischen den Zeitpunkten to und t l hat sich der Körper 300 cm in x-Richtung und jeweils 1 cm in y- und z-Richtung bewegt. Das ergibt eine Gesamtgeschwindigkeit von ungefähr 300 cm/s, eine kinetische Energie von 4,5·1O-2 J und somit eine Zunahme der Energie um runf Größenordnungen. (Bei den nächsten beiden Zeitpunkten bleibt dieser Betrag in etwa gleich, die Richtung des Gesamtimpulses kehrt sich aber zwei-
°
7. Drei Stufen zum absoluten Zufall
121
mal um.) Verantwortlich fUr diesen gigantischen Einfluß des Zufalls auf das System ist natürlich die Wahl der Größenordnung. Hier kommt es aber nicht auf den Betrag der Schwankung an, sondern auf die Tatsache der Schwankung selbst, die sich, liegt keine Ursache fUr eine Begrenzung vor, gleichmäßig und nicht in Form einer Glockenkurve über den ganzen Bereich möglicher Werte erstrecken muß. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob das Newtonsche Differential20 in einem solchen System noch Sinn macht, denn das mitlaufende Beispiel soll nur dazu dienen, soweit wie möglich, eine anschauliche Vorstellung zu geben. Halten wir fest:
In einem System S herrscht Zufall 1. Grades, wenn die Folge von Werten eines Parameters zu den Zeitpunkten -+ Z Die Werte Weines Parameters Pi zu bestimmten Zeitpunkten (t), t2, t3, ... , 1m) ergeben die Folge Fi von Zahlen Fi(t) = (W), W2, W3·.·, Wrn).
Die kleinste Anzahl von Parametern, die S vollständig bestimmen, erhalten wir, indem wir alle überflüssigen Größen eliminieren. Nehmen wir an, das System S werde durch sieben Parameter vollständig beschrieben, und jeder dieser Parameter habe eine Wertefolge, die zufällig ist. Nehmen wir weiter an, es gebe in diesem System neben den sieben unabhängigen Parametern (p), P2, ... , P7) noch weitere (Ps, P9, ... , Pm)' die Funktionen dieser Parameter sind. Nun ist zwar jede einzelne Folge ftlr sich selbst betrachtet eine Zufallsfolge, geordnete n-Tupel aber bilden keine Zufallsfolgen, denn da die Parameter (Ps, P9, ... , Pm) sich voraussetzungsgemäß bei Kenntnis der sieben unabhängigen Größen berechnen lassen, ist das um die abhängigen Parameter ergänzte n-Tupel komprimierbar. Es sind also so lange Parameter zu eliminieren bis sich keine geordneten n-Tupel mehr fmden lassen, die das Kriterium einer Zufallsfolge nicht erfUllen. In einem System S herrscht Zufall 2. Grades, wenn ftlr jeden Pi von Saus MPrnin gilt, daß die Folge seiner Werte Fi filr die Zeitpunkte (t), t2, t3, ... ,1m) eine Zufallsfolge ist. Zwischen Zufall 1. und Zufall 2. Grades gibt es folglich weitere graduelle Abstufungen, die sich durch den Anteil der Parameter unterscheiden, die zufälliges Verhalten zeigen. Die üblicherweise als Zufallsbewegungen oder Random Walks 2 ) bezeichneten Vorgänge wie die Brownsche Bewegung werden häufig sogar deterministisch rekonstruiert und kommen auch bei probabilistischem Verständnis erst durch (unterschiedlich formulierbare) Einschränkungen der absolut zufälligen Bewegung zustande. Wenn z.B. der Ort eines Körpers in einem dreidimensionalen Bezugssystem zum Zeitpunkt t) durch 0) = [x); y); zd bestimmt ist, dann könnte sein Ort zum Zeitpunkt t) +te) durch 02 = [x) + Sign(r); y) + Sign(r2); z) + Sign(r3)]
2) Siehe: Frank Spitzer, Principles ofRandom Walk, Berlin, 1976.
7. Drei Stufen zum absoluten Zufall
123
gegeben sein. Wobei rx eine in irgendeiner näheren Bestimmung normalverteilte Zufallsvariable und Sign eine Operation ist, die rx zufällig ein Vorzeichen zuweist. Eine Variante dieser probabilistisch positionserhaltenden Zufallsbewegung würde beispielsweise durch die Hinzunahme einer probabilistisch richtungserhaltenden Bedingung entstehen. Aber auch der uneingeschränkte Zufall 2. Grades ist noch kein absoluter Zufall, denn hier wird zwar erlaubt, daß die Quantitäten der Parameter, die zur Bestimmung des Zustandes eines Systems dienen, zufälligen Veränderungen unterliegen, nicht verändert aber wird Art und Zahl dieser Parameter. So könnte man sich beispielsweise ein Universum denken, in dem die Gegenstände plötzlich auftauchen und wieder verschwinden oder zusätzliche Eigenschaften entwickeln. Dann würde man im ersten Fall verschwundenen Gegenständen keine sinnvollen Eigenschaften mehr zuweisen können, und im zweiten Fall wäre die Beschreibung des Systemzustandes mit einem Mal unvollständig geworden. Wir brauchen also eine noch umfassendere Bedingung. Wie zuvor erhält jeder Parameter eine Ordnungszahl. MPmin ist nun keine konstante Menge mehr, sondern ändert sich mit der Zeit. FMPmin(t) sei die Folge der geordneten n-Tupel von Ordnungszahlen der Parameter, die den Zustand von S zum Zeitpunkt t i vollständig bestimmen. In einem System S herrscht Zufall 3. Grades, wenn (a) die Wertefolge Fi jedes Pi aus MPmin eine Zufallsfolge ist, und (b) die Folge von geordneten nTupeln FMPmin(t) eine Zufallsfolge ist. In diese Formulierungen ist die Annahme eingegangen, daß es abzählbar viele Parameter gibt. Vielleicht ist es sogar nötig, endlich viele anzunehmen, weil man möglicherweise mit einem Algorithmus der eine unendliche Folge von koexistierenden Parameterwerten erzeugt in diesem Zusammenhang nicht sinnvoll umgehen kann. Doch wie auch immer man sich zu diesen Annahmen stellen mag, das Ziel der Ausfilhrungen scheint mir in jedem Fall erreicht zu sein, denn es kam hier vor allem darauf an, den Begriff absoluter Zufall in seiner ganzen Stärke zu erfassen und ihn dem in der Determinismus-Debatte üblicherweise gehandelten Begriff gegenüberzustellen. Relativ zu dem unstrukturierten, regellosen und umfassenden Chaos, das in einer Welt mit allgegenwärtigem absoluten Zufall herrschen müßte, wird klar, wie klein und bescheiden der Zufall gewöhnlich sein Dasein fristet.
124
VI. Der Zufall
8. Komplexität und Kausalität In Abschnitt 5. wurde bereits gesagt, daß die algorithmische Defmition ein strukturelles Kriterium fUr Zufall liefert und die Herkunft bzw. Entstehungsgeschichte der Daten nicht beachtet. Man könnte sich nun vorstellen, daß eine Zahlenfolge wohl strukturell komplex, dennoch aber nicht zufällig im Sinne von akausal oder indeterministisch ist. Dies könnte man dann erwarten, wenn die Ursachen selbst komplex (also nach Poincares oben genannten Bedingungen rur Zufall verwickelt und zahlreich) sind, ohne sich zu stabilen Mittelwerten zu aggregieren. Die Werte der einzelnen Parameter könnten dann durch Ursachen und Gesetze vollständig bestimmt sein, und würden dennoch relativ zu dem algorithmischen Zufallskriterium als zufällig charakterisiert werden. In diesem Falle wäre eine Vereinfachung durch Zerlegung der Gesamtursache in Teilursachen, deren Werte selbst durch einfache Algorithmen erzeugt werden können, denkbar. Sie muß aber nicht notwendigerweise gelingen, denn weiterhin ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß zwar ein einfaches Gesetz (bzw. ein einfacher Algorithmus) zur Erzeugung dieser Folge (oder der diese Wertefolgen bestimmenden Teilursachen) existiert, aber noch nicht gefunden ist. Diese Möglichkeit bringt einige weitreichende Probleme mit sich. Leicht ist man versucht, regelmäßigen Wertefolgen auch Regelhajtigkeit zuzuschreiben und unregelmäßigen bzw. aperiodischen Folgen Zufälligkeit zu bescheinigen. In der Tat gibt es aber Folgen, die keinerlei Regelmäßigkeit aufweisen und die dennoch durch einfache Algorithmen erzeugt werden können. So unterliegt BemdOlafKüppers wie viele andere einem Fehlschluß, wenn er sagt: "Beobachtungsdaten besitzen genau dann gesetzmäßige Merkmale, wenn sie eine Regelmäßigkeit aufweisen, aufgrund deren (Sie!) sie komprimierbar sind.,,22
Mit Folgen, die zugleich aperiodisch und deterministisch sind, werden wir uns im Kapitel VII. noch eingehender auseinanderzusetzen haben. Vorläufig soll der Hinweis genügen, daß der bloße Blick auf den Grad der Regelmäßigkeit einer Folge noch keinen Aufschluß über ihre Komprimierbarkeit und schon gar nicht ihre Zufälligkeit gibt. Abhilfe gegen diese Unsicherheit könnte nur ein negatives Kriterium bringen, das die Existenz eines komprimierenden Algorithmus unter
22 Bernd-OIaJ Küppers, Die Komplexität des Lebendigen - Möglichkeiten und Grenzen objektiver Erkenntnis in der Biologie, in: Bernd-OlaJ Küppers (Hrsg.), Ordnung aus dem Chaos, München, 1987. S. 45 f.
9. Der Status des a1gorithmischen Zufallskriteriums
125
anzugebenden Bedingungen ausschließt. Gregory Chaitin ist der Ansicht, daß ein Beweis rur die Nicht-Existenz eines solchen komprimierenden Algorithmus nur in einem logischen System gelingen kann, das komplexer ist, als die betrachtete Folge. Er sieht diese These als ein Analogon zu Gödeis Unvollständigkeitsbeweis rur formale Systeme. 23
9. Der Status des algorithmischen Zufallskriteriums Implizit haben wir bereits Gebrauch gemacht von drei erkenntnistheoretischen Ebenen, auf denen man sich mit dem Zufall auseinandersetzen kann: Zufall in der Realität, Zufall relativ zu unserer Erfahrung und Zufall als Bestandteil von Theorien. Schließlich kann man auch versuchen, den begrifflichen Gehalt von Zufall klären. Mit letzteren haben wir uns in Abschnitt 6. beschäftigt, wobei die Annäherung an Zufall immer nur negativ erfolgte (Ein zufälliges Ereignis hat keine Ursachen. Ein zufälliges Ereignis ist unbestimmt.) Die positive begriffliche Erfassung des Zufalls oder - was filr Mathematiker häufig ein Synonym ist Unordnung ist offenbar schwierig. Hans Freudenthai hält ein solches Unterfangen sogar rur widersprüchlich: "It may be taken for granted that any attempt at defining disorder in a fonnal way will lead to a contradiction. This does not mean that the notion of disorder is contradictory. It is so, however, as soon as I try to fonnalize it.,,24
Mit den technischen Problemen der Formalisierung von Komplexität oder Unordnung wollen wir uns hier nicht weiter befassen. Wir wollen uns stattdessen den Problemen zuwenden, die jede solche Charakterisierung mit sich bringt, insbesondere wenn sie in der Absicht unternommen wird, eine Defmition von Zufall zu liefern. Diese sollte im Idealfall auch eine Richtschnur zur Beurteilung natUrlicher Vorgänge liefern, die uns Auskunft darüber gibt, ob wir es mit deterministischen oder zufälligen Phänomenen zu tun haben. Aussagen über Zufälligkeit sollten also möglichst ontologische Relevanz besitzen. Unsere Charakterisierungen von Zufall aus Abschnitt 7., die sich auf ein komplexitätstheoretisches Kriterium stützen, sind ontologisch formuliert. Sie
23 Siehe z.B.: Gregory Chaitin, Gödel's Theorem and Infonnation, International Journal ofTheoretical Physics, Vol. 21,1982, S. 941-954. 24 Hans Freudenthai, Realistic Models in Probability, in:lmre Lakatos, The Problem ofInductive Logic, Amsterdam, 1969, 9 f.
126
VI. Der Zufall
qualifIZieren eine Welt dann als vom Zufall beherrscht, wenn die genannten Bedingungen gegeben sind. Darin sind aber zwei Voraussetzungen enthalten, die beim Übergang vom künstlichen Beispiel zu realen Situationen wichtig werden: Erstens ist man nie in der Lage, den Zustand eines beliebigen Systems vollständig und exakt zu bestimmen. Mit diesem Problem haben wir uns bereits in Kapitel V. bei der Beschäftigung mit dem Determinismus in der Praxis auseinandergesetzt. Es scheint zwar so, als ob die Probleme der Meßwertgewinnung und der Zustandsbestimmung dem Nachweis deterministischer Verhältnisse erheblich mehr Mühe bereiten müßten als dem Nachweis indeterministischer Verhältnisse, da sie selbst randomisierend also in Richtung der Unordnung wirken. Doch dem ist nicht so, denn rur den sicheren Nachweis eines Zufalls sind sie genauso problematisch wie ft1r den Beweis strengsten Determinismus. Das beobachtete unregelmäßige Geschehen könnte statt vom Zufall auch von Störfaktoren hervorgerufen worden oder aufgrund ungenauer Messungen nur scheinbar vorhanden sein. Zweitens kann man bei einer gegebenen Folge nie absolut sicher sein, daß es tatsächlich keinen Algorithmus gibt, der ihren Informationsgehalt zu komprimieren in Lage wäre, denn, wie im letzten Abschnitt gesagt, ist die Nicht-Existenz eines Algorithmus, der eine Folge komprimieren könnte, nicht nachweisbar. Die Formulierung "Es gibt keinen Algorithmus, der F komprimieren kann" suggeriert dagegen ontologische Gültigkeit und ist folglich ft1r praktische Fälle irreftlhrend. Statt mit einem ontologisch gültigen haben wir es also mit einem bloß epistemischen Kriterium zu tun. Es liefert uns eine vorläufige deterministische oder indeterministische - Hypothese über eine Folge, die sich durch das Hinzutreten neuer Informationen als revidierungsbedürftig erweisen kann. 25 Auch das komplexitätstheoretische Zufallskriterium ist abhängig von Umfang und Zuverlässigkeit des jeweiligen Wissensstandes. Mit anderen Worten: Es ist abhängig vom epistemischen Zustand der urteilenden Person. Nach Ansicht Heinz von Foersters ist Ordnung nicht ein rein objektives Faktum, das stets in der Natur vorhanden ist und lediglich entdeckt zu werden braucht. Seiner Auffassung nach stellt sie eine Relation zwischen Subjekt und Objekt dar: Eine Menge D ist genau dann ft1r das Individuum I geordnet, wenn I
25 Man kann durch zusätzliche Informationen dahin kommen, eine zuvor als zufällig betrachtete Folge rur deterministisch zu halten, und es ist auch möglich, daß eine ursprünglich rur deterministisch erachtete, sich als zufällig herausstellt. Das wird im Kapitel VII., so hoffe ich, noch deutlicher werden.
9. Der Status des algorithmischen Zufallskriteriums
127
in der Lage ist, in D eine Ordnung zu entdecken.26 Ordnung wäre demnach ein menschliches Produkt. (Eine Ansicht übrigens, die wie so manche andere der sogenannten radikalen Konstruktivisten, an die Erkenntnistheorien der NeuKantianer wie Cohen, Natorp und Cassirer erinnert.) Wenn man einmal unterstellt, daß von Foerster recht hat, dann sieht man sich zwei Problemen gegenüber: Erstens, wie ist es möglich, daß bestimmte Phänomene leicht als geordnet zu verstehen und zu beschreiben sind, während bei anderen dies viel schwieriger, ja, bisweilen sogar unmöglich ist? Zweitens, wie kommt die Ordnung in die Welt, wenn sie nicht schon immer in ihr vorhanden war? Ein Teil der ersten Frage kann natürlich dadurch beantwortet werden, daß man auf die unterschiedlichen Fähigkeiten unterschiedlicher Individuen bei der Erkennung von Ordnung in der Welt verweist. Ein Gedanke, den auch von Foerster im Sinn gehabt haben dürfte. Daneben gibt es aber Vorgänge, die von allen Menschen trotz aller nur denkbaren Trainingsmethoden nicht geordnet werden bzw. als geordnet beschrieben werden können, während andere von sehr vielen Menschen sehr leicht so zu verstehen sind. Dies ruhrt zu der Schlußfolgerung, daß man trotz aller bekannten Unterschiede Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmungsstruktur aller Menschen annehmen muß. Ist es dann weiterhin sinnvoll anzunehmen, daß es auch andere Wahrnehmungsstrukturen geben könnte, die dort in der Lage wären, Ordnung zu erkennen, wo es ft1r Menschen unmöglich ist? Diese natürlich rein spekulative Frage wird man wohl mit "ja" beantworten müssen, denn es läßt sich denken, daß nichtmenschliche erkennende Subjekte sowohl aufgrund von sinnlichen Wahrnehmungen, die wie das Ultraschallgehör dem Menschen nicht zur Verftlgung stehen, als auch aufgrund anders organisierter kognitiver Verarbeitungsprozesse zu anderen Aufschlüssen über die Ordnung von Daten und Vorgängen kommen können. Hieran schließt sich dann aber eine entscheidende weitere Frage an: Sind menschliche und nichtmenschliche Wahrnehmungsstrukturen ebenso wie die verschiedenen menschlichen als Varianten voneinander zu verstehen, deren Ordnungssysteme prinzipiell rur den jeweils anderen verständlich gemacht werden könnten? Läßt sich also so etwas wie ein Satz von Bedingungen vorstellen, die die Voraussetzung ft1r jedwede Art von Ordnung bilden? Wenn man auch diese Frage mit "ja" beantwortet, dann kann die Zuschreibung von Ordnung nicht allein vom Beobachter abhängen, sondern muß ge-
26 Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht, Braunschweig, 1985, S. 6.
