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German Pages [400] Year 2015
FORSCHUNGEN UND QUELLEN Z U R K I R C H E N - U N D K U LT U R G E S C H I C H T E OSTDEUTSCHLANDS IM AUFTRAGE DES INSTITUTES FÜR OSTDEUTSCHE KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON PAUL MAI Band 48
KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG UND JOSEPHINISMUS Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa
Herausgegeben von
Rainer Bendel und Norbert Spannenberger
2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie vom Erzbistum Bamberg Die kirchliche Druckerlaubnis wird für die Veröffentlichung erteilt. Köln, den 16. April 2015 Jr. Nr. 106 250 I 90 Dr. Dominik Meiering, Generalvikar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Titelseite Ignaz Franz: Kurze Predigten von der christlichen Lehre. Breslau 1783, Aufnahme: Sophia und Elisabeth Bendel.
© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzuässig. Redaktionelle Mitarbeit: Robert Pech Druckvorlage: Martin Wambsganß Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22270-3
INHALT
Geleitwort ..................................................................................................................... 7 Zur Einführung.............................................................................................................. 9 Norbert Jung: Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung .................................. 23
I. REGIONALE PERSPEKTIVEN Ondřej Bastl, Robert Pech, Philip Steiner: Der Josephinismus in Böhmen. Skizzen einer Intention und Rezeption ....................................................................... 53 Dániel Bárth: Katholische Aufklärung und Volksfrömmigkeit im Ungarn des 18. Jahrhunderts .................................................................................................... 79 András Hegedűs: Priesterbildung in Ungarn unter der Regierungszeit von Joseph II. mit besonderer Berücksichtigung des Generalseminars in Pressburg ...... 103 György Janka: Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche im Königreich Ungarn ................................................................................... 117 Zoltán Gőzsy: Doceant gregem suum per praedicationem, seu per conciones sacras, sive catecheses, aliosque instructionis modos. Die Phasen der katholischen Aufklärung in Südtransdanubien ................................................... 135 Edith Szegedi: „Jeder wohnt, insofern es seine Mittel gestatten, wo es ihm zusagt“. Überlegungen zur Rolle der josephinischen Reformen in der Geburt der modernen Stadt in Siebenbürgen ........................................................................ 149 Horst Miekisch: Die Rezeption des Josephinismus in den fränkischen Fürstbistümern Bamberg und Würzburg ................................................................... 157
II. JOSEPHINISMUS UND GLAUBENSPRAXIS Peter Šoltés: Eingriffe des Josephinismus in religiöse Festivitäten der katholischen Kirche ............................................................................................ 167 Lydia Bendel-Maidl: Reflexionen über das Gebet in theologischen Lehrbüchern der Aufklärung .......................................................................................................... 185 Rainer Bendel: Aufklärung und Ökumene................................................................ 199
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Inhalt
III. EXEMPLARISCHE BIOGRAFISCHE PERSPEKTIVEN Norbert Jung: „… ist es dem Professor allzeit erlaubt, die Übereinstimmung der geoffenbarten Religion mit der Vernunft zu zeigen.“ Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl .............................. 215 Norbert Spannenberger: „Für Oestreichs Ruhm zu wirken bemüht“. Johann Ladislaus Pyrker OCist als Grenzgänger zwischen Zeiten, Kulturen und Systemen ............................................................................................................ 249 Werner Simon: Benedikt Strauch (1724-1803) – Reform der Schule und Reform der Katechese in Schlesien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts....... 267 Horst-Alfons Meißner: Die Schulvisitation des königlich-preussischen Decanus und Prager erzbischöflichen Vikars Carl Winter im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz. Ein Beitrag zur preußischen Volksbildungsoffensive nach den schlesischen Kriegen ................................................................................................. 297 Philip Steiner: Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer (1753-1835): Ein juristisches Sprachrohr der josephinischen Kirchenpolitik ........................................................................................................... 329 Franz Leander Fillafer: Sechs Josephiner ................................................................ 349 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter .............................................................................. 390 Personenregister ........................................................................................................ 391
GELEITWORT
Angesichts zahlreicher Forschungsfortschritte auf dem Gebiet des Josephinismus in den letzten Jahren stellte sich für unser Institut für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte die Frage: Ist die traditionelle Polemik in katholischen Kirchen- und Historikerkreisen gegenüber Joseph II. gerechtfertigt? Noch grundsätzlicher gefragt: Stehen Aufklärung und Kirche zwangsläufig in einem Gegensatz? Mit dem Schlagwort „Josephinismus“ verbindet sich bis heute die Erinnerung der Aufhebung der in Josephs II. Augen „unnützen Klöster“ – so sie nicht der Krankenpflege oder Bildung dienten –, des Verbots von Prozessionen, Wallfahrten und der Bruderschaften usw. Doch das ist nur ein Aspekt in einem sehr komplexen Prozess. Die Antwort sollte auf einer unserer Arbeitstagungen gefunden werden, die seit 1963 jährlich veranstaltet werden. Die in der Folge 48. Arbeitstagung unseres Instituts vereinte rund ein Dutzend Referentinnen und Referenten aus Deutschland und dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie zum Thema „Katholische Aufklärung und Josephinismus“ im Augustiner-Chorherrenstift St. Florian vom 1. bis 4. August 2011. Der grenzüberschreitende Forschungsaustausch zwischen Fachwissenschaftlern der Aufklärungs- und Josephinismusforschung der Nachbarländer Deutschland, Österreich, Tschechien, Slowakei, Rumänien und Ungarn konnte im interdisziplinären Gespräch eine Vernetzung neuer Forschungsergebnisse gerade auch aus den differenzierenden Ansätzen lokaler Perspektiven erbringen. In Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage ergab sich als Resümee: Kirche und Aufklärung stehen nicht in einem zwangsläufigen Gegensatz. Joseph II. hatte mit seinen Maßnahmen dem Verhältnis Glaube und Vernunft staats- und kirchenpolitisch auch bedenkens- und beachtenswerte Wege bereitet. Die auf Initiative des Kaisers intensivierte Bildung des Klerus, die Errichtung neuer Pfarreien und neuer Bistümer, die Einführung eines verbesserten Schulsystems beförderten das kirchliche und religiöse Leben. In diesem Zusammenhang sei daran erinnerte, dass der hier behandelte Raum teilweise auch schon Gegenstand einer früheren Arbeitstagung „Aufbrüche und Umbrüche in Kirche und Gesellschaft Ostmittel- und Südosteuropas 1918-1939“ in Wiesbaden-Naurod 2003 war, deren Ergebnisse sich im Band 37 der „Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands“ (erschienen 2007) niederschlugen. Ich danke Prof. Dr. Rainer Bendel (Tübingen), der zusammen mit PD Dr. Norbert Spannenberger (Leipzig) die Moderation der genannten Arbeitstage 2011 in St. Florian übernommen hatte und der nun die Hauptlast der Redaktion dieses Tagungsbandes schulterte. Dank gebührt Herrn Robert Pech für die redaktionelle Mitarbeit und Herrn Martin Wambsganß für die Erstellung der Druckvorlage. Die redaktionelle Bearbeitung wurde dankenswerterweise finanziell unterstützt durch die Stiftung der
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Paul Mai
Ackermann-Gemeinde Stuttgart e.V. Zu danken ist auch allen Referentinnen und Referenten, die ihr Manuskript rechtzeitig druckfertig zur Verfügung stellten. Sehr verbunden bin ich der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Bundesverwaltungsamt für die Bereitstellung der Mittel für die Tagung und des Druckkostenzuschusses für diesen Band. Nicht zuletzt danke ich dem Böhlau-Verlag für die stets ersprießliche Zusammenarbeit und die sorgfältige Drucklegung dieses Bandes.
Msgr. Dr. Paul Mai 1. Vorsitzender des Instituts für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e.V.
ZUR EINFÜHRUNG
Die uneinheitliche Verwendung des Begriffs Josephinismus zeigt bereits die Schwierigkeiten, die Transformationsprozesse zwischen 1740 und etwa 1820 auf einen Nenner zu bringen. Das allein rechtfertigte die eingehende Beschäftigung mit diesen für Politik, Verwaltung, Kirche, Gesellschaft, Kultur, Ökonomie etc. bedeutenden Entwicklungen mit regionaler Vertiefung und in ausgewählten Vergleichen. Warum soll uns gerade heute die Aufklärung im kirchlichen Bereich dieser Räume beschäftigen? Es genügt, an dieser Stelle auf die traditionelle Polemik in Kirchenkreisen, vor allem in der katholischen Kirche, gegenüber der Aufklärung zu verweisen. Es ist ein schwieriges Verhältnis zwischen Kirche und Aufklärung, Kirche und Josephinismus.1 Das wurde bereits von den Zeitgenossen in einem breiten Umfang so gesehen und durchzog dann auch die großen Stränge der Geschichtsschreibung. Es ist nachvollziehbar, dass Zeiten der Öffnung, der Umbrüche in der Kirche versuchten, ein sachlicheres, differenzierteres Bild von der Aufklärung zu bekommen. Es genügt, exemplarisch an Sebastian Merkle, den Würzburger Kirchenhistoriker im Kontext des Reformkatholizismus, zu erinnern, oder an eine neue unbefangenere Sicht katholischer Historiographie auf die Aufklärung im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils.2 Aufklärung in ihrem – jedenfalls späten – Selbstverständnis legte deutliche Schwerpunkte auf das Individuum, das sich seines Verstandes betätigen soll, das es wagen soll, die Vernunft zu gebrauchen und weise zu werden, und hat einen Schwerpunkt in ihrer Wertschätzung der Ratio – mit all den spannungsreichen Konsequenzen im Bereich des Glaubens. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Verhältnis von Religion und Aufklärung bei vielen auf der Seite der Religion wie auf der Seite der Wissenschaft als ein unmögliches gesehen wird. Aufklärung zerstöre den Kern der Religion. Religion verfinstere und stehe per se der Aufklärung im Wege. Wir wissen um die Aktualität solcher Positionen, nicht nur im Islam, sondern wir kennen diese Argumente und Argumentationsgänge durchaus auch in der Catholica. Der Josephinismus mit seinen regionalen Nuancierungen und der umstrittenen Bewertung in der Kirchengeschichtsschreibung fokussiert eine ganze Reihe von Prob1 2
Dazu beispielsweise Joachim KÖHLER, Kirchliche Reformen im Zeichen des Josephinismus und ihre Auswirkungen. In: Der Sülchgau 51 (2007), S. 110-125. Hier möge der Verweis auf Rainer BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 1-27, genügen.
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Rainer Bendel / Norbert Spannenberger
lemen der Geschichtsschreibung der ehemals gemischt-ethnisch besiedelten Territorien Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropas. Gerade bei solchen Themen ist es notwendig, mit den Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu kooperieren, sich über die Forschungsvorhaben auszutauschen und Forschungsschwerpunkte zu koordinieren, in regionalen Vergleichen Spezifika und Gemeinsames herauszuarbeiten, die Erklärungskraft von Theorien zu überprüfen oder die Notwendigkeit, diese zu modifizieren, schließlich auf europäischer Ebene die Vergleichsmöglichkeiten West – Ost zu sondieren. Die grundlegende Aufgabe aber, die zuallererst geleistet werden muss, ist die Reflexion des Selbstverständnisses als Historiker und Kirchenhistoriker, da hier wegen differierender Kirchenbilder und angesichts der raschen und intensiven Transformationsprozesse der Gesellschaften, die in disparaten Etappen stattgefunden haben, die Standorte unterschiedlich sind; das wirkt sich auf das Fragespektrum und die Methodenwahl aus. Im Kontext dieser schwierigen Verhältnisbestimmung von Aufklärung und Kirche steht die Frage, ob es so etwas wie eine katholische Aufklärung gibt; oder handelt es sich in der katholischen Kirche um eine oktroyierte Aufklärung. Oktroyiert von einem Herrscher, von einem Staat, der seine Aufgaben neu definierte, intensivierte und auf möglichst breite Volksschichten hin ausdehnen wollte. Inwieweit stellte sich die Kirche in den Dienst einer intensivierten Verwaltung, Erziehung und Sozialdisziplinierung? Stellte sie sich in den Dienst von auf Seiten des Herrschers erwünschten Integrationsvorgängen, in den Dienst des Landesausbaus, der Sicherung von Territorien – ja, auch in den Dienst, ethnische Identität zu schaffen, indem eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Sprache als vorrangige Trägerin aufklärerischen Geistes angesehen wurde? Religionsgeschichtlich gesehen steht die Frage im Vordergrund, wie die Aufklärung sich selber in dieser Phase nach der intensiven Konfessionalisierung verortete – und, im Rückblick gesehen, wie sie einzuordnen ist zwischen Konfessionalisierung und Neokonfessionalisierung im 19. Jahrhundert. Ist sie mit ihrem Aufruf zur Toleranz, zu gemeinsamen Anstrengungen der Vernunft, ein Riegel oder eine Gelenkstelle zwischen Früher Neuzeit und Moderne? War die „Fackel der Aufklärung“, wie sie oft bezeichnet wurde, weiters eine Leuchte auch im religiösen Leben? Ein Licht, das wärmte und den Weg wies, wie etwa Johann Georg Jacobi, der Freiburger Universitätsprofessor und Dichter, in seiner „Trauerrede für Joseph den Zweyten“ formulierte: „Es sind nicht glorreiche Siege, nicht erweiterte Grenzen, nicht blühender Handel und Überfluß, die eine Nation wahrhaft beglücken und emporheben. Der Geist ist es, welcher die Nation beseelt; ein Geist der Liebe, der Eintracht, der Mäßigung, auf große Dinge geheftet wirksam und selbständig. Können wir den Himmel herabbitten, so warten goldne Zeiten auf uns.“3 Wurde sie als das Licht der Vernunft empfunden, das uns bereits aus der Heiligen Schrift entgegenleuchtet, wie Benedikt Strauch einmal die Parallelität, die Kongruenz 3
Karl-Heinz BRAUN, „Wo die Fackel der Aufklärung leuchtet!“ Zu Freiburger Traditionen. In: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2010, S. 13-30.
Zur Einführung
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der Intentionen von Aufklärung und biblischer Botschaft in einer Weihnachtspredigt unterstrichen hat? Um die Anliegen der katholischen Aufklärung, konkret der Aufklärung in der Seelsorge zu wiederholen, zusammenzutragen, zu exemplifizieren und zu illustrieren, werden im Folgenden drei zeitgenössische Predigten aus Schlesien einander gegenübergestellt, die gleichzeitig auch ganz unterschiedliche Positionen von der Unterstützung der Aufklärung bis zur deutlichen Skepsis oder gar Gegnerschaft gegenüber der Aufklärung im katholischen Lager bezeichnen. Am Sonntag Laetare 1765 predigte Benedikt Strauch, Prior von Sagan und enger Mitarbeiter einer der führenden Gestalten der frühen katholischen Aufklärung in Schlesien, Johann Ignaz von Felbigers, zu Jes 66,10: „Freuet Euch mit Jerusalem und frohlocket in ihr, alle die Ihr sie lieb habet.“ Anlass war eine Jubiläumsfeier für die 800jährige schlesische Kirche. Jerusalem ist für Strauch das Bild für die Kirche, für die schlesische Partikularkirche. Sie soll sich freuen, sie soll Gott, „dem Vater der Lichter, mit freudigem und frohlockendem Herzen [zu] danken, dass er heute vor 800 Jahren das Licht des Evangelii unserem Vaterlande aufgehen und das Christentum einführen“ ließ. Damit wurde der Götzendienst, der die Leute töricht und unglücklich macht, abgeschafft und die christliche Religion, die die Menschen weise und glücklich macht, eingeführt. Das ist die Ausgangsthese für den klassischen zweiteiligen Predigtaufbau der Zeit. In einem ersten Schritt besinnt sich Strauch auf den Aufklärungsimpuls, der im Christentum liegt: die Heiden sind unwissend in den göttlichen Dingen. Anstatt den allmächtigen Schöpfer anzubeten, machten sie etwa die Gestirne zu Götzen. Hier leistet die Bibel schon in ihrem ersten Buch Aufklärungsarbeit. „Welche unnatürlichen und unmenschlichen Torheiten“, kann er sich ereifern. Damit spielt er selbstredend auf Hauptziele der Aufklärer an, die Natürlichkeit und die Menschlichkeit; zeitgenössische Vorwürfe an das Christentum werden auf den Götzendienst abgebogen. Die Heiden waren in den göttlichen Dingen unwissend und damit auch in den menschlichen: „Da die Heiden weder von dem Ursprunge, weder von der Bestimmung noch von dem künftigen Schicksal der Menschen nach diesem Leben etwas Gewisses wussten, so fehlte es ihnen auch an der so nötigen Erkenntnis dessen, was sie sich, was sie ihren Nebenmenschen schuldig sind.“ Erkenntnis und Pflicht liegen nahe beieinander. Und gemäß dem dreiteiligen Liebesgebot Jesu sind auch die Pflichten des Menschen einzuteilen in die gegen Gott, gegen den Nebenmenschen und gegen sich selbst. Alle Menschen sind vom selben Schöpfer erschaffen, vom selben Erlöser erlöst. „Sie sind sicher ihrer Herkunft bewusst, sie sehen ein, dass sie hier auf Erden nicht für die lange Weile sind, sondern sie wissen, dass sie den Schöpfer zu ehren, ihn zu lieben und dadurch ewig glückselig zu werden bestimmt sind.“ Die Menschen wissen, dass sie alle Brüder sind, entsprechend ist ihr Verhalten zum Mitmenschen bestimmt. Die Respektierung der Schöpfungs- und Erlösungsordnung bringt auch insofern zeitliche Glückseligkeit, als sie, im Gegensatz zum Heidentum, für den einzelnen Menschen Zufriedenheit des Herzens und Ruhe der Seele bringt. Das Christentum liefert einen aufklärenden Beitrag zum Welt- und Menschenbild, bietet einen Verhaltenskodex, mit dem sich Menschlichkeit verwirklichen lässt, und bietet seine Dienste zur Stabilisierung der öffentlichen Ruhe und des wirtschaftlich-beruflichen Prosperierens: „Ich sage mit kurzen Worten, die christliche Religion machet nicht nur dem äußerlichen Scheine nach, sondern aus innerlicher Überzeugung gnädige und gerechte Obrigkeiten, gehorsame Untertanen, billige Herrschaf-
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Rainer Bendel / Norbert Spannenberger ten, treue Dienstboten, züchtige Eheleute, weise Eltern, fromme Kinder, standhafte Freunde, ehrliche Handelsleute, arbeitsame Handwerker.“ Dominikus Michael Gulitz: Im Revolutionsjahr 1789 predigte Dominikus Michael Gulitz – zeitweise Prediger an der Universitätskirche in Breslau – am Sonntag nach Pfingsten über die wahre und falsche Aufklärung. Aufhänger ist Mt 7,15: „Hütet euch vor den falschen Propheten. Sie kommen in Schafskleidern zu euch, in ihrem Inneren aber sind sie reißende Wölfe.“ Diese reißenden Wölfe sind in Gulitz’ Diktion Menschen, welche, „um ihren falschen Grundsätzen Eingang in die Herzen ihrer schwächeren Brüder zu verschaffen, ihre verderbliche Absicht unter den scheinheiligsten Masken verbergen, bald mit Wahrheitsliebe prahlen, bald wieder an der besseren Aufklärung der Welt zu arbeiten vorgeben; welche aber in der Tat nichts anderes suchen, als das Gebäude der wohltätigen Religion Jesu und jeden anderen Grundpfeiler der allgemeinen Glückseligkeit darniederzustürzen […]“. Den Hauptstoß seines Angriffs richtet Gulitz gegen die „radikale Variante“ der deutschen Aufklärung, gegen die Volksaufklärung. Man kann nicht alle Klassen des Volkes ohne Rücksicht auf ihre verschiedenen Verhältnisse und u.a. auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der einzelnen Menschen zum gleichen Grad der Erleuchtung des Verstandes erheben. „Daher kommt der ununterbrochene Zuruf, den wir um uns hören müssen: wachset an Einsichten, werdet weiser, fliehet die Dummheit, entreißt euch der Unwissenheit; sie ist es allein, welche euren Geist brandmarkt und eure natürliche Würde schändet […] Daher kommt jene leider unter uns sich immer mehr verbreitende Erziehungsart der Kinder, die es sich zum Grundsatz macht, aus diesen Kleinen in ihrem frühesten Alter schon ernste Gelehrte zu bilden, sie gleichsam in einer Flut von Unterweisungen in jeder Gattung der Wissenschaften zu ersticken.“ Aus diesem Anspruch der unterschiedslosen Aufklärung aller Menschen erwachsen im Hinblick auf Religion und Christentum eine Menge Zweifler und Verächter der Religion und „[…] jene bemitleidenswürdige(n) modischen Verbesserer unserer Kirche, die sich jetzt so häufig in allen Ständen finden, über Missbräuche, Albernheiten ein lautes Geschrei erheben“. Mit der unterschiedslosen Aufklärung aller Menschen ziehe man sich lediglich eine Menge „Wißlinge“ heran, die alle Gesellschaften mit Lärm und Geschwätz betäuben, die sich überall als Männer der ersten Garnitur zeigen wollen, dabei aber nur ihre Unwissenheit vermieden; sie verwässern Bildung und Wissenschaft. Alle wollen sie teilnehmen an den gelehrten Akademien und vernachlässigen darüber ihre Standespflichten: „Hier sitzt nun das Mädchen, welches sich durch Erlernung der nötigen häuslichen Arbeiten zur Gattin und Mutter bilden sollte, mit dem Buch in der Hand in der Ecke des Zimmers tiefdenkend über Dinge, welche, wenn sie ihr nicht schaden, ihr doch wenig durch den Lauf des Lebens nützen werden.“ Durch die Volksaufklärung wird die „allgemeine Wohlfahrt“ in Gefahr gebracht. Der Bauer beginnt dann den scheinbaren Abstand zwischen seiner Armseligkeit und der Glückseligkeit des Städters zu erkennen, der Städter neidet dem Adel die Muße etc. Zusammengefasst heißt das: Volksaufklärung bringt nur Unruhe in die Gesellschaft, führt zu Sittenverfall und zum Umsturz des Glaubens. Damit sind in Gulitz Augen weltliches Wohl und ewiges Heil gefährdet. Der wahre Aufklärer hingegen „[…] sucht nur einem jeden gerne und nur so viele Kenntnisse beizubringen, als dieser für seinen Stand, für seine Verhältnisse notwendig hat. Ein wahrer Aufklärer bemüht sich, Religion und Tugend aufrechtzuerhalten und zu befördern, nicht umzustürzen und auszurotten. Ein wahrer Aufklärer
Zur Einführung schaut die Schwachheit seiner Brüder und benimmt ihnen nur dann ihre Vorurteile und Irrtümer, wenn er nicht fürchten darf, ihnen dadurch mehr zu schaden und ihre Seelenruhe zu stören.“ Predigten über „wahre und falsche Aufklärung“ lassen sich für die 1780er und 90er Jahre genügend finden. Sie kommen fast durchweg aus dem Lager der Aufklärungsgegner, sind schematisierend polemisch, wenn sie auch die Notwendigkeit von Reformen im religiösen Leben konzedieren. Allerdings entspringt ihr Motiv in der Regel jansenistischem Ernst und ebensolcher Strenge, nicht aufklärerischem Optimismus über die Fähigkeiten und Kräfte der Natur und des Menschen. Joseph Prillmayr: Bereits in den Eingangssätzen von Prillmayrs Weihnachtspredigt von 1790 ist ein ganz anderer Ton vernehmbar: Der Exjesuit Prillmayr predigte in Großglogau über Joh 1,9: „Die Jahrbücher der Welt führen die stärksten Beweise, dass die erkanntlichen Völker von jeher mit dankbarer Liebe denen huldigten, welche durch wichtige Entdeckungen oder Verbreitung nützlicher Kenntnisse zu ihrer Aufklärung etwas beigetragen haben […].“ Wie Strauch rekurriert auch Prillmayr inhaltlich und bildlich auf den biblischen Aufklärungsimpetus: Jesus ist das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet. Wie sieht nun diese Aufklärung aus? Sie beginnt mit einem ökumenischen, allerdings auch vereinnahmenden Appell an die „Freunde der Wahrheit“. Wenn auch die Religionsbekenntnisse verschieden seien, gebe es doch für alle nur ein Licht, das zur Glückseligkeit führen könne, nämlich Jesus. „Aufklärung ist also nach dem allgemeinsten Begriffe Anweisung oder Erleuchtung zur Glückseligkeit der Menschen. Gott will das Glück aller Menschen […] Wir müssen also die wahre Aufklärung in seiner göttlichen Offenbarung suchen, die er für die Zeiten und Umstände stets anpassend erteilte. Diese Erleuchtung zur Glückseligkeit muss auch nicht ein seltenes Los sein, das nur einige trifft, sondern ein vollkommenes Gut, an dem jeder nach der Freiheit seines Willens teilnehmen kann.“ Im Folgenden gibt Prillmayr drei Aufgaben dieses Lichtes an: Es müsse die reinste Gotteserkenntnis ermöglichen, müsse jede Dunkelheit vertreiben, die sich über die Ausübung unserer Hauptpflichten verbreiten könnte und müsse schließlich in allen widrigen Schicksalen dieses Lebens eine Trostquelle bieten. Impliziert ist auch hier die Dreiteilung des Liebesgebotes. Konkretisiert klingt das dann so: „Er [der wahre durch Jesus aufgeklärte Christ] ist nun nicht mehr über die Erfüllung der mannigfaltigen Pflichten gegen Gott, sich selbst und seinen Nebenmenschen verlegen. Er beherrscht seine Leidenschaften, so schwer es ihm auch fallen mag. Er erfüllt seine Berufspflichten mit der pünktlichsten Genauigkeit, weil er weiß, dass sein allwissender Vater jede derselben bemerkt. Er benutzt seine Talente sehr weise […] nach der Verschiedenheit derselben wird er mehr oder weniger ein tätiger und brauchbarer Mann im Staate […] Nicht nur jeder aus seiner Familie und jeder aus seinem Staate, sondern auch jeder Fremde wird von ihm als Bruder geliebt […].“ Aufklärung wird bejaht, solange sie sich nicht gegen Gott und die Offenbarung wendet, solange sie nicht gen Deismus driftet oder in Stolz und Ruhmsucht in eine negative Form der Aufklärung umschlägt. Strauch, Gulitz und Prillmayr, das sind beispielhaft drei sehr verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, die nicht in einem abgeschlossenen Gelehrtenstübchen zustandekommen oder in einer Zeitschrift oder in der Pamphletliteratur, wo sie wieder nur auf einen eingeschränkten Kreis treffen, sondern an einer wichtigen Scharnierstelle zwischen der akademisch gebildeten Schicht, den gebore-
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Rainer Bendel / Norbert Spannenberger nen Trägern der Aufklärung, und dem „gemeinen Volk“. – Man möchte von Aufklärung(en) in der Seelsorge und durch die Seelsorge sprechen.
War es also wirklich nur so, dass die Aufklärung in ihrem Bemühen, den massiven traditionellen Überhang in der Kirche zu beschneiden, wie Georg Schwaiger unterstrich, nur ein kaltes System an Religion verbreiten wollte, dass sie den Menschen die Lebensfreude und die Buntheit des Barocks missgönnte? Wir können freilich im Laufe dieser regionalen Spezifizierungen und Vergleiche nicht so übergreifend und pauschal bleiben. Wir müssen die unterschiedlichen Auswirkungen in den verschiedenen Regionen herausarbeiten und nach Möglichkeit miteinander vergleichen. Ein zentraler Zielfaktor ist die unterschiedliche Prägnanz, die die Ideen der Aufklärung durch die unterschiedlichen Gestalten, die sie propagiert haben, bekommen haben, durch die unterschiedlichen Wirkungen, die sie in den verschiedenen Regionen aufgrund des differenten politischen Klimas entfalten konnten: in Ostmittel- und Südosteuropa, wo die politische Ordnung durch große Reiche gestaltet war, das Osmanische Reich, Russland, die Habsburger Monarchie, begegnen sich nicht nur unterschiedliche Konfessionen, sondern auch unterschiedliche Religionen, die die Kultur prägten. Es gab hier im Vergleich zum Westen Europas relativ wenige Metropolen. Das dörflich geprägte Leben dominierte. Wie bot sich in einem derartigen Kontext die Möglichkeit von Gestaltung durch die Aufklärung an? Wo sah man in diesem Kontext die Schwerpunkte der Aufgaben der Seelsorge? Diese Frage muss weiter zugeschärft werden durch die binnenkirchliche Konkurrenzsituation zwischen den Orden und der ordentlichen, pfarrlich strukturierten Seelsorge. Aus diesem Kontext der Konkurrenz und weniger der Aufklärung ist auch manch eine Polemik gegen die Klöster und gegen die Orden zu erklären. Welche Schwerpunkte setzte die Seelsorge, wenn sie sich, zumindest teilweise, aus dem konfessionalisierenden Druck lösen konnte, wenn nicht länger das Unterstreichen der konfessionellen Unterschiede im Vordergrund stand – in der Predigt, in der Sakramentenspendung, in Betonung der Frömmigkeitsformen, die als konfessionstypisch angesehen wurden? Natürlich bezieht sich diese Frage dann nicht nur auf die Seelsorge, sondern deutlich auch auf die Ausbildung des Seelsorgers – auf den ganzen Bereich der Studienreform, auf das Bild des Klerus, das in diesem Kontext in den Vordergrund trat, und auch auf die Frage nach der Erziehung, nach den Erziehungszielen überhaupt – also auf den ganzen Kontext der Schulreform, der in unserem Raum bekanntlich deutlich geprägt wurde durch den Augustinerchorherren aus Sagan Johann Ignaz von Felbiger. Wir müssen dann nach den unterschiedlichen Reaktionen in den Gemeinden fragen. Wo fand wann und warum das veränderte, das von der Aufklärung geformte Ideal des Seelsorgers, wo fanden die neuen Intentionen und Aufgaben der Seelsorge Anklang bzw. wo kam Widerstand auf? Das Verhältnis von Staat und Kirche wurde in den Transformationsprozessen im Gefolge der Aufklärung und des Josephinismus neu bestimmt, ebenso das Verhältnis der unterschiedlichen Konfessionen zueinander.
Zur Einführung
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Der Staat rückte näher an die Menschen heran; das kann als Sozialdisziplinierung gedeutet werden, aber auch als Beitrag zur Verbesserung der sozialen und individuellen Sicherheit, zum Ausbau der Sozialfürsorge, des kulturellen Standes, der Bildung und nicht zuletzt der ökonomischen Grundlagen. Die gedanklichen Errungenschaften der Aufklärung sollten angewandt und ökonomisch nutzbar gemacht werden. Das wirkte sich gerade in multiethnischen Territorien auf das Bewusstsein der unterschiedlichen Gruppen aus; man wurde sich seiner ethnischen Identität neu und intensiver bewusst. Man konnte sie auch dank verbesserter Bildung effizienter ausdrücken und kommunizieren. Das barg trotz allen propagierten Toleranzdenkens viele Keime für Konflikte, die dann bei zahlreichen Völkern des Habsburgerreiches in der Parole der Germanisierung gipfelten. Die Maßnahmen der Pragmatisierung der Aufklärung griffen in den Alltag ein, auch in den Alltag des religiösen Lebens, etwa wenn Bruderschaften aufgelöst wurden und damit die Laien einen anderen Stand in der Kirche bekamen – letztlich führte dieses Vorgehen neben vielen anderen zu einer Klerikalisierung –, wenn Feiertage reduziert, Prozessionen, Wallfahrten, Reliquienverehrung eingeschränkt wurden. Man versuchte die Reduktion auf Wesentliches der christlichen Botschaft, das nicht zuletzt in der tätigen Nächstenliebe verortet wurde; so wurde in das theologische, katechetische, liturgische und volksreligiöse Leben eingegriffen und wurden Mentalitäten geprägt. Wie reagierten die Bewohner in den unterschiedlichen Regionen auf diese Vorgänge einer „aufgefangenen Revolution“? Aus pastoralen und verwaltungstechnischen Gründen wurde das Pfarrnetz verdichtet. Das teils weitmaschige Seelsorgenetz wurde ausgebaut; der Seelsorger wurde zum Volkserzieher, auch zum Verwaltungsbeamten. Der intendierte Prozess führte von den ständisch strukturierten Ländern zum Gesamtstaat mit zentralistischer Verwaltung, in dem die Kirche eine dienende Position einnahm. Oder sind demgegenüber all diese Maßnahmen als ein zentraler Impuls für überfällige kirchliche Reformen zu sehen? Die Entwicklung wurde von kirchlichen Amtsträgern unterschiedlich beurteilt und wird in der kirchlichen Historiographie bis heute kontrovers bewertet. Anders gefragt: Waren die Reformen überstürzt oder überfällig? Wie sind sie in ihren Folgen einzuschätzen für die Kirche, für das religiöse und kulturelle Leben? Wie wirkten sie in den verschiedenen Regionen? Letztlich handelt es sich bei den eben skizzierten Themen und Entwicklungen auch um eine Frage des Landesausbaus, der Sicherung und Ökonomisierung von Territorien, damit um eine Weiterführung und Konkretisierung bisheriger Fragestellungen. Ein Fokus der hier versammelten Beiträge zu diesem Komplex aber liegt – nicht zuletzt dem 200-Jahr-Jubiläum der Zusammenlegung der Breslauer Universität mit der von Frankfurt/Oder 1811 geschuldet – auf der Elite, die zu Multiplikatoren der Neuerungen werden sollten, auf der Geistlichkeit und ihrer Aus- und Fortbildung.
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Zur Einführung soll kein Fazit des bisherigen Diskussionsstandes in der Historiographie zum Thema Aufklärung oder der Frage nach der Möglichkeit „Katholischer Aufklärung“, nach deren Rahmenbedingungen und Auswirkungen – und dann spezifiziert nach dem Josephinismus – vorgelegt werden. Es sei hier nur verwiesen auf den ersten Beitrag von Norbert JUNG in diesem Band, in dem er sich zunächst mit der Begrifflichkeit „Aufklärung“ bzw. „Katholische Aufklärung“ diachron auseinandersetzt. Sogleich gibt der Autor einen Überblick über die aktuelle Begriffsdiskussion in der Kirchenhistoriographie. Mit einer Klassifizierung der Theologen „nach ihrer relativen Nähe zur offiziellen zeitgenössischen Interpretation und Glaubenslehre“ gibt Jung einen Denkanstoß, die „Protagonisten der Epoche“ als Schlüssel zum Verständnis der von ihnen geprägten „Bewegung“ zu verstehen. Die Verhältnisbestimmung von Aufklärung und kirchlich verfasster Religiosität in ihrem konfessionellen Zuschnitt der Catholica entscheidet über den gesellschaftlichen Ort der Kirche, über die Positionierung in der Gesellschaft und bestimmt und prägt auch die Art des Mitwirkens in dieser Gesellschaft. Diese Verhältnisbestimmung hat nicht zuletzt deutliche Auswirkungen im Hinblick auf die Möglichkeiten und die Gestaltung des Dialoges zwischen den Konfessionen und letztlich auch den Religionen. Schließlich, ohne damit irgendwie den Eindruck einer Vollständigkeit erwecken zu wollen, sei der Hinweis auf ein Phänomen angefügt, das in Zeiten von Umbrüchen noch stärkere Bedeutung zu bekommen scheint als in ruhigeren Phasen: Die Auseinandersetzung mit aufklärerischem Gedankengut im religiösen Bereich bzw. auch deren Rezeption ist nicht zuletzt eine Generationenfrage, auch eine Frage des Generationenkonfliktes. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen einer periodisierenden Typisierung der Aufklärung. Die Periode der Aufklärung ist keine einheitliche, so dass man ihr auch keinen festen zeitlichen Rahmen aufzwängen kann. Haben sich auf der einen Seite barocke Elemente über die Aufklärung hinweg bis in die Restauration hinein gerettet, so lassen sich andererseits deutlich aufklärerische Impulse bereits in der Barockzeit nachweisen. Etwa in Opposition zu den Jesuiten wirkten die Orden der Piaristen und Theatiner in der Regel aufklärerisch. Adlige und bürgerliche Kreise errichteten Akademien zur Verbreiterung der Bildung. Der Gedanke der Toleranz – man denke an Lessings Nathan der Weise – konnte gerade in gemischt konfessionellen Gebieten zunehmend Raum gewinnen. Polarisierungen entzündeten sich in der Regel nicht mehr an der Konfession, sondern an der Modernisierung. Nicolao Merker, einer der führenden Aufklärungsforscher, nennt als ein Kriterium, um die Intensität der Aufklärungsbewegung zu ermessen, den Grad, in dem die Verwirklichung des eigenen Programms glückte oder nicht.4 Dieses Programm lässt sich in Kurzform pauschal als die Aversion gegen ein geschlossenes, metaphysisches System denken und in der Frage nach der Nützlichkeit des Denkens für die Erlangung, Sicherung und Mehrung menschlicher Glückseligkeit fassen. Der zunehmende Einfluss der Naturwissenschaft und parallel dazu die Säkularisierung des Denkens 4
Nicolao MERKER, Die Aufklärung in Deutschland. München 1989.
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trugen dazu bei, dass das Anliegen einer Generalreform verstanden wurde als Bemühen, alle menschlichen Lebensbereiche zu reformieren, effizienter zu gestalten, „zu professionalisieren“. Folgerichtig brach sich ein verändertes Weltbild Bahn, konnte sich ein grundlegender Wandel des Wirklichkeitsverständnisses durchsetzen. Der einzelne Mensch, die Gesellschaft und schließlich der Staat schoben sich ins Zentrum. Hinzu kam eine neue Zeitdynamik. Die Gegenwart wurde zu einem Durchgangspunkt unablässiger Veränderungen, die Vergangenheit zu einem Ort des Fremden und die Zukunft zu einem offenen Raum. Die Schwierigkeit, die Epoche der Aufklärung, die sich selbst als Wendezeit verstand, zu begrenzen und die vielfältigen Zirkel und Strömungen dieser Grenzen einzufangen, zeigt die Verlegenheitslösung, an den ausfransenden Rändern von Frühaufklärung oder Spätaufklärung zu sprechen. Behauptet wird, der typische Vertreter der Generation der Spätaufklärung wurde etwa um 1730 geboren und starb um 1790. Gerade in katholischen Bereichen – aussagekräftige Beispiele sind der südwestdeutsche Raum oder auch Schlesien – ist damit eine Aussage über die Frühphase der katholischen Aufklärung gemacht. Viele Periodika der katholischen Aufklärer, ihre Publikationen sind schwerpunktmäßig im Zeitraum von 1780 bis 1820 anzusiedeln. Als ein typisches Charakteristikum dieser als Spätphase der Aufklärung bezeichneten Periode wird gemeinhin das Selbstbewusstsein der Vertreter dieser Epoche genannt. Sie verstanden sich als Mitträger eines Impulses, der eine neue Zeit einleitete; der Kultur, Gesellschaft und Staat vernünftig nach dem Maß des Menschen ordnete. Dieses Selbstbewusstsein wurde reflektiert und offenkundig gemacht, denn es war bereits der Anfechtung der Reaktion ausgesetzt. Religiöse Toleranz wurde zum Schlüssel, um die Unmündigkeit zu überwinden. Das scheint gerade für den kirchlichen Bereich eine sehr wichtige Entwicklung zu sein, nach den vielfältigen Impulsen und Initiativen der Gegenreformation, die ja sehr stark konfessionalistisch dachte. Es ist festzuhalten, dass gerade in dieser Phase die Aufklärung auch dort, wo sie sich auf die Religionsangelegenheiten konzentrierte, nicht identifiziert werden darf mit dem Bemühen, Religion abzuschaffen. Ziel war stets, die Missstände der Religion in die Kritik zu nehmen, um sie abzustellen, es ging darum, zu reformieren. Eine erste Einheit von Beiträgen erschließt regionale, europäische Perspektiven. Die Autoren Ondřej BASTL, Robert PECH und Philip STEINER skizzieren einen Überblick über die Reflexion der josephinischen Reformen in den Ländern der Böhmischen Krone aus der Feder zeitgenössischer wie darauf folgender Historiographen. Deutlich wird dabei, dass der Grad zwischen Bewunderung und Verriss des Reformwerks wie der Person des Kaisers ein schmaler ist: Kontextbezogen neigt ein- und derselbe Autor dazu, Teilen der Reformen beizupflichten und sie vollumfänglich zu begrüßen, andere Teile wiederum stoßen auf Ablehnung bis offene Anfeindungen. Dass in den tschechischen Archiven noch eine Vielzahl an Beständen der Dinge harren, verwundert nicht ob der bislang ungenügenden Aufarbeitung der böhmischen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts, so die Autoren.
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Geographisch weiter südöstlich liegt mit dem Königreich Ungarn das Land, dem sich die nachfolgenden Autoren – beginnend mit der Studie von Dániel BÁRTH – widmen. Dieser stellt eingangs seiner Studie auch für das Reich der Stephanskrone eine Vielzahl an methodologischen wie kirchenhistorischen Desideraten fest. Anhand einer Fallstudie – Pater Rochus, einem Exorzisten, dem Bárth die Biographie eines weiteren Exorzisten gegenüberstellt: Johann Joseph Gassner – zeigt der Autor im Folgenden auf, wie dadurch „Knotenpunkte“ herausgearbeitet werden können, die den Einfluss der (frühen) Aufklärung und deren Friktionen mit der Volksfrömmigkeit auf die Kirchenstrukturen in Ungarn verdeutlichen. András HEGEDŰS spürt anschließend in seinem Beitrag der Einrichtung der ungarischen Generalseminarien in Pressburg, Agram und Erlau nach, wobei der Residenzstadt des Königlichen Ungarn seine besondere Aufmerksamkeit gilt. Auch die Priesterausbildung sollte sich staatlicher Kontrolle sowie einheitlichen Lehrinhalten nicht entziehen, weshalb es unter Joseph II. zur Einrichtung derartiger Lehranstalten kam. Diese Generalseminarien anstelle der Diözesanseminarien erregten bald den Widerstand des ungarischen Klerus, und dies nicht zuletzt ob des nunmehr aberkannten Rechts der Lehre kommender Priestergenerationen. In Ungarn wie auch in Böhmen verschwanden daher die Generalseminarien nach dem Tode Josephs II. wieder. Zu den Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche im Königreich Ungarn steuert György JANKA einen Beitrag bei. Der Prozess ihrer Emanzipation im Reich der Stephanskrone begann mit dem „theresianischen Josephinismus“, wie der Autor darstellt. Mit energischem Durchsetzungswillen gelang es der Mutter Josephs II. Papst Clemens XIV. zu überzeugen, die griechisch-katholische Eparchie von Munkatsch einzurichten. Damit war mit frühjosephinischer, obrigkeitlicher Einflussnahme der „Beginn eines selbstständigen, eigenen kirchlichen Lebens“ der Unierten gegeben. Südtransdanubien, also jenes Gebiet der Stephanskrone, das nach dem Großen Türkenkrieg unter Leopold I. wieder an das Hause Habsburg fiel, handelt Zoltán GŐZSY in seinen Ausführungen ab. Re- und Neuorganisation der Kircheninstitutionen in diesem von zunehmender Emigration geprägten Gebiet verlangten eine flexible Anpassung der Seelsorge an die lokalen Gegebenheiten einerseits wie die Stärkung lokaler Gemeinschaften andererseits. Diese von seiten des Tridentinum inspirierten „Pfarrideale“ bildeten einen fruchtbaren Boden für die folgenden „aufklärerischen Bestrebungen der Kirche“ bis in das „josephinische Zeitalter“ hinein, wie der Autor schlussfolgert. Nach Siebenbürgen, genauer nach Kronstadt, führt den Leser der das Thema Königreich Ungarn abschließende Beitrag von Edith SZEGEDI. Mit der Beseitigung der Sonderstellung der siebenbürgisch-sächsischen Nation durch das sogenannte Konzivilitätsreskript habe Joseph II. die Schaffung einer „siebenbürgischen Nation“ durch die Inklusion aller seiner Bewohner im Auge gehabt. Am Fallbeispiel Kronstadt weist die Autorin aber nach, dass zwar „das Aufbrechen der Homogenität der Inneren Stadt“ geschafft wurde, langfristig aber eine Differenzierung der Einwohnerschaft festgestellt werden kann, die letztlich „die amtliche Dreisprachigkeit erst ermöglichte“.
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Vergleichend werden in Horst MIEKISCHS Beitrag die Fürstbistümer Bamberg und Würzburg und deren Josephinismus-Rezeption näher beleuchtet. Keine anderen Territorien des Reiches hätten mehr „Josephinismus“ übernommen, als diese beiden fränkischen, so der Autor. Die Trias Bamberg-Würzburg-Mainz bildete für die Habsburger traditionell eine Barriere gegen die Protestanten, zumeist wäre „die Personalunion mehrerer dieser Bistümer unter einem […] genehmen Kandidaten“ aktiv von Wien und Rom unterstützt worden. Diese engen politischen Beziehungen nach Wien begünstigten daher auch die unmittelbare Rezeption josephinischer Reformen in beiden Fürstbistümern, so beispielsweise im Schulwesen und der Verwaltung. Der Spagat zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft wurde dabei ganz im josephinischen Sinne bewerkstelligt: So predigte Franz Ludwig, Fürstbischof seit 1779, „dem einfachen Volk selbst mit schlichten und eindringlichen Worten“ und sah sich selbst am ehesten als „Lehrer und Diener seines Volkes“. Josephinismus und Glaubenspraxis bildet den zweiten Schwerpunkt im vorliegenden Band. Dabei zeichnet zunächst Peter ŠOLTÉS die Eingriffe der Obrigkeit, beginnend mit Maria Theresia, in die Kompetenzbereiche der katholischen Kirche nach. Unter Normierung verstand der frühmoderne Staat der Aufklärung Erziehung der Geistlichkeit, Schaffung von kirchlicher Disziplin, materielle Sicherstellung der Geistlichen, Zurückdrängung der Volksfrömmigkeit sowie allgemein die Beseitigung von „überflüssigem“ barockem „Ballast“ in der religiösen Praxis. Der Autor hält als Ergebnis der josephinischen Kirchenreform allerdings fest, dass man seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in vielen Teilen der Habsburgermonarchie einen Anstieg des Sektenwesens wie auch verschiedener mystischer Gemeinschaften verzeichnen konnte. Lydia BENDEL-MAIDL widmet sich der Frage, wie „sich die Anliegen der Aufklärung […] auf das Verständnis des Gebetes auswirkten“. Mittels der Vorstellung dreier Lehrbücher der Zeit verdeutlicht die Autorin die unterschiedlichen Ausflüsse der josephinischen Aufklärungseinflüsse auf die Glaubenspraxis. Übereinstimmend ist hierbei dessen wenig herausgehobene Rolle, dem Gebet wurde jeweils keine eigene Abhandlung gewidmet. „Die Begegnung zwischen den Konfessionen“ im Rahmen der Aufklärung untersucht Rainer BENDEL in seinem Beitrag. Vier „Begegnungsmöglichkeiten“ beleuchtet der Autor dabei näher. Er arbeitet damit heraus, dass die seitens der katholischen Aufklärer geforderten Reformen innerhalb der katholischen Kirche eine Annäherung an den Protestantismus ermöglichen sollten mit dem letztlichen Ziel einer Reunion. Auch die Person Josephs II. erfuhr hierbei eine wohlwollende Belobung: „Die zerstrittene Familie sollte durch die Bemühungen des großmütigen Menschenfreundes, also des Kaisers, versöhnt werden.“ In medias res ist der diesen Band Lesende nunmehr mittendrin in denjenigen Beiträgen, die biographische Perspektiven von Josephinern erhellen bzw. ergänzen, die bislang in der Forschung nur eine marginalisierte Rolle hinter meist klangvollen „Frontmännern“ der Reformen einnehmen. Sogleich gilt dies für den zweiten Beitrag
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aus der Tastatur von Norbert JUNG, der sich mit Franz Stephan Rautenstrauch eine schillernde Figur der katholischen Aufklärung herausgegriffen hat und dessen Rolle im Streitfall Johann Lorenz Isenbiehl untersucht. Isenbiehl lehnte in seinem Werk „Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel“ die Hermeneutik der Kirchenväter methodisch ab. Die erste Stellungnahme hierzu stammte aus der Feder von Rautenstrauch, der eben jene Hermeneutik Isenbiehls lobend hervorgehoben habe und dabei zwar die „Abweichung von der bisherigen Lehrmeinung“ erkennt, „darin aber keinen Verstoß gegen den katholischen Glauben“ erkennen kann, wie der Autor ausführt. Ränke verhinderten letztlich jegliche Lehrstuhlübernahme Isenbiehls in der Habsburgermonarchie, gleichwohl: Er und Rautenstrauch – so das Resümee Jungs – haben sich damit als geachtete Theologen „auf der Höhe der zeitgenössischen [Reform-]Diskussion“ befunden. Gegen die Deutung, josephinische Ideen seien in ihrer Wirkrichtung Top-downProzesse gewesen, führt Norbert SPANNENBERGER den Zisterzienserabt Johann Ladislaus Pyrker ins Feld. An dessen Vita verdeutlicht der Autor, dass es oftmals Vernetzungen in alle Ebene gegeben hat, die „ein komplementäres und in der Wirksamkeit kohärentes System“ Aufklärung bildeten. Der von der „spätjosephinischen Ethik“ geleitete Pyrker fand in Kaiser Franz I. eine Stütze und einen Förderer, geriet aber während der Periode des Vormärz in die Konflikte zwischen transleithanischer und cisleithanischer Reichshälfte und deren Ringen um die politische Suprematie im habsburgischen Imperium. Mit Benedict Strauch, bearbeitet von Werner SIMON, wird im Anschluss ein in Schlesien wirkender Reformer des Schulwesens vorgestellt. Dieser realisierte seine Vorstellungen in enger Zusammenarbeit mit Johann Ignaz von Felbiger, der später nach Wien berufen wurde und 1774 die „Allgemeine Schulordnung“ abfasste. Während dieser in der Josephinismus-Forschung breit gewürdigt worden ist, fristet Strauch ein Schattendasein – zu unrecht, wie der Autor ausführt. Die Reformen im niederen Schulwesen des Stifts Sagan mit der Herausarbeitung der sogenannten Saganschen Methode besaßen Modellcharakter für die anstehenden Reformen nachfolgender Jahrzehnte, wobei Felbiger 1778 anerkennend an Strauch schrieb: „Sie sind doch der Urheber von allem, und Ihnen gebüret aller Dank und Ehre.“ Mit Carl Winter, als königlicher Dechant und erzbischöflicher Vikar zwei Dienstherren verpflichtet, stellt Horst-Alfons MEIßNER einen Schulvisitator vor, der das sogenannte General-Land-Schul-Reglement – erlassen von Friedrich II. – in der „Graffschaft Glatz“ evaluieren und vor allem gegen Widerstände durchsetzen sollte. Der nach den Schlesischen Kriegen an das Königreich Preußen gefallene Landstrich sollte mittels Alphabetisierung seiner Einwohnerschaft – katholische wie protestantische – in den preußischen Staatsverband eingegliedert werden. Mit viel Eifer – wie die erhaltenen und vom Autor eingearbeiteten Visitationsprotokolle belegen – gelang es Winter, strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, um eine Volksschulbildung jedes Kindes zu ermöglichen. Dass auch Staats- und Kirchenrechtler als ein „Sprachrohr“ der katholischen Aufklärung fungieren konnten, zeigt der Aufsatz von Philip STEINER über den in der Forschung weitgehend vergessenen steirischen Juristen Franz Xaver von Neupauer
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(1753-1835). Neupauer, der ein strikter Anhänger einer monarchischen Regierungsform war, die dem Herrscher weitgehende Macht zugestand, trug mit seinen Werken wesentlich zur juristischen Legitimation und Ausformung des josephinischen Staatskirchentums bei. Daneben verkehrte der Rechtsgelehrte nicht nur in adeligen und bürgerlichen Intellektuellenkreisen, sondern setzte sich als radikaler Josephiner auch für eine politische bzw. soziale Besserstellung des steirischen Bürgerstandes und der Bauern ein. Obwohl er auch deshalb unter Franz II. kurzzeitig in Verdacht geriet, mit der Französischen Revolution zu sympathisieren, blieb der aufgeklärte Neupauer ganz im Gegenteil dazu stets ein begeisterter Monarchist, der jedoch den nichtadeligen Ständen im josephinischen Sinne mehr Rechte verschaffen wollte. Ne quid nimis – daher schließt mit Franz Leander FILLAFER dieser Band. Seine sechs Biographieskizzen, aus denen er „drei Stufen josephinischer Sinnbildung“ filtriert, führen den Leser nochmals stoffreich durch die josephinische Zeit. Dabei hält der Autor resümierend „auf der ersten Stufe […] das Wegretuschieren der machtstaatlichen Substanz der josephinischen Reformen durch die deutschsprachigen aufgeklärten Gefolgsleute Josephs II.“ fest, wodurch „die frühneuzeitlichen Determinanten der Herrschaftsverdichtung und Staatsdurchdringung […] übergangen“ wurden. Die zweite Stufe bildet für Fillafer „das Ausklammern der projosephinischen Sympathien“, die „die später als Wegbereiter des ‚nationalen Erwachens’ stilisierten Anhänger hegten“. Geradezu als Zerrbild präsentiert sich letztlich die dritte Stufe, auf der „schließlich das Vergessenmachen der skeptischen Sicht“ steht, gewissermaßen also die „offen[e] Ablehnung der nationalliberalen Reformaktivisten durch viele überzeugte Spätaufklärer“. Rainer Bendel / Norbert Spannenberger
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DIE KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG – EINE HINFÜHRUNG
„Fundamentalkritik an der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts [ist] eine bis heute prägende Konstante im theologischen Diskurs der großen christlichen Konfessionskirchen“1, stellte Friedrich Wilhelm Graf kürzlich angesichts eines Diskussionsbeitrags bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie in Bayern fest, in dem die Aufklärung als „das Gegenteil von Vernunft“ und „reine Propaganda gegen das Christentum“ charakterisiert worden war.2 Auf der anderen Seite forderte Stephanie Stockhorst mit dem Schlagwort „étudiez l’infame!“ programmatisch dazu auf, die Kirche als Transmissionsriemen stärker in den Blick zu nehmen, die zwar weniger intensiv als andere Sektoren der Gesellschaft, aber dafür mit größerer Breitenwirkung im Sinn der Aufklärung gewirkt habe.3 Offenbar kann man die fast fünf Jahrzehnte alte Feststellung Georg Schwaigers – „Wer sich mit Kirche und Welt in den letzten dreihundert Jahren ernsthaft beschäftigt, wird zur Auseinandersetzung mit der Aufklärung geführt“4 – auch im umgekehrten Sinn betrachten: Wer sich mit der Aufklärung und ihrer Wirkungsgeschichte beschäftigt, wird fast zwangsläufig zur Auseinander-
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Friedrich Wilhelm GRAF, Einleitung. In: DERS. / Heinrich MEIER (Hg.), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart. München 2013, S. 7-45, hier S. 42. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine aktualisierte, überarbeitete und erheblich erweiterte Fassung des zweiten Kapitels meiner Dissertation, vgl. Norbert JUNG, Der Speyerer Weihbischof Andreas Seelmann (1732-1789) im Spannungsfeld von „nachgeholter“ Aufklärung und „vorgezogener“ Restauration, Mainz 2002 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 103), S. 29-49. Die Abkürzungen richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis des Lexikons für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Vgl. Daniel VON WACHTER, Hat die Aufklärung viel geleistet? In: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1 (2012), S. 10, dort auch die beiden Zitate. Vgl. Stephanie STOCKHORST, Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe. Einleitung. In: DIES. (Hg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 17), S. 7-23, hier S. 17. Georg SCHWAIGER, Die Aufklärung in katholischer Sicht. In: Concilium 3 (1967), S. 559-566, hier S. 559. Die damaligen Überlegungen wurden in überarbeiteter Form neu abgedruckt in DERS., Katholische Kirche und Aufklärung. Erfahrungen einer Zeitenwende. In: Armin KREINER / Perry SCHMIDT-LEUKEL (Hg.), Religiöse Erfahrung und theologische Reflexion. Festschrift für Heinrich Döring, Paderborn 1993, S. 13-27.
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setzung mit der Kirche und ihrer Rolle in der (damaligen) Welt gelangen.5 Was jedoch ist unter „Aufklärung“ eigentlich zu verstehen? Daniel Fulda hat neuerdings von einem „Selbstverständlichkeitsverlust der traditionellen Ordnungen des Handelns, Wissens und Glaubens“6 gesprochen, der das gemeinsame Ausgangsproblem der vielen verschiedenen Absichten und Richtungen der Aufklärung gewesen sei, die im Ganzen kaum einheitlich zu definieren sind. Das gilt auch für die katholische Variante der Aufklärung. „Eine definitive Antwort auf die Frage ‚Was ist Aufklärung?’ ist nicht zu leisten, ebenso wenig eine endgültige Umschreibung einer ‚katholischen Aufklärung’ […] Die außerordentlich komplexen historischen Sachverhalte zwingen zur Differenzierung.“7 Es ist deshalb hier nicht etwa daran gedacht, eine von vornherein zum Scheitern verurteilte, endgültige Definition zu versuchen, sondern es soll der zeit- und geistesgeschichtliche Hintergrund entwickelt werden, vor dem die in diesem Sammelband vereinigten und dargestellten Sachverhalte und Entwicklungen gesehen werden müssen, deren Darstellung dann wiederum zur differenzierteren Beurteilung des Phänomens der Aufklärung dienen kann.
1.
1.1.
Zum Begriff „Aufklärung“ in seinem Epochenund Prozesscharakter8
Aufklärung als Epochenbegriff
Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Aufklärung generell als Epoche eines fortschreitenden Säkularisationsprozesses mit dem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert verstanden, in der man verstärkt das Ziel verfolgt hatte, den Menschen durch seine Erziehung zu einem selbstbewussten Vernunftwesen auf der Grundlage dieser seiner Vernunft aus
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In diesem Sinn bemerkte Monika Neugebauer-Wölk in dem bereits erwähnten, kürzlich erschienenen Sammelband: „Die katholische Aufklärung wirkte weit stärker, als die Forschung dies früher zu akzeptieren bereit war.“ Monika NEUGEBAUER-WÖLK, Aufklärung und Esoterik. Anmerkungen zu einem komplexen Verhältnis. In: STOCKHORST, Epoche und Projekt (wie Anm. 3), S. 47-73, hier S. 60. Daniel FULDA, Gab es die Aufklärung? Einige geschichtstheoretische, begriffsgeschichtliche und schließlich programmatische Überlegungen anlässlich einer neuerlichen Kritik an unseren Epochenbegriffen. In: Das 18. Jahrhundert 37 (2013), S. 11-25, das Zitat S. 23. Georg SCHWAIGER, Rezension zu Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), S. 113-115, hier S. 114. Vgl. zur Begriffsgeschichte Horst STUKE, Art. Aufklärung. In: Otto BRUNNER / Werner CONZE / Reinhart KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 243-342.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
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der Welt seiner historischen Herkunft zu befreien.9 Aufgrund der Vielfalt der Erscheinungsformen ist es kaum möglich, exakte Aussagen über Beginn und Ende der Epoche der Aufklärung zu treffen10, zumal sich die Aufklärung als soziokultureller Prozess sowieso nicht auf das 18. Jahrhundert einschränken lässt.11 Im Grunde müs9
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Vgl. STUKE, Aufklärung (wie Anm. 8), S. 244-246. Vgl. auch die Definition von Max SECKLER, Aufklärung und Offenbarung, Freiburg i. Br. 1980, S. 20: „[…] jene gesamteuropäische, in Art, Richtung und Intensität nach Ländern und Konfessionen verschiedene Geistesbewegung, durch welche die mittelalterliche Traditions- und Autoritätskultur zerstört wird.“ Einen grundlegenden Überblick über den Forschungsstand zum Aufklärungszeitalter bieten Hans Erich BÖDEKER / Ulrich HERRMANN, Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert: Personen, Institutionen und Medien. In: DIES. (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert: Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, S. 9-13. – Angela BORGSTEDT, Das Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt 2004. – Olaf BREIDBACH / Hartmut ROSA (Hg.), Laboratorium Aufklärung. München 2010 (Laboratorium Aufklärung, Bd. 1). – Raffaele CIAFARDONE, Art. Aufklärung: I. Die Philosophie der Aufklärung II. Die Aufklärung in ihrem Prozeß und Einfluß. In: LThK 1, Freiburg i. Br. 31993, Sp. 1207-1211. – Oskar KÖHLER, Die Aufklärung. In: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5, Freiburg i. Br. 1970, S. 368-408, hier S. 371-376. – Michael MAURER, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert, München 1999 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 51). – Annette MEYER, Die Epoche der Aufklärung, München 2010. – Horst MÖLLER, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 31993. – Rainer PIEPMEIER, Art. Aufklärung I: Philosophisch. In: TRE 4, Berlin, New York 1979, S. 575-594. – Peter PÜTZ, Die deutsche Aufklärung, Darmstadt 41991. – Terence James REED, Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung, München 2009. – Ulrich RICKEN, Begriffe und Konzepte für Aufklärung. Zur Problematik einer Begriffsgeschichte als vergleichende Lexikologie der Aufklärung. In: Siegfried JÜTTNER / Jochen SCHLOBACH (Hg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 14), S. 95-105. – Giuseppe RICUPERATI (Hg.), Historiographie et usages des Lumières, Berlin 2002. – Philipp SCHÄFER, Thesen zur Aufklärung. In: RJKG 3 (1984), S. 9-20. – DERS., Aufsätze zur Aufklärung, Passau 1999. – Werner SCHNEIDERS, Reformaufklärung in Deutschland. In: Paul GEYER (Hg.), Das 18. Jahrhundert. Aufklärung, Regensburg 1995 (Eichstätter Kolloquium, Bd. 3), S. 23-42. – DERS. (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995. – DERS., Das Zeitalter der Aufklärung, München 1997. – STOCKHORST, Epoche und Projekt (wie Anm. 3). – Barbara STOLLBERG-RILINGER, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. 2. überarb. u. aktual. Aufl., Stuttgart 2011. – Fritz VALJAVEC, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien 1961. – Rudolf VIERHAUS, Zur historischen Deutung der Aufklärung. Probleme und Perspektiven. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 4 (1977), S. 39-54. – Jürgen VOSS, Zur deutschen Aufklärungsdiskussion im späten 18. Jahrhundert. In: Innsbrucker Historische Studien 7/8 (1985), S. 263-283. – Holger ZAUNSTÖCK / Markus MEUMANN (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 21). – Carsten ZELLE, Im Licht der Vernunft? Zu Bild und Begriff der Aufklärung. In: Diagonal (2002), S. 164-187. Zu beachten sind ferner die Hefte der Zeitschrift „Das achtzehnte Jahrhundert“, dem Organ der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Vgl. Richard FABER / Brunhilde WEHINGER (Hg.), Aufklärung in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2010. – Helmut REINALTER (Hg.), Aufklärungsprozesse seit dem 18, Jahrhundert, Würzburg 2006. – Hedwig SCHMIDT-GLINTZER (Hg.), Aufklärung im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2004 (Wolfenbütteler Hefte 18).