128
VI. Der Zufall
wissen Einschränkungen unterliegen. Mithin wird man auch zugeben müssen, daß sie von objektiv gegebenen, unabhängig vom Beobachter existierenden Merkmalen der Dinge abhängt. Ordnung kann unter diesen Voraussetzungen nicht als ein rein subjektives Phänomen betrachtet werden. Das heißt aber nicht, daß sie eben doch nur in Vorgängen und Objekten als ohnehin vorhandene Eigenschaft entdeckt zu werden brauchte, denn die physikalischen Objekte bedürfen ihrerseits, um überhaupt als Objekte, die sich von anderen unterscheiden, sie enthalten oder deren Teile sind, erkannt werden zu können, der strukturierenden Tätigkeit eines erkennenden Subjektes. Sie müssen durch Konzepte bezeichnet und abgegrenzt und durch Relationen mit anderen verbunden werden, bevor sie überhaupt als irgend etwas wahrgenommen werden können. Ordnung entsteht wie jedes Produkt menschlicher Erkenntnistätigkeit also durch das Zusammenwirken von Erkenntnisapparat und Welt. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Aspekten spiegelt sich im Widerspruch zwischen naivem Realismus und radikalem Konventionalismus bzw. Relativismus und ist meiner Ansicht nach nur durch irgendeine Form transzendentaler Erkenntnistheorie zu überwinden, wobei die Frage nach dem relativen oder absoluten apriori gewisser Grundelemente der menschlichen Erkenntnis mir zweitrangig zu sein scheint. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Analyse von Datenmaterial mit der Absicht, indirekt Aufschluß über seine Zufälligkeit zu erhalten, indem man den Grad der Ordnung bestimmt, zwar Indizien, nicht aber Beweise liefert. Die komplexitätstheoretische Methode fUhrt ebenso wie die genetische Analyse nur zu vorläufigen Hypothesen, die bestätigt oder widerlegt werden können. Ein rur die Praxis anwendbares und zweifelsfrei gültiges Zufallskriterium ist auf dem Umweg über den Ordnungsbegriff nicht zu erhalten. So ftlhren auch unsere Bedingungen ftlr unterschiedliche Grade von Zufall aus Abschnitt 7., auf reale Probleme angewendet, nur zu Hypothesen über die Zufälligkeit von Systemen. Die Bedingungen sind aber nicht direktabhängig vom komplexitätstheoretischen Kriterium. Hätte man irgendein zuverlässiges Kriterium ftlr die Zufälligkeit einer Folge, wären auch die abgeleiteten drei Grade von Zufall zweifelsfrei feststellbar.
10. Das Verhältnis von Zufall, Kausalität und Determinismus Die Auseinandersetzung mit dem Zufall gibt uns nun zusammen mit den in den vorausgegangen Kapiteln angestellten Überlegungen die Möglichkeit, die
10. Das Verhältnis von Zufall, Kausalität und Detenninismus
129
Gültigkeitsbereiche der fUr unsere Untersuchung wichtigsten Begriffe abzustecken. Zufall, Kausalität und Detenninismus absoluter Zufall
moderater Zufall
Akausalität
I I
Determinismus
Kausalität
kausaler Indeterminismus Irregularität
kausaler Determinismus
Regularität
nomischer Indeterminismus Abb.2
I
nom. Determinismus
Die linken und rechten Felder des Schemas bezeichnen Verhältnisse, die entweder vollständig gegeben sind oder überhaupt nicht. Die jeweils mittlere Spalte läßt Raum fUr graduelle Abstufungen, d.h. es lassen sich Systeme oder Welten mit stärkeren oder schwächeren Anteilen von ZuflUligkeit und Gesetzlichkeit denken, während absoluter Zufall oder Detenninismus entweder gelten oder nicht gelten.
Annähernder Determinismus oder beinahe absoluter Zufall gehören in die mittlere Spalte des graduellen Übergangsbereiches zwischen den beiden extremen Grenzpunkten. So verstanden, deckt Indetenninismus den gesamten Bereich ab, den der Detenninismus nicht umfaßt, d.h. wann immer Detenninismus nicht gilt, gilt Indetenninismus. Die Begriffe Kausalität und Gesetzlichkeit umfassen die Bereiche, in denen keine vollkommen akausalen bzw. irregulären Phänomene vorkommen, und schließen vollständig detenninierte Vorgänge ein. Kausalität und Regularität sind nach dem hier nahegelegten Verständnis nicht gleichbedeutend mit Detenninismus, sondern bieten noch Raum fUr Zufall. Bei den allenneisten Gelegenheiten, versteht man unter Zufallsereignissen nur die regellose Schwankung des Wertes eines Parameters (Nach unserer Bezeichnung in Abschnitt 7. ist das Zufall 1. Grades.), während der Rest des Geschehens detenniniert bleibt. In dem obigen Schema würde diese Fonn von Zufall sehr nahe am nomischen oder kausalen Detenninismus und sehr weit entfernt vorn absoluten Zufall liegen. Wie könnten wir auch ohne ein hohes Maß deterministischer Regularitäten beispielsweise unterschiedliche Meßwerte miteinan-
9 Koch
130
VI. Der Zufall
der vergleichen? Würden wir auf diese Teildetenninierung, die Detenninierung durch Festlegung der Größenarten und der Methoden zur Ergebnisfeststellung, die wir in Abschnitt 4. skizziert haben, verzichten, müßten wir auf Wissenschaft verzichten. Wäre die Teildetenninierung nicht möglich, so bliebe auch jedwede Erkenntnis unmöglich. Wir könnten nicht einmal bemerken, daß ein Ereignis zufiillige Folgen hat, weil wir schon dazu bestimmte Parameter des Ereignisses mit artgleichen Parametern der Folgen vergleichen können müßten. Genau das wäre die Konsequenz, wenn absoluter Zufall eine pennanente und allgegenwärtige Erscheinung darstellte. Charles Sanders Peirce glaubt dennoch, daß die Welt von Grund auf vom Zufall beherrscht wird: "Nun will ich annehmen, daß alle bekannten Gesetze sich dem Zufall verdanken und auf anderen beruhen, die weitaus weniger streng sind und sich ihrerseits wieder dem Zufall verdanken, usw. in einem unendlichen Regreß. Je weiter wir zurückgehen, desto unbestimmter wird die Natur der Gesetze. Hierin können wir die Möglichkeit einer unbegrenzten Annäherung an eine vollständige Erklärung der Natur sehen. Zufall ist Unbestimmtheit, Freiheit. Aber das Wirken der Freiheit mündet in strengste Gesetzesherrschaft. ,,27
Die relativ beständige Natur mit ihren mehr oder weniger verläßlichen Gesetzmäßigkeiten, wie wir sie kennen oder unterstellen, ist nach Peirce durch eine Art physikalische Evolution erzeugt worden, indem diejenigen natürlichen Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten, die unseren heutigen nicht entsprechen, selektiert wurden. Die allgemeine Massenanziehung beispielsweise hat sich, so argumentiert er, gegenüber der allgemeinen Massenabstoßung zumindest in unserem Bereich des Universums durchgesetzt, weil Massen, die einander wechselseitig abstoßen, sich eben mittels dieser Kraft aus unserer Raumregion entfernt haben. Mir scheint jedoch, der von Peirce favorisierte Standpunkt, wonach aus dem Zufall die uns bekannten Verhältnisse einerseits durch Selektion und andererseits durch kollektivistisches Zusammenwirken individueller Zufallsereignisse entstehen, nicht konsequent durchfUhrbar zu sein. Schon die Ausbildung eines stabilen kollektiven Verhaltens erfordert die Wechselwirkung artgleicher Faktoren im Rahmen der durch die physikalische Theorie gesetzten Grenzen. (Vgl.: Abschnitte 4. und 7.) Zudem sind die Gesetze, die die von Peirce vennutete physikalische Evolution regieren, eben Gesetze und damit physikalische Regularitäten. Auch wenn die uns bekannten Verhältnisse durch vom
27 Chor/es Sanders Peirce, Entwurf und Zufall, in: Chor/es Sanders Peirce, Naturordnung und Zeichenprozeß, Aachen, 1988, S. 123.
10. Das Verhältnis von Zufall, Kausalität und Determinismus
131
Zufall gesteuerte Evolution zustande gekommen sein sollten, ist diese Evolution wie auch die irdische, biologische, zu der die Peircesche ein Analogon sein soll, nur vor dem Hintergrund konstanter oder zumindest relativ beständiger Gesetzmäßigkeiten möglich. Als pennanente und universelle Eigenschaft der Natur muß man absoluten Zufall also ausschließen. Als Wunder, als seltenes Ereignis, könnte es ihn geben. Als moderat randomisierender Einfluß könnte er sogar Bestandteil aller physikalischen Vorgänge sein. Pennanenter moderater Zufall ist ft1r uns nicht von unvollständiger Ereignisbeschreibung zu unterscheiden - zumindest nicht mit den Mitteln, die wir bis jetzt angewendet haben. Wir werden deshalb im Kapitel VII., von der Seite des Detenninismus herkommend, das Problem noch einmal angehen und dabei explizit Gebrauch machen von den drei erkenntnistheoretischen Ebenen, die in Abschnitt 9. genannt worden sind.
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus 1. Einleitung Wie sich in Kapitel VI. gezeigt hat, ist absoluter Zufall, Zufall im Sinne von vollkommener kausaler oder nomischer Unbestimmtheit, als permanente und allgegenwärtige Naturerscheinung unvereinbar mit unserer Erfahrung, während, wie Kapitel V. deutlich gemacht hat, totale Determination in der Natur zumindest nie nachweisbar ist. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus nun filr den Streit über den Determinismus in der Natur? Nach dem bisherigen Verlauf unserer Diskussion haben sich weder Indeterminismus noch Determinismus schlechthin als falsch erwiesen, denn ersterer beinhaltet ja nicht notwendigerweise, daß der absolute Zufall eine allumfassende Erscheinung ist, sondern postuliert gewöhnlich einen gemäßigten teildeterminierten Zufall (Vgl.: Kapitel VI., Abschnitte 4. und 10.), und letzterer ist - obgleich unbewiesen - dennoch weit davon entfernt widerlegt zu sein, da die Argumente, die gegen ihn vorgebracht werden, nicht ontischen Zufall z.B. im Sinne einer der Formulierungen aus dem Kapitel VI., Abschnitt 7. nachweisen können, sondern eher die Plausibilität eines deterministischen Weltbildes zu unterminieren versuchen. Max Planck hat in verschiedenen als kleine Schriften erschienenen Vorträgen die Ansicht vertreten, daß die weltanschaulichen Vorstellungen eines Menschen bereits die eigentliche Entscheidung über seine Haltung zu Determinismus und Indeterminismus bestimmen. Aus der Sicht eines Positivisten, der, so Planck, die Realität der äußeren Welt leugne und sich an die Sinnesdaten halte, könne die Annahme, daß ein gegebenes Ereignis indeterminiert sei, durchaus gerechtfertigt werden, weil eine Voraussage in der "Sinnenwelt" immer mit Unsicherheit behaftet sei. 1 Dagegen ... 1 Planck läßt sich hier nicht detailliert darüber aus, was er unter "Sinnenwelt" versteht. Das könnte in diesem Zusammenhang sowohl die Sinnenwelt des einzelnen Menschen, also die (positivistische) Welt, die durch seine sinnlichen Wahrnehmungen konstituiert wird, als auch die äußere, den Sinnen zugängliche, die reale Welt sein. Vielleicht macht er aber ganz bewußt keinen Unterschied, weil er der Ansicht ist, daß dieser für die folgende Ausführung ohne Belang ist.
1. Einleitung
133
"... verlaufen im physikalischen Weltbild alle Vorgänge nach bestimmten angebbaren Gesetzen, sie sind kausal streng determiniert. Daher wird durch die EinfUhrung des physikalischen Weltbildes - und darin liegt seine Bedeutung die Unsicherheit in der Voraussage eines Ereignisses in der Sinnenwelt reduziert auf die Unsicherheit der Übertragung des Ereignisses in die Sinnenwelt,,2.
Ob sich, wie Planck hom, durch die Ersetzung des Problems der Vorhersagbarkeit durch das der Übertragbarkeit tatsächlich eine Reduzierung ergibt, wollen wir zunächst einmal dahingestellt sein lassen. (In Abschnitt 4. werden wir darauf zurückkommen.) Das von ihm in Anspruch genommene physikalische Weltbild begann sich in den 30er Jahren, zu dem Zeitpunkt also, als Planck die zitierte Ansicht äußerte, bereits rur viele Physiker grundsätzlich zu verändern, und der "Kampf um die Weltanschauung" wurde zunehmend in die Physik selbst hineingetragen. 3 So sah sich Planck denn auch in späteren Schriften offenbar gezwungen, das physikalische Weltbild durch einen anderen theoretischen Bezugspunkt, den Realismus, zu ersetzen. Er fragt: "Was ist das Wirkliche an einem Stern, den wir am Nachthimmelleuchten sehen? Ist es die glühende Materie, aus der der Stern besteht, oder ist es die Lichtempfindung, die wir von ihm in unserem Auge haben? Der Realist behauptet das erstere, der Positivist das letztere. ,,4
Legt man diese positivistische Auffassung zugrunde (wie sie beispielsweise der frühe Russell vertreten haben könnte), dann ist es sinnlos, von einem Vor-
2 Max Planck, Der Kausalbegriff in der Physik, Leipzig, 1932, S. 11. Diese Ansicht zeigt eine starke Verwandtschaft mit der von Ernst Cassirer 1910 vertretenen Theorie, wonach die konkreten sinnlichen Gegenstände erst dann in einer wissenschaftlichen Theorie verwertbar sind, wenn sie idealisiert und quantitativ und relativ zu einem Beziehungssystem bestimmt sind. Eine wissenschaftliche Theorie ist nach dieser Sichtweise ein exaktes System von Beziehungen idealer Gegenstände, das sich nicht genau, sondern nur angenähert mit den realen Gegenständen und Beziehungen deckt. Wie Planck hier anmerkt, verlagern sich die Schwierigkeiten in einem solchen System von der vollständigen und exakten Repräsentation der Realität auf die Übertragung der Theorien und ihrer Ergebnisse auf die Realität. Siehe:Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin, 1910 Plancks Gedanken scheinen sich später in Richtung des Realismus bewegt zu haben, denn er macht in "Determinismus oder Indeterminismus" nicht mehr diesen deutlichen Unterschied zwischen Realität und wissenschaftlicher Theorie und behandelt die Problematik dort mit deutlicher Sympathie fUr einen realistischen Standpunkt. Siehe: Max Planck, Determinismus oder Indeterminismus, Leipzig, 1938 3 Seine Auffassungen zu diesem Thema skizziert Planck in dem folgenden Bändchen: Max Planck, Die Physik im Kampf um die Weltanschauung, Leipzig, 1935. 4 Max Planck, Determinismus oder Indeterminismus, Leipzig, 1938, S. 6 f.
134
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
gang zu sagen, er lasse sich erfassen oder beschreiben, denn über die Außenwelt können wir ja nichts sagen. Zugänglich sind uns nur unsere Sinnesdaten. "Auch bei dem ... Lotteriespiel hat die Frage, ob die Nummer des gezogenen Loses in Wirklichkeit gesetzlich detenniniert ist oder ob sie dem Zufall entspringt, eine verschiedene Bedeutung je nach den Voraussetzungen, die man mit dem Worte "Wirklichkeit" verbindet. Wenn man die genaue Berücksichtigung sowohl der Lagerung aller einzelnen Losnummern in der Urne als auch die Bewegungen der das Los herausgreifenden Hand zur Voraussetzung macht, so ist die gezogene Nummer vollständig detenniniert; im andem Falle ist sie indetenniniert und dem Zufall überiassen."S
An den Ausftlhrungen Plancks bleibt manches unklar, und seine Kritik des Indeterminismus ist in dieser Form triftig nur in bezug auf die referierte positivistische Position. Wie Reichenbach, Suppes, Poincare und viele andere vergleicht auch Planck Dinge, die eigentlich unvergleichbar sind, indem er verschiedene erkenntnistheoretische Ebenen gegeneinandersetzt. Seine Argumente gegen den Indeterminismus können diesen daher gar nicht in Gefahr bringen. Gleiches gilt fUr positivistische Angriffe auf den Determinismus. Um diese These, die vorderhand eine reine Behauptung ist, zu erläutern, wollen wir in Abschnitt 2. drei erkenntnistheoretische Ebenen benennen und ihr Verhältnis zueinander grob skizzieren. In den folgenden Abschnitten 3.-5. werden wir die zugrundeliegenden Gedanken etwas ausbauen und mit ihrer Hilfe versuchen, die Frage nach Determinismus oder Indeterminismus relativ zu den drei erkenntnistheoretischen Ebenen zu beantworten. Der Tenor der Planckschen Argumentation aber, wonach die Antwort auf die Determinismus-Frage abhängig ist von einer weltanschaulichen Vorentscheidung über das, was wir als wirklich betrachten, hat auch im Rahmen des in diesem Kapitel vertretenen Ansatzes Plausibilität. Die in Plancks Sprechweise unterschiedlichen Auffassungen von Wirklichkeit werden hier als unterschiedliche erkenntnistheoretische Ebenen aufgefaßt. Während die "positivistische Wirklichkeitsauffassung" sich in eine enge Verbindung zur epistemischen Ebene (Vgl.: Abschnitt 4.) bringen läßt, ist Plancks "physikalisches Weltbild" eine deterministisch strukturierte konzeptuelle Realität. (Vgl.: Abschnitte 3. u. 4.) Die wichtigste Frage, die nach dem Determinismus auf der ontischen Ebene, werden wir in Abschnitt 5. angehen. Dort werden drei Methoden oder Kriterien diskutiert, von denen man annehmen könnte, sie seien als Mittel zur Beantwortung dieser Frage geeignet. Als Resultat der Untersuchung wird sich ergeben, S Max Planck, Detenninismus oder Indetenninismus, Leipzig, 1938, S. 8 f.
2. Drei erkenntnistheoretische Ebenen
135
daß keines der drei diskutierten Kriterien zwischen moderatem ontischem Indeterminismus und totalem ontischem Determinismus unterscheiden kann. In Abschnitt 6. wollen wir uns mit der Rolle des Determinismus in der wissenschaftlichen Naturbeschreibung auseinandersetzen und uns anschließend in Abschnitt 7. mit der Frage befassen, ob der Determinismus, wenn schon nicht als Weltanschauung, dann vielleicht als Gütekriterium fUr Theorien, als methodisches Prinzip oder Richtschnur des Forschens eine positive Funktion haben kann. Die wichtigsten Ergebnisse des Kapitels und der bisherigen Untersuchung sollen schließlich in Abschnitt 8. noch einmal zusammengefaßt werden.
2. Drei erkenntnistheoretische Ebenen Man mag sich darüber wundem, warum Philosophen und Naturwissenschaftler, die doch vielfach mit den gleichen Theorien und Versuchsverfahren arbeiten und viele weltanschauliche Orientierungen teilen, über die Frage des Determinismus in der Natur in - manchmal sogar erbitterten - Streit geraten können. Eine wichtige Ursache fUr diesen Disput ist die Interpretation der deterministischen Gesetzmäßigkeiten. Sind sie, wie Planck meint, ein Mittel, die Unsicherheit der "Sinnenwelt" zu reduzieren, oder sind sie empirische Generalisierungen, Faustregeln, die lediglich gute Näherungen der realen Verhältnisse liefern, wie man in Anlehnung an Reichenbach sagen könnte? Sind deterministische Gesetze die eigentliche, einzig angemessene Art der Beschreibung natürlicher Phänomene, oder sind sie, wie z.B. Suppes behauptet, nicht mehr als das Produkt eines quasireligiösen Glaubens?6 Der Schlüssel zum Verständnis dieses Streites liegt meiner Ansicht nach in der Unklarheit vieler Autoren über den erkenntnistheoretischen Status ihrer jeweiligen Argumentation. Das wird deutlich, wenn man, wie John L. Mackie dies (nicht analog zu der hier verfolgten Zielsetzung) rur die Kausalität getan hat, 7 auch rur den Determinismus zwischen drei Teilproblemen unterscheidet, die wir unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Ebenen zuordnen wollen.