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sen Renaissance, Barock und Aufklärung – also das, was die „Neuzeit“ in Bezug auf soziale Strukturen, religiöse Reformen und mentale Dispositionen ausmacht – zusammengesehen werden.12 In Deutschland lassen sich vier Phasen der Aufklärungsepoche im engeren Sinn erkennen:13 Der Frühaufklärung, die in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts einsetzte (zeitgleich mit dem Beginn der Lehrtätigkeit von Christian Thomasius, mit dem eine anthropologische Wende in der Philosophie eintrat),14 folgte eine Phase schulphilosophischer Hochaufklärung, die vor allem durch die Leibniz-Rezeption und die Breitenwirkung15 der Philosophie Christian Wolffs16 gekennzeichnet war. Diese der Form nach fortschrittliche, dem Inhalt nach aber konservative, weil die Metaphysik nicht ausschließende philosophische Richtung ermöglichte den Anschluss des deutschen Katholizismus an die anfänglich protestantisch geprägte Aufklärungsbewegung.17 Etwa ab 1740 vollzog sich ein Wandel des politischen, religiösen und philosophischen Klimas, der sich in der Philosophie sowohl gegen als auch mit Wolff vollzog. Wolffs Philosophie wurde von seinen Schülern in knappen Kompendien zusammengefasst und zum Teil in eine eklektische Popularphilosophie eingearbeitet. Das Bedürfnis nach einer praktischen, lebensnäheren Philosophie erstarkte. Von daher spielten zunehmend Psychologie und Ästhetik eine wichtige Rolle, wobei sich Einflüsse aus England bemerkbar machten, die über Göttingen nach Deutschland einströmten.18 Die Phase der Spätaufklärung (ca. 1770-1790) ist vor allem durch die
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Kurt FLASCH und Udo Reinhold JECK suchen die Anfänge der Aufklärung bereits im Mittelalter. Bei aller Berechtigung dieses Ansatzes ist dann aber doch zu fragen, ob es sinnvoll ist, Epochen bzw. Begriffe so weit auszudehnen, dass ihnen anschließend ihr spezifischer, differenzierender Charakter weitgehend abhandengekommen ist. Vgl. Kurt FLASCH / Udo Reinhold JECK (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997. Zur Gesellschaft und Kultur der Epoche vgl. die brillante Studie von Peter HERSCHE, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bände, Freiburg i. Br. 2006. Vgl. SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 18. – MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 19-40. Vgl. CIAFARDONE, Aufklärung (wie Anm. 9), Sp. 1208. Zu Thomasius vgl. grundlegend Werner SCHNEIDERS, Christian Thomasius 1655-1728, Hamburg 1989, mit weiterführenden Literaturangaben. Zur Frühaufklärung in Deutschland vgl. DERS., Leibniz, Thomasius, Wolff. Die Anfänge der Aufklärung in Deutschland. In: Kurt MÜLLER u. a. (Hg.), Studia Leibnitiana, Supplementa XII/I, Wiesbaden 1973, S. 105-121. Diese wurde vor allem dadurch erreicht, dass die Schriften Wolffs, in denen er ein letztes Mal die aristotelische Tradition des antiken Naturrechts in einem einheitlichen System zusammengefasst hatte, auch in deutscher Sprache erschienen, vgl. PIEPMEIER, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 582 und MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 23f. Zu Christian Wolff vgl. grundlegend den Sammelband Werner SCHNEIDERS (Hg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg 1983, mit einer umfassenden Bibliographie sowie weiterführenden Literaturangaben. Vgl. SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 94-96. Vgl. Ebd., S. 96-98.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
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Wirkung der kritischen Schriften Kants sowie durch eine zunehmende Selbstreflexion der Aufklärungsbewegung gekennzeichnet.19 Der Facettenreichtum der Aufklärungszeit wird deutlich, wenn man sich die nationalen, regionalen und kulturellen Unterschiede vor Augen führt, die sich vor allem in Deutschland aufgrund des religiösen und politischen Partikularismus auswirkten: Während die Aufklärung in England und Frankreich vor allem von theoretischer Reflexion geprägt war, die in theologischer Hinsicht dazu führte, dass der Deismus – in Frankreich bisweilen zum Atheismus radikalisiert – zur herrschenden Glaubensvorstellung wurde, blieben der deutschen Aufklärung radikale Ideologien sowie die Leugnung jeder Transzendenz fremd.20 Im deutschsprachigen Raum war die Aufklärung weniger auf kritische Reflexion als vielmehr auf praktische, pädagogisch belehrende Reformarbeit hin orientiert.21 Typisch war dabei die Verbindung von Vernunft und Ethik, die stellenweise zu einem bloßen Pragmatismus verflachen konnte. Die deutsche Aufklärungsphilosophie war auch durch ein grundsätzlich positives Verhältnis zur christlichen Religion sowie zum absolutistischen Staat gekennzeichnet und vollzog sich mehr als in anderen Ländern Europas an den Kathedern der Universitäten.22 Die Bedeutung der Rolle von Kirche und Religion verschob sich: Beide konn19
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Vgl. VOSS, Aufklärungsdiskussion (wie Anm. 9). – Joyce SCHOBER, Die deutsche Spätaufklärung (1770-1790), Frankfurt a. M. 1975. – Rudolf MALTER, Art. Kant, Immanuel (1724-1804). In: TRE 17, Berlin, New York 1988, S. 570-581. – Norbert HINSKE, Kant im Auf und Ab der katholischen Kantrezeption. In: Harm KLUETING (Hg.), Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich, New York 2003 (Hildesheimer Forschungen, Bd. 2), S. 279-294. – Ulrich L. LEHNER, Theologia Benedictina ac Kantiana. Zur Kant-Rezeption der Benediktiner Ildefons Schwarz und Ulrich Peutinger. In: N. FISCHER (Hg.), Kant und der Katholizismus, Freiburg i. Br. 2005, S. 234-261. – Klaus Walter LITTGER (Hg.), Kant und der Katholizismus. Ausstellungskatalog, Wiesbaden 2005 (Schriften der Universitätsbibliothek Eichstätt, Bd. 62). Vgl. CIAFARDONE, Aufklärung (wie Anm. 9), Sp. 1207f. – Will und Ariel DURANT, Rousseau und die Revolution. Eine Kulturgeschichte Frankreichs, Deutschlands und Englands von 1756 bis 1789 und des übrigen Europa von 1715-1789, Bern, München 1969 (Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 10). – Ulrich IM HOF, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. – DERS., Das Europa der Aufklärung, München 1993, die Ausführungen Im Hofs über die Katholische Aufklärung sind allerdings recht wenig differenziert, vgl. ebd., S. 154-159. – KÖHLER, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 376-400. – PIEPMEIER, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 581f. – Barbara STOLLBERG-RILINGER, Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, bes. S. 94-113. Zur englischen Aufklärung vgl. SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 21-51, zur französischen ebd., S. 52-82. Vgl. VIERHAUS, Historische Deutung (wie Anm. 9), S. 51. Schneiders überschrieb deshalb sein Kapitel über die deutsche Aufklärung mit „Metaphysik und Reform“, vgl. SCHNEIDERS., Zeitalter (wie Anm. 9), S. 83-115. Vgl. Hans Erich BÖDEKER, Die Religiosität der Gebildeten. In: Karlfried GRÜNDER und Karl Heinrich RENGSTORF (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 11), S. 145-195, sowie SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 89. An anderer Stelle spricht Schneiders vom „Akademismus“ und „Bürokratismus“ der deutschen Aufklärung, die Reformen, aber keine Revolutionen angestrebt habe, vgl. DERS., Reformaufklärung (wie Anm. 9), S. 31. Zur Rolle deutscher Universitäten in der Aufklärungszeit vgl. grundlegend Notker HAMMERSTEIN, Universitäten und Aufklärung,
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ten nicht mehr Selbstzweck sein, sondern wurden gemäß ihrem Nutzen für Gesellschaft und Individuum funktionalisiert. Da das Gedankengut der Aufklärung zunächst im protestantischen Raum entwickelt wurde, ergab sich bei seiner Rezeption in katholischen Landesteilen eine Phasenverschiebung.23 Generell setzte hier die Aufklärung (meist in Form der Rezeption Wolffs) ein bis zwei Generationen später ein, wirkte aber auch in der Breite bis weit ins 19. Jahrhundert nach. Außerdem erreichte die Aufklärung in der Regel in protestantischen Gebieten eine größere Durchschlagskraft, weil dort ihr Gedankengut im Durchschnitt das Denken der Theologen selbst wesentlich stärker als in der katholischen Theologie beeinflusst hat.24 Andererseits darf nicht vergessen werden, dass die Aufklärung auch genuin katholische Wurzeln besitzt: Während die alte katholische Lehre des lumen naturale sich leicht mit rationalistischem Denken vereinbaren lässt, ermöglichte erst die Missachtung der in Luthers tiefem Misstrauen gegen die menschliche Vernunft zum Ausdruck gekommenen protestantischen Lehre von der generellen Verderbtheit der Natur des Menschen den Durchbruch der Aufklärung im protestantischen Norden.25 Nicht zuletzt deshalb hatte Christian Wolff Verfolgungen von Seiten der Pietisten zu ertragen, während sein Werk von Katholiken, ja zum Teil sogar von Jesuiten, umfassend rezipiert wurde.26 Wie diese wenigen, holzschnittartigen Notizen zeigen, verbieten sich also allgemein gültige Definitionen dieser durch vielfältige Erscheinungsformen und Bewegungen geprägten historischen Epoche – es sei denn, sie wären so weit gefasst, dass
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Göttingen 1995 (mit weiterführenden Literaturangaben) sowie Eberhard SCHMITT, Von der konfessionellen Universität zur Humboldtschen Universität: Zur grundlegenden Umformung der deutschen Hochschulen im Zeitalter des Absolutismus. In: Franz MACHILEK (Hg.), Haus der Weisheit. Von der Academia Ottoniana zur Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Katalog der Ausstellungen aus Anlaß der 350-Jahrfeier, Bamberg 1998, S. 17-33. Vgl. Horst CARL, „Die Aufklärung unsers Jahrhunderts ist ein bloßes Nordlicht…“. Konfession und deutsche Nation im Zeitalter der Aufklärung. In: Heinz-Gerhard HAUPT / Dieter LANGEWIESCHE (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt 2001, S. 105141. Vgl. VALJAVEC, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 186. – MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 86f. – Ludwig HAMMERMAYER, Aufklärung im katholischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Werk und Wirkung von Andreas Gordon. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv 4 (1975), S. 53-109, hier S. 64. Vgl. Frederick C. BEISER, The Sovereignty of Reason. The Defense of rationality in the early English Enlightenment, Princeton 1996, bes. S. 20-24. Vgl. Norbert HINSKE, Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland? In: Harm KLUETING (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 15), S. 36-39, hier S. 38f. Ähnlich SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10), S. 68-71, der auf das „solvere rationes“ bei Thomas von Aquin verweist. Vgl. dagegen SCHNEIDERS, Reformaufklärung (wie Anm. 9), S. 24-26, der in Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum das Recht auf die eigene Vernunft und die Selbstbefreiung des Denkens vorprogrammiert sieht. Vgl. auch Ivo CERMAN, Ethics and Natural Law. Jesuit Wolffianism in Prague (1750-1773). In: DERS. / Rita KRUEGER / Susan REYNOLDS (Hg.), The Enlightenment in Bohemia. Religion, Morality and Multiculturalism, Oxford 2011 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 7), S. 131-145.
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auch die genannten Gegensätze, Verschiebungen und kulturellen Eigenheiten darin aufgenommen wären.27
2.
Aufklärung als Prozess
Schon Immanuel Kant hatte den Prozesscharakter der Aufklärung gegenüber ihrer Deutung als Epochenbegriff betont. Auch in seiner bekannten (und deshalb hier nicht zu wiederholenden) Definition von Aufklärung, die allerdings weniger zeitgenössisch als vielmehr erst im Nachhinein rezipiert wurde, wird durch den Begriff „Ausgang“ eine Bewegung, ein Voranschreiten impliziert.28 Zeitgenössisch verstand man daher unter Aufklärung eher ein „Denkprinzip“29 und weniger ein feststehendes System bestimmter Inhalte.30 Als Elemente dieses dynamischen Prozesses können allgemein die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen, der (durch die Entwicklung der Naturwissenschaften bedingte) Fortschritt, die (durch die Änderung des Geschichtsbildes möglich gewordene) Annahme der Freiheit des Menschen sowie die Autonomie der Vernunft betrachtet werden.31 Die Tatsache, dass Kant und andere Aufklärer inhaltlich auf die Religion und deren Moralisierung fixiert blieben, ändert nichts daran, dass es viele Vermittlungsversuche zwischen Religion und Aufklärung gab und deshalb Religionsfeindlichkeit nicht zu den Konstitutiva des Aufklärungsprozesses gerechnet werden muss.32 Im Verlauf dieses Prozesses, an dessen Beginn die Freiheit steht, „im Lichte der Vernunft die Wahrheit zu ergründen und sich ein eigenes Urteil zu bilden“33, wird der Mensch frei von unreflektierten Bindungen an Kirche und Staat, Natur und Herkommen. Dieser Vorgang mit dem Ziel der „ideologiefreien Selbstverwirklichung des Menschen“34 wendet sich 27
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SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 19, meint deshalb, dass es eigentlich besser wäre, von Aufklärungen statt von Aufklärung zu sprechen. Vgl. auch SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10), S. 20, der zu Recht auf die „Rasterwirkung“ des jeweils zugrunde gelegten Epochen- und Typusbegriffs verweist, sowie MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 39. Vgl. Immanuel KANT, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ehrhard BAHR (Hg.), Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, S. 9-17. – STUKE, Aufklärung (wie Anm. 8), S. 265f. Vgl. MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 15. Vgl. SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10), S. 22-27, „Aufklärung im Verständnis der Aufklärung“. Vgl. SCHÄFER, Thesen (wie Anm. 9), S. 11. – „Aufklärung bezeichnet hier also ein kollektives Unternehmen, das sich selbst dynamisiert, weil seine Teilnehmer sich gegenseitig anspornen ebenso wie korrigieren und so den ‚Fortschritt der Aufklärung’ betreiben.“ FULDA, Gab es die Aufklärung? (wie Anm. 6), S. 18. Vgl. BÖDEKER, Religiosität der Gebildeten (wie Anm. 22), S. 169f. – Rainer BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung, Köln u. a. 1996, S. 5-7. Horst WICKI, Staat, Kirche, Religiosität. Der Kanton Luzern zwischen barocker Tradition und Aufklärung, Luzern 1990 (Luzerner Historische Veröffentlichungen, Bd. 26), S. 35. Ebd., S. 38.
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gegen Selbsttäuschung, unbegründete Vorgaben, unhinterfragten Systemglauben, blinde Gefolgschaft und Aberglauben bzw. gegen diejenigen, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung solcher Denkweisen haben.35 Als Metaphern wurden zur Beschreibung dieses Prozesses immer wieder eine (Vorwärts-)Bewegung bzw. eine zunehmende Erleuchtung verwendet.36 Es tritt dabei allmählich ein Wandel im (Selbst-) Bewusstsein des Menschen ein, bedingt durch das erfassende, urteilende und erhellende Wirken der autonomen Vernunft des Subjekts: Das mündige, „aufgeklärte“ Individuum ist schließlich keiner anderen Macht und Herrlichkeit mehr verpflichtet außer dem verantworteten Urteil seiner ratio.37
2.1.
Aufklärung und Offenbarung38
Karl Aner schematisierte bereits 1929 die Frage nach dem Spannungsverhältnis von Vernunft und Offenbarung historisch und konstatierte dabei eine zunehmende Radikalisierung: Zunächst habe der Wolffianismus eine suprarationale Einschätzung der Offenbarung vertreten und Vernunft und Offenbarung gleichberechtigt nebeneinandergesetzt. Die christliche Tradition sei dabei weitgehend unangetastet geblieben, da sie zwar die der Vernunft einsehbare Grenze überschreite, dieser aber gleichzeitig nicht zuwiderlaufe. Wenig später hätten die Neologen39 die Rolle der Vernunft erheblich ausgeweitet, jedoch theoretisch am Offenbarungsbegriff festgehalten. Die christliche Tradition sei vom Standpunkt der Vernunft und des sittlichen Bewusstseins aus beurteilt worden. Praktisch habe nur noch das gegolten, was als der Vernunft einsichtig und der tätigen Frömmigkeit dienlich galt. Schließlich habe der Rationalismus 35
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So schrieb z. B. Christoph Martin Wieland: „Es gibt Leute, die in ihrem Werke gestört werden, sobald Licht kommt […], z. B. wer uns Schwarz für Weiß geben oder mit falscher Münze bezahlen oder Geister erscheinen lassen will.“ In: Der teutsche Merkur II (1789), S. 99. Wicki definiert z. B. Aufklärung als „Selbsterleuchtung durch das Licht der autonomen Vernunft“. WICKI: Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 33), S. 35. Daniel Fulda weist darauf hin, dass die Lichtmetapher der Aufklärung „für sich genommen keineswegs neu war“, sondern „herkömmlich vielmehr auf Christus, den Glauben und die göttliche Gnade verwies“. FULDA, Gab es die Aufklärung? (wie Anm. 6), S. 17. Vgl. BENDEL, Seelsorger (wie Anm. 32), S. 4. – WICKI, Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 33), S. 35. Dazu grundlegend aus fundamentaltheologischer Sicht: SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10) sowie Walter KERN (Hg.), Aufklärung und Gottesglaube, Düsseldorf 1981 (Schriften der katholischen Akademie in Bayern, Bd. 92). Hier soll lediglich ein Schlaglicht auf die unterschiedliche Einschätzung des Verhältnisses beider im Laufe der letzten dreihundert Jahre geworfen werden, ohne das zugrundeliegende religionsphilosophische Problem zu erörtern. Vgl. zur Fragestellung aus philosophischer Sicht Georg PICHT, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 183-202. Zur komplexen Relation von Religion und Aufklärung siehe neuerdings auch Michael HOFMANN / Carsten ZELLE (Hg.), Aufklärung und Religion. Neue Perspektiven, Hannover 2010 (Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert, Bd. 1) sowie Kevin F. HILLIARD, Freethinkers, Libertines and Schwärmer. Heterodoxy in German Literature 1750-1800, London 2011. Vgl. Arno SCHILSON, Art. Neologie. In: LThK 7, Freiburg i. Br. u. a. 31998, Sp. 736.
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ganz auf die Unterscheidung zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion verzichtet und Offenbarungsinhalte nur noch als Vernunftwahrheiten anerkannt.40 So setzte sich sowohl in aufklärungsfeindlichen kirchlichen Kreisen als auch bei aufklärungsfreundlichen, kirchenkritischen Intellektuellen die Überzeugung fest, dass sich Offenbarungsglauben und Aufklärung über kurz oder lang notwendig ausschlössen, wie z. B. das folgende Zitat aus einem weitverbreiteten Handlexikon für Seelsorger aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert zeigt: „Aufklärung als geschichtliche Erscheinung ist die theoretische und praktische Tendenz, von der christlichen Offenbarung und Kirche und allem, was mit ihr zusammenhängt, als einer ‚Verfinsterung des Geistes’ sich frei zu machen und nur einen Glauben, den an die sola ratio, anzuerkennen.“41 Es dürfte heute wohl unbestritten sein, dass eine solch einseitige Charakterisierung – es ließen sich sowohl aus ultramontanen als auch aus kirchenkritischen Kreisen noch manche derartige Beispiele anführen – den vielfältigen Strömungen und teilweise auch gegenläufigen Tendenzen dieses kulturellen Phänomens nicht gerecht werden kann. So stellt Peter Pütz in seiner Beurteilung der religiösen Einstellung Lessings fest: „‚Aufgeklärt’ in diesem Sinne bedeutet nicht, eine außer- oder antitheologische Position zu vertreten, sondern die Bereitschaft zu haben, den eigenen Glauben in Zweifel ziehen zu lassen, vernünftig zu argumentieren und so den Glauben zu klären, durch Gründe zu befestigen oder zu kritisieren […] Aufklärung bedeutet nicht Verneinung, sondern Prüfung des Glaubens.“42 Die klassische Kennzeichnung der Aufklärung als „religionsfeindlich“ kann daher heute als widerlegt gelten, da sich Aufklärung auch mit und durch Theologie bzw. Religion und nicht etwa nur gegen sie vollzogen hat.43 Das ständige Ringen mit Theologie und Kirche stellte (und stellt?) für die Aufklärung zugleich einen Prozess der Selbstklärung dar. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: Die Religion muss daran interessiert bleiben, ihren Sinn auch der fragenden Vernunft gegenüber plausibilisieren zu können; zudem kann eine kritische Untersuchung des Glaubens keinesfalls
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Vgl. PÜTZ, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 57f. L. BAUR, Art. Aufklärung. In: Michael BUCHBERGER (Hg.), Kirchliches Handlexikon. Ein Nachschlagebuch über das Gesamtgebiet der Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1907, Sp. 402-404. Auch Ernst Troeltsch hatte 1897 in einer weithin rezipierten Definition den Kampf gegen den kirchlichen Supranaturalismus und dessen praktische Folgen als Charakteristikum der Aufklärung bezeichnet, vgl. STUKE, Aufklärung (wie Anm. 8), S. 246. PÜTZ, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 37. Vgl. zum Hintergrund Christoph BULTMANN / Friedrich VOLLHARDT (Hg.), Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata, Berlin, Boston 2011 (Frühe Neuzeit, Bd. 159). „Aufklärung und Religion werden traditionell gerne […] als prinzipielle Gegner dargestellt, doch profitieren sie auch voneinander.“ FULDA, Gab es die Aufklärung? (wie Anm. 6), S. 21. Auch Martin Greschat, der (aus protestantischer Sicht) in der Aufklärung einen Prozess gegen das Christentum sieht, betont, dass beide vom dialektischen Streit profitierten, vgl. Martin GRESCHAT, „Die Aufklärung“: ein Prozeß gegen das Christentum? In: Kerygma und Dogma 22 (1976), S. 299-316.
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grundsätzlich verhindert werden, selbst wenn das gewollt wäre.44 Das Ringen um die Religion kann so als Bestandteil einer notwendigen „Meta-Aufklärung“ angesehen werden: „Aufklärung als Prozeß der Auseinandersetzung mit den Lehren und der Tradition des Christentums ist letztlich Versuch einer Synthese.“45 In diesem Sinn fragt Max Seckler am Ende seiner Untersuchung, nachdem er auf die konstitutive Geschichtlichkeit der Vernunft sowie auf den letztlich nicht zu säkularisierenden Kern der Verantwortung, die notwendig mit der Freiheit verbunden ist, hingewiesen hat: „Setzt Offenbarung das Denken zur Aufklärung frei?“46 Auch wenn nicht jeder dazu bereit sein wird, das Verhältnis von Aufklärung und Offenbarung auf diese Weise zu bestimmen, so dürfte es doch inzwischen Konsens sein, dass „sich die lange Zeit übliche Bestimmung der Aufklärung als Inthronisation von Vernunft und Selbstdenken gegen göttliche Offenbarung […] seit längerem als zu eng“47 gezeigt hat und einem offenerem Verständnis des Verhältnisses beider gewichen ist.
3. 3.1.
Zum Begriff „Katholische Aufklärung“48
Grundzüge
Im deutschen Sprachraum hatte die Aufklärung im Gegensatz zu Frankreich und England einen eher praktischen Grundzug, d. h. es ging mehr um die praktische Umsetzung von Reformen als um theoretische Reflexionen.49 Auch gegenüber der Kirche 44
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Andererseits meint der katholische Systematiker Philipp Schäfer: „Katholische Theologie wird gegenüber dem, was gemeinhin Aufklärung genannt wird, kritisch bleiben“ und spricht sich für einen kritischen Dialog aus, vgl. SCHÄFER, Thesen (wie Anm. 9), S. 20. BÖDEKER / HERMANN, Prozeß der Aufklärung (wie Anm. 9), S. 10. – BÖDEKER, Religiosität der Gebildeten (wie Anm. 22), S. 145f. Vgl. SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10), S. 72-74, das Zitat S. 74. Das Zitat stammt ursprünglich von Georg Picht, vgl. Georg PICHT, Was heißt aufgeklärtes Denken? In: Zeitschrift für evangelische Ethik 11 (1967), S. 218-230. FULDA, Gab es die Aufklärung? (wie Anm. 6), S. 21. Vgl. grundlegend den von Harm KLUETING herausgegebenen Sammelband Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland (wie Anm. 26). – Bernhard SCHNEIDER, „Katholische Aufklärung“ – Etikettenschwindel, Illusion oder Realität? In: Reinhold BOHLEN (Hg.), Dominikus von Brentano 1740-1797. Publizist, Aufklärungstheologe, Bibelübersetzer, Trier 1997, S. 229-246, sowie Ulrich L. LEHNER, What is „Catholic Enlightenment“? In: History Compass 8 (2010), S. 166-178, die den Diskussionsstand jeweils mit weiterführenden Literaturangaben zusammenfassen. Vgl. Harm KLUETING, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht“. Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: DERS. (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland (wie Anm. 26), S. 16-33 sowie Eduard HEGEL, Die katholische Kirche Deutschlands unter dem Einfluß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Opladen 1973. Vgl. auch zu letzterem Heribert RAAB, Rezension zu Hegel, Eduard, Die katholische Kirche Deutschlands unter
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zeigte sich hier die Aufklärung weniger radikal, ja sie wurde häufig von Kirchenmännern getragen und äußerte sich gerade im katholischen Bereich in Form von innerkirchlichen Reformmaßnahmen.50 Diese lassen sich in vier Reformkreise subsumieren: die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Episkopalismus und Papalismus, die Kritik an den geistlichen Wahlstaaten überhaupt sowie an den Klöstern und Jesuiten insbesondere, die Reformen im Bereich der (universitären) Ausbildung sowie die eher praktischen Verbesserungen im Bereich von Verkündigung und Liturgie.51 Allerdings sind auch diese Maßnahmen wiederum differenziert zu betrachten, denn Reformprogramme und Pflege der Wissenschaften allein machen noch keine Aufklärung aus. Der erstgenannte Themenkreis ist durch die Stichworte Febronianismus und Episkopalismus gekennzeichnet.52 Der Trierer Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim hatte 1763 unter dem Pseudonym Justinus Febronius in seinem aufsehenerregenden Werk „De statu ecclesiae“ die Eigenständigkeit der Ortsordinarien gegenüber der römischen Kurie und deren Vertretern im Reich, den Nuntien, betont. Hontheim wollte durch die Einschränkung des päpstlichen Primates die Wiedervereinigung der getrennten Konfessionen im Deutschen Reich fördern. In einem Brief an den Kurfürsten von Trier drückte der Weihbischof damals wohl das Anliegen aller katholischen Aufklärer aus, wenn er sich gegen den Vorwurf der Schädigung des Glaubens verwahrte, aber gleichzeitig seiner Sorge über die Außenwirkung des zeitgenössischen
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dem Einfluß der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. In: RQ 73 (1978), S. 258-265. Von Raab stammt auch ein brillanter Überblick über die Epoche, vgl. DERS., Das Fürstbistum Fulda (17521802/03). Aufklärung – kirchliche Reunion – Säkularisation. In: AMRhKG 41 (1989), S. 173201. – Albrecht BEUTEL, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009, S. 170-181. „In all diesen Bereichen war die katholische Aufklärung in sehr viel geringerem Maße eine theologische als eine praktisch-reformerische Bewegung, die gewissermaßen unterhalb der Schwelle zur Dogmatik blieb.“ MÖLLER, Vernunft und Kritik (wie Anm. 9), S. 90. Heinz DUCHHARDT, Die geistlichen Staaten und die Aufklärung. In: Kurt ANDERMANN (Hg.), Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz, Epfendorf 2004 (Kraichtaler Kolloquien, Bd. 4), S. 55-66. – Bettina BRAUN / Mareike MENNE / Michael STRÖHMER u. a. (Hg.), Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten in der Spätphase des Alten Reiches, Epfendorf 2008. Vgl. zu den praktischen Reformmaßnahmen Barbara GOY, Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg, Würzburg 1969 sowie Franz KOHLSCHEIN (Hg.), Aufklärungskatholizismus und Liturgie. Reformentwürfe für die Feier von Taufe, Firmung, Buße, Trauung und Krankensalbung, St. Ottilien 1989. Vgl. HEGEL, Einfluß der Aufklärung (wie Anm. 49), S. 9-13. – KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 17f. – DERS., Wiedervereinigung der getrennten Konfessionen oder episkopalistische Nationalkirche? Nikolaus von Hontheim (1701-1790), der Febronius (1763) und die Rückkehr der Protestanten zur katholischen Kirche. In: DERS., Irenik (wie Anm. 19), S. 259-277. – Ulrich L. LEHNER, Johann Nikolaus von Hontheim and his Febronius. In: Church History and Religious Culture 88 (2008), S. 93-121. – Heribert RAAB, Der reichskirchliche Episkopalismus von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5, Freiburg i. Br. 1970, S. 477-507. – Rudolf REINHARDT, Art. Episkopalismus. In: LThK 3. Freiburg i. Br. u. a. 31995, Sp. 726-728, jeweils mit weiterführenden Literaturangaben.
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Katholizismus auf Außenstehende, Protestanten und Intellektuelle Ausdruck verlieh.53 Weitere Marksteine der episkopalistischen Strömungen in dieser Zeit waren die sogenannten Koblenzer Gravamina von 1769, deren Neuauflage 1786 in Form der Beschlüsse von Bad Ems sowie der im Jahr zuvor durch das bayerische Staatskirchentum ausgelöste Nuntiaturstreit, wobei es immer um die Rechte der deutschen (Erz)Bischöfe in Abgrenzung zum Papsttum ging. Das zweite Charakteristikum der Katholischen Aufklärung, die Kritik am Mönchtum, insbesondere an der überholten Lehrmethode der Jesuiten, die damals das Monopol auf die Ausbildung der katholischen Elite innehatten, hatte seinen Grund vor allem in Nützlichkeitserwägungen der Reformer:54 Man sah die Klöster mit ihrer z. T. bedeutenden Wirtschaftsmacht als antisoziale Einrichtungen an und warf den Religiosen „Verstandesverläugnung“55 vor. Das Idealbild der Aufklärer war hingegen der Weltgeistliche als Volkserzieher und Sprachrohr des Staates. Auf der anderen Seite konnten auch Klöster anerkannte Stätten der Bildung und der Wissenschaft, ja selbst der Aufklärung im katholischen Deutschland sein. An erster Stelle sei hier an das Benediktinerstift Banz erinnert, das zeitgenössisch den Ruf genoss, geradezu ein Parnass gelehrter Männer zu sein.56 Die Reform der Bildungspolitik, beginnend bei den Volksschulen bis hin zur Modernisierung der Universitäten, war ein weiteres Kennzeichen der Aufklärung im katholischen Bereich.57 Leuchtendes Vorbild war damals die 1737 neu gegründete protestantische Universität Göttingen, an der auch einige katholische Aufklärer studiert hatten, wie z. B. der in meinem Beitrag zum vorliegenden Sammelband näher
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Schreiben vom 9. April 1778, abgedruckt in: LEBRETS, Magazin zum Gebrauch der Staaten= und Kirchengeschichte, VII. Teil, Vorrede. Vgl. HEGEL, Einfluß der Aufklärung (wie Anm. 49), S. 13-17. – KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 26-29. Zur Jesuitengegnerschaft in Bamberg und Würzburg vgl. Karl Josef LESCH, Neuorientierung der Theologie im 18. Jahrhundert in Würzburg und Bamberg, Würzburg 1978, S. 89-136 bzw. 180-195. So der westfälische Domherr Freiherr von Spiegel in seinem Säkularisationsplan für die Klöster des Herzogtums Westfalen, vgl. Harm KLUETING, Franz Wilhelm von Spiegel und sein Säkularisationsplan für die Klöster des Herzogtums Westfalen. In: Westfälische Zeitschrift 131/132 (1981/82), S. 47-68, hier S. 55. Vgl. Niklas RAGGENBASS, Harmonie und schwesterliche Einheit zwischen Bibel und Vernunft. Die Benediktiner des Klosters Banz: Publizisten und Wissenschaftler in der Aufklärungszeit. St. Ottilien 2006. – Marcus HELLYER, Catholic Physics: Jesuit Natural Philosophy in Early Modern Germany, Notre Dame 2005. – Georg SCHROTT-SPROCKHÖVEL, „Blitzfang“ und „ElectricierMachinen“. Zur klösterlichen Sach- und Wissenskultur in der Zeit der Aufklärung. In: SMGB 118 (2007), S. 283-337. – Andreas KUHN, Die Auswirkungen der katholischen Aufklärung am Beispiel der Benediktinerreichsabtei Neresheim. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 68 (2009), S. 287-319. – Ulrich L. LEHNER, Enlightened Monks. The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2010. Vgl. HEGEL, Einfluß der Aufklärung (wie Anm. 49), S. 21-30. – SCHMITT, Umformung (wie Anm. 22), S. 27f. – Robert HAASS, Die geistige Haltung der katholischen Universitäten Deutschlands im 18. Jahrhundert, Freiburg 1952.
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vorgestellte spätere Exeget und Mainzer Professor Isenbiehl.58 In Bamberg und Würzburg verliefen die Reformen weniger ruckartig als anderswo. Hier kam es bereits relativ früh zur Rezeption des Gedankenguts Christian Wolffs und zu Universitätsreformen, so dass der Umschwung nach der Ordensaufhebung der Jesuiten auch nicht so radikal ausfiel wie z. B. in Mainz.59 Am deutlichsten wurde die Neuausrichtung der theologischen Studien nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 wohl am Studienplan des Abtes Stephan Rautenstrauch,60 der das von den Jesuiten gepflegte Diktieren abschaffte und erstmals das praktische Fach Pastoraltheologie einführte. Überhaupt kam es zu einer Konzentration auf die praktischen Fächer und zu einer Akzentverschiebung weg von der Dogmatik hin zur Moral. Durch das Aufgreifen der historischen Methode entstand das Fach Kirchengeschichte neu, die Ethisierung des Glaubens förderte das Entstehen der Moraltheologie, und der „Pragmatismus“ der Aufklärungszeit führte zur Herausbildung der Pastoraltheologie. Auf dem Niveau der Volksschule wirkten die Ideen des schlesischen Abtes Felbiger61 maßgebend, auch er wird uns im vorliegenden Sammelband noch beschäftigen. Die Reformen, die damals in den meisten Priesterausbildungsstätten der Diözesen durchgeführt wurden – auch der Aufschwung der Priesterseminarien in dieser Zeit ist erstaunlich – passen sich nahtlos in dieses Gedankengut ein. Die inhaltlichen Probleme der katholischen Theologie der Aufklärungszeit, die sich um eine weitgehende Ablösung der Scholastik bemühte, konzentrierten sich schwerpunktmäßig auf die Bereiche der (eigentlich erst im Entstehen begriffenen) Fundamentaltheologie sowie die beginnende Rezeption der historisch-kritischen Exe-
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„In Deutschland wurden die Universitäten Mainz und Würzburg die ersten Exponenten, denen andere folgten. Die Mainzer katholischen Theologen schickten ihre Studenten seit etwa 1780 nach Göttingen zu den Protestanten, da dort das Licht der neuen Bewegung am hellsten erstrahle.“ Martin SCHMIDT, Art. Aufklärung II: Theologisch. In: TRE 4, Berlin/New York 1979, S. 594-608, hier S. 601f. Vgl. SCHMITT, Umformung (wie Anm. 22), S. 28-30. – LESCH, Neuorientierung (wie Anm. 54). – Andreas KRAUS, Der Beitrag Frankens zur Entwicklung der Wissenschaften (1550-1800). In: Max SPINDLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte III/1, München 1971, S. 603-643. – Walter BRANDMÜLLER, Die kirchlich-religiöse Entwicklung: Die katholische Kirche zwischen Tridentinum und Säkularisation. Das Zusammenleben der Konfessionen. In: Andreas KRAUS (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte III/1: Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 1997, S. 845-877, hier S. 865-868. Vgl. Josef MÜLLER, Der pastoraltheologisch-didaktische Ansatz in Franz Stephan Rautenstrauchs „Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen“, Wien 1969 (WBTh 24). – DERS., Die Pastoraltheologie innerhalb des theologischen Gesamtkonzepts von Stephan Rautenstrauch (1774). In: Ferdinand KLOSTERMANN und Rolf ZERFASS (Hg.), Praktische Theologie heute, Mainz, München 1974, S. 42-64. Zur Biographie Rautenstrauchs vgl. Beda Franz MENZEL, Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Brevnov-Braunau, Königstein/Taunus 1969 (Veröffentlichungen des Königsteiner Institutes für Kirchen- und Geistesgeschichte der Sudetenländer, Bd. 5). Vgl. Ulrich KRÖMER, Johann Ignaz von Felbiger. Leben und Werk, Freiburg i. Br. 1966 (Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge, Bd. 22). – Peter BAUMGART, Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788). In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), S. 121-140.
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gese.62 In den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit löste sich letztlich auch im katholischen Bereich die Philosophie aus den Fesseln der Theologie.63 Im Zentrum der praktischen Reformen der katholischen Aufklärer stand, wie schon gesagt, das Schulwesen.64 Aber auch Liturgie und Predigt gelangten in den Gesichtskreis der Reformer, wofür die bekannten Hirtenbriefe reformerisch gesinnter Fürstbischöfe der damaligen Zeit viele Beispiele bieten.65 Es ging dabei u. a. um die Reduzierung der überhandnehmenden Anzahl der katholischen Feiertage, um die Eindämmung des Wallfahrtswesens,66 um die Einschränkung der Auswüchse der Heiligenverehrung, gerade auch im Hinblick auf die Toleranz gegenüber den Protestanten, und um die Subjektwerdung des Menschen in Katechese und Predigt. Vereinzelt wurde auch mit der deutschen Sprache im Gottesdienst experimentiert. Bei der Umsetzung dieser praktischen Reformen legten die katholischen Aufklärer manchmal unklugen und überstürzten Eifer an den Tag und berücksichtigten das religiöse Empfinden des Volkes oft zu wenig, was auch dazu beitrug, dass den Reformen meist keine Tiefenwirkung beschieden war. Das lässt sich gut an einem Zitat des Kölner Kurfürsten und Erzbischofs Max Franz von Österreich zeigen: „Wir wären im katholischen Deutschland der Aufklärung viel näher gekommen, wenn man mit Vorsicht und Menschenkenntnis stufenweise zu Werk gegangen wäre und nicht alles auf einmal hätte erstürmen wollen; tief eingewurzelte Vorurteile müssen zuerst untergraben und sodann gehoben, nicht aber mit einmal ausgerissen werden, sonst läuft man Gefahr, eine gefährliche Wunde zu schlagen.“67 Peter Hersche machte sogar eine gewisse „Rekonfessionalisierung als paradoxe Folge aufgeklärter Religionspolitik“ 62
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Zum sich abzeichnenden Wandel in der katholischen Exegese vgl. neben der in meinem Beitrag zu Johann Lorenz Isenbiehl in diesem Band genannten Literatur beispielsweise Sascha MÜLLER, Kritik und Theologie. Christliche Glaubens- und Schrifthermeneutik nach Richard Simon (16381712), St. Ottilien 2004. – DERS., Richard Simon (1638-1712). Exeget, Theologe, Philosoph und Historiker. Eine Biographie, Würzburg 2005. Zum Themenbereich Bibel und Aufklärung allgemein siehe neuerdings Christoph BULTMANN, Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012. Vgl. HEGEL, Einfluß der Aufklärung (wie Anm. 49), S. 27f. Einen sehr guten Überblick bietet auch Philipp SCHÄFER, Katholische Theologie in der Zeit der Aufklärung. In: Walter BRANDMÜLLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. II: Von der Glaubensspaltung bis zur Säkularisation, St. Ottilien 1993, S. 506-532. – DERS., Philosophie und Theologie im Übergang von der Aufklärung zur Romantik, dargestellt an Patriz Benedikt Zimmer, Göttingen 1971. Vgl. KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 30f. sowie Anton SCHINDLING, Zwölf Thesen zum katholischen Bildungswesen vor der Säkularisation von 1803. In: W. RÖDEL / R.E. SCHWERTFEGER (Hg.), Zerfall und Wiederbeginn. Vom Erzbistum zum Bistum Mainz (1792/97-1830), Mainz 2002 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 7), S. 83-86. Vgl. Franz Xaver HAIMERL, Probleme der kirchlichen Aufklärung als Gegenwartsanliegen. In: MThZ 12 (1961), S. 39-51, hier S. 39-43. – SCHWAIGER, Aufklärung (wie Anm. 4), S. 564f. – Peter HERSCHE (Hg.), Der aufgeklärte Reformkatholizismus in Österreich, Bern 1976, passim. Vgl. Bernhard SCHNEIDER, Wallfahrtskritik im Spätmittelalter und in der Katholischen Aufklärung. Beobachtungen zu Wandel und Kontinuität. In: DERS. (Hg.), Wallfahrt und Kommunikation – Kommunikation über Wallfahrt, Mainz 2004, S. 281-316. Max BRAUBACH, Die erste Bonner Hochschule. Maxische Akademie und kurfürstliche Universität 1774/77 bis 1798, Bonn 1966, S. 76.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
37
aus. Gegen die von oben angeordneten Reformen kam es zum Widerstand des einfachen Volkes aufgrund lebenspraktischer Aspekte wie z. B. einer gewissen Einkommensminderung durch die Feiertagsreduzierung.68 Allzu oft blieb deshalb die Rezeption der Aufklärung unter Katholiken eine bloße Elitenerscheinung. Trotzdem kann den meisten Reformern dieser Zeit weder die subjektive Redlichkeit noch der tiefe Ernst ihrer Bemühungen abgesprochen werden.69 Die innere Krise des Katholizismus aufgrund seiner nachtridentinischen Erstarrung hatte einen Teil des Nährbodens für die Rezeption der Aufklärung vorbereitet, denn die vorherrschende Vorstellung von innerkirchlicher Disziplin und die Behinderung der Freiheit der Forschung waren der kritischen Anfrage der neuen Philosophie nicht gewachsen. Rom verstand die pastorale Reformabsicht der katholischen Aufklärer nicht und distanzierte sich von ihnen.70 Das schadete dem Christentum in der folgenden Zeit mehr als alle Häresien der Philosophen zusammengenommen,71 weil die Kirche damals „weitgehend die lebendige Verbindung mit den geistig führenden Schichten“72 verloren hat.
3.2.
Geographische Schwerpunkte und Periodisierung
Geographisch gesehen lagen die Schwerpunkte der Aufklärung im katholischen Deutschland u. a. in Mainz, in Würzburg und Bamberg, in Trier sowie später in Salzburg.73 Allein die Tatsache, dass alle diese Städte Bischofssitze waren und sind, weist darauf hin, dass im katholischen Deutschland die Aufklärung der Kirche nicht fremd blieb. Was die Periodisierung74 der Katholischen Aufklärung betrifft, so setzt man im Allgemeinen die (katholische) Frühaufklärung etwa im Zeitraum von 1710 bis 1740 an. Ihr Kennzeichen sind die Einflüsse aus dem italienischen und westeuropäischen Raum (Mauristen, Muratori), während protestantisches Gedankengut noch eine gerin68
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Vgl. Peter HERSCHE, „Lutherisch werden“ – Rekonfessionalisierung als paradoxe Folge aufgeklärter Religionspolitik. In: Gerhard AMMERER / Hanns HAAS (Hg.), Ambivalenzen der Aufklärung. Festschrift für Ernst Wangermann, München 1997, S. 155-168. Vgl. SCHWAIGER, Aufklärung (wie Anm. 4), S. 562. Vgl. Philipp SCHÄFER, Die Grundlagen der Aufklärung in katholischen Beurteilungen der Aufklärung. In: Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland (wie Anm. 26), S. 54-66, hier S. 63f. WICKI, Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 33), S. 40 u. 43f. BENDEL, Seelsorger (wie Anm. 32), S. 10. Vgl. KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 31-33. – DERS., Die Bedeutung der Salzburger Spätaufklärung für die europäische Geistesgeschichte – oder: Salzburg als Zentrum der deutschen katholischen Aufklärung. In: Gerhard AMMERER / Alfred Stefan WEISS (Hg.), Die Säkularisation Salzburgs 1803. Voraussetzungen – Ereignisse – Folgen, Frankfurt a. M. 2005, S. 37-55. – Jochen KRENZ, Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bremen 2012 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge, Bd. 66), S. 65. Vgl. HEGEL, Einfluß der Aufklärung (wie Anm. 49), S. 23-25 und in Anlehnung daran KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 13-15.
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ge Rolle spielt.75 Den eigentlichen Beginn sieht man 1730/40 mit dem Durchbruch der Rezeption Christian Wolffs, vermittelt durch Ickstatt, der zunehmenden Kritik an der Lehrmethode der Jesuiten sowie der Reform der Kanonistik durch Johann Kaspar Barthel gegeben. Es zeigt also schon allein durch die wenigen genannten Beispiele, dass Würzburg eines der Einfallstore am Beginn dieser Reformbewegung war, wovon schon allein wegen der Personalunion der Fürstbischöfe auch Bamberg profitierte. Einen entscheidenden Einschnitt und vor allem den Beginn der Hauptphase der Katholischen Aufklärung bildete die Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773, weil dadurch die Aufklärer mit einem Schlag die notwendigen Mittel in die Hand bekamen, um ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Schon 1780 setzte die dritte und letzte Phase ein, charakterisiert durch die organisatorische Neuordnung der Hochschulen – oft am Vorbild Göttingen orientiert – und den Antritt der Alleinregierung Josephs II. in Österreich, dessen Politik beachtliche Auswirkungen auf das Reich und v. a. die geistlichen Wahlstaaten zeitigte. Nach dem Beginn der Revolution 1789 in Frankreich verlor auch die Katholische Aufklärung aus Furcht vor den vermeintlichen Folgen des Rationalismus sehr schnell an Elan. 1802 wurde ihr durch das Ende der Reichskirche im Reichsdeputationshauptschluss76 schließlich die materielle Basis entzogen. Trotzdem wirkte sie, vor allem was ihre Breitenwirkung betrifft, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch lange nach und fand erst durch den erstarkten Ultramontanismus unter Pius IX. das endgültige Ende.77 Natürlich hatte es immer schon Gegenströmungen gegeben, die im Sinn einer „Gegenaufklärung“78 insbesondere von konservativen Kreisen der Kirche – so nicht selten von ehemaligen Angehörigen des Jesuitenordens – unterstützt wurden und die nach den aus der Sicht der Kirche bedrohlich erscheinenden politischen Umwälzungen erst recht Gehör fanden. 75
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Vgl. HAMMERMAYER, Gordon (wie Anm. 24), S. 64-70. – KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 10-13, bezeichnet den Jansenismus – der sich allerdings außerhalb Österreichs nur wenig auswirkte – und die protestantische Aufklärung aus dem norddeutschen Raum als Wurzeln der Katholischen Aufklärung, während RAAB, Rezension (wie Anm. 49), S. 263, in Bezug auf die praktischen Reformen zusätzlich auf ein bereits vor der Aufklärung verbreitetes reformkatholisches Bemühen um den „Guten Hirten“ hinweist. – Zum Einfluss Muratoris vgl. den Sammelband Fabio MARRI / Maria LIEBER / Christian WEYERS (Hg.), Lodovico Antonio Muratori und Deutschland. Studien zur Kultur- und Geistesgeschichte der Frühaufklärung, Frankfurt a. M. 1997. Vgl. Ingo KNECHT, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, Berlin 2007 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 77). Vgl. KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 34f. Vgl. Theo JUNG, Gegenaufklärung: Ein Begriff zwischen Aufklärung und Gegenwart. In: Dietmar J. WETZEL (Hg.), Perspektiven der Aufklärung. Zwischen Mythos und Realität, München 2012, S. 87-100 (Laboratorium Aufklärung 12). – Hans Christof KRAUS, Gegenaufklärung, Spätromantik, Konservativismus. Zu einigen neueren Veröffentlichungen. In: Historische Zeitschrift 269 (1999), H. 2, S. 371-413. – Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004. – Christine VOGEL, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung, Mainz 2006. – KRENZ, Konturen (wie Anm. 73), bes. S. 31-38.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
3.3.
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Zur Auseinandersetzung um die „Aufklärung“ in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung vor und nach dem Modernismusstreit: Die Thesen Sebastian Merkles als Meilenstein79
Auch wenn die praktischen Auswirkungen der Reformmaßnahmen der Aufklärungszeit noch lange nach der Säkularisation spürbar blieben, so stellt doch der Reichsdeputationshauptschluss mindestens einen wesentlichen Wendepunkt dar, weil dadurch die „Geschäftsgrundlage“80 der deutschen katholischen Kirche tiefgreifend verändert wurde. Im 19. Jahrhundert erstarkten auch innerhalb der Kirche schnell restaurative Kräfte, die sich inhaltlich gegen die Tendenzen der Aufklärung wandten und schließlich vorherrschend wurden.81 Dementsprechend änderte sich auch die Bewertung dieser Epoche durch die katholische Kirchengeschichtsschreibung. Als Exponent dieser aufklärungskritischen Richtung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts kann Heinrich Brück angesehen werden, der 1865 in seinem Aufsatz über „Die rationalistischen Bestrebungen im katholischen Deutschland“ z. B. den Ausgang des Falls Isenbiehl mit den Worten kommentierte: „Auf diese Weise wurde der Versuch, die protestantisch-theologische Kritik auf eine katholische Hochschule zu verpflanzen, noch rechtzeitig unterdrückt.“82 Noch 1907 schrieb L. Baur im Artikel „Aufklärung“ im Kirchlichen Handlexikon: „Der aufklärerische Geist drang auch in die katholische Theologie ein. Vorschub leistete dafür die Verweltlichung des höheren Klerus, der ganz von gallikanischen Ideen erfüllt war (Febronius), und die Minierarbeit geheimer Gesellschaften (Freimaurer, Illuminaten). Die protestantische Aufklärungsliteratur wurde fleißig studiert. Man eiferte gegen die veraltete und verrostete Scholastik in der Theologie, gegen die jesuitische Kasuistik, forderte Toleranz.“83 Diese Einstellung katholischer Kirchenhistoriker und Theologen gegenüber der Aufklärungszeit änderte sich erst, nachdem sich der Würzburger Professor Sebastian Merkle 1908 in einem im wahrsten Sinn des Wortes Epoche machenden Vortrag für eine differenziertere Beurteilung des Aufklärungszeitalters in der katholischen Kirche eingesetzt hatte und dabei auch den Begriff einer „katholischen Aufklärung“ verwendete. Auch wenn Merkle selbst nicht ohne weiteres dem Modernismus zugerechnet 79 80 81 82
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Vgl. zum Folgenden grundlegend SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), an dessen Dreiteilung der Forschungsgeschichte ich mich in den Abschnitten 2.3.-2.5. orientiere. KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 35. Vgl. ebd., S. 34f. Heinrich BRÜCK, Die rationalistischen Bestrebungen im katholischen Deutschland, besonders in den drei rheinischen Erzbisthümern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Mainz 1865, S. 63. Die Ergebnisse dieser Studie flossen auch in den von Brück verfassten Artikel „Aufklärung, wahre und falsche“ in der 2. Auflage von Wetzer und Weltes Kirchenlexikon ein, der wohl die totale Umkehrung der Einschätzung einer Epoche innerhalb von 100 Jahren am eindrucksvollsten dokumentiert. Vgl. dazu SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 230f., der auch nachweist, dass die Haltung Brücks die Einstellung der gesamten deutschsprachigen katholischen Kirchengeschichtsschreibung für lange Zeit dominierte. BAUR, Aufklärung (wie Anm. 41), Sp. 403.
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werden kann, so ist die folgende teilweise heftige Debatte um seine Auffassung wohl nur auf dem Hintergrund der damals aktuellen kirchenpolitischen Spannungen zu erklären.84 Hauptkontrahenten Merkles waren dabei die beiden südwestdeutschen Kirchenjuristen Adolf Rösch und Johann Baptist Sägmüller85, für die Aufklärung gleichbedeutend mit „Rationalismus und Antisupranaturalismus“ war.86 Im Hinblick auf meinen Beitrag zu Rautenstrauch und Isenbiehl sei deshalb hier angemerkt, dass sich auf der einen Seite bei einem der Hauptvertreter des Modernismus, Alfred Loisy, seine kritische Distanz zum kirchlichen Lehramt in exegetischen Fragen genau an jener Stelle entzündete, die schon Isenbiehl beschäftigt hatte, nämlich dem rechten Verständnis von Jesaja 7,14.87 Am Ende setzte sich jedoch die Linie Merkles durch.88 In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bemerkte schließlich Franz Schnabel, der in der Tradition Merkles stand: „Das vielfältig schillernde Bild der ‚katholischen
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Vgl. zur Modernismuskrise Norbert TRIPPEN, Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland. Freiburg i. Br. 1977, sowie Otto WEIß, Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995. Vgl. z. B. die Ausführungen SÄGMÜLLERS im Vorwort seiner Monographie über Die kirchliche Aufklärung am Hofe des Herzogs Karl Eugen von Württemberg (1744-1793), Freiburg 1906, S. VIf.: „Sollte da und dort das Urteil über die kirchliche Aufklärung und die Hofprediger anscheinend zu scharf ausgefallen sein, so hat die Geschichte über die kirchliche Aufklärungsperiode im Wesentlichen bereits nicht weniger hart gerichtet. Und sollten aus dem Geschilderten scharfe, ja erschreckende Reflexlichter auf gewisse moderne, keineswegs ungefährliche Bewegungen fallen, so würde der Verfasser darin einen weiteren, und zwar nicht den geringsten Nutzen seiner Arbeit sehen.“ Siehe auch die Klage Sägmüllers über die „vernunftgemäß[e]“ Erneuerung der Theologie gegen den Widerstand „geisteskräftige[r] Jesuiten“, ebd., S. 3. Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Merkle und seinen Gegnern SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 232-234 (mit bibliographischen Angaben), das Zitat S. 234, sowie Hans MAIER, Die Katholiken und die Aufklärung. Ein Gang durch die Forschungsgeschichte. In: Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland (wie Anm. 26), S. 40-53, hier S. 44-46. – Hubert WOLF, Milieustabilisierende Apologie oder Schnittstelle zur Moderne? Sebastian Merkle und seine Konzeption von Kirchengeschichte im Spannungsfeld von Gegengesellschaft und Integration. In: RJKG 20 (2002), S. 123-140. Vgl. auch DERS., „Ein dogmatisches Kriterium der Kirchengeschichte“? Franz Xaver Funk (1840-1907) und Sebastian Merkle (1862-1945) in den Kontroversen um die Identität des Faches. In: Reimund HAAS / Karl Josef RIVINIUS / Hermann-Josef SCHEIDGEN (Hg.), Im Gedächtnis der Kirche neu erwachen. Studien zur Geschichte des Christentums in Mittel- und Osteuropa. Festgabe für Gabriel Adriányi zum 65. Geburtstag, Köln, Weimar, Wien 2000 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Bd. 22), S. 713-732, hier S. 720-723. Vgl. WEIß, Modernismus (wie Anm. 84), S. 79. Zur von SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 234, diskutierten Frage, ob sich die neue Auffassung Merkles, zwischen katholischer Kirche und Aufklärung nicht mehr nur einen schroffen Gegensatz sehen zu wollen, „in Kürze“ (so MAIER, Katholiken (wie Anm. 86), S. 46) oder eher „allmählich“ durchgesetzt habe (so Schneider selbst, der sich Sylvaine REB, L’Aufklärung catholique à Salzbourg (1772-1803), 2 Bde., Bern u. a. 1995, hier Bd. 1, S. 3, anschließt), ist wohl eher letzteres anzunehmen.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
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Aufklärung’ ist daher nur biographisch und auf Grund weitverzweigter Einzelforschungen zu erfassen.“89
3.4.
Die neuere Diskussion bis einschließlich des Sammelbandes „Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland“
In der Kirchengeschichtsschreibung beschäftigt man sich seit den sechziger Jahren verstärkt mit dem Phänomen „Katholische Aufklärung“, was auch mit der kirchenpolitischen Neuorientierung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zusammenhängt.90 Trotzdem sind manche Teilbereiche des Themenfeldes noch nicht erforscht; daher fehlt es auch noch an einer zusammenfassenden Studie. Auffallend ist weiterhin die Tatsache, dass eine Definition des Begriffs „Katholische Aufklärung“ zunächst nicht erfolgte, auch nicht im Standardwerk „Handbuch der Kirchengeschichte“. Bernhard Schneider unterscheidet zwei Grundströmungen innerhalb der katholischen Kirchengeschichtsschreibung in Bezug auf die Bewertung der Aufklärungsepoche innerhalb der Kirche: Der einen Richtung, die ein Hauptcharakteristikum katholischer Aufklärung im Festhalten an den Glaubenslehren der Kirche sieht, rechnet er Fritz Valjavec91, Georg Schwaiger92 und Anton Schindling93 zu; der anderen Interpretatorengruppe, die eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von katholischem Glauben und Aufklärung postulieren, gehören v. a. Karl Otmar von Aretin94 und Peter Hersche95 an.96 Einen entscheidenden neuen Impuls gewann die Diskussion um die Katholische Aufklärung durch die Tagung unter dem Motto „Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland“, die 1988 in Trier stattfand und deren Beiträge 1993 von Harm Klueting in einem Sammelband publiziert wurden.97 Der erstere As89 90 91 92 93 94
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Franz SCHNABEL, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4: Die religiösen Kräfte, Freiburg i. Br. 31955, S. 11. „Aufbruchszeiten der Kirchen fanden zu einer sachlicheren Beurteilung des Aufklärungszeitalters“, stellt auch BENDEL, Seelsorger (wie Anm. 32), S. 1, fest. Vgl. VALJAVEC, Aufklärung (wie Anm. 9), bes. S. 174-187. Vgl. SCHWAIGER, Aufklärung (wie Anm. 4). Vgl. Anton SCHINDLING, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung. Zur Problematik und Begriffsgeschichte einer Reform. In: WDGB 50 (1988), S. 215-224. Vgl. Karl Otmar Freiherr von ARETIN, Katholische Aufklärung im Heiligen Römischen Reich. In: DERS., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuttgart 1986, S. 403-433. Vgl. Peter HERSCHE, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977, bes. S. 390-405. Vgl. SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 235-237. Wie Anm. 26. Vgl. auch Carsten ZELLE, Tagungsbericht „Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland“ (Trier 1988). In: Das 18. Jahrhundert 12 (1988), S. 127-133, bzw. Helmut ZANDER, Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. Eine Tagung der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts“ vom 16.-18. November 1988 in Trier. In: ZKG 100 (1989), S. 231-239 sowie die Besprechungen zu diesem
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pekt des Tagungsthemas repräsentiert dabei im Gefolge der Merkle-Tradition die Auffassung, es gebe eine grundsätzliche Vereinbarkeit von Katholizismus und Aufklärung, während der zweite Aspekt die Unverträglichkeit beider Strömungen postuliert und somit annimmt, die Aufklärung sei etwas dem Katholizismus Wesensfremdes und habe sozusagen lediglich zeitweise in katholischen Landstrichen ein „Gastspiel“ gegeben. Harm Klueting selbst schließt sich zwar tendenziell der zweiten Deutungslinie an und spricht von der „Illusion einer Versöhnung oder Verbindung von Katholizismus und Aufklärung“, möchte aber trotzdem für diese Epoche des Übergangs den Begriff „katholische Aufklärung“ verwenden.98
3.5.