6 Siehe: Patrick Suppe:;, Probabilistic Metaphysics, Uppsala, 1974. Dieser Vorlesungszyklus ist eine Polemik gegen die Vorstellung von einer deterministischen Natur und ein Plädoyer für eine statistische bzw. probabilistische Auffassung von Gesetzlichkeit und Kausalität. 7 Siehe: John L. Mackie, Causation in Concept, Knowledge and Reality, in:John L. Mackie, Logic and Knowledge, Selected Papers Vol.I, Oxford, 1985
136
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus
Die wichtigste und wohl auch naheliegendste der drei sich stellenden Fragen ist die nach dem Determinismus in der Natur. Russells Antwort in "The Notion of Cause" ist scheinbar ganz einfach und einleuchtend: Wenn ein System, in diesem Fall - da uns die Natur als Ganzes interessiert - die Welt, sich durch ein System von Differentialgleichungen beschreiben läßt, dann ist es deterministisch, sonst nicht. Aber diese Auffassung enthält einige Unsicherheiten: Wie wir im Kapitel IV., Abschnitt 5. gesehen haben, ist die Russellsche Defmition von Determinismus sehr schwach und muß, wenn sie nicht trivial bleiben soll, zunächst durch die Forderung nach Vorhersage leistungen verstärkt werden. Im Kapitel V. wurde deutlich, daß sich in der Praxis aber kein Teilsystem der Natur vollständig deterministisch beschreiben läßt, und jede Vorhersage mehr oder weniger unsicher und ungenau bleiben muß. Und schließlich funktioniert ein solches Determinismus-Kriterium auch nur dann, wenn alle Gesetze, die zur Beschreibung herangezogen werden, wahre Gesetze sind, und wenn alle Beobachtungen und Messungen richtige und genaue Tatsachenfeststellungen sind. Jede einzelne der genannten Voraussetzungen ist fragwürdig bis unrealistisch. Aber auch, wenn wir einmal annehmen, diese unrealistischen Voraussetzungen seien in einem Fall, fllr die makromechanische Beschreibung eines Systems erfllllt, dann würde man zwar sagen können, das System habe sich während eines bestimmten Zeitraumes deterministisch in bezug auf seine makromechanischen Parameter verhalten. Man kann aber nicht behaupten, das System selbst sei während dieser Zeit deterministisch gewesen. Das wird klar, wenn man sich an die quantenmechanische Interpretation von Makrosystemen erinnert. Makrophänomene, Vorgänge der uns vertrauten Erfahrungswelt, verhalten sich nach dieser Ansicht nur deshalb berechenbar und unterliegen nicht spontanen, zuflUligen Veränderungen, weil das indeterministische Verhalten der großen Zahl von Elementarteilchen sich zu einem stabilen und berechenbaren Gesamtverhalten aggregiert. Es soll hier nicht behauptet werden, die statistische Interpretation der Quantenmechanik (Vgl.: Kapitel IX.) sei mit all ihren Konsequenzen richtig, aber man kann anband dieser Vorstellung deutlich sehen, daß deterministische Gesetze auch in einer indeterministischen Welt ausreichend gut funktionieren können. Aus diesem Grund muß zwischen der praktischen Möglichkeit, Vorgänge deterministisch zu beschreiben, und der Frage, ob die beschriebenen Vorgänge deterministisch sind, unterschieden werden. Auf diese Weise haben wir bereits zwei erkenntnistheoretische Ebenen beschrieben: die epistemische und die ontische. Die erstere stellt unsere Erfahrung dar, die letztere deren Ursache. Diejenige Ebene, die zwischen beiden vermit-
3. KonzeptueJler Detenninismus
137
telt, die durch die Strukturierung der physikalischen Wechselwirkung zwischen erkennendem Subjekt und Welt Information erzeugt und so Erfahrung erst ermöglicht, ist die dritte, die konzeptuelle Ebene. Das Verhältnis dieser drei Ebenen und ihr Zusammenwirken bei der Erfahrungsbildung können wir im Rahmen dieser Arbeit nicht auch nur annähernd vollständig klären. Dazu bedürfte es einer ausgearbeiteten Erkenntnistheorie, die sich wohl der transzendentalphilosophischen Tradition zuordnen würde. Wir wollen nicht darüber spekulieren, ob es konzeptuelle Entitäten, in der Kantischen Terminologie reine Anschauungs/ormen, gibt, die vor aller Erfahrung liegen, sondern fUr unseren Zusammenhang vereinfachend annehmen, daß sich fUr das hier erforderliche Verständnis der alltäglichen oder wissenschaftlichen Erfahrung keine erkenntnistheoretische Ebene vollständig gegen eine andere abgrenzen läßt, da jedes Element unseres Denkens und Wahrnehmens aus allen drei Komponenten gebildet wird. Erst durch ihr Zusammenwirken wird Erkenntnis möglich.
3. Konzeptueller Determinismus Unter der konzeptuellen Ebene wollen wir die Gesamtheit aller Begriffe und Gesetzmäßigkeiten verstehen, mit der ein erkennendes Subjekt operiert. Dazu gehört nicht nur das mehr oder weniger explizit bekannte und daher leicht angebbare Wissen wie die Bezeichnungen von Objekten und ihrer Eigenschaften, sondern auch dem Erkenntnisapparat immanente Charakteristika, die wir wesentlich schwerer benennen oder beschreiben können, weil sie sich ohne unser bewußtes Zutun ontogenetisch oder phylogenetisch entwickelt haben. Dazu gehören beispielsweise der Antrieb und die Fähigkeit sinnliche Wahrnehmungen zu verarbeiten oder eine Sprache zu lernen. Auf der konzeptuellen Ebene sind in bezug auf den Determinismus zwei Fragen möglich: Erstens, was ist der Inhalt des Begriffes Determinismus? Und zweitens, wann ist ein konzeptuelles System deterministisch? Beginnen wir mit der ersten Frage. Der semantische Gehalt des Begriffes Determinismus scheint mir, sieht man von weitergehendeR moralischen und weltanschaulichen Inhalten ab, die uns auf dieser Ebene nicht zu interessieren brauchen, in einer zweistelligen Relation folgender Art zu bestehen: Etwas ist dann durch etwas anderes determiniert, wenn ich aus dem ersten auf das zweite schließen kann. b ist von a determiniert, wenn ich baus a ableiten kann. Daraus folgt die Antwort auf die zweite Frage: Determiniert in diesem Sinne sind also z.B. Konsequenzen durch
138
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
ihre Prämissen im Verein mit den Ableitungsregeln, Funktionswerte einer Gleichung durch diese Gleichung, ihre Interpretation im Rahmen der Mathematik und die unabhängige Variable. (Wenn die Zuordnungsvorschriften jeweils eindeutig sind.) Der Determinismus bezogen auf die konzeptuelle Ebene überlappt sich offenbar mit dem Folgerungs- oder Ableitungsbegriff. Es liegt also nahe, die sprachlichen Entitäten physikalischen zuzuordnen und logische Schlußweisen in die Behandlung realer Ereignisse einzubringen. Dieses Vorgehen fUhrt dann etwa zu Hempels deduktiv-nomologischem Erklärungsschema, in dem eine Conclusio durch ein allgemeines deterministisches Gesetz, das Modell einer Theorie, und eine singuläre Aussage bestimmt wird. Unter einer Theorie kann man eine mathematische Gleichung verstehen, aus der sich durch die Spezifizierung eines Anwendungsbereiches ein Modell ergibt. So enthält ein deterministisches Modell ein Gesetz in Form einer Funktion, die - in den Termini der Mengenlehre gesprochen - jedem geordneten n-Tupel von Variablen des Defmitionsbereiches eindeutig einen Wert aus dem Wertebereich zuweist:
~f(xl> x2'···'xn)· Bei der Spezifikation eines Modells bzw. der Interpretation einer Theorie ergeben sich aber einige Variationsmöglichkeiten. So müssen die Referenten der Terme durchaus nicht immer singuläre reale Entitäten sein. Ebensogut kann durch eine Funktion ein Wahrscheinlichkeitswert bestimmt sein. Im letzteren Fall hätten wir eine deterministische Theorie, die probabilistische Aussagen liefert. Determiniert wird im probabilistischen Fall also - je nach Lesart - ein Erwartungswert oder eine Menge möglicher Ereignisse unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Eines oder mehrere Gesetze erzeugen zusammen mit den explizit formulierten und den implizit unterstellten weiteren konzeptuellen Entitäten und Relationen ein Modell bzw. eine konzeptuelle Realität, die je nach Art und Interpretation der Relationen deterministisch oder indeterministisch sein kann. Die Frage nach dem Determinismus auf der konzeptuellen Ebene reduziert sich also auf die deterministische oder indeterministische Struktur der konzeptuellen Realität, die ihrerseits auch von der Zuordnungsvorschrift und deren Interpretation abhängt. Die Frage nach dem Determinismus auf der konzeptuellen Ebene ist aber nicht identisch mit der Frage nach der Struktur der Zuordnungsvorschrift. So kann eine Gesetzmäßigkeit durchaus deterministisch sein und dennoch zu einer indeterministischen konzeptuellen Realität gehören. Auch dies läßt sich am Verhältnis der Klassischen Mechanik und der Quantenmechanik
4. Epistemischer Detenninismus
139
veranschaulichen. In der Makrophysik kann man sich häufig ohne Probleme vieler deterministischer Gesetze der Klassischen Mechanik bedienen, ohne daß daraus Folgerungen fUr die Struktur der konzeptuellen und gar der physikalischen Realität zu ziehen wären. Diese deterministischen Gesetzmäßigkeiten werden nämlich durch Hintergrundannahmen, die sich letztlich auf die konzeptuelle Realität der Quantenphysik stützen, als indeterministische Massenphänomene interpretiert. In der konzeptuellen Realität läßt sich auch die Unterscheidung zwischen postdiktivem und prädiktivem Determinismus (Vgl.: Kapitel IV.) formulieren. Denken wir uns eine Gleichung als abstrakte Maschine, die mit einer unabhängigen Variablen gefUttert wird und den Funktionswert als Produkt zurUckliefert. Gleichungen wie x n = x 2n_1
sind dann postdiktiv indeterministische Maschinen, weil sie fUr xn_1 = 2 und xn_1 =-2
den gleichen Funktionswert liefern, d.h. es gibt zwei mögliche Vergangenheiten. Wird der Zustand eines Systems S zum Zeitpunkt t l durch den Wert von xn _ 1 und zum Zeitpunkt ~ durch den Wert von xn gegeben, so kann man aus dem Zustand von S zum Zeitpunkt ~ zusammen mit dem gültigen Gesetz nicht mehr eindeutig auf den Zustand von S zum Zeitpunkt t l schließen, d.h. S ist postdiktiv indeterministisch. Würde die Gleichung stattdessen lauten x 2n = xn_1
hätten wir prädiktiven Indeterminismus, weil es zwei mögliche Entwicklungslinien, die zu +..Jxn_1 und die zu --Jx.n_l , fUr S gibt. Mit anderen Worten: Ist unsere Gleichung eine rechtseindeutige many-one-Relation, so herrscht prädiktiver Determinismus und postdiktiver Indeterminismus, ist sie eine linkseindeutige one-many-Relation, so gilt prädiktiver Indeterminismus und postdiktiver Determinismus, ist sie eine sowohl links- als auch rechtseindeutige one-one-Relation, dann haben wir totalen Determinismus.
4. Epistemischer Determinismus Aus der konzeptuellen Realität lassen sich potentielle Erfahrungen ableiten, die mit tatsächlich gemachten Erfahrungen verglichen werden können (Das Resultat dieses Vergleichs gehört wiederum der epistemischen Ebene zu.) und auf diese Weise ein Modell stützen oder schwächen. Stimmen die theoretisch abgeleiteten mit den tatsächlichen Erfahrungen überein, dann kann man davon
140
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
sprechen, daß die Erfahrung durch konzeptuelle Entitäten, z.B. Theorien, detenniniert ist. Unter dieser Voraussetzung brauchte man nur die konzeptuelle Realität zu kennen, um die tatsächlichen Erfahrungen (auf dem Umweg über die aus ihnen abgeleiteten postulierten Erfahrungen) vorherzusehen. Die Bedingungen ftlr epistemischen Detenninismus wären erfüllt. Insbesondere in Kapitel V. haben wir aber gesehen, daß sich detenninistisch postulierte Erfahrung und tatsächliche Erfahrung nie decken. In den Begriffen, die wir nun zur Verfügung haben, kann man dies wie folgt begründen: Die Vorgänge der physikalischen Realität affizieren die Sinne eines erkennenden Subjekts und induzieren eine durch die konzeptuelle Ebene strukturierte Erfahrung. Diese Erfahrung erlaubt ihrerseits z.B. die Refonnulierung der konzeptuellen Ebene oder auch ihre Ergänzung durch neue Begriffe und Gesetzmäßigkeiten. Aus den jeweils zur Modellbildung herangezogenen Teilen der konzeptuellen Gesamtheit ergibt sich eine konzeptuelle Realität oder ein Modell, aus der sich potentielle künftige oder vergangene Erfahrungen ableiten lassen. Die Probleme ftlr die Übereinstimmung der tatsächlichen mit der postulierten Erfahrung erklären sich nun erstens daraus, daß Modelle ärmer an Eigenschaften sind als die physikalische Realität, so daß nicht berücksichtigte Eigenschaften ftlr eine Kluft zwischen tatsächlicher und postulierter Erfahrung sorgen können. Und zweitens ist ein beliebig genauer Vergleich zwischen postulierter und tatsächlicher Erfahrung nicht möglich, weil man aufgrund der endlichen Meßgenauigkeit gar nicht weiß, ob sich die idealerweise parallele Entwicklung in der konzeptuellen und der physikalischen Realität wirklich auf einen gleichen Ausgangszustand bezieht. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird der Gegensatz zwischen Planck und Reichenbach verständlich. Plancks "physikalisches Weltbild" ist deshalb ein detenninistisches, weil die zugrunde liegende konzeptuelle Ontik mit der Klassischen Mechanik als ihrem prägenden Bestandteil es ist. Der Unterschied zwischen der "Sinnenwelt" und diesem physikalischen Weltbild entspricht in unserem Sprachgebrauch dem zwischen epistemischer und konzeptueller Ebene. Reichenbach, der in positivistischer Tradition die Erfahrung zur Richtschnur seiner Überlegungen macht, baut auf dem offenkundigen Unterschied zwischen der direkt aus detenninistischen Gesetzen abgeleiteten potentiellen Erfahrung und der tatsächlichen Erfahrung, seine Kritik des Detenninismus auf, die sich allerdings nicht mit der epistemischen Ebene bescheidet. Eine entsprechend angelegte Argumentation fmdet man auch in neueren Arbeiten. Patrick Suppes etwa sagt:
4. Epistemischer Determinismus
141
"At any given period ofscience, and certainly notjust the present, the weight of systematic evidence has always been against a thesis of determinism, but systematic weighting of this evidence has not been a strength of either scientists or philosophers."S
und: "Natural phenomena are not essentially deterministic in character; that is, the fundamental laws of natural phenomena are essentially probabilistic rather than deterministic in character. ,,9
Und ähnlich wie Reichenbach, so schließt auch Suppes aus dem epistemischen Indeterminismus auf Indeterminismus schlechthin. Wir haben im Kapitel V. gesehen, daß bereits konvergentes und divergentes Verhalten im Verein mit der Komplexität der natürlichen Vorgänge und der Beschränkung der Meßgenauigkeit eine Erfllllung der Bedingungen ftlr den Nachweis der Gültigkeit des Determinismus in der Praxis, d.h. auf der epistemischen Ebene, verhindern. Daraus läßt sich die unleugbare Abweichung der postulierten von der tatsächlichen Erfahrung bereits begründen und aus dem positivistischen Argument folgt daher nicht, daß die Natur selbst indeterministisch ist. Die Deterministen können auf diese genannten epistemischen Widrigkeiten verweisen und weiter an einer grundsätzlich deterministisch strukturierten physikalischen bzw. konzeptuellen Ontik festhalten. Die Indeterministen können echten Zufall unterstellen und die konzeptuelle Realität probabilistisch gestalten. Letztere können dabei den Vorteil ftlr sich in Anspruch nehmen, daß sich postulierte Erfahrung und tatsächliche Erfahrung nicht mehr notwendigerweise widersprechen, wie dies bei rein deterministischen Konzepten unvermeidlich ist. Doch dafür lockert sich - ungeachtet der möglichen Angemessenheit oder gar Notwendigkeit dieses Vorgehens - der Zusammenhang zwischen postulierten und tatsächlichen Erfahrungen derart, daß beide nun im Einzelfall überhaupt nicht mehr in direkten Widerspruch geraten können. (Die Behauptung "Das Ereignis a tritt unter den Bedingungen B), B2, ... mit der Wahrscheinlichkeit p auf', kann an einem einzelnen Fall weder bestätigt noch widerlegt werden, es sei denn, p liegt extrem nahe bei 1 oder 0.) Dem Deterministen ergeht es im Grunde nicht besser. Wenn er seine deterministische Theorie um Annahmen ergänzt, die die von Reichenbach gebrandmarkten Abweichungen erklären sollen, so lockert er den Zusammenhang zwischen konzeptueller Realität und Natur, weil er die postulierten Erfahrungen S Patrick Suppes, Probabilistic Metaphysics, Uppsala, 1974, S. 22. 9 Patrick Suppes, Probabilistic Metaphysics, Uppsala, 1974, S. 24.
142
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
durch Annahmen über Störvariablen bzw. Meßfehler den tatsächlichen Erfahrungen anzupassen versucht und beispielsweise über die Fehlerrechnung ein gewisses Quantum Unbestimmtheit bzw. Indetenninismus importiert. Der Unterschied zwischen Indetenninisten und Detenninisten besteht also lediglich darin, daß erstere die konzeptuelle Realität von vornherein probabilistisch konstruieren, während bei letzteren der Indetenninismus, wie Planck es ausdrückt, bei der "Übertragung in die Sinnenwelt" hereinkommt. Welchen der beiden Wege man auch beschreitet, auf der epistemischen Ebene herrscht in jedem Fall Indetenninismus.