Katholische Aufklärung als Projekt einer „Verheutigung“ des Glaubens (Bernhard Schneider)
Wenn es stimmt, dass die Aufklärung als Reflexion auf die in ihm liegenden Entwicklungsmöglichkeiten dem Menschen wesentlich ist, und wenn die Offenbarung selbst einen „deutlich aufklärerischen Zug“99 erkennen lässt, dann drängt sich die Frage auf, ob die Aufklärung nicht sogar ein genuin kirchliches Anliegen100 darstellt, das im Zeitalter der Aufklärung auch im kirchlichen Bereich verstärkt aufgegriffen wurde, oder ob es sich dabei lediglich um eine hoffnungslose Utopie101 handelt: Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Beurteilung der Katholischen Aufklärung überhaupt ab, wie die Forschungsgeschichte zeigt.102 Bernhard Schneider bejahte sie in seinem Habilitationsvortrag: „Ich möchte meinerseits dafür plädieren, am Begriff
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Meilenstein der Erforschung der Katholischen Aufklärung von Philipp SCHÄFER, Literaturbericht zu „Katholische Aufklärung“. In: Theologische Revue 92 (1996), S. 89-106, hier S. 96100, und SCHWAIGER, Rezension (wie Anm. 7). Zur Forschung über die Aufklärungsepoche in der evangelischen Theologie vgl. Kurt NOWAK, Vernünftiges Christentum? Über die Erforschung der Aufklärung in der evangelischen Theologie Deutschlands seit 1945, Leipzig 1999 (Forum Theologische Literaturzeitung, Bd. 2). Vgl. KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 9. Klueting greift hier Überlegungen Aretins auf, vgl. ARETIN, Katholische Aufklärung (wie Anm. 94), S. 431. Die bereits 1940 von Alois Stiefvater vorgeschlagene, in etwa vergleichbare Unterscheidung der „Aufklärung in der Kirche“ von einer „kirchlichen Aufklärung“ hat sich – zumindest was die vorgeschlagenen Begriffe betrifft – nicht durchgesetzt. Vgl. Alois STIEFVATER, Das Konstanzer Pastoral-Archiv. Ein Beitrag zur kirchlichen Reformbestrebung im Bistum Konstanz unter dem Generalvikar I. H. von Wessenberg 1802-1827, Freiburg i. Br. 1940, S. 11. BENDEL, Seelsorger (wie Anm. 32), S. 1. Vgl. auch SECKLER, Aufklärung und Offenbarung (wie Anm. 10), der bereits in der Einleitung (hier S. 9) auf den engen Bezug zwischen Aufklärung und Offenbarung hinweist: Beiden geht es um „Erhellung“, sie verfolgen ihren Wahrheitsdienst als letztes Anliegen und treten mit ganzheitlichen Ansprüchen auf. So konnte schon 1966 der evangelische Kirchenhistoriker Klaus Scholder auch von einer „Aufklärung mit und durch Theologie und Kirche“ sprechen, zitiert nach KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 3. So Eduard WINTER, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740-1848, Berlin 1962, S. 352-355. Vgl. BENDEL, Seelsorger (wie Anm. 32), S. 1.
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‚Katholische Aufklärung’ als einem Begriff festzuhalten, der eine Realität beschreiben will, und zwar die Realität einer uneinheitlichen, offenen Bewegung, die ein Projekt einer ‚Verheutigung des Glaubens’ unternommen hat.103 Dieser Begriff beschreibt die vielen Entwurfsversuche für einen ‚heutigen Katholizismus’, der die Wirklichkeit im Lichte des (vernünftigen) Glaubens und den Glauben im Lichte des gewandelten Verhältnisses zur Wirklichkeit wahrnehmen und konkret ausgestalten wollte.“104 Den katholischen Reformern der Aufklärungszeit ging es um die Kommunikabilität des Glaubens im Sinne einer Reaktion auf die Zeichen der Zeit, wobei sie aber kein einheitliches Lehrsystem ausbildeten. Züge, die die Aufklärung im Allgemeinen auszeichnen, waren auch deren katholischer Spielart nicht fremd: Man vertrat ein optimistisches Menschenbild verbunden mit einem bestimmten Humanitätsideal, übte Toleranz, huldigte einem gewissen Utilitarismus und legte generell eine Reformgesinnung an den Tag.105 Gemeinsam mit der breiten Strömung der Aufklärung waren der Katholischen Aufklärung auch die bürgerliche gesellschaftliche Basis, die Methode (Betonung von Bildung und Erziehung) sowie die Kommunikationsstrukturen (Gesellschaften, Periodika, Volkssprache). Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die katholische Spielart der Aufklärungsbewegung unbestreitbar einen Bestandteil der Aufklärung selbst darstellt.106 Utopische Elemente und Fehlentwicklungen stellen nicht das Gesamtanliegen als solches in Frage. Ebenso wenig die Tatsache, dass diese katholische Reformbewegung wesentliche Elemente aus dem protestantischen Bereich übernommen hatte, denn diese wurden zumeist katholisch adaptiert. Das Adjektiv „katholisch“ bezieht sich daher auf die sozialen, kulturellen und inhaltlichen Besonderheiten des Aufklärungskatholizismus, die z. B. schon allein durch die Sonderstellung der katholischen Kirche innerhalb der Reichsverfassung107 oder durch dogmatische Unterschiede (Heiligenverehrung, Feiertage) bedingt waren. Die Herkunft der Aufklärer aus einem konfessionell katholisch geprägten Milieu, das generelle Festhalten an den Glaubenslehren der Kirche, die Betonung der ethischen 103 104 105
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In diesem Sinn sprach auch Franz Xaver Haimerl 1961 über „Probleme der kirchlichen Aufklärung als Gegenwartsanliegen“, vgl. HAIMERL, Probleme (wie Anm. 65). SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 239f. Vgl. SCHINDLING, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung (wie Anm. 93), S. 218. – Matthias J. FRITSCH, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 28). Schneider bezeichnet die Behauptung eines Gegensatzes zwischen Katholizismus und Aufklärung als „ideologisches Konstrukt“. Vgl. SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 241. Auch KLUETING, Genius (wie Anm. 49), S. 3, hatte – indem er ein Bild Helmut Zanders aufgriff – von den „zwei Brillen“ gesprochen, die bei der Beurteilung der Katholischen Aufklärung abzulegen seien: Die der protestantischen (bzw. konfessionslosen) Verächter sowie die der restaurativen Katholiken. So wies z. B. Heribert Raab darauf hin, dass die geistlichen Wahlstaaten von ihrer Verfassungsstruktur her (Privilegien der Klöster, wechselnde Obere, Rolle der Domkapitel) für die administrative Aufklärung weniger günstige Ausgangspositionen zu bieten hatten als absolutistischdynastische Herrschaftsformen, vgl. RAAB, Rezension (wie Anm. 49), S. 261.
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Seite des Christentums sowie die Gegnerschaft zu Jesuiten und Barockfrömmigkeit108 waren dafür charakteristisch.109 Was Aufklärung heißt, kann immer nur im jeweiligen Kontext bestimmt werden, d. h. was im Katholizismus ausgesprochen aufklärend wirkte, kann in seiner Bedeutung für andere Sektoren der Gesellschaft durchaus marginal geblieben sein. Bezeichnet man die Aufklärung allgemein als Befreiung von derjenigen Überlieferung, „die der kritischen Prüfung der autonomen Vernunft nicht standzuhalten vermag“110, dann gab es, gibt es und muss es auch in Zukunft eine katholische Spielart der Aufklärung geben, die sich eben mit der katholischen Tradition auseinandersetzt bzw. die von Katholiken betrieben wurde (und wird).111 Damit wird jedoch nicht behauptet, dass dieser Prozess der Übernahme und der Anpassung aufklärerischen Denkens in den katholischen Reichsteilen in einer „konfessionsspezifischen ‚katholischen Aufklärung’“ aufgegangen sei, so als ob die zweifellos vorhandenen „Gemeinsamkeiten zwischen der Aufklärung in protestantischen und katholischen Staaten außerhalb des Bereichs von Theologie und Kirche“ bei Schneiders Konzeption zwangsläufig unterbelichtet bleiben müssten.112 „In diesem Sinn ist ‚Katholische Aufklärung’ keine Mogelpackung mit einem falschen Etikett, aber ganz gewiß ein großes Überraschungspaket, dessen Inhalt noch genauer zu ergründen eine ebenso spannende wie lohnende Aufgabe ist. Erst wenn dieser Inhalt noch genauer untersucht sein wird, wird sich 108
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Johann Pörnbacher hebt dagegen in seiner exzellenten Studie über das Kloster Rottenbuch im 18. Jahrhundert die gegenseitige Verschränkung von Barock und Aufklärung hervor und betont die naturwissenschaftlichen Bemühungen der Mönche. Pörnbacher spricht sich dezidiert für die Existenz einer genuin katholischen Spielart der Aufklärung aus. Vgl. Johann PÖRNBACHER, Das Kloster Rottenbuch zwischen Barock und Aufklärung (1740-1803), München 1999 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, Bd. 123), S. 10-34. Vgl. SCHINDLING, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung (wie Anm. 93), S. 219. Auch SCHÄFER, Literaturbericht (wie Anm. 97), Sp. 99, spricht innerhalb der katholischen Aufklärung von einer „Eigenbewegung, die mit Eigenarten des katholischen Bekenntnisses zusammenhängt“. PIEPMEIER, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 581. „Was Aufklärung jeweils heißt, bestimmt sich wesentlich von den staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen, auf die sie sich bezieht. Auch theoretische Fragen stellt die Aufklärung bewußt von Handlungszusammenhängen her und zielt wieder auf diese zurück.“ Ebd., S. 576. Auf diese Gefahr wies Georg Seiderer hin (vgl. SEIDERER, Rezension zu Reinhold Bohlen (Hg.), Dominikus von Brentano 1740-1797. In: ZBLG 62 (1999), S. 323-325, hier S. 325; dort auch die Zitate; Hervorhebung von mir), der auch befürchtet, Schneider unterschätze möglicherweise in seiner Konzeption im Rahmen einer allzu starken Harmonisierung von Katholizismus und Aufklärung die der letzteren „innewohnenden säkularisierenden Tendenzen“ (ebd). Seiderer plädiert deshalb für die Bezeichnung „Aufklärung im katholischen Deutschland“ als „umfassendere[n] Begriff“ (ebd.). Ähnlich wie Schneider hingegen J. QUENIART, L’Aufklärung chrétienne en France. In: Miscellanea Historiae Ecclesiasticae VI. Congrès de Varsovie 1978, Section II: Les courants chrétiens de l’Aufklärung en Europe de la fin du XVIIe siècle jusque vers 1830, Bruxelles 1987, S. 23-39, hier S. 29. Zum einen habe es eine Partizipation von Katholiken am allgemeinen Strom der Aufklärung gegeben, der sie aber umfasst und überstiegen habe. Davon sei zu unterscheiden, wenn auch nicht entgegenzusetzen, das Konzept „d’une Aufklärung spécifiquement catholique, qui ne peut être invoquée à titre d’hypothèse que pour des démarches dont à la fois les motivations et le but sont avant tout religieux“.
Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung
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auch noch genauer zeigen, wie die Gesamtbilanz all jener zahlreichen Bemühungen ausfällt, die in der Summe das Projekt ‚Katholische Aufklärung’ ausmachten.“113
3.6.
Die Internationalisierung der Forschung
Die jüngste Phase der Forschungsgeschichte zeichnet eine Internationalisierung der Frage nach der Katholischen Aufklärung aus, die vor allem durch die Veröffentlichungen von Ulrich L. Lehner114 und Michael Printy115 gekennzeichnet ist. Der 2010 von beiden herausgegebene Sammelband „A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe“116 zeichnet die verschiedenen nationalen Spielarten der Katholischen Aufklärung jeweils begleitet von einer umfassenden Literaturzusammenstellung nach. Lehner weist in der Einleitung des Werkes darauf hin, dass es bisher an einer multinationalen, vergleichenden Geschichtsschreibung im Bereich der Katholischen Aufklärung gefehlt habe, die im internationalen Vergleich die Ähnlichkeiten herausarbeitet und gleichzeitig auf die bestehenden Unterschiede hinweist, was möglicherweise daran liege, dass noch immer keine internationale Forschungsgesellschaft für diese Thematik existiert.117 Die einzelnen Beiträge widmen sich dem Forschungsstand in verschiedenen europäischen Ländern bzw. Kulturkreisen. Der Überblick über die Katholische Aufklärung in Frankreich stammt von Jeffrey D. Burson.118 In dieser Zusammenfassung seiner früheren Forschungen arbeitet er die Besonderheiten der Katholischen Aufklärung in Frankreich heraus, die u. a. darin bestanden, dass durch die Auseinandersetzungen um den Jansenismus der Glaube insgesamt an Glaubwürdigkeit verloren hatte, wodurch indirekt die radikale, glaubensfeindliche Aufklärung gestärkt wurde.119 Die 113 114
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SCHNEIDER, Katholische Aufklärung (wie Anm. 48), S. 244. Ulrich L. LEHNER (Hg.), Beda Mayr – Vertheidigung der katholischen Religion (1789). Leiden 2009. – DERS., Catholic Enlightenment (wie Anm. 48). – DERS., Enlightened Monks (wie Anm. 56). Michael PRINTY, Enlightenment and the Creation of German Catholicism, Cambridge 2009. Ulrich L. LEHNER / Michael PRINTY (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden, Boston 2010 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 20). Ulrich L. LEHNER, Introduction: The Many Faces of the Catholic Enlightenment. In: DERS. / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 1-61, bes. S. 2. Inhaltlich vgl. DERS., Catholic Enlightenment (wie Anm. 48). Jeffrey D. BURSON, The Catholic Enlightenment in France from the Fin de Siècle Crisis of Consciousness to the Revolution, 1650-1789. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 63-125. Jeffrey D. BURSON, Towards a New Comparative History of European Enlightenment: The Problem of Enlightenment Theology in France and the study of Eighteenth Century Europe. In: Intellectual History Review 18 (2008), S. 173-187. – DERS., The Crystallization of CounterEnlightenment and Philosophe Identities: Theological Conflict and Catholic Enlightenment in Pre-Revolutionary France. In: Church History 77 (2008), S. 1-47. – DERS., The Rise and Fall of Theological Enlightenment: Jean-Martin de Prades and Ideological Polarization in EighteenthCentury France, Notre Dame 2010. – Christine VOGEL, Von Voltaire zu Le Paige – Die fran-
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habsburgischen Länder behandelt Harm Klueting, der als Spezifika die traditionelle Allianz zwischen dem Herrscherhaus und der katholischen Kirche, die sich vor allem auch im Josephinismus120 auswirken sollte, sowie die relativ starken jansenistischen Strömungen hervorhebt.121 Die Verhältnisse im Heiligen Römischen Reich erörtert Michael Printy, der dabei besonders die herausragende Rolle der Kirche in der Verfassung des Reiches betont, denn in Deutschland konnte die Kirche nicht reformiert werden, ohne dabei die Grundlagen des Staates zu berühren. Radikale Formen der Aufklärung blieben der Katholischen Aufklärung Deutschlands im Gegensatz zu den Verhältnissen in Frankreich weitgehend fremd.122 Mario Rosa kommt in seiner Studie über die Katholische Aufklärung in Italien zu dem Schluss, dass sich diese dort nur unter erschwerten Bedingungen entfalten konnte, da sie zwischen einer sich zuneh-
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zösische Aufklärung und der Jansenismus. In: Wolfgang HARDTWIG (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen 2010 (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 23), S. 77-99. Derek BEALES, Joseph II. 2 Bde., Cambridge 1987 u. 2009. – Franz Leander FILLAFER, Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene. Überlegungen zu einer Geschichte des josephinischen Erbes in der Habsburgermonarchie. In: Christian EHALT / Jean MONDOT (Hg.), Was blieb vom Josephinismus? Innsbruck 2010, S. 27-56. – DERS., Rivalisierende Aufklärungen: Die Kontinuität und Historisierung des josephinischen Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie. In: HARDTWIG, Weltwirkung (wie Anm. 119), S. 123-169. – DERS., Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick. In: ZHF 40 (2013), S. 35-97. – Helmut REINALTER (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Wien, Köln, Weimar 2008. – Julia Anna RIEDEL, Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung. Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II., Stuttgart 2012 (Contubernium 77). – Wolfgang SCHMALE (Hg.), Josephinismus – Eine Bilanz / Échecs et réussites du Joséphisme, Bochum 2008 (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Bd. 22). – DERS., Das 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2012 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Bd. 15). – DERS., Ist Josephinismus Aufklärung? In: STOCKHORST (Hg.), Epoche und Projekt (wie Anm. 3), S. 75-89. – Ute STRÖBELE, Zwischen Kloster und Welt. Die Aufhebung südwestdeutscher Frauenklöster unter Kaiser Joseph II., Köln, Weimar, Wien 2005. – Thomas WALLNIG / Johannes FRIMMEL / Werner TELESKO (Hg.), 18th Century Studies in Austria (1945-2010), Bochum 2011 (The Eighteenth Century and the Habsburg Monarchy. International Series, Bd. 4). Harm KLUETING, The Catholic Enlightenment in Austria or the Habsburg Lands. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 125-164. Vgl. die weiteren einschlägigen Arbeiten Kluetings: DERS., Einleitung. In: DERS. (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darmstadt 1995 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 12a), S. 1-16. – DERS., „Quidquid est in territorio, etiam est de territorio“. Josephinisches Staatskirchentum als rationaler Territorialismus. In: Der Staat 37 (1998), S. 417-434. – DERS. / Helmut REINALTER (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien 2002. – DERS., Art. Aufklärung, katholische. In: Helmut REINALTER (Hg.), Lexikon zum aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher-Denker-Sachbegriffe, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 127-131. – DERS., Die Diözesanregulierung unter Kaiser Joseph II. in der österreichischen Monarchie. In: Edeltraud KLUETING / Harm KLUETING / Hans-Joachim SCHMIDT (Hg.), Bistümer und Bistumsgrenzen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Rom 2006, S. 170-194. Michael PRINTY, Catholic Enlightenment and Reform Catholicism in the Holy Roman Empire. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 165-213. Er greift dabei auf sein grundlegendes Werk „Enlightenment and the Creation of German Catholicism“ zurück, vgl. Anm. 115.
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mend intransigent entwickelnden Kirche und staatlichen Säkularisationsprozessen eingekeilt gewesen sei.123 Bezogen auf die Verhältnisse in Malta stellt Frans Ciappara fest, dass dort radikale Formen der Aufklärung nicht Platz greifen konnten; kennzeichnend für die dortige Katholische Aufklärung seien die Verbesserung der Ausbildung des Klerus sowie eine gewisse Zurückdrängung der bischöflichen Macht zugunsten einer Allianz zwischen den Ordensgroßmeistern und den Pfarrern gewesen.124 Mit der Rolle von Katholizismus und Aufklärung in Polen/Litauen setzt sich Richard Butterwick auseinander,125 während Evergton Sales Souza die Situation in Portugal126 und Andrea J. Smidt die Lage in Spanien127 beleuchten. Auf der Iberischen Halbinsel strebte die Katholische Aufklärung eine Stärkung der lokalen Kirche an und hatte teilweise stark regalistische Züge. Der „Companion“ bietet erstmals einen Überblick über die internationale Forschung zur Katholischen Aufklärung, wobei deren Erforschung in Ländern, in denen die Katholiken in der Minderheit waren (z. B. auf den Britischen Inseln) bzw. in den Kolonien katholischer Staaten immer noch in den Kinderschuhen steckt, was Lehner als bleibendes Desiderat anmerkt.128
4.
Aufklärer und Aufklärung: Machen Männer die Geschichte?
„Aber natürlich sind auch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts nie nur Aufklärer gewesen. Sie haben – nicht selten widersprüchlich in sich selbst – immer auch an vielen anderen Strömungen ihrer Zeit teilgenommen, z. T. sogar an deutlich gegenaufklärerischen Tendenzen. […] Kurz, es gibt auch im Zeitalter der Aufklärung keinen chemisch reinen Aufklärer.“129 Mit dieser Feststellung von Werner Schneiders soll kurz noch die Frage nach dem inneren und äußeren Gestaltungsrahmen der Protagonisten 123 124 125
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Mario ROSA, The Catholic Aufklärung in Italy. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 215-250. Frans CIAPPARA, The Maltese Catholic Enlightenment. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 251-295. Richard BUTTERWICK, Catholicism and Enlightenment in Poland-Lithuania. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 297-358. Vgl. DERS., What is Enlightenment (Oswiecenie)? Some Polish Answers, 1765-1820. In: Central Europe 3 (2005), S. 19-37. – Christoph SCHMIDT, Von der Schaukel aufs Schafott: Die polnische Aufklärung. In: Alexander KRAUS / Andreas RENNER (Hg.), Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt a. M. 2008, S. 143-157. Evergton SALES SOUZA, The Catholic Enlightenment in Portugal. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 359-402. Andrea J. SMIDT, Luces por la fe: The Cause of Catholic Enlightenment in 18th-Century Spain. In: LEHNER / PRINTY, Companion (wie Anm. 116), S. 403-452. Ulrich L. LEHNER, Introduction (wie Anm. 117), S. 46. SCHNEIDERS, Zeitalter (wie Anm. 9), S. 20. Die Vielschichtigkeit einer „aufgeklärten“ Persönlichkeit zeigt Heribert Raab exemplarisch auf am Beispiel des kurtrierischen Ministers Jakob Georg von Spangenberg, vgl. RAAB, Rezension (wie Anm. 49), S. 260.
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der Epoche der Katholischen Aufklärung angeschnitten werden, die ja in den meisten Fällen auch Gläubige gewesen sind. „Das größte, was dem Menschen begegnen kann, ist es wohl, in der eigenen Sache das Allgemeine zu verteidigen. Dann erweitert sich das persönliche Dasein zu einem welthistorischen Moment“130, hatte schon Leopold von Ranke in seiner „Englischen Geschichte“ angemerkt. Im Jahr 1994 setzte sich Franz Menges unter der Fragestellung „Machen Männer die Geschichte?“131 in der Festschrift für Günther Christ – angelehnt an eine Feststellung Heinrich von Treitschkes132 – erneut mit dieser Fragestellung auseinander. Ein künstlich postulierter Gegensatz zwischen der Wirksamkeit von Individuen auf der einen Seite und sozialen und strukturellen Fragestellungen auf der anderen Seite wird weder der Wirklichkeit der Aufklärer noch der der Aufklärung ganz gerecht. „Geschichte ist eben die Geschichte von handelnden Menschen, denen ein begrenzter Handlungsspielraum vorgegeben ist, den sie nicht geschaffen haben und den sie nur in beschränktem Maß verändern können“133, stellt Menges denn auch lapidar fest. Genau genommen sind jedoch geschichtliche Entwicklungen die Summe solcher im Einzelfall beschränkter Einwirkungsmöglichkeiten, so dass es nicht darum gehen kann, vorhandene Strukturen zu leugnen, sondern Entscheidungen von Menschen nachzuzeichnen, die wiederum solche Strukturen beeinflussen oder eben auch nicht. Trotzdem muss gerade die Aufklärung als eine besonders von einzelnen Persönlichkeiten geprägte Bewegung verstanden werden, trat doch zu dieser Zeit das Individuum besonders in den Blick.134 So schrieb Johann Michael Sailer bereits 1794: „Aufklärung ist ein abstractum, hat keine Hände und Füße, tut selbst nichts – sondern die Aufklärer, die aufklärenden Personen sind, wirken, veranlassen.“135 Zu einer differenzierteren Sicht der Katholischen Aufklärung als einer von Einzelpersönlichkeiten geprägten Bewegung könnte auch eine ungefähre Klassifizierung der katholischen Theologen der Aufklärungszeit nach ihrer relativen Nähe zur offiziellen zeitgenössischen Interpretation der Glaubenslehre beitragen. Im Gegensatz zum Protestantismus, in dem die Aufklärung meist von Philosophen und Intellektuellen vor130 131
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Leopold von RANKE, Englische Geschichte, vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, Hamburg o. J. (Leopold von Rankes historische Meisterwerke, Bd. 20), S. 307. Vgl. Franz MENGES, Machen Männer die Geschichte? Die Stellung der Biographie in der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Josef SCHRÖDER (Hg.), Beiträge zu Kirche, Staat und Geistesleben. Festschrift für Günter Christ zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1994, S. 29-35. „Männer machen die Geschichte“, Heinrich VON TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Erster Teil: Bis zum zweiten Pariser Frieden, Leipzig 81909 (Staatengeschichte der neuesten Zeit, Bd. 24), Bd. I, S. 28. MENGES, Männer (wie Anm. 131), S. 32. Vgl. dazu z. B. Christoph SCHÄFER, Staat, Kirche, Individuum. Studie zur Süddeutschen Publizistik über religiöse Toleranz von 1648 bis 1819, Frankfurt a. M. u. a. 1992 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Bd. 522), der diesen Aspekt am Beispiel des Toleranzgedankens herausarbeitet. Johann Michael SAILER, Vorrede zur 2. Auflage der Vernunftlehre, zitiert nach SCHWAIGER, Zeitenwende (wie Anm. 1), S. 26, der eine zweite Auflage von 1794 benutzt hat. In der von mir eingesehenen zweiten, neu bearbeiteten Auflage von 1796 konnte ich das Zitat nicht verifizieren.
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angetrieben wurde, trat sie im Katholizismus vor allem bei Klerikern in Erscheinung, was natürlich damit zusammenhängt, dass diesen in den geistlichen Staaten die entscheidenden Stellen vorbehalten waren. Dabei bleiben natürlich bei vielen Vertretern sowohl diachrone Entwicklungen als auch synchrone Brüche zu beachten. Bei aller zu beachtenden Vorsicht bietet sich etwa folgendes Schema an:136 1.) Theologen, die einem radikalen Skeptizismus verfielen bzw. ihren Glauben verloren. 2.) Theologen, die zwar nicht mit dem Christentum brachen, die aber einen Gegensatz zwischen dem positiven Christentum und der natürlichen Religion hervorhoben und daher innerlich von einem allgemeinen Theismus bzw. Deismus beeinflusst waren. 3.) Theologen, die zwar die Dogmen der Kirche gelten lassen wollten, aber auf dem Weg der (moralischen) Neuinterpretation zu einer gewissen Vermittlung mit der Aufklärung gelangen wollten. 4.) Theologen, die lediglich eine Reform in Wissenschaft und Praxis anstrebten und weit davon entfernt, die Glaubenslehre in Frage zu stellen, eine gewisse Angleichung an die Zeitumstände gerade in eher kulturellen Fragen anstrebten. Dieser letztgenannten Gruppe gehörten wohl die meisten derjenigen Personen an, die gemeinhin zur Katholischen Aufklärung gezählt werden: Franz Ludwig von Erthal, Eusebius Amort, Martin II. Gerbert, Muratori, Sailer usw. Der Würzburger Bistumshistoriker Erik Soder von Güldenstubbe schreibt zu dieser Gruppe, indem er Anton Mayer zitiert: „Auch sie sind ‚Aufklärer’, und wir würden weder ihnen noch der katholischen Aufklärung gerecht, wollten wir sie und ihr Werk und ihre religiöse Einstellung aus diesem Komplexe herausnehmen.“137 Generell lässt sich dabei jedoch eine zunehmende „Radikalisierung“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts feststellen. Angehörige der ersten Gruppe traten im Katholizismus erst gegen Ende des Jahrhunderts in Erscheinung.
5.
Fazit: Kann die Aufklärung katholisch sein?
„Selbst die Aufklärung, diese vermeintliche, und bei so vielen höchst verschriene Feindinn der Religion schadet dem ächten Christenthume nichts, – kann nicht schaden. Irrthum und Aberglaube mögen vor ihr erzittern, denn ihr letzter Tag, ihr Untergang ist nahe; aber Wahrheit und Tugend frohlocken wo immer sie sind. […] Selbst 136
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In der Literatur finden sich mehrere „Klassifizierungen“ der katholischen Aufklärer. Ich folge hier dem Vorschlag, den Erik Soder-von Güldenstubbe in Anlehnung an August Friedrich Ludwig und Anton Mayer vorgelegt hat, vgl. Erik SODER-VON GÜLDENSTUBBE, Franz Ludwig von Erthal als Bischof von Würzburg. In: Renate BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN (Hg.), Franz Ludwig von Erthal, Fürstbischof von Bamberg und Würzburg 1779-1795, Bamberg 1995, S. 46-58, hier S. 51f. Vgl. auch die gröberen Klassifizierungen bei ARETIN, Katholische Aufklärung (wie Anm. 94), S. 426. – VALJAVEC, Aufklärung (wie Anm. 9), S. 178 und WICKI, Staat, Kirche, Religiosität (wie Anm. 33), S. 43. SODER VON GÜLDENSTUBBE, Erthal (wie Anm. 136), S. 52.
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die geheimnißvollsten Dunkelheiten mancher Gegenstände in der Religion verschwinden, oder vermindern sich doch, sobald die Sonne der Aufklärung ihre Strahlen in dieses dunkle Heiligthum schießen läßt.“138 Dieses Zitat aus einer Predigt eines Neresheimer Benediktiners aus dem Jahre 1788 ist einer von vielen Belegen, die zeigen, dass die katholischen Aufklärer wie gesehen keinerlei Bedenken trugen, die Aufklärung in die Kirche hineinzutragen. Trotz einer langen Forschungsgeschichte zur Katholischen Aufklärung, deren Ergebnisse in den letzten Jahren – wie gesehen – auch in profangeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Werken stärker zur Kenntnis genommen werden, ist die Auffassung der Unvereinbarkeit von Kirche und Aufklärung immer noch verbreitet. Wird diese Meinung von kirchlicher Seite geäußert, liegt dem oft ein einseitiges Verständnis der Aufklärung als notwendig glaubensfeindlich zu Grunde – kommt sie hingegen von nichtkirchlicher Seite, steckt mindestens genauso oft ein falscher Kirchenbegriff dahinter. Diesen Umstand hat kürzlich Jochen Krenz unter Verweis auf das durch das Zweite Vatikanische Konzil erneuerte Kirchenbild herausgearbeitet und betont.139 Da das Zweite Vatikanum selbst innerkirchlich noch nicht umfassend rezipiert ist, verwundert es nicht, dass die neue Sicht der Dinge in der Wissenschaft außerhalb der theologischen Fakultäten offenbar noch weniger angekommen ist. Nach dem Kirchenbild des Konzils darf die Kirche jedenfalls nicht mit der Institution bzw. noch zugespitzter mit den Organen ihrer Leitung gleichgesetzt werden. Ein gewisser Pluralismus im Sinn einer „Einheit in Vielfalt“ ist innerkatholisch nicht nur legitim, sondern geradezu konstitutiv. Durch die Betonung der Kirche als „Volk Gottes“ kann die Kirche als „kommunikative Einheit der Glaubenden“140 gesehen werden, die sich in vielfältigen Formen ausprägen kann. In diesem Sinn sollten z. B. Strömungen des Josephinismus oder des Jansenismus und natürlich auch andere Ausprägungen der Aufklärung innerhalb des Katholizismus nicht von vorneherein als glaubensfeindlich bewertet werden, vielmehr waren sie zunächst einmal Ausdruck von dessen Vielfalt. Der Katholizismus ist nicht allein mit seiner traditionalistischen Form gleichzusetzen, genauso wenig wie er sich in der sogenann138
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P. Karl Aloys NACK OSB, Rede auf das Fest der Erfindung des Kreuzes Christi (1788). Zitiert nach: Norbert BAYRLE-SICK, Katholische Aufklärung als staatsbürgerliche Erziehung. Leben und Werk des Volkserziehers Karl Aoys Nack OSB von Neresheim 1751-1828. Mit einer Reihenuntersuchung katechetischer Schriften 1668-1837, St. Ottilien 1995, S. 171f. Vgl. KRENZ, Konturen (wie Anm. 73), bes. S. 39-44. Siehe auch die früheren Arbeiten des Autors: DERS., Aufgeklärte Selbstwahrnehmung und protestantische Außensicht: Das Würzburger „Prediger-Magazin“ von Bonaventura Andreß in revolutionär bewegten Zeiten 1789-1794. In: WDGBl 67 (2005), S. 257-320. – DERS., Der Beitrag der Würzburger theologischen Publizistik zur Volksaufklärung. Eine Skizze der fränkischen publizistischen Landschaft der frühen 1790er Jahre unter besonderer Berücksichtigung von Bonaventura Andreß’ „Magazin für Prediger“. In: Holger BÖNING / Hanno SCHMIDT / Reinhart SIEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 27), S. 261-299. KRENZ, Konturen (wie Anm. 73), S. 43 mit Anm. 262. Beispiele moderner deutschsprachiger katholischer Ekklesiologien: Medard KEHL, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg ²1993, hier bes. S. 147-159. – Walter KASPER, Katholische Kirche – Wesen, Wirklichkeit, Sendung, Freiburg i. Br. u. a. 2011.
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ten Amtskirche erschöpft, vielmehr kann die Katholische Aufklärung teilweise als Vorläufer mancher innerkirchlichen und inzwischen auch offiziell anerkannten Erneuerungsbestrebungen des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Horst Carl hat deshalb bezüglich der Katholischen Aufklärung zu Recht festgestellt: „Mit ihrem Bemühen um eine Disziplinierung der Volksreligiosität bei gleichzeitiger Hebung des Bildungsstandes oder mit der utilitaristischen Motivation von Kirchen- und Klerusreformen war sie nicht nur ein Nebenarm einer epochalen Geistesbewegung, sondern floß in deren Hauptstrom ein.“141 Das gilt nicht nur in Bezug auf die Geistesbewegung der Aufklärung, sondern sicher auch in Bezug auf die Kirchengeschichte: Die von den Aufklärern gezeigte grundsätzliche Bereitschaft zu diskursivem Dialog wurde in der Kirche wenigstens als angestrebtes Ideal aufgegriffen und kann auf der Basis des II. Vatikanums Impulse für die Zukunft der Kirche geben.142
141 142
CARL, Nordlicht (wie Anm. 23), S. 130. Vgl. KRENZ, Konturen (wie Anm. 73), S. 321.
Ondřej Bastl, Robert Pech, Philip Steiner
DER JOSEPHINISMUS IN BÖHMEN. SKIZZEN EINER INTENTION UND REZEPTION*
Nur wenige historische Gestalten erregten unter Zeitgenossen wie auch bei den darauffolgenden Generationen eine solche kontroverse Einschätzung, wie der habsburgische Kaiser Joseph II. Besonders auffallend tritt dies gerade in der katholischen Geschichtsschreibung in Erscheinung, in der man ihn und die nach ihm benannte Reformära zumeist sehr negativ beurteilt. Obwohl der Habsburger zeitlebens polarisierte und auch den nachfolgenden Generationen entweder als „Bauernfreund“1 oder „Glaubensfeger“2 in Erinnerung blieb, fristet der „Josephinismus“3 in der tschechischen Geschichtswissenschaft im Vergleich zu anderen Themen nach wie vor ein Schattendasein, weshalb diesbezüglich noch einige Forschungsmängel zu beklagen sind. Hinzu kommt die Tendenz, den Josephinismus bis auf wenige Ausnahmen auf die Reformen im Kirchen- und Bauernwesen zu reduzieren. Die meisten anderen *
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Einer der Autoren dieses Aufsatzes, Philip Steiner, ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er an seiner Dissertation über die Landstände in Steiermark, Kärnten und Krain und ihre Reaktionen auf die josephinischen Reformen zwischen 1789 und 1792 arbeitet. Der Mythos von Kaiser Joseph II. als „Bauernfreund“ begann in Böhmen 1769, als der damalige Mitregent Maria Theresias während seiner Durchreise bei Slavikovice in der Nähe von Brünn mit dem Pflug eines Bauern symbolträchtig einige Furchen zog. Dadurch vermochte es Joseph mehr als deutlich, schon früh seine Solidarität und Wertschätzung gegenüber dem Bauernstand zu signalisieren. Vgl. Karl GUTKAS, Kaiser Joseph II. Eine Biographie. Wien, Darmstadt 1989, S. 136. Vgl. Michael KOTULLA, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (14951934). Heidelberg 2008, S. 257. Zum Begriff und Phänomen „Josephinismus“ Pars pro Toto: Derek BEALES, Joseph II. und der Josephinismus. In: Helmut REINALTER / Harm KLUETING (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2002, S. 35-54. – Harm KLUETING, Einleitung. In: DERS. (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianischjosephinischen Reformen. Darmstadt 1995, S. 1-16. – Elisabeth KOVÁCS, Was ist Josephinismus? In: Österreich zur Zeit Kaiser Josephs II. Mitregent Kaiserin Maria Theresias, Kaiser und Landesfürst. Stift Melk, 29. März bis 2. November 1980. Hg. v. Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Abteilung III/2, Wien 1980, S. 24-30. – Karl VOCELKA, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Repräsentation, Reform und Reaktion im habsburgischen Vielvölkerstaat. Wien 2001, S. 368-386.
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Ondřej Bastl, Robert Pech, Philip Steiner
Reformen außer Acht lassend, wurden daher in der Vergangenheit besonders die Kirchenreformen Josephs II. – wie etwa seine Klosteraufhebungen – nicht nur in der (katholischen) böhmischen und tschechischen Historiographie immer wieder exemplarisch dafür herangezogen, um den Herrscher pauschal als radikalen Kirchenfeind und ordnungsgefährdenden „Despoten“ zu brandmarken. Die negativen Auswirkungen dieser einseitigen Betrachtungsweise auf den Komplex des Josephinismus prägen dessen Rezeption in der Wissenschaft und in der Öffentlichkeit teilweise noch heute. Anlässlich dieser Umstände setzt sich dieser Aufsatz, der sich explizit als eine Forschungsskizze versteht, nicht nur zum Ziel, die im Grunde genommen völlig „undespotischen“ Motive und Vorgehensweise Josephs bezüglich seiner Reformen im kirchlichen Bereich zu veranschaulichen, sondern auch die tendenzielle Rezeption des Josephinismus in der zeitgenössischen und nachfolgenden Geschichtsschreibung des historischen Böhmens anhand einiger weniger ausgewählter Autoren kurz zusammenzufassen. Die folgenden Ausführungen zerfallen daher in drei Bestandteile: Im ersten Teil sollen Ursprünge und Intention der josephinischen Kirchenreformen näher erläutert werden; im zweiten werden die tendenziell dargebotenen Reflexionen und methodischen Verarbeitungen der zeitgenössischen und späteren Geschichtsschreibung in Betreff des Josephinismus anhand einiger ausgewählter Beispiele veranschaulicht. Dabei soll auch der jeweilige Kontext des Verfassers beleuchtet werden. Ein Ausblick auf die notwendigen zukünftigen Forschungsarbeiten rundet die vorliegende Abhandlung ab.
1.
Die Intention des josephinischen Reformwerks
Die in der Habsburgermonarchie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden allgemeinen Reformbestrebungen, einen modernen Staat mit einer einheitlichen Amtssprache und einer zentralistisch orientierten Staatsverwaltung unter aufgeklärten naturrechtlichen Gesichtspunkten zu schaffen, veränderten das Gesicht des „Vielvölkerstaates“ nachhaltig. Joseph II.,4 der auf das in seiner Tragweite nicht zu unterschätzende Reformwerk Maria Theresias aufbauen konnte, gingen die gegenüber den intermediären Gewalten vergleichsweise noch behutsamen Maßnahmen seiner Mutter nicht weit genug,5 weshalb er in seiner Alleinregierung (1780-1790) mit einer Vielzahl von zum Teil radikalen Reformen ohne Rücksichtnahme auf die jeweiligen 4
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Neben der bereits zitierten Biographie von Karl Gutkas gibt vor allem die doppelbändige englischsprachige Biographie von Derek Beales den neuesten Forschungsstand zum Leben und Wirken Josephs II. wieder: Derek BEALES, Joseph II., Bd. 1: In the shadow of Maria Theresa 1741-1780. Cambridge 1987. – DERS.: Joseph II., Bd. 2: Against the world 1780-1790. Cambridge 2009. Zu Maria Theresia liegen uns ebenso einige wertvolle ältere und neuere Biographien vor: Alfred RITTER VON ARNETH: Geschichte Maria Theresias. 10 Bde. Osnabrück 1971 (Nachdruck). – Edwin DILLMANN, Maria Theresia. München 2000. – Victor L. TAPIÉ: Maria Theresia. Die Kaiserin und ihr Reich. Graz, Wien, Köln 1980. – Adam WANDRUSZKA, Maria Theresia. Die große Kaiserin. Göttingen, Zürich, Frankfurt/Main 1980.
Der Josephinismus in Böhmen. Skizzen einer Intention und Rezeption
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Ländertraditionen versuchte, die Modernisierung, Zentralisierung und Vereinheitlichung der Habsburgermonarchie in allen Bereichen des politischen und sozialen Lebens so schnell wie möglich voranzutreiben.6 Das berühmte Credo Josephs II. – „Alles für das Volk, nichts durch das Volk!“ – demonstriert anschaulich dessen Willen, alles dem Wohle des Staates und seiner Untertanen unterordnen zu wollen.7 Dieses sich vor allem auf die Aufklärung und das deutsche Naturrecht8 beziehende radikale Nützlichkeitsprinzip betraf auch die Kirche, die der Kaiser – zugespitzt formuliert – zur Dienstmagd des Staates, zur Moralwächterin und zugleich zur niedrigsten Stufe der Staatsverwaltung reformieren wollte. Dies sollte wiederum im Geiste der sogenannten katholischen Aufklärung9 nicht zum 6
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Einen komprimierten und anschaulichen Überblick über die Reformen unter Joseph II. bietet die ältere, aber noch immer unverzichtbare Darstellung von Elisabeth BRADLER-ROTTMANN, Die Reformen Kaiser Josephs II. Göppingen 1973. Besonders empfehlenswert ist ebenso eine wichtige Herausgeberschaft des österreichischen Historikers Helmut Reinalter aus dem Jahr 2008, in der in mehreren Einzelbeiträgen viele elementare Aspekte der josephinischen Reformen thematisiert werden: Helmut REINALTER (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus. Wien, Köln, Weimar 2008. Dabei änderte sich auch die Rolle des Herrschenden selbst, wie Rudolf Pranzl treffend festhält: „Die Macht des Herrschers leitet sich nicht mehr nur ‚von Gottes Gnaden‘ her, sondern versteht sich als eine rational begründete und unabhängige Macht im Dienst am Staat und dem damit verbundenen Gemeinwohl.“ Rudolf PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche/Religion im theresianisch-josephinischen Zeitalter. In: Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus (wie Anm. 6), S. 17-52, hier S. 28. Es ist zu betonen, dass die naturrechtlichen Lehren von Christian Thomasius (1655-1728) und vor allem von Samuel von Pufendorf (1632-1694) von allen geistig-kulturellen Strömungen der Aufklärung jener Zeit den wohl größten Einfluss auf das Denken und die Staats-, Rechts-, Bildungs- und Sozialreformen Josephs II. hatten. Schließlich wurde Joseph auf Wunsch Maria Theresias schon im Kronprinzenunterricht mit naturrechtlichen Schriften – bevorzugt von Pufendorf – konfrontiert. Siehe: Anton SCHINDLING, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung. Zur Problematik und Begriffsgeschichte einer Reform. In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 50 (1988), S. 215-224, hier S. 218. Neuere Publikationen zum Naturrecht und seinen Lehren in Bezug auf Staat, Kirche und Recht: Dieter HÜNING (Hg.), Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf. Baden-Baden 2009. – Thomas HAHN, Staat und Kirche im deutschen Naturrecht. Das natürliche Kirchenrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (ca. 1680 bis ca. 1850). Tübingen 2011. – Martin REULECKE, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts. Tübingen 2009. Inwieweit naturrechtliche Theorien in der Habsburgermonarchie praktisch umgesetzte wurden – Stichwort „Naturrechtsstaat“ –, dieser Fragestellung geht nach: Wilhelm BRAUNEDER, Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie. In: Diethelm KLIPPEL unter Mitarbeit v. Elisabeth MÜLLER-LUCKNER (Hg.), Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.-19. Jahrhundert). München 2006, S. 145-170. Katholische Aufklärung bezeichnet nach Volker Speth „die von aufklärerischem Gedankengut inspirierten, von überzeugten Katholiken ausgehenden Vorschläge, Bestrebungen und Aktionen, die auf die Modernisierung der Kirchenstrukturen, Kirchendisziplin, Glaubenslehre und Frömmigkeitspraxis abzielten zwecks Reaktivierung der Kirche für die aufgeklärten Eliten der Gesellschaft, zwecks Verbesserung der Seelsorge, Priesterausbildung, Glaubensverkündung und Kirchenorganisation, aber auch zwecks volkswirtschaftlicher Effizienzmaximierung, staatlicher
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Schaden, sondern dezidiert zum Nutzen und Profit der Kirche geschehen, deren Strukturen schlichtweg effizienter und weniger verschwenderisch gestaltet werden sollten. Nichtsdestotrotz sollten auch die Kirchenreformen zuvörderst dem Wohle des Gemeinwesens und des Staates dienen. Eine Reform der von Anhängern der katholischen Aufklärung als veraltet und nicht mehr zeitgemäß betrachteten Kirchenstrukturen, Glaubenslehre und Frömmigkeitspraxis erschien Maria Theresia, ihrem Sohn und einflussreichen josephinischen Staatsmännern wie Wenzel Anton von Kaunitz10 (1711-1794) daher als unumgänglich.11 Schon die älteren Werke von Paul von Mitrofanov und Georgine Holzknecht haben berechtigterweise darauf hingewiesen, dass die kirchenpolitischen Maßnahmen während der josephinischen Reformepoche nicht ideologischen, sondern sorgfältig kalkulierten praktischen, wirtschaftlichen, politischen sowie fiskalischen Erwägungen entsprangen.12 In den neueren Arbeiten machte auch zum Beispiel Gustav Otruba auf diese betont nutzenfokussierte Stoßrichtung aufmerksam.13
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Ressourcenmobilisierung und verstärkter Inkorporierung der Kirche in den absolutistischen Zentralstaat, was im Allgemeinen keineswegs als Gegensatz empfunden wurde“. Siehe: Volker SPETH, Katholische Aufklärung, Volksfrömmigkeit und „Religionspolicey“. Das rheinische Wallfahrtswesen von 1816 bis 1826 und die Entstehungsgeschichte des Wallfahrtsverbots von 1826. Ein Beitrag zur aufklärerischen Volksfrömmigkeitsreform. Frankfurt/Main 2008, S. 22. Siehe des Weiteren auch: Elisabeth KOVÁCS, Katholische Aufklärung und Josephinismus. Neue Forschungen und Fragestellungen. In: Harm KLUETING (Hg.), Katholische Aufklärung. Aufklärung im katholischen Deutschland. Hamburg 1993, S. 246-259. – SCHINDLING (wie Anm. 8). – Karl Otmar Freiherr von ARETIN, Der Josephinismus und das Problem des katholischen aufgeklärten Absolutismus. In: Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. Internationales Symposium in Wien 20.-23. Oktober 1980, Bd. 1, Wien 1985, S. 509-524. – Roman A. SIEBENROCK, Aufklärung und Religion. Versuch einer Vermessung am Beispiel des Verhältnisses von Josephinismus und katholischer Kirche. In: Peter TSCHUGGNALL (Hg.), Mozart und die Religion. Anif 2010, S. 207-221. Zur Rolle des Staatskanzlers Kaunitz hinsichtlich der Kirchenreformen: Harm KLUETING, Kaunitz, die Kirche und der Josephinismus. Protestantisches landesherrliches Kirchenregiment, rationaler Territorialismus und theresianisch-josephinisches Staatskirchentum. In: Grete KLINGENSTEIN und Franz A. J. SZABO (Hg.), Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711-1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung. Graz u.a. 1996, S. 158-196. Vgl. SPETH (wie Anm. 9), S. 21f. Paul von MITROFANOV, Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit. 1. und 2. Teil. Wien 1910. – Georgine HOLZKNECHT, Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser Josefs II. auf kirchlichem Gebiete. Innsbruck 1914. Gustav OTRUBA, Probleme von Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Beziehungen zu Kirche und Klerus in Österreich. In: Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Wien 1979, S. 107-139, hier S. 115-117. – DIES.: Staatshaushalt und Staatsschuld unter Maria Theresia und Joseph II. In: Österreich im Europa der Aufklärung (wie Anm. 9), S. 197-249. Verwiesen sei auf der wirtschaftlichen Ebene auf das Jahr 1775, in dem die Zollordnung in Kraft trat und aus den cisleithanischen Gebieten der Habsburgermonarchie einen einheitlichen Wirtschaftsraum schuf. Vgl. Gerhard HANKE, Gesellschaft und Wirtschaft in den böhmischen Ländern zur Zeit Josephs II. In: Zeitschrift für Ostforschung 31/2 (1982), S. 166-177, hier S. 169.
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Die Kirchenpolitik Josephs II. setzte bekanntlich das Werk, das schon Maria Theresia angesichts der im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) zu Tage getretenen Unterlegenheit der Habsburgermonarchie gegenüber Preußen begonnen hatte, konsequent fort.14 Die Ideen wie rechtliche Legitimationsmuster für die vorzunehmenden kirchenpolitischen Eingriffe drangen insbesondere aus dem Königreich Frankreich ein, wo unter weitgehender Ausschaltung Roms die katholische Kirche enger an die Herrschaft und Obrigkeit, später den Staat, gebunden werden konnte, um insbesondere im Jurisdiktionsbereich eine Abgrenzung vom Papsttum vorzunehmen.15 Der sogenannte Gallikanismus, der binnen rund 250 Jahren die Kirche in Frankreich unterwarf, wurde so „zum Vorbild aller staatskirchlichen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts“.16 Ebenfalls aus dem Königreich Frankreich, ausgehend vom Kloster Port Royal, strahlte gewissermaßen eine innerkirchliche, später von Rom verfolgte, antijesuitisch orientierte und gegen das päpstliche Primat gerichtete Reformbewegung aus: der nach dem Bischof von Ypern, Cornelius Jansen (1585-1638), benannte Jansenismus.17 Der Jansenismus, der hauptsächlich den Antagonismus zwischen Glaube und Vernunft überwinden wollte, kam nicht zuletzt in Böhmen besonders intensiv zur Geltung. Seine Träger waren vor allem Geistliche, die die Aufklärung nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnahmen, um die Kirche und deren Strukturen in ein neues Zeitalter zu führen. Wichtige böhmische Vertreter dieser reformkatholischen Strömung waren etwa die Prager Universitätsprofessoren Karl Heinrich Seibt (17351806) und Bernard Bolzano (1781-1848). Ein Schüler Seibts war unter anderem der Benediktiner Franz Stephan Rautenstrauch (1734-1785), der, als Berater Maria Theresias, nicht nur das theologische Studium in den habsburgischen Erbländern reformierte,18 sondern auch generell für eine überregionale Verbreitung jansenistischer Ideen sorgte.19
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Vgl. Ondřej BASTL / Jiří HANUŠ / Rudolf VÉVODA, Česká a moravská církev od josefinismu k modernismu [Die tschechische und mährische Kirche vom Josephinismus bis zum Modernismus]. In: Jan LIBOR (Hg.), České dějiny ve druhé polovině 20. století. Sborník příspěvků ze sekce církevních dějin na VIII. sjezdu českých historiků v Hradci Králové ve dnech 10.-12. září 1999. Brno 2000, S. 60-68, hier S. 60. – PRANZL (wie Anm. 7), S. 25f. Kurt A. HUBER, Der Josephinismus als staatskirchliches Reformprogramm und die böhmischen Länder. In: Zeitschrift für Ostforschung 31/2 (1982), S. 223-230, hier S. 225. – ARETIN (wie Anm. 9), S. 511. Ebd. Eine besondere Wirkung auf die Kirchenreformen während der Regierungszeit von Maria Theresia entfaltete die „österreichische“ Variante des Jansenismus, wie zuletzt Rudolf Pranzl betont hat. Vgl. PRANZL (wie Anm. 7), S. 19. Vgl. Christopher SPEHR, Aufklärung und Ökumene. Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005, S. 196. Vgl. Jane REGENFELDER, Der sogenannte Bolzano-Prozeß und das Wartburgfest. In: Helmut RUMPLER (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration. Wien, Köln, Graz 2000, S. 149-178, hier S. 166f.
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Eine weitere bedeutungsvolle geistig-kulturelle Bewegung der katholischen Aufklärung, der Febronianismus, billigte dem Kaiser als advocatus ecclesiae20 das Recht zu, „in die Kirchenverwaltung als Schutzvogt der Kirche eingreifen“ zu können, mit Ausnahme „in Fragen der inneren Lehre“.21 Seitens der habsburgischen Obrigkeit war dies das aussichtsreichste Mittel, um die katholische Kirche den Zwecken des Staates dienbar zu machen: Einerseits musste diese nach den verlorenen Schlesischen Kriegen (1740-1763) „materielle Opfer bringen“, gleichzeitig wurde ihr „eine wichtige Funktion im Erziehungswesen und in der niederen Verwaltung […] zugemessen“.22 Josephs kirchenpolitische Maßnahmen, die auf eine tiefgründige Analyse der habsburgischen Politik-, Gesellschaft- und Sozialstruktur basierten, gingen jedoch wesentlich über die Kirchenreformen seiner barockkatholisch geprägten und vorsichtiger agierenden Mutter hinaus. So verloren Böhmen und Mähren beispielsweise im Zuge der Klosteraufhebungen23 im josephinischen Jahrzehnt über die Hälfte ihrer Klöster.24 Ein wichtiger Hintergrund dieser Säkularisierung war die Akquirierung von Ressourcen, um neue Bistümer wie Seelsorgestationen materiell besser ausstatten zu können, war doch „der zentrale Gedanke der josephinischen Reform“ die Schaffung „gute[r] Seelsorger-Volkserzieher“ gewesen.25 Die Bistumsregulierung für eine Verbesserung der Seelsorge betraf in Mähren das Bistum Olmütz, das zum Erzbistum erhoben und dem das neu eingerichtete Bistum Brünn (1777) unterstellt wurde. In Böhmen wurde hingegen 1784 das Bistum Budweis errichtet.26 Einer ganz zentralen Rolle bei der josephinischen Kirchenreform kam den unter Federführung von Franz Stephan Rautenstrauch neu geschaffenen Generalseminarien (Brünn, Prag, Hradisch bei Olmütz27) samt Studienordnung zu, die dazu gedacht waren, die Geistlichkeit zu treuen Staatsdienern auszubilden, dem Volk im Rahmen einer vom Reformkatholi20
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„Das ‚ius advocatiae’ bezeichnete das Recht und die Pflicht, die ‚substantialia’ der Religion zu schützen und zu verteidigen. Darüber hinaus gewährte es die Befugnis, die Religion zum Nutzen des Staates zu befördern.“ HAHN (wie Anm. 8), S. 145. Vgl. Christoph GNANT, „Jede Diöces ist nichts anders als ein Teil des Landes […]“. Ausgewählte Fragen der josephinischen Diözesanregulierung und ihrer Auswirkungen auf Reich und Reichskirche. In: Der aufgeklärte Absolutismus (wie Anm. 3), S. 245-262, hier S. 250. HUBER (wie Anm. 15), S. 226. Dazu auch: PRANZL (wie Anm. 7), S. 26f. Vgl. zu den Klosteraufhebungen den betreffenden Abschnitt in: Kurt A. HUBER, Geistige Generationsprobleme in der Kirche seit der Aufklärung. In: Hans WOLTER (Hg.), Testimonium Veritati. Philosophische und theologische Studien zu kirchlichen Fragen der Gegenwart. Frankfurt/Main 1971, S. 305-313, hier S. 307. Siehe auch: Elisabeth KOVÁCS, Josephinische Klosteraufhebungen 1782-1789. In: Österreich zur Zeit (wie Anm. 3), 169-173. – PRANZL (wie Anm. 7), S. 41-44. HUBER (wie Anm. 15), 228. Vgl. auch die Liste der 1782-1783 aufgehobenen Klöster in: Ausgewählte Quellen (wie Anm. 3), S. 282-285. HUBER (wie Anm. 15), S. 227. Karl GUTKAS, Die böhmischen Länder zur Zeit Kaiser Josephs II. In: Österreich zur Zeit (wie Anm. 3), S. 113-116, hier S. 114. Mit Josef Dobrovský (1753-1829) wirkte hier ab 1787, zunächst als Vizerektor, später als Rektor (1789), ein begeisterter „Josephiner“ sowie Schüler von František Martin Pelcl. Josef HEMMERLE, Der Josephinismus und die Gründungsmitglieder der Gelehrten Gesellschaft der Wissenschaften in Prag. In: Zeitschrift für Ostforschung 31/2 (1982), S. 208-222, hier S. 218f.
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zismus beeinflussten Seelsorge josephinisches Gedankengut beizubringen und die Gläubigen buchstäblich von der Kanzel herab zur Einhaltung der obrigkeitlichen Verordnungen anzuhalten.28 Mit Hilfe dieser Generalseminarien wurde letztlich die „Priesterausbildung zur Gänze der staatlichen Reglementierung“ unterworfen, obgleich sie kurz nach Josephs Tod aufgelassen wurden.29 Wirft man einen Blick auf das gesamte Reformwerk Josephs II., so wird schnell offensichtlich, dass es der Kaiser – trotz aller Modernisierungserfolge wie etwa im Sozial- und Rechtswesen – aufgrund innen- und außenpolitischer Umstände und der gerade Ende der 1780er Jahre beginnenden, massiven ständischen Opposition gegen einige seiner Reformen (Aufstand in den Niederlanden, Unruhen in Tirol, Ungarn, Böhmen usw.) nicht vermochte, alle seine aufgeklärt-naturrechtlichen Vorstellungen in der anvisierten Form zu verwirklichen oder langfristig durchzusetzen.30 Unter dem „einfachen Volk“ und dem konservativen Teil des Klerus, der den Kontrast zur reformorientierten und dem Josephinismus aufgeschlossenen Geistlichkeit bildete, riefen besonders die „im Sinne des Spätjansenismus“31 getroffenen Maßnahmen im Bereich des Volksglaubens, Brauchtums und der Frömmigkeitsformen großen Unmut und Widerstand hervor.32 In diesem Kontext wird auch im Falle Böhmens noch in zukünftigen Einzelstudien zu erforschen sein, ob und auf welche Weise die betreffenden Kirchenreformen am Unverständnis der kaiserlichen Intentionen auf Seiten seiner nächsten Mitarbeiter, der in Ländern der Monarchie tätigen Beamten und der einzelnen Bevölkerungsgruppen, scheiterten. Auch ist zu hinterfragen, inwiefern die Nichtdurchführung oder Zurücknahme von manchen kirchenpolitischen Anordnungen auf das Missachten der historischen Tradition und Mentalität in Böhmen durch den Kaiser und dessen Unterstützer zurückzuführen ist. Nicht extra hervorgehoben werden muss, dass dabei die Widerstandspraktiken gegen die josephinischen Reformen, deren Ursachen, Ausdrucksformen und Folgen und die damit verbundenen Konflikte sowohl auf Makroebene (Landschaft, Adel, Klerus,33 Behörden etc.) als auch auf Mikroebene (Bevölkerung) näher untersucht werden müssten. Doch nicht nur die Gegner, sondern auch die aktiven Träger und Befürworter der josephinischen Reformen in Böhmen würden eine
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HUBER (wie Anm. 15), S. 227f. PRANZL (wie Anm. 7), S. 40. Unmut schürte in der Habsburgermonarchie unter den Landständen vor allem die josephinische Steuer- und Urbarialregulierung von 1789, die aus Sicht des grundbesitzenden Adels das grundherrschaftliche Eigentumsrecht bedrohte. Siehe: Lorenz MIKOLETZKY, Der Versuch einer Steuer- und Urbarialregulierung unter Kaiser Joseph II. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 24 (1971), S. 310-346. – Roman ROZDOLSKI, Die große Steuer- und Agrarreform Josefs II. Ein Kapitel zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Warschau 1961. HUBER (wie Anm. 15), S. 227. Vgl. auch: PRANZL (wie Anm. 7), S. 23f. Vgl. Helmut REINALTER, Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron. München 2011, S. 32f. In Anbetracht der Erforschung des böhmischen Ordens- bzw. Klosterwesens könnte die höchst verdienstvolle Arbeit von Julia Anna Riedel zum Piaristenorden in Ungarn unter Maria Theresia und Joseph II. eine Vorbildfunktion einnehmen: Julia Anna RIEDEL, Bildungsreform und geistliches Ordenswesen im Ungarn der Aufklärung. Die Schulen der Piaristen unter Maria Theresia und Joseph II. Stuttgart 2012.