5. Ontischer Determinismus und sein Nachweis Bei der Frage nach dem ontischen Detenninismus kommt es darauf an, wie die Natur wirklich ist, und nicht darauf, welche Eigenschaften unsere durch die konzeptuelle Ebene strukturierte Erfahrung hat. Natürlich dürfen wir nicht hoffen, diese Verhältnisse tatsächlich, so wie sie sind, zu erkennen, doch können wir fonnulieren, was gewährleistet sein müßte, sollte in der Natur Detenninismus herrschen: Nehmen wir an, t j und tj seien zwei beliebige Zeitpunkte, wobei t j < tj . Ontischer Determinismus der Vergangenheit gilt filr ein System S dann, wenn der Zustand Z(tj ) von S eindeutig und vollständig durch (1) Naturgesetze, (2) den Zustand Z(tj ) von Sund (3) die für das System S zwischen t j und tj relevanten Randbedingungen bestimmt ist. Ontischer Determinismus der Zukunft gilt filr ein System S dann, wenn der Zustand Z(t} von S eindeutig und vollständig durch (1) Naturgesetze, (2) den Zustand Z(tj ) von S und (3) die filr das System S zwischen t j und tj relevanten Randbedingungen bestimmt ist. Totaler ontischer Determinismus gilt filr S dann, wenn in S sowohl ontischer Detenninismus der Zukunft als auch ontischer Detenninismus der Vergangenheit herrscht.
In den aufgeführten Charakterisierungen ist sowohl der nomische als auch der kausale Aspekt vertreten. (Vg1.: Kapitel IV.) Raum filr Indetenninismus bzw. Zufall gibt es wiederum in den Fonnulierungen, die sich nur auf eine Zeitrlch-
5. Ontischer Detenninismus und sein Nachweis
143
tung beziehen. Universeller totaler ontischer Detenninismus gilt dann, wenn die Fonnulierung für ontischen Detenninismus auf jedes Teilsystem des Universums zutrifft. Ist S das Universum, dann kann Bedingung (3) jeweils wegfallen, weil das Universum defmitionsgemäß sämtliche kausal und nomisch relevanten Bedingungen in sich enthält und somit keine weiteren Randbedingung wirksam werden können. Man mag gegen diese Fonnulierungen einwenden, daß hier einfach ein Begriff, determiniert, durch einen anderen, bestimmt, ersetzt wurde, ohne daß es dabei zu einer Explikation gekommen ist. Dieser Einwand ist ohne Zweifel richtig. Ähnlich wie bei der Kausalität (Vgl.: Kapitel III.) scheint mir auch beim Detenninismus - das gilt wahrscheinlich nicht nur auf der ontischen Ebene eine Defmition, die diesen Namen voll verdient, schlechterdings unmöglich zu sein. Die angeführten drei Versionen von ontischem Detenninismus sollen auch gar kein Versuch einer Defmition sein, sie sollen nur eine Vorstellung davon vennitteln, welche Implikationen der ontische im Unterschied zu epistemischem oder konzeptuellem Detenninismus hat. Sie sollen veranschaulichen, daß in einer total detenninistischen Welt nur ein möglicher, nämlich der tatsächliche Geschichtsverlauf existiert. Würde die Welt zu irgendeinem Zeitpunkt neu geschaffen und in einen Zustand gebracht, in dem sie zuvor bereits einmal gewesen ist, so müßte sich das bereits einmal eingetretene Geschehen bis in jede winzigste Einzelheit wiederholen. Objektiver Zufall, wie moderat auch immer, ist ausgeschlossen. In einem detenninistischen Universum bestimmt die Menge aus allen vergangenen, dem gegenwärtigen und den zukünftigen Zuständen von S eine Menge von Gesetzen, die ihrerseits - aus anderer Perspektive betrachtet - einen gesetzmäßigen Zusammenhang aller dieser Zustände herstellt. Diese Gesetze müssen als echte Naturgesetze verstanden werden, die im Unterschied zu den menschlichen Versuchen, sie wiederzugeben, den naturwissenschaftlichen Gesetzen also, voraussetzungsgemäß wahr sind. Weiterhin ist unter dem Zustand von S nicht seine konzeptuelle Repräsentation durch eine minimale vollständige Beschreibung zu verstehen, sondern vielmehr die reale physikalische Existenz von S zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist natürlich unmöglichkonzeptfreie Aussagen in diesem Fall über reale Gegenstände zu machen, so daß auch die Kriterien für die drei Versionen des ontischen Detenninismus nichtkonzeptfrei sein können. Schon die Abgrenzung eines Systems und interagierender Objekte, die Annahme der Geltung von Naturgesetzen und der Existenz von Ursachen ist nur durch Beteiligung der konzeptuellen (und der epistemischen) Ebene möglich.
144
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus
Als Orientierung und Verdeutlichung des Unterschiedes zu den beiden anderen erkenntnistheoretischen Ebenen, scheinen mir die angestellten Überlegungen aber durchaus zweckdienlich zu sein. a) Das genetische Kriterium
Wenden wir uns nun den eingangs dieses Kapitels erwähnten drei Methoden zu, die beim Räsonieren über den Determinismus in der Natur in unterschiedlicher Häufigkeit immer wieder zur Anwendung gebracht werden. Die möglicherweise naheliegendste Methode zur Beantwortung der Frage, ob in der Natur alles streng verursacht bzw. geregelt verläuft oder nicht, ist die Klärung des Ursprungs eines Ereignisses. Wenn dieser Ursprung ein deterministischer Prozeß ist und die Wirkungen immer eindeutig von ihren Ursachen hervorgebracht werden, dann, so könnte man argumentieren, dürfen wir sicher sein, daß auch die Reihe unserer Beobachtungen oder Meßwerte eindeutig, zwangsläufig und somit deterministisch erzeugt ist. Durch das so umrissene genetische Kriterium könnte der Klage Rudolf Carnaps Rechnung getragen werden, wonach viele Autoren zufllllige und ungeordnete Zahlenreihen auf der einen sowie notwendige und geordnete auf der anderen Seite gleichsetzen. Er weist darauf hin, daß eine Ziffernfolge wie z.B. (8,8,8,8), obschon geordnet, doch dann immer noch als zufllllig bezeichnet werden muß, wenn sie durch einen Zufallsgenerator erzeugt worden ist, und daß eine offensichtlich ungeordnete Ziffernfolge, die man etwa durch die sukzessive Auflistung der Ziffern der Eulerschen Zahl (e) erhält, immer noch als notwendig angesehen werden muß, auch wenn sie keine erkennbare Ordnung zeigt. (Darauf werden wir in Abschnitt 5.c) näher eingehen.) Der ganze bisherige Verlauf unserer Untersuchung macht aber eindeutig klar, daß ein solches Vorhaben, die kausale und nomische Determinierung des Ursprungs eines Ereignisses, zum Scheitern verurteilt sein muß. Dieselben Faktoren, die unsere Erfahrung zu einem vom Indeterminismus regierten Gebiet machen, verhindern auch die DurchfUhrung eines Versuches zur vollständigen Klärung der Entstehung eines gegebenen Datenmaterials. Selbst in einer vollkommen deterministischen Natur gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Die genetische Methode kann nicht zu einer Entscheidung fUhren, weil die Ursachenanalyse notwendig unvollständig, vielleicht teilweise falsch und die deterministischen Vorhersagen und Erklärungen - vorausgesetzt, sie beruhen überhaupt auf wahren Gesetzmäßigkeiten - daher nur näherungsweise gelten können. Eine de-
5. Ontischer Determinismus und sein Nachweis
145
tenninistische und eine leicht indetenninistische Welt können auf diese Weise nicht voneinander unterschieden werden. b) Das komparative Kriterium
Mit den Mitteln der logischen Rekonstruktion hat Richard Montague Bedingungen ftlr die Geltung von Detenninismus geliefert, die gegenüber denen von Russell (Vgl.: Kapitel IV., Abschnitt 5.) in wesentlichen Punkten verfeinert sind. IO Für unsere Zwecke soll eine verkürzte Darstellung dieses Ansatzes genügen. Wir betrachten dazu zwei Systeme, SI und S2' und ennitteln den Zustand von SI zu den Zeitpunkten to, to+~t, to+2~t, ... , to+n& Hat ein System S2 zum Zeitpunkt t l den gleichen Zustand wie SI zum Zeitpunkt to, und ist es im darauffolgenden Zeitraum ~t auch den gleichen Wirkungen ausgesetzt, so verhalten sich beide Systeme dann detenninistisch, wenn die Zustände von SI zu den Zeitpunkten to, to+M, to+2L1t, ... , to+~t sich mit den entsprechenden Zuständen von S2 zu den Zeitpunkten t l , tl+M, tl+2~t, ... , tl+~t in jedem Fall decken. Leider gibt auch dieses Kriterium in der Praxis keinen sicheren Aufschluß über den Detenninismus von Systemen, denn erstens wird auch hier implizit die Möglichkeit verlangt, den Zustand eines Systems absolut genau zu bestimmen, weil sonst nicht gleiche von ähnlichen Verläufen unterschieden werden können. Und zweitens müßten wir ftlr beide betrachteten Systeme während des relevanten Zeitraums bis auf raumzeitliche Unterschiede absolut gleiche Bedingungen gewährleisten, weil es sonst keine gesicherte Vergleichbarkeit zwischen SI und S2 gäbe. Wie die erste, so ist auch die zweite Voraussetzung in der Praxis nicht herzustellen. (Vgl.: Kapitel 11., Abschnitt 6.) Es ist zu erwarten, daß sich SI und S2 auch bei extrem kontrollierten Rahmenbedingungen und auch bei Vorgängen, die dem proportionalen Entwicklungstyp angehören (Vgl.: Kapitel V., Abschnitt 3.), zumindest geringftlgig unterschiedlich entwickeln. Das fUhrt auch hier zu der bereits mehrfach erwähnten phänomenologischen Gleichheit zwischen detenninistischen und leicht indetenninistischen Vorgängen. Aber selbst, wenn wir einmal von den Einschränkungen ftlr die Datenerhebung absehen, wäre die Erftlllung des komparativen Kriteriums noch kein Beweis ftlr ontischen Detenninismus. Zum einen könnte es durch Zufall zu einer
10 Richard Montague, Deterministic Theories, in: Richard Montague, Formal Philosophy, New Haven, 1974, S. 303-359. 10 Kodl
146
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
Übereinstimmung beider Wertfolgen während der jeweiligen Meßzeitpunkte kommen. Zum anderen könnte der Zustand beider Systeme der stabile Mittelwert eines eigentlich indeterministischen kollektiven Phänomens sein. Unter letzterer Voraussetzung würde noch eine Ebene hinter den betrachteten Erscheinungen existieren, die in der Beschreibung des Szenarios nicht enthalten wäre. Der Zustand der Systeme würde dann auch nicht mehr der Forderung genügen, maximale Spezifikation (Vgl.: Kapitell.) der physikalischen Eigenschaften zu sein. c) Das komplexitätstheoretische Kriterium
Wie wir im Kapitel VI. gesehen haben, gibt es Versuche, den Zufall komplexitätstheoretisch zu fassen. Also könnte man doch auch umgekehrt versuchen, aus der Ordnung gegebenen Datenmaterials auf seine Determiniertheit zu schließen. Dieser Möglichkeit werden wir nun nachgehen, wobei wir uns zur Vereinfachung des Verfahrens derjenigen Beschränkungen entledigen wollen, die uns einen direkten Zugang zur ontischen Ebene verwehren. Bei dem folgenden Beispiel werden Probleme der Meßgenauigkeit, der Abgeschlossenheit oder der Unüberschaubarkeit der Phänomene keine Rolle spielen. Betrachten wir die folgende Reihe von Zahlen:
F = (1, 4, 1,4,2, 1,3,5,6,2,3, 7, 3, 0, 9, 5, 0, 4,8,8, ... )
Stellen wir uns vor, wir befänden uns in einer Situation, wo uns jemand sukzessive eine Anzahl von Zahlen gibt, die allmählich die oben aufgefllhrte Folge F ergeben. Und nehmen wir weiter an, wir stellten uns die Aufgabe, Hypothesen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von bereits zu unserer Kenntnis gelangten und noch zu erwartenden Zahlen zu fmden. Wir werden dann - wenn die Reihe noch ein wenig länger geworden ist - ziemlich schnell zu der Vermutung gelangen, daß es sich bei diesen Zahlen offenbar ausnahmslos um solche handelt, die kleiner als zehn und größer oder gleich Null sind. Wir können es nach der Betrachtung einer Reihe von Fällen also wagen, den Raum der zu erwartenden auf die natürlichen Zahlen von Null bis neun einzugrenzen. Wenn wir nun mittels des Baysschen Prinzips oder der von Misessehen Methode zur Ermittlung von relativen Häufigkeiten aus dem vorliegenden Material - das in der Tat viel umfangreicher sein müßte als die wenigen hier aufgefllhrten Zahlen - die Wahrscheinlichkeit des Auftretens rur jede einzelne berechneten, dann würden wir gemäß Bemoullis Gesetz der großen Zahlen fmden, daß sich, je mehr Ereignisse wir in unsere Berechnungen einbeziehen, der Wert
5. Ontischer Detenninismus und sein Nachweis
147
ft1r die Wahrscheinlichkeit bzw. die relative Häufigkeit jeder Alternative immer weniger von einem bestimmten Wert unterscheiden wird, der in diesem Fall p = 0, I beträgt. Stellen wir uns nun die Aufgabe, ein deterministisches Gesetz zu fmden, aus dem alle bekannten Zahlen in der Reihenfolge ihres Auftretens ableitbar sind, dann können wir eine Regel formulieren, aus der diese Folge, die auf den ersten Blick ungeordnet erscheint, mit Notwendigkeit folgt, und erhalten so eine Art ex post-Erlclärung. (Siehe: Kapitel IV., Abschnitt 5.) Für die nicht aufgefilhrten bzw. noch nicht bekannten Glieder von F, die bei der Aufstellung der Regel nicht berücksichtigt werden konnten, ist diese Gesetzmäßigkeit aber keineswegs gesichert. Mittels der gefundenen Regel könnte man nun eine Reihe von Zahlen erzeugen und überprüfen, ob sie denjenigen, die wir im Laufe der Zeit erhalten, an den entsprechenden Stellen von F gleichen. Je mehr Zahlen richtig vorhergesagt wurden, desto sicherer kann davon ausgegangen werden, daß die Regel auch die weiteren Glieder von F richtig wiedergeben wird. Der Bestätigungsgrad der hypothetischen Gesetzmäßigkeit steigt. Das ist, vereinfacht ausgedrUckt, auch der Weg, der in den empirischen Wissenschaften gegangen werden kann: Man sucht ein Gesetz, das mit den bisherigen Beoachtungsergebnissen in Einklang steht und leitet aus diesem potentielle Erfahrungen ab, die mit den tatsächlichen verglichen werden. Ist die Übereinstimmung genügend groß, wird man das Gesetz beibehalten; ist sie zu gering, wird man wohl entweder nach Erklärungen ft1r die Abweichungen oder nach einem neuen Gesetz suchen. Die obige Zahlenfolge F sei entstanden aus der Ziffernfolge der Irrationalzahl ";2, deren Glieder uns nach und nach zugänglich gemacht werden. Nun hätte F aber auch einer anderen Zahl entstammen können, wenn man erlaubte, daß die Folge nicht unbedingt die ersten Ziffern einer Irrationalzahl repräsentieren muß, sondern ebensogut auch erst mit der tausendsten Stelle dieser Zahl einsetzen könnte. Da es nun unendlich viele Irrationalzahlen gibt und jede von ihnen unendlich viele Stellen besitzt, die in ihrer Abfolge keine Periode aufweisen, ist der Versuch, die ursprüngliche Irrationalzahl zu finden, aussichtslos, so daß jede unserer deterministischen Annahmen, die nicht die richtige Quelle, also";2, hat, einen verschwindend geringen Vorhersagewert besitzt. Man kann sogar vermuten, daß jede I"ationalzahl jede beliebige nichtunendliche Folge an irgendeiner Stelle enthalten muß. Ohne den Schlüssel, jene ursprüngliche Irrationalzahl, ist man nicht in der Lage, auch nur eine einzige weitere Ziffer sicher vorherzusagen. Jede Folge, die eine andere Quelle hat als die ursprüngliche (bzw. eine, die 10·
148
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus
ihr äquivalent ist), wird an irgendeiner Stelle aufhören, die Zahlenfolge F richtig wiederzugeben. Ohne den Schlüssel kann nicht entschieden werden, ob F rein willkürlich z.B. durch Ziehen von Losen oder Befragen von Passanten entstanden ist oder durch den oben beschriebenen Prozeß streng hergeleitet wurde. Für den unbefangenen Betrachter muß die Ziffernfolge zufällig wirken, und er hat nur eine unendlich kleine Chance auf die richtige Irrationalzahl zu tippen, die ihn dann wirklich in die Lage versetzen würde, jede Stelle von F mit Gewißheit anzugeben. (Technische Schwierigkeiten, die sich vielleicht ergeben würden, wenn man die 10100-ste Stelle errechnen wollte, außer acht gelassen.) Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt man hier etwas weiter. Man kennt oder hat doch zumindest eine starke Hypothese über die Zahl der möglichen Fälle und die Verteilung der bisher bekannten Ereignisse auf diese möglichen Fälle, bzw. die relative Häufigkeit einer Ziffer. Der Herrschaftsbereich des Zufalls kann auf der Basis des vorhandenen Wissens eingegrenzt werden und erlaubt so beispielsweise Hypothesen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Falles oder die durchschnittliche Summe von 100 aufeinanderfolgenden Zahlen. (Vgl.: Kapitel VI., Abschnitt 4.) Gibt man nun noch etwas an Information hinzu, bestimmt, daß die Folge F durch die Berechnung der Quadratwurzel einer Rationalzahl entstanden ist, und daß die ersten Glieder der Folge auch die ersten Ziffern der berechneten Wurzel sind, dann kann man schon weitergehende Vermutungen aufstellen. Zu diesem Zweck nimmt man die bisher bekannten Ziffern und rechnet sie zurück, macht ein Modell. Die aufgeftlhrten Zahlen der Folge F, die entstanden sind ausv2, könnten auch von einer Zahl stammen, die geringftlgig keiner oder größer ist. In dem Bereich, der durch die kleinste und die größte derjenigen Zahlen begrenzt wird, deren Wertfolgen sich mit F bisher decken, liegen also die möglichen Modelle. Je mehr Zahlen dieser Folge bekannt sind, desto weniger darf sich die Zahl, die als Modell in Frage kommt, von v2 unterscheiden (bzw. von v2* IOn, wobei n eine gerade ganze Zahl ist). Der Bereich, der durch das Modell abgedeckt wird, der Vorhersagebereich also, wird durch die Einbeziehung neuer Zahlen immer größer. Unser Beispiel ist so gewählt, daß die Folge F keine Periode oder sonstige Regelmäßigkeit aufweist, die mit Gesetzmäßigkeit zu verbinden, wir gewöhnt sind. Das hat zwei Vorteile: Erstens kann man hieran leicht sehen, daß Determinismus nicht immer mit Regelmäßigkeit verbunden ist, und zweitens gewinnt man als Konsequenz einen Unterstützungsgrund ftlr die Aufrechterhaltung der
5. Ontischer Determinismus und sein Nachweis
149
Möglichkeit von detenninistischen Beschreibungen auch im Bereich solcher Phänomene die keine erkennbare Ordnung zeigen. Das gilt z.B. rur Vorgänge mit komplexer Dynamik, von denen im Kapitel VIII. noch die Rede sein wird. Dort wie hier hat man ein Bildungsgesetz rur Zahlenwerte, das nicht eine nach herkömmlicher Vorstellung Gesetzmäßigkeit anzeigende regelmäßige Folge erzeugt, sondern im Gegenteil zu recht willkürlichen Ergebnissen zu fUhren scheint. Hier wie dort liegt aber dennoch ein streng detenninistisches Gesetz zugrunde. Diese Verbindung von Regelhaftigkeit und Unregelmäßigkeit, wie sie sich Z.B. bei Irrationalzahlen zeigt, ist einigen Mathematikern nicht ganz geheuer und scheint weiterer Erforschung zu bedürfen. Mit Hilfe des CRA Y-2, eines Großrechners, der augenblicklich zu den leistungsfähigsten gehört, hat man jüngst eine andere Irrationalzahl, die Kreiszahl1t, bis auf 29360128 Stellen genau errechnet und nicht die Spur einer Regelmäßigkeit entdeckt. Der Gießener Mathematiker Fran~ois Fricker schreibt dazu: "... keiner der bis heute angestellten Tests hat irgendeine Ordnung in der von1t erzeugten Ziffemfolge aufgestöbert. In diesem Sinne scheint1t ebenso zufällig zu sein wie die Zahlenreihe, die das Betätigen eines von 0 bis 9 numerierten Glücksrades produziert. Sollte diese Beobachtung theoretisch untermauert werden können, so würde damit ein Paradoxum heraufbeschworen: Die Dezimalbruchentwicklung von1t wäre im mathematisch-statistischen Sinne zufällig, obgleich natürlich jede einzelne Ziffer dieser Entwicklung durch die Definition von 1t ohne Wenn und Aber festgelegt ist." 11
Die theoretische Untennauerung der Zufälligkeit der Ziffernfolge von 1t wäre zweifellos eine wünschenswerte Sache, doch Sicherheit wird man kaum erlangen können, wenn Chaitins komplexitätstheoretischer Unvollständigkeitsbeweis gilt. (Vgl.: Kapitel VI., Abschnitt 8.) Umgekehrt kann man sich aber auch fragen, welche Art von Regelmäßigkeit - falls eine existiert - rur diese Ziffernfolge überhaupt in Frage kommt. Sucht man irgendeine Art von Periodizität? Wenn sich eine solche nachweisen ließe, dann hätte man es ja mit einer periodischen und nicht mehr mit einer Irrationalzahl zu tun. Soll man vennuten, daß auf lange Sicht das Auftreten der Dezimalen sich nicht gleich häufig auf alle Ziffern verteilt? Auch fUr diese Möglichkeit gibt es keine Anhaltspunkte. Eine Gesetzmäßigkeit dagegen, die die Ziffernfolge regelhaft erzeugt, hat man bereits: Es 11 Fran~ois Fricker, Jagd auf 1t-Nachkommastellen, Spektrum der Wissenschaft, Nr. 11, 1986, S. 30.
150
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus
ist das Bildungsgesetz der Ziffemfolge von 1t. Frickers BefUrchtung, es drohe ein "Paradoxum", wird gegenstandslos, wenn man sich darüber klar wird, daß die übliche mathematische Auffassung von Zufall lediglich Komplexität zum Inhalt hat und Gesetzlichkeit keineswegs ausschließt. Erst, wenn man Komplexität flUschlicherweise mit Indeterminismus, Akausalität oder Irregularität gleichsetzt, entsteht das von Fricker unterstellte Paradoxum. (Vgl.: Kapitel VI., Abschnitte 5. u. 8.- 10.) Es entspricht einer landläufigen Gewohnheit, die Begriffe von Ordnung, Kausalität und Determiniertheit in einen engen Zusammenhang zu setzen, und die Anwendung von quantitativen Gesetzen und Regeln anderer Art in allen Teilen der Wissenschaft schien dies immer wieder zu bestätigen, doch die Ergebnisse der experimentellen Mathematik und der Chaos-Theorie brechen diesen Zusammenhang endgültig auf. (Siehe: Kapitel VIII.) Sie widerlegen, was wir bisher häufig stillschweigend unterstellt haben, was aber niemals bewiesen werden konnte: Die Annahme, daß die Existenz einer strengen Regel auch eine Regelmäßigkeit, eine sichtbare Ordnung derjenigen Phänomene impliziert, fUr die sie gültig ist. Tatsächlich spricht aber nichts dagegen, daß Ereignisse, die auf der epistemischen Ebene nicht einmal die Aufstellung aussagekräftiger Wahrscheinlichkeitsgesetze zulassen, dennoch streng determiniert sein können, und das ist, gemessen an bisherigen Denkgewohnheiten, eine kleine Revolution.
6. Determinismus und Indeterminismus in wissenschaftlichen Theorien Die Beschaffenheit des zur Verfllgung stehenden Datenmaterials (in unserem Beispiel die Folge F) sagt uns nichts über den Determinismus oder Indeterminismus des Vorgangs, der es hervorgebracht hat. Je nach den gegebenen epistemischen Voraussetzungen erscheint F einmal streng determiniert und einmal zuflUlig (innerhalb der in Kapitel VI. diskutierten Grenzen). Eine geordnete Zahlenfolge kann zufltllig entstanden sein, und eine ungeordnete Folge kann sich, wenn man näheren Aufschluß über ihren Ursprung erhält, auf einer anderen Beschreibungsebene als streng gesetzlich herausstellen. Kennt man diesen Ursprung nicht oder nicht vollständig, dann bleibt die Behauptung, ein System oder die Welt sei streng kausal strukturiert, ebenso ungesichert wie die gegenteilige Ansicht. In der Praxis ist epistemischer Indeterminismus, wie besonders in Kapitel V. betont wurde, daher zweifellos gegeben.
6. Detenninismus und Indetenninismus in wissenschaftlichen Theorien
151
Um zu entscheiden, ob ein gegebenes Infonnationsmaterial gesetzlich oder zuflUlig ist, müßten wir seinen wirklichen Entstehungsprozeß und dessen Struktur auf der elementarsten Beschreibungsebene kennen. (Vgl.: Kapitel 11. Abschnitt 3. u. Kapitel III., Abschnitt 6.) Könnte die Existenz einer solchen, elementarsten Beschreibungsebene nachgewiesen und die auf ihr sich vollziehenden Geschehnisse vollständig beschrieben werden, dann und nur dann könnte man zwischen gesetzlich und zufällig entscheiden. Das scheint im Falle der Irrationalzahlen einfach zu sein, denn es existiert ganz eindeutig eine feste gesetzliche Vorschrift, nach der sie gebildet werden. (Es würde zu weit ruhren, wollten wir an dieser Stelle der Frage nachgehen, ob dieser Schein trUgt oder nicht.) Im Falle eines Zufallsgenerators ist die Sache hoffnungslos, denn hier bezieht man sich auf ein physikalisches Phänomen und behauptet von ihm, es sei zufällig. Damit wird das Problem lediglich auf die nächste Beschreibungsebene verschoben, ohne daß man einer Lösung näher gekommen wäre. Nach den Ausruhrungen in Abschnitt 5.a), liegt dies eben daran, daß das genetische Kriterium ein untaugliches Mittel zur Klärung des Detenninismus-Problems auf der ontischen Ebene ist. Für ein qualifiziertes Urteil darüber, ob ein Zufallsgenerator echten Zufall liefern kann, müßte der Streit zwischen Detenninisten und Indetenninisten auf der ontischen Ebene bereits entschieden sein - und das ist er nicht. Das Versagen der Kriterien rur die Gültigkeit des Detenninismus auf der ontischen Ebene entzieht dem Streit über die detenninistische Struktur der Welt ihre empirische Basis. Für die Detenninismus-These gibt es weder die Möglichkeit der Falsifikation noch die der Verifikation, auch die schwächeren Anforderungen an eine empirisch relevante Hypothese wie die Möglichkeit, sie zu bestätigen oder zu entkräften, können nicht befriedigt werden. Die Detenninismus-These, ontologisch verstanden, hat also einen bloß metaphysischen Charakter. Wolfgang Stegmüller: "Wenn ein Physiker behauptet, ein detenninistisches Modell der Quantenphysik liefern zu können, deren Grundgesetze detenninistisch sind, so ist dies eine "innerphysikalische Angelegenheit", die mit Hilfe von empirisch-physikalischen Kriterien zu entscheiden ist. Wenn dagegen apriori die Behauptung aufgestellt wird, es müsse sich ein solches Modell finden lassen oder die Theorie könne nur ein Provisorium bilden, das später einmal mit Sicherheit durch eine detenninistische Theorie abgelöst werde, so stellt dies eine metaphysische These dar. Sie ist metaphysisch in dem Sinn, als sie sich darauf stützen muß, daß das Kausalprinzip oder das Prinzip des universellen Detenninismus in der einen oder anderen Fassung eine Wahrheit apriori ist, mit der jede zulässige physikalische Theorie im Einklang zu stehen habe. Da es sich bei diesem Prinzip zweifellos um eine synthetische Aussage handelt, müßte der Verfechter einer solchen These in der Kausalitätsfrage einen syn-
152
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus thetischen Apriorismus akzeptieren, ftlr den ... nicht einmal Plausibilitätsgründe vorgebracht worden sind. Vom logischen Standpunkt aus sind detenninistische und statistische Gesetzmäßigkeiten völlig gleichberechtigte Gesetzestypen, und daher sind auch Detenninismus und Indetenninismus gleichberechtigte mögliche Eigenschaften physikalischer Systeme. Dies ist eine zeitlose Feststellung, die daher auch rur die klassische Ära Geltung besaß. Die Entstehung der Quantenphysik hat diesen Sachverhalt nur erstmals deutlich zum Bewußtsein gebracht." 12
Obwohl die Einsicht, daß Detenninismus und Indetenninismus unbeweisbare ontologische Mutmaßungen sind, sich bei einer Reihe von Autoren 13 fmdet, reißt doch die Kette der Versuche nicht ab, eine der beiden Positionen entweder durch den Verweis auf die Gültigkeit von detenninistischen bzw. probabilistischen Theorien oder die Eigenschaften bestimmter Vorgänge zu beweisen. Die seit Jahrzehnten beliebtesten Aufhänger ft1r solche Anstrengungen sind spezielle 14 und allgemeine Relativitätstheorie sowie vor allem die Quantenmechanik. (Mit der Diskussion um letztere werden wir uns in Kapitel IX. noch ausftlhrlich beschäftigen.) Charles Sanders Peirce gründet die These von der Existenz echten Zufalls auf die vorhandene und seiner Ansicht nach sogar wachsende Vielfalt in der Welt. 15 Im Rahmen einer evolutionären Kosmologie ftlhrt Peirce die Entstehung und Entwicklung des Lebens wie die beobachtbaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf eine gemeinsame Wurzel, den Zufall, zurück. Aus den Arbeiten von Ilya Prigogine, der selbst zwar ein Gegner des Detenninismus ist, kann man aber schließen, daß die Entstehung und auch die Erhaltung des Lebens keines echten Zufalls bedarf. Die Erhaltung der inneren Ordnung bei Lebewesen, die scheinbar im Gegensatz zum Entropiesatz steht, wird durch den Export von Unordnung in die Umwelt und die Aufnahme von Energie aus ihr gewährleistet. Die Existenz von Leben ist folglich ebenfalls weder als Unterstützungsgrund ft1r den Detenninismus noch ft1r seine Antithese nutzbar zu machen. 12 Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band I, Berlin, 1983, S. 566. 13 Siehe z.B.: Hans Sachsse, Kausalität - Gesetzlichkeit - Wahrscheinlichkeit. Die Geschichte von Grundkategorien zur Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, Dannstadt, 1979, S. 1. 14 Siehe z.B.: C. W. Rietdijk, A Rigorous Proof of Detenninism from the Special Tbeory ofRelativity, Philosophy ofScience, Vol. 33,1966, S. 341-344. 15 Siehe z.B.: Chor/es Sanders Peirce, Tbe Doctrine of Necessity Examined, in: Chor/es Sanders Peirce, Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Vol. VI, Cambridge, 1935, S. 40 ff.
7. Determinismus als methodisches Prinzip
153
Aus dem bisher Gesagten folgt, daß man die Begriffe Determiniertheit und Indeterminiertheit je nach epistemischem Zustand durchaus rechtmäßig auf die obige Folge F anwenden kann, und so haben wir hier den Fall, daß Zufall und Gesetzmäßigkeit nicht nur gleichberechtigte Weisen der Modellierung von Information sind, wie Stegmüller sinngemäß sagt, sondern man kann sogar davon ausgehen, daß es keinen Unterschied fUr beide Methoden machen würde, ob die Natur in Wirklichkeit streng determiniert oder teildeterminiert ist. Im letzteren Fall würde die menschliche Erkenntnistätigkeit schließlich immer dort an eine Grenze stoßen, wo der Zufall Einfluß nähme. Wenn Zufall sich nur auf einen einzigen Aspekt der Natur beschränken würde, müßte er nicht notwendigerweise in diesen Bereich eingeschlossen bleiben, sondern könnte sich kontinuierlich auf das gesamte Spektrum der wahrnehmbaren und meßbaren Eigenschaften der Natur ausdehnen. Die Folge solcher Verhältnisse wäre eine Natur, die fUr den menschlichen Beobachter nicht notwendigerweise von einer tatsächlich deterministischen unterscheidbar sein müßte. Der einzige Unterschied bestünde darin, daß der Indeterminist dann recht haben könnte, wenn er behauptete, das Mißlingen eines Experiments oder die ungeordnete Wertefolge bestimmter Ereignisse sei auf das Wirken des Zufalls zurückzufilhren, und der Determinist hätte unrecht, wenn er dieselben Erscheinungen auf nicht berücksichtigte Ursachen zurückfilhrte, während im Falle eines tatsächlich vorhandenen Determinismus das Umgekehrte gälte. Wenn man ein beliebiges probabilistisches Gesetz betrachtet, das sich nicht auf deterministische Vorgänge stützen läßt, bleibt dem Deterministen immer die hidden variables-Vermutung (Siehe: Kapitel IX.), um sein Weltbild in Ordnung zu halten, während der Indeterminist immer frei ist, jeden deterministisch erscheinenden Vorgang als stabiles kollektivistisches Phänomen einzeln indeterministischer Vorgänge zu deuten.
7. Determinismus als methodisches Prinzip Bereits in Kapitel VI. (Vgl.: besonders die Abschnitte 4., 6. u. 7.) hat sich gezeigt, daß die Wahrscheinlichkei~rechnung auf vielflUtige Teildeterminierung der Phänomene angewiesen und reiner Probabilismus nicht durchzuhalten ist. Wenn nun, wie Stegmüller sagt, statistische und determini"Stische Beschreibungen gleichberechtigt sind, darf man daraus schließen, daß sich diese Gleichberechtigung auch auf konkurrierende Theorien erstreckt, oder sind deterministische Erklärungen eines Vorganges dort, wo sie möglich sind, gegenüber probabilistischen zu bevorzugen? Max Planck stellt sich hierzu folgendermaßen:
154
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Detenninismus "In der Tat ist es ja gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung, die Zusammenhänge im Ablauf eines Geschehens möglichst vollständig zu erkennen, und das kann auf keine bessere Weise erreicht werden als durch Einftlhren von Voraussetzungen, die das Geschehen als ein detenniniertes erscheinen lassen".16
Der Indetenninist schwebt nach Plancks Ansicht immer in der Gefahr, zu frUh die Suche nach exakteren Gesetzmäßigkeiten aufzugeben: "... es ist zu bedenken, daß der prinzipielle Indetenninismus durch seinen grundsätzlichen Verzicht auf die Beantwortung einer bestimmt gestellten Frage das Ziel der wissenschaftlichen Forschung, das doch auf die Aufdeckung der gesetzlichen Zusammenhänge zwischen den beobachtbaren Naturerscheinungen gerichtet ist, wesentlich tiefer steckt. Er verschließt damit ohne zwingende Not von vornherein eine Pforte, die möglicherweise in ein Gebiet ganz neuartiger Erkenntnisse ftlhren könnte." 17 Das Argument, das Planck ft1r die Bevorzugung eines detenninistischen Standpunktes in der Wissenschaft ins Feld fUhrt, ist nicht mehr weltanschaulich, sondern rein pragmatisch. Hier steht nur zur Debatte, ob wir detenninistischen Konzepten, detenninistisch strukturierten konzeptuellen Realitäten, gegenüber indetenninistischen den Vorzug geben sollen. Die Antwort Plancks fällt ganz eindeutig zugunsten der ersten Alternative aus. Doch gilt diese Präferenz in allen Fällen, in denen wir die Wahl zwischen exakten und probabilistischen Modellen haben und beide verwendbar sind? Die von der Weltanschauung unabhängige Wahl der Erklärungsstruktur hängt ab von der Qualität der vorgefundenen bzw. zugänglichen Infonnation. Ist diese relativ zu einer gegebenen Klasse von Ereignissen gut genug, um ein näherungsweise gültiges, funktionstüchtiges detenninistisches Gesetz zu etablieren, so werden wir uns wohl ft1r dieses entscheiden. Wahrscheinlichkeitsgesetze sind dort vorzuziehen, wo unübersichtliche Verhältnisse, relative Grobheit der Beobachtungsmittel gegenüber dem beobachteten Gegenstand und anderes mehr einen schlechten Infonnationsstand hervorrufen. Es wird sicherlich eine Reihe von Fällen geben, wo die Entscheidung nicht klar auf der Hand liegt. Nehmen wir an, es gäbe zwei zur Auswahl stehende Gesetze der beschriebenen Art, wobei das eine ein sehr zuverlässiges und aussagekräftiges Wahrscheinlichkeitsgesetz und das andere ein exaktes Gesetz sei, das gelegentlich gute Hypothesen liefere, manchmal aber zur Postulierung von Erfahrungen fUhre, die von den tatsächlichen Beobachtungen stark abweichen. 16 Max Planck, Detenninismus oder Indetenninismus, Leipzig, 1938, S. 13. 17 Max Planck, Detenninismus oder Indetenninismus, Leipzig, 1938, S. 19.