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noch stärkere Aufmerksamkeit als bisher verdienen.34 Daher wäre es als Grundlage für die Erstellung von weiterführenden wissenschaftlichen Arbeiten notwendig, dass man zur eingehenderen Erforschung der Mechanismen, Wirkungen und Durchschlagskraft des Josephinismus die Originalfassung der einzelnen von Joseph II. erlassenen Gesetze, Verordnungen (Anordnungen) und Dekrete, die in den Gesetzessammlungen von Kropatschek35 und Jaksch36 veröffentlicht wurden, vermehrt dazu heranzieht, um anhand dieser bei einer gleichzeitigen Verwendung von weiteren behördlichen, ständischen, adeligen und kirchlichen Quellen die Art und Weise ihrer tatsächlichen Umsetzung in Böhmen zu eruieren. Derartige Untersuchungen wären umso wichtiger, als die bisherige allzu große Fokussierung der JosephinismusForschung auf den Wiener Hof und auf die Persönlichkeit Josephs II. zwar viele verdienstvolle Arbeiten hervorbrachte, aber zugleich den Blick auf die Reformpraxis in den Ländern trübte und so unweigerlich zur Bildung von allzu simplifizierenden und pauschalen Annahmen gegenüber dem Phänomen des Josephinismus beitrug. So werden zum Beispiel die Landstände gerne verallgemeinernd als klassische Gegner der josephinischen Reformen und der Aufklärung gekennzeichnet. Dabei zeigt ein genauerer Blick auf die Länderebene, dass Joseph II. seine Reformprojekte ohne die Unterstützung von willfährigen Beamten37 und aufgeklärten Mitgliedern des Adels38 34
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Schließlich ist es ein Faktum, dass es besonders in Böhmen nicht wenige adelige, geistliche und bürgerliche Intellektuelle gab, die sich von den aufgeklärten Ideen des Josephinismus inspirieren ließen. In dieser Hinsicht bedarf es noch einer intensiveren Aufarbeitung. Vgl. William M. JOHNSTON, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien, Köln, Weimar 2006, S. 33. Eine hervorzuhebende Ausnahme stellt der Budweiser Historiker Ivo Cerman dar, der besonders das 18. Jahrhundert bzw. die Aufklärung in Böhmen und darüber hinaus erforscht. Ivo CERMAN, Habsburgischer Adel und Aufklärung. Bildungsverhalten des Wiener Hofadels im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2010. Joseph KROPATSCHEK (Hg.), Sammlung aller k. k. Verordnungen und Gesetze vom Jahre 17401780, […], Bd. I-VIII. Wien 1786-1787. Peter Karl JAKSCH (Hg.), Gesetzlexikon im Geistlichen, Religions- und Toleranzfache, wie auch in Güter- Stiftungs- Studien- und Zensursachen für das Königreich Böhmen von 1601 bis Ende 1825, Bd. I-X, Prag 1828-1830. Der Historiker Reinhard Stauber hat in seiner Studie völlig berechtigt aufgezeigt, dass im politischen System des Josephinismus besonders den Kreishauptmännern eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Reformen zukam: Reinhard STAUBER, Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum 1750-1850. Göttingen 2001, S. 250. Der Adel trat bei der „Bauernbefreiung“ aber insofern als Bremse auf, als er seine Herrschaftsbefugnisse gegenüber „seinen“ grundherrschaftlichen Untertanen als bedroht erachtete: „Weil die adligen Stände den neuen Ideen nur insoweit folgten, als sie auf ihren Meierhöfen neue Wirtschaftsmethoden einsetzen ließen, war es Joseph II. nur möglich, seine Ideen in den Kameralherrschaften und beim säkularisierten Klosterbesitz weitgehend zu verwirklichen.“ Eine rechtliche Verbesserung für die ländliche Bevölkerung war gleichwohl gegeben. Vgl. HANKE (wie Anm. 13), S. 172f. – GUTKAS (wie Anm. 26), S. 114. Vgl. auch: Anna M. DRABEK, Die Desiderien der böhmischen Stände von 1791. Überlegungen zu ihrem ideellen Gehalt. In: Ferdinand SEIBT (Hg.), Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift für Karl Bosl zum 75. Geburtstag. München, Wien 1983, S. 132-142. Dennoch bedeutete manch konservative Haltung des Adels nicht automatisch, dass dieser der Aufklärung und dem Josephinismus dia-
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und des Klerus39 niemals umsetzen hätte können. Daher entbehrt auch der in der älteren, katholisch geprägten Kirchengeschichtsschreibung immer wieder gegen Joseph II. und dem Josephinismus vorgebrachte polemische Vorwurf des Despotismus,40 der keineswegs die Komplexität des josephinischen Regierungssystems widerspiegelt, im Grunde genommen jeder faktischen Grundlage.41 Eine nähere Untersuchung der Funktionsweise der Kreisämter und der Rolle der Kreishauptmänner, weiterer Beamter, des Klerus, Adels und Bürgertums bei der Durchführung der josephinischen Anordnungen in Böhmen könnte jedenfalls dazu beitragen, gegen dieses vereinfachte und falsche Bild über das in Wahrheit weitvernetzte, alles andere als lineare und deswegen recht komplizierte politische System des Josephinismus Abhilfe zu schaffen.42 Ein vertieftes Studium der Patente und Verordnungen Josephs II. würde es der Forschung aber auch ermöglichen, den genauen Absichten des Herrschers, die dieser mit seinen Reformen in Böhmen verfolgte, etwas näher zu kommen. Neben diesen Quellen sind es vor allem seine während der Mitregentschaft unter Maria Theresia verfassten politischen Konzeptionen, wobei besonders die „Ręveries“ viel über die Motive und Hintergründe seiner Reformprojekte verraten.43 Nicht zu vergessen sind
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metral gegenüberstand. Ganz im Gegenteil: Adelige wie Johann Nepomuk Graf von Buquoy (1741-1803), der besonders von den Ideen von Lodovico Antonio Muratoris (1672-1750) inspiriert war, fungierten teilweise als wichtige Träger des aufgeklärten und josephinischen Gedankengutes in Böhmen. Vgl. HUBER (wie Anm. 15), S. 225. – PRANZL (wie Anm. 7), S. 23. Für das 19. Jahrhundert liegt über diese „konservative Einstellung“ des böhmischen Adels eine aktuelle Studie vor: Jiří GEORGIEV, Konservative Gesinnung und böhmischer Adel. In: Tatjana TÖNSMEYER / Luboš VELEK (Hg.), Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie. München 2011, S. 43-54. Erinnert sei hier in Bezug auf die josephinische Kirchenpolitik an die in vielen Ländern der Habsburgermonarchie tätigen aufgeklärten und jansenistischen Reformbischöfe, die eine wichtige Stütze des josephinischen Systems und der Kirchenreformen darstellten. Siehe: GUTKAS (wie Anm. 1), S. 295. Aber auch die Bedeutung des niederen Klerus für die Etablierung einer Glaubenslehre und -praxis nach josephinischer Prägung darf keinesfalls unterschätzt werden. Hierzu hat Christine Schneider eine beachtenswerte Detailstudie zu Wien publiziert: Christine SCHNEIDER, Der niedere Klerus im josephinischen Wien. Zwischen staatlicher Funktion und seelsorgerischer Aufgabe. Wien 1999. Für eine Begriffsgeschichte des überwiegend pejorativ gebrauchten „Despotismus“ siehe bei: Reinhard BLÄNKNER, „Absolutismus“. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, 1830-1870. Frankfurt/Main u.a. 2011, S. 2934. Der böhmische Geschichtsschreiber und Jesuit P. Blažej Ráček (1884-1970) spricht im Zusammenhang mit den josephinischen Kirchenreformen per exemplum von „einer unbegreiflichen Kurzsichtigkeit und Blindheit“. Blažej RÁČEK, Církevní dějiny v přehledu a obrazech [Die Kirchengeschichte im Überblick und in Bildern]. Praha 1940, S. 539. Vgl. Irmgard PLATTNER, Josephinismus und Bürokratie. In: Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus (wie Anm. 6), S. 53-96, hier bes. S. 88. Diese „Rêveries“ enthalten bereits konkrete politische Konzeptionen, auf die Joseph II. später immer wieder Bezug nahm. Seine „Träumereien“ aus dem Jahre 1763 beginnen demnach folgerichtig mit den Worten: „Die beiden grundlegenden Prinzipien, nach denen man handeln soll, sind die unumschränkte Macht, für den Staat alles Gute tun zu können, und das Mittel, diesen
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aber ebenso die in mehreren Quellenausgaben gesammelten Briefe an seine Verwandten, an die Reformer, obersten Staatsbeamten und an andere europäische Herrscher.44 Von großer Bedeutung sind auch gewiss die von Joseph II. verfassten Berichte über seine Reiseerfahrungen in Böhmen und in anderen Ländern innerhalb und außerhalb der Habsburgermonarchie.45 Man könnte aber selbstverständlich noch eine ganze Reihe von weiteren zur Verfügung stehenden Quellen anführen, die einer näheren Ergründung der Persönlichkeit, Ansichten und Reformintentionen Josephs II. maßgeblich förderlich wären.46 Im Zuge der Debatten um die Intentionen Kaiser Josephs II. hinsichtlich seiner Kirchenreformen wurde in der Vergangenheit in Bezug auf die Persönlichkeit des Monarchen immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Joseph II. ein aufgeklärter Katholik oder ein Feind der Kirche gewesen wäre. In jedem Fall war er ein Herrscher, der das gesamte Religions- und Sozialpotential seines Reiches für das Wohl des Staates und die sogenannte Glückseligkeit seiner Bewohner ausnutzen wollte. Nicht Stand oder Glaubensrichtung, sondern Leistung und Kompetenz galten für Joseph II. als jene ausschlaggebenden Kriterien, die für die Prosperität und positive Entwicklung eines Staates förderlich wären.47 Das wirtschaftliche Potential der bisher diskriminierten Protestanten und Juden zu vergeuden, empfand der Herrscher deshalb schon seit seiner Mitregentschaft unter Maria Theresia als eine ungeheure Fahrlässigkeit.48 Sich von den Prinzipien der alten ständisch-katholischen Ordnung lösend, stellte er damit mancherlei Privilegien des Adels und des katholischen Klerus in Frage. Die Rolle des
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Staat ohne fremde Hilfe zu unterhalten.“ Vgl. Die „Rêveries“ Josephs II., Frühling 1763. In: Ausgewählte Quellen (wie Anm. 3), S. 78-83, hier S. 78. Zu nennen ist beispielsweise: Marie Antoinette, Joseph II. und Leopold II. Ihr Briefwechsel. Hg. v. Alfred Ritter von ARNETH. Leipzig, Paris, Wien 1866. – Briefe eines Kaisers. Josef II. an seine Mutter und Geschwister. Eine Auswahl seiner Briefe, ges. u. übers. v. Dr. Otto KRACK. Berlin 1912. Immer noch weitgehend aktuell ist die Übersicht der Reiseberichte bei: Walter PILLICH, Kaiser Joseph II. in Linz. In: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz (1963), S. 129-150, hier S. 146, Anm. 1. Daneben enthält der Sammelband Österreich zur Zeit (wie Anm. 3) zahlreiche kurze Berichte. Neueren Datums ist Pars pro Toto: Erich DONNERT / Helmut REINALTER (Hg.), Journal der Rußlandreise Kaiser Josephs II. im Jahre 1780. Thaur 1996. Wichtig sind etwa noch die Aufzeichnungen hochrangiger Staatsbeamter, wie die Tagebücher von Karl von Zinzendorf: Grete KLINGENSTEIN, Eva FABER und Antonio TRAMPUS (Hg.), Europäische Aufklärung zwischen Wien und Triest. Die Tagebücher des Gouverneurs Karl Graf von Zinzendorf 1776-1782, 4 Bde. Wien, Köln, Weimar 2009. Vgl. PLATTNER (wie Anm. 42), S. 55. Bereits als 22-Jähriger betonte er in seinen „Rêveries“: „Die Guten belohnen, die Unfähigen entlassen, die Schlechten bestrafen – ich glaube, daß der Staat nach diesem Konzept sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft glücklich und angesehen wäre.“ Die „Rêveries“ Josephs II.: (wie Anm. 43), S. 83. So war Kaiser Joseph II. ein vehementer Gegner der theresianischen Deportationspolitik gegenüber den Protestanten in den habsburgischen Kernländern. Vgl. Mathias BEER, Konfessionsmigration als identitätsstiftender Faktor. Transmigranten in Siebenbürgen. In: Rainer BENDEL / Norbert SPANNENBERGER (Hg.), Kirchen als Integrationsfaktor für die Migranten im Südosten der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert. Münster 2010, S. 145-162, hier S. 149-151.
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Katholizismus als unangefochtene Staatsreligion und der Kirche als fundamentale gesellschaftsstabilisierende Konstante der Habsburgermonarchie standen im Josephinismus aber niemals ernsthaft zur Diskussion. Angesichts der Tatsache, dass die Kirche naturgemäß den „direktesten“ Draht zur Bevölkerung besaß und die in den staatlich organisierten Generalseminarien ausgebildeten Priester von den Kanzeln herab die Gläubigen zur Einhaltung der unter anderem in den Gottesdiensten vorgestellten josephinischen Anordnungen ermahnen sollten, wäre es aus Sicht Josephs II. ja regelrecht absurd gewesen, mit der katholischen Kirche als zentrale gesellschaftliche Ordnungs- und Kommunikationsinstanz zu brechen.49 Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche wurde allerdings zum „Nutzen des Gemeinwesens“ und zur Realisierung der Reformen mit der Etablierung eines von Rom unabhängigen „Staatskirchentums“50 auf völlig neue Beine gestellt. Die neuere Forschung kommt dementsprechend völlig zu Recht schon seit längerem zum Schluss, dass Kaiser Joseph II. trotz aller seiner Eingriffe in die Kirchenstrukturen niemals ein Feind bzw. Antagonist der Kirche war oder als ein solcher bewusst agiert hatte. Zwar wandte sich Joseph II. gegen die aus seiner Sicht in den vorangegangenen Jahrzehnten ausufernden barockkatholischen Frömmigkeitsformen (Abschaffung bzw. Einschränkung von Prozessionen, Wallfahrten, Andachten, Feiertagen etc.), doch bedeutete dies nicht, dass der Kaiser jedweder Frömmigkeit feindlich gegenüberstand.51 Ganz im Gegenteil: Joseph II. galt als ein frommer Mann, der allerdings, beeinflusst von den Strömungen der katholischen Aufklärung, den Glauben auf das Wesentliche reduzieren wollte, mit Hilfe von treuen Reformern jeglichen Aberglauben und als verschwenderisch bzw. nicht nützlich erachtete religiöse Zeremonien bekämpfte und dabei sogar nicht davor zurückschreckte, in die Gestaltung des Gottesdienstes und die Ausprägungen des Volksglaubens (z. B. Wetterläuten) einzugreifen, was im konservativen Klerus wie in der gläubigen Bevölkerung durchaus für Empörung und Widerstand sorgte.52 Nicht zuletzt betonte schon einst Paul von Mitrofanov zu Recht, dass Joseph „bis an sein Lebensende, wenn nicht ein treuer, so doch ein gläubiger Sohn der katholischen Kirche und ein frommer Mann“ war und blieb.53 Zweifellos nahm Joseph II. die Reform der Kirche – wie übrigens alles andere auch – in seiner Alleinregierung sehr eilfertig in Angriff. Sowohl die Kompromisslosigkeit als auch die Hast, mit der die Reformen ohne Wenn und Aber stakkatoartig durchgeführt wurden, evozierten bei den Vertretern der alten Ordnung, aber auch bei 49 50 51 52 53
Vgl. Alois NIEDERSTÄTTER, Geschichte Österreichs. Stuttgart 2007, S. 143. – PRANZL (wie Anm. 7), S. 39. Vgl. REINALTER (wie Anm. 32), S. 30. Vgl. Michael MAURER, Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Oldenburg 1998, S. 42f. Vgl. NIEDERSTÄTTER (wie Anm. 49), S. 142f. MITROFANOV, 2. Teil (wie Anm. 12), S. 673. Zum gleichen Urteil gelangte auch der slowakische Historiker Jozef Špirko. Er hielt in seinem Buch fest, dass „Joseph persönlich der Kirche nicht schlecht gesonnen und kein Ungläubiger war […]“. Jozef ŠPIRKO, Cirkevné dejiny. S osobitným zreteľom na vývin cirkevných dejín Slovenska [Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung der Kirchengeschichte in der Slowakei]. Bd. II. Turčianský Svätý Martin 1943, S. 290.
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einigen aufgeklärten Zeitgenossen, die eigentlich grundsätzlich mit nicht wenigen Reformprojekten des Kaisers sympathisierten, erhebliche Widerstände und führten zu emotionalen Debatten zwischen den Befürwortern und Gegnern der Reformen.54 Dennoch hatte Joseph II. in seinen Reformbestrebungen – wie schon ausgeführt – nicht allein gehandelt: Hochrangige Berater, Beamte auf Zentral- und Länderebene, Adelige, Kleriker etc. stützten das josephinische System, weshalb, um ein Fazit zu ziehen, trotz der zuweilen kompromisslosen, harschen und misstrauischen Regierungsweise Josephs II. nicht von einer despotischen Herrschaftsform gesprochen werden kann. Das Wohl der Kirche und das seiner Untertanen lagen Kaiser Joseph II. zudem sicherlich unbestreitbar am Herzen. Ihn als Feind der Kirche zu diskreditieren, wird seiner Persönlichkeit deswegen nicht gerecht. Dass er die „Sprache“, das Denken und die Bedürfnisse der Kirche und der gläubigen Untertanen oftmals nicht verstand oder verstehen wollte, war letzten Endes die Hauptursache vieler Konflikte im Rahmen seiner Kirchenreformen und stellte im Grunde genommen die eigentliche Tragödie seines gut gemeinten Schaffens dar.55
2.
Historiographische Rezeption des Josephinismus in Böhmen
Den ersten historiographischen Widerhall fanden die josephinischen Reformen in den Schriften der Zeitgenossen Josephs II. Aus dem ländlichen böhmischen Milieu sollen hier deshalb exemplarisch die Publikationen des Miltschitzer56 Vogts und Bauern František Jan Vavák (1741-1816), aus dem bürgerlich-städtischen Milieu diejenigen des böhmischen Historikers und ersten Professors für Tschechische Sprache und Literatur an der Prager Universität, František Martin Pelcl (1734-1801), herausgegriffen werden. František Vavák galt seinem Zeitgenossen Franz Xaver Niemetschek (1766-1849), dem Biograph von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), bereits als „ein so geschickter Landmann, der von seiner Einsicht, seinem fähigen Geiste, und Rechtschaffenheit so viel schöne Beweise gegeben hat“, dass er „sich bestrebt, noch geschickter und seinem Vaterland nützlicher zu werden, ohne seine ersten Pflichten zu 54 55
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Vgl. REINALTER (wie Anm. 32), S. 32f. Vgl. Ondřej BASTL, Josef II. – osvícený katolík nebo nepřítel církve [Joseph II. – Ein aufgeklärter Katholik oder Feind der Kirche]? In: Jaroslav LORMAN und Daniela TINKOVÁ (Hg.), Duchovní tvář českého a moravského osvícenství. Post tenebras spero lucem. Praha 2008, S. 271-277, hier S. 277. Die im fruchtbaren Elbtal gelegene Herrschaft Poděbrady war „eine klassische kommerziellagrarische Region, wo dank […] guter Bodenbedingungen und Absatzgelegenheiten eine marktorientierte Landwirtschaft entstand, die sich rasch entwickelnde Gutswirtschaft aber auch hohe Robotforderungen an die Untertanen“ stellte. Markus CERMAN / Eduard MAUR, Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im frühneuzeitlichen Böhmen aus mikro- und makrohistorischer Sicht. In: Markus CERMAN und Hermann ZEITLHOFER (Hg.), Soziale Strukturen in Böhmen. Ein regionaler Vergleich von Wirtschaft und Gesellschaft in Gutsherrschaften, 16-19. Jahrhundert. Wien, München 2002, S. 101-110, hier S. 103.
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vernachläßigen […]“.57 Mit seiner Wissbegierde und Lernbereitschaft wie unter anderem in Betreff der „Feldmeßkunst“ ist er als Prototyp eines aufgeklärten Menschen in Böhmen jenseits aller vorhandenen Standesgrenzen zu verstehen. Hinsichtlich der Landwirtschaft dachte der fortschrittliche Bauer zudem ausgesprochen „josephinisch“, wie uns Niemetschek in seinem Werk weiterhin vor Augen führt: „Der liebe Schöpfer der Menschen hat seine Gaben gleich ausgetheilt, keinen Stand ausgeschlossen, oder mit Fluch beladen; der Bauer und der hochgelahrte Professor auf der hohen Schule haben beyde eine vernünftige und zur Ausbildung fähige Seele erhalten; und wenn der Bauer seine Geistesgaben zur Vervollkommung und Verbesserung seiner Feldwirthschaft geschickt zu brauchen weiß, so hat er eben so viel gethan, als der weiseste Doktor in der Stadt, der seine Wissenschaften von andern Lehrern und aus Büchern geschöpft hat.“58 Abseits der Landwirtschaft war der tiefgläubige Katholik Vavák jedoch ein erklärter Gegner von jenen josephinischen Reformen, die aus seiner Perspektive die katholische Kirche in Mitleidenschaft ziehen würden.59 So kritisierte der Bauer Kaiser Joseph II. etwa ob dessen Toleranzpatentes und bezichtigte diesen gar, dadurch für einen Abgang zahlreicher Gläubiger von der katholischen Kirche verantwortlich zu sein. Obgleich Vavák den Inhalt des Toleranzpatentes gut kannte, glaubte er, dass es nur wegen der „Ausländer“ erlassen worden wäre, damit diese fremden Leute ihren Glauben frei bekennen und dem Hause Habsburg dienen könnten. Vavák forderte aber stattdessen von Obrigkeit und Staat, dass diese ausschließlich den katholischen Glauben verteidigen sollten. Trotzdem er betonte, ein treuer Anhänger der Monarchie zu sein, lehnte er sämtliche Eingriffe des Herrschers in die inneren Religionsüberzeugungen mit der Begründung ab, wonach der Kaiser zwar der Herr des Leibes, nicht aber der Seelen wäre. Weiters galt für Vavák die Vernunft im Kontrast zur Aufklärung nicht als die höchste Autorität und das erstrebenswerteste Leitbild des menschlichen bzw. politischen Handelns. Auch aufgrund dieser Geisteshaltung bekämpfte er all jene josephinischen Maßnahmen, die die barockkatholischen Frömmigkeitsformen (Verbot des Bannertragens und von Prozessionen, Aufhebung der Literatsbruderschaften etc.) betrafen. Der aus Ersparnisgründen kurzzeitig eingeführte, berühmt berüchtigte josephinische Klappsarg, pointiert formuliert eine Art wiederverwendbarer „Recyclingsarg“, der eine kostengünstige Beerdigung der Toten in Säcken ohne
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Franz Xaver NIEMETSCHEK, Lebensbegebenheiten des vortrefflichen Menschen und Landwirths Franz Wawak, Richter des Dorfs Miltschitz auf der Kammeralherrschaft Podiebrad. Ein Handbuch für Landleute. Prag 1796, S. 129f. Ebd., S. 130. Seine Gottesfürchtigkeit betont auch Niemetschek: „Was that er nun gleich beym Anfang? Erst wendete er sich zu Gott, bath ihn mit aufrichtigem Herzen um Hilfe und Erleuchtung, um Klugheit und Standhaftigkeit, damit er sein Amt pflichtmäßig verwalten, seinem Vaterlande nützen, das eingewurzelte Uibel ausrotten, und Gutes dafür pflanzen könnte. Dieß war freylich ein schöner und lobenswürdiger Anfang; denn nur von Gott, dem Geber alles Guten können wir diejenigen Eigenschaften erlangen, die zur Führung eines Amtes erforderlich sind, und wer sein Werk mit Gott und Gebet anfängt, kann sich mit Zuversicht Segen und seine Hilfe versprechen.“ Ebd., S. 79f.
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eigene aufwändige Särge ermöglichte, rief bei Vavák, wie auch überhaupt in ganz Böhmen, besondere Entrüstung hervor.60 Festzuhalten ist, dass Vavák wie kaum ein anderer früher böhmischer Geschichtsschreiber unter Beweis stellt, wie schwierig und bedenklich es aus Sicht der modernen Forschung erscheint, die Menschen der josephinischen Epoche allzu festgefahren in „Josephiner“ und „Antijosephiner“ zu unterteilen.61 Einerseits praktizierte er als Landwirt partiell josephinische Überzeugungen, andererseits empfand er die Reformen Josephs II. in der Kirchenpolitik als eine existenzielle Bedrohung für die katholische Kirche und den Glauben generell. Zugleich zeigt das Beispiel Vavák, dass eine Opposition gegen die Kirchenreformen nicht willkürlich eine gänzlich antijosephinische und antiaufklärerische Gesinnung implizieren musste: „Wir sehen nemlich in Wawak einen Mann aus dem Bauernstande, der sich in der Ausbildung und Aufklärung so hoch schwang, als es seinen Umständen möglich war, und sein Stand zuließ. […] Worinn besteht aber diese Aufklärung? Nicht in dem, was man gewöhnlich heut zu Tage darunter versteht – in der Verachtung alles Alten, in einer schädlichen Ausgelassenheit des Willens, in Ungebundenheit und Freyheitssucht: sondern sie ist ächt und wahrhaft. Denn sie besteht in der Vervollkommnung des Verstandes und des Willens.“62 Bereits während seiner Gymnasialzeit in Reichenau kam der spätere Universitätsprofessor František Martin Pelcl mit piaristischen Lehrmethoden in Berührung.63 Nach seinem Studium der Philosophie, der Rechte und der Theologie war er ab 1761 als gräflicher Hofmeister in den Häusern Sternberg und Nostitz beschäftigt. Mit dem Freimaurer Ignaz Edler von Born (1742-1791) traf er schon bald auf den Gründer der „Prager gelehrten Nachrichten“, die für Pelcl wie die beiden Piaristen Gelasius Dobner (1719-1790) und Nikolaus Adaukt Voigt (1733-1787) zum „literarische[n] Sprachrohr“ avancierten und trotz ihrer Kurzlebigkeit zur Konkurrenz für die Zeitschrift „Neue Literatur“ des bereits genannten Prager Professors Karl Heinrich Seibt wurden. Born, durchdrungen „von dem Gedanken, daß Austausch von Wissen und Erfahrung nur durch den Zusammenschluß von gleichgesinnten Gelehrten gefördert werden könne“, gründete noch 1774 in Prag die „Gelehrte Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften“.64 Pelcl wurde 1784 Sekretär dieser „Gesellschaft“, deren Organ 60
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Pamèti Františka Jana Vaváka, souseda a rychtáře milčického z let 1770-1816 [Erinnerungen an František Jan Vavák, des Miltschitzer Vogts und Nachbars der Jahre 1770-1816]. Hg. v. Jindřich SKOPEC, Bd. III/1. Praha 1915, S. 22. Vgl. auch František KUTNAR, František Jan Vavák. Praha 1941, S. 80-93. Ebenso ist im Übrigen eine Scheide zu ziehen zwischen „Aufklärern“ und „Josephinern“: Beide „gehen von anderen Voraussetzungen aus, während die Schlußfolgerungen manchmal die gleichen sind“. Vgl. die Diskussion und dieses Zitat von Ernst Wangermann in: Katholische Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 13), S. 173. NIEMETSCHEK (wie Anm. 57), S. 143. HEMMERLE (wie Anm. 27), S. 217. Ebd., S. 212f. Ab 1784 konnte sich die „Gesellschaft“ dann auch der Unterstützung Josephs II. sicher sein: Ab dato nannte sie sich „Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften“ und war damit „die erste öffentlich-rechtliche Gesellschaft“ in der Habsburgermonarchie. Ebd., S. 214.
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„Abhandlungen der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften“ – in einer Traditionslinie mit den „Nachrichten“ – er maßgeblich redigierte.65 Primäres Ziel der „Gesellschaft“ war – ganz im josephinischen Sinne – „die wirtschaftliche, kulturelle und geistige Zurückgebliebenheit Böhmens und Mährens zu überwinden und den Anschluß […] an die nördlichen und westlichen Gebiete des Reiches so rasch wie möglich zu vollziehen“.66 Pelcl bewertete die josephinischen Reformen in seiner Analyse stets nach ihrer Tauglichkeit und Nützlichkeit. Dabei wurde er mit zunehmendem Lebensalter kritischer. Die Reformen von Maria Theresia und Joseph II. im Agrarbereich sah er generell als nicht zweckdienlich an. Aus seiner Sicht wären die grundbesitzenden böhmischen Stände schon während der Regentschaft Maria Theresias irrtümlich als „Tyrannen und Unterdrücker ihrer Untertanen“ aufgefasst worden.67 Josephs Ziel wäre es sogar gewesen, diese durch einen Entzug deren Eigentums „auszurotten“.68 Hintergrund für solch harte Kritik an der Adelspolitik des Josephinismus war einerseits sein pekuniäres Profitieren von zwei großen Adelsfamilien des Landes, den erwähnten Häusern Sternberg und Nostitz.69 Darüber hinaus bildete die böhmische Landschaft freilich diejenige Körperschaft ab, die sich als „Böhmen“ konstituierte und sich im sogenannten Landespatriotismus ideologisch manifestierte.70 Als einigendes Band über alle Standesgrenzen hinaus wurde – neben der Konstruktion einer gemeinsamen Geschichtstradition – die bis dato in der Wissenschaft, aber auch in der Verwaltung eher marginalisierte tschechische Sprache angesehen.71 Diese These reih65 66 67
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Ebd., S. 213, 217. Ebd., S. 221. Vgl. Hugh L. AGNEW, Josephinism and the Patriotic Intelligentsia in Bohemia. In: Harvard Ukrainian Studies X/3-4 (1986), S. 577-597, hier S. 580. Agnew weist darauf hin, dass Pelcls tagebuchartigen Erinnerungen – im Original auf Deutsch unter dem Titel „Böhmische Kronik unter der Regierung des Römischen Kaisers und Königs in Böhmen Josephus II.“ – seit ihrer Entstehung nicht vollständig in deutscher Sprache veröffentlicht worden sind, was dafür sprechen könnte, dass der Autor eine Veröffentlichung auch gar nicht vorhatte. Eine vollständige Übersetzung von 1931 bzw. 1956 in das Tschechische liegt hingegen mit dem Titel „Paměti“ [„Erinnerungen“] vor. Vgl. ebd., S. 580, Anm. 13. Ebd., S. 582. – „Také chce vyhubit šlechtu, a proto jí bere majetek.“ Trotzig fügt Pelcl an: „Zdá se však, že šlechta jej přežije a že bude i nadále – Es scheint jedoch, dass der Adel ihn überlebt, und dass er auch weiterhin hier sein wird.“ František Martin PELCL, Paměti [Erinnerungen]. Praha 1956, S. 82. AGNEW (wie Anm. 67), S. 583. Agnew verwies bereits darauf, dass sich der Landespatriotismus der einzelnen Repräsentanten Böhmens graduell voneinander unterschied. Ebd., S. 583f. „Daß man in den achtziger Jahren daran ging, die tschechische Sprache zu einem vollwertigen Medium der Kommunikation auszubauen, zu einer Literatursprache, in der man nicht nur die Begriffswelt der niederen Stände wiedergeben kann, sondern alle Begriffe von Wissenschaft, Philosophie und Dichtung der Zeit, ist das entscheidende Moment bei der tschechischen nationalen Erneuerung.“ Walter SCHAMSCHULA, Sprachreform und Sprachpflege bei den Tschechen im Zeitalter des Josephinismus. In: Zeitschrift für Ostforschung 31/2 (1982), S. 200-207, hier S. 200.
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te sich indes ein in die sprachphilosophischen Forschungen der Zeit.72 Gerade hier musste aber Pelcl mit den Sprachreformen des Josephinismus unter dem Primat der Vereinheitlichung in der gesamten Habsburgermonarchie unweigerlich in Konflikt geraten:73 Bereits in seinem 1791 in den „Abhandlungen“ erschienen Beitrag lieferte Pelcl eine Erklärung dafür, weshalb „Böhmisch“ trotz der josephinischen Reformen überhaupt noch die Zeiten überdauert hätte.74 Als Reaktion auf ein Hofdekret von 1784,75 das verordnet hätte, dass „in der Zukunft alle juridische, medizinische und philosophische Vorlesung in keiner andern, als in der deutschen Sprache gehalten werden sollten“, wären „[e]inige böhmische Patrioten, die nun mit Leidwesen sahen, wie sehr die deutsche Sprache in ihrem Vaterlande um sich greiffe, […] in Furcht [geraten], ihre Muttersprache würde endlich gar verdrungen werden. Sie vermutheten ihren Untergang.“76 Diese von ihm als fundamentale Bedrohung für die Sprachentwicklung des „Böhmischen“ empfundene Dominanz der deutschen Sprache an der Hochschule führte seiner Meinung nach dazu, „daß itzt zu Prag keine Universität mehr seye, denn die Polen, Ungarn, Irländer und Italiener können hier nicht mehr studiren, weil sie nicht deutsch verstehen. Es ist blos eine deutsche hohe Schule, und so kann auch kein Böhme, wenn er nicht deutsch gelernt hat, auf derselben studiren.“77 Besonders in die Pelcl’sche Kritik eingeschlossen wurden der spätere 72
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Schon Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) bilanzierte laut Andreas Gardt in seinen Werken, dass „[e]ine Nation […] über eine leistungsfähige Hochsprache verfügen [müsse], ohne die ihre intellektuelle und zivilisatorische Entwicklung unmöglich“ wäre. Vgl. Andreas GARDT, Nation und Sprache in der Zeit der Aufklärung. In: DERS. (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin, New York 2000, S. 169-198, hier S. 177. Johann Gottfried Herder (1744-1803) pflegte das 1795 wie folgt auszudrücken: „Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie ordnungs- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig. Wer die Sprache seiner Nation verachtet, […] wird ihres Geistes […] gefährlichster Mörder.“ Zitiert nach ebd., S. 194. Obgleich auch die Schulreform Josephs II. sich an die Gegebenheiten anpassen musste: Der Unterricht auf tschechischer Sprache blieb schon ob des Mangels an zweisprachigen Lehrern, wenn auch „die zweite Sprache so schnell als möglich eingeführt werden sollte“. AGNEW (wie Anm. 67), S. 593. „Dieß beweiset, daß damals nicht nur die Magistrate, sondern auch der größte Theil der Bürgerschaft zu Kuttenberg, Leutmeritz, Pilsen, Prag etc. deutsch gewesen. Hätte dieser glückliche Fortgang der Deutschen und ihrer Sprache immer so fort gedauret, so spräche man itzt in Böhmen eben so wenig böhmisch, als man in Meissen serbisch, und in Brandenburg wendisch sprechen höret. Ganz Böhmen wäre schon deutsch. Allein die Deutschen verderben es selbst mit einemmale, da sie im J. 1400. den Kaiser Wenzel vom deutschen Throne absetzten. Obgleich diese Absetzung widerrechtlich, […], so ward doch hiedurch sowohl der König Wenzel selbst, als auch die ganze böhmische Nation höchst beleidigt worden.“ Franz Martin PELZEL, Geschichte der Deutschen und ihrer Sprache in Böhmen, von 1341 bis 1789. In: Neuere Abhandlungen der k. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaft, Bd. 1. Wien, Prag 1791, S. 281-310, hier S. 287. Vgl. zu den Schul- und Hochschulreformen Kaiser Josephs II.: Helmut ENGELBRECHT, Schulwesen und Volksbildung im 18. Jahrhundert. In: Österreich zur Zeit (wie Anm. 3), S. 226-232, hier S. 229-231. PELZEL (wie Anm. 74), S. 303. Ebd.
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Bischof von Leitmeritz und Schuloberaufseher in Böhmen, Ferdinand Kindermann Ritter von Schulstein (1740-1801),78 sowie Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788). Dessen Schulreform hätte den Beginn der Verdrängung des Tschechischen aus dem Alltag eingeleitet: „Schon im J. 1774. am 4 Decemb. gab die selige Kaiserin Maria Theresia eine Verordnung heraus, daß in allen ihren Erblanden, folglich auch im Königreich Böhmen, deutsche Schulen errichtet werden sollten. […] Auf dem Lande ward also in einem jeden Kreise eine deutsche Hauptschule in der Kreisstadt, und in den übrigen kleinen Städten und Märkten, wie auch an allen Orten, wo sich Pfarreyen befanden, wurden gemeine deutsche oder Trivialschulen angelegt. Weil man aber wahrnahm, daß die Schulkinder Mitten in Böhmen meistens böhmisch waren, so faßte man den Entschluß ihnen die deutsche Sprache gleich in den ersten Schuljahren beizubringen.“79 Am Ende würde durch das konsequente Erlernen der deutschen Sprache Pelcls Meinung nach das Folgende passieren: „Und so wird schon die zweyte Generation deutsch, und in funfzig Jahren wird man zu Chrudim, zu Klattau, zu Kaurzim, und den übrigen Städten von Böhmen mehr deutsch als böhmisch sprechen, ja man wird Mühe haben einen Böhmen aufzutreiben.“80 78
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Pavěl BĚLINA / Jiří KAŠE / Jan P. KUČERA, Velké dějiny zemí Koruny české [Die große Geschichte der böhmischen Kronländer]. Bd. X: 1740-1792. Praha, Litomyšl 2001, S. 150. In seinen „Erinnerungen“ findet sich ein vulgäres Epitaph für Ferdinand Kindermann von Schulstein: „Hier liegt der Totengräber des böhmischen Volkes. Ihr Patrioten, schei... auf sein Grab – Zde leží hrobník národa českého. Vlastenci, vys... se na hrob jeho.“ PELCL (wie Anm. 68), S. 140. Siehe zu Ferdinand Kindermann von Schulstein: Josef HANZAL, Ferdinand Kindermann von Schulstein (1740-1801). Školský reformátor a osvícenský duchovní [Ferdinand Kindermann von Schulstein (1740-1801). Schulreformer und aufgeklärter Geistlicher]. Kostelní Vydří 1998, hier S. 62f. PELZEL (wie Anm. 74), S. 305. Für Johann Ignaz von Felbigers „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen“ siehe in Ausgewählte Quellen (wie Anm. 3), S. 192-194. PELZEL (wie Anm. 74), S. 309. Auch besagter Schüler von Pelcl, der Rektor des k. k. Generalseminariums zu Olmütz Josef Dobrovský, sah den „Verfall“ der slawischen Sprache als nicht aufhaltbar an: „Manche Anstalten, die auch außer Böhmen, als zu Wien auf der Universität, wo seit 1776 ein öffentlicher Lehrer der böhmischen Sprache und Litteratur angestellt ist, und am Theresianum, zu Wienerisch-Neustadt in der k. k. Militärakademie, zur Erlernung der böhmischen Sprache getroffen worden, beweisen wohl, daß viele ihrer künftigen Bestimmung wegen eine Sprache nicht entbehren können, die noch von ungefähr 5 Millionen Unterthanen der österreichischen Monarchie geredet wird.“ Weiter heißt es: „Allein zur weiteren Aufnahme, Verbreitung und Kultur derselben können alle diese und ähnliche Anstalten gewiß nicht so viel beitragen, als die patriotischen Bemühungen einiger weniger Gelehrten, welche sichs angelegen seyn lassen, andere zur Erlernung der böhmischen Sprache durch Darstellung ihres mannichfaltigen Nutzens aufzumuntern, oder durch Verbreitung böhmischer Schriften zu verhindern, daß sie nicht gänzlich in Verfall gerathe. […] so zweifle ich doch sehr, daß die böhmische Sprache im Ganzen zu einem wirklich und merklich größeren Grade der Vollkommenheit gebracht werden könne, als sie unter K. Rudolphs Regirung d. i. in dem goldenen Zeitalter war, zumal da dieß von so vielen zufälligen äußern Umständen abhängt, die nicht in unserer Gewalt stehen.“ Joseph DOBROWSKKY, Geschichte der böhmischen Sprache. In: Neuere Abhandlungen (wie Anm. 74), S. 311-364, hier S. 362f. Die Einschätzung der Zeitgenossen – darunter Dobrovskýs – , dass das Tschechische einen „Rückgang“ bzw. „Verfall“ erlitten hätte, resultierte aus dem Vergleich mit den Sprachnormen der tschechischen Literatur im sogenannten Goldenen Zeital-
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Auf kirchlicher Ebene hingegen befürwortete Pelcl mit prototypischen josephinischen und aufgeklärten Argumenten die getätigten Reformen, weshalb in seinem Fall ebenso keinesfalls kategorisch von einem „Antijosephiner“ gesprochen werden kann. Die Religionsausübung wäre demnach von einem konfusen Ablauf der Messen bzw. von der undisziplinierten Teilnahme der Kirchgänger geprägt gewesen.81 Ebenso hätten die neuen Verordnungen die katholische Kirchengemeinde gestärkt, indem die Klöster, in denen die Mönche „meist Aberglaube gepredigt“ hätten, entrechtet worden wären.82 In diesem Zusammenhang lobte er auch explizit die Abschaffung des von den „Josephinern“ als nicht nützlich angesehenen Einsiedlerwesens.83 Die „Säkularisierung der Zensur“ als Teil der Kirchenreform Josephs II. stieß bei Pelcl auf viel Wohlwollen, endete doch seiner Meinung nach damit die „Unterdrückung des Denkens“ und hierauf die Zeit der „Sklaverei“ durch die „Tyrannen des Geistes“.84 Pelcl, der erste tschechische Historiker des 18. Jahrhundert ohne Priesterweihe, war letztlich ein rigider Widersacher all jener josephinischen Reformen, die seiner Meinung nach auf eine Ausweitung und Stärkung des Wiener Zentralismus („Germanisierung“) auf Kosten Böhmens abzielten.85 Dies bedeutete genauso wie im Fall von Vavák aber nicht, dass er gleich ein reaktionärer Gegner sämtlicher Reformen Josephs II. war: Solange nicht die (wiederentdeckte) böhmische Identität gefährdet wurde,
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ter, dem 14. Jahrhundert. Vgl. Tilman BERGER, Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische. In: Andreas GARDT (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin, New York 2000, S. 825-864, hier S. 838-840. AGNEW (wie Anm. 67), S. 585. „Podle nového nařízení se má kázat jenom v kostelích farních, nikoli v klášterních, protože mniši kázali většinou pověry – Nach der neuen Regelung sollte nur in Pfarrkirchen gepredigt werden, nicht im Kloster, da die Mönche meist Aberglaube gepredigt haben.“ PELCL (wie Anm. 68), S. 58. Ebd., S. 33. AGNEW (wie Anm. 67), S. 589. Euphorisch rühmte Pelcl Joseph II. für dessen Zensurgesetz: „Ale moudrým názorům Josefa II., poslaného Bohem, budiž dík, že tito utlačovatelé ducha byli odstraněni a vyhlazeni. Sláva mu! – Aber dank der klugen Ansichten von Joseph II., von Gott gesandt, wurde der Geist dieser Unterdrücker entfernt und vernichtet. Gespriesen sei er!“ Ähnlich emotional fasste er die Bedeutung für Böhmen zusammen: „Těšte se, Čechové, nyní můžete jako jiní národové svůj rozum vzdělávat, volněji myslit a psát, v dobrých knihách vědomosti shromažd’ovat a ukázat, že také vy máte schopnosti! Tyrani našeho ducha padli, s hanbou padli. Mějte v ošklivosti jména těch, kdož vás drželi tak dlouho v otroctví! – Frohlockt, Tschechen, jetzt könnt ihr euren Verstand schulen wie andere Nationen, freier denken und schreiben, sammelt euer Wissen in guten Büchern und zeigt, dass ihr auch Veranlagung habt! Die Tyrannen unseres Geistes fielen, sie fielen in Ungnade. Bewahrt in Schande die Namen derer, die euch so lange in Sklaverei hielten!“ PELCL (wie Anm. 68), S. 42. Zur äquivalenten Verwendung der Worte „czechisch“ und „böhmisch“ und deren Semantik zu dieser Zeit siehe: BERGER (wie Anm. 80), S. 839. In seinen „Erinnerungen“ lassen sich – wie exemplarisch gezeigt – eine Reihe von Invektiven gegen die absolutistischen und vereinheitlichenden Tendenzen des Josephinismus finden. Vgl. BĚLINA/KAŠE/KUČERA (wie Anm. 78), S. 354-356.
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fand Pelcl in der ein oder anderen josephinischen Reform insgesamt durchaus offen Gefallen.86 Eine ausgesprochen kritische Haltung zu Josephs Leben und Wirken nahmen hingegen die tschechischen katholischen Apologeten des 19. Jahrhunderts ein, wobei an dieser Stelle besonders Klement Borový (1838-1897) und František Xaver Kryštůfek (1842-1916) zu nennen sind. Borový, dessen Ziel es in Anlehnung an František Palacký (1798-1876) war, zu einer „richtigeren Kenntniss [sic!] der vaterländischen Geschichte zu gelangen“, forschte zunächst über die hussitische Reformbewegung.87 Gleichwohl bezeichnete der Professor für Kirchenrecht und Fundamentaltheologie an der Universität Prag in seinem Buch „Dějinách diecése Pražské“ den Zeitraum während der Regierung Josephs II. als „Leiden für die Kirche“.88 Er lobte freilich den Kaiser wegen dessen Maßnahmen im Sozialbereich – so zum Beispiel ob der Errichtung eines Waisenhauses in Prag –, thematisierte aber zugleich das seiner Meinung nach von Joseph II. begangene Unrecht gegen die katholische Kirche. Zu den für die Kirchenstrukturen gravierendsten negativen Maßnahmen zählte Borový die Einrichtung des Generalseminars in Prag, die Anordnungen hinsichtlich der Liturgie, die Klosteraufhebungen und die Beseitigung der Bruderschaften.89 Kryštůfek, Professor für Kirchengeschichte an der Prager Universität, bediente sich in seinen Bänden „Všeobecný církevní dějepis“ und „Dějiny církve katolické ve státech rakousko-uherských s obzvláštním zřetelem k zemím Koruny české“ einer diplomatischen Sprache und bemühte sich in seinen Veröffentlichungen außerdem um eine objektivere Einschätzung der josephinischen Reformen.90 Dennoch sah er Kaiser und Kirche quasi in einer unversöhnlichen Frontstellung gegeneinander. Außerdem grenzte sich der streng katholische Autor in seinen Werken deutlich von den toleranten und episkopalisch denkenden Geistlichen, die mit den josephinischen Reformen sympathisiert hatten, ab. Dieser vor allem von Kryštůfek in der böhmischen Kirchengeschichtsschreibung manifestierten Traditionslinie in der Bewertung des Josephinismus folgten gleichsam die beiden bedeutenden tschechischen Kirchenhistoriker Jaroslav Kadlec (1911-2004) und Václav Medek (1922-1982), die mit ihren Arbeiten maßgeblich dazu beitrugen, dass das einseitige und negative Bild zu den 86 87 88 89
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„Pelcl, who welcomed his [Joseph II.] accession in glowing words, was looking forward to his death by the end of the decade.“ AGNEW (wie Anm. 67), S. 596. Clemens BOROVY, Die Utraquisten in Böhmen. In: Archiv für österreichische Geschichte 36 (1866), S. 239-290, hier S. 241. Klement BOROVÝ, Dějiny diecése Pražské. Na památku 900letého jubilea [Die Geschichte der Prager Diözese. Zur Erinnerung an das 900-jährige Jubiläum]. Praha 1874, S. 400. Ebd., S. 401-408. Die Bedeutung der Bruderschaften bei der Rekatholisierung Böhmens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beleuchtet: Jiří MIKULEC, Die religiösen Bruderschaften der Barockzeit und die Rekatholisierung Böhmens. In: Bohemia 48 (2008), S. 93-115, bes. S. 114. Über deren Auflösung: PRANZL (wie Anm. 7), S. 44. František Xaver KRYŠTŮFEK, Všeobecný církevní dějepis [Allgemeine Kirchengeschichte]. 3 Bde. Praha 1883-1892. – DERS.: Dějiny církve katolické ve státech rakousko-uherských s obzvláštním zřetelem k zemím Koruny české [Geschichte der katholischen Kirche in den österreichisch-ungarischen Ländern mit besonderer Berücksichtigung der Länder der Böhmischen Krone]. 2 Bde. Praha 1898-1899.
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josephinischen Reformen im Kirchenbereich mancherorts bis heute in Tschechien vorherrschend ist.91 Dennoch gab es auch im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert schon Wissenschaftler, die den josephinischen Reformprozess sachlicher und ohne religiösideologische Scheuklappen beurteilten. Hervorzuheben sind hierbei die Publikationen des Orientalisten und Philologen Justin Václav Prášek (1853-1924) sowie des Politikers und Hochschulprofessors Antonín Rezek (1853-1909), die von einem parteiischen Konfessionalismus absahen, seriöser argumentierten und faktografisch zuverlässig arbeiteten.92 In diesem Zusammenhang muss man ebenfalls die Werke des protestantischen Historikers und Schuldirektors Tomáš Václav Bílek (1819-1903) erwähnen, der unter anderem in einer Studie das Vermögen der unter dem Josephinismus aufgehobenen Klöster behandelte.93 Besonders positiv fiel die Joseph-Rezeption in der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mehreren Auflagen erschienenen populärwissenschaftlichen Schrift des Bürgerschullehrers im böhmischen Winterberg und späteren Schuldirektors in Eisenstein (ab 1895), Josef Walter, aus.94 Im Zeitalter von Nationalisierungsprozessen trat das kirchenpolitische Reformwerk Josephs II. erstmals zu Gunsten einer vermehrten Auseinandersetzung mit den Sprach- und Bauernreformen in den Hintergrund, wobei gerade die Maßnahmen im Bauernwesen mit der Befreiung „aus leiblicher und geistlicher Knechtschaft“ assoziiert wurden.95 Walter sieht demgemäß die Bedeutung des Kaisers vor allem in der Befreiung des Bauernstandes: Dessen „Volkstümlichkeit“ und „Fürsorglichkeit“ hätten dazu geführt, dass die Leibeigenschaft aufgehoben worden wäre. Die Aufhebung der Orden und die daraus resultierenden Einnahmen hätten wiederum die Gründung von Gemeindeschulen erlaubt und das Lehrangebot bis hin zu den höheren Schulen sowie Hochschulen entscheidend verbessert. Der volksnahe „Bauernkaiser“ ließ ebenso die deutsche Sprache an allen Schulen als Vortragssprache einfüh-
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Jaroslav KADLEC, Přehled českých církevních dějin [Ein Überblick über die tschechische Kirchengeschichte]. 2 Bde. Rom 1987 (Praha 1991). – Václav MEDEK, Osudy moravské církve [Das Schicksal der Kirche in Mähren]. Praha 1971. Justin Václav PRÁŠEK, Panování císaře a krále Josefa II. Část I. Změny v úřední správě a ve věcech náboženských [Die Regierungszeit des Kaisers und Königs Joseph II. Teil 1. Die Veränderungen in der offiziellen Verwaltung und in religiösen Fragen]. Praha 1903, S. 300-385. Das Buch erschien als Band 7 der unter anderem von Antonín Rezek geleiteten Schriftenreihe „Dějiny Čech a Moravy nové doby“ [„Geschichte Böhmens und Mährens in neuester Zeit“]. Tomáš Václav BÍLEK, Statky a jmění kollejí jesuitských, klášterů, kostelů, bratrstev a jiných ústavů v království českém od císaře Josefa II. zrušených [Güter und Eigentum der Jesuitenkollegien, Kirche, Klöster, Bruderschaften und anderen von Kaiser Joseph II. im Königreich Böhmen aufgehobenen Anstalten]. Praha 1893. Vgl. Südböhmische Volkszeitung Nr. 40, 04.10. 1936, S. 11. Seine Schrift erschien in der Verlagsanstalt Moldavia in Budweis bis 1913 in sechs Auflagen und wurde noch 1936 in der „Südböhmischen Volkszeitung“ annonciert. Vgl. Pars pro Toto Südböhmische Volkszeitung Nr. 13, 29.03. 1936, S. 16. Zitiert nach: Karl VOCELKA, Das Nachleben Josephs II. im Zeitalter des Liberalismus. In: Österreich zur Zeit (wie Anm. 3), S. 293-298, hier S. 295.
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ren.96 In summa hätte nach Auffassung Walters die Abschaffung der Leibeigenschaft Kaiser Joseph II. und damit „Österreich eine Revolution erspart“.97 Der Hintergrund dieser veränderten Interpretation des josephinischen Reformwerks ist mit dem Ende der vom deutschen Besitz- und Bildungsbürgertum ausgestalteten liberalen Ära und dem damit einhergehenden Verlust der politischen Vorherrschaft in Cisleithanien 1880 verbunden, hatte damit doch die politische Zielsetzung der Deutschliberalen einen Wandel erfahren: „Nicht mehr als Staatsvolk, sondern als Vertreter deutscher nationaler Interessen gegenüber dem Staat definierte man nun seine Rolle.“98 Demgemäß setzte auf deutschliberaler sowie nationaler Seite mit dem Regierungsantritt der als „slawenfreundlich“ wahrgenommenen Regierung des konservativen Lagers unter Eduard Graf Taaffe (1833-1895) – ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1880 – eine Vereinnahmung bzw. „Stilisierung Josephs II. zum ‚deutschen Joseph’“ ein – und das vor allem ob dessen Bemühungen, Deutsch als einheitliche Verwaltungssprache durchzusetzen.99 Exemplarisch wies der liberale deutschböhmische Dichter Eduard Langer (1852-1914),100 1894 Gründer des „Bundes der Deutschen in Ostböhmen“ mit Sitz in Braunau, darauf hin, dass Joseph II. „selbst von sich mit Stolz bekannt habe, ein Deutscher zu sein […]“. Ebenso hätte der Reformkaiser für den „Bestand und die gedeihliche Entwicklung des deutschen Staates die deutschen Grundlagen als die einzig möglichen, aber auch unbedingt notwendigen erklärt […]“.101 Auf dieser Basis wurden unter dem Leitspruch „nationale Selbsthilfe“ in der Folgezeit defensive deutschliberale „Schutzvereine“ nach dem Vorbild des bedeutendsten in der Habsburgermonarchie, dem 1880 entstandenen „Deutschen Schulverein“, gegründet.102 Für Budweis mitsamt Umland vollzog sich diese Entwicklung mit der Gründung des
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Josef WALTER, Kaiser Josef II., der Volksfreund auf dem Throne. Budweis 51913 [11907], hier S. 132. Ebd., S. 139. Julia SCHMID, Kampf um das Deutschtum. Radikaler Nationalismus in Österreich und dem Deutschen Reich 1890-1914. Frankfurt/Main 2009, S. 30. Die sogenannte Taaffe-Stremayrsche Sprachverordnung mehrte die Bedenken der deutschsprachigen bürgerlichen Gemeinschaft, sah man sich doch nun auch noch demographisch in eine defensive Position gedrückt. Vgl. ebd. VOCELKA (wie Anm. 95), S. 295. Zu seiner Person siehe: Hugo HERRMANN, Langer Eduard. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, S. 591. Jeweils zitiert nach Vocelka (wie Anm. 95), S. 295. Die wahrgenommene „Zurücksetzung des Deutschtums“ durch die Regierung Taaffe bedingte zunächst die Gründung des Schulvereins in Wien unter Federführung des Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer (1850-1918). Schon im gleichen Jahr besaß der Verein 22.000 Mitglieder; seine Aufgabe sah er dabei nicht im „Germanisieren“, sondern defensiver in der „Errichtung von Schulbauten, Kindergärten, Einrichtung von Büchereien, Einstellung und Besoldung von Lehrkräften in allen bedrohten Deutschtumsgebieten“. Die Verzweigung des Deutschen Schulvereins in kulturelle wie politische Kreise zur Umsetzung dieser Ziele blieb auch in der Folgezeit erhalten, zu nennen sind hier vor dem Ersten Weltkrieg Pars pro Toto der Wiener Bürgermeister und Obmann der Christlichsozialen Partei, Dr. Karl Lueger (1844-1910), sowie der steirische Schriftsteller Peter Rosegger (1843-1918). Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 130 B Bü 3547, V.D.A.-Geschichte in Stichworten [1930].
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„Deutschen Böhmerwaldbundes“ 1884,103 wobei zum Kristallisationspunkt ausgerechnet die Enthüllung eines Kaiser-Joseph-Denkmals in Budweis wurde.104 Dieser mit Ortsgruppen im gesamten Kaiserreich ausgestattete „Deutschtumsverband“ förderte maßgeblich bäuerliche Kreise, wie noch 1934 der Geschäftsstellenleiter der deutschen Land- und Forstwirtschaft in Prag, Leonhard Kaiser, resümierend festhielt: „Es muss festgestellt werden, daß der Deutsche Böhmerwaldbund in den bisher arg vernachlässigten deutschen Siedlungsgebieten Südböhmens der Wegbereiter für die landwirtschaftliche Aufklärungsarbeit war.“ Dessen Ziel wäre es dabei gewesen, „die hart um ihre nationale und wirtschaftliche Existenz ringende deutsche Bevölkerung in diesem schweren Kampfe um die Erhaltung ihrer angestammten Heimatscholle zu unterstützen“.105 Neben dieser praktischen Förderung griff der Bund mit einer „fast kultischen Verehrung Kaiser Joseph II.“ eine von Nordböhmen ausgehende Strömung auf: Bewusst wurde Joseph II. damit zu einem identitätsstiftenden Gegenentwurf des liberalen deutschböhmischen Bürgertums zu dem der tschechischen Gesellschaft, nämlich zu Jan Hus.106 Und ausgerechnet in Eisenstein, dem Lebensmittelpunkt des besagten Lehrers107 Josef Walter, fand 1906 eine Denkmalenthüllung zu Ehren Kaiser Josephs II. statt, an der nicht nur lokale Honoratioren, sondern auch farbetragende Korporationen aus Prag sowie Abgeordnete und überregionale Gemeindevertreter teilnahmen. Das Zusammenfallen mit dem Sedantag (02. September) bewog den Festredner, Abgeordneten Josef Bendel (1848-1915), dazu, Parallelen zu ziehen zwischen der „erfolgreiche[n] Abwehr an der ‚Westgrenze deutschen Gebiets’“ und „der Bedrohung der ‚Grenzen des deutschen Gebiets namentlich in unserem Österreich’“, wobei es „nun gelte […], entschlossen zu sein, ‚allen solchen Einfällen ein Sedan zu bereiten’“.108 Die „Abwehr“ der „slawischen Barbarei“ im Kontext des Verteidigers „der deutschen Sprache und Kultur“, Kaiser Joseph II., nahm damit an distinktiver Strenge zu.109 Sicherlich nicht zufällig schließt Josef Walter seinen im Jahre 1907 erstmals erschienen Buchtext daher auch mit den Worten: „Josef wollte aus seinen Landen einen deutschen Staat machen; denn er hatte erkannt, daß Österreich […] seine weltgeschichtliche Aufgabe nur dann erfüllen kann, wenn es – wurzelnd in deutschem Wesen – alle die kleinen Völker […] unter einer Krone, zu einem großar103
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Zur Gründungshistorie siehe: Josef TASCHEK, Fünfzig Jahre Deutscher Böhmerwaldbund. Aus den Erinnerungen des Gründers und Bundesobmannes Josef Taschek. In: 1884-1934. Fünfzig Jahre Deutscher Böhmerwaldbund. Festschrift, herausgegeben anlässlich der JubiläumsHauptversammlung in B. Budweis am 9. und 10. Juni 1934, Budweis 1934, S. 3f. Carsten LENK, „Unbedingt fortschrittlich und in allen Dingen national“. Der Deutsche Böhmerwaldbund 1884-1938 und die Interessen des Budweiser Bürgertums. In: Kurt DRÖGE (Hg.), Alltagskulturen in Grenzräumen. Frankfurt/Main 2002, S. 45-78, hier S. 60. Bis 1914 errichtete der „Böhmerwaldbund“ dreizehn Kaiser-Joseph-Denkmäler. Leonhard KAISER, Fünfzig Jahre nationaler und wirtschaftlicher Schutzarbeit. In: 1884-1934 (wie Anm. 103), S. 6f., hier S. 7. LENK (wie Anm. 104), S. 60. Zu der besonders herausgehobenen Rolle von Lehrern wie Priestern im „Böhmerwaldbund“ siehe: ebd., S. 58f. Zitiert nach ebd., S. 62. Ebd., S. 60.