8.Zusanunenfassung
155
Es kann hier durchaus sein, daß diese beiden Gesetzmäßigkeiten nebeneinander existieren und je nach Bedarf, mal das eine, mal das andere mehr Vorteile aufweist. Bei solchem Vorgehen ist die Präferenz stets wieder an praktische und nicht an grundsätzliche Überlegungen gebunden. Es gibt aber auch Fälle, wo wir nicht nur keine Möglichkeit haben, ein exaktes Gesetz zu etablieren, sondern ein deterministisches Gesetz uns gar nicht die Informationen liefern könnte, nach denen wir suchen. Das gilt z.B. filr die Sozialstatistik. Für die Berechnung von Versicherungsbeiträgen nützt es wenig, wenn genaue Daten über die Beitragszahlungen jedes Versicherten und die von der Versicherung an ihn gezahlten Leistungen vorliegen, denn die Vielzahl der individuellen Datensätze verstellt den Blick auf die Information, die hier eigentlich interessiert, den statistischen Mittelwert, das durchschnittliche Verhältnis zwischen Prämien und Leistungen. Das bedeutet aber nicht, daß in gewissen Bereichen exakte Gesetzmäßigkeiten fehl am Platze sind. Vielmehr werden hier kollektivistische Aspekte relevant und erfordern eine neue Ebene der Beschreibung, ein neues Szenario. In dieser makrojizierten Beschreibung könnte es dann durchaus wieder deterministische Zusammenhänge, sagen wir, zwischen der Höhe der Versicherungsprämie und der Anzahl der Neuabschlüsse von Verträgen geben. Diese deterministischen Zusammenhänge würden natürlich wiederum den Einschränkungen unterliegen, die z.B. in Abschnitt 4. genannt wurden. Auf der Ebene der Individuen ist die möglichst deterministische Beschreibung ebenfalls nützlich, hilft sie doch z.B. dabei, Versicherungsbetrug aufzudecken oder die Prämien an unterschiedliche Konstellationen von Risikofaktoren anzupassen. Für die Qualität eines Teils der statistischen Aussagen macht das zwar keinen Unterschied, doch zur Verbesserung der Qualität, der Genauigkeit und der Verwertbarkeit der Erkenntnisse ist daher das Anstreben deterministischer Gesetze, die weitestmögliche Vervollständigung der kausalen Beschreibung der Natur, so wie Planck sie fordert, nicht nur legitim, sondern entspricht auch in weiten Bereichen wissenschaftlicher Praxis.
8. Zusammenfassung Wir haben in diesem Kapitel das Problem des Determinismus auf drei erkenntnistheoretische Ebenen, die konzeptuelle, die epistemische und die ontische, relativiert (Abschnitte 2.-5.). Determinismus auf der konzeptuellen Ebene hat zwei Teilaspekte: Zum einen geht es um den begrifflichen Gehalt von De-
156
VII. Ein Drei-Ebenen-Modell des Determinismus
tenninismus, der, so denke ich, einfach darin besteht, daß etwas durch etwas anderes bestimmt ist. Zum anderen stellt sich auf der konzeptuellen Ebene das Problem, ob Konzepte, theoretische Entwürfe der Wirklichkeit, detenninistisch oder indetenninistisch sind. Dies ist keine Frage, die sich ein für allemal entscheiden ließe, sondern immer nur in bezug auf die jeweils konstruierte konzeptuelle Realität Sinn macht. (Vgl.: Abschnitte 3. u. 4.) Im nächsten Schritt (Abschnitt 4.) stellten wir fest, daß auf der epistemischen Ebene Indetenninismus herrscht. Alle Erfahrung lehrt, daß ein Ereignis, sei es auch noch so genau untersucht, immer einen Rest von Ungewißheit behält. Auch dann, wenn die rur relevant gehaltenen Faktoren und die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie sich entwickeln, noch so gut bekannt sind, wird es nie gelingen ein reales Ereignis vollständig durch sie zu detenninieren. Folglich ist jedes natürliche Ereignis de facto epistemisch indetenniniert. Wir können also nicht als selbstverständlich voraussetzen, daß reale Ereignisse an sich, wie sie unabhängig von einem Beobachter existieren, durch Ursachen und Gesetze vollständig detenniniert sind. Selbst dann nicht, wenn die zur Beschreibung eines Phänomens geeigneten Gesetze detenninistisch und die Störfaktoren bzw. Abweichungen minimal sind. Dies hat nichts (bzw. nicht notwendigerweise etwas) mit dem Wirken von objektivem Zufall zu tun. Im Abschnitt 5. wurde mittels dreier Kriterien untersucht, ob sich auf Umwegen doch noch Schlüsse über die Struktur der ontischen Ebene, der physikalischen Wirklichkeit, ziehen lassen. Dort wurde deutlich, daß Detenninismus und Indetenninismus sich anband dessen, was wir über die Wirklichkeit erfahren können, keinesfalls widersprechen müssen, ja, bei moderatem Indetenninismus nicht einmal widersprechen können. Die Statuierung entweder der detenninistischen oder der probabilistischen Gesetze als die eigentliche, einzig legitime Fonn von Naturbeschreibung ist durch empirische Gründe nicht zu rechtfertigen. (Vgl.: Abschnitt 6.) Wahrscheinlichkeitsmethode und detenninistische Gesetze ergänzen sich vielmehr. Beobachtungswerte zeigen ungeachtet der Gültigkeit detenninistischer Gesetze immer eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, und die Wahrscheinlichkeitsgesetze benötigen ergänzend umfassende detenninistische Annahmen (Siehe: Kapitel VI., bes. Abschnitte 4.,6. u. 7.) und verhalten sich, sofern sie nicht durch probabilistische Metaaussagen relativiert werden, wie Hypothesen mit absolutem Geltungsanspruch. 18 18 Die Aussage: "Die Wahrscheinlichkeit eine Fünf zu würfeln ist 1/6." kann wahr oder falsch sein und hat somit keinen probabilistisch relativierten, sondern einen absoluten Geltungsanspruch. Wollte man das probabilistische Erklärungsprinzip durch-
8. Zusammenfassung
157
Aus der FunktionstUchtigkeit der einen oder der anderen Methode auf die Verfassung der Welt zu schließen, ist nicht nur unmöglich, es ist zudem auch sinnlos, denn es ergeben sich keinerlei hilfreiche Folgerungen aus solchen Überlegungen. Das heißt aber nicht, daß damit nun die Wahl zwischen deterministischer und probabilistischer Beschreibung beliebig wäre, im Gegenteil müssen die Wissenschaften, wie Abschnitt 7. verdeutlichen sollte, im Sinne einer möglichst weitgehenden Erklärung der natürlichen Vorgänge versuchen, Erklärungen möglichst deterministisch zu gestalten. Der Determinismus auf der epistemischen Ebene kann dabei als eine ideale Grenze betrachtet werden, der man sich möglichst weit anzunähern trachtet. Durch den Planckschen "wissenschaftlichen Imperativ", nach möglichst deterministischen Erklärungen zu suchen und vermeintliche Wunder und Zufälle so gut, wie es geht, kausal zu analysieren, ist Indeterminismus keineswegs ausgeschlossen. Nur permanente und vollkommene Zufälligkeit im Sinne einer völligen Unabhängigkeit zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen, wie wir sie in Kapitel VI. beschrieben haben, ist als Grundlage allen Naturgeschehens auszuschließen. Denn wäre sie gegeben, so wären Regelmäßigkeiten extrem selten und äußerst unbeständig. Jegliche Erkenntnis wäre unmöglich. Nicht auszuschließen dagegen ist der absolute Zufall als nicht allzu häufig auftretende Erscheinung. Mit anderen Worten: Wunder sind aus naturwissenschaftlicher oder philosophischer Sicht nicht unmöglich, wenn sie nicht allzu oft auftreten.
halten, müßte man eine unendliche Reihe von Aussagen bilden, bei der jede Aussage die Wahrscheinlichkeit der Gültigkeit der vorherigen Aussage angibt: (I) "Die Wahrscheinlichkeit eine Fünf zu würfeln ist 1/6." (2) "Die Aussage (I) gilt mit einer Wahrscheinlichkeit von PI'" (3) "Die Aussage (2) gilt mit einer Wahrscheinlichkeit von P2'" ...
VIII. Das deterministische Chaos 1. Einleitung Die Konzeption, die durch die vorausgegangenen Überlegungen entwickelt wurde, soll in diesem Kapitel auf das erste von zwei Fallbeispielen, die sogenannte Chaos-Theorie, angewendet werden. Diese steht ft1r eine neue und in mancher Hinsicht von der üblichen Form mathematisch formulierter deterministischer Gesetzmäßigkeiten, den Differentialgleichungen, abweichende Methode zur Modellierung physikalischer Phänomene. Sie ermöglicht zum ersten Mal die Behandlung altbekannter Probleme, die Physiker und Mathematiker bereits seit einigen hundert Jahren plagen. In Abschnitt 2. gehen wir daher zunächst ein wenig in der Geschichte zurück und nähern uns dem Chaos von der Himmelsmechanik her an. In Abschnitt 3. werden wir uns mit zwei von ihren Autoren so bezeichneten Kausalitätsprinzipien befassen, die die Besonderheit von chaotischen im Unterschied zu anderen Vorgängen veranschaulichen sollen. Wir werden dabei Verbindungen dieser Begriffe zum Determinismus und zu gewissen Typen von Entwicklungen herstellen, die wir in Kapitel V. charakterisiert haben. Abschnitt 4. beschäftigt sich mit einem wesentlichen konzeptuellen Mittel der ChaosTheorie, der Iterationsmethode, und deren Eigenschaften. Anschließend, in Abschnitt 5. werden Beispiele ft1r chaotische Vorgänge und einige ihrer Merkmale beschrieben. Im Abschnitt 6. werden wir genauer zu analysieren versuchen, was Entwicklungen chaosfähig macht, und welche Eigenschaften chaotische Vorgänge von Glücksspielen, die ebenfalls als unberechenbar gelten, unterscheiden. In Abschnitt 7. werden wir zu begründen versuchen, daß und warum die auf dem Boden der Chaos-Theorie stehenden Naturbeschreibungen notwendigerweise deterministisch sind. Und in Abschnitt 8. schließlich werden wir der Frage nachgehen, ob die im Vergleich zu Differentialgleichungen stärker deterministisch geprägte Struktur der aus der Chaos-Theorie abgeleiteten Gesetzmäßigkeiten als Argument ft1r ontischen Determinismus in den durch sie beschriebenen Systemen verwendet werden kann.
2. Das Vielkörper-Problem
159
2. Das Vielkörper-Problem Schon von jeher galt der Lauf der Gestirne als Inbegriff von Gleichmaß und Verläßlichkeit. Die auf der Erde autimdbaren Zeitmarken unterliegen, ob es sich um Wachstumsperioden, Regen- und Dürrezeiten oder Vogelzug handelt, immer gewissen Schwankungen, die zum Teil sehr beträchtlich sein können. Verglichen damit ist die Abfolge der Mondphasen oder der jahreszeitliche Wechsel des Sonnenhöchststandes, eine frühe Basis des Kalenders, von einer geradezu wunderbaren Genauigkeit. Kein Wunder also, wenn man dieses sich so stark von der irdischen Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit abhebende Szenario auf das Wirken göttlicher Mächte zurUckfUhrte. Die Kopernikanische Wende, die Entwicklung eines neuen Modells des Sonnensystems durch Kopernikus, Kepler und Newton, markiert auch den Beginn des Aufstieges einer Philosophie, die fUr alle natürlichen Geschehnisse in der Welt eine ausschließlich natürliche, auf materielle Gegenstände und deren Wechselwirkung gegründete Erklärung forderte. Eine wichtige Strömung innerhalb dieser großen Bewegung war die Auffassung, daß die Geschehnisse in der Natur nicht nur durch innerweltliche Ursachen hervorgerufen würden, sondern daß sie vollständig durch die Bewegungen der materiellen Körper allein erklärbar seien. Ein physikalisches Geschehen ist nach Rene Descartes erschöpfend erklärt, wenn man die stattfmdenden Übertragungen der Bewegungen materieller Gegenstände von einem Raumteil auf einen anderen vollständig beschrieben hat. Diese und ähnliche, sogenannten mechanistischen Auffassungen, beeinflußten das Denken der Naturwissenschaftler, insbesondere der Physiker, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Nachdem durch Newtons Arbeit deutlich geworden war, daß die Planetenbewegungen auf klare und einfache Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden können, deren Ursache in Form der Gravitationskraft bei den Himmelskörpern selbst zu suchen ist, verlor der Glaube an ein permanentes göttliches Einwirken zur Aufrechterhaltung der Stabilität des Kosmos erheblich an Glaubwürdigkeit. Die EntmystifIzierung der Himmelsmechanik forderte viele Forscher dazu heraus, nun auch nach einer neuen Erklärung fUr die Entstehung und die Beständigkeit des Sonnensystems in seiner gegenwärtigen Form zu suchen, die allein durch die wechselseitigen Anziehungskräfte der Himmelskörper begründet war. Am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts glaubten einige Mathematiker, z.B. Lagrange und nach ihm Laplace und Poisson, solche Erklärungen gefunden zu haben, doch gab es in ihren Darlegungen immer noch schwache
160
VIII. Das detenninistische Chaos
Punkte, so daß ein Bedürfnis nach weiterer Klärung bestand, das bis in die Gegenwart hinein nicht vollständig befriedigt werden konnte. Man mag darüber verwundert sein, daß es solche Schwierigkeiten machte, die Verhältnisse im Sonnensystem mathematisch exakt zu erfassen, denn schließlich waren ja die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die Planeten bewegen, seit Newton bekannt und hatten sich zur Vorausberechnung ihrer Bahnen so gut bewährt, daß man zeitweise der Meinung war, hier ein StUck absoluten Wissens in Händen zu haben. (Diese Meinung wurde allerdings spätestens durch Einstein relativiert.) Auch die heutige Raumfahrt, insbesondere die Erforschung der äußeren Planeten durch die amerikanischen Voyager-Sonden, wäre gar nicht denkbar ohne die überaus genaue Berechnung der Wirkungen, die die Massen der Planeten auf die Sonden ausüben. Wo liegt also die Schwierigkeit? Ein erster Aspekt dieser Schwierigkeit wird sichtbar, wenn man sich die Probleme, die bei der Vorausberechnung eines Raumfluges entstehen, bewußt macht. Zwar wird die Bahn, die der Flugkörper nehmen soll, der Treibstoff, den er fUr die Strecke benötigt, und vieles weitere vor dem Beginn des Fluges auf der Erde vorausberechnet. Der Flug kann jedoch nicht allein durch ein auf dieser Grundlage erstelltes Steuerprogramm mit im vorhinein genau festgelegten Beschleunigungs- und Bremszeiten durchgefilhrt werden. Ganz egal, wie genau die Berechnungen vor Antritt der Reise sind, es kommt unvermeidlich zu geringen Abweichungen von der gewünschten Bahn, die dann während des Fluges immer wieder korrigiert werden müssen. Würden diese Korrekturen, die idealerweise stets nur sehr gering sind, unterlassen, so würden die ersten kleinen Abweichungen die nachfolgenden verstärken und so dafUr sorgen, daß der Flugkörper schließlich vom Kurs abkäme. Die Voyager-Sonden sind daher auf eine permanente Überprüfung ihrer Bahnen und deren Korrektur durch Fernsteuerung angewiesen. Auch die Planeten des Sonnensystems beeinflussen wechselseitig ihre Bahnen, und wenn man bedenkt, daß diese Störungen stattfmden, ohne daß sie von irgendwelchen Korrekturdüsen ausgeglichen werden, dann liegt der Verdacht nahe, daß die Wechselwirkungen, so gering sie auch sein mögen, im Laufe langer Zeiträume stark genug werden könnten, das System zu sprengen und einen oder mehrere Planeten aus der Bahn zu werfen. Das Sonnensystem ist aber, wie man weiß, schon seit langer Zeit entgegen der Konsequenzen solcher Überlegungen stabil, so daß die Frage nach den Ursachen dieser Stabilität auf der Hand liegt. Gleichen sich die Störungen im Laufe der Zeit von selbst wieder aus, oder hat eine Art göttliche Vorsehung die Planeten in eine prästabilierte
2. Das Vielkörper-Problem
161
Harmonie gebracht, damit sie, ftlr alle Zeiten unfaßbar präzise aufeinander abgestimmt, regelmäßig und unbeirrbar die Sonne umkreisen? Im Jahre 1885 setzte der schwedische König Oskar 11. auf die Lösung dieses Problems einen Preis aus. Henri Poincare beteiligte sich an dem Wettbewerb im Jahre 1889 und gewann ihn letztlich auch, ohne allerdings eine Erklärung ftlr die Stabilität des Sonnensystems geliefert zu haben. Die Resultate seiner Arbeit schienen im Gegenteil eher ftlr dessen Instabilität zu sprechen. Denn obwohl Poincare sich aus GrUnden der Einfachheit auf ein Modell mit nur drei Körpern (zwei Planeten und eine Sonne) beschränkt hatte, konnte nach seiner Einschätzung nicht ausgeschlossen werden, daß jene wechselseitigen Einflüsse, die die Planeten aufeinander ausüben, sich im Laufe der Zeit aufschaukeln und zum Zerfall des Sonnensystems fUhren. Resigniert gab er die weitere Beschäftigung mit dem Thema auf: "Diese Dinge sind so bizarr, daß ich es nicht aushalte, weiter darüber nachzudenken."}
Heute, nach fast 100 Jahren und mit der gewaltigen Rechenkapazität der Mikroelektronik im Rücken, muß der Chaos-Forscher Heinz-Otto Peitgen es bei einer um weniges konkreteren Aussage belassen: "Obwohl die Gleichungen des Sonnensystems im Prinzip Chaos zulassen, hat eine Art göttlicher Fügung möglicherweise das Sonnensystem auf die richtigen Anfangspositionen gesetzt. ,,2
Das Problem, das sich am Beispiel der Vielkörper-Mechanik äußert, ist nicht beschränkt auf das Gebiet der Astronomie. Es stellt sich auch bei solch einfachen Geräten wie dem Doppelpendel, dessen Schwingungen auf den ersten Blick übersichtlich und berechenbar zu sein scheinen. Nachdem man durch die wachsende Zahl der Veröffentlichungen von Chaos-Forschern auf dieses Problem aufmerksam geworden war, entdeckte man ähnlich strukturierte Vorgänge in nahezu allen Wirklichkeitsbereichen, darunter die Meteorologie3, die Bio-
} Wiedergegeben bei: Reinhard Breuer, Das Chaos, Geo, Heft 7,1985, S. 47. 2 Wiedergegeben bei: Reinhard Breuer, Das Chaos, Geo, Heft 7,1985, S. 48. 3 Die Entstehung der Chaos-Theorie wird häufig mit dem Erscheinen der folgenden Artikel von Edward N. Lorenz datiert: Edward N. Lorenz, Deterministic Nonperiodic Flow, Journal of the Atmospheric Sciences, Vol. 20, 1963, S. 130-141. Edward N. Lorenz, The Mechanies of Vacillation, Journal of the Atmospheric Sciences, Vol. 20, 1963, S. 448-464. Edward N. Lorenz, The Problem of Deducing the Climate from the Goveming Equations, Tellus, Vol. 16, 1964, S. 1-11. 11 Koch
162
VIII. Das deterministische Chaos
logie4 und die Medizins . Zuvor erschien es möglich, daß zumindest einige Phänomene dieser Klasse wie Wirtschaftsabläufe oder Körperfunktionen, durch die Erforschung von gesetzmäßigen Zusammenhängen und die Erschließung neuer Datenquellen früher oder später berechenbar würden. Diese Hoffnung erscheint nun äußerst zweifelhaft. Echter Zufall, bzw. ontischer Indeterminismus (Vgl.: Kapitel VI.) scheint zunächst einmal nicht ft1r diese Art der Unberechenbarkeit verantwortlich zu sein. So hält man in der statistischen Mechanik ähnlich wie in der Himmelsmechanik daran fest, daß sich die Bahn eines jeden einzelnen Atoms oder Moleküls, wenn keine quantenmechanischen Faktoren entscheidenden Einfluß gewinnen, im Prinzip genau bestimmen ließe, obgleich diesem Ansinnen in der praktischen Realisierung unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen. 6 Die Bahn eines Sauerstoffinoleküls etwa, das bei Zimmertemperatur ca. 460 Meter in der Sekunde zurücklegt und dabei mit Milliarden anderer Luftteilchen zusammenstößt, wird außerdem noch von einer unübersehbaren Zahl weiterer Faktoren beeinflußt, so daß eine Berechnung seiner Bahn jenseits aller praktischen Möglichkeiten liegt.
Die Chaos-Theorie beansprucht nicht, jene langfristige Berechenbarkeit im Sinne der Lösung des Vielkörper-Problems zu verwirklichen, sondern unterstützt eher noch den Zweifel daran, ob das überhaupt je möglich sein wird. Die Chaos-Theorie verspricht Antworten auf anders geartete Fragen, die dennoch vieles zur Erhellung ebendieses Problems beitragen können: Sie bietet einerseits ein Konzept zur mathematischen Modellierung von Phänomenen mit komplexer Dynamik und andererseits, auf empirischer Ebene, die Möglichkeit den Grad 4 Siehe z.B.: Bernd-Ola/ Küppers (Hrsg.), Ordnung aus dem Chaos, München, 1987. In diesem Buch sind neben den biologischen auch Beiträge aus den Bereichen Chemie, Physik und Mathematik enthalten. 5 Siehe: Wolfgang Gerok, Ordnung und Chaos als Elemente von Gesundheit und Krankheit, in: Wolfgang Gerok et al. (Hrsg.), Ordnung und Chaos in der unbelebten und belebten Natur, Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, 115. Versammlung 17.- 20. 9. 1988, Stuttgart, 1989, S. 19-41. Weitere Beiträge dieses Buches entstammen den Bereichen Ökonomie, Ökologie, Neurologie u.a. 6 Pierre Simon de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, Leipzig, 1886, S. 5: "Die von einem einfachen Luft- oder Dampfmolekül beschriebene Kurve ist in ebenso sicherer Weise geregelt wie die Planetenbahnen." Und: Albert Einstein, Leopold In/eid, Die Evolution der Physik, Wien, 1950, S. 331: "Prinzipiell ist es durchaus möglich, auch in diesem Falle (bei der statistischen Gastheorie, G.K.) nach dem Verfahren vorzugehen, das wir von der Bestimmung der Planetenbahnen her kennen ... "
3. Kausalität und Chaos
163
der Stabilität eines Systems zu beurteilen. Sie liefert darüber hinaus auch Gesetzmäßigkeiten ft1r den Übergang von sogenannten geordneten zu chaotischen Verläufen. Was jeweils unter diesen Begriffen zu verstehen ist, soll weiter unten noch erläutert werden.
3. Kausalität und Chaos Uli Oeker und Harry Thomas7 formulieren zwei Kausalitätsprinzipien, die sie auf Oavid Hume8 und James Clerk Maxwe1l9 zurückfUhren. Beide Prinzipien sind Aussagen über den Zusammenhang von gleichen oder ähnlichen Ursachen mit gleichen oder ähnlichen Wirkungen. Oer kausale Entwicklungspfad zwischen Ursache und Wirkung wird dabei als gegeben vorausgesetzt. Betrachten wir zuerst das von Oeker und Thomas so bezeichnete schwache Kausalitätsprinzip (KP I). Es lautet: Gleiche Ursachen haben gleiche Folgen. Obwohl man in den Wissenschaften wie im Alltag oft von gleichen Ursachen und gleichen Wirkungen spricht, ist die Gesamtheit der Bedingungen bzw. Ursachen, wie bereits mehrfach unterstrichen wurde, zumindest im makroskopischen Bereich nie vollständig gleich. Da die entsprechenden Voraussetzungen in der Praxis also nicht vorkommen (Vgl.: Kapitel 11., Abschnitt 6.), können wir mit diesem Prinzip auch nicht sehr viel anfangen. Daher ist das weit wichtigere das sogenannte starke Kausalitätsprinzip (KP 11). Es lautet: Ä'hnliche Ursachen haben ähnliche Folgen. Deker und Thomas zufolge ist KP 11 deshalb stärker als KP I, weil bei ihm die Beschränkung der Ausgangsbedingungen weniger streng ist als bei dem ersteren und dennoch Aussagen über ihren kausalen Zusammenhang mit den Endbedingungen gemacht werden können. Obwohl beide Kausalitätsprinzipien sehr ähnlich klingen, unterscheiden sie sich in mindestens zweierlei Hinsicht fundamental. KP I, obschon als das schwächere bezeichnet, setzt eine starke Kausalstruktur der Welt, nämlich ontischen Determinismus der Zukunft, voraus, während KP 11 dies nicht tut. KP 11 wiederum beinhaltet eine starke These über das Verhalten ähnlicher Entwicklungen. Die Klasse derjenigen Vorgänge, ft1r die 7 Uli Deker. Harry Thomas, Die Chaos-Theorie, Bild der Wissenschaft, Heft 1, 1983. 8 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 92: "In Übereinstimmung mit dieser Erfahrung können wir also eine Ursache definieren als: einen Gegenstand, dem ein anderer folgt, wobei allen Gegenständen, die dem ersten gleichartig sind, Gegenstände folgen, die dem zweiten gleichartig sind." 9 James Clerk Maxwell, Matter and Motion, New York, 0.1. (Repr. v. 1877), S. 13. 11·
164
VIII. Das detenninistische Chaos
KP 11 gilt, wurde bereits in Kapitel V. behandelt und dort als Proportionalentwicklung bezeichnet. Aus KP I ergeben sich dagegen für Klassen ähnlicher Vorgänge überhaupt keine Konsequenzen. Von einem indeterministischen Standpunkt aus könnte man die beiden Kausalitätsprinzipien wie folgt beurteilen: KP I könnte betrachtet werden als ein falsches ontologisches Credo, die unbewiesene und nicht auf Erfahrung stützbare deterministische Behauptung des eindeutigen Zusammenhanges zwischen und Wirkung, die u.a. die Gültigkeit einer harten ceteris-paribus-Bedingungvoraussetzt. (Vgl.: Kapitel 11., Abschnitt 6.) KP 11, da es nicht auf die Gültigkeit des ontischen Determinismus angewiesen ist, könnte als indeterministische Behauptung re interpretiert werden, wonach zwischen Ursache und Wirkung ein statistischer Zusammenhang besteht, sich bei gegebener Ursache also viele mögliche Wirkungen mit einer Wahrscheinlichkeit einstellen können, die im einfachsten Fall proportional zur Ähnlichkeit der Ursachen ist. KP 11, das starke Kausalitätsprinzip, setzt zwar weniger strenge Bedingungen für Ausgangs- und Endbedingungen als KP I, es macht aber auch eine weniger starke Aussage über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung: Es setzt nicht voraus, daß die Natur in bezug auf die Zukunft deterministisch ist. (Vgl.: Kapitel VII, Abschnitt 5.) Wir wollen hier zunächst der deterministischen Interpretation beider Kausalitätsprinzipien folgen, wie sie Deker und Thomas stillschweigend vornehmen. Die durch diese Annahme vorbereitete deterministische Interpretation auch der Chaos-Theorie entspricht sowohl der mehrheitlichen Meinung der Chaos-Forscher als auch, wie sich (in Abschnitt 7.) noch zeigen wird, der inneren Struktur der aus ihr abgeleiteten Theorien - zumindest in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform. 10
4. Naturbeschreibung durch iterierte Funktionen Im Prinzip kann man jedes natürliche Geschehen durch (ein System von) Differentialgleichungen beschreiben. Sehr erfolgreich sind diese Beschreibungen bei linearen Phänomenen. Wenn ein Körper z.B. mit der Geschwindigkeit v während des Zeitraumes .M eine Beschleunigung a erfllhrt, dann resultiert daraus, läßt man relativistische Erscheinungen unberücksichtigt, eine immer gleiche Änderung der Geschwindigkeit, ganz egal, welchen Wert v gerade hat. Für
10 Siehe z.B.: Heinz Georg Schuster, Detenninistic Chaos - An Introduction, Weinheim, 1984.
4. Naturbeschreibung durch iterierte Funktionen
165
sogenannte nichtlineare Phänomene aber gilt, daß die einzelnen Parameter je nach ihrer Ausprägung unterschiedlich aufeinander wirken. So kann sich in einem ökologischen System, das durch die Größen Nahrungsangebot und Zahl der Individuen beschrieben wird, bei niedriger Individuenzahl und relativ großem Nahrungsangebot eine starke Vermehrungsrate ergeben. Ist die Zahl der Individuen aber hoch, konkurrieren nicht nur mehr Individuen um das gleiche Nahrungsangebot, sondern sie können dieses auch insgesamt erschöpfen, so daß eine große Anzahl der Individuen verhungert und sich deren Gesamtzahl drastisch verringert, während das Nahrungsangebot sich wieder regeneriert und der Zyklus von vorn beginnen kann. Auf der mathematischen Beschreibungsebene lassen sich solche nichtlinearen Gleichungen in der Regel nicht lösen. Die Chaos-Theoretiker sind daher dazu übergegangen, das Verhalten von Systemen mit komplexer Dynamik numerisch zu erforschen. Zu diesem Zweck wird fllr eine unabhängige Variable zunächst ein Start- oder Seedwert gewählt und in eine Gleichung eingesetzt. Der resultierende Funktionswert der Gleichung dient im nächsten Schritt als neuer Wert fllr die unabhängige Variable und ermöglicht die Berechnung eines weiteren Funktionswertes usw. Die sukzessive berechneten Funktionswerte werden als Zustände des beschriebenen Systems interpretiert, die in konstanten zeitlichen Abständen aufeinander folgen. Wenn solche Reihen sich einem bestimmten Wert immer mehr annähern, dann sagt man, die Folge (oder das System) besitze einen Attraktor. Im einfachsten Fall pendelt sich die Wertereihe auf einen einzigen Punkt ein und verharrt dauerhaft auf diesem punktförmigen Attraktor. Doch es gibt kompliziertere Fälle, wo zwei, vier oder noch mehr Werte periodisch angenommen werden. Chaotische Wertefolgen schließlich sind solche, die auch nach der Einschwingphase keiner erkennbaren Regelmäßigkeit folgen. Bei diesen Systemen spricht man vom Vorhandensein eines Seltsamen Attraktors. Stellt man natilrliche Systeme in einem Phasenraum dar, so ist die Auswahl jener Parameter, die repräsentiert oder ausgeblendet werden, nicht durch feste Richtlinien geregelt. Stattdessen bleibt es der Intuition des Forschers überlassen, diejenigen auszuwählen, die das Systemverhalten am besten wiederzugeben vermögen. Wenn daher in diesem Kapitel vom Zustand eines Systems gesprochen wird, so ist darunter in der Regel nicht sein physikalischer Zustand (d.h. Ort und Impuls eines Körpers), sondern ein durch die ausgewählten Parameter konstruierter zu verstehen. Im Gegensatz zu Differentialgleichungen sind die Kurven, die durch Iteration entstehen, lückenhaft, d.h. zwischen zwei aufeinander folgenden Iterations-
166
VIII. Das detenninistische Chaos
schritten lassen sich keine weiteren Werte fmden. Wendet man die Methode also auf Vorgänge in der Wirklichkeit an, dann ist man in der Verlegenheit, nichts über die Zeit zwischen den Iterationsschritten sagen zu können, weil der Status des Systems dort nicht repräsentiert ist. Die Wertefolgen sind, ganz gleich, wie gering der zeitliche Abstand ihrer Glieder auch sein mag, immer diskret. In einer Welt kontinuierlicher Vorgänge ist eine iterative Beschreibung somit stets unvollständig, da nicht jedem Element der Realität ein Element der Theorie zugewiesen werden kann. I I Das macht die Iterationsmethode im Lichte der Charakterisierungen des Determinismus aus Kapitel VII. etwas suspekt. Auch wenn die diskreten Werte als Schnittpunkte von im Prinzip kontinuierlichen Verläufen mit dem Phasenraum interpretiert werden, ist die erzeugte konzeptuelle Ontik lückenhaft. Nun ist aber nicht ausgemacht, daß die Natur tatsächlich kontinuierlich verläuft. Arthur March erweitert die Gedanken Erwin SChrödingers "Über die Unanwendbarkeit der Geometrie im Kleinen"12 und postuliert eine Körnung des Raumes und der Zeit 13 . Diese These einer atomaren Struktur von Raum und Zeit ist Folge ihrer positivistischen Grundlegung, derentsprechend man nur mit Maßen umgehen darf, die auch praktisch gemessen werden können. Da die Meßgenauigkeit technische oder gar grundsätzliche Schranken hat, gibt es, bei Akzeptanz der positivistischen Voraussetzung, eine untere Grenze fUr räumliche und zeitliche Abstände. Macht es tatsächlich Sinn, eine letztendlich diskontinuierliche Struktur der Natur anzunehmen, und kann eine diskrete Theorie fUr jeden existenten Zeitpunkt einen Wert liefern, dann kann man das Unvollständigkeitsargument als entkräftet betrachten.
5. Chaotische Vorgänge Der Begriff Chaos verfUgt nicht über den Vorteil einer klar defmierten Bedeutung, sondern wurde und wird sehr unterschiedlich gebraucht. Kulturen können im Chaos versinken, eine Sitzung kann sich in Chaos auflösen, es gibt
11 Siehe: Albert Einstein, Boris Podolsky, Nathan Rosen, Can Quantum Mechanical Description of Reality Be Considered Complete?, Physical Review, Vol. 47, 1935, S. 777. 12 Erwin Schrödinger, Über die Unanwendbarkeit der Geometrie im Kleinen, Die Naturwissenschaften, Vol. 22, 1934, S. 518-520. 13 Arthur March, Raum, Zeit und Naturgesetze, Die Naturwissenschaften, Vol. 31, 1943, S. 49-59, insbesondere S 53 f.
5. Chaotische Vorgänge
167
Götter des Chaos, Chaoten und neuerdings Chaos-Theoretiker. Auch hier soll keine Defmition versucht, sondern lediglich die Verwendung des Begriffes im Rahmen der Chaos-Theorie beschrieben werden. Chaos meint dort ganz allgemein die Abwesenheit von erkennbarer oder wahrnehmbarer Ordnung. Ordnung ihrerseits steht, worauf schon im Kapitel VI., in den Abschnitten 8. u. 9. hingewiesen wurde, in Verbindung mit Regelmäßigkeit oder Periodizität, die wir erkennen und leicht in die Form von Gesetzen bringen können. Dies wiederum erlaubt Rückschlüsse auf künftige, ähnliche Ereignisse. Abwesenheit von Ordnung heißt also entsprechend, daß so charakterisierte Phänomene ein unregelmäßiges, unvorhersehbares Verhalten zeigen und es uns schwer machen, verwertbare Prognosen über ihre künftige Entwicklung aufzustellen. In diese Kategorie fallen auch Vorgänge, die wie das Billard in früheren Zeiten als Musterbeispiele fUr Berechenbarkeit und die Geltung von KP 11 angefilhrt wurden. David Hume benutzte das Billard bekanntlich zur Veranschaulichung seiner berühmten Ausfilhrungen über Kausalität. Der Zusammenstoß zweier Kugel scheint in der Tat ein gutes Lehrstück fUr den Nutzen der Gesetze der Klassischen Mechanik zu sein. Betrachtet man aber mehr als nur eine Kollision der Kugeln und verfolgt das Geschehen über etliche Karambolagen hinweg, so sind die dann stattfmdenden Ereignisse auch filr erfahrene Spieler nicht mehr kalkulierbar. Kleine Ursachen wie eine minimale Neigung des Tisches oder die Gravitationskraft anwesender Personen können den Verlauf vollkommen ändern. Die Lage nach der neunten Karambolage ist vom Anfang her praktisch unvorhersehbar. 14 Diese Tatsache wurde wohl auch deshalb kaum zur Kenntnis genommen, weil gerade gute Spieler darauf achten, innerhalb des Rahmens der Abschätzbarkeit zu bleiben, also den Kugeln erst gar nicht den filr derart viele Karambolagen notwendigen starken Stoß geben. Ein System, in dessen Zustandsraum lediglich ein Attraktor vorkommt, der entweder punkt-, kreis- oder ringförmig ist, folgt dem starken Kausalitätsprinzip (KP 11), denn hier bleiben benachbarte Verläufe benachbart. (Vgl.: Kapitel V., Abschnitte 2.-6.) Besitzt ein System dagegen mindestens einen Attraktor, der zur Familie der Seltsamen Attraktoren lS gehört, dann ist (Determinismus vor14 Vii Deker. Harry Thomas, Die Chaos-Theorie, Bild der Wissenschaft, Heft 1, 1983, S.65f. 15 Ein Seltsamer Attraktor ist ein geometrisches Gebilde, mit einer sogenannten fraktalen Dimension. Wenn die Zustände eines Systems sich auf einem solchen Attraktor bewegen, dann verhalten sie sich zu gewissen Zeiten scheinbar stabil und zu anderen sehr wechselhaft. Zur Theorie der Fraktale siehe: Benoit B. Mandelbrot, The Fractal
168
VIII. Das detenninistische Chaos
ausgesetzt) nur das schwache Kausalitätsprinzip (KP I) gültig, wenngleich diese Tatsache ftlr mehr oder weniger lange Zeiträume verborgen bleiben kann. Die Unsicherheit darüber, ob sich ein System chaotisch entwickelt, oder nicht, kommt zustande, weil sogenanntes quasiperiodisches von chaotischem Verhalten nicht immer eindeutig unterschieden werden kann. Bei quasiperiodischem Verhalten ist die Folge der Zustände zwar nicht mehr periodisch, bleibt aber dennoch langfristig stabil. Auch chaotische Verläufe können durchaus stabilere Phasen einlegen und so den Anschein erwecken, quasiperiodisch zu sein, um dann plötzlich zu den ftlr Chaos typischen starken Schwankungen überzugehen. Das Verhalten eines physikalischen Systems ist nicht ein ftlr allemal auf Chaos oder Ordnung festgelegt, sondern kann, sofern es ausreichend viele Freiheitsgrade besitzt, mal in der einen und mal in der anderen Verfassung sein. Wie bei einem Bach, der manchmal ruhig und gleichmäßig fließt und ein paar hundert Meter weiter als Wasserfall in Erscheinung tritt, gibt es Situationen, in denen sich Systeme geordnet und andere, in denen sie sich chaotisch verhalten. Auf der mathematischen Ebene ist dies nicht möglich. Hier verhält sich ein System entweder periodisch, quasiperiodisch oder chaotisch, und es kann keine Phasenübergänge geben. Die Phase der Wertefolge einer Gleichung kann sich nur bei verschiedenen Start- oder Seedpunkten der Iteration oder durch Variation des Stabilitätsparameters ändern. Bei realen Ereignissen sind spontane Umschwünge des Verhaltens aber durch Schwankungen der Randbedingungen durchaus möglich. So erhöht sich die kinetische Energie des Baches sprunghaft, wenn sein Bett steiler abflillt. Die Protagonisten der Chaos-Theorie betrachten solches Verhalten nicht mehr nur als eine Eigenschaft jener Vorgänge, die seit langer Zeit daftlr bekannt sind, sich wie etwa bewegte Flüssigkeiten und Gase unberechenbar zu gebärden, sondern glauben ein fundamentales Schema gefunden zu haben, dem sich alles Geschehen in der Natur unterordnen läßt. Die Fälle, in denen KP II gilt, sind ihrer Ansicht nach sowohl zeitlich als auch von der Häufigkeit ihres Auftretens her eng begrenzt. Die uns so selbstverständlich erscheinende Stabilität und Kontinuität der astronomischen, klimatischen und ökologischen Systeme, in die wir zum Teil eingebettet sind, könnte sich somit als trügerisch erweisen. Der Mathematiker Jürgen Moser, ein Pionier auf dem Gebiet der komplexen Dynamik sagt: Geometry ofNature, San Francisco, 1982. Und zu Seltsamen Attraktoren siehe: David Ruelle, Strange Attraktors, Mathematical Intelligencer, Vol. 2, 1979/80, S. 126-137.