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tigen Ganzen, zu einem Hort und Bollwerk deutscher Sitte und deutscher Kultur vereinige. […] die Größe und Herrlichkeit deutschen Wesens wird dennoch siegen und sein geliebtes Österreich wird umso größer, umso mächtiger, umso einiger nach außen und innen dastehen, je mehr der deutsche Zug es durchweht, der deutsche Geist, den Josef so hoch geehrt, es durchdringt und belebt.“110 In der modernen Geschichtsschreibung konnte sich ein positives JosephinismusBild erst entfalten, als ein breiteres Verständnis zum Begriff und Phänomen „Josephinismus“ etabliert werden konnte. Dieser Paradigmenwechsel ist vor allem mit dem in Wien geborenen und mit mährischen Wurzeln versehenen Historiker Fritz Valjavec111 (1909-1960) sowie dem sudetendeutschen Priester bzw. Historiker Eduard Winter (1896-1982) eng verbunden. Während Valjavec den Josephinismus als das Ergebnis mehrerer „geistesgeschichtlicher Entwicklungsreihen“ kennzeichnete,112 skizzierte Winter diesen eingeengter als notwendigen „Reformkatholizismus“ mit dem Ziel, veraltete Kirchenstrukturen zu modernisieren.113 Besonders das Buch von Eduard Winter „Josefinismus a jeho dějiny“114 ist für das Verständnis und die weitere Erforschung der josephinischen Reformen in den böhmischen Ländern grundlegend. Winter löste nämlich wie Valjavec den Josephinismus-Begriff von der Person Josephs II.115 Für
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WALTER (wie Anm. 96), S. 171f. Seine Großmutter auf der mütterlichen Linie, Anna Schießel, geborene Swaty, erblickte am 29. Dezember 1844 in Olmütz das Licht der Welt. Sie starb im Dezember 1909 in Wien. Fritz VALJAVEC, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. München 1945, S. 8. Für Valjavec besteht der Josephinismus „zu einem erheblichen Teil aus abgewandelten Elementen der Aufklärung“, wobei diesem immanent wäre, die „geistigen Strömungen“ der Zeit annähernd zu einer Einheit verschmolzen zu haben: „Wesentlich josephinisch scheint mir zu sein, dass sich diese geistigen Elemente verschiedenen Ursprungs in Österreich zu einer gewissen Einheit von verhältnismässig langer Dauer zusammengefügt haben.“ Vgl. Stiftsarchiv Melk, Nachlass Hugo Hantsch, Karton 7/61-64 Korrespondenz, Brief von Fritz Valjavec an Hugo Hantsch vom 02. April 1943. Auf die Gefahr einer allzu monokausalen Betrachtung durch Winter wies bereits Kurt A. Huber hin: So setzte Winter die Reformbewegungen „von unten“, die er unter dem Terminus „Reformkatholizismus“ subsumierte, dem „Widerstand der Hierarchie, besonders der römischen Kurie“, entgegen. Er übersieht dabei aber „Initiativen der Erneuerung, die von oben ausgehen (Johannes XXIII.) oder von oben gefördert bzw. in Obhut genommen werden (Franziskanerwesen, Trienter Reform u.a.)“. HUBER (wie Anm. 15), S. 224. Auch der tschechische Philosoph Milan Machovec (1925-2003) beurteilte in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Winter’sche Konzeption kritisch. Diese wäre zu schematisch, denn alles, was in Böhmen von der Schlacht am Weißen Berg bis Karel Havlíček Borovský (1821-1856) geschehen wäre, hätte Winter pauschal als einen Konflikt zwischen der katholischen Aufklärung und dem obskurantischen gegenreformatorischen Katholizismus dargestellt. Vgl. BASTL/HANUŠ/VÉVODA (wie Anm. 14), S. 64. Eduard WINTER, Josefinismus a jeho dějiny [Der Josephinismus und seine Geschichte]. Praha 1943. Auf Deutsch: DERS.: Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Oesterreichs 1740-1848. Brünn, München, Wien 1943. Sowohl für Winter als auch für Valjavec stehen Untersuchungen über die nicht ganz unproblematische Verbindung der jeweiligen Biographie und Epistemologie noch aus. Letzterer wird zur Zeit unter anderem nach diesem Gesichtspunkt als Dissertation von Robert Pech an der Univer-
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Winter endete die Strömung des Josephinismus daher nicht mit dem Tod des Kaisers, sondern besaß bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft Kaiser Franz II. (I.) als „erneuerter Josephinismus“ oder „Nachjosefinismus“ einen spürbaren Einfluss auf Beamte, Offiziere und Priester in der Habsburgermonarchie.116 In summa war der Josephinismus für Winter Bestandteil eines breiteren Stromes des „Reformkatholizismus“, der in seiner Abschlussperiode mit dem frühen Liberalismus zusammenfloss und zuletzt gemeinsam mit diesem die konkurrierenden römisch-katholischen und österreichisch-katholischen Restaurationsströmungen bekämpfte.117 Auch wenn die josephinischen Reformen in der Historiographie der vorangegangenen Jahrzehnte des Öfteren positiv beurteilt wurden, darf nicht vergessen werden, dass das negative Josephinismus-Bild besonders in der älteren, katholisch geprägten Kirchengeschichtsschreibung bis hinein in das 20. Jahrhundert Bestand hatte. Ein gutes Beispiel dafür ist – um einmal über den tschechisch-slowakischen bzw. tschechischen Tellerrand hinauszublicken – der österreichische Kirchenhistoriker Ferdinand Maaß (1902-1973).118 Dieser nahm bezüglich Joseph II. und seinen Kirchenreformen im Vergleich zu Valjavec und Winter eine dezidiert negative Haltung ein. Der Jesuit, der die Nachteile der josephinischen Staatskirchenpolitik für die katholische Kirche hervorhob, wandte sich gegen die auch von Winter vertretene These, wonach eine Kirchenreform und die Erneuerung des Religionslebens die Hauptmotive der Reformbemühungen des Kaisers gewesen wären. Im Gegenteil: „Josephinismus sei ein System der Übergriffe des Staates in den kirchlichen Bereich gewesen, ein System der Unterwerfung, welches die Kirche in ihrem inneren Wesen beeinträchtigte und schädigte.“119 Immerhin stimmte er mit Valjavec und Winter in der positiven Bewertung mancher Aspekte der josephinischen Kirchenpolitik partiell überein. Maaß verhehlte dabei nicht einige Vorzüge der von Joseph II. forcierten Reorganisation der Kirchenverwaltung sowie der Pfarreien, der Vermehrung dieser, der Gründung neuer Bistümer, der Neugestaltung der theologischen Studien sowie die Vorzüge der markanten Verbesserung der materiellen Lage der nicht nur in der Seelsorge tätigen, sondern auch pensionierten Priester.120 Obwohl die Reformen von Maria Theresia und Joseph II. das Leben aller Kirchen und der jüdischen Gemeinden bedeutend beeinflusst haben, ist letztlich zu konstatie-
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sität Leipzig, Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte, bearbeitet, der als Stipendiat der FAZIT-Stiftung dabei von dieser eine großzügige Förderung erhält. WINTER (wie Anm. 114), S. 481. Ebd., S. 482f. Ferdinand MAAß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760-1790. Amtliche Dokumente aus dem Wiener Haus, Hof- und Staatsarchiv. 5 Bde., Wien 1951-1961. Anton SCHINDLING, Aspekte des „Josephinismus“ – Aufklärung und frühjosephinische Reformen in Österreich. Ein Essay zu dem klassischen Werk Eduard Winters. In: Erich DONNERT (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Köln, Weimar 1997, S. 683-690, hier S. 684. BASTL/HANUŠ/VÉVODA (wie Anm. 14), S. 62.
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ren, dass dieser Reformära in der böhmischen und in der neueren Geschichtsschreibung Tschechiens im Vergleich zur deutschsprachigen Geschichtswissenschaft bis dato nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dies ist auch die Folge einer generellen Vernachlässigung der Erforschung des 18. Jahrhunderts, mit dem sich bislang nur sehr wenige tschechische Historiker beschäftigt haben.121 Ein eigenes Kapitel stellt die Kirchengeschichte dar, die dringend neuer wissenschaftlicher Auf- und Ausarbeitungen bedarf. An dieser Interesselosigkeit gegenüber dem Josephinismus und dem 18. Jahrhundert zugunsten der politischen Geschichtsschreibung seit der 1848er Revolution leiden vornehmlich die Bücher, die in den letzten fünfzig Jahren auf Tschechisch erschienen, einschließlich derer, die materiell und methodologisch nutzbringend und von ideologischen Apriorismen nur wenig geprägt sind. Als ein Beispiel hierfür kann man das Buch von Otto Urban (1938-1996), „Česká společnost 18481918“, heranziehen.122
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Forschungsperspektiven
Aus dem angeführten kurzen Überblick geht hervor, dass in der tschechischen Kirchengeschichtsschreibung die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bisher sehr ungenügend bearbeitet worden ist und bezüglich des Josephinismus auch abseits der Kirchenreformen noch immer viele Desiderate bestehen. Eine systematische Erschließung der kirchengeschichtlichen Quellen würde dabei für weiterführende Projekte einen ersten grundlegenden und hilfreichen Beitrag leisten. Die Hauptquellen für die josephinische Kirchenpolitik in Böhmen befinden sich vor allem im Nationalarchiv in Prag, Abteilung Publicum; ferner in den Beständen der Geistlichen Kommission für das Königreich Böhmen, des Prager Erzbischofsamtes, der Böhmischen Buchhalterei und andere mehr. Bevorzugte Aufmerksamkeit muss man aber auch den gedruckten Quellen widmen, wie beispielsweise den Kirchenschematismen, den Kalendern, den Jahrbüchern und der allgemeinen theologischen Publizistik. Die Analyse dieser Quellen erfordert selbstverständlich einen modernen und interdisziplinären Zugang ohne ideologische Scheuklappen, der geschichtswissenschaftliche, theologische, soziologische und kulturwissenschaftliche Methoden berücksichtigt und miteinander sinnvoll verknüpft. Letztendlich bleibt es aber den gegenwärtigen und zukünftigen Historikergenerationen überlassen, neue Akzente in der Erforschung des Josephinismus in Böhmen zu setzen. 121
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Neben Ivo Cerman stellt noch der tschechische Historiker Petr Mat’a mit seinen Arbeiten eine positive Ausnahme dar. Mat’a erforschte bislang aber vornehmlich die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Siehe: Petr MAT’A, Wer waren die Landstände? Betrachtungen zu den böhmischen und österreichischen „Kernländern“ der Habsburgermonarchie im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Gerhard AMMERER u.a. (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten des Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie. Wien, München 2007, S. 68-89. Otto URBAN, Česká společnost 1848-1918 [Die tschechische Gesellschaft 1848-1918]. Praha 1982. Auf Deutsch: DERS.: Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918. Übers. v. Henning SCHLEGEL, 2 Bde., Wien, Köln, Weimar 1994.
Dániel Bárth
KATHOLISCHE AUFKLÄRUNG UND VOLKSFRÖMMIGKEIT IM UNGARN DES 18. JAHRHUNDERTS*
1.
Einleitung und Fragestellung
Im Zusammenhang mit der historischen Forschung der katholischen Aufklärung1 ist (neben anderen Fachdisziplinen) die Existenzberechtigung der Volkskunde seit langem begründet. Das Erscheinen der volkskundlichen/anthropologischen Sichtweise in der Untersuchung des Themenbereichs ist sogar vor den diesbezüglichen spektakulären Trendwenden der Geschichtswissenschaft in den 1970/80er Jahren zu registrieren. Angesichts der Komplexität des Problemkreises liegt es auf der Hand, diese kirchliche Strömung, die eine solide Wirkung auf wichtige Terrains der Volkskultur ausgeübt hat, von mehreren Seiten, so auch aus der volkskundlichen Perspektive, unter die Lupe zu nehmen.2 * 1
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Meine Forschungen in diesem Themenkreis wurden mit dem Stipendium Bolyai János (Bolyai János Kutatói Ösztöndíj) von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften unterstützt. Zum Begriff: Bernard PLONGERON, Recherches sur l’„Aufklärung“ catholique en Europe occidentale (1770-1830). In: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 16 (1969), S. 555605. – Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979. – Harm KLUETING (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993 (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert 15). – Albrecht BEUTEL, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen 2009. Georg RÜCKERT, Brauchtum und Diözesanrituale im Aufklärungszeitalter. Das Rituale Augustanum vom Jahre 1764. In: Volk und Volkstum. Jahrbuch für Volkskunde II (1937), S. 297-313. – Ludwig Andreas VEIT / Ludwig LENHART, Kirche und Volksfrömmigkeit im Zeitalter des Barock, Freiburg in Breisgau 1956. – Barbara GOY, Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg, Würzburg 1969 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg XXI). – Wolfgang BRÜCKNER, Zum Wandel der religiösen Kultur im 18. Jahrhundert. Einkreisungsversuche des „Barockfrommen“ zwischen Mittelalter und Massenmissionierung. In: Ernst HINRICHS / Günter WIEGELMANN (Hg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 19), S. 65-83. – DERS., Volkskultur und Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Teil I: Kultur und Volk. Begriffe, Probleme, Ideengeschichte, Würzburg 2000, S. 184-206. – Ernesto de MARTINO, Katholizismus, Magie, Aufklärung. Religionswissenschaftliche Studie am Beispiel Süd-Italiens, München 1982.
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Diese Themenanregung scheint umso notwendiger zu sein, als – im Lichte der ungarischen Fachliteratur – die Forschung solcher Art bei uns noch in den Kinderschuhen steckt. Sogar die historische Forschung zum Fragenkomplex kirchliche/katholische Aufklärung lässt in Ungarn noch viel zu wünschen übrig. Die wichtigeren Strömungen der Kirchengeschichte verhielten sich selbst dem Begriff gegenüber ambivalent, indem sie ihn mal als unversöhnlichen Gegensatz interpretiert, mal mit Verallgemeinerungen kurz geschlossen haben.3 Die Literaturgeschichte ist so gut wie der einzige Bereich, der nennenswerte Teilergebnisse lieferte.4 In Ungarn fehlen bisher umfassende Monographien, die, sich auf diese Epoche konzentrierend, die kirchenorganisatorischen, frömmigkeitsmäßigen und mentalitätsgeschichtlichen Umwälzungen innerhalb einer Diözese oder eines Kirchenbezirks darstellen. An europäischen Beispielen würde es ja nicht fehlen! Im letzten Jahrhundert erschienen beispielhafte Monographien zum Thema, insbesondere dank der deutschsprachigen und französischen Forschung.5 In vielen Fällen steht die Tätigkeit einer
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– Walter HARTINGER, Kirchliche Frühaufklärung in Ostbayern. Massnahmen gegen Wallfahrten und geistliche Spiele in den Bistümern Passau und Regensburg am Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Ostbairische Grenzenmarken. Passauer Jahrbuch für Geschichte, Kunst und Volkskunde 27 (1985), S. 142-157. – Daniel DRASCEK, Der Papstbesuch in Wien und Augsburg 1782. Zum Wandel spätbarocker Alltags- und Frömmigkeitskultur unter dem Einfluss süddeutscher Gegenaufklärer. In: Burkhart LAUTERBACH / Christoph KÖCK (Hg.), Volkskundliche Fallstudien. Profile empirischer Kulturforschung heute, Münster 1998, S. 25-44. Egyed HERMANN, A katolikus egyház története Magyarországon 1914-ig [Geschichte der ungarischen katholischen Kirche bis 1914]. München 1973. Siehe auch den Artikel „Aufklärung“ (Felvilágosodás) im neuen Ungarischen Katholischen Lexikon: István DIÓS (Hg.), Magyar Katolikus Lexikon III, Budapest 1997. Zur neuen Anschauungsform der Kirchengeschichtsschreibung vgl. András FORGÓ, Katolikus felvilágosodás és politikai reformmozgalom. Szerzetesek a megújulás szolgálatában [Katholische Aufklärung und politische Reformbewegung. Mönche im Dienst der Erneuerung]. In: István SZIJÁRTÓ M. / Zoltán Gábor SZŰCS (Hg.), Politikai elit és politikai kultúra a 18. század végi Magyarországon, Budapest 2012, S. 120-146. Gábor TÜSKÉS, Éva KNAPP, Népi vallásosság Magyarországon a 17-18. században. Források, formák, közvetítők [Volksfrömmigkeit in Ungarn in 17.-18. Jh. Quellen, Formen, Mediatoren]. Budapest 2001. – Zoltán LUKÁCSI, Szószék és világosság. A magyar katolikus prédikáció a felvilágosodás korában [Kanzel und Klarheit. Die ungarische katholische Predigt im Zeitalter der Aufklärung]. Phil. Diss., Budapest 2010. Sebastian MERKLE, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland. Eine Abwehr und zugleich ein Beitrag zur Charakteristik „kirchlicher“ und „unkirchlicher“ Geschichtsschreibung, Berlin 1910. – Andreas POSCH, Die kirchliche Aufklärung in Graz und an der Grazer Hochschule, Graz 1937. – Gustav SCHNÜRER, Katholische Kirche und Kultur im 18. Jahrhundert, Paderborn 1941, S. 205-272. – GOY (wie Anm. 2). – August HAGEN, Die kirchliche Aufklärung in der Diözese Rottenburg. Bildnisse aus einem Zeitalter des Übergangs, Stuttgart 1953. – Eduard WINTER, Der Josephinismus. Die Geschichte der österreichischen Reformkatholizismus 17401848, Berlin 1962. – Franz WEHRL, Der „neue Geist“. Eine Untersuchung der Geistesrichtungen des Klerus in Wien von 1750-1790. Phil. Diss., Wien 1966. – Konrad BAUMGARTNER, Die Seelsorge im Bistum Passau zwischen barocker Tradition, Aufklärung und Restauration, St. Ottilien 1975. – Bruno LENGENFELDER, Die Diözese Eichstätt zwischen Aufklärung und Restauration. Kirche und Staat 1773-1821, Regensburg 1990. – Dieter BREUER (Hg.), Die Aufklärung in den deutschsprachigen katholischen Ländern 1750-1800. Kulturelle Ausgleichsprozesse im Spiegel von Bibliotheken in Luzern, Eichstätt und Klosterneuburg, Paderborn 2001. – Matthias J.
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bedeutenden kirchlichen Persönlichkeit im Mittelpunkt dieser Arbeiten.6 Oft wird auf den Kampf gegen volkstümliche Religiosität, Volksbräuche, Volksglaube, Magie oder Superstition usw. eingegangen.7 Diese Untersuchungen machen uns darauf aufmerksam, dass wir im Europa des 18. Jahrhunderts mit regional unterschiedlichen Varianten der katholischen Aufklärung zu rechnen haben. Die Ergebnisse der künftigen, auf primärer Quellenerschließung basierenden ungarischen Überblicke lassen sich wohl nur in diesem europäischen Zusammenhang relevant interpretieren. Eine grundlegende Frage bei der Charakterisierung der ungarländischen katholischen Aufklärung ist, welcher Zeitraum als ihre „Blütezeit“ angesehen werden kann. In der französischen Kirchengeschichtsschreibung plädierte Bernard Plongeron für das gut halbe Jahrhundert zwischen 1770 und 1830, in dem die Gedankenströmung der Aufklärung am dynamischsten ihre Wirkung entfaltete.8 In der deutschen For-
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FRITSCH, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004. – Christopher SPEHR, Aufklärung und Ökumene. Réunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Johann Bapt. SÄGMÜLLER, Die kirchliche Aufklärung am Hofe des Herzogs Karl Eugen von Württemberg (1744-1793). Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Aufklärung, Freiburg im Breisgau 1906. – Johannes RÖSSLER, Die kirchliche Aufklärung unter dem Speierer Fürstbischof August von Limburg-Stirum (1770-1797). Ein Beitrag zur Geschichte und Beurteilung des Aufklärungszeitalters, Speier am Rhein 1914. – Josef SCHÖTTL, Kirchliche Reformen des Salzburger Erzbischofs Hieronymus von Colloredo im Zeitalter der Aufklärung, Hirschenhausen 1939. – Richard von DÜLMEN, Propst Franziskus Töpsl (1711-1796) und das Augustiner-Chorherrenstift Polling. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Aufklärung in Bayern, Kallmünz 1967. – Klaus FRONZEK, Kirchliche Leitungstätigkeit in der katholischen Partoraltheologie der deutschen Aufklärung nach der Lehre von Franz Christian Pittroff (1739-1814), Leipzig 1983. – Wilhelm HAEFS, Aufklärung in Altbayern. Leben, Werk und Wirkung Lorenz Westenrieders, Neuried 1998. – Winfried ROMBERG, Johann Ignaz von Felbiger und Kardinal Johann Heinrich von Franckenberg. Wege der religiösen Reform im 18. Jahrhundert, Sigmaringen 1999. – Michael MÜLLER, Fürstbischof Heinrich von Bibra und die Katholische Aufklärung im Hochstift Fulda (1759-88). Wandel und Kontinuität des kirchlichen Lebens, Fulda 2005. – Siegfried Rudolf PICHL, Joseph Anton Gall. Josephiner auf dem Bischofsstuhl, Frankfurt am Main 2007. – Claudius STEIN, Staatskirchentum, Reformkatholizismus und Orthodoxie im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. Der Erdinger Landrichter Joseph von Widnmann und sein Umfeld (1781-1803), München 2007. Zum Beispiel Eva KIMMINICH, Religiöse Volksbräuche im Rädewerk der Obrigkeiten. Ein Beitrag zur Auswirkung aufklärischer Reformprogramme am Oberrhein und Vorarlberg, Frankfurt am Main 1989. – Martin POTT, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992. – Rudolf SCHLÖGL, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt – Köln, Aachen, Münster – 1700-1840, München 1995. – Wolfgang BRÜCKNER, Konfessionsfrömmigkeit zwischen Trienter Konzil und kirchlicher Aufklärung in Unterfranken. In: Frömmigkeit und Konfession. Verstehensprobleme, Denkformen, Lebenspraxis. Volkskunde als historische Kulturwissenschaft X. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner, Würzburg 2000, S. 324-382. – Stefan SIEMONS, Frömmigkeit im Wandel. Veränderungen in den Formen der Volksfrömmigkeit durch Aufklärung und Säkularisation. Eine Untersuchung zu den Eigenheiten in der Reichsstadt Augsburg und ihrem schwäbischen Umland, Augsburg 2002. PLONGERON (wie Anm. 1).
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schung werden meistens schon die Jahrzehnte um die Mitte des 18. Jahrhunderts in diesem Rahmen interpretiert, während im Zusammenhang mit der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Phänomene der kirchlichen „Früh-Aufklärung“ erwähnt werden.9 Die Entwicklung des ungarischen Kirchenwesens weist im Vergleich mit diesen westeuropäischen Beispielen, insbesondere als Folge der Türkenherrschaft, einen deutlichen Rückstand auf. Die Reformprozesse des erneuerten tridentinischen Katholizismus konnten in einem großen Teil des Landes erst Ende des 17. oder sogar nicht früher als im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts ansetzen. Dies verlief parallel mit der Kirchenorganisation und der Festigung der konfessionellen Grenzen. Das gleichzeitige Auftreten der katholischen Reform/Erneuerung und der Konfessionalisierung machen die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer durchaus bewegten und spannenden Forschungsperiode.10 Die frühere (Kirchen-)Geschichtsschreibung11 suchte diese Jahrzehnte mit dem Sammelbegriff „Spätbarock“ zu erfassen, der – meiner Ansicht nach – als unwürdig überladene ideen-, kirchen-, literatur- und kunstgeschichtliche Kategorie heutzutage kaum mehr zur allgemeinen Nutzung geeignet ist. Es ist heute noch nicht genau zu erkennen, wo die Grenzen zwischen den jeweiligen katholischen Erneuerungstendenzen verlaufen. Ab wo sollte man im Hintergrund einer synodalen oder konsistorialen Anordnung statt Kategorien der Erneuerung/Reform schon eher die der (frühen) Aufklärung zur Interpretation heranziehen? Von den beiden Schlüsselbegriffen der katholischen Aufklärung, Rationalismus und Toleranz, ist besonders der erste problematisch, denn gerade im Zusammenhang mit der Volkskultur wird das Vernunftdenken hinter zahlreichen Reformbeschlüssen bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts sichtbar. Die Toleranz bringt allein in der josephinischen Epoche klar unterscheidbare anschauungsmäßige Veränderungen mit sich. Auch dies legt die Auffassung nahe, dass in Ungarn etwa von einer engen Parallelität der kirchlichen Aufklärung und des aufgeklärten Absolutismus zu sprechen sei, so wie es in dieser Region – mit den westlichen Modellen verglichen – allgemeines Charakteristikum zu sein scheint.12 Es ist besonders schwierig, die Änderungen der kirchlichen Attitüde gegenüber der Volkskultur zu erfassen, da die Hauptströmungen der kirchlichen Leitung während des ganzen Jahrhunderts oft in dieselbe Richtung liefen. Hilfreich kann es sein, Knotenpunkte zu suchen, an denen die kirchlichen Attitüdenwechsel schärfer zu beobachten sind. Im Folgenden versuchen wir dies im Rahmen eines Fallbeispiels. Bevor wir allerdings dazu kommen, muss unbedingt auf die Wichtigkeit der Vermittlerrolle des niedrigen Klerus hingewiesen werden, die, was die Epoche anbelangt, 9 10
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HARTINGER (wie Anm. 2). – Eduard WINTER, Frühaufklärung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-slawische Begegnung, Berlin 1966. Dániel BÁRTH, Esküvő, keresztelő, avatás. Egyház és népi kultúra a kora újkori Magyarországon [Hochzeiten, Taufe, Einweihung. Kirche und Volkskultur im frühneuzeitlichen Ungarn]. Budapest 2005, S. 16-18. Pars pro Toto Domokos KOSÁRY, Művelődés a XVIII. századi Magyarországon [Kulturgeschichte im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1980. Zur Frage vgl. Adam WANDRUSZKA, Der Reformkatholizismus des 18. Jahrhunderts in Italien und in Österreich. Neue Forschungen und Fragestellungen. In: Alexander NOVOTNY / Othmar PICKL (Hg.), Festschrift Hermann Wiesflecker zum sechzigsten Geburtstag, Graz 1973, S. 231240.
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gleichfalls aus dem Blickfeld des historischen Interesses gefallen war.13 Meiner Ansicht nach sollte man in der Berührungszone von kirchlicher Leitung und lokalen Gemeinschaften gerade die Anzeichen des Attitüdenwechsels und die konkreten Verfügungen des niedrigen Klerus ausfindig machen, um das komplizierte Gewebe der kirchlichen Aufklärung und der Volkskultur besser auseinanderfädeln zu können. Sándor Bálint, der hervorragendste ungarische Erforscher der religiösen Volkskunde äußerte sich wiederholt entrüstet und abfällig über die Abneigung der „josephinischen Priesterschaft“ gegenüber gewissen volkstümlichen Andachtsformen, allerdings war es für ihn möglich, auf diese veränderte priesterliche Attitüde tiefer einzugehen.14 Um ein Beispiel zu nennen: Es fehlen gründliche Quellenerschließungen bezüglich des Mentalitätenwandels und Kurswechsels der Lehrergarde der Priesterseminare.15 Man weiß auch bedauerlich wenig über den örtlichen Vollzug der staatlichen Absichten und Maßnahmen, sowie über die darauf folgenden lokalen Reaktionen der Priesterschaft.
2.
2.1.
Operationalisierung
Quellenlage
Im Folgenden liste ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – etliche Quellengruppen auf, die bei der Untersuchung des angesprochenen Themenbereichs von Nutzen sein können.16 13
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Bernard PLONGERON, La vie quotidienne du clergé Francais au XVIIIe siècle, Paris 1974. – Timothy TACKETT, Priest and Parish in Eighteenth-Century France. A Social and Political Study of the Curés in Diocese of Dauphiné 1750-1791, Princeton 1977. – Dominique JULIA, Der Priester. In: Michel VOVELLE (Hg.), Der Mensch der Aufklärung, Frankfurt am Main 1996, S. 282-320. – John MCMANNERS, Church and Society in Eighteenth-Century France, Bde. I-II, Oxford 1998. – Rainer BECK, Der Pfarrer und das Dorf. Konformismus und Eigensinn im katholischen Bayern des 17./18. Jahrhunderts. In: Richard van DÜLMEN (Hg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt am Main 1988, 107-143. – Günter DIPPOLD, Klerus und Katholische Reform im Hochstift Bamberg. In: Jahrbuch für Volkskunde 21 (1998), S. 57-83. – Werner FREITAG, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400-1803, Bielefeld 1998. – Norbert HAAG / Sabine HOLTZ / Wolfgang ZIMMERMANN (Hg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500-1850, Stuttgart 2002. Sándor BÁLINT, Sacra Hungaria. Tanulmányok a magyar vallásos népélet köréből [Sacra Hungaria. Studien über die ungarische Volksfrömmigkeit]. Kassa 1944. WEHRL (wie Anm. 5). Vgl. Dániel BÁRTH, Egyházi források a történeti szokáskutatás szolgálatában [Kirchliche Quellen im Dienst der historischen Brauchtumsforschung]. In: Ágnes FÜLEMILE / Réka KISS (Hg.), Történeti forrás – Néprajzi olvasat. Gazdaság-, társadalom- és egyháztörténeti források néprajzi értelmezésének lehetőségei, Budapest 2008, S. 290-300. – Silke GÖTTSCH, Archivalische Quellen und die Möglichkeit ihrer Auswertung. In: DIES. / Albrecht LEHMANN (Hg.), Methoden der
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1. Da die Maßnahmen des aufgeklärten Absolutismus in der Habsburger Monarchie untrennbar von den Momenten der katholischen Aufklärung sind, soll vor allem die Wichtigkeit der kaiserlich-königlichen Verordnungen hervorgehoben werden. Eine systematische Ausschöpfung ist bisher nicht einmal bei den in Druck erschienenen Verordnungen erfolgt.17 Vereinzelte Publikationen erscheinen u.a. im Zusammenhang mit dem Verbot der Hexenverfolgungen, der Regelung der Bestattungsordnung oder des Schulunterrichts oder mit der Veranstaltung von Festen – um bloß einige Themenkreise anzusprechen, die sich mit tausend Fäden an die Volkskultur knüpfen. Die Fachliteratur über die Geschichte der Sitten und Bräuche, der Volksreligiosität erwähnt manchmal radikale Verordnungen Josephs II., die jeweils auf das Verbot eines Brauchelements gezielt hatten (z. B.: Häusersegnung zu Epiphanie, Votivgegenstände, Bekleiden von Marienstatuen, der sogenannte Boricza-Tanz).18 Man untersuchte aber sehr selten die lokalen Aufnahme- und Vollzugsmechanismen dieser Verordnungen, wobei dem eben erwähnten niedrigen Klerus eine zentrale Rolle zukam. 2. Eine andere wichtige und bekannte Quelleneinheit bilden die Dokumente der mittleren Kirchenleitung, vor allem die verschiedenen Diözesanstatuten, bischöflichen Rundschreiben und konsistorialen Protokolle. Aus diesen ist einerseits die Stellung der kirchlichen Vorsteher zu Maßnahmen der zentralen Macht (Staat) zu ersehen. Die bischöflichen Rundbriefe lassen erkennen, wie die regionale Kirchenleitung die neuartigen Erwartungen des aufgeklärten Absolutismus interpretierte. Andererseits waren es durchaus oft eben diese Steuerungsdokumente mittlerer Stufe, die Erwartungen erweckten: in diesen Fällen sollte nicht nach den Spuren der obrigkeitlichen Maßnahmen, sondern nach denen eines verborgenen Attitüdenwechsels gesucht werden.19 Da die Kopien dieser Verordnungen schließlich in den Archiven der Pfarreien landeten, sind im Idealfall auch die ersten Momente der lokalen Adaptionen zu erfassen. 3. Zwischen der diözesanen und der pfarreilichen Ebene sollte auch die normative Rolle der Dekanatsbezirke nicht außer Acht gelassen werden. Je nach Diözese von unterschiedlicher Bedeutung, doch eigentlich allgemein fanden gewisse formale Versammlungen, die sogenannten dekanatlichen Koronaversammlungen (corona) statt, in denen sich die Priesterschaft des Bezirks über die aktuellen Fragen beriet.20 Die Pro-
17 18 19
20
Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, 2. Aufl., Berlin 2007, S. 15-32. Ein gutes Beispiel bei Klaus GOTTSCHALL, Dokumente zum Wandel im religiösen Leben Wiens während des Josephinismus, Wien 1979. Dániel BÁRTH, Népszokások [Volksbräuche]. In: Attila PALÁDI-KOVÁCS (Hg.), Magyar Néprajz I. 2. Táj, nép, történelem, Budapest 2009, S. 477-484. Dániel BÁRTH, Szokás és hatalom. Egyházi törekvés a szőlőőrzés bácskai rendszabályozására a XVIII. század közepén [Brauch und Gewalt. Kirchliches Streben nach der Regulierung der Traubenbewachung in der Batschka in der Mitte des 18. Jahrhunderts]. In: Cumania 19 (2003), S. 85-120. Tamás DÉNESI, Alsópapság, pasztoráció és egyházi irányítás a 18. századi veszprémi egyházmegyében [Klerus, Pastoration und kirchliche Regierung in der Diözese Veszprém im 18. Jahrhundert]. Phil. Diss., Budapest 2006.
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tokolle dieser Tagungen sind wichtige Quellen, weil sie eine Pufferzone dokumentieren, nämlich diejenige zwischen dem niedrigen Klerus und obrigkeitlichen Erwartungen. 4. Aus unserem Blickwinkel stellt das Ensemble der pfarreilichen Schriften eine unerschöpfliche Datenbank dar. Sie werden entweder bis heute in den jeweiligen Pfarreien oder im zuständigen Diözesanarchiv aufbewahrt. Die visitatio canonica war eine Gelegenheit der Beschreibung, der Kontrolle und der Beschlussfassung zugleich, darum sind ihre Protokolle – trotz ihrer lokalen Zuständigkeit – wohl als homogener Dokumententyp der Kirchenleitung zu betrachten.21 Die noch stärker ortsgebundene historia domus ist ein Arsenal priesterlicher Reaktionen, die zu bestimmten Verordnungen gegeben worden sind. Einschließlich des Briefverkehrs, der Tagebücher und Aufzeichnungen des niedrigen Klerus sind diese die wichtigsten Ego-Dokumente22, in denen sich die in der Geschichte agierende Person in der 1. Person Singular manifestiert. 5. Desgleichen bieten die verschiedenen Gerichtsschriften weiten Raum für die Äußerung des Individuums. Vor allem sind hier Prozesse gemeint, die vor den kirchlichen Gerichten (consistorium) verliefen. Mit der Untersuchung der konsistorialen Protokolle, besonders der daran geknüpften Zeugenaussagen, Briefe usw. wird die Offenlegung einer Menge modellhafter Angelegenheiten ermöglicht.23 Sie helfen – quasi mit der Neuerzählung damaliger Geschichten – die Kanäle zu ertasten, durch die die katholische Aufklärung an Boden gewann. Steht nun im Mittelpunkt dieser Angelegenheiten gerade der Konflikt zwischen Aufklärung und Gegen-Aufklärung, kommen wir unserem gesetzten Ziel besonders nahe. 6. Schließlich sollten wir solche nicht archivalische Quellen erwähnen, die ebenfalls in großer Menge Untersuchungsmöglichkeiten zum behandelten Themenkreis anbieten. Besonders bedeutsam sind die gedruckten und handschriftlichen Predigten.24 Mit Hilfe der Analyse ihres Inhalts werden die Anschauung und die anschauungsformende Bestrebung der kirchlichen Aufklärung wohl besser verständlich. Im Allgemeinen ermöglichen die Redesammlungen, die konkrete, orts- und zeitgebundene Predigten beinhalten, eine genauere Untersuchung der Rezipientenseite. In der ungarischen Relation ist der Quellentyp liturgische Handbücher noch vernachlässigter, obwohl sie europaweit im Fokus der Reformvorschläge stand, u.a. bezüglich
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Ilona TOMISA, Visitatio Canonica. Egyházlátogatási jegyzőkönyvek Batthyány József esztergomi érsek idejéből 1776-1779 [Visitatio Canonica. Kirchenbesuchsprotokolle aus der Zeit des Esztergomer Erzbischofs József Batthyány von 1776-1779]. Budapest 1997. – Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA, Kontinuitás és reorganizáció a pécsi egyházmegye plébániahálózatában a 18. század első évtizedeiben. In: Századok 143 (2009), S. 1123-1163. Zum Begriff vgl. Winfried SCHULZE (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. GÖTTSCH (wie Anm. 16). LUKÁCSI (wie Anm. 4).
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der Muttersprachlichkeit, der Zurückdrängung der „superstitiosen“ Elemente und der Vereinfachung, Verständlichkeit bzw. Individualisierung der Rituale.25
3.
Welche Bereiche des religiösen Lebens sind vom Wandel der Betrachtungsweise berührt worden?
Als Hypothese unserer Untersuchung schicken wir Folgendes voraus: Die Wirkung der katholischen Aufklärung ist in fast allen Bereichen des religiösen Lebens nachzuweisen, Wirkungsgrad und Ausmaß haben jeweils tiefgreifende Forschungen zu klären. Angesichts des Mangels an ungarischen Untersuchungen zur diözesanen Ebene sind wir einstweilen auf die diesbezüglichen Feststellungen der internationalen Fachliteratur angewiesen. Es besteht dabei kein Grund, der ungarischen katholischen Aufklärung wesentlich abweichende Entwicklungsrichtungen zu unterstellen. Im Folgenden sei eine Auflistung der in Frage kommenden Bereiche unternommen, anhand Barbara Goys Monographie26, die mit Anwendung der Quellenbestände der Würzburger und Bamberger Diözese zustande gekommen ist: 1. Feste des Jahreskreises 2. Gestaltung der Fest- und Alltage 3. Heiligenverehrung 4. Prozessionen 5. Wallfahrt 6. Die Möglichkeit der Ablassgewinnung 7. Sakramentalien 8. Läuten gegen Unwetter 9. Übergangsriten (Wenden des Menschenlebens) 10. Gebetsleben, Kirchenlied 11. Vereinfachung der Riten
25
26
Josef STEINER, Liturgiereform in der Aufklärungszeit. Eine Darstellung am Beispiel Vitus Anton Winters, Freiburg 1976 (Freiburger Theologische Studien 101). – Hans HOLLERWEGER, Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich, Regensburg 1976. – Leonard SWIDLER, Aufklärung Catholicism 1780-1850. Liturgical and Other Reforms in the Catholic Aufklärung, Missoula 1978. – Franz KOHLSCHEIN / Kurt KÜPPERS, „Der grosse Sänger David euer Muster“. Studien zu den ersten diözesanen Gesang- und Gebetbüchern der katholischen Aufklärung, Münster 1993 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 73). – Benedikt KRANEMANN, Die Krankensalbung in der Zeit der Aufklärung. Ritualien und pastoralliturgische Studien im deutschen Sprachgebiet, Münster 1990 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 72). – Hans-Joachim IGNATZI, Die Liturgie des Begräbnisses in der katholischen Aufklärung. Eine Untersuchung von Reformentwürfen im südlichen deutschen Sprachgebiet, Münster 1994 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 75). – Klaus KELLER, Die Liturgie der Eheschliessung in der katholischen Aufklärung. Eine Untersuchung der Reformentwürfe im deutschen Sprachraum, St. Ottilien 1996. GOY (wie Anm. 2).
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Diese Liste der Bereiche ist natürlich im Spiegel der Quellengegebenheiten der jeweiligen Diözesen jederzeit zu erweitern. Diese Studie vermag die angesprochenen Themen, wenn auch nur mit ein paar Beispielen, nicht näher zu erläutern, und so die Bringschuld der Monographien zu begleichen. Glücklicherweise liegen jedoch bereits einige ungarische Vorstudien vor, die, nicht nach geographischen Einheiten geordnet, sondern unter thematischen Aspekten den einen oder den anderen Bereich behandeln. Diese beinhalten zwar sporadische aber aufschlussreiche Hinweise im Zusammenhang mit den Wandelphänomenen, die infolge der katholischen Aufklärung auftraten. Zum Beispiel kann ich auf die Forschung des Wallfahrtswesens,27 auf die Untersuchung bezüglich der Veränderungen der Heiligenverehrung,28 oder auf die Darstellung der frühneuzeitlichen Benediktionspraxis vor dem Hintergrund der Sakramentalien hinweisen.29 Als gemeinsamer Nenner all dieser Gebiete kann der wichtige Umstand hervorgehoben werden, dass sich – dank der untersuchten Gedankenströmung – das Verhältnis zum Wunder veränderte.30 Im Denken der höheren Schichten der kirchlichen Gesellschaft drang die Neigung zu verschiedenen pseudo-mirakulösen Phänomenen allmählich zurück, und sie wurden immer mehr zur Welt der „Volksfrömmigkeit“ gerechnet. Gleichzeitig kann man beobachten, dass die Vertreter der Gegen-Aufklärung31 in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert auch in Ungarn tätig waren. Ihre Ansichten können aus Prozessunterlagen herauskristallisiert, und oft anhand skandalöser Geschehnissen ans Tageslicht gebracht werden. Im Folgenden versuchen wir, die Konfliktfelder der beiden kirchlichen Attitüden mit Hilfe einer mikroanalytischen Fallstudie zu ertasten.
4.
Eine Fallstudie: die Geschichte von Pater Rochus
Das erste Duell begann am 8. Dezember 1766 nach der Frühmesse. In der kürzlich eingeweihten neuen katholischen Kirche von Sombor (heute Serbien) in Batschka machte sich der Franziskanerpater Rochus Szmendrovich daran, den Exorzismus an der Frau des dort wohnhaften Antal Matich nach den liturgischen Vorschriften auszu-
27
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TÜSKÉS/KNAPP (wie Anm. 4). – Gábor TÜSKÉS, Búcsújárás a barokk kori Magyarországon a mirákulumirodalom tükrében [Wallfahrt in der ungarischen Barockzeit im Spiegel der Mirakelbüchern]. Budapest 1993. TÜSKÉS/KNAPP (wie Anm. 4). Dániel BÁRTH, Benedikció és exorcizmus a kora újkori Magyarországon [Benediktion und Exorzismus im frühneuzeitlichen Ungarn]. Budapest, Pécs 2010. Vgl. PLONGERON (wie Anm. 1). Zum Begriff: Daniel DRASCEK, Gegenaufklärung im süddeutschen Raum. Zur Transformation der spätbarocken Alltags- und Frömmigkeitskultur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Ungedruckte Habil., München 1997. – BRÜCKNER, Volkskultur (wie Anm. 2), S. 190f. – Darrin M. MCMAHON, Enemies of the Enlightenment. The French Counter-Enlightenment and the Making of Modernity, Oxford 2001.
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führen.32 Frau Anna hatte seit Jahren an einer besonderen Krankheit gelitten, die sowohl ihr Mann, als auch die Verwandten und die Nachbarn als teuflische Besessenheit ansahen. Sie berichteten neben der Verwirrtheit und den Krampfanfällen der Frau auch darüber, dass eine sonderbare Kraft sie seit vier Jahren daran hindere, die heilige Kommunion zu empfangen. Die verzweifelten Verwandten klopften mit dem ausdrücklichen Wunsch an der Tür der Franziskaner zu Sombor an, es möge kein anderer als das neu eingetroffene Mitglied des Konvents, Pater Rochus, der Frau zu Hilfe kommen. Man weiß nicht, wie der Ruf der Exorzismen des früher in Požega und Našice tätigen Paters bis Sombor gelangt war, fest steht aber, dass man ihn bezüglich der Besessenheitsfälle sehr rasch gefunden hat. Nachdem der Guardian die Durchführung des Rituals gebilligt hatte, wollte Szmendrovich zunächst, in Anwesenheit von zwei vertrauenswürdigen Zeugen, den wirklichen Zustand der Frau ermitteln. Bereits die einleitenden Wörter des Exorzismus lösten die gewünschte Wirkung aus. Die Besessene brach zuerst in lautes Gelächter aus, als der Priester aber zu den härteren Formulierungen gelangte, überschwemmten plötzlich Tränen ihr Gesicht. Sie warf sich mit solcher Kraft auf den Boden, dass es unmöglich war, sie aufrecht zu halten. Es schien so, dass sie den lateinischen Text verstand: Als mildere Formulierungen über sie gesprochen wurden, beruhigte sie sich scheinbar, der gewichtige Exorzismus ließ sie aber sich in Krämpfen zusammenkauern. Als der Priester sich näher zu den nach innen gedrehten Augen und dem blassen, schwulstigen Gesicht beugte, rief sie ihm lateinisch zu: „Ich bin Dämon und Teufel“, und fügte ironisch hinzu: „Sprich schnell!“ (cito loquaris). Die Zeichen steigerten sich mit dem Voranschreiten des Rituals weiter: widernatürliche Krämpfe verdrehten ihren Körper und ihre Glieder, sie knirschte furchtbar laut mit den Zähnen, ihr Brustkorb blies sich auf, sie bekam keine Luft, schäumte, ein ungewöhnlich starker Gestank entströmte ihr, manchmal erschlaffte sie bis zu einem todesähnlichen Zustand, um danach in tierisches Geschrei auszubrechen und ihre Kleider wild zu zerreißen zu beginnen. Diese eindeutigen Anzeichen dämonischer Besessenheit überzeugten den Frater vollkommen. Er hatte übrigens auch davor gar keinen Zweifel gehabt, der in die Frau gefahrene Dämon empfing ihn nämlich schon ab dem ersten Moment als Bekannten und wies auf ihre früheren Kämpfe hin. Die Frau, wie die meisten Leute in Sombor, konnte den Namen des Fraters noch nicht gekannt haben, wie aber später Rochus selber schreibt, als er zu ihr tritt, wurde er mit folgenden Worten empfangen: „Fra Rokica“, spricht sie ihn mit dem komischen Kosenamen an, „bist du also aus Našice gekommen, damit du mich austreibst!“ Die erste Teufelsaustreibung in Sombor dauerte 14 Tage, der Fall des Dämons in Anna Matich hatte sich am Thomastag ergeben. Das zweiwöchige Ritual entwickelte sich inzwischen zu einer lokalen Sehenswürdigkeit. Das Geschrei der Besessenen zog viele an. Der Exorzismus begann zunächst in der Sakristei, dann wurde er in der Kirche fortgesetzt. Es erschienen der ungarische und illyrische (d.h. bunjevatzische) 32
Siehe mehr zum Thema auf Ungarisch bei Dániel BÁRTH, A zombori ördögűző. Egy 18. századi bácskai ferences tündöklése és bukása [Der Exorzist von Sombor. Die Brillanz und der Fall eines Franziskaners aus der Batschka im 18. Jahrhundert]. Teil I. In: Bácsország. Vajdasági Honismereti Szemle 3 (2009), S. 20-25. – Ebd., Teil 2. In: 4 (2009), S. 78-81.
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Vorstand der Stadt und auch das gemeine Volk. Unter den gaffenden Soldaten waren auch Lutheraner, es tauchten sogar immer mehr griechisch-orthodoxen Serben in der katholischen Kirche auf. Rochus Szmendrovich wandte zunächst die Liturgie des offiziellen Rituals der Kalocsaer Diözese an, dann nahm er das alternative Handbuch Flagellum daemonum und Fustis daemonum von Girolamo Menghi hervor, eine Sammlung, die ein vielfältiges Korpus an gewichtigen Exorzismen mittelalterlicher Herkunft beinhaltete.33 Der Frater versuchte augensichtlich alles. Er setzte nahezu das gesamte Waffenarsenal der tausendjährigen Exorzismuspraxis der westlichen Kirche ein: Er benutzte neben Weihwasser vom Papst geheiligte Wachsmedaille (Agnus Dei), Drucke des Johannes-Evangeliums und anderer heiligen Texte, Gebete zur Jungfrau Maria, zum heiligen Franziskus und Antonius, geweihtes Brot, den Rauch gesegneter Blumen und Pflanzen usw. Er träufelte geweihtes Öl ins Weihwasser und ließ es von der Frau trinken. Er wandte auch solche Exorzismen an, die den Teufel systematisch, mit der Aufzählung der Körperteile, von Schritt zu Schritt austrieben. Die Frau fühlte bei diesem Vorgang Kälte, dann Hitze, Feuer, dann Wind in ihren Gliedern sich bewegen, als ob sie Ameisen bekröchen. Unter der Wirkung der zwingenden Worte verriet selbst der Teufel das ein und andere. Zwar zögernd, doch schließlich doch sagte er seinen Namen. Er hieß Hassan und stand im Dienst von Assaboth. Er soll ein Wasserdämon gewesen sein, da er verriet, dass er in der Donau wohnte. Rochus erfuhr sogar, wie und warum er in die Frau gefahren war. Anna habe einmal vor vielen Jahren ihren Mann verlassen, sei zu ihrer Mutter geflohen und habe unterwegs unter dauerndem Fluchen vom Wasser der Donau getrunken. Im Zusammenhang mit ihrer Sünde hatte sich der Teufel ihrer bemächtigt. Das zweiwöchige Duell endete mit dem Sieg des Franziskaners. Der Dämon verließ die Besessene durch den Mund in Form einer schwarzen Fliege. Einige sollen sogar das Klirren des Fensterglases gehört haben, die Glasscherben wurden allerdings später nicht gefunden. Der Mund der Frau blieb noch stundenlang bewegungslos offen. Langsam kehrte das Leben in sie zurück, an den Exorzismus konnte sie sich später nicht mehr erinnern. Wie man sagte: Sie hatte sich beruhigt. Diese Geschichte war der Auftakt der mehr als zweieinhalb Jahre lang dauernden Geschehnisse, in deren Mittelpunkt der illyrische Glaubensprediger des Franziskanerkonvents zu Sombor, Rochus Szmendrovich, steht: seine Exorzismus- und Heilpraxis, sowie seine Tätigkeit als Katechet, Prediger und Beichtvater. Die Angelegenheiten des Fraters, der sowohl römisch katholische als auch griechisch-orthodoxe Besessene behandelte, erzeugten eine beträchtliche Dokumentenmenge bei der übergeordneten Diözesanbehörde. Sie ist heute im Archiv der Erzdiözese Kalocsa aufbewahrt.34 Das erzbischöfliche Konsistorium untersuchte zum ersten Mal – einer Anzeige zufolge – 33
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Vgl. Manfred PROBST, Besessenheit, Zauberei und ihre Heilmittel. Dokumentation und Untersuchung von Exorzismushandbüchern des Girolamo Menghi (1523-1609) und des Maximilian von Eynatten (1574/75-1631), Münster 2008 (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 97). Kalocsai Főegyházmegyei Levéltár I. Kalocsai Érseki Levéltár [Erzbischöfliches Archiv Kalocsa] (im Folgenden KÉL) Egyházkormányzati iratok (1. a.) Ordines religiosi, Ferencesek, Zombor 1761-1787.
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im März 1767 die Tätigkeit des Somborer Exorzisten. Die Vorsteher beunruhigte vor allem die Rolle der pravoslawen Schismatici. Aber das Argument, dass viele der 19 befreiten griechisch-orthodoxen Frauen (und der Herumstehenden) auch konvertierten, stellte sie vorläufig auf die Seite des Franziskaners. So durfte er zwar unter fest geregelten Umständen aber mit kirchlicher Zustimmung die Exorzismen fortsetzen. Im August und September des gleichen Jahres exorzierte er zwei katholische Besessene schon mit offizieller Genehmigung. Nach einer längeren Pause entflammte im Mai 1769 der dritte und letzte Teufelsaustreibungsskandal, der nach etlichen Monaten schließlich zur Entfernung von Rochus, zu seiner Versetzung aus Stadt und Diözese führte. Wer war dieser ungarländisch-kroatische Franziskaner in der Mitte des 18. Jahrhunderts? Wie lebte er, welche Ziele motivierten ihn, wie dachte er über seine eigene Rolle nach in seiner alltäglichen Pastoration und im Zusammenhang mit seinem Charisma? Was führte zu seiner unglaublichen Beliebtheit? Warum standen die Leute der Stadt, egal welcher Nationalität, Religion oder gesellschaftlichen Gruppe, so leidenschaftlich zu ihm? Wie beurteilten seine Tätigkeit die Mitbrüder, die Ordensvorsteher und die übergeordneten kirchlichen Behörden? Es stellen sich noch Dutzende von Fragen, deren Beantwortung nach weiterer Erläuterung verlangt, allerdings nicht an dieser Stelle, sondern – so meine Hoffnung – in einer künftigen mikrohistorischen Analyse.35 Die Quellenlage erweist sich in dieser Richtung durchaus viel versprechend. Einzig von der Hauptfigur der Geschehnisse blieben äußerst dicht geschriebene Briefe im Umfang von vierzig Seiten erhalten. Hinter dem schlechten Küchenlatein und dem sich eröffnenden, persönlichen, ehrlichen Tenor wird die Mentalität, Bildung und Denkstruktur eines frühneuzeitlichen Mönchs sichtbar.
* Es ist bereits ein Jahrzehnt her, dass ich im Archiv auf dieses großartige und noch ungesehene Quellenmaterial gestoßen bin, seitdem beschäftigt mich – neben anderen Themen – die Geschichte des Exorzisten. Von Anfang an bin ich von der grundlegenden Hypothese ausgegangen, dass es sich hier um einen Kampf zwischen der mittelalterlichen, „volksnahen“ Franziskanerattitüde und der rationalistischen, vom Geist der katholischen Aufklärung geprägten kirchlichen Führung handelte. Die spektakuläre Anwendung der „exorzistischen Wunderkuren“ habe ich lange Zeit für ein allein stehendes, verspätetes Phänomen gehalten, da mir die Positionen der Forschung bezüglich der europäischen Höhepunkte und des Rückgangs solcher Skandale im 16. bis 17.
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Bisherige Veröffentlichungen: Dániel BÁRTH, Ördögűző Rókus testvér. Képek egy 18. századi zombori ferences életéből [Pater Rochus, der Exorzist. Lebensbilder eines Franziskaners von Sombor im 18. Jahrhundert]. In: Sándor ŐZE / Norbert MEDGYESY-SCHMIKLI (Hg.), A ferences lelkiség hatása az újkori Közép-Európa történetére és kultúrájára, Bde. 1-2, Piliscsaba, Budapest, 2005, hier Bd. 1, 271-287. – BÁRTH, A zombori (wie Anm. 32).
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Jahrhundert bekannt waren.36 Diese Annahme hat auch die Tatsache untermauert, dass ich auch in Ungarn vergebens nach einem Parallelfall gesucht habe. Auf der Suche nach europäischen Analogien war es aber nicht schwierig, auf die Geschichte Johann Joseph Gassners (1727-1779), des berühmtesten Exorzisten des 18. Jahrhunderts, zu stoßen. Der aus Vorarlberg stammende, in den Diözesen Chur, Konstanz, Augsburg und Regensburg tätige Priester löste vielleicht den größten europäischen Skandal der 1770er Jahren aus, der eine beträchtliche Menge an zeitgenössischen handschriftlichen und gedruckten Quellen hinterließ. Anhand dieser Quellen stellten Kirchengeschichtsschreiber (zunächst Zimmermann,37 erschöpfend Hanauer,38 bezüglich einiger Teilthemen auch andere39) in minutiösen Analysen den Lebenslauf und die Wirkungsgeschichte Gassners vor. Durch die musterhaften Untersuchungen lassen sich nicht nur die ungewöhnliche Biographie eines Priesters kennenlernen, sondern auch die zeitgenössischen Pro- und Kontra-Beurteilungen der Aktivitäten des „Wunderheilers“, sowie die Heilmethoden und die lange Liste der behandelten Krankheiten. Gassners Figur hat mittlerweile auch das Interesse der amerikanischen historischen Anthropologie erweckt. Kürzlich hat Eric Midelfort die Geschichte in einer selbstständigen Kleinmonographie für das breitere Publikum zugänglich gemacht.40 So liegt die Geschichte des süddeutschen Exorzist-Heilers bereits durchaus detailliert vor. Der auffallendste Charakterzug ist vielleicht das umfassende Ausmaß des Skandals. Gassner begann seine Heiltätigkeit Ende der 1750er Jahre, nachdem er seine eigenen geheimnisvollen Krankheiten beseitigte. Nach seiner Genesung versuchte er sich mit den Texten und Verfahren auch in seiner Gemeinde. Die 1760er Jahre vergingen mit einer vergleichsweise unauffälligen, leisen Heilungstätigkeit. Sein Ruf verbreitete sich aber in immer weiteren Kreisen. Egal, wohin er als Pfarrer versetzt 36
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Cécile ERNST, Teufelaustreibungen. Die Praxis der katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert, Bern 1972. – Brian P. LEVACK, Possession and Exorcism, New York, London 1992. – Stuart CLARK, Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, Oxford 1997. – Philip C. ALMOND, Demonic possession and exorcism in early modern England. Contemporary texts and their cultural contexts, Cambridge 2004. – Sarah FERBER, Demonic Possession and Exorcism in Early Modern France, London, New York 2004. – Hans de WAARDT u. a. (Hg.), Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005. – Philipp STENZIG, Die Schule des Teufels. Der Exorzismus in den Glaubenskämpfen der Reformationszeit, Frankfurt am Main 2006. J. Antonius ZIMMERMANN, Johann Joseph Gassner, der berühmte Exorzist, Kempten 1878. Josef HANAUER, Der Teufelsbanner und Wunderheiler Johann Joseph Gassner (1729-1779). In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 19 (1985), S. 303-545. – DERS., Johann Joseph Gassner (1727-1779). Teufelsbanner und Wunderheiler. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 23 (1989), S. 430-439. Georg PFEILSCHIFTER, Des Exorzisten Gassner Tätigkeit in der Konstanzer Diözese im Jahre 1774. In: Historisches Jahrbuch 52 (1932), S. 401-441. – Gerhard AMMERER, „Gegen die unbefugten Unternehmungen gewisser Exorcisten“ – Der Hirtenbrief Erzbischof Colloredos gegen den Wunderheiler Johann Joseph Gassner von 1776. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 142 (2002), S. 141-180. H.C. Erik MIDELFORT, Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the Demons of Eighteenth-Century Germany, New Haven, London 2005. Midelfort beschäftigt sich mit frühneuzeitlicher kirchlicher Dämonologie und arbeitet vornehmlich mit deutschen Quellen.
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wurde, sammelten sich große Mengen von Blinden, Gelähmten und Epileptikern um ihn. Um seine Heilungen im Gedächtnis halten zu können, eröffnete er selber sein Diarium. Ab der Mitte der 1770er Jahre bekamen die Ereignisse allmählich einen hysterischen Anstrich. Gassner trat zu dieser Zeit schon quasi als „fahrender Zauberdoktor“ auf, dessen Ankommen in einer Ortschaft immer zu einer Massenveranstaltung eskalierte. Seine Tätigkeit beschäftigte nicht nur die zeitgenössischen Medien; man befasste sich mit ihm auf den höchsten Ebenen der kirchlichen und weltlichen Führung. Seine Persönlichkeit spaltete auch die Intellektuellen. Die Zahl der Pamphlete und Flugschriften gegen und für ihn ist nahezu gleich groß (es sind mehr als hundert verschiedene Veröffentlichungen bekannt). Man findet mächtige und einflussreiche kirchliche Persönlichkeiten – protestantische und katholische – sowohl unter seinen Gegnern als auch unter seinen Befürwortern. Die weltliche Macht nahm ebenfalls Stellung, Joseph II. äußerte selber sein Missfallen gegenüber den lauten Mirakeln. Der allerhöchsten Instanz, nämlich dem päpstlichen Verbot ist es zu danken, dass Gassner schließlich etliche Jahre vor seinem Tod mit seiner Heilungstätigkeit aufhörte. Während rund anderthalb Jahrzehnten behandelte Gassner Zehntausende, meistens aus den niedrigen gesellschaftlichen Schichten. Laut zeitgenössischen Berichten meistens erfolgreich. Die nachträgliche wissenschaftliche Meinung hebt seine Fähigkeiten als „Suggestor“ und „Hypnotiseur“ hervor. Unsere Aufgabe besteht allerdings – meiner Auffassung nach – nicht darin, dass wir die Heilungen Gassners oder seiner Epigonen41 etwa mit den Kategorien Richtigkeit oder Betrug beurteilen. Vielmehr sollten wir die gesamte Ereignisfolge in ihrem soziokulturellen Milieu interpretieren. Vor einer diesbezüglichen Analyse beider parallelen Biographien sollte hier zunächst eine kurze Vorstellung der Geschichte des in der ungarischen und internationalen Fachliteratur bisher unbekannten „kleinen ungarischen Gassners“ stehen.
* Für die Bevölkerung von Sombor im 18. Jahrhundert ist sowohl in ethnischer, als auch in religiöser Hinsicht eine hochgradige Vermischung charakteristisch.42 Die größte Gruppe bildeten die katholischen Südslawen, die in der damaligen offiziellen Sprache als „Illyrer“ bezeichnet wurden. Neben ihnen lebten noch Ungarn, Deutsche und griechisch-orthodoxe Serben in der Stadt. Letztere hatten zwölf Popen und zwei Kirchen.43 Der rund vierzig jährige, außerordentlich aktive Rochus Szmendrovich kam im Jahre 1766 im Franziskanerkonvent zu Sombor an. Von seinem Vorleben 41
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Vgl. Manfred EDER, Teufelsglaube, „Besessenheit“ und Exorzismus in Deggendorf (17851791). In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 26 (1992), S. 295-321. – Nils FREYTAG / Benoît Van den BOSSCHE, Aberglauben, Krankheit und das Böse. Exorzismus und Teufelsglaube im 18. und 19. Jahrhundert. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 44 (1999), S. 67-93. János MUHI, Zombor története [Die Geschichte von Sombor]. Zombor 1944. KÉL 1. e. Kötetek. Prothocollum Canonicae Visitationis Districtus Superioris Bacsiensis a. 1767, 215-246.
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verfügen wir bisher nur über spärliche und indirekte Informationen. Er wurde 1726 in Velika Mlaka, in der Umgebung von Turopolje, in Kroatien geboren, ursprünglich wurde er auf den Namen Peter getauft. Als Weltpriester diente er hauptsächlich in der Zagreber Diözese. Lange Zeit war er in der Stadt Pozsega tätig. Im Zusammenhang mit unserem Thema ist erwähnenswert, dass der Stadtpfarrer ihm hier die Teufelsaustreibung schriftlich bewilligte. Später übernahm er selber die Leitung der Stadtpfarrei. Es ist ein Rätsel, warum der 35-jährige Priester um die Aufnahme in den Franziskanerorden bat. (Weitere Forschungen sollten die eventuellen, zurzeit nur vermuteten Zusammenhänge zwischen diesem Schritt und seiner Exorzismus- und Heiltätigkeit klären.) Sicher ist allerdings: Peter Szmendrovich, früherer Pfarrer in Pozsega, zog am 16. Juni 1763 die Ordenskleidung der Franziskaner an, und ein Jahr darauf am gleichen Tag legte er das ewige Gelübde ab und nahm den Namen Rochus an. Die Ordensvisitationen merken über ihn an, dass er neben der kroatischen und lateinischen, zwar weniger gut, aber auch die deutsche, slowakische und natürlich die ungarische Sprache beherrschte. In Sombor wurde er zum illyrischen Festtagsprediger (concionator festivalis) ernannt, diese Position bekleidete er bis zum Mai 1769.44 Der Ruf der oben beschriebenen ersten Teufelsaustreibung verbreitete sich in der Stadt und Umgebung. Zahlreiche Gaffer suchten die Pfarrkirche auf, um die nicht alltägliche Sehenswürdigkeit sehen zu können. Zu Ende des Winters, also im Februar und März des nächsten Jahres, bemühte er sich bereits darum, ein Dutzend vermeintlich besessene Griechisch-Orthodoxe zu befreien. Es dürfte heute schwierig zu ermitteln sein, wer den immer skandalverdächtiger agierenden Franziskaner bei den oberen kirchlichen Behörden „denunzierte“. Immerhin kam die Angelegenheit im Frühling 1767 vor den Erzbischöflichen Stuhl (consistorium).45 Der vorsitzende Domherr verkündete: Es wurde ihm bekannt gegeben, dass ein Somborer Franziskaner etliche „vermeintliche Besessenen“ seit Monaten erfolglos exorziere. Seine Tätigkeit sei vollkommen schädlich und ordnungswidrig, und die Verspottung der kirchlichen Liturgie. Laut seinen Informationen solle die erwähnte Person sogar ein bühnenartiges Holzpodium haben bauen lassen, um darauf die Rituale durchführen zu können. Im Laufe des lärmigen Spektakels wiederholte das Publikum verschiedensten Alters und Geschlechts die volkssprachlichen Exorzismen im Chor nach dem Priester, während er im Rahmen des Ritus die griechisch-orthodoxen Besessenen mit Kerzen in der Hand in einer Reihe aufstellte. Man verordnete sofort die gründliche Untersuchung der Angelegenheit. Der Propst des Bezirks wurde beauftragt, schnellstmöglich in die Stadt zu fahren, die öffentlichen Teufelsaustreibungen des Franziskaners zu verbieten und anhand der zusammengestellten Fragepunkte eine Untersuchung gegen ihn durchzuführen. Der Propst belauschte sogar heimlich den Prozess der Teufelsaustreibung. Folgender Anblick bot sich seinen Augen: Der „exorzierende Pater“ sprach die kroatischen Gebete ohne Buch und Stola, und die Masse wiederholte manche Teile laut, im Chor nach dem Vorbeter. So zum Beispiel, „Hebe dich weg, Satan, hebe dich 44
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Magyar Ferences Levéltár [Ungarisches Franziskanerarchiv] (im Folgenden MFL) Tabulae […] 1767 Zombor, Registrum de alma et antiquissima almae S. Joannis a Capistrano neo-erectae Provinciae Frat. Min. Reg. Obser. comparatum. CDXVI. – BÁRTH, A zombori (wie Anm. 32). KÉL 1. e. Kötetek. Protocollum Consistoriale 1766-1969, 14. März 1767.
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weg, unreiner Geist, vernichte dich das Leiden Christi, zerstöre dich das Blut Christi“. Der Propst zog Pater Rochus wegen der Regelwidrigkeiten zur Verantwortung und verbat ihm den öffentlichen Exorzismus im Sinne der Konsistoriumsanweisung.46 In seinen Antworten erklärte Pater Rochus, dass die Schismatici ihn nach seiner ersten Teufelsaustreibung in immer größeren Mengen aufsuchten. Sie litten an verschiedenen Krankheiten, schließlich entdeckte er bei 19 von 30 die Anzeichen wirklicher Teufelsbesessenheit. Es sei merkwürdig gewesen, dass sie alle Frauen waren. Er riet diesen Leuten vergebens, zu ihren Popen und Kaludjern zu gehen, sie erwiderten, sie hätten es schon versucht, aber ohne jeglichen Erfolg. Mehrere der Befreiten traten zum katholischen Glauben über, und so taten dies auch mehrere „Zuschauer“.47 An der Sitzung des Konsistoriums Ende April 1767 nahm auch der Betroffene persönlich teil und erörterte seine Verteidigung und seine Beweggründe in einer langen Rede.48 Zur Bekräftigung seiner Wahrheit zeigte er drei Zeugnisse vor, in denen sich die Vorsteher der Stadt übereinstimmend dazu äußerten, dass sie bei den Teufelsaustreibungen zugegen waren, aber keinerlei Regelwidrigkeiten feststellen konnten: Alles, was geschehen war, diente zum Wohl und Ruhm des katholischen Glaubens. Pater Rochus ging ihnen zufolge bei den Exorzismen der an Besessenheit leidenden Menschen ohne Zweifel achtsam vor. Sie erwähnten die Konversion der Andersgläubigen als eindeutigen Gewinn der Exorzismen.49 Der persönliche Auftritt des Franziskaners machte vorübergehend einen positiven Eindruck auf das Konsistorium. Der Beschluss achtete Szmendrovichs Eifer, Verdienste und seine sittliche Lebensführung sowie die Zeugnisse, so bestand man bloß darauf, dass der skandalöse Fall sich nicht wiederholen dürfe. Sollte in der Zukunft der Verdacht der Besessenheit auftauchen, nehme er zwei Ordensbrüder aus dem Konvent neben sich und ermittle in ihrer Gegenwart die teuflischen Anzeichen. Das darüber gefertigte Verzeichnis solle er dem Konsistorium zuschicken, und wenn es von der übergeordneten kirchlichen Behörde genehmigt werde, dürfe er den Exorzismus durchführen, allerdings nur auf die Art und Weise, wie es im Rituale der Diözese stand. Der Beschluss beruhigte die Gemüter für eine Weile. Pater Rochus erhielt auch das Beichtrecht für das ganze Gebiet der Diözese und setzte seine Tätigkeit nunmehr in offiziellen Rahmen fort. Landsleute suchten ihn aber immer wieder mit dem Verdacht dämonischer Besessenheit auf. Nach einigen Monaten erreichte auch das erste lange Verzeichnis Kalocsa, in dem die Anzeichen der Besessenheit einer Frau aus Szabadka (Subotica) beschrieben waren.50 Im September 1767 genehmigte das Konsistorium den Exorzismus zweier Besessener. Nach der Ausführung des Rituals hatte
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KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor, 8. April 1767. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Brief von Szmendrovich vom 9. April 1767. KÉL 1. e. Kötetek. Protocollum Consistoriale 1766-1969, 29. April 1767. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Briefe aus Sombor, 25.-27. April 1767. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor.
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man einen Bericht über die Ergebnisse mit der Unterschrift beider Zeugen zu überstellen.51 Anschließend brach die Reihe der öffentlichen Exorzismen für eine gewisse Zeit ab. Zwischen September 1767 und Mai 1769 zeichnete sich Pater Rochus nicht nur als Glaubensprediger, sondern als Katechet der Jugendlichen und Erwachsenen aus. Er nahm an der Organisation der religiösen Bruderschaften teil.52 Die Vorsteher der Stadt schwärmten später von seinem Rednertalent und seinen Katechetentugenden. Der Frater war auch auf anderen Gebieten der Pastoration aktiv. In späteren Briefen schrieben viele über seine hervorragende Eignung als Beichtvater. Zur Ausbildung der Schwärmerei gegenüber dem charismatischen Frater – neben dem eindeutigen Grund „Exorzismus“ – trugen wahrscheinlich auch diese Fähigkeiten bei. Der eigentliche Indikator seiner Beliebtheit und Anziehungskraft war aber zweifelsohne seine heimlich ausgeübte Heiltätigkeit. Dies ist der Punkt, worüber die Quellen nicht allzu viel verraten, worüber die lobenden Briefe tief schweigen. Obwohl es dies ist, was den Hintergrund aller Vorwürfe und Probleme ausmacht. Unter Heiltätigkeit verstehen wir nicht nur die öffentlichen Austreibungsséancen, sondern zugleich jene leisen, heimlichen Gebetsheilungen, jene Benediktionspraxis mittelalterlicher Herkunft, die der Frater mit Vorliebe zum Trost der körperlich kranken Gläubigen anwandte. Es ist kein Zufall, dass Rochus sich einer unglaublichen Beliebtheit unter den Angehörigen der Sterbenden erfreute. Die meisten Gläubigen, die um die Krankensalbung baten, fragten explizit nach ihm. (Im Gegensatz zu seinen Ordensgenossen trat er angeblich lächelnd ins Haus ein, so dass die Kranken sich allein durch seinen Anblick besser fühlten.) Auch mit ernsthaften Krankheiten ging man zu ihm, und der Frater wies keine Bitte zurück. Er äußerte in mehreren Briefen seine Auffassung, dass sich der Teufel häufig unter dem Schleier eindeutig anmutender Krankheiten verberge und sich so der Menschen bemächtige. Diesem Gedanken folgend nutzte er wahrscheinlich oft die in Benediktionen und Exorzismen steckenden Heilungsmöglichkeiten aus. Zum Mittel des großen, öffentlichen Exorzismus griff er offensichtlich nur in den gravierenden und eindeutig beweisbaren Fällen der Teufelsbesessenheit. Die oben erwähnten spektakulären Exorzismen stellen also bloß die Spitze des Eisbergs dar.53 Der Wiederbeginn solcher groß angelegter Teufelsaustreibungen, die letztendlich zum Ende von Szmendrovich’ Somborer Wirken führten, erfolgte im Spätfrühling 1769. Die Nachricht erreichte im Mai das Kalocsaer Konsistorium: bei den Somborer Franziskanern treibe man wieder Exorzismen. Diesmal wurden ein Mann und eine Frau dem Ritual unterworfen. Drei Ordensmitbrüder von Rochus bemühten sich in einem Brief, die dämonische Besessenheit der beiden katholischen Personen zu bezeugen.54 Selbst der Erzbischof József Batthyány ließ seine Stimme hören. Er verordnete die Ermittlung der tatsächlichen Besessenheit der fraglichen Personen vor dem 51 52 53 54
KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Briefe von Szmendrovich, 28. August und 31. August 1767. KÉL 1. e. Kötetek. Prothocollum Canonicae Visitationis Districtus Superioris Bacsiensis a. 1767, 229. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Attestatum, 9.-14. Mai 1769.
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Konsistorium. Sie sollten nicht freigelassen werden, bis die Wahrheit geklärt sei. Sein etwas ungeduldiger und herrischer Brief macht den Eindruck, dass ihn die Aktivität des „etliche Male erwähnten“ Franziskaners immer mehr ermüdet und genervt hatte.55 Die alles entscheidende Konsistoriumsuntersuchung erfolgte im Mai 1769 in der erzbischöflichen Stadt.56 Den kranken Mann fuhr man auf einem Wagen nach Kalocsa: Er lag mit geschlossenen Augen, hatte dauernde Zuckungen, würgte und knirschte mit den Zähnen. Nachdem der Komitatsarzt ihn untersucht hatte, öffnete er seine Augen und trug seine lange und wirre Geschichte vor. Die Frau erzählte ebenso eine Geschichte, in die sie auch das Treffen mit Pater Rochus miteinbezog. Danach versuchte ein Domherr des Konsistoriums die Frau zu exorzieren, sie zeigte aber während des offiziellen römischen Rituals kein einziges Zeichen der dämonischen Besessenheit. Sie wollte während der Austreibung außer dem gewöhnlichen Herzdruck nichts gefühlt haben. Anschließend bekam der bisher nur zuschauende Rochus die Möglichkeit, den Exorzismus zu versuchen, aber erst recht spät, am Nachmittag erschienen bestimmte Anzeichen an der Frau (Verzerrung, Zuckungen, Zähneknirschen, Schreien, Zittern), sie überzeugten aber die kirchlichen Vorsteher nicht. Sie waren sowieso unzufrieden, da in dieser Phase der Frater schon sehr leise sprach, er führte das Ritual flüsternd aus. Es dämmerte schon, als der Mann an die Reihe kam. Er behauptete, dass eine geheimnisvolle Macht ihm die Hand zurückhalte, wenn er sich bekreuzigen wolle. Daneben fühle er unheimliche Schmerzen, wenn er ein Gebet höre. Um dies zu beweisen, begann man, laut zu beten, zuerst auf Kroatisch, dann auf Latein. Der Mann begann, sich vor Schmerz krampfhaft zu verrenken. Die Konsistoriumsvorsteher griffen darauf zu dem Trick, dass sie von den lateinischen Gebeten allmählich zu profanen weltlichen Texten übergingen. Die Schmerzen des Mannes ließen natürlich nicht nach. Sein Schwindel war enthüllt. Am darauf folgenden Tag, nach dem Verhör zweier Zeugen deklarierte man, dass die zwei angeblichen Besessenen eigentlich an natürlichen Krankheiten litten. Der Mann sei Wahnsinniger (maniacus), die Frau Epileptikerin. Bei der Konkretisierung der Diagnose57 war das Untersuchungsergebnis des Komitatsarztes (Henrik Kerschner) entscheidend, der Besessenheitsverdacht wurde aber in erster Linie nicht deswegen fallen gelassen. Das entscheidende Argument für die Konsistoriumsmitglieder war, dass die Frau weder bei dem Versuch des Domherrn noch bei der dreifachen Teufelsaustreibung des Franziskaners solche Anzeichen produzierte, die die Präsenz von schädlichen übersinnlichen Mächten eindeutig hätten beweisen können. Der Beschluss brachte nichts Gutes für den Franziskaner. Es wurde erklärt, dass er mit seinen Exorzismen gegen die früheren Konsistoriumsbeschlüsse verstoßen hatte, die Exorzismen wirkten skandalös unter den Schismatici, und das heilige Ritual wurde zum Gegenstand des Spottes. Die Strafe war zweifach. Zunächst wurde ihm das Exorzieren und das Beichthören verboten, sein Konventsvorsteher ging aber noch 55 56 57
KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Brief von Batthyány vom 16. Mai 1769. Siehe das Protokoll: KÉL 1. e. Kötetek. Protocollum Consistoriale 1766-1769, 18.-19. Mai 1769. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor. Attestatum von Henricus Kerschner vom 19. Mai 1769.
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weiter: Er machte ihm fast jegliche seelsorgerische Tätigkeit unmöglich, indem er ihm verbot, das Kloster zu verlassen.58 Die Restriktion des „Lieblingsfraters“ löste einen riesigen Aufschrei unter seinen Gläubigen aus. Die Stadtvorsteher starteten einen neuen, zu allem entschlossenen Ansturm gegen den Beschluss. Zeugnisse, beteuernde, bittende und flehende Briefe überschwemmten das Kalocsaer Konsistorium. Der ehrliche, gefühlsgeladene Ton der Briefe ist auffallend, sie zeugen von einer auszeichnenden Liebe der Stadtvorsteher gegenüber Pater Rochus. In einem Verhörverzeichnis listeten sie zehn Fälle auf, die seine Verdienste bei der Heilung und Tröstung von Kranken hervorhoben. Aufgrund der Schrift wird auch klar, warum die Gläubigen das Beichthörensverbot für den Frater so schmerzhaft empfanden.59 Der große Aufschrei, die skandalöse Schwärmerei, die zahlreichen Briefe erreichten allerdings gerade eine umgekehrte Wirkung. Die Leiter der Diözese sahen in ihnen wahrscheinlich nur die Bestätigung ihrer Entscheidung. Man wünschte von den Vorgesetzten des Fraters seine Entfernung, der Erzbischof drängte sogar auf seine Versetzung in eine andere Diözese. Das weitere Schicksal des Franziskaners liegt noch im Dunkel. Es ist wahrscheinlich, dass er in ein südlicheres, slawonisches oder kroatisches Kloster des Ordens versetzt wurde. Sein Name taucht später als der eines Mönchs des Diakowarer Konvents wieder auf, ohne jeglichen Titel. Er starb am 7. Dezember 1782 in Szentmihály (Drávaszentmihály, heute Mihovljan, Kroatien) und wurde in der Gruft der nahen Franziskanerkirche in Csáktornya beigesetzt.60
* Nach der skizzenhaften Schilderung des Lebenslaufs des Somborer Exorzisten kommen wir nun zur Frage der Aspekte, die hinter der Parallelität der beiden Biographien stecken. Ohne auf die eventuellen Unterschiedlichkeiten einzugehen, habe ich mir in erster Linie zum Ziel gesetzt, die Analogien hervorzuheben. Die folgenden thematischen Knotenpunkte könnten die Grundlage einer künftigen umfangreicheren Analyse bilden. 1. Persönlichkeit. Gassner und Szmendrovich sind fast genau zur gleichen Zeit geboren, sie verlebten ihre rund fünf Lebensjahrzehnte etwa 1000 km voneinander entfernt. Freilich kannten sie einander nicht. Beide gehörten zu den enthusiastischen Priestercharakteren. Als Pfarrer pflegten sie mit allen möglichen Mitteln ihre Gemeindekinder. Ihre charismatischen Persönlichkeiten machten sie zu beliebten Priester. Bei beiden erinnerte man sich an die suggestive Ausstrahlung ihrer Augen. Sie erschienen als kräftige Diener Gottes, sogar in den Augen der Anhänger anderer Kon58 59 60
BÁRTH, A zombori (wie Anm. 32), S. 80. KÉL 1. a. Ordines religiosi. Ferencesek, Zombor, 13.-26. Juni 1769. MFL Syllabus 1784.
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fessionen. Solche Beurteilungen kommen auch in den heutigen volkskundlichen und anthropologischen Untersuchungen häufig zum Vorschein. Vornehmlich trifft es für die Praxis der heute in Rumänien lebenden katholischen Ungarn zu, die die „Segenund Fluchdienstleistungen“ der rumänischen Popen und Kaludjern auch im 21. Jahrhundert in Anspruch nehmen.61 Die Gewährspersonen begründen dies oft mit der höheren Wirksamkeit der bärtigen und über einen „bannenden Blick“ verfügenden orthodoxen Priester und mit der größeren Kraft ihrer liturgischen Texte. Das südungarische Fallbeispiel ist auch deswegen interessant, weil es sich hier um eine umgekehrte Beziehung handelt: In jenem religiösen Umfeld schien eben der Franziskaner die kräftigere Priesterpersönlichkeit gewesen zu sein, von der die orthodoxen Serben Hilfe erhofften. Pater Gassner und Rochus zeichneten sich nicht nur durch ihre Heiltätigkeit aus, sondern auch durch eine unerschöpfliche Berufung und Einsatzfreude, die sie beide in zahlreichen Bereichen des priesterlichen Lebens bewiesen. Die Menschen hörten ihren Predigten lieber zu, als denen anderer; sie beichteten lieber bei ihnen als bei ihren Kollegen; und man rief immer sie, wenn die Sterbesakramente gespendet werden sollten. 2. Krankheitsauffassung. Natürlich standen im Hintergrund ihrer unheimlichen Popularität die Heilmethoden, mit denen sie die menschlichen Krankheiten behandelten. Hier sollten wir ihrer Krankheitsauffassung besondere Aufmerksamkeit widmen. Giovanni Levi hat im Zusammenhang mit dem von ihm untersuchten Piemonter Exorzisten darauf hingewiesen, dass dieser die Sprache der zeitgenössischen Krankheitsauffassung benutzte (Levi nennt sie personalistisch, d.h., dass im Hintergrund der Krankheit mehrere – natürliche, übernatürliche, gesellschaftliche und persönliche – Ursachen stehen können), um eine frühere und einfachere kausale Auffassung zu ersetzen. Letztere nennt Levi naturalistisch: Sie basiert auf einer Krankheitserklärung, die die Ursachen im umgekippten Gleichgewicht der Natur sucht.62 Bei dem Piemonter Exorzist und bei unseren parallelen Persönlichkeiten erscheint diese vereinfachte Auffassung. In ihrer Interpretation steckt hinter der Krankheit in den meisten Fällen der Teufel/Dämon. Diese Auffassung war ein wichtiger Faktor ihres Erfolgs. Das andere bedeutende Moment ist, dass sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon als veraltet geltende dämonologische Lehren zu eigen gemacht hatten. Klar unterschieden sie zwischen den grundsätzlichen Typen der dämonischen Besessenheit, den Manifestationen der circumpossessio, der obsessio und der possessio. Von diesen behandelten sie die letzteren beiden meistens im Rahmen groß angelegter feierlicher Teufelsaustreibungen, die Fälle der dämonischen circumpossessio heilten sie aber mit Benediktionen und mit den „kleinen“ Exorzis61
62
Dóra CZÉGÉNYI, Magyar-román interetnikus kapcsolatok vallási vetülete [Die religiösen Aspekte der ungarisch-rumänischen interethnischen Beziehungen]. In: Éva BORBÉLY / Dóra CZÉGÉNYI (Hg.), Változó társadalom, Kolozsvár 1999, S. 29-43, hier S. 31. – Vilmos KESZEG, A román pap és hiedelemköre a mezőségi folklórban [Die rumänischen Priester und ihr Glaubenskreis in der Folklore von Mezőség]. In: Ethnographia 107 (1996), S. 335-369. Giovanni LEVI, Egy falusi ördögűző és a hatalom, Budapest 2001, S. 64-67. Originalausgabe: L’eredita immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del seicento, Torino 1985.
Katholische Aufklärung und Volksfrömmigkeit im Ungarn des 18. Jahrhunderts
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men. Gegen Empirie und Rationalismus argumentierten sie damit, dass der Teufel durchaus imstande sei, die Besessenheit als natürliche Krankheit zu tarnen. Und zur Enthüllung dieser trügerischen Angelegenheit brauchte man eine geeignete Person und die geeigneten Texte. Zu Beginn der Prozeduren benutzten sie vom offiziellen (römischen) Rituale abweichende gewichtige, kräftige Texte, sogenannte ProbeExorzismen (exorcizmus probativus).63 3. „Weiße Magie“. Sowohl Gassner als auch Szmendrovich arbeiteten mit solchen Handbüchern, dämonologischen Traktaten, die teilweise der mittelalterlichen, teilweise der „halboffiziellen“, nach dem Tridentinum noch eine Weile geduldeten Praxis angehörten. Die Handbücher von Menghi, Stampa, Eynatten und anderen wurden Anfang des 18. Jahrhunderts eins nach dem anderen auf den Index des Vatikans, unter die verbotenen Bücher gesetzt.64 Ihr Inhalt wurde als „superstitiosus“ abgestempelt, der der Gesinnung der „weißen“ Magie nahestand. Die Betonung des maleficiums verband diese Bücher mit der immer blasser werdenden Erinnerung an den Hexenwahn. Aber nicht nur die Exorzismushandbücher waren „veraltet“, sondern auch ihre Sammlungen, die positive Benediktionen beinhalteten.65 Die umfangreichen frühneuzeitlichen Handbücher von Cochem, Bernard Sannig, Gelasio di Cilia und anderen Autoren beinhalteten noch denselben reichen Segen- und Fluchtextbestand, den Adolph Franz in der mittelalterlichen Praxis nachgewiesen hat.66 Das kirchliche Dienstleistungssystem, das für alle Bedürfnisse des Lebens prompte und effektive Hilfe anbieten konnte, verschwand nur schrittweise aus der alltäglichen Praxis. Der Bedarf an den Sakramentalien bestand weiter fort, die Befriedigung dieser Wünsche übernahmen insbesondere die Ordensbrüder. Wie bereits erwähnt liegt auch bei Pater Rochus die Vermutung nahe, dass er deshalb in reifem Alter in den Franziskanerorden eintrat, um seine diesbezügliche Aktivität besser entfalten zu können. In meinem Buch habe ich eine Auswahl aus den Texten der in Ungarn herausgegebenen Benediktionssammlungen zusammen getragen, wobei der Gebrauch von etwa 160 verschiedenen Benediktions- und Exorzismusverfahren für den Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert nachgewiesen werden konnte.67 4. Spektakel. Es ist sicher, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur diese beiden Geistlichen dieser Texte und gesegneten Gegenstände bedienten. Wahrscheinlich wäre es auch nicht zu Skandalen gekommen, wären die Heilungen leise und geheim geschehen und nicht zu Spektakeln geworden. Das Rituale Romanum (1614) und die danach herausgegebenen Ritualien der Diözesen untersagen ausdrücklich die öffentlichen, vor Publikum durchgeführten Exorzismen. Die sich häufig wochenlang hinziehenden Zweikämpfe entwickelten sich aber aus verständli63 64 65 66 67
MIDELFORT (wie Anm. 40). PROBST (wie Anm. 33). Siehe BÁRTH, Benedikció (wie Anm. 29), S. 23-42. Adolph FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2 Bde., Freiburg im Breisgau 1909. BÁRTH, Benedikció (wie Anm. 29).
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chen Gründen oft zu groß angelegten lokalen Ereignissen. Obwohl in der Argumentation der Gegner auch andere Aspekte erscheinen, war dies vielleicht das größte Problem in den Augen der kirchlichen Vorsteher: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wollte niemand mehr, dass die geweihte Kirche zum Schauplatz zirzensischer Spektakel degradiert wurde. 5. Katholische Aufklärung. Die Geschichte der beiden Exorzismen bietet auch die Möglichkeit, die unterschiedlichen Mentalitäten der verschiedenen kirchlichen Schichten der Epoche näher zu untersuchen. Besonders im Zusammenhang mit der Entfaltung der katholischen Aufklärung ist es aufschlussreich – unter anderem – die Divergenz der Attitüden bezüglich der Dämonologie, der Sakramentalien, der Mirakel usw. zu beobachten. In der Geschichte von Pater Rochus ist eindeutig zu erkennen, dass der Erzbischof, der die Diözese in den 1760er Jahren leitete, im Sinne der Frühaufklärung agierte. Dies untermauern auch seine anderen Verordnungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Von den beiden Leitbegriffen der katholischen Aufklärung, dem Rationalismus und der Toleranz, hat er eindeutig den ersten bevorzugt. In dieser Hinsicht war mit ihm der auf der untersten Stufe der kirchlichen Hierarchie stehende Franziskaner in Konflikt geraten, der anhand seiner Gesinnung als ein ungarischer Vertreter der Gegenaufklärung betrachtet werden kann. Es ist äußerst spannend nachzuverfolgen, wie die beeinflussbare Gruppe der weiteren Kleriker (Ordensvorsteher, Pfarrgeistlichkeit, Dechanten, Domherren und Vikare) zwischen den zwei Polen schwankte. Dieses augenfällige Pendeln zwischen Wunderglaube und Skepsis betont wiederum den Übergangscharakter der Epoche. 6. Volksfrömmigkeit. Wie erscheint im Bild das „Volk“ und die Volksfrömmigkeit? Vor allem in Form der von unten kommenden Bedürfnisse. Die religiösen Dienste der Franziskaner (und anderer Orden) suchten diese zu befriedigen. Darüber hinaus erscheinen die Bedürfnisse auch in Form der Schwärmerei. Um Gassners und Szmendrovichs Person bildete sich jeweils ein regelrechter „Fanclub“. Im Hintergrund dieses „Starkultes“ stand die Verehrung der Effektivität (potencia), die im Mittelalter an die Reliquien aufbewahrenden Pilgerstätten oder die exorzistischen Heilungen der „lebenden Heiligen“ geknüpft war.68 Für ihre Umgebung stellten sie die Ausströmung und Präsenz (praesentia) der heilenden göttlichen Gnade dar. Eine gründliche Untersuchung der Quellen ermöglicht sogar den Einblick in die tieferen Schichten des Volksglaubens, zum Beispiel die Analyse der von Rochus aufgezählten, ursprünglich aus dem Mund der Besessenen stammenden Dämonennamen und dämonologischen Vorstellungen. Diese Aufgabe sprengt aber den Rahmen dieses Beitrags. Schließlich, als eine Art Epilog, möchte ich noch darauf hinweisen, dass uns das ähnliche Ende der beiden vorgestellten parallelen Geschichten irreführen kann. Es scheint so, als wären beide Männer die letzten Nebelritter der Gegenaufklärung in 68
Peter BROWN, A szentkultusz [Heiligenkult]. Budapest 1993, S. 135-158.
Katholische Aufklärung und Volksfrömmigkeit im Ungarn des 18. Jahrhunderts
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einer Zeit gewesen, als die frühere Evidenz des „Denkens mit Dämonen“ (thinking with demons)69 bereits vorüber war; als die kirchliche Aufklärung mit den heilenden, enthusiastischen Bewegungen im Rahmen von lauter Skandalen abrechnete. Diese wurden zwar wirklich weniger, um jedoch später unter jeweils anderen soziokulturellen Umständen immer wieder zum Vorschein zu kommen. Die Mentalität der beiden Geistlichen lebt in abwechslungsreichen Formen bis heute fort. Im September 2012 veranstalteten wir in Ungarn (Pécs) eine groß angelegte religionswissenschaftliche Konferenz mit dem zentralen Thema Besessenheit (Spirit Possession). Hier machten mehrere Fachleute darauf aufmerksam, dass sich in den letzten Jahren, u.a. in den USA und in Italien, ein wachsender Bedarf unter Geistlichen für eine häufigere Anwendung des Exorzismus äußert. Diese Information war mir eine Bestätigung, dass meine Untersuchungen auch einen handgreiflichen Sinn haben können, vorausgesetzt, die Anthropologen, die die exorzistischen Heilungen der heutigen charismatischen Bewegungen erforschen, zeigen sich auch für historische Beispiele offen. Ich denke allerdings, dass das Neuerzählen und die Kontextualisierung (was in erster Linie die Aufgabe der Volkskunde ist) der beiden Geschichten auch ohne diesen praktischen Gewinn nützlich sein können. Die Beantwortung der Frage, ob die Frömmigkeit und der Alltag des 18. Jahrhunderts mit dieser Methode wirklich zugänglich ist, überlasse ich den geehrten Lesern.
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CLARK (wie Anm. 36).
András Hegedűs
PRIESTERBILDUNG IN UNGARN UNTER DER REGIERUNGSZEIT VON JOSEPH II. MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DES GENERALSEMINARS IN PRESSBURG
1.
Kurzer Überblick über die Erziehung des Klerus nach dem Konzil von Trient in Ungarn
Mit der türkischen Eroberung von Buda (Ofen) im Jahre 1541 wurde Ungarn in drei Teile zerrissen. Dabei erlitt die Verwaltung der Diözesen großen Schaden. Die Mehrheit der Bischöfe musste ihre Diözesen verlassen. In dem von den Türken nicht besetzten Siebenbürgen gelang es den Protestanten, an die Macht zu kommen. Der Bischof musste seine Diözese verlassen, und das von Fürst István Báthory im Jahre 1583 gegründete Konvikt wurde nach fünf Jahren geschlossen. In dieser Situation nahm die Bedeutung des von den Habsburgern regierten und von den Türken nicht besetzten Landesteils, der sowohl aus Oberungarn, als auch aus den westungarischen und kroatischen Gebieten bestand, deutlich zu. Da das Gebiet der Erzdiözese von Esztergom den Großteil von Oberungarn umfasste, war es von der türkischen Eroberung nur zum Teil betroffen. Obwohl die Türken im Jahre 1543 die Residenzstadt Esztergom eroberten, gelang es, den erzbischöflichen Stuhl nach Westen, in die Stadt Nagyszombat (Tyrnau, heute Trnava in der Slowakei) zu verlegen. Diese Stadt blieb bis zum Jahr 1819 das Zentrum der Diözese.1 Die Erzbischöfe von Esztergom als Primasse2 von Ungarn – die günstige geographische Lage der Erzdiözese ausnutzend – gründeten hier das erste Seminar in Un1
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András HEGEDŰS, Caput, mater et magistra. Die Rolle der Erzbischöfe von Esztergom in der tausendjährigen Geschichte des ungarischen Staates und der Kirche. In: Mariazell und Ungarn. 650 Jahre religiöse Gemeinsamkeit, Graz, Esztergom 2003, S. 144-154. Als oberste Prälaten des Landes standen die Erzbischöfe von Esztergom an der Spitze der ungarischen kirchlichen Hierarchie. Von daher stammt die Bezeichnung „Primas von Ungarn“. Da Kardinal Christian August, Erzbischof von Esztergom (1707-1725), durch das Geburtsrecht als Fürst von Sachsen den Reichsfürstentitel führen durfte, ersuchte er im Jahre 1714 Kaiser Karl VI., von nun an diesen Titel auch seinen Nachfolgern im Amt zu verleihen. Von Christian August bis József Kardinal Mindszenty bezeichnete man folglich die Erzbischöfe als Fürstprimas-
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garn, das auch heute besteht. Der Erzbischof Miklós Oláh führte die Verordnungen des Konzils von Trident im Jahre 1566 in Tyrnau so rasch durch, dass das Seminar von Esztergom – hinsichtlich des Gründungsjahres – zu den ersten zehn Seminaren der Weltkirche zählt.3 Péter Kardinal Pázmány, Erzbischof von Esztergom gründete im Jahre 1623 in Wien ein Seminar, das von ihm so benannte Pazmaneum, um die Seminaristen aus ganz Ungarn dort zu versammeln. Einige Zeit danach gründete Primas György Lippay im Jahr 1648 in Tyrnau ein Seminar mit dem Namen Collegium Generale, mit demselben Ziel. Auch die Bischöfe von Vác, Nyitra und von Siebenbürgen unterstützten diese Stiftung finanziell. Im Collegium Generale wurden die Seminaristen im Geist und nach den Regeln des römischen Collegium Germanicum et Hungaricum erzogen. Sogar die rotfarbige Soutane des Seminars folgte dem römischen Vorbild, aus diesem Grund wurde das neue Lehrinstitut als Collegium Rubrorum bekannt. Dem Stiftungsbrief zufolge stand das Seminar mit der Universität von Tyrnau in engem organisatorischem Kontakt, und als diese Universität in eine andere Stadt verlegt wurde, musste ihr auch das Collegium Generale folgen. Dies geschah im Jahre 1777, als Maria Theresia die Universität nach Buda übersiedeln ließ. Daraufhin verschmolz das Collegium oder mit anderem Namen Seminarium Generale mit dem im Jahre 1687 vom Erzbischof György Széchényi gegründeten Seminarium Széchenyianum. Dadurch wurde es eigentlich zur theologischen Fakultät der Universität, deren Dekan zwischen 1777-1784, also bis zum Edikt von Joseph II., András Szabó, der Domherr von Esztergom, und früherer Direktor des Pazmaneums war. Die oben genannten Einrichtungen unter Aufsicht des Erzbischofs von Esztergom haben nicht nur die Bildung der Seminaristen aus der Erzdiözese von Esztergom, sondern auch aus anderen ungarischen Diözesen übernommen, da die Mehrheit der ungarischen Seminare erst nach der Vertreibung der Türken, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, gegründet wurde.4 Daraus folgt, dass die Primasse von Ungarn die für die Erhaltung der Seminare bestellten Stiftungen verwalteten, die ihnen aber Joseph II. für die Erhaltung der Generalseminare abnahm.
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se, dann untersagte Papst Pius XII. im Jahre 1951 den kirchlichen Würdenträgern, weltliche Titel zu tragen. István FAZEKAS, Az esztergomi Szent István szeminárium alapítása (1566) és működésének kezdetei [Die Gründung 1566 und die ersten Jahre des Graner Seminariums Stephaneum]. In: „Sapientia aedificavit sibi domum“. Papképzés Esztergom városában, Esztergom 2006, S. 2027. Einen Überblick über die Priesterausbildung in Ungarn gibt Ákos MIHÁLYFI, A papnevelés története és elmélete [Die Geschichte und Theorie der Priestererziehung]. Budapest 1896.
Priesterbildung in Böhmen unter der Regierungszeit von Joseph II.
2.
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Die Errichtung der Generalseminarien in Ungarn
Nachdem Joseph II. den Thron bestiegen hatte, begann er, mit fieberhafter schöpferischer Kraft Reformen in seiner Monarchie einzuleiten. Diese Reformen übertraten die Grenzen der Staatsverwaltung und griffen tief auch ins geistliche Leben der Kirche ein. Der kaiserlichen Konzeption gemäß sollte ein Pfarrer vor allem ein nützlicher Staatsangestellter sein, der in den Seminaren entfaltete Unterricht sollte also im Staatsinteresse liegen. Demzufolge mischte sich der Kaiser wesentlich radikaler als seine Mutter in die Priesterausbildung ein und übte bis in kleinste Einzelheiten Kontrolle aus. Um seine Ziele zu erreichen, hob Joseph II. die renommierten Diözesanseminare auf und gründete statt dieser zentralisierte Institute, sogenannte Generalseminare. Diese Generalseminare sind – wie es Cölestin Wolfsgruber beschreibt5 – die selbsteigensten Schöpfungen Josephs II. Diese Seminarien waren also in Ungarn – ebenso wie in Österreich – staatliche Einrichtungen. Der Unterricht wurde nach dem Werk des Benediktinerabts Franz Stephan Rautenstrauch, „Entwurf zur Einrichtung der Generalseminarien in den k. k. Erblanden“ (Wien, 1784) vereinheitlicht. Dem kaiserlichen Befehl vom 22. April 1783 gemäß mussten die Generalseminare in Ungarn spätestens bis zum 1. November 1783 eröffnet werden. Ausführende Institution der kaiserlichen Anordnungen war die die oberste Behörde der ungarischen Verwaltung, die Ungarische Statthalterei. Der vom Kaiser vorgegebene Termin war nach Meinung der Statthalterei zu kurzfristig, darum bat sie um ein Jahr Verschiebung, und der Herrscher akzeptierte ihren Wunsch. Diese Anordnung von höchster Stelle erregte großes Befremden unter den ungarischen Bischöfen. Der Konflikt war nicht der erste zwischen dem ungarischen Klerus und dem Kaiser, weil Joseph Kardinal Batthyány, Fürstprimas von Ungarn und Erzbischof von Esztergom (Gran), schon im Jahre 1781 gegen die kirchenpolitischen Anordnungen des Kaisers Einwände erhob.6 Der Alliierte von Kardinal Batthyány war Christoph Anton Kardinal Migazzi. Migazzi hatte gleichzeitig zwei Benefizien in Besitz. Seit 1756 war er Bischof von Vác (Waitzen), wurde aber schon im folgenden Jahr zum Erzbischof von Wien ernannt. Als Bischof von Waitzen war er der Suffragan des Erzbischofs von Esztergom. Darum können wir annehmen, dass er in jeder Hinsicht ein zustimmender Alliierter von Kardinal Batthyány war. Kardinal Migazzi war ein entschlossener Gegner des Jansenismus und des Febronianismus sowie ein treuer Anwalt der kirchlichen Rechte. Trotz vieler Anfeindungen bekämpfte er beharrlich die Eingriffe in die kirchlichen Angelegenheiten durch die aufgeklärten Monarchen seiner Zeit.
5 6
Cölestin WOLFSGRUBER OSB, Christoph Anton Kardinal Migazzi, Fürsterzbischof von Wien, Saulgau 1890, S. 542. Ignácz HALMOS, A pozsonyi generális szeminárium [Das Generalseminar von Pressburg]. In: Magyar Sion (1892), S. 356.
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Migazzi hatte eine bestimmte Abneigung gegen die Generalseminare, die er so ausdrückte: „Man wird aber auch sehr bald erfahren, daβ durch ein solches Institut die Absicht des Kaisers, gute Seelsorger zu erhalten, nicht wird erreicht werden.“7 Er war der festen Überzeugung, dass, nehme man die Erziehung der Zöglinge aus den Händen der Bischöfe, diese ihre Alumnen nicht kennenlernten und auch nicht wüssten, ob der Kandidat zur Ordination würdig sei.8 Nach persönlichen Gesprächen mit dem Kaiser am 3. Oktober 1783 erbat Kardinal Batthyány von Kardinal Migazzi die Statuten des Wiener Generalseminars. Der Erzbischof von Wien schickte nicht nur die gewünschten Statuten, sondern auch seine Bemerkungen, die er bereits im Juli 1783 hatte Joseph II. zukommen lassen. Als Beilage zu seinem Brief ergänzte Kardinal Migazzi die Arbeit von Heinrich Johann von Kerens, dem Bischof von Wiener Neustadt9, ein Werk mit dem Titel: „Idea Seminarii Generalis Viennensis“.10 Aus diesem Briefwechsel und aus anderen Briefen, die im Primatialarchiv und in der Erzbischöflichen Bibliothek in Esztergom verwahrt sind, wissen wir, dass zwischen den beiden Kardinälen ein enger Kontakt bestand. So konnten sie sich in ihren Standpunkten einigen und versuchen, einheitlich gegen die Reformen aufzutreten. Das wichtigste Ziel jedoch, die Errichtung der Generalseminare zu verhindern, blieb ihnen verwehrt. Durch die Ungarische Statthalterei beauftragte Joseph II. Kardinal Batthyány am 9. Dezember 1783, den Plan zur Errichtung der Generalseminare in Ungarn auszuarbeiten. Aber der Kaiser bedingte sich aus, in Ungarn für 1200 Alumnen drei Generalseminare zu errichten,11 davon eines in Pressburg mit zehn Lehrern. Hier müssen wir anmerken, dass Pressburg damals infolge der Türkenkriege die Hauptstadt von Ungarn war. Hier krönten die Erzbischöfe von Esztergom die ungarischen Könige, hier hielt man die Landtage ab. Die Stadt gehörte zur Erzdiözese Esztergom und die Erzbischöfe ließen hier zwei Residenzen erbauen. Die Erzdiözese besaß hier auch ein Seminar für die Gymnasiasten, das sogenannte Kleinseminar, offiziell Seminarium Emericanum genannt. So können wir den Plan von Joseph II. verstehen, in der Nähe der Kaiserstadt, in der ungarischen Hauptstadt ein Generalseminar zu gründen. Ein weiteres Seminar wollte der Kaiser in Eger (Erlau), ebenfalls mit zehn Lehrern, einrichten und ein drittes in Zagreb mit vier Lehrern für die kroatischen Komitaten. Die Theologische Fakultät der Universität von Pest – also das ehemalige Seminarium Generale – wurde nach Pressburg verlegt.
7 8 9
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WOLFSGRUBER (wie Anm. 5), S. 554. Ebd., S. 362. Fredrich SCHRAGL, Heinrich Johann von Kerens. Eine Kurzbiographie. In: Bischöfliches Ordinariat St. Pölten (Hg.), Sonderausstellung 2002. Heinrich Johann von Kerens. Erster Bischof von St. Pölten 1725/1785-1792, St. Pölten 1992, S. 11-25. HALMOS (wie Anm. 6), S. 659-660. Ebd., S. 443-446.
Priesterbildung in Böhmen unter der Regierungszeit von Joseph II.
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Kardinal Batthyány konnte mit dem Inhalt der hohen Anordnung nicht einverstanden sein. Darum bat er Andreas Szabó, den Domherrn von Esztergom, Direktor der Theologischen Fakultät und ehemaliger Rektor des Pazmaneums, darum, einen neuen Plan auszuarbeiten, wobei die wichtigsten Punkte der kaiserlichen Anordnung beizubehalten seien. Szabó ließ über die genaue Zahl der ungarischen Seminaristen eine Zählung durchführen.12 Er berücksichtigte dann sowohl diese Angaben als auch die geographische Lage der ungarischen Diözesen und schlug die Errichtung von vier oder fünf Generalseminaren vor. Diese Städte waren Pest, Pressburg, Pécs, Zagreb, Eger oder Kassa (Kaschau). Obwohl der Oberhofarchitekt Franz Anton Hillebrandt schon an Umbauplänen für die Pressburger Burg arbeitete, war diese, Szabós Meinung zufolge, für ein Seminar ungeeignet. Weil er mit vier oder fünf Generalseminaren rechnete, ging er davon aus, dass in Pressburg nur wenige Alumnen studieren sollten. Darum schlug Szabó den Umbau des ehemaligen Klarissen- und Jesuitenklosters vor.13 Diesen Vorschlag unterbreitete Kardinal Batthyány am 15. Jänner 1784 in einem Schreiben der Ungarischen Statthalterei.14 In diesem Dokument erklärte der Kardinal seinen Standpunkt: dass die Generalseminare einerseits für die Priestererziehung ungeeignet, andererseits für die Seelsorge gefährlich seien. Die Aufhebung der Diözesanseminare nahm die Erziehung der Zöglinge aus den Händen der Bischöfe. Das Recht der Bischöfe zur Erziehung entstammte aber der Natur (ius naturalis), gleichwie das Recht der Väter, ihre Söhne zu erziehen. Der Vormund könne aber den Vater niemals vertreten. Darum könnten die Bischöfe diese Anordnung niemals akzeptieren. Wie wir sehen, stimmt die Auffassung Kardinal Batthyánys weitgehend mit den Argumenten von Kardinal Migazzi überein. Nach der Übersendung seiner Position rief Kardinal Batthyány die ungarische Bischofskonferenz zusammen, dazu lud er auch die Ordensvorsteher. Die Sitzungen dauerten vom 12. bis 18. Februar 1784 und fanden im Primatialpalais in Pressburg statt.15 Kardinal Migazzi nahm an der Konferenz nicht teil, sein Delegierter war der Generalvikar von Waizen. Die Teilnehmer berichteten dem Fürstprimas über die Bedingungen in ihrer Diözese oder ihren Mönchsorden, und sie waren mit der Positionsbestimmung von Kardinal Batthyány – datiert auf den 15. Jänner 1784 – einverstanden. Die wichtigsten Punkte der Konferenz fasste Kardinal Batthyány in einem Brief zusammen und schickte sie am 16. März 1784 an die Ungarische Statthalterei. Inhaltlich war dieser Brief der am 15. Jänner gesendeten Positionierung sehr ähnlich. Der Fürstprimas hatte in ihm eine Regelung formuliert, in der er versuchte, die wichtigsten Elemente der katholischen Priestererziehung zu verteidigen. Er wollte beispielsweise das bischöfliche Inspektionsrecht nicht aufgeben, sondern gedachte dieses Recht mit der Ungarischen Statthalterei gemeinsam auszuüben. Seiner Auffassung 12 13 14 15
Eine Tabelle siehe im Anhang. HALMOS (wie Anm. 6), S. 523-525. Ebd., S. 526, 530-532. Ebd., S. 578-592.
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nach sollte das Inspektionsrecht demjenigen Bischof gegeben werden, auf dessen Gebiet das Seminar lag. Diesem Plan zufolge wäre der Inspektor des Generalseminars von Pressburg der Erzbischof von Esztergom, also Kardinal Batthyány selbst.16 Diese Regelung lehnte die Ungarische Statthalterei ab, weil sie mit den Regeln des Wiener Generalseminars nicht vereinbar waren.17 Am 5. Mai 1784 ernannte Joseph II. den von Kardinal Batthyány empfohlenen Andreas Szabó zum Rektor des Generalseminars von Pressburg. Der Rektor hatte das Recht, die Vorsteher, die Lehrer und die Angestellten auszuwählen.18 Es ist auffällig, dass unter den elf Lehrern die Mehrheit, sieben Lehrer, aus der Erzdiözese Esztergom stammten. Ein Lehrer kam aus Pécs, einer von den Paulinern, einer von den Piaristen, nur der Lehrer für kanonisches Recht war ein Weltpriester.19 Für die Erhaltung des Seminars zog Joseph II. die verschiedenen Stiftungen der Erzbischöfe von Esztergom (Pazmaneum, Coll. Rubrorum, Adalbertinum, Marianum) zusammen, und mit der Verwendung dieser Quellen wurde der Rektor beauftragt. Die anderen Stiftungen20 blieben bei den Diözesanbischöfen. Die Bischöfe mussten nur für die Unterhaltskosten (200 Ft pro Kopf) aufkommen.21 Man kann also feststellen, dass der Kaiser nur die Erziehung des Klerus verstaatlichte, ohne die Erziehung auch finanziell, aus der Staatskasse fördern zu wollen. Zum Schluss änderte der Kaiser die Zahl der Generalseminare nicht, und das Seminar in Pressburg wurde für 650, jenes in Eger für 367 und das Seminar in Zagreb für 183 Zöglinge eingerichtet. Nach den durchgesehenen Archivalien wurden diese Plätze nie vollkommen ausgefüllt. Im Jahre 1786 wurden die Seminare von Eger und Zagreb zusammengezogen und nach Pest verlegt. Im Folgenden konzentrieren wir auf die Geschichte des Generalseminars von Pressburg.
3.
Das Generalseminar in Pressburg
Die Generalseminare wurden in Ungarn am 1. Juni 1784 eröffnet. Im ersten Jahr begannen 418 Zöglinge ihre Studien in Pressburg, die Diözesanpriesteramtskandidaten hatten 18 und die Novizen sechs Lehr- und Schlafsäle. Im Seminar hielten ein Rektor, 16 17 18 19
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Ebd., S. 669. Ebd., S. 751f. Ebd., S. 751. Aus der Erzdiözese Gran: András Szabó (Rektor), György Ritzinger (Vize-Rektor), Mihály Kratoquilla (Pastoral), Ferenc Hubert (Dogmatik), György Frank (Kirchengeschichte), Ádám Kaszaniczky (Hebräisch, Exegese des Alten Testaments), László Tompa (Liturgik und Polemik), Mihály Horváth (Pastoral), Ferenc Krammer (Patrologik). In Fünfkirchen: Ádám Viser (Griechisch, Exegese des Neuen Testaments), der Pauliner Florián Bertony (Moraltheologie), der Piarist Imre Perczel (Dogmatik 2) und der Laie Tádé Pleiner (Kirchenrecht). In Gran das Stephaneum und das Emericanum. HALMOS (wie Anm. 6), S. 753.
Priesterbildung in Böhmen unter der Regierungszeit von Joseph II.
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ein Prorektor und Vizerektor, drei Spirituale und sechs Studienleiter die Verwaltung des Seminars aufrecht und betreuten die Ausbildung und Erziehung der Seminaristen. Der Unterricht begann auch in Pressburg in demselben Geist und gemäß der Regelung des Seminars von Buda. Dies lässt sich hauptsächlich daraus erklären, dass der Rektor des Pressburger Generalseminars András Szabó zuvor Dekan der Theologischen Fakultät in Buda war. An dem in Buda unter dem Rektorat von Szabo angewandten Studienplan lässt sich am klarsten erkennen, in welch großem Ausmaß sich die Vorstellungen Szabos, die Grundsätze Rautenstrauchs und des Kaisers Joseph II. unterschieden. Zu Beginn fehlte noch die Seminarbibliothek. Daher ordnete die Statthalterei an, die Theologische Bibliothek von Buda und auch andere Seminarbibliotheken nach Pressburg zu überführen.22 Joseph II. verwies darauf, dass die angemessenen Bücher ausgewählt, in einer Liste aufgeführt und dann ihm zur Genehmigung vorgelegt werden sollten. Er schrieb auch die Grundlinie der Auswahl vor, die vom Geist der Kasuistik und der Askese geprägten Bücher, die die Aufklärung des Volkes nur behindern würden, sollten zensiert oder verkauft werden. Die Bibliothek des Pressburger Seminars kam also aus dem Bestand mehrerer Seminarbibliotheken der Diözesen Gran, Veszprém, Steinamanger (Szombathely), Waitzen (Vác), Neutra (Nyitra), Raab (Győr), Großwardein (Nagyvárad), Fünfkirchen (Pécs), und aus der Bibliothek des Pazmaneums und der Theologischen Fakultät von Buda zustande und wurde auch vom Heim für alte Priester unterstützt. Die Zahl der Bücher der neuen Seminarbibliothek betrug 4200 Bände. Anfangs besaß die Seminarkapelle keine Orgel und nur wenige Kleinodien. Als der Rektor die Aufmerksamkeit der Statthalterei auf diesen Umstand aufmerksam machen wollte, wurde seine Klage einfach damit abgetan, dass der Kaiser die Ordnung des Gottesdienstes noch nicht reguliert hatte. Der Rektor aber wartete nicht auf die Regelung des Bruders Sacristan – wie der preußische Friedrich II. Kaiser Joseph II. nannte – sondern stellte aus der eigenen Schatulle eine beträchtliche Summe für die nötigen Kleinodien zur Verfügung. Seine Tat zog ihm die Missbilligung der Statthalterei zu, des Weiteren wurde die für den Rektor zur Verfügung stehende Summe auf 50 Fl. gedeckelt. In den ersten zwei Semestern wurde der Lehrplan auf fünf Jahre hin angelegt. Im ersten Jahr sollten die Seminaristen theologische Enzyklopädie, Hebräisch, Exegese, Chronologie sowie Kirchengeschichte studieren. Im zweiten Jahr standen Griechisch, Exegese/Hermeneutik, Patrologie und Einführung in die Dogmatik auf dem Lehrplan. Für das dritte Jahr wurden der erste Teil der Dogmatik und darauf folgend Moraltheologie vorgeschrieben. Im vierten Jahr sollten den Seminaristen der zweite Teil der Dogmatik sowie kanonisches Recht nahegebracht werden. Im fünften Jahr dann lernten die Zöglinge Polemik, Liturgie, weiterhin Pastoraltheologie, letzteres sowohl auf Deutsch als auch auf Latein. Der Sprachunterricht in Deutsch war bereits im ersten Semester obligatorisch. Via Statthalterei ordnete der Kaiser an, Passagen, in denen es um den Streit zwischen dem 22
Ebd., S. 757.
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Papst Gregorius VII. und dem deutsch-römischen Kaiser Heinrich IV. ging, in sämtlichen Breviarien zu tilgen oder zu überkleben. Weitere Maßnahmen bestimmten, dass die Novizen sich ebenso wie die Priesterseminaristen kleiden und die Kapuziner ihren Bart abrasieren sollten. 1785/86 wurde das Dogmatikstudium auf zwei Jahre verkürzt, die theologische Literatur aus dem Lehrplan herausgenommen und die Liturgie mit der Dogmatik zusammengelegt. Am Ende des Seminarjahres beauftragte der Kaiser den Vorsitzenden der Hofkommission in Kulturangelegenheiten, Abt Franz Stephan Rautenstrauch OSB, als Visitator Regius die Durchführung der Reformen in den Generalseminaren zu beaufsichtigen. Szabó erhob Einspruch gegen Rautenstrauch, da der Abt von Braunau sein persönlicher Gegner war.23 Der Grund dieses persönlichen Streits lässt sich nicht klären, vermutlich war Hintergrund ihr gravierender Meinungsunterschied in Frage des Seminarunterrichtes. Was den Ablauf der Visitatio betrifft, sagt es viel aus, dass Rautenstrauch sein Ankommen für den 24. August 1786 ankündigte. Er erschien aber bereits zwei Tage früher im Institut, um das Seminar zu revisieren, und er stieg nicht im Seminar, sondern in einem Gasthof ab. Die Visitatio gab übrigens den Seminaristen Anlass, sich über den Professor für kanonisches Recht, Tádé Pleiner, zu beklagen, weil dieser während seiner Vorlesungen spöttische Bemerkungen über den Klerus und über die Kirche gemacht hatte. Die Klage bestätigte auch der Rektor des Seminars.24 Der Visitator sanktionierte die schwerwiegende Klage gegen Pleiner jedoch nicht, sondern verwies den Professor darauf, dass er sich beim Unterricht streng an das Lehrmaterial halten und sich nicht in die Theologie einmischen solle. Umso mehr verurteilte er den Lehrplan des Pressburger Seminars, weil von der scholastischen Methode im Unterricht noch nicht abgegangen wurde.25 Während der Revisio, quasi als Protest gegen ihre Studienbelastung, schoben die Seminaristen ihre Notizen zur umfangreichen Kirchengeschichte von Claude Fleury (Histoire ecclésiastique) ostentativ in einem Karren herum. Bei diesem Punkt erhob sich sofort die Frage, welche Ausgabe in Pressburg dem Unterricht zugrunde lag? Die französische Originalausgabe bestand nämlich aus 20, die lateinische Übersetzung (Historia ecclesiastica) aus 70 Bänden26, und es gab auch noch eine deutsche Übersetzung. Weil die Unterrichtssprache Latein war, kann man annehmen, dass die Alumnen mit der lateinischen Ausgabe, also mit 70 Bänden, demonstrierten. Diese Demonstration der Seminaristen hatte jedenfalls Folgen, und bereits im nächsten Jahr wurde ein neues, jedoch keineswegs brauchbares Lehrbuch vorgeschrieben. Es wurde die „Historia Religionis et Ecclesiae Christianae“, von einem Wittenberger Professor, dem Protestanten Matthias Schröckh, zum obligatorischen Lehrbuch für Kirchengeschichte. 23 24 25 26
Ebd., S. 838. Ebd., S. 840. Ebd., S. 842. Claudius FLEURIUS, Historia ecclesiastica latine reddita. LXX Bde. Editio secunda, Vindobonae 1768-1782.
Priesterbildung in Böhmen unter der Regierungszeit von Joseph II.
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Rektor Andreas Szabó fasste seine Einwände gegen die Einführung des neuen Lehrbuches in fünf Punkten zusammen. Seinen Protest resümierte er kurz nur damit, dass, dieses Buch in die Hände der Theologen zu geben, bedeute, den Glauben der Jungen in seinen Grundlagen absichtlich ins Wanken zu bringen.27 Gegen die im Grunde genommen in protestantischer Geistigkeit verfasste Kirchengeschichte hatte auch Kardinal Batthyány Einwände, der vorerst von den ungarischen Bischöfen und Theologen ein Gutachten erbat. Das deutlichste der eingehenden Gutachten verfasste Ignác Nagy, Bischof von Székesfehérvár (Stuhlweißenburg). Er betonte die mit der katholischen Kirche unvereinbaren Thesen und zeigte detailliert auf, dass Schröckh die katholische Kirche des Aberglaubens beschuldigte, die Liturgie verhöhnte und für belanglos hielt. Er verneinte außerdem die Dogmen, die Eucharistie, das Vergeben der Schuld sowie das Purgatorium und bestritt die Hierarchie.28 Seiner Meinung nach war der Papst bloß einer unter den Bischöfen und der Bischof nur einer unter den Presbytern. Sein Gutachten schickte Batthyány im Oktober 1786 an Kardinal Migazzi, der – in gegenseitigem Einvernehmen mit Batthyány – das Gutachten an Joseph II. weiterleitete.29 Rautenstrauch verbot aber nicht nur die Kirchengeschichte von Fleury, sondern auch andere bis dahin im Unterricht grundlegende Bücher und bestimmte die Werke von ihm hochgeschätzter Autoren als obligatorisches Lehrmaterial für den Unterricht: beispielsweise das von den Thesen des Jansenismus geprägte Lehrbuch der Moraltheologie („De theologia morali positiones“, Vindobonae, 1784) von Wenzel Schanza, weiterhin die Bücher zum kanonischen Recht des Febronianisten Josef Valentin Eybel. Im Schuljahr 1786/87 ordnete Joseph II. an, ihm die Predigten zu unterbreiten und ihm in den Jahresberichten am Semesterende über die Predigten zu referieren.30 Am 26. August 1786 enthob der Kaiser den Rektor der Wirtschaftsverwaltung und beauftragte damit einen Beamten der Bezirkskammer. Mit der Lebensmittelversorgung beauftragte Joseph II. spätestens ab dem 1. Februar 1787 einen heimischen Landwirt. Ab dem 1. August übernahm tatsächlich ein Gastwirt diese Aufgabe, der bereit war, für 20 Fillér (Groschen) Lebensmittel zu besorgen. Bald wurde ihm auch die Besorgung des Tafelgeschirrs und der Becher des Seminars, sowie die Ablieferung von 3800 Ako (160.000 Liter) Wein übergeben. Letztendlich löste aber das Seminar den Vertrag auf und kündigte wegen mangelhafter und ungenügender Versorgung am 5. August 1789 diesem Gastwirt; den Auftrag bekam ein anderer Gastwirt, Franciscus Struncz.31
27 28 29 30 31
HALMOS (wie Anm. 6), S. 850. Bibliotheca Ecclesiae Metropolitanae Strigoniensis, Batthyány-Sammlung, S. 289, Reflexiones […] in opus Historiae Ecclesiasticae ad normam Schröckii complilatae. Migazzis Brief vom 02. November 1786. In: Ebd. HALMOS (wie Anm. 6), S. 844. Ebd., S. 846.
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Am Ende des Semesters 1786/87 tilgte Joseph II. den Spiritual von der Liste der Vorsitzenden des Seminars.32 Der Rektor protestierte dagegen, und bat – vergeblich –, dass wenigstens einer von den vier Spiritualen, ein das Institut nur besuchender Priester, diese Aufgabe erfüllen dürfte.33 Im Sommer 1787 besuchte der Primas von Belgien, Kardinal Johann Heinrich Graf von Frankenberg, Erzbischof von Mecheln das Generalseminar Pressburg, den übrigens Joseph II. infolge seines Widerstandes gegenüber den Reformen ad audiendum verbum zu sich beorderte. Der Kardinal wollte aufgrund seiner negativen Erfahrungen – insbesondere mit der Freizügigkeit der Professoren, was die Verbreitung häretischer Lehren anbelangte – beim Kaiser erreichen, dass das in Leuven für 300 Zöglinge gegründete Seminar gesperrt würde.34 So diente der Besuch in Pressburg dem Kardinal eigentlich zugleich dazu, in einem anderen Generalseminar Erfahrungen zu sammeln. Ein Seminarist, der dank seiner französischen Sprachkenntnis dem Kardinal und seinem Gefolge persönlich begegnete, verfasste einen kurzen Bericht über den Besuch. In seinen Memoiren liest man ein interessantes Detail, aus dem die Meinung des Erzbischofs von Mecheln zu den Generalseminaren klar hervorgeht. Er äußerte sich nämlich dazu, dass es gefährlich sei, wenn die Priester eines Landes in einem Seminar erzogen und gelehrt würden, in welchem die Lehrer Anhänger und Vertreter häretischer Thesen seien. Diese Lehrer könnten eine ganze Generation verderben – was eigentlich in den kleinen Diözesanseminaren nicht geschehen könne.35 Seiner Auffassung stimmten auch die ungarischen Bischöfe zu. Im Schuljahr 1787/88 verringerte sich die Zahl der Seminaristen merklich, weswegen Joseph II. über den Grund des Rückganges Erkundigungen einholen ließ. Szabó, der nichts darüber wusste, dass Joseph II. ihn inzwischen zum Titularbischof ernannt hatte, verwies in einem Brief klar darauf, es sei nicht zu erwarten, dass in einer Ära der sich verbreitenden Gott- und Zügellosigkeit die Jungen in den Dienst der verspotteten und gedemütigten Kirche treten wollten.36 Mit seinem aufrichtigen und selbstbewussten Brief zog Szabó den Zorn des Kaisers auf sich, Joseph II. gab der Commissio Ecclesiastica die Anweisung, Szabó abzulösen. Gemäß der Anweisung vom 13. Januar 1788 verließ Szabó drei Tage später das Seminar zusammen mit dem Vizerektor, der schon früher gekündigt hatte.37 So waren nach der Ablösung der Männer des Kardinals Batthyány die Hindernisse beseitigt, „die Reformen“ durchführen zu können. Während seines Rektorats bewies 32
33 34
35 36 37
Die letzten Spiritualen György Lypussy, István Végh, József Antoni, Graczián Sardik, unter denen József Antoni am 26. Juli 1787 zum Pfarrer ernannt wurde. Vgl. Lajos NÉMETHY, Series parochiarum et parochorum, Stigonii 1894, S. 470. HALMOS (wie Anm. 6), S. 849. Egy vén posoni növendékpap: Visszaemlékezés a posoni közönséges papnevelő-házra [Ein anonymer alter Seminarist (anonymer Autor): Erinnerungen an das Seminar von Pressburg]. In: Religio 17. Mai 1846. Ebd., S. 315. HALMOS (wie Anm. 6), S. 851. Ebd., S. 898f.
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nämlich Szabó, dass er mit dem System von Rautenstrauch ganz und gar nicht einverstanden war zu retten versuchte, was noch zu retten war und was er noch retten konnte. Der damalige Pressburger Seminarist, auf dessen Memoiren bereits verwiesen wurde, schrieb über Szabó: Es gab keinen Seminaristen, der Szabó wegen seiner Gelehrsamkeit, Milde und Güte nicht achtete.38 Zum neuen Rektor wurde Georg Frank, der frühere Professor für Kirchengeschichte bestimmt. In seinen Lehrveranstaltungen hatte Frank die Widerlegungen der Grundthesen der Kirchengeschichte von Schröckh außer Acht gelassen, er schmähte die Päpste, die Bischöfe und die Mönchsorden. Deshalb zeigte Szabó ihn beim Fürstprimas und bei der Statthalterei an. Die liberale und schmähliche Unterrichtsmethode wurde Frank als Verdienst angerechnet und schenkte ihm das Vertrauen des Kaisers.39 Nach der Ernennung Franks40 mangelte es immer mehr an Disziplin im Seminar, und es kam kurz darauf zu mehreren skandalösen Szenen – was unter dem Rektorat Szabós unvorstellbar gewesen wäre. Der Professor für Moraltheologie, Joseph Seyfert, versuchte in seiner Vorlesung zu beweisen, dass die Kindstaufe zur Seligkeit gar nicht vonnöten sei. Die Seminaristen erhoben sofort einstimmig Protest: „Est contra dogma!“ Als der Professor versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, standen sie auf und verließen den Saal. Rigoros verwies Georg Frank den Zöglingen ihren Akt, als Seyfert in seiner Vorlesung am Nachmittag jedoch wiederum begann, die Nichtigkeit der Taufe zu erklären, wiederholte sich die Szene vom Vormittag. „Est contra dogma!“, schrien die rechtgläubigen Seminaristen und ließen den Professor stehen. Der Rektor tadelte sie wegen ihres Benehmens, aber Seyfert wagte nicht mehr, den Glauben der Seminaristen öffentlich zu verletzen. Die Demonstration der Pressburger Seminaristen war nicht die einzige, dasselbe geschah auch in Leuven und führte sogar zur Auflösung des Seminars.41 Hier sollten wir uns nur an den Hl. Klemens Hofbauer erinnern, der das Generalseminar von Wien verließ, weil er den dortigen Unterricht mit der katholischen Lehre für unvereinbar hielt. Obwohl der Widerstand der Pressburger Seminaristen ein klares Zeugnis der Lehrtätigkeit des ehemaligen Rektors abgibt, gleichfalls auch der Scharfsinnigkeit der Seminaristen, so ist dennoch festzustellen, dass sich die Thesen der Aufklärung auch bei den Seminaristen in Pressburg einnisteten. Nachdem die Spirituale das Institut verlassen hatten, wurden junge Präfekten mit der geistlichen Erziehung der Seminaristen beauftragt. Da es in der Bibliothek viele vom Jansenismus oder vom Protestantismus geprägte Bücher gab, konnten die Seminaristen diese Bücher wie auch die Werke der französischen Philosophen lesen. Die Gedankenwelt der Aufklärung übte einen ziemlich großen Einfluss auf sie aus. Bei38 39 40 41
Erinnerungen (wie Anm. 34), S. 316. HALMOS (wie Anm. 6), S. 899. 15. Januar 1788. Augustin THEINER, Der Kardinal Johann Heinrich Graf von Frankenberg, Erzbischof von Mecheln, Primas von Belgien und sein Kampf für die Freiheit der Kirche und die bischöflichen Seminare unter Kaiser Joseph II, Freiburg im Breisgau 1850.
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spielsweise predigte ein Seminarist im fünften Studienjahr am 1. Jänner 1789 darüber, dass die Aufklärung eben deswegen so bedeutend sei, weil auch Christus selbst als Licht in die Welt kam, um die Menschen zu erleuchten. Auf ähnliche Weise kratzten Alumnen Zitate von Voltaire in die Bänke im Lehrsaal für Dogmatik, um die katholischen Dogmen zu verhöhnen. Die Vorsitzenden ordneten eine Untersuchung an, einige Zöglinge wurden bestraft, andere traten aus. Im Jahre 1788 kehrte der Kaiser auf seiner Rückkehr aus dem türkischen Krieg auch im Pressburger Seminar ein. Sein erster Weg führte ihn in die Küche, wo er sich erkundigte, ob alles reinlich und die Ernährung genügend sei. Dann geruhte er eine Vorlesung über kanonisches Recht zu besuchen und sich eine mündliche Prüfung anzuhören. Bei dieser Gelegenheit übergab ein Seminarist dem Kaiser einen Brief, in dem er sich beschwerte, dass der Professor für kanonisches Recht die Seminaristen dazu zwinge, zu Lasten ihrer Gesundheit aus dem Lehrmaterial der Vorlesung Notizen anzufertigen.42 Im Studienjahr 1789/90 trat ein neues Schulsystem in Kraft. Das Theologiestudium wurde auf vier Jahre reduziert. Im ersten Semester standen die Sprachen des Alten und Neuen Testaments sowie Exegese auf dem Lehrplan. Im zweiten Semester lernten die Seminaristen Kirchengeschichte, im dritten Dogmatik und im vierten kanonisches Recht, im sechsten Pastoraltheologie, im siebten Katechismus und letztlich im achten, historia naturalis. Infolge der ungeeigneten Leitung verfiel die Disziplin des Seminars. Unter einer schwachen Leitung genossen die Seminaristen große Freizügigkeit und übten aufeinander schlechten Einfluss aus. Sie empörten sich gegen ihren Vorsteher und wollten nicht Ruhe geben, bis ihr Protest eine für sie annehmbare Lösung fand. Sie zeigten ihre Professoren bei der Statthalterei und bei den Bischöfen an. Nach dem Tod Josephs II. verschwanden die Generalseminare in Ungarn, woran zu erkennen ist, wie stark oktroyiert die Institution die Generalseminare war. Die Statthalterei ordnete gegenüber Kardinal Batthyány an, betreffs der Reorganisation von Diözesanseminare einen Antrag einzureichen, damit der Unterricht in den neuen Seminaren im folgenden Jahre anfangen könne. Im Jahr 1789 finden wir die Seminaristen tatsächlich wieder in den Seminaren.
42
Erinnerungen (wie Anm. 34), S. 316.
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4.
Anhang
Die Anzahl der Alumnen der ungarischen Diözesen 1783.
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György Janka
AUSWIRKUNGEN DER AUFKLÄRUNG AUF DIE GRIECHISCH-KATHOLISCHE KIRCHE IM KÖNIGREICH UNGARN
1.
Einführung
Das Konzil von Trient erneuerte das Leben der katholischen Kirche. Die katholische Reform gab der missionarischen Gesinnung Aufschwung und dadurch wandte sich das Interesse den orthodoxen Christen in den östlichen Gebieten der Habsburgermonarchie zu. Die Anführer der Mission waren im Allgemeinen Jesuiten. Aufgrund der Punkte der Florentiner Union von 1439 (Akzeptanz des päpstlichen Primats, Anerkennung des Filioque, Akzeptanz des Purgatoriums, bei der Eucharistie kann auch ungesäuertes Brot ausgeteilt werden) entstand 1596 unter polnischer Oberherrschaft die Brester Union, 1611 die südslawische Union von Marča, 1646 die Union von Ungwar (ung. Ungvár, ukr. Uzhhorod), 1698 bzw. 1700 die Union der Siebenbürger Rumänen und ab 1710 die Union der Orthodoxen auf dem Gebiet des Bistums von Großwardein (ung. Nagyvárad, rum. Oradea). Bei den Abschlüssen der Unionen waren die Bedingungen günstig: Die römisch-katholische Seite war daran interessiert, die Zahl der katholischen Gläubigen zu vermehren, die östliche Seite war an einer Erneuerung ihrer Kirche und einem höheren gesellschaftlichen und kulturellen Niveau des Klerus und des Volks interessiert. Für den Wiener Hof war es vorteilhaft die Zahl der homogenen katholischen Untertanen zu erhöhen und die Zahl der Protestanten und der Angehörigen anderer Religionen zurückzudrängen.1 Diese für alle günstige Konstellation blieb nicht von Dauer. Jahrzehnte später kamen neue Beteiligte mit anderer theologischer, politischer und gesellschaftlicher Auffassung. Die römisch-katholischen Diözesanbischöfe wollten ihre Jurisdiktion auf die in ihrem Gebiet lebenden Unierten ausdehnen und deren Bischof wollten sie nur in seiner Eigenschaft als Ritus-Vikar kontrollieren.2 1
2
István PIRIGYI, Parthén Péter püspök emlékére [Zum Gedächtnis an Bischof Péter Parthén], Szakoly 1996, S. 4-18. – DERS., A magyar kereszténység kezdetei [Anfänge des ungarischen Christentums]. In: Új Ember Évkönyv, Budapest 1995, S. 48-50. István PIRIGYI, A magyarországi görögkatolikusok története [Geschichte der GriechischKatholischen in Ungarn]. Bd. I-II, Nyíregyháza 1990, hier Bd. I, S. 142-156.
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György Janka
Für die Unierten änderte sich fast nichts, im Gegenteil, ihre Bischöfe wurden vom lateinischen Ordinarius abhängig, selbständige Bistümer gründete der König für sie nicht und die Erfüllung der versprochenen Privilegien ließ auf sich warten. Während die serbischen und rumänischen Orthodoxen unabhängig waren, mussten die mit Rom Unierten dauernd um ihre Selbständigkeit kämpfen und die Orthodoxen verspotteten sie, dass sie ihre Zeremonien aufgaben und gegen den lateinischen Ritus eintauschten.3 Es stimmt nachdenklich, dass einhundertsechsundsechzig Jahre von der südslawischen Union bis zur kanonischen Gründung des Bistums von Kreutz (ung. Körös, kroat. Križevci) und einhundertfünfundzwanzig Jahre von der Union von Ungwar (ung. Ungvár, ukr. Užhorod) bis zur kanonischen Gründung des Bistums Munkatsch (ung. Munkács, ukr. Mukačevo) vergingen. So langer Kampf und Ausdauer scheinen die Meinung, die Union sei nur im Interesse einer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung zustande gekommen, zu widerlegen. Rom hielt nach der Anerkennung der Unionen genauso an seinen Vorbehalten gegen die Unierten fest. Hauptgrund dafür waren die mangelnde Bildung, die Armut und die Zurückgebliebenheit der Unierten. Die Päpste stellten sich in strittigen Fragen eher auf die Seite der Bischöfe lateinischen Ritus. Eine Lösung war Sache des Wiener Hofs geworden. An ihm lag es, ob die mit Rom unierten östlichen Christen schließlich ihr Ziel erreichten und eigene, selbständige Kirchenorganisationen bekamen und mit der römisch-katholischen Kirche gleichgestellt wurden, oder ob sie zweitrangige Katholiken und zweitrangige Untertanen blieben.4 Bei der Lösung des Problems kam dem aufgeklärten Absolutismus in der Variante der Habsburgermonarchie eine entscheidende Rolle zu, besonders dem im zweiten Abschnitt der Regierung Maria Theresias entstandenen sogenannten theresianischen Josephinismus. Diese kirchenpolitische Richtung ermöglichte es den allerseits gering geschätzten Unierten, zu Griechisch-Katholischen zu werden, also eine der katholischen Kirche römischen Ritus gleichgestellte kirchliche Organisation und Emanzipation zu bekommen.
2.
Der theresianische Josephinismus
Für die griechisch-katholische Kirche war das wichtigste Ergebnis der Aufklärung die Errichtung einer selbständigen Kirchenorganisation. Dies erfolgte unter der Herrschaft Maria Theresias (1740-1780). Die Historiker teilen die Herrschaft der Königin in zwei deutlich voneinander unterscheidbare Abschnitte ein. Diese zeigen sich auch in der Kirchenpolitik. Die Königin selbst war Anhängerin des barocken Katholizismus: Täglich besuchte sie die Messe, betete den Rosenkranz, las geistliche Bücher 3
4
Emma IVÁNYI, Az Állam és a klérus a parasztság viszonylagos vallásszabadsága ellen [Staat und Klerus gegen die relative Religionsfreiheit der Bauernschaft]. In: György SPIRA (Hg.), Tanulmányok a parasztság történetéhez Magyarországon 1711-1799, Budapest 1952, S. 96. Julian PELESZ, Geschichte der Union der Ruthenischen Kirche mit Rom. 2 Bde., Wien 1878, hier Bd. 2, S. 353-363.
Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche in Ungarn
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und ermunterte auch ihre Kinder dazu. Die 29 Jahre Ehe und die 16 Kinder sind ebenfalls Beweise für Maria Theresias Religiosität. Von den Mitgliedern des Wiener Hofs verlangte sie die österliche Beichte, sie sorgte für die Einhaltung der Fastenzeiten und kontrollierte die sittliche Lebensart.5 Die ersten zwanzig Jahre ihrer Herrschaft waren grundsätzlich durch traditionelle Regierung charakterisiert. In kirchlichen Angelegenheiten bat sie immer um das Einverständnis des Heiligen Stuhls oder erzwang es. Im Jahre 1747 beispielsweise erreichte sie bei Papst Benedikt XIV. (1740-1758), dass auch sie Kardinäle ernennen konnte, wenn der römisch-deutsche Kaiser und der ungarische König nicht dieselbe Person waren.6 Wichtigstes Ergebnis dieses Zeitabschnitts war die Erlangung des Titels Apostolischer König. Diesen Titel erhielt die Königin von Papst Clemens XIII. am 19. August 1758. Der Papst verlieh den Titel nur als Ehrentitel an Maria Theresia und ihre Nachkommen und ermächtigte sie, dass bei öffentlichen Feierlichkeiten ein Bischof vor dem König das Kreuz trage. Aber die Königin und vor allem ihre Ratgeber interpretierten den Titel Apostolischer König als Rechtstitel zur Mitsprache in kirchlichen Angelegenheiten.7 Dieses Moment führt schon über in den zweiten Abschnitt der Herrschaft Maria Theresias, der besonders in der Kirchenpolitik wesentliche Veränderungen mit sich brachte. Zuerst erschienen die neuen Ideen am Wiener Hof und gewannen dort an Stärke. Der Hofbibliothekar Franz Adam Kollar gab 1762 ein dreibändiges Buch über das Patronatsrecht (jus patronatus) der ungarischen Könige heraus. Darin bezeugte er mit Urkunden, dass die ungarischen Könige mit Genehmigung des Papstes Bistümer gründeten, Bischöfe und Erzbischöfe ernannten und kirchliche Güter besteuerten.8 Zwei Jahre später leitete er in seinem neuen Buch die vom König in kirchlichen Angelegenheiten ausgeübte Macht „jus circa sacra“ nicht mehr von der päpstlichen Bil5
6
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8
Alfred ARNETH, Maria Theresia und Joseph II. Ihr Briefwechsel, Bd. I-X, Wien 1863-1879, hier Bd. II, S. 141-149. – Henrik MARCZALI, Mária Terézia [Maria Theresia], Budapest 1891, S. 167208. – Magdalena HAWLIK VAN DER WATER, Die Kapuzinergruft, Wien 1987, S. 143. Vilmos FRAKNÓI, A magyar királyi kegyúri jog Szent Istvántól Mária Teréziáig [Das Patronatsrecht der ungarischen Könige vom Heiligen Stephan bis Maria Theresia]. Budapest 1895, S. 466-471. János KARÁCSONYI, Magyarország egyháztörténete főbb vonásaiban 970-től 1900-ig [Die Kirchengeschichte Ungarns in groben Zügen von 970 bis 1900]. Budapest 1985, S. 295. – Konrád SZÁNTÓ, A katolikus egyház története [Geschichte der katholischen Kirche]. Budapest 1985, hier Bd. II, S. 314f. – Gyula SZEKFŰ, A magyar állam életrajza [Biographie des ungarischen Staats]. Budapest 1917, S. 168. – László KATUS, Egyházi-politikai kapcsolatok a török kiűzése után [Kontakte zwischen Kirche und Politik nach der Vertreibung der Türken]. In: István ZOMBORI (Hg.), Magyarország és a Szentszék kapcsolatainak 1000 éve, Budapest 1996, S. 171209, hier S. 180-184. – Vilmos FRAKNÓI, Oklevéltár a magyar királyi kegyúri jog történetéhez [Archiv zur Geschichte des Patronatsrechts der ungarischen Könige]. Budapest 1899, S. 336. Antal MESZLÉNYI, A magyar hercegprímások arcképcsarnoka [Porträtgalerie der ungarischen Fürstprimaten]. Budapest 1970, S. 116. – Jozef TOMKO, Die Errichtung der Diözesen Zips, Neusohl und Rosenau (1776) und das königliche Patronatsrecht in Ungarn, Wien 1968, S. 3240.
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ligung, sondern vom Königtum selbst her. Dies löste auf dem Landtag von 1764/65 große Empörung aus und stellte die katholische hohe Geistlichkeit und die ungarischen Stände Seite an Seite. Der Protest führte dazu, dass Rom das Buch auf den Index setzte und Maria Theresia gezwungen war, den weiteren Verkauf des Buchs zu verbieten.9 Am Hof rief 1763 Febronius’ Buch „De status ecclesiae“, in dem er die päpstliche Macht verringerte und die bischöfliche Macht erweiterte, ein großes Echo hervor.10 In dieselbe Richtung wirkte der Gallikanismus. Die 1682 in Frankreich auf Drängen Ludwigs XIV. formulierten Artikel minimierten die päpstliche Macht zugunsten des Herrschers.11 Diese Richtungen schöpften aus dem mittelalterlichen Konziliarismus (concilium supra papam)12 sowie aus dem Regalismus, der dem König das Recht gab, zumindest während einer Sedisvakanz (vacantia sedis) über die Kirchengüter zu verfügen.13 Die zu dieser Zeit modischen philosophischen Ideen des Naturrechts fasste Christian Wolf (1679-1754) in seinem Werk „Jus gentium“ zusammen. Demnach ist der Staat oberster Wächter des Gemeinguts (bonum commune) und hat das Recht, die gesamte Gesellschaft und damit auch die Kirche zu kontrollieren. Der Staat lässt Kirchen und Schulen erbauen und ernennt die Kirchenmänner. Nur dogmatische Fragen liegen außerhalb der Kompetenz des Staats.14 Schließlich trug auch der Protestantismus mit seiner Papstfeindlichkeit sowie der Verurteilung der monarchisch-hierarchischen Struktur zur Entstehung der neuen Ideen bei. Die Verwerfung der Tradition und des Magisteriums (Kirchlichen Lehramts), die Behauptung von der Unnötigkeit des Zölibats, das religiöse Bemühen um Sparsamkeit und Arbeit wurden zu Vorreitern einer moderneren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formation.15 Initiator und Baumeister des Josephinismus am Hof Maria Theresias war der Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg. Charakteristisch für seine kirchenpolitischen Vorstellungen war ein vorübergehend angepasstes, aber gleichzeitig entschiedenes Zielstreben. Wenn möglich vermied er eine offene Beleidigung des Heiligen Stuhls, aber die leicht gegen den Herrscher aufbringbaren Protestanten unterstützte auch er nicht, wenn er ihnen auch nichts Böses tun wollte.16 9 10 11
12 13 14 15 16
Domokos KOSÁRY, Művelődés a XVlII. századi Magyarországon [Bildung im Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1983, S. 292f. Herbert RIESER, Der Geist des Josephinismus, Wien 1963, S. 8. – J. HÖFER / Karl RAHNER (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg 1986, hier Bd. 4, S. 46f. Ebd., S. 6. – Lajos CSÓKA, Állam és Egyház a fejedelmi abszolutizmus és a felvilágosodás korában [Staat und Kirche im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus und der Aufklärung]. Budapest 1941, S. 138. Georg DENZLER / Carl ANDRESEN, Wörterbuch der Kirchengeschichte, München 1993, S. 344f. RIESER (wie Anm. 10), S. 4. – CSÓKA (wie Anm. 11), S. 124. KOSÁRY (wie Anm. 9), S. 272-290. RIESER (wie Anm. 10), S. 10. Győző EMBER / Gusztáv HECKENAST (Hg.), Magyarország története 1686-1790 [Geschichte Ungarns 1686-1790]. Budapest 1989, S. 863-872. – Győző EMBER, Magyarország és az Államtanács első tagjai [Ungarn und die ersten Mitglieder des Staatsrats]. In: Századok 69 (1935), S. 554-664.
Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche in Ungarn
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Eine Möglichkeit zur Einführung seines neuen staatskirchlichen Systems ergab sich erstmals 1765. Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Lombardei die oberste kirchliche Behörde, die Giunta Economale, errichtet. Im Zusammenhang damit fasste er die Arbeiten zusammen, die auch weiterhin die Kirche ausführen könne, und nannte diejenigen Tätigkeiten, für die die Kirche seiner Auffassung nach nicht mehr zuständig sein solle. Nach Kaunitz sind die Pflichten der Kirche: 1.) Verkündigung der Grundsätze des Christentums und der christlichen Sittenlehre, 2.) Spendung des Weihesakramentes, 3.) geistliche Hilfe für die Christen, 4.) Spendung der übrigen Sakramente, 5.) außerordentliche Gottesdienstverrichtungen und 6.) Sorge für innere Disziplin und Sitten des Klerus. Nicht mehr zum Bereich der Kirche gehören: 1.) Jegliches Mitspracherecht in bürgerlichen oder rechtlichen Angelegenheiten, nämlich: 2.) in Sachen der äußeren Disziplin des Klerus und überall dort, wo der Klerus nur als Staatsbürger zu betrachten ist, 3.) Bistums- und Benefizienverleihung, 4.) Rekurse nach Rom in Dingen, die auch die Bischöfe erledigen können, 5.) römische Reservatfälle und Exemption der Orden, 6.) Erpressungen durch die römischen Datarie, d.h. durch das mit Dispenserteilung betraute Amt der Kurie, 7.) die Missbräuche des Asylrechtes, 8.) Pfründenanhäufung, 9.) die Angelegenheiten des Ordenswesens, 10.) alle Einmischung in Bücherzensur und Schulleitung, 11.) die kirchlichen Schulen für den Klerus, 12.) eigene, unabhängige Gerichtsstellen des Klerus, 13.) Festlegung von Feiertagen mit Arbeitsverbot, sowie von Fasten- und Abstinenztagen, wodurch, wie beim Fischessen, große Geldsummen aus dem Land gezogen werden.17 Die Vorstellungen des Kanzlers spiegelten sich naturgemäß reihenweise in seinen Maßnahmen: 1767 wurde das königliche Genehmigungsrecht erneuert (placetum regium, die päpstlichen Bullen durften nur mit königlicher Genehmigung vorgelesen werden), 1769 wurde in der böhmisch-österreichischen Hofkanzlei die kirchliche Abteilung errichtet (Consessus in publico-ecclesiasticis). 1769 besteuerte die Königin den Klerus ohne päpstliche Genehmigung, 1771 verringerte sie die Zahl der Pilgerfahrten, 1772 behielt sie sich das Recht zur Ernennung der Domherren in die Kapitel vor. Später setzte sie eine Höchstgrenze für die Zahl von Bettelmönchen fest, verringerte die Zahl der Feiertage und der Wallfahrten.18 Die 1770er Jahre brachten auch die Umgestaltung der Kirchenorganisation mit sich: 1776 wurden aus der Diözese von Esztergom (dt. Gran) drei neue Bistümer ausgegliedert, das von Neusohl (ung. Besztercebánya, slow. Banská Bystrica), das von Zips (ung. Szepes, slow. Spiš) und das von Rosenau (ung. Rozsnyó, slow.
17 18
RIESER (wie Anm. 10), S. 35f. Tihamér VANYÓ, A bécsi pápai követség levéltárának iratai Magyarországról 1511-1786 [Dokumente über Ungarn aus dem Archiv der Wiener Nuntiatur 1511-1786]. Budapest 1986, S. 3757. – László SZILAS, Kis Magyar Egyháztörténet [Kleine ungarische Kirchengeschichte]. Róma 1982, S. 100-105. – Jenő GERGELY / József KARDOS / Ferenc ROTTLER, Az Egyházak Magyarországon [Die Kirchen in Ungarn]. Budapest 1997, S. 104-108. – Barna MEZEY (Hg.), Magyar Alkotmánytörténet [Ungarische Verfassungsgeschichte]. Budapest 1995, S. 56-58.
122
György Janka
Rožňava).19 1777 wurden die Bistümer Székesfehérvár (dt. Stuhlweißenburg) und Szombathely (dt. Steinamanger) errichtet.20 Schließlich verbindet sich mit dem Namen Maria Theresias auch die Errichtung dreier neuer griechisch-katholischer Bistümer, aber davon wird im Folgenden ausführlicher die Rede sein.
3.
Die Errichtung des Bistums Munkatsch
Bei Abschluss der Union von Ungwar (ung. Ungvár, ukr. Užhorod) am 24. April 1646 legten dreiundsechzig Priester in Anwesenheit von György Jakusics, Bischof von Eger (dt. Erlau), das katholische Glaubensbekenntnis ab. Die Unierten bekamen drei Versprechen: Ihren Ritus können sie unverändert beibehalten, ihre Bischöfe werden von der Priestersynode gewählt und vom Papst bestätigt, der unierte Klerus bekommt alle Rechte und Privilegien, die den ungarischen römisch-katholischen Priestern zustehen. Der Unionsprozess erstreckte sich auf dreizehn Komitate und endete 1721. Damit wurden die Eparchie von Munkatsch und die Ruthenen ausnahmslos griechisch-katholisch.21 Nach der Union blieben aber noch wichtige Fragen ungelöst. Die Eparchie wurde im kirchenrechtlichen Sinne nicht gegründet. Die Rechtsstellung des Bischofs blieb ungeklärt. Der König ernannte ihn aufgrund seines Patronatsrechts zum Bischof von Munkatsch. Der Papst ernannte ihn zum Titularbischof und ab Ende des 17. Jahrhunderts beförderte er die unierten Bischöfe zu apostolischen Vikaren. Der Bischof von Eger (dt. Erlau), auf dessen Gebiet die Unierten lebten, betrachtete sich selbst als Ordinarius, als Diözesanbischof, den griechischen Bischof hielt er nur für einen Ritus-Vikar.22 Diese chaotische Situation nützen die serbischen orthodoxen Mönche aus und entsandten eine Mission, um die Unierten wieder zu bekehren. 1740 trat zum ersten Mal in Südsiebenbürgen ein Mönch namens Visarion Sarai auf. In seinen suggestiven Reden verkündete er, dass die Unierten von der alten Religion ihrer Vorväter abgewichen seien und eigentlich den lateinischen Ritus übernähmen. Daraufhin wurden 60.000 Siebenbürger Rumänen wieder orthodox.23 In den 1760er Jahren nahm ein serbischer Mönch namens Sophronius Popovitsch sogar die Eparchie von Munkatsch 19 20 21 22 23
Jozef TOMKO, Die Errichtung der Diözesen Zips, Neusohl und Rosenau (1776) und das königliche Patronatsrecht in Ungarn, Wien 1968, S. 46-69. Konrád SZÁNTÓ, A katolikus egyház története [Geschichte der katholischen Kirche]. Budapest 1985, hier Bd. II, S. 294-316. István PIRIGYI, Az ungvári unió [Die Ungvarer Union]. In: Vigilia 6 (1996), S. 402-406. Antal HODINKA, A munkácsi görög-katholikus püspökség története [Geschichte des Munkatscher griechisch-katholischen Bistums]. Budapest 1910, S. 566-597. László MAKKAI, Magyar-román közös múlt [Ungarisch-rumänische gemeinsame Vergangenheit]. Budapest 1989, S. 172. – Nicolaus NILLES, Symbolae ad illustrandam Historiam Ecclesiae Orientalis in terris Coronae S. Stephani. Bde. I-II, Oeniponte 1885, hier Bd. II, S. 557. – Béla KÖPECZI (Hg.), Erdély története [Geschichte Siebenbürgens]. III Bde., Budapest 1988, hier Bd. II, S. 1017.
Auswirkungen der Aufklärung auf die griechisch-katholische Kirche in Ungarn
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ins Visier. Mit Hilfe der Privilegien für Serben wollte er den Unierten einreden, dass es für sie vorteilhaft wäre, in die Orthodoxie zurückzukehren. In einer Stadt und zwei Gemeinden gelang es ihm, die Gläubigen in Aufruhr zu bringen. Der Wiener Hof trat mit Militär auf und die Gutsherren verboten den Dorfbewohnern, mit den orthodoxen Priestern zu verhandeln.24 Einen ähnlich angezettelten Aufruhr gab es 1765 auch in Hajdúdorog, der vom Militär gedämpft wurde.25 Alle diese Ereignisse machten dem Wiener Hof klar, dass eine umfassende Regelung notwendig war. In den 1760er Jahren verschärften sich die Streitigkeiten zwischen den Bischöfen und Priestern der Diözesen von Eger und Munkatsch. Der Bischof von Eger, Károly Eszterházy (1762-1799), betrachtete den Bischof von Munkatsch, Emmanuel Olsavszky, nur als Ritus-Vikar. Eszterházy nannte bei Schließung einer Ehe mit unterschiedlichem Ritus (Hochzeit zwischen einer römisch-katholischen und einer griechisch-katholischen Person, matrimonium mixtae) als allein zuständigen trauenden Priester den römisch-katholischen Geistlichen. Die lateinischen Pfarrer hielten die griechischen Priester praktisch für Ritus-Kaplane. Für viel Streit sorgten auch die Beerdigungen oder der Einzug der jährlichen Priestereinkünfte, vor allem wenn am Ort kein anderer Geistlicher wohnte. Spannung ergab sich durch die unterschiedliche Anzahl der Feiertage, den Gebrauch unterschiedlicher Kalender und Unterschiede in der Fastendisziplin. Die Lateiner sahen auf die Griechen herab wegen ihrer Armut und mangelnden Bildung. Als besonders schmerzhaft empfanden die Griechen, dass sie ohne Genehmigung des Bischofs von Eger keine Kirche bauen und keinen Priester weihen konnten.26 In der Schrift „Opinio et informatio de espiscopatu G.R. Munkacsiensis non erigendo“ (Meinung und Information über das nicht zu errichtende Munkatscher Bistum griechischen Ritus)27 des Bischofs Károly Eszterházy, das er 1767 an Papst Clemens XIII. geschickt hatte, zeichnete sich das Bild der katholischen barocken Kirche ab. Die Kirche ist hier eine gut organisierte Armee, deren Einklang durch ungeteilte Macht und unbedingten Gehorsam der Untertanen geschaffen wird. Die Kirche Christi hat einen einzigen Kopf, die Teilkirchen (örtlichen Kirchen) einen Primas, einen Bischof und einen Pfarrer. Falls Helfer für Sprache oder Ritus nötig sind, können sie nur untergeordnete Vertreter sein, damit die Ordnung gewahrt bleibt. Seine Meinung belegte er mit päpstlichen und Konzildokumenten, die es verboten, dass es in einer Diözese gleichzeitig mehrere Bischöfe gebe, so zum Beispiel mit dem 9. Kanon des 4. Laterankonzils „Quoniam in plerisque“, mit der Bulle von Pius IV.
24
25 26 27
Silviu DRAGOMIR, Istoria Desrobirei Religioase a Romanilor din Ardeal: in secolul XVIII [Geschichte der religiösen Befreiung der Siebenbürger Rumänen im 18. Jahrhundert]. Bd. II. Sibiiu 1920, S. 382f. HODINKA (wie Anm. 22), S. 608f. – Imre TIMKÓ, Keleti kereszténység, keleti egyházak [Östliches Christentum, östliche Kirchen]. Budapest 1971, S. 459. VANYÓ (wie Anm. 18), S. 107-114. – Joann DULISKOVICS, Isztoricseszkija cserty Ugro-ruszkich [Historische Skizzen über die Ungarnrussen]. Ungvár 1877, hier Bd. III, S. 199-206. Joannicius BASILOVITS, Brevis notitia fundationis Theodori Koriathovics, olim Ducis de Munkács etc. 6 Partes, Cassoviae 1799-1805, hier Pars IV, S. 75-133.
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„Romanus Pontifex“ und mit dem 11. und 20. Kapitel der Konstitution „De reformatione“ des Tridentinischen Konzils.28 Die Beschwerden der unierten Priesterschaft entkräftete er Punkt für Punkt. Er anerkannte, dass Bedingung für die Union ein Bischof mit eigenem Ritus war, aber wegen der oben erwähnten Kirchengesetze könne er nur Suffragan des lateinischen Bischofs sein. Wegen der Abhängigkeit dürften die Unierten nicht zum Gespött gemacht werden, weil in der Diözese von Eger nur eine verschwindend kleine Zahl von Orthodoxen lebe. Die Zahl der Gläubigen rechtfertige deswegen nicht die Unabhängigkeit, weil sie gerade dem Eifer der Bischöfe von Eger zu verdanken sei. Er anerkannte, dass es Beispiele für die Arbeit zweier oder mehrerer Bischöfe unterschiedlichen Ritus auf einem Gebiet gebe (Lemberg, Siebenbürgen), aber auch dies sei nicht frei von Problemen. Schließlich verschwänden Streit und Zwist auch mit der Selbständigkeit nicht, im Gegenteil, das Prestige und die finanzielle Kraft der Diözese von Eger würden darunter leiden.29 Der Staatsrat entschied sich am 15. August 1768 für Eszterházys Auffassung und dies nahm auch Maria Theresias Verordnung vom 24. August 1768 zur Kenntnis.30 Auch Papst Clemens XIII. stellte sich an die Seite von Károly Eszterházy, als er in seinem Brief vom 30. Juli 1768 darlegte, dass er das Bistum Munkatsch wegen der oben genannten kirchlichen Gesetze nicht errichten könne.31 Maria Theresia und der Wiener Hof hatten sich erstmals am 30. April 1766 in der Angelegenheit einer kanonischen Errichtung der Eparchie Munkatsch an den Heiligen Stuhl gewandt. Zuerst stellte die Königin die Vorgeschichte des Munkatscher Bistums vor und hob dann im Zusammenhang mit der Union hervor, dass Bedingung für die Union ein Bischof eigenen Ritus gewesen sei. Sie betonte, dass die große Anzahl an Gläubigen die Errichtung einer eigenen Eparchie verlange. Sie erwähnte 839 Kirchen, 675 Pfarrer und 119.107 beichtfähige Gläubige. Sie teilte mit, dass der Bischof nur deshalb vom Bischof von Eger abhängig wurde, weil es keine offizielle Eparchie gab, und dies in der Seele der unierten Priesterschaft und des Volks für Verwirrung sorgte. Sie betonte, sie wolle die Union wegen der Abhängigkeit nicht für geringer halten, sondern ganz im Gegenteil, sie würde sich freuen, wenn auch die Orthodoxen dem Beispiel der Unierten folgen würden und sich mit Rom einigten. Die Errichtung eines selbständigen griechisch-katholischen Bistums würde die Streitigkeiten zwischen den Klerikern der zwei Riten beseitigen und ein Wachstum der Union ermöglichen. Sie hob hervor, dass die Gründung des neuen Bistums dem Bistum von Eger nicht schade, denn sie stelle der neuen Eparchie jährlich 5000 Forint zur Verfügung.32 In den weiteren Äußerungen der Herrscherin dominierte an erster Stelle der Anspruch auf das Patronatsrecht des Apostolischen Königs, dies ist offen oder versteckt 28 29 30 31 32
Ebd., S. 93-96. Ebd., S. 103-105. Basilius PEKAR, De erectione canonica Eparchiae Mukačoviensis, Romae 1956, S. 100. BASILOVITS (wie Anm. 27), S. 127-133. NILLES (wie Anm. 23), S. 902-905.
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fast immer nachweisbar. Dies betonte sie besonders in ihren Briefen vom 18. November 1766, die sie an den Papst, an Bischof Eszterházy und an Kardinal Albani, ihren Vertreter in Rom, adressierte. Letzterem legte sie dar, dass vier Titel sie zur Gründung von Bistümern berechtigten.33 Auch dem Papst teilte sie mit, dass Ungarn aufgrund seines apostolischen Rechts Bistümer errichten könne.34 Eszterházy bat sie nicht, sondern teilte ihm nur ihre Kompetenz mit und forderte ihn zu Gehorsam auf.35 Zwei Jahre später, am 6. Juni 1768, drängte sie aufgrund der „Vollmacht der Apostolischen Könige zur Bistumsgründung“36 aufs Neue den Nuntius ihre Bitte zu überbringen. Ähnlich nötigte sie mit diesem Hauptargument am 12. Mai 1770 Papst Clemens XIV., sich endlich zu einer Entscheidung durchzuringen.37 Der andere wichtigste Grund dafür, den Bischof von Munkatsch unabhängig zu machen, war für den Hof die Beendigung der dauernd an der Tagesordnung befindlichen Zwiste und Streitereien.38 Diesen hatte die Königin auch schon durch Verordnungen Einhalt zu gebieten versucht, als das Schicksal des Munkatscher Eparchie noch nicht geklärt war. In ihrem Rundschreiben vom 24. August 1768 bemühte sie sich um eine gerechte Regelung. Sie verkündete darin, dass 1.) Die unierten Priester die ihnen zustehenden Jahres- und Stolar-Einkünfte restlos bekommen sollten, sowohl in den Mutterkirchen, als auch in den Filialkirchen; 2.) Die Priester griechischen Ritus seien als echte Pfarrer und nicht im geringsten als Kapläne der lateinischen Pfarrer zu betrachten; 3.) Der Munkatscher „Bischof und apostolische Vikar“ sei als Oberhaupt des unierten Klerus und Volks von den Erlauern abhängig; 4.) Die Immunität der Unierten und ihre Privilegien müssen wiederhergestellt und bewahrt werden. Darüber hinaus trieb die Königin Eszterházy zu „einvernehmlichem Handeln mit dem Bischof griechischen Ritus“ an, während sie dem neuen griechischen Bischof János Bradács ans Herz legte: „Erkennt den Bischof von Eger als tatsächlichen und gesetzlichen Ordinarius an, […] und du verhalte dich als sein Vikar.“39 Tatsächlich sah der Hof von Anfang an, dass eine Lösung sich nur durch die Unabhängigkeit von Eger erhoffen ließ. Gewiss spielte auch eine Unvereinbarkeit im Charakter der Hauptbeteiligten dabei mit (Maria Theresia hielt Károly Eszterházy für einen starren, machthungrigen Menschen mit schwierigem Charakter, aber auch für János Bradács übernahm sie keine Bürg-
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Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Nationalarchiv] (fortan MOL) Magyar Kancellária (A) [Ungarische Kanzlei] (fortan MK) Conceptus Expeditionum (35), 99/1766. Ebd., 98/1766. Ebd., 100/1766. PEKAR (wie Anm. 30), S. 99. Ebd., S. 103. Nándor BOSÁK, Eszterházy Károly egri püspök és a görög katolikusok [Der Erlauer Bischof Károly Eszterházy und die Griechisch-Katholischen]. Budapest 1979, S. 38-43. – Kálmán György ZSATKOVICS, Az egri befolyás és az ez ellen vívott harc a munkácsi görög szertartású egyházmegye történetében [Der Erlauer Einfluss und der Kampf dagegen in der Geschichte der Munkatscher Eparchie griechischen Ritus]. In: Századok 18 (1884), S. 680-696, 766-786, 839877. BASILOVITS (wie Anm. 27), S. 131-133.
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schaft)40, aber gleichzeitig war zu sehen, dass in Streitfällen weder der eine noch der andere Betroffene hätte Schiedsrichter sein können, sondern nur ein unparteiischer Dritter. Diese Überzeugung vertrat die Königin in ihrem Brief vom 6. Juni 1768 an den Nuntius, als sie formulierte, der Munkatscher Bischof solle in der Ausübung seiner heiligen Macht nicht von den Erlauern abhängig sein,41 dasselbe wiederholte sie zwei Jahre später in ihrer Bittschrift vom 12. Mai 1770 an Clemens XIV.42 Als dritten Grund für die Gründung des Bistums können wir die instabile Lage in Siebenbürgen, bzw. die damit zusammenhängenden Abtrünnigkeitsbewegungen sowie die Anerkennung der sogenannten Dissidenten in Polen anführen. Was den finanziellen Hintergrund angeht, so war die an den Papst adressierte Errichtungsbitte vom 30. April 1766 richtungweisend, in der die Herrscherin 5000 Forint für die Bedürfnisse des Bistums anbot. Zwei Jahre später (6. Juni 1768) wollte der Hof die schwierige finanzielle Lage des Klerus und des Volkes erleichtern, nicht viel danach regelte die Verordnung vom 24. August erneut die Einkünfte und die Rechtslage der Priester.43 Da 1768 zur Regierungszeit von Clemens XIII. die Bitte des Hofs um die Errichtung der Munkatscher Eparchie nicht auf Gehör stieß, was großenteils der von Bischof Eszterházy zusammen gestellten Gedenkschrift „Opinio“ zu verdanken war, legte die Königin beim nächsten Mal mehr Nachdruck darauf eine moderne kirchenrechtliche Begründung einzureichen. Aloysius Coquelinus, dem von der Königin beauftragten Kanonjuristen, gelang es nun unter Hinweis auf ernstzunehmende Argumente, die Waage zugunsten der Munkatscher bzw. des Königshofs zu neigen. Das Anliegen der aus vierzig Punkten und acht beigefügten Dokumenten bestehenden Schrift war es,44 die Unrechtmäßigkeit der Jurisdiktion der Erlauer Bischöfe über die Unierten zu beweisen. Die apostolischen Vikare seien nämlich kirchenrechtlich direkte Vertreter des Papstes, deswegen könnten sie nicht Vikare von Bischöfen sein. Weiterhin nannte sie als entscheidendstes Argument gegen die von Eszterházy angeführten Konzildokumente die Bulle „Accepimus“ von Papst Leo X., nach der die lateinischen Bischöfe die Jurisdiktion über die Lateiner, die griechischen Bischöfe dagegen über die Griechen ausüben sollten. Sie zeigte weiterhin, dass durch die Kanonisierung des Munkatscher Bistums Eger kein Schaden entstehen könne, und schwächte die entscheidende Bedeutung des Konzildokuments „Quoniam in plerisque“.45 Schließlich einige Worte zur persönlichen Stellungnahme der Königin. Die Dokumente zeigen, dass Maria Theresia von 1766 an, als sie die Angelegenheit mit 40
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Vilmos FRAKNÓI, A magyar királyi kegyúri jog Szent Istvántól Mária Teréziáig [Das Patronatsrecht der ungarischen Könige vom Heiligen Stephan bis Maria Theresia]. Budapest 1895, S. 492. – Alfred ARNETH, Geschichte Maria Theresias. Bde. I-X, Wien 1863-1879, hier Bd. IX, S. 86. PEKAR (wie Anm. 30), S. 99. Ebd., S. 107. BASILOVITS (wie Anm. 27), S. 127-133. Ebd., S. 143-185. HODINKA (wie Anm. 22), S. 617-620.
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ernsthaftester Absicht in die Wege leitete, bis zum Schluss an der Überzeugung festhielt, dass das Munkatscher Bistum von der Abhängigkeit von Eger befreit werden müsse. Dies zeigt sich in ihrem Brief vom Januar 1768 an Albani, in dem sie zuversichtlich von der Kanonisierung schrieb. Dem gab sie auch in der kritischsten Situation Ausdruck, als 1768 Clemens XIII. ihre Bitte abwies und sie sagte: „Von der Errichtung haben mich nicht die Vernunftsargumente, sondern nur die Autorität des Papsts abgebracht.“46 Am 1. September 1770 legte sie dem Nuntius ihren Standpunkt so dar: „Ich versichere, Herr Nuntius, dass ich meine Ansichten über die Angelegenheit auf dem Tapet nie verändert habe. Und die traurigen Erfahrungen der letzten zwei Jahre haben mich in meinem Entschluss eher noch bestärkt.“47 Ihren alle Zweifel ausräumenden Brief richtete sie am 6. November 1770 an Clemens XIV.: „Ich habe gebührend untersucht und glaube aufs sicherste, dass nichts nützlicher sei, als dass die unierten Griechen einen eigenen Bischof hätten […]. Die ganze Angelegenheit und alles, was man daraus für diese Union hoffen oder befürchten kann, nehme ich auf mich […] Mit töchterlicher Verehrung bitte ich also, dass die kanonische Errichtung des Munkatscher Bistums nicht weiter durch fehlende päpstliche Genehmigung aufgeschoben werde.“48 Tatsächlich musste sie nur noch einige ungenaue Ausdrücke im Entwurf für die Gründungsbulle korrigieren49 und die Komplikationen um die Ernennung János Bradács’ zum Bischof ausräumen.50 Am 19. September 1771 wurde die Bulle „Eximia Regalium“ herausgegeben, in der Papst Clemens XIV. auf Bitte der Königin die Munkatscher griechisch-katholische Eparchie errichtete.51 Und obwohl dies neben den zukunftsweisenden Visionen des aufgeklärten Absolutismus der katholischen Kirche auch schwere geistliche Schäden verursachte, bedeutete es paradoxerweise im Fall des Munkatscher Bistums die Lösung für eine bisher nicht genügend geregelte Frage und einen Punkt am Ende des langen, sich seit der Union von Ungwar hinziehenden Kampfes, und gab dem Bischof, den Priestern und den Gläubigen der Eparchie die Chancengleichheit für den Beginn eines selbständigen, eigenen kirchlichen Lebens.52
46 47 48 49 50 51 52
PEKAR (wie Anm. 30), S. 101. FRAKNÓI (wie Anm. 40), S. 492. PEKAR (wie Anm. 30), S. 105. HODINKA (wie Anm. 22), S. 623f. PEKAR (wie Anm. 30), S. 110-115. Wilhelm NYSSEN / Hans-Joachim SCHULZ / Paul WIERTZ (Hg.), Handbuch der Ostkirchenkunde. Bd. I, Düsseldorf 1984, S. 227. György JANKA, A munkácsi egyházmegye felállítása [Die Errichtung der Munkatscher Eparchie]. In: Athanasiana 4 (1997), S. 57-81.
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4.
Die Errichtung der Eparchien von Großwardein und Kreutz
Auch im Fall der südslawischen Unierten und der Griechisch-Katholischen auf dem Gebiet des lateinischen Bistums von Großwardein war dem Wiener Hof klar, dass die fehlende Unabhängigkeit entweder zu lateinischer Assimilation oder aber zur Rückkehr in die Orthodoxie führen würde.53 Dies wurde noch verschärft durch die Jurisdiktionsstreitigkeiten zwischen dem lateinischen und dem griechischen Klerus, so unterstrichen es die Berichte der königlichen Ausschüsse (1754-1758 Wardein, 1774 Kreutz); darum stritten sich Rom und Wien im Kampf um Patronatsrecht und Ernennung der Bischöfe. Was die Lage der Griechisch-Katholischen angeht, so kam es 1771 durch die Errichtung des Munkatscher griechisch-katholischen Bistums zu einer entscheidenden Wendung,54 als nämlich der Wiener Hof gegen den Protest der zuständigen lateinischen Hierarchie und Roms Hinhaltepolitik seinen Willen durchsetzen konnte und damit einen Präzedenzfall für andere Gebiete des Landes schuf; dies war ein Zeichen für die Regelung der Lage der Griechisch-Katholischen im Komitat Bihar sowie in Südungarn und in Kroatien. Im Frühling 1775 beschleunigten sich die Ereignisse. Am 30. Mai unterrichtete die Königin die Ungarische Kanzlei davon, dass sie in der Diözese Großwardein die Errichtung eines griechisch-katholischen Bistums in die Wege geleitet habe.55 Am 19. Juli 1775 beriet sich der Illyrische Ausschuss unter Leitung von Freiherr Koller über die Kanonisierung der Kreutzer Eparchie.56 Am 4. November wies die Herrscherin die Ungarische Kanzlei an, unter Berücksichtigung der Vorschläge der gemischten Ausschüsse und der Modifizierungen der staatlichen Behörden einen Beschluss in der Sache der Errichtung der zwei Bistümer zu fassen. Innerhalb von zwei Tagen trat der zu diesem Zweck gebildete Ausschuss der Ungarischen Königlichen Hofkanzlei unter Leitung des Kanzlers Ferenc Eszterházy zusammen, Referent der Angelegenheit war der als eifriger Verfechter der Modernisierung des Staates bekannte József Ürményi.57 Die Kommission entschied über die Dotation der neu zu errichtenden Bistümer (Kreutz: die Orte Šid und Berkasovo, Großwardein: jährlich 10.000 Forint), über die Person der neuen Bischöfe (Kreutz: Vasilije Božickovic, Wardein: Moise Drágossy), über die Zuordnung zu Metropolien, wonach sie wie die Eparchie Munkatsch Suffragane des Erzbistums Esztergom sein sollten. Als Sitz wurden Kreutz bzw. Großwardein festgesetzt. Die
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Egyed HERMANN, A Katolikus Egyház története Magyarországon 1914-ig [Die Geschichte der katholischen Kirche in Ungarn bis 1914]. München 1973, S. 302f. HODINKA (wie Anm. 22), S. 607-626. – PEKAR (wie Anm. 30), S. 93-127. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 2594/1775. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 5181/1775. József SZINNYEI, Magyar írók élete és munkái [Leben und Werk ungarischer Schriftsteller]. Budapest 1914, Bd. XIV, S. 694.
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Königin ratifizierte das Protokoll der Versammlung („placet in totum“) und ordnete an, dass alle Betroffenen von den Beschlüssen unterrichtet werden sollten.58 Ende 1775 war also alles vorbereitet und bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeitet für die Durchführung des Plans. Trotz heftiger Proteste der lateinischen Bischöfe wandte sich die Königin am 26. Juli 1776 in der Sache der zwei Bistümer mit einem Bittgesuch an Pius VI. Sie betonte, dass die nicht unierten östlichen Griechen ihre eigenen Bischöfe und sogar Metropoliten hätten und dass eine Unabhängigkeit, wie es auch im Fall des Munkatscher Bistums geschehen sei, dem Wohle der Union diene, denn dadurch würden die Zwistigkeiten um die Jurisdiktion beendet, der Frieden und das Wachstum der katholischen Religion würden gefördert. Sie hob hervor, dass ihre Absicht endgültig sei, sie die Errichtung der Bistümer aufgrund ihres Patronatsrechts beschlossen habe und Bestätigung durch den Papst erbitte.59 Um die Absicht der Herrscherin zu unterstützen, nahm Kardinal Albani, ein Patron der Angelegenheiten des Wiener Hofs, am 31. August 1776 an einer Audienz beim Papst teil, wo er die Bitte der Königin vortrug. Hinterher berichtete er seiner Auftraggeberin vom bereitwilligen, gleichzeitig aber vorsichtigen Verhalten des Papstes und fügte schnell hinzu, dass die Angelegenheit nach der Sommerpause sofort verhandelt werde.60 Die Congregatio Consistorialis trat am 12. November 1776 unter Vorsitz von Kardinalstaatssekretär Pallavicini zusammen. Thema war die Errichtung der römischkatholischen Diözesen in Székesfehérvár (dt. Stuhlweißenburg) und Szombathely (dt. Steinamanger), sowie der griechisch-katholischen Eparchien in Kreutz und Großwardein. Bei der Analyse der griechisch-katholischen Frage legte Pallavicini als erstes das juristische Hauptargument der örtlichen lateinischen Bischöfe dar, also das Kapitel „Quoniam in Plerisque“ des 4. Laterankonzils, das mehrere unabhängige Bischöfe auf dem Gebiet einer Diözese verbot. Er fügte jedoch hinzu, dass es im Lauf der Geschichte mehrfach notwendig geworden sei, dass auf einem Gebiet zwei oder auch drei Bischöfe unterschiedlichen Ritus, aber unabhängiger Jurisdiktion tätig seien. In Siebenbürgen und in Ungarn gebe es in der Erlauer Diözese zwei Bischöfe unterschiedlicher liturgischer Tradition, der eine griechischen, der andere lateinischen Ritus. Im polnischen Lemberg gebe es sogar gleichzeitig drei Bischöfe, einen lateinischen, einen anderen griechischen und einen dritten armenischen Ritus, die einander ebenfalls nicht untergeordnet seien. Aufgrund dieser Beispiele und zum Wohle der Union wolle Maria Theresia um die Kanonisierung der neuen griechisch-katholischen Bistümer bitten, betonte der Kardinalstaatssekretär. Seinerseits unterstütze er die Angelegenheit mit der Gewähr, dass die Bischöfe als Zeichen ihrer Standhaftigkeit in Anwesenheit kirchlicher Würdenträger das von Papst Urban VIII. vorgeschriebene Glaubensbekenntnis ablegten, dies dem Nuntius schickten, der es später der Kongregation für die Verbreitung des Glaubens zukommen lasse. Bei der Abstimmung wur58 59 60
MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 5357/1775-5843/1775. Giorgio DŽUDŽAR, La Chiesa Cattolica di rito bizantino-slavo in Jugoslavia, Romae 1986, S. 5558. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 5090/1776.
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de die Errichtung der zwei lateinischen Diözesen unterstützt, die griechische Angelegenheit wurde auf später verschoben.61 Nach dem Konsistorium, bei dem auch Kardinal Albani anwesend war, hob er zwei Dinge als Grund für die Niederlage hervor. Erstens: Der Papst wolle dem Beispiel seiner Vorgänger folgen, die die griechischen Angelegenheiten erst nach langem Abwägen erledigten (Benedikt XIV. wartete zwei Jahre bis zur Errichtung des Ritusvikariats von Großwardein und auch Clemens XIV. entschloss sich erst nach längerer Bedenkzeit zur Kanonisierung der Munkatscher Eparchie) und zweitens: der „weniger gute Glaube“ der Griechen, also ihre Unberechenbarkeit.62 In diesem Sinne schickte der Papst am 30. November seine Entscheidung an die Königin, wobei das Hauptargument in der Begründung ein vollkommenes Misstrauen den Griechisch-Katholischen gegenüber war.63 Pius VI. hob hervor, dass die Initiative der Königin die Zweifel in seiner Seele nicht vollkommen habe ausräumen können, da das griechische Volk einen unbeständigen Charakter habe, weswegen es gefährlich sei, seinen Versprechen zu glauben. Oft sei es vorgekommen, dass diejenigen, durch die andere gewonnen werden sollten, auch selbst ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten. Es war also eindeutig, dass wenn die Königin sich nicht für die Sache der unierten östlichen Christen eingesetzt hätte, dann hätte Rom es für vollkommen unnötig gehalten, zu dieser Zeit eine selbständige griechisch-katholische Kirchenorganisation zu schaffen. Den Brief des Papstes mit Geleitworten des Staatskanzlers Pallavicini überreichte Giuseppe Garampi, der Wiener Apostolische Nuntius, der Königin am 28. Dezember 1776. Gemeinsam mit ihren Ministern anerkannte sie, dass im Allgemeinen eine gewisse Bedachtsamkeit gerechtfertigt sei, gab aber nicht die Hoffnung auf, dass der Papst bei Berücksichtigung der besonderen Umstände ihrer Bitte Genüge tun werde. Der Wiener Hof hatte also nicht die Absicht, sich mit einer Verschiebung der Entscheidung oder mit einer Veränderung seines Entschlusses abzufinden. Auf Anweisung der Königin bekam der Staatskanzler Reichsfürst Kaunitz die Aufgabe, sich über eine passende Antwort Gedanken zu machen, die den Papst vollkommen von der Notwendigkeit der Errichtung der neuen griechisch-katholischen Bistümer und zugleich von deren Ungefährlichkeit zu überzeugen. Kaunitz schickte am 3. Februar 1777 eine Notiz an die Ungarische Kanzlei, dass sie Vorschläge für eine Antwort an den Papst machen solle.64 Die Kanzlei brachte ihre Anmerkungen am 10. Februar zu Papier und zehn Tage später unterbreitete der Staatskanzler persönlich das fertiggestellte „Pro Memoria“ der Herrscherin. In der Einführung hielt er fest: die früheren Argumente für die Errichtung der Bistümer wiederhole er nicht, denn diese seien, obzwar weiterhin gültig, schon bekannt. sbEr hob jedoch hervor, dass die Kirchengeschichte von Ländern mit unterschiedlichen Riten zeige, dass die Abhängigkeit von den Lateinern nichts anderes als eine Waffe in den Händen der nicht unierten Östlichen sei, die sagten, dass die Union ein 61 62 63 64
DŽUDŽAR (wie Anm. 59), S. 58f. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 5090/1776. Ebd., 1775-77, 570/1777. Ebd., 1775-77, 6244/1776-570/1777.
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Mittel zur Zerstörung der Disziplin der griechischen Kirche und zur Unterjochung unter den lateinischen Klerus sei. Roms Befürchtungen müssten durch die Abwägung folgender Punkte verschwinden: 1. Es handele sich um ein Land, in dem die Staatsreligion und die Religion des Herrschers katholisch seien und die Königin ihre eigene Religion zu bewahren und zu verbreiten suche. 2. Im Land der Königin habe der Herrscher aufgrund des Patronatsrechts das Recht zur Ernennung der Bischöfe, also könne nur ein solcher Mensch Bischof werden, der der Kirche treu ergeben und zuverlässig sei. 3. Gleiches gelte für die Domherren und die Archimandriten. 4. Das Oberhaupt der Bischöfe griechischen Ritus sei in seiner Eigenschaft als Metropolit der Primas des Landes, der Erzbischof von Esztergom, und seine Pflicht sei es, über das Wohl der Heiligen Union, sowie über die Person der Bischöfe zu wachen. 5. Die Priesterausbildung solle den beiden Riten zumindest teilweise gemeinsam sein, wodurch einerseits die Vorurteile ausgeräumt, andererseits das zu erreichende Ziel gefördert werde. 6. Zur Beseitigung der Ungewissheit solle in der Ernennungsbulle der zwei Bischöfe die Pflicht zur jährlichen Ablegung des Glaubensbekenntnisses enthalten sein.65 Es ist deutlich zu sehen, dass Freiherr Kaunitz’ Vorschlag nicht nur auf jede erdenkliche Weise für die Griechisch-Katholischen Garantie zu übernehmen versucht, sondern auch die Charakteristika des josephinischen Kirchenbilds trägt. Der Herrscher übt vollständige Kontrolle über die Kirchenleitung aus, er ist der oberste Schutzherr der Religion (direkte Ebene) und die von ihm ernannten Personen kontrollieren die unteren Schichten (indirekte Lenkung). Das Prinzip der einheitlichen Erziehung steht dieser Konzeption ebenfalls nicht fern.66 Als der Nuntius Garampi vom Standpunkt des Hofs erfuhr, sandte dieser hervorragende Diplomat67 am 27. Februar 1777 einen Brief an Staatssekretär Pallavicini mit dem Rat, der Bitte der Königin aus politischen und geistlichen Gründen stattzugeben. Politisch, weil die Königin öffentlich vor der Nation ihre Entscheidung verkündet, die neuen Bischöfe ernannt, sie in ihre Benefizien eingeführt hatte und es so ohne schweren Prestigeverlust nicht zu erwarten sei, dass sie von ihrer Entscheidung zurücktrete. Geistlich, weil die Unierten auf ihre neue Ehre stolz und zufrieden seien. Im Interesse
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Ebd., 1775-77, 840/1777. Ferdinand MAASS, Der Frühjosephinismus, Wien, München 1969, S. 9f. – RIESER (wie Anm. 10), S. 35f. – György JANKA, Mária Terézia és a magyarországi görög katolikus egyházmegyék felállítása [Maria Theresia und die Errichtung der griechisch-katholischen Eparchien in Ungarn]. Budapest 1991, S. 15-35. Ignaz Philipp DENGEL, Die politische und kirchliche Tätigkeit des Monsignor Josef Garampi in Deutschland, Rom 1905, S. 1-8.
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György Janka
einer beruhigenden Lösung schlug er jedoch die Pflicht einer jährlichen öffentlichen Ablegung des Glaubensbekenntnisses vor.68 Dies sorgte erneut für Aufregung, denn die griechischen Bischöfe wandten sich am 22. Februar 1777 an Maria Theresia mit der Erklärung, dass die Pflicht zur jährlichen öffentlichen Ablegung des Glaubensbekenntnisses eine schwere Demütigung für sie darstelle. Sie sagten täglich das katholische Glaubensbekenntnis in Einheit mit der römischen Kirche und würden dies bis an ihr Lebensende tun, aber die Forderung des Glaubensbekenntnisses in obiger Form bedeute in Wirklichkeit, dass der Papst an der Ehrlichkeit ihrer Vereinigungsabsicht oder aber an ihrer Standhaftigkeit im katholischen Glauben zweifle. Für die Union wäre es besonders schädlich und unvorteilhaft, wenn diese Bedenken Roms ans Tageslicht kämen, denn die Priester und die Gläubigen wären empört und würden sich von der Union und von der katholischen Kirche abwenden. Und noch schlimmer sei es, dass anderen unierten Bischöfen in Galizien, Litauen und Asien nie eine solche Pflicht auferlegt worden sei.69 Die Königin unterstützte in ihrem Brief vom 20. März 1777 an den Papst die Bitte der Griechen und bat Pius VI. von den zwei neuen unierten Bischöfen nicht mehr zu verlangen als von anderen galizischen und Siebenbürger griechisch-katholischen Oberhirten und auch zwischen unierten griechischen und lateinischen Bischöfen keinen Unterschied zu machen. Mit diesen ihren außerordentlich bedeutenden Zeilen sorgte die Königin für eine entscheidende Wendung in der Geschichte der ungarischen griechisch-katholischen Kirche, sie emanzipierte diese Kirche und kam dem offiziellen Denken der römischen Kirche zuvor.70 All dies führte dazu, dass am 8. April 1777 der Ausschuss der Congregatio Consistorialis wieder zusammentrat, um über die Bitte der Königin zu verhandeln. Es ergaben sich drei Hauptprobleme angesichts der Gründungen: 1. die Unbeständigkeit der Griechen; 2. die geringe Zahl der Gläubigen; 3. das Verbot von zwei oder mehr Bischöfen unterschiedlichen Ritus in einer Diözese. In der ersten Frage war man der Meinung, die Unbeständigkeit der Unierten trete vor allem dann auf, wenn die betroffenen Gläubigen nicht Untertanen eines katholischen Herrschers seien oder in einem Land mit nicht katholischer Regierung lebten. Bei Überwachung durch katholische Herrscher komme ein Rücktritt von der Union nur selten vor. Außerdem müsse man auch einrechnen, dass die zwei neuen Bischöfe Suffragane des Erzbischofs von Esztergom seien, der die Aufgabe bekomme, die Reinheit des Glaubens zu überwachen, und dies werde auch Pflicht des Wiener Apostolischen Nuntius sein. Das doppelte Kontrollsystem, also wegen des Patronatsrechts das staatliche und wegen der Überwachung durch Metropolit und Nuntius das kirchliche, biete garantiert Schutz gegen alle eventuellen Unsicherheiten. 68 69 70
DŽUDŽAR (wie Anm. 59), S. 61-63. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 881/1777. Ebd., 1775-77, 1741/1777.
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In der zweiten Frage kam man zu der Feststellung, dass in den zu errichtenden Bistümern die Zahl der Gläubigen ziemlich klein sei, vor allem, wenn man sie mit den 300.000 Seelen der Eparchie von Fogarasch oder den 100.000 Seelen der Eparchie von Munkatsch vergleiche. Aber als Ergebnis der Tätigkeit eifriger Missionare könne man mit der Bekehrung tausender von Menschen rechnen, so sei auch dieses Hindernis beseitigt. Was den dritten Punkt, also die untersagenden kanonischen Normen angeht, so sei die Haltung der Kirche unverändert, wurde gesagt, und dies sei am klarsten im 4. Laterankonzil unter Innozenz III. formuliert worden. Jedoch hatten die Päpste schon öfter in solchen Fällen Dispens erteilt. Schon Innozenz III. selbst hatte auf Zypern, wo sowohl Griechen als auch Lateiner lebten, die Wahl von Bischöfen des eigenen Ritus genehmigt. Leo X. hatte in seiner Bulle „Accepimus“ verfügt, dass die Bischöfe griechischer liturgischer Tradition ihre eigenen Gläubigen vollkommen unabhängig von den Bischöfen lateinischen Ritus führten und lenkten. Und obwohl Pius IV. zuerst den lateinischen Bischöfen die Jurisdiktion zurückgegeben hatte, hatte Clemens VIII. beim Beitritt der sieben polnischen ruthenischen Bischöfe zur katholischen Kirche diese nicht nur mit der Leitung der Kirchen betraut an Orten, wo auch Bischöfe lateinischen Ritus waren, sondern hatte auch dem Metropoliten weitreichende Möglichkeiten zur Stärkung der Bischöfe gegeben. Aus dem 18. Jahrhundert ergaben sich auch zwei andere Beispiele: Das eine aus Siebenbürgen, wo Clemens XI. mit der Bestätigung der Bischöfe griechischen Ritus auf dem Gebiet lateinischer Diözesen einverstanden war, das andere aus dem Ungarischen Königreich, wo Papst Clemens XIV. auf dem Gebiet des lateinischen Bistums von Eger die griechisch-katholische Eparchie von Munkatsch gegründet hatte. Diese Beispiele bekräftigten die Berechtigung der Bitte der Königin. So wurde bei der Endabstimmung einstimmig für die Errichtung der beiden Eparchien gestimmt. Und zwar so, dass in der Ernennungsbulle der Bischöfe die Pflicht zum Ablegen des jährlichen öffentlichen Glaubensbekenntnisses nicht erwähnt werden solle, sondern der Erzbischof von Esztergom und der Wiener Apostolische Nuntius beauftragt werden sollten, über den Glauben der griechisch-katholischen Bischöfe zu wachen.71 Nach Abwägung all dessen gab Papst Pius VI. am 16. Juni 1777 die Bulle „Indefessum Personarum“, am folgenden Tag, am 17. Juni, die Bulle „Charitas illa“ heraus, in ersterer wurde die kanonische Errichtung der Eparchie von Großwardein, in letzterer von Kreutz zur ewigen Erinnerung verkündet.72 Damit endete der so lange gewünschte Ausbau einer selbständigen griechisch-katholischen Kirchenstruktur in Ungarn. Durch die Unterstützung von Maria Theresia und dem Hof wurden die Griechisch-Katholischen gleichberechtigt und tatsächlich stabilisierte sich dadurch die Lage der griechisch-katholischen Kirche. Daraufhin konnten die Zentren der Eparchien ausgebaut werden, die Kapitel konnten sich organisieren, die institutionelle selbständige Priesterausbildung konnte beginnen und der Ausbau eines eigenen Schulsystems konnte in Angriff genommen werden, also alles, was die Aufklärung 71 72
DŽUDŽAR (wie Anm. 59), S. 66-70. MOL MK Acta Generalia (39) 1775-77, 3530/1777.
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und der Josephinismus für so wichtig hielten. Durch die selbständigen Bistümer konnte ein Prozess in Gang kommen, dessen Früchte ein gut ausgebildeter Klerus und die Entstehung einer griechisch-katholischen Intelligenz sein sollten.73
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György JANKA, A Szentszék és a bécsi udvar szempontjai a nagyváradi és a körösi görög katolikus egyházmegyék felállításában (1775-1777) [Gesichtspunkte des Heiligen Stuhls und des Wiener Hofs bei der Errichtung der griechisch-katholischen Eparchien von Großwardein und Kreutz (1775-1777)]. In: Magyar Egyháztörténeti Vázlatok 10 (1998), S. 109-114.
Zoltán Gőzsy
DOCEANT GREGEM SUUM PER PRAEDICATIONEM, SEU PER CONCIONES SACRAS, SIVE CATECHESES, ALIOSQUE INSTRUCTIONIS MODOS. DIE PHASEN DER KATHOLISCHEN AUFKLÄRUNG IN SÜDTRANSDANUBIEN∗
Im folgenden Beitrag sollen Ziele und Inhalte der „katholischen Aufklärung“ dargestellt werden, wobei behandelt wird, welche Einflüsse in der Kommunikationsstrategie und den Lehrinhalten der Kirche zu entdecken sind. Unter dem Begriff Aufklärung wird hier eine Kenntnisvermittlung, eine kirchliche Lehre bzw. auf die Lehre abzielende Kommunikation verstanden, die der Seelsorge der Gläubigen, der cura animarum diente.1 Im Allgemeinen verweist der Begriff der Aufklärung auf die Tätigkeit der „Aufklärer“, die auf den Gedanken des Fortschritts aufbaut. Die Benutzung des Begriffs Aufklärung in Zusammenhang mit der katholischen Kirche verweist wiederum darauf, dass „Aufklärer“ auch innerhalb der katholischen Kirche tätig waren, um in ihr rationalistische Gedanken und Ziele durchzusetzen. Unabhängig davon war die Kirche bestrebt, ihre seit dem Tridentinum verankerte Lehrtätigkeit auszuüben, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts auch von der Aufklärung beeinflusst wurde, insbesondere mit der Zielsetzung, diese Lehrtätigkeit in erheblichem Ausmaß zu rationalisieren. Das entsprach ganz dem Anliegen Kaiser Josephs II., die Bevölkerung durch das Netz der Pfarrämter und ihrer Geistlichen über die Maßnahmen und Zielsetzungen seiner Herrschaft zu instruieren.2 Im 18. Jahrhundert änderte sich stets das Verhältnis der weltlichen Macht zu den kirchlichen Strukturen bzw. zu den von der Kirche gesicherten Kultur-, Bildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten. Innerhalb der sich entwickelnden und gut funktionie-
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Dieser Aufsatz wurde durch das Forschungsstipendium von János Bolyai [Bolyai János Kutatási Ösztöndíj] (BO/00561/11/2) gefördert. Ich erforsche hier die Verbreitung und Durchsetzung der Normen vor allem hinsichtlich der katholischen Pfarrer. Vgl. Wolfgang REINHARD, Zwang zur Konfessionalisierung? In: Ausgewählte Abhandlungen von Wolfgang Reinhard, Berlin 1997, S. 133f. Vgl. Rudolf PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche/Religion im Theresianischjosephinischen Zeitalter. Begriffliche Vorbemerkungen. In: Helmut REINALTER (Hg.), Josephinismus als aufgeklärter Absolutismus, Wien 2008, S. 17-55.
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Zoltán Gőzsy
renden Struktur versuchte der Staat anhand seiner Absichten und Interessen die Inhalte zu verändern und sie immer intensiver der Bevölkerung zu vermitteln. Anhand der Diözesen Pécs und Veszprém werden beispielhaft drei Phasen der seelsorgerischen, bzw. Kenntnis vermittelnden und aufklärerischen Funktionen der katholischen Kirche unterschieden. Die erste Periode kann bis Anfang der 1740er Jahre datiert werden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten sich Reorganisations- und teilweise Neuorganisationsprozesse in Transdanubien ab.3 Die Reorganisierung bzw. Neuorganisierung der Strukturen war ein relativ langer, aber erfolgreicher Prozess. Bei der Organisierung der staatlichen, der Komitats- und Diözesanstrukturen bzw. der verbliebenen Gemeinden kann man von einer „Reorganisierung“ sprechen. Gleichzeitig muss man aber die Vorgänge auch als „Neuorganisierung“ betrachten, indem infolge der Binnenmigration und der „Einwanderungen“ im 18. Jahrhundert auch neue Akteure zum Vorschein kamen, neue Strategien und Prinzipien die Grundlage für die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen bildeten.4 Die Kohäsionskraft der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete Konsolidierung. Zu deren Verwirklichung mussten zahlreiche positive Faktoren zusammenwirken und effizient funktionieren, einerseits als Teile einer bewussten Strategie, andererseits als ein spontaner Prozess. Der Schlüssel war der Konsolidierungsanspruch der einzelnen Ebenen und Akteure, der sehr kräftig in Erscheinung trat. Dieser Konsolidierungsanspruch wurde in einer von Transformationsprozessen geprägten Phase an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert genährt. Die Folgen der Türken- und Kuruzzenkriege bzw. die verheerenden Auswirkungen der Pestwellen verstärkten den Bedarf nach konsolidierten Verhältnissen. Die katholische Erneuerung war nicht nur das Ergebnis einer „von oben“ vorgegebenen, d.h. von der Staatsgewalt ausgehenden Strategie, sondern auch die Manifestation eines Bedürfnisses „von unten“, von den Betroffenen selbst.5 Die erfolgreiche Stabilisierung benötigte zumeist die Konsolidierung der Gesellschaft einzelner Gemeinden. Dazu lieferte das Modell des Konzils von Trient eine ideale Grundlage, die großen Wert auf die Stärkung lokaler Gemeinschaften legte. 3
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Siehe ausführlich: Zoltán GŐZSY, Grenzen und Wirkungsradius der Rekatholisierung in SüdTransdanubien nach der Osmanenzeit. In: Rainer BENDEL / Norbert SPANNENBERGER (Hg.), Kirchen als Integrationsfaktor für die Migranten im Südosten der Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 43-65. Zur Neuorganisierung siehe ausführlich Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA, Kontinuitás és reorganizáció a pécsi egyházmegye plébániahálózatában a 18. század első évtizedeiben [Kontinuität und Reorganisation im Pfarreinetz der Diözese Fünfkirchen in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts]. In: Századok 143 (2009), S. 5, 1123-1163. – Gabriel ADRIÁNYI, Beiträge zur Kirchengeschichte Ungarns, München 1986, S. 75f. Adriányi benutzt die Begriffe „Neuorganisation“, „Wiederaufbau“ bzw. „Wiederherstellung“. Marc VENARD, Volksfrömmigkeit und Konfessionalisierung. In: Wolfgang REINHARD / Heinz SCHILLING (Hg.), Die katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte, Münster 1995, S. 258. – GŐZSY / VARGA (wie Anm. 4), S. 5, 1123.
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Der Verwirklichung diente auch das von Tridentinum geschaffene neue Pfarrerideal: ein im Seminar der Diözese geschulter, sich den örtlichen Ansprüchen anpassender, die Gemeinschaft kennender und verstehender Pfarrer. Die Konsolidierung der Gemeinden erreichte ein Pfarrer einerseits als Seelsorger, durch tägliche Präsenz, andererseits durch eine kontinuierliche Betreuung, durch die Lehre in den Predigten und Instruierungen („doceant frequenter gregem suum per Praedicationem, seu per conciones sacras, sive catecheses, aliosque instructionis modos“).6 Die Instruktionen waren in erster Linie moralischer Natur. Am Ende der Transformationszeit erlebten die Geistlichen ihre diesbezügliche Tätigkeit als eine Art „Aufklärung“. Die Grundlage für dieses Konsolidierungssystem stellten also die adäquat gebildeten Pfarrer dar. Anhand der zwischen 1738 und 1742 aufgezeichneten Canonica Visitatio entsprach die Mehrheit der Pfarrer den Bedingungen des Tridentinums, ihre Sprachkenntnisse und Ausbildung machten sie für den erfolgreichen Einsatz geeignet.7 In ihren Charakterisierungen tauchen vermehrt die Begriffe Eifer, Fleiß (zelosus, sedulus), Frömmigkeit (pius), bzw. Bildung (doctus, studiosus) auf, die für einen erfolgreichen Seelsorger unentbehrlich waren.8 In der multiethnischen transdanubischen Region war es von besonderem Belang, dass der Pfarrer über die entsprechenden Sprachkenntnisse verfügte. Die Erwartung herrschte, dass er die Probleme der Bevölkerung reflektieren konnte. Das erwähnte Visitationsprotokoll beschäftigte sich mit der sprachlichen Kompetenz der Pfarrer. Hier wurde nicht die tatsächliche Sprachkenntnis untersucht, vielmehr die Fähigkeit, den multiethnischen Gläubigen geeignete Predigten zu halten und ihnen die Beichte abzunehmen. 41% der Pfarrer sprachen vier Sprachen oder verstanden sie zumindest, 33% drei Sprachen, 14% zwei, 12% sogar fünf Sprachen.9 Die Sprachkompetenz war eine Qualifikation, die von besonderen Faktoren abhing. Ein eindeutiger Determinierungsfaktor war die ethnische Zusammensetzung der Gemeinden. Ein gutes Beispiel stellt dafür der Pfarrer zu Szigetvár dar. Gábor Czigány (1734-1760), der im gemischt bevölkerten Marktflecken seine Tätigkeit nur ausüben konnte, da er neben dem Ungarischen auch der deutschen, südslawischen, italienischen und lateinischen Sprache mächtig war. Gábor Bedekovics, ein zweiter Beispielfall, verbrachte als Pfarrer 23 Jahre in Babarcszőlős (1722-1745). Als geeignete Grundlage dafür hatte er das Gymnasium in Pécs absolviert, in Agram und Tyrnau studiert. So überliefert die canonica 6 7 8
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Ignatius BÄRENKOPF, Methodus recte gubernandi parochiam et dirigendi animas in sancti tribunali, Tyrnaviae 1803, S. 196. Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA (Hg.), Visitatio Canonica Dioecesis Quinqueecclesiensis 17381742, Pécs 2009. Siehe ausführlich Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA, A pécsi egyházmegye plébániahálózatának újjászervezése a 18. század első felében [Die Reorganisierung des Pfarreinetzes der Diözese Fünfkirchen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. In: DERS. / Szabolcs VARGA / Lázár VÉRTESI (Hg.), Katolikus megújulás és a barokk Magyarországon, különös tekintettel a DélDunántúlra (1700-1740), Pécs 2009, S. 225-264. – Máté GÁRDONYI, A papi élet reformja a Tridenti Zsinat korában [Reform des priesterlichen Lebens zur Zeit des Konzils von Trient]. Budapest 2001. Das genaue Niveau der Sprachkenntnisse geht aus den Quellen nicht hervor, nur in einigen Fällen wurden diese charakterisiert.
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visitatio bei ihm ungarische, lateinische, deutsche, kroatische und slawonische Sprachkenntnisse.10 Die Lehrfunktion der Kirche basierte also in erster Linie auf der Seelsorge, die der Konsolidierung und Stabilisierung diente. Der Erfolg lag darin, dass sich Staat, Grundbesitzer, Kirche und Gemeinde in den Zielen einig waren. Dem Staat und den Grundbesitzern entsprachen die von der Kirche kommunizierten Prinzipien und die Etablierung des moralischen Konsenses. Die Quellen zeigen, dass sowohl das Dorf als auch die Kirche und die Grundbesitzer die Entwicklung dieses Systems förderten. Es stand in ihrem Interesse, den geeigneten Pfarrer zu behalten (ihn zu versorgen) und sie übernahmen bedeutende Opfer für den Ausbau der kirchlichen Infrastruktur (Ausbau der Kirche und des Pfarramtes). Die Interessenkongruenz von Staat und Kirche im Bereich von Kultur und Bildung spiegelt das Verhältnis des Bischofs zu Veszprém, Ottó Volkra (1710-1720), zur Lehrer- und Pfarrerausbildung wider. Volkra wollte den Rollenverlust der Lehrer in seiner Diözese verhindern. Er befürwortete deshalb die Einstellung von „geeigneten und scharfsinnigen“ (idonei et capaces)11 katholischen Lehrern, um „die heranwachsenden Kinder nicht nur in die Wissenschaften einzuführen, sondern ihnen auch die Grundlagen des katholischen Glaubens beizubringen“. Durch dieses Wissen sollten für den König und das Vaterland nützliche, fromme, tapfere Bürger erzogen werden, die von ihrem Kindesalter an über jene Moral verfügen, die in der kämpfenden katholischen Kirche zu Eigen gemacht wurden.12 Auch in der Diözese Fünfkirchen wurde geregelt (juxta Constitutionem Dioecesanam), dass die Eltern verpflichtet waren, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Wenn sie das versäumten, hatte der Lehrer theoretisch das Recht, für ein abwesendes Kind einen Gulden Gebühr zu verlangen.13 Die Visitatoren hatten die Aufgabe, neben dem Zustand des Pfarramtes auch die Unterrichts- und Erziehungstätigkeit zu überwachen. Den Quellen ist zu entnehmen, dass sich die kirchliche Organisation in Transdanubien bis in die 1740er Jahre konsolidierte. Dank der Opfer der Gemeinden sowie der Unterstützung der weltlichen Bürokratie entstand eine Struktur, die eine gute Grundlage dafür lieferte, Inhalte zu vermitteln, die die einzelnen Aktoren akzeptierten und für begrüßenswert hielten. Dieses sich kontinuierlich erweiternde System bildete 10
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Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA, Papi műveltség a pécsi egyházmegyében a 18. század első felében [Der Bildungsstand der Priester in der Diözese Fünfkirchen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. Jelenkor 2011, S. 509-515. Capax bedeutet in diesem Fall ein schnelles Auffassungsvermögen und die Fähigkeit, dieses Wissen auch rasch zu erweitern bzw. Geschick und Tapferkeit. „[…] qui succrescentem prolem non tam primis imbuerent eruditionis rudimentis, quam catholicis fidei instituerent principiis, quos tandem eruditio capaces regi et patriae educaret cives, et pii, probi et intaminati, a iuventute suscepti mores in catholica militante ecclesia.“ Ferenc TÖLCSÉRY, A kegyes tanítórendiek vezetése alatt álló veszprémi róm. kath. főgymnasium története 1711-1895 [Die Geschichte des vom gnädigen Lehrorden geleiteten röm.-kath. Hauptgymnasiums zu Veszprém 1711-1895]. Veszprém 1895, S. 12f. Ferenc MERÉNYI, Domsics Mátyás egyházlátogatása (Canonica Visitatio) Baranyában 1729-ben [Der Kirchenbesuch (Canonica visitatio) von Mátyás Domsics in der Branau 1729]. Pécs 1939, S. 56f.
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die Grundlage und das Muster für die Aufklärungsversuche Ende des 18. Jahrhunderts. Die zweite Phase dauerte von Mitte des Jahrhunderts bis zum Thronantritt von Joseph II. Diese Periode kennzeichnete in den Diözesen Transdanubiens die Phase der Stabilisierung. György Klimó, Bischof in Fünfkirchen (1751-1777), bezeichnete seine Amtszeit als Ordnung schaffen unter den provisorisch scheinenden Zuständen und in der Vielfältigkeit.14 Ähnliche Prinzipien motivierten auch den Herrscher, der an der Spitze der Komitate Personen mit Autorität brauchte.15 Ein Charakteristikum dieser Periode war, dass sich der Staat intensiver in das kirchliche Leben einmischte und versuchte seine Erwartungen, Zielsetzungen auch mithilfe der kirchlichen Strukturen zu verwirklichen. In erster Linie baute er auf die kirchlichen Würdenträger, die als eine Art Multiplikatoren bzw. als Exekutive der Staatsgewalt betrachtet wurden.16 Die Veränderungen in der Sichtweise des Staates spiegeln die sich wandelnden Erwartungen gegenüber den Bischöfen wider. Maria Theresia ernannte György Klimó am 30. Juli 1751 zum Obergespan der Komitate Baranya und Tolna, am gleichen Tag Miklós Csáky zum Erzbischof von Esztergom/Gran, Ferenc Klobusiczky zum Erzbischof von Kalocsa/Kalotscha und Ferenc Thauszy zum Bischof Zagráb/Agram.17 Zur gleichen Zeit bekamen sechs Komitate einen neuen Obergespan. Für Personen, die das Amt des Bischofs und des Obergespans innehalten, war selbstverständlich, dass sie neben ihrer spirituellen Tätigkeit auch die Verwaltung der Komitate, das Leben der dort lebenden Bevölkerung als Vertreter der Staatsgewalt überwachten, in bestimmtem Sinne auch leiteten. Das gehörte zum Bischofs- und Obergespansideal, das von Staat und Kirche gleichermaßen bevorzugt wurde.18 Im Falle von György Klimó können wir zur gleichen Zeit über einen kirchlichen Würdenträger im Sinne des Bischofsideals des Tridentinums und einen Prototyp des Obergespans angesichts des 1752 von Maria Theresia erlassenen Verordnung über die Obergespane sprechen.19
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Zoltán GŐZSY, Szempontok Klimó György püspöki és főispáni kinevezéséhez, tevékenységéhez [Aspekte der Ernennung und Tätigkeit von György Klimo als Bischof und Obergespan]. In: Éva POHÁNKA / Mariann SZILÁGYI (Hg.), Klimo György püspök és kora. Egyház, művelődés, kultúra a 18. században, Pécs 2012, S. 144. – Pécsi Püspöki Levéltár [Bischöfliches Archiv Fünfkirchen] (fortan PPL) 1752/59, S. 1f. Siehe ausführlich Károly BORSY, A XVIII. század második felének két püspöke. Klimó György és Eszterházy Pál László [Zwei Bischöfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. György Klimó und Pál László Eszterházy]. In: Ádám FRICSY (Hg.), Egyháztörténeti tanulmányok I, Tanulmányok a pécsi egyházmegye történetéből, Pécs 1993, S. 278. Vgl. Joachim BAHLCKE, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686-1790), Stuttgart 2005, S. 324. Ebd., S. 142. GŐZSY (wie Anm. 14), S. 143. Győző EMBER, Magyarország közigazgatása 1711-1765 [Die Verwaltung Ungarns 1711-1765]. In: Levéltári Közlemények 54 (1983), 57.
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Zahlreiche Punkte dieser Verordnung tauchen auch in der Ernennungsurkunde von György Klimó auf: Teilnahme an den Komitatsratssitzungen, Sicherung der Steuereinnahmen sowie die Leitung der Diözese. Nach der Amtseinsetzung von Klimó erstellte er ein Programm. Bezüglich seines Erbes hob er hervor, dass er die Kirche in einem multikonfessionellen Gebiet leiten müsse und das Gefühl habe, dass er zur Beseitigung der strukturellen Probleme nicht über den nötigen Hintergrund verfüge.20 Für die Verstärkung der lokalen Kirchenorganisation fand Klimó eine zweifache Lösung: einerseits eine effizientere und qualitativ bessere Pfarrerausbildung, andererseits die Zentralisierung der traditionellen kirchlichen Strukturen in Pécs. Er machte die kirchliche Leitung effizienter und stellte ein Konsistorium auf, um die Angelegenheiten der Gläubigen leichter zu besprechen (facilius consuleremus).21 Das Anliegen Klimós war der Ausbau einer kirchlichen Struktur, die systematisch die weltliche und kirchliche Verwaltung der Diözese in Deckung bringen ließ. Das sich qualitativ und quantitativ entwickelnde System machte es möglich, einerseits die Erwartungen des Herrschers, andererseits der Kirche zu vermitteln. Zur größeren Effizienz der kirchlichen Lehre und Kommunikation steigerte er das Niveau der Seminarbildung. Weiterhin war von Belang, dass die Pfarrer über Sprachkenntnisse verfügten, die den lokalen Bedürfnissen entsprachen. Auf Anordnung des Bischofs wurde jemand in das Seminar erst aufgenommen, wenn er von drei bevorzugten Sprachen (Ungarisch, Deutsch, Kroatisch) mindestens zweier mächtig war. Die Ausbildungszeit wurde auf vier Jahre erhöht, es wurden neue Fächer eingeführt, so z. B. die kirchliche Rhetorik. Klimó korrespondierte persönlich mit den Seminaristen zur Überwachung von deren Lateinkenntnissen.22 Bezüglich der Entwicklung der Diözese möchte ich zwei Bereiche hervorheben: einerseits die Verwaltung, andererseits Kultur und Bildung. In beiden Bereichen wurde die Infrastruktur gefördert. Klimó legte großen Wert darauf, dass sich der Klerus an Verwaltungsaufgaben beteiligte. Die Mitglieder des Domkapitels weihte er intensiv in die Verwaltung der Komitate Tolna, Baranya und Verőce ein, wodurch zumeist die Tätigkeit der Obergespane unterstützt wurde.23 Er führte auch eine strenge Kontrolle über die Pfarrer seiner Diözese ein, in den ersten vier Jahren als Bischof suchte er die drei Komitate persönlich auf. Die Bewertungskriterien in den Visitationsprotokollen favorisierten eindeutig eine effizient funktionierende Kirchenstruktur, vertraten zugleich jedoch auch die Interessen des Staates, insbesondere bezüglich der Steuerzahlungsfähigkeit.24 Die Tätigkeit Klimós in der zweiten Hälfte der 1750er Jahre macht die Unterschiede in Funktion und inhaltlicher und zeitlicher Verschiebung der Aufklärung deutlich. Nach den Bauernaufständen in den slawonischen Komitaten wurden die Pfarrer im südlichen Teil der Diözese ebenfalls mit Konsolidierungsaufgaben betraut, 20 21 22 23 24
„Ex altera autem parte virium nostrarum imbecillitatem.“ PPL 1752/59, S. 1-2. Ebd., S. 2. BORSY (wie Anm. 15), S. 282. GŐZSY (wie Anm. 14), S. 147. Ebd., S. 148f.
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wie dies für die erste Hälfte des Jahrhunderts bereits ausgeführt wurde. Währenddessen fand in den weiteren Teilen der Diözese bereits eine Entwicklungstätigkeit, eine Art Innovation statt. Klimó verwendete auch bischöfliche Rundbriefe zur Vermittlung der Instruktionen an den unteren Klerus.25 Dank der kontinuierlichen Informationsvermittlung wurde der Klerus immer mehr auch zum Informationskanal für weltliche Interessen. Klimó legte aber nicht nur auf die Vermittlung kirchlicher Instruktionen Gewicht, sondern auch auf die Erweiterung der möglichen Kommunikationskanäle. Aus den kirchlichen Quellen geht eindeutig hervor, dass der Bischof die Zahl der Pfarrämter vermehren wollte. Die größeren Filialen versuchte er zu Pfarrämtern umzuorganisieren. Es war ebenfalls ein wichtiges Ziel, den einzelnen Gemeinden Kirchen zu geben und dazu einen geeigneten Pfarrer. Während der Zeit Klimós wurden in der Diözese 70 Kirchen gebaut.26 Der zweite Bereich, Bildung und Kultur, entsprach dem Ideal des Bischofs und des Obergespans in diesem Zeitalter. Klimó förderte auch später die Pfarrerausbildung, er wollte neben dem Seminar eine weitere Hochschule in Pécs gründen, der er ein Observatorium und eine Bibliothek hinzugesellte.27 Damit schuf er die Grundlage für die spätere Universitätsbibliothek, die Joseph II. zu den Generalseminaren schlagen wollte. Eine Tafel an der Wand der Klimó-Bibliothek (neben der alten Eingangstür) zeigt, dass der Bischof diese Einrichtung für die allgemeine Bildung der Bevölkerung gründete.28
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Zu den bischöflichen Rundbriefen in der Diözese Fünfkirchen vgl. Lázár VÉRTESI, A pécsi egyházmegyei körlevelek forrásértékéről [Zum Quellenwert der Rundbriefe der Diözese Fünfkirchen]. In: Gábor BÁNKUTI / Szabolcs VARGA / Lázár VÉRTESI (Hg.), A 20. század egyház- és társadalomtörténetének metszéspontjai. Tanulmányok a pécsi egyházmegye 20. századi történetéből, Pécs 2012, S. 39-57. István HORVÁTH, Az egyházmegye Mária Terézia uralkodása idején [Die Diözese zur Zeit von Maria Theresia]. In: József SÜMEGI (Hg.), A Pécsi Egyházmegye ezer éve, Pécs 2008, S. 123f. Die Vielfältigkeit der aufklärerischen Rollen im 18. Jahrhundert symbolisiert die KlimóBibliothek in Pécs/Fünfkirchen. Die mustergültigen Tätigkeiten und Erwartungen des Bischofs Klimó sowie die Wirkung der josephinischen Kirchenpolitik hatten zur Folge, dass Ende des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 19. Jahrhunderts die kirchlichen Bücherdonationen bereits den Großteil des Bibliotheksbestandes bildeten. Siehe ausführlich Miklós FÉNYES, A Pécsi Egyetemi Könyvtár története I. Pécsi Püspöki Könyvtár 1774-1923 [Geschichte der Universitätsbibliothek in Pécs]. In: DERS. (Hg.), Jubileumi évkönyv 1774-1974, Pécs 1974. – Éva POHÁNKA, A könyvkultúra, a tudomány- és az irodalompártolás – A Pécsi Püspöki Könyvtár története [Buchkultur, die Wissenschafts- und Literaturförderung – Die Geschichte der Diözesanbibliothek zu Pécs]. In: Irodalmi Páholy III (2009), S. 67-70. – Ede PETROVICH, A 200 eves Klimo-könyvtár történetéhez [Zur Geschichte der 200-jährigen Klimo-Bibliothek]. In: Magyar Könyvszemle 90 (1974), S. 315-325. – András FEJÉRDY / István SOÓS, Klimo György és Giuseppe Garampi [György Klimo und Giuseppe Garampi]. In: Éva POHÁNKA / Mariann SZILÁGYI (Hg.), Klimo György püspök és kora. Egyház, művelődés, kultúra a 18. században, Pécs 2012, S. 136f. HAS. AEDES. GEORGIUS. KLIMO. / EPISCOPUS. QUINQUEECCLE / SIARUM. A. FUNDAMENTIS. / EXCITAVIT. MULTA. OMNIGENAE. / SUPELLECTILE. COMPLEVIT. / CLERI. PRIMUM. ECCLESIAE / SUAE. TUM. PUBLICAE. OMNIUM. / UTILITATI. DICAVIT. APERUIT. / AN. DO. MDCCLXXIV.
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Die Angaben bezüglich der Sprachkenntnisse zur Mitte der 1750er Jahre übertreffen oft die früheren. Wir treffen auch Pfarrer an, die sechs bis sieben Sprachen beherrschten, auch wenn das nicht dem Durchschnitt entsprach. In dieser Periode gab es eine größere Zahl ausgebildeter Pfarrer. Das machte es möglich, dass in der Diözese ein einheitliches, leicht zu instruierendes Pfarrsystem dominierte. Klimó legte besonderen Wert auf die Förderung des unteren Unterrichtswesens. Während seiner Amtszeit wuchs die Zahl der Schulen auf das beinahe Doppelte (von 73 auf 134).29 Neben der quantitativen Steigerung war ein wichtiger Aspekt, dass die Schulen über gut ausgebildete und den Unterricht als Beruf ansehende Lehrer verfügten und auch die Gemeinden die Lehrer akzeptierten. In den canonica visitationes tauchte auch bisher die Person des Ludi magisters, des Organisten, auf, während der Zeit von Klimó wurde diese Funktion sogar zu einer strategischen Frage. Wichtig war es, dass sich neben dem Pfarrer auch der Lehrer auf seine Aufgaben konzentrieren konnte und seine zusätzlichen Aufgaben andere Personen übernahmen (z. B. der Mesner). Auch die Gemeinde unterstützte den Lehrer, und beteiligte sich an dessen Verpflegung. Dem 1777 verstorbenen Klimó folgte nach drei Jahre Vakanz Pál László Esterházy als neuer, von Maria Theresia ernannter Bischof zu Fünfkirchen. Seine Persönlichkeit entsprach ebenfalls dem auch von der Herrscherin erwarteten Bischofsideal. Esterházy war Mitglied des Paulinerorden. Seine Tätigkeit als Ordensmeister nahm er besonders ernst, er suchte regelmäßig die Ordenshäuser auf und instruierte sie in Rundbriefen. Er deckte Mängel auf und sanktionierte Probleme, übte eine Art rationalisierender und purifizierender Tätigkeit aus, er wollte das moralische Niveau der Ordensbrüder heben und intensivierte ihr geistiges Leben. Er erweiterte zugleich das Profil des Ordens, mehrte seine Funktionen, stellte Tätigkeiten in den Vordergrund, die für die weltliche und kirchliche Sphäre gleichermaßen nützlich waren. So zog er erfolgreich den Unterricht in den Tätigkeitsbereich des Ordens. Zudem bekam Pál László Esterházy ab 1770 den Rang eines Oberpriesters; so ist bei ihm, die Konstellation zu erkennen, dass auch ein Ordensmitglied höhere kirchliche Funktionen übernehmen konnte. Er verkörperte das von Joseph II. erwartete Ideal, war als Mönch für die Gemeinschaft tätig, verwirklichte Funktionen, die vom Herrscher als nützlich eingestuft wurden.30 Die dritte von mir untersuchte Periode fällt in die Regierungszeit von Joseph II. und das darauf folgende sogenannte josephinische Zeitalter. Joseph II. verstärkte in mehreren Bereichen die früheren Tendenzen, er wandte sehr oft die früher etablierten Methoden an, allerdings wesentlich effizienter.31 Joseph II. wandte sich in erster Linie der kirchlichen Struktur zu. Sein Ziel war es, die Pastorationsstruktur zu rationalisieren und zu verbessern. Teil seiner Strategie 29 30 31
HORVÁTH (wie Anm. 26), S. 119f. Siehe ausführlich BORSY (wie Anm. 15). Siehe ausführlich BAHLCKE (wie Anm. 16), S. 323.
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war, mithilfe der kirchlichen Struktur eine erfolgreiche Kommunikation zu führen, um seine Verordnungen erklären und Wurzeln schlagen zu lassen.32 Daher sorgte er dafür, dass die Kommunikationskanäle besser kontrollierbar und übersichtlicher wurden. Den Schlüssel der Kommunikationsstrategie stellte der untere Klerus dar. Die Pfarrer konnten die gesetzten Ziele nur verwirklichen, wenn sie sich über den Willen des Herrschers im Klaren waren. Dies förderte die Zentralisierung der Pfarrerausbildung.33 Die Generalseminare waren zwar von höherer Qualität, in den Schülern wuchs jedoch nicht die nötige Bindung an dem Bischof und die Diözese. Mit der intensiveren Einbeziehung des unteren Klerus in die Kommunikation etablierte die Staatsgewalt eine direktere Beziehung zu ihnen. Dadurch wurden die Diözesanleitungen teilweise übergangen. Nach der Meinung des Herrschers waren die Bischöfe nicht ausreichend imstande, das kirchliche Vermögen umzugruppieren, effizient zu verwenden und das Pfarrnetz entsprechend zu organisieren, daher verlangte Joseph II. diese Rechte für sich.34 Für die untere Pfarrerschaft sah man eine instruierende Rolle vor, wodurch im Gegensatz zur früheren Periode ein neues Pfarrerideal etabliert wurde. Fleiß wurde ohnehin erwartet, daneben trat jetzt die Aufgabe aufzuklären und zu instruieren.35 Der Statthalterrat forderte die Bischöfe auf, die Pfarrer sollten nicht nur in den Sonntagsmessen, sondern während der ganzen Woche die Jugendlichen instruieren.36 Zugleich wurde für wichtig erachtet, dass sich die Pfarrer wirklich mit ihren Gemeinden beschäftigten. Daher musste die Zahl der Filialen gesenkt und die der Pfarrämter erhöht werden. Zur effizienteren Arbeit der Pfarrer sollte die Tätigkeit der Lehrer beitragen; mit der in den Schulen „vorgeschulten und sozialisierten“ Gemeinde fand der Pfarrer leichter das gemeinsame Wort. Für die konzentriertere und erfolgreichere Kommunikation sollten die Kommunikationsräume erweitert werden. Aus diesem Grund wurden in großer Zahl Kirchen erbaut, zugleich wurden die paraliturgischen Handlungen zurückgenommen. Für die Verwirklichung seiner Ziele begann Joseph II. mit einer maßgeblichen Förderung der Infrastruktur und der Humanressourcen. Die Grundlage für diese Förderung bildete die entsprechende Vorbereitung. Es wurden sehr detaillierte, gründliche Konskriptionen für die weltliche und kirchliche Verwaltung angefertigt, die früher nicht charakteristisch waren. Mit der Leitung des Statthalterrates wurde 32
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Erwin GATZ, Einleitung. In: DERS. (Hg.), Pfarr- und Gemeindeorganisation. Studien zu ihrer Entwicklung in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Paderborn, München, Wien, Zürich 1987, S. 8. László KATUS, A magyar katolicizmus a 18-19. században [Der ungarische Katholizismus im 18.-19. Jahrhundert]. In: Zoltán GŐZSY / Szabolcs VARGA / Lázár VÉRTESI (Hg.), Ecclesia semper reformanda et renovanda. Katus László egyháztörténeti tanulmányai és cikkei, Pécs 2007, S. 29. Johann WEIßENSTEINER, Die josephinische Pfarrregulierung. In: Erwin GATZ (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Freiburg 1991, S. 51-64. „De excitandis Parochis ad instructionem iuventutis.“ PPL 1783, S. 160. Ebd.
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systematisch erhoben, welche Zustände und was für Möglichkeiten für die Pfarrämter vorhanden waren. Man erfasste Gebäude, die möglicherweise als Kirche oder Pfarrerhaus in Frage kamen.37 Darüber hinaus wurde erhoben, welche Opferbereitschaft der Grundbesitzer und die Gemeinde aufbringen wollten und konnten. Aufgrund der Visitationen wurde über die Kleriker persönliches Material zusammengestellt (Status personalis), in das als mögliche Pfarrer bereits auch die Mönche aufgenommen wurden. Priorität hatten Sprachkenntnis und Eignung der Pfarrer. Hinsichtlich der Seminare wurden auch die Seminaristen nach ähnlichen Kriterien beurteilt, die geistliche Haltung wurde besonders untersucht (qualitas et indoles morum).38 Die Erhebungen wurden von Deputationen durchgeführt, die zumeist weltliche Mitglieder hatten. Es wurden zwar auch Geistliche herangezogen, die Diözese beschwerte sich jedoch, dass die Prozesse nicht von ihnen geleitet wurden. Das Pfarramtgründungsprogramm des Herrschers war insgesamt erfolgreich. Dies war ausgeprägter in den Komitaten Somogy und Baranya als in Veszprém und Tolna. Gab es in Somogy und Baranya bis dahin einen Mangel an Pfarrämtern, wurde jetzt eine Angleichung verwirklicht. Anhand der Erhebungen kann festgestellt werden, dass das Förderungsprogramm von der Bevölkerung ambivalent beurteilt wurde. Verglichen mit den früheren, ähnlichen Förderungen unterstützten nicht alle Akteure das Programm, die Interessengleichheit war geringer. Der Staat unterstützte naturgemäß das Programm, dagegen äußerten sowohl Kirche als auch Grundherren und Gemeinden ihre Einwände. Sie erlebten das Programm als aufoktroyiert und definierten ihre Lage derart, dass sie von irgendeinem Verwaltungsorgan „angesprochen“ oder „angewiesen“ handeln mussten.39 Die eingesetzten Pfarrer bewerteten sie als aus dem Willen des Königs bedienstete Personen. So lehnten sie bestimmte Pflichten ab und genügten nur jenen, die unausweichlich waren. Gemeinden, die Filialen blieben, beteiligten sich überhaupt nicht am Kirchenbau, da sie weder Kirche noch Pfarrhaus hatten. Ähnlich verhielten sich auch die Grundherren. Ihre Pflichten versuchten sie auf die Bevölkerung zu schieben, ihre Opfergabe war auch nicht immer selbstlos. In Osztopán (Komitat Somogy) bot Ignatius Farkas ein wertvolles Haus neben seiner Kurie als provisorisches Pfarrhaus an, das er bis dahin an einen jüdischen Kaufmann vermietete, er wollte aber jährlich weiterhin den gleichen Betrag einnehmen.40 Die zuständige Deputation sah einheitlich acht Gulden für die provisorischen Pfarrhäuser vor. Einige Grundbesitzer verhandelten nur dann über den Bau eines Pfarrhauses, wenn auch der Kirchenbau gesichert wurde. 37
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„Si in filiali, quae in Matrem erigi deberet, non existeret Ecclesia, aut Domus Parochialis, vel praeexistentia ejusmodii aedificia restaurari deberent, quomodo et quibus sumptibus alterutro in casu prospici possit.“ PPL 1785, S. 137. Ebd. Somogy Megyei Levéltár [Archiv des Komitates Somogy; fortan SML] XII. Ecclesiastica. Parochialia. 2. Scripta recognitionis D. Ignatii Farkas, quod domum hactenus Judaeo exarendatam, et curiae suae vicinam pro interimali hospitio novi Parochi erga annuos 8 fl. cedere velit, imo cesserit. SML XII. Ecclesiastica. Parochialia 2a.
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Nach der Sicherung der Infrastruktur mussten auch die inhaltlichen Fragen geklärt werden. Anhand der Quellen lässt sich feststellen, dass die aufklärerischen, instruierenden und Kommunikationsfunktionen erstrangig wurden. Von den Pfarrern erwartete der Staat vor allem die Lenkung und Instruierung der Gläubigen. Diese Aspekte wurden langsam zur Praxis, der Begriff cura animarum gewann einen neuen Sinn, und es konnte eher von einem staatsbürgerlichen cura mentium die Rede sein. Die Mehrheit der Pfarrer in Transdanubien gewöhnte sich an die neuen Erwartungen. Sie definierten sich weniger als seelische Leiter, sondern vielmehr als Instruktoren der Gemeinden. Dieser neue Typus von Pfarrern legte größeren Wert auf die Predigt, in der er oft die Aufmerksamkeit auf das richtige Wirtschaften, auf die Lebensweise und nützliche Tätigkeiten richtete. Kennzeichnender wurden die Spenden für Pfarrer, Stiftungen, Stipendien. Gemäß den josephinischen Prinzipien gab es zumeist für Hospitale und Schulen Geldspenden.41 Zur gleichen Zeit etablierte sich gegen das josephinische Pfarrerideal ein „retridentisierender“ Geist, der die josephinischen aufklärerischen Instruktionen und die tridentinische spirituale Attitüde zusammenfügte. Ignác Bärenkopf, erster Rektor des 1805 gegründeten Zentralseminars in Buda empfahl in seinem 1803 in Tyrnau erschienen Werk „Methodus recte gubernandi parochiam et dirigendi animas in sancti tribunali“ das tridentinische Pfarrerideal.42 Nach Bärenkopf war die größte Belohnung für einen Pfarrer die cura animarum. Die Grundlage seiner Gedanken war, dass der Pfarrer als Mitglied der Gemeinschaft für die Gemeinschaft leben muss; er lehnte jedwede Sonderstellung in der Gemeinschaft ab. Charakteristisch für diese Zeitspanne war der Gedanke des Ausbaus einer richtigen Ordnung (ordo). Dies bildet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Grundlage der evangelischen und katholischen Abhandlungen.43 Bärenkopf maß diesem Thema auch eine besondere Bedeutung zu. Seiner Auffassung nach machte die systematische Etablierung des Ordo eine richtige Pfarrertätigkeit möglich.44 Die Grundlage für die Ordnung bildete das Geordnetsein der Person des Pfarrers und seiner unmittelbaren Umgebung, und weil so der Pfarrer eine Art exemplum war, hatte die Auswahl der geeigneten Person eine große Bedeutung. Bärenkopf empfahl eine persönlichere und systematischere Instruktion derart, dass der Pfarrer abends nach der Arbeit die Gläubigen zusammenrief, um gemeinsam das Abendgebet zu sprechen, wobei er kurze und passende Vorschläge formulierte („brevem et accomodatam
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Ein gutes Beispiel dazu: Glaube und Kirche in der Schwäbischen Türkei des 18. Jahrhunderts. Aufzeichnungen von Michael Winkler in den Pfarrchroniken von Szakadát, Bonyhád und Gödre. Zusammengestellt, aus dem Lateinischen übersetzt und eingleitet von Franz GALAMBOS, München 1987, vor allem S. 93-296. BÄRENKOPF (wie Anm. 6). Detaillierter zu dieser Frage: Zoltán GŐZSY / Norbert SPANNENBERGER, „Discipulus Teschedikianus huc pro experientia mitti deberet“. Das Prinzip der „ordo“ in der Entwürfen deutscher und ungarischer Aufklärer. In: Ungarn-Jahrbuch 29 (2008), S. 59-72. „Bonus ordo, qui regnare debet in Parochia universa, pendet plurimum ab ordine, qui observatur in domo parochiali; iste vero ab ordine, quem ipse parochus sibi praestituit et sequitur.“
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instructionem“).45 Der Autor war zuversichtlich, dass diese Anlässe von selbst positive Änderungen unter den Gläubigen auslösen würden. Bärenkopf betrachtete Instruktion und Predigt als gleichrangig. Beide könnten geistig und seelisch gefüllt sein. Im Kapitel „De Praedicatione et Instructione“ führte er aus, dass die Predigt einerseits aufklärerisch fungieren muss, so dass sie „die Finsternis des Unwissens vernichtet und die Fehler beseitigt“ („dissipat tenebras ignirantiae, corrigit errores“), zugleich dient sie aber auch dem seelischen Heil der Gläubigen („Praedicatio illuminat intellectum, dum interea cor movet Deus“).46 Es ist kein Zufall, dass im Falle Bärenkopfs unter den Pfarreridealen das affabilitas erscheint, das ein nahes Verhältnis zur Gemeinschaft bedeutet, in dem Sinne, dass man mit dem Pfarrer leichter sprechen und kommunizieren kann.47 In meiner Darstellung versuchte ich deutlich zu machen, wie sich die aufklärerischen Bestrebungen der Kirche im 18. Jahrhundert entwickelten und wie sie funktionierten. Anhand der Quellen wurde gezeigt, dass die katholische Aufklärung aus den Kanones des Konzils von Trient hervorging und die Lehr- und Aufklärungstätigkeiten der katholischen Kirche sich kontinuierlich entfalteten.48 Diese Tätigkeit war eng verbunden mit der im Verlauf des Jahrhunderts sich verdichtenden Organisationsstruktur der Kirche, die auf verschiedenen Ebenen (zentral, regional, lokal) eingerichtet wurde. Die Fachliteratur beschränkt sich häufig auf die Beziehung der katholischen Kirche zur Aufklärung – wie aber verhielt sich die Kirche zu den Thesen, der Philosophie und zu den Abhandlungen von Theoretikern der Aufklärung?49 In viel geringerem Umfang wird untersucht, inwiefern die Lehrtätigkeit der Kirche ein Fundament für die Praxis und die funktionellen Mechanismen der Aufklärung war. Wenn die unterschiedlichen Beiträge irgend vorhandene Verbindungen zwischen Katholizismus und Aufklärung suchen, konzentrieren sie sich zumeist auf theologische, bzw. wissenschaftliche Beziehungen.50 Ich lege Wert auf eine regionalbestimmte Annäherung, weil die katholische Aufklärung in der von mir untersuchte Region in unterschiedlicher Form und mit einer Phasenverschiebung aufgetreten ist. Die in Südungarn und in Slavonien existenten Ethnien, Konfessionen (und der Grad der Konfessionalität), sowie auch die 45 46 47 48
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BÄRENKOPF (wie Anm. 6), S. 176. Ebd., S. 194. Ebd., S. 405f. Teils im Gegensatz zur Fachliteratur: „Fast alle [die Fachstudien] erwähnen einen weiten jansenistischen oder den Jansenismus berührenden Plan, der dahin tendiert, im Namen des Fortschritts der Aufklärung Nationalkirchen gegen die Autorität des Römischen Stuhles und die disziplinären Kanones des Konzils von Trient zu organisieren.“ Bernard PLONGERON, Was ist katholische Aufklärung? In: Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, S. 11. Vgl. Diskussion [zum Vortrag von Bernard Plongeron]. In: Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, S. 57-62. Vgl. György HÖLVÉNYI, Katholische Aufklärung in Ungarn. In: Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, S. 93-100.
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staatlichen, kirchlichen und gesellschaftspolitischen Strategien bestimmten den Inhalt und die Dynamik der Lehrtätigkeit der Kirche.51 Infolgedessen sind Unterschiede im Vergleich zu anderen Regionen zu beobachten. Diese Unterschiede belegen, dass die katholische Aufklärung ein vielschichtiges Phänomen ist und ihre Komponenten sehr komplex sind.52 Diese Darstellung möchte darauf hinweisen – in Übereinstimmung mit Bernard Plongeron53 –, dass die Praxis ausschlaggebend war und das Kommunikationssystem der Kirche in den Dienst sowohl des aufgeklärten Absolutismus, als auch der Aufklärung stellte.
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Vgl. PLONGERON (wie Anm. 48), S. 46-56. Ebd., S. 55. Die Antwort von Bernard Plongeron zu der Frage von Elisabeth Kovács (wie Anm. 49), S. 60.
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„JEDER WOHNT, INSOFERN ES SEINE MITTEL GESTATTEN, WO ES IHM ZUSAGT“. ÜBERLEGUNGEN ZUR ROLLE DER JOSEPHINISCHEN REFORMEN IN DER GEBURT DER MODERNEN STADT IN SIEBENBÜRGEN
Der Arzt Eduard Gusbeth schrieb in seiner Monographie über die Gesundheitspflege in Kronstadt im 19. Jahrhundert, dass die demographische Lage in Kronstadt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts gewandelt habe: Die einst ethnisch und beruflich homogenen Stadtteile und Vorstädte seien nun ethnisch wie sozial heterogen geworden.1 „Jeder wohnt, insofern es seine Mittel gestatten, wo es ihm zusagt“2, folgerte der Kronstädter Arzt. Das Aufbrechen der ethnischen und sozialen Homogenität führte dazu, dass traditionelle Formen des Gemeinschaftslebens wie die Nachbarschaft ihre Funktion verloren und durch professionalisierte Dienstleistungen ersetzt wurden.3 Eine weitere bedeutende Folge war die Entstehung der dreisprachigen Stadt, die sich zu ihrer Heterogenität bekannte und diese auch verteidigte.4 Allen