5. Chaotische Vorgänge
169
"The stability ofundampted systems forall time can not in principle be decided by finite calculations and lies therefore beyond the range of calculating machines." 16 (Hervorhebung im Text)
Die Verdoppelung der Perioden, die den Übergang von Ordnung zu Chaos begleitet, wurde festgestellt bei so verschiedenartigen Phänomenen wie dem Wettergeschehen, konjunkturellen Entwicklungen und KriegsausbrUchen, bei als Flimmern bezeichneten geflihrlichen Unregelmäßigkeiten des Herzschlages, der Vermehrung von Schädlingen, ja sogar beim Wechsel des Aggregatzustandes von Materie - und tropfenden Wasserhähnen. Betrachten wir als Beispiel den zur besseren Veranschaulichung ein wenig idealisierten Wasserhahn, der allmählich aufgedreht werde. Man stellt zu Beginn fest, daß die Tropfen sehr regelmäßig fallen und alle etwa gleich groß sind. Je weiter der Hahn nun aufgedreht wird, desto schneller fallen die Tropfen, es tauchen Paare annähernd gleichgroßer Tropfen auf, dann Vierer-, dann Achtergruppen schließlich, kurz bevor das Wasser einen durchgehenden Strahl bildet, erscheinen Tropfen verschiedenster Größe in unterschiedlichen Abständen. Über die stufenweise Verdoppelung der Perioden ist das Geschehen letztendlich unvorhersehbar, chaotisch, geworden. Neben der Form der Attraktoren spielt aber auch deren Zahl eine Rolle: Je mehr von ihnen den Zustandsraum bevölkern, desto mehr divergierende Entwicklungmöglichkeiten gibt es. Vergleicht man Attraktoren mit Flußsystemen, so stellen die Grenzen der Einzugsbereiche Wasserscheiden dar. Die Entscheidung darüber, ob ein Regentropfen im Rhein oder in der Weser landet, kann von wenigen Metern oder gar Zentimetern abhängen. Voraussagen über künftige Zustände werden also nicht nur durch das Vorhandensein eines oder mehrerer Seltsamer Attraktoren erschwert, hierzu reichen, wenn man die Ausführungen in Kapitel V., Abschnitt 6. in die hier gebrauchte Redeweise übersetzt, bereits einige miteinander konkurrierende konventionelle Attraktoren aus. In der herkömmlichen statistischen Mechanik gelang die Behandlung von chaotischen Entwicklungen nicht, denn sie verlaufen entgegen der Regel des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik nicht in Richtung auf einen totalen Potentialausgleich und tendieren folglich auch nicht dazu, ihre Anfangsbedingungen zu vergessen. JOrgen Moser stellt fest: "The development of statistical mechanics had led to the expectation that most mechanical systems at least when they are made of sufficiently many particles,
16 Jürgen Moser, Is the Solar System Stable?, Mathematical Intelligencer, Vol. 1, 1978179, S. 67 f.
170
VIII. Das deterministische Chaos are ergodic, that is, after a sufficiently long time their behavior is entirely independent ofthe initial conditions. This stands, however, in the most striking contrast to stability. In fact, physicists have, beginning with this point of view, in the past century attempted to show that almost all mechanical systems display this unstable behavior provided only that one waits long enough. That this is not so for many realistic systems is now, through the work of the last decade, proved once and for aU."l7 (Hervorhebung im Text)
Im Lichte der statistischen Mechanik, deren paradigmatischer Typ die Konvergenzentwicklung (Vgl.: Kapitel V., Abschnitt 5.) ist, schien die Entstehung von Leben überhaupt und ganz besonders die Evolution der Arten, die ja gerade durch eine Erhöhung der Ordnung gekennzeichnet ist, wie sie sich etwa in der Zunahme der genetischen Informationen, der Komplexität der Körperstruktur u.a. manifestiert, ein ganz und gar unwahrscheinliches Ereignis zu sein und hätte eigentlich gar nicht stattfmden dürfen. Durch die Arbeiten z.B. von IIya Prigogine 18 und Manfred Eigen 19 aber auch die Ergebnisse der Chaos-Forschung ist deutlich geworden, daß Systeme denen Energie zugefUhrt wird, spontan geordnete Strukturen ausbilden und auch erhalten können. Der Weg zu komplexeren Formen der Selbstorganisation, der durch Aufnahme von Energie und Abgabe von Entropie als natürliche Tendenz angelegt ist, läßt die Entstehung und Höherentwicklung von lebenden Systemen besser verständlich werden, so daß sie nicht mehr als Produkt eines ganz und gar unwahrscheinlichen Glücksfalles betrachtet werden muß.
6. Analyse des Chaos Im Kapitel V. haben wir drei Typen von Entwicklungen unterschieden. Chaotische Phänomene besitzen nach der dort vorgenommenen Klassifizierung neben proportionalen und konvergenten vor allem divergente Anteile. Umgekehrt ist aber nicht jede Entwicklung, die bestimmende divergente Komponenten besitzt, eine chaotische. Betrachten wir dazu ein Beispiel: Beim Würfeln als einem Fall von divergenter Entwicklung gilt das in Abschnitt 3. besprochene KP 11 nicht, denn sonst könnte man sagen, ein Wurf, der fast eine Sechs erbracht hat,
17 Jürgen Moser, Is the Solar System Stable?, Mathematical Intelligencer, Vol. I, 1978/79, S. 67. 18I1ya Prigogine, Steady States and Entropy Production, Physica, Vol. 31, 1965,719724. 19 Manfred Eigen, Selforganisation of Matter and the Evolution of Biological Macromolecules, Die Naturwissenschaften, Vol. 58, 1971, S. 465-523.
6. Analyse des Chaos
171
habe eine Fünf ergeben. Aber das ist natürlich falsch. Wenn man sagt, man habe fast eine Sechs gewürfelt, dann ist damit wohl meistens gemeint, daß der Würfel beinahe in dieser Stellung zur Ruhe gekommen wäre, aber im letzten Moment noch gekippt ist, so daß eine Zwei, eine Drei, eine Vier oder eine Fünf erschien. (Auf jede dieser Flächen kann der Würfel von der Sechs aus umschlagen.) Man kann aber auch noch in einem anderen Sinne von ähnlichen Würfen sprechen, nämlich von ähnlich ausgeftlhrten. So versuchen etwa Kinder, wenn sie einen guten Wurf zustande gebracht haben, ihn dadurch zu wiederholen, daß sie die gleichen Bewegungen machen und den Würfel genauso und in der gleichen Lage in die Hand nehmen. Der Versuch, erfolgreiche Würfe zu wiederholen, ist jedoch selten von Erfolg gekrönt, weil schon sehr geringe Abweichungen genügen, um ein völlig anderes Ergebnis zu erzielen. Hier gilt ausschließlich KP I: Nur gleiche Würfe ergeben dieselbe Augenzahl. (Diese Formulierung setzt wieder eine deterministische Natur voraus und vereinfacht die Dinge etwas, denn auch Würfe die sich nur sehr stark ähneln, ohne sich vollständig zu gleichen, können zu identischen Ergebnissen fUhren. Der Grad von Ähnlichkeit, der hierzu nötig wäre, ist aber durch menschliches Fingerspitzengefühl und wahrscheinlich auch durch maschinell ausgeftlhrte Würfe nicht zu erreichen.) Das ist auch eine Eigenschaft jener Vorgänge, mit denen sich die Chaos-Theorie befaßt: Geringe Veränderungen der Ausgangsbedingungen können große Veränderungen der nachfolgenden Ereignisse zur Folge haben, oder anders ausgedrückt: Die Endzustände stehen in einem sensiblen Verhältnis zu den Startbedingungen. Würfe, die in diesem Sinne ähnlich sind, brauchen nicht einmal mit Augenzahlen zu enden, die auf dem Würfel benachbart liegen. 20 Diese Dinge sind seit langem bekannt, und das Bedürfnis nach Klärung der Gesetzmäßigkeiten bei den verschiedenen Glücksspielen war ja schließlich einer der wichtigsten Gründe filr die Entstehung der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Was nun unter-
20 Dies wird beim Würfel jedoch meistens der Fall sein, da jede Fläche an vier andere grenzt und nur gegenüberliegende Flächen nicht benachbart sind. Bei anderen Glücksspielen, ist das, was hier ausgedrückt werden soll, deutlicher: Eine Lottoziehung findet immer unter fast gleichen Umständen statt, d.h., die Kugeln haben die gleiche Ausgangsposition, die Mischungszeiten sind gleich und auch der Ziehungsvorgang ist ziemlich gleichförmig. Dennoch differieren die Sechser-Serien der gezogenen Zahlen bekanntlich drastisch. Die geringen Unterschiede in der Ausgangslage, während des Mischungsvorganges usw. reichen aus, um unberechenbare Zahlenkombinationen zu erzeugen. Entscheidend hierbei ist, daß die Unterschiede zwischen zwei Serien sich nicht proportional zur Veränderung der Ausgangslage ändern.
172
VIII. Das detenninistische Chaos
scheidet die Glücksspiele von chaotischen Vorgängen? Betrachten wir dazu noch einmal das Würfelbeispiel und halten folgende seiner Eigenschaften fest: (a) Die möglichen Fälle sind diskret, d.h. es gibt immer zwei benachbarte Ergebnisse (Augenzahlen), zwischen denen keine weiteren mehr liegen. (b) Die Alternativen pro Wurf sind zahlenmäßig begrenzt, d.h. es können nur sechs Fälle auftreten (bei mehreren Würfeln 6 hoch n, wobei n die Anzahl der Würfel ist). Man kann also z.B. keine 4,23 erzielen. (c) Die Würfe sind voneinander unabhängig, d.h. das Ergebnis eines Wurfes beeinflußt nicht das Ergebnis des nächsten oder eines der folgenden. Da chaotische Vorgänge, anders als Glücksspiele, potentiell unendlich viele Fälle verteilt über ein kontinuierliches Spektrum zulassen, sind (a) und (b) nicht erfilllt. Beim Fehlen von Bedingung (a) behilft man sich in der Statistik damit, daß man Wahrscheinlichkeiten nicht von einzelnen Zuständen, sondern filr Intervalle berechnet. Auch die Unendlichkeit des Zustandsraumes, d.h. die Verletzung von (b), macht häufig ebenfalls keine allzu großen Probleme, weil, wenn die Werteverteilung z.B. irgendeine Form der Normalverteilung bildet, die Wahrscheinlichkeit filr jedes beliebige endlich große Intervall mit wachsender Zahl der Fälle gegen einen festen Wert größer Null und kleiner als Eins konvergiert. Pendelt sich die Wahrscheinlichkeit dafilr, daß der Zustand eines Systems in einem beliebigen endlichen Intervall liegt, filr wachsendes n nicht auf einen Wert größer Null ein, weil der gesamte unendlich große Zustandsraum möglich bleibt, dann hilft die Wahrscheinlichkeitsrechnung hier nicht weiter. In der Praxis ist der Zustandsraum aber nicht unendlich groß, da fast alle Parameter - z.B. die Geschwindigkeit - Beschränkungen durch die physikalische Theorie unterliegen. (Vgl.: Kapitel VI., Abschnitte 4. u. 6.) Daraus folgt, daß viele nichtlineare Vorgänge innerhalb einer bestimmten Untermannigfaltigkeit des Zustandsraumes verbleiben. Die Kraft einer Wahrscheinlichkeitsaussage wächst dadurch aber noch nicht wesentlich, denn innerhalb des möglichen Zustandsraumes kann sich eine Trajektorie völlig unvorhersehbar entwickeln. Im schlimmsten Fall kann nicht mehr gesagt werden, als daß die Wahrscheinlichkeit filr das Auffmden des Systemzustandes in einem Subraum des Zustandsraumes gerade so groß ist wie das Verhältnis der Größe des Subraumes zur Größe des gesamten (physikalisch erlaubten) Zustandsraumes. Und diese Aussage ist trivial, weil sie sich schon aus den vorausgesetzten Gegebenheiten ableiten läßt. Das entspricht genau den Verhältnissen beim Würfeln, wo wir aus den sechs möglichen Fällen des Ereignisraumes und der Tatsache, daß alle
6. Analyse des Chaos
173
gleich häufig auftreten, die Wahrscheinlichkeit rur ein bestimmtes Ergebnis, nämlich 1/6, erschließen können. Eine weitere Eigenschaft, die man Glücksspielen gewöhnlich zuschreibt, ist der Punkt (c) in der obigen Sammlung von Charakteristika: die Unabhängigkeit der aufeinander folgenden Ereignisse voneinander. Beim Würfeln ist das Ergebnis eines Wurfes unabhängig vom Ergebnis des vorangegangenen Wurfes. Bei chaotischen Geschehnissen ist das wesentlich anders. Hier ist das Ergebnis eines "Wurfes" entscheidend - auf der konzeptuellen Ebene sogar zusammen mit der Iterationsformel alleinentscheidend - ftlr das Ergebnis des nächsten. Könnte man dies auf das Würfelbeispiel übertragen, so wäre es möglich, aus jedem Wurf alle folgenden vorherzusagen. Unter solchen Voraussetzungen käme es sehr schnell und zwangsläufig zu einem periodischen Verhalten mit bis zu sechs Phasengliedern. Nehmen wir an, eine Folge (2,4,5,1,6,3) sei entstanden. Je nachdem, welche Zahl zwangsläufig auf 3 folgt, ergibt sich eine unterschiedlich komplexe Periode. Folgt z.B. 2, so haben wir eine sechsstellige Periode: (2,4,5,1,6,3,2,4,5, ...), bei der alle erlaubten Ereignisse vertreten sind. Folgt nach der 3 dagegen wieder eine 3 so werden in Zukunft nur noch 3er auftreten, d.h. die Folge verflUlt endgültig in eine einstellige Periode: (2,4,5,1,6,3,3,3, ... ). Auch bei Glücksspielen ist die Unabhängigkeit der Ereignisse natürlich nicht vollständig, weil man z.B. mit Recht behaupten kann, daß die Würfe eines Würfels in der Weise kausal miteinander verbunden sind, daß die Lage, in der ein Würfel nach einem Wurf zur Ruhe kommt, darüber mitentscheidet, wie ihn der Spieler in die Hand nimmt und das nächste Mal wirft. Ein entscheidender Anteil der Systemeigenschaften wird aber vernichtet. So wird der Würfel durch seine Form immer wieder in eine von sechs möglichen Lagen gezwungen und vorherige Impulsunterschiede verschwinden. Nur Lageeigenschaften haben die Chance sich bis zum nächsten Wurf zu erhalten. Folglich besitzt das Würfeln nicht nur die schon erwähnten divergenten Aspekte, sondern auch entscheidende konvergente. Jede potentielle Regelmäßigkeit in der Aufeinanderfolge der Würfe wird letztlich durch das Zusammenwirken der divergenten und konvergenten Anteile vollständig zerstört. Das Würfeln unterscheidet sich wie andere Glücksspiele von chaotischen Phänomenen also in zwei wesentlichen Punkten: Erstens besitzen chaosfllhige Systeme unendlich viele mögliche Zustände und zweitens fehlen konvergente Phasen, die daftlr sorgen könnten, daß ein System seine Vergangenheit vergfPt. Fehlte die erste Voraussetzung, müßte ein deterministisches System spätestens dann, wenn es alle möglichen Zustände durchlaufen hat, in seine eigene Ent-
174
VIII. Das detenninistische Chaos
wicklungslinie einmünden, wie das Beispiel aus dem vorletzten Absatz zeigt. Die letztere Voraussetzung, die Abwesenheit konvergenter Phasen, schränkt die chaotischen Vorgänge auf Bereiche ein, wo Systeme entweder wie in der Himmelsmechanik relativ abgeschlossen sind, oder wo sie wie die Wetter- und Lebensvorgänge auf der Erde durch ständigen Nachschub von Energie fern vorn thermodynamischen Gleichgewicht gehalten werden. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Lage nun für die Aufstellung von Wahrscheinlichkeitshypothesen? Um uns hierüber klar zu werden, stellen wir uns wie oben wieder vor, daß vorherige Würfe nachfolgende eindeutig bestimmen, und verwandeln zudem den diskreten Ereignisraum eines Würfels in einen, der von reellen Zahlen gebildet wird, wobei 0 < x~ 6. Den Zustandsraum wollen wir in sechs Intervalle A:
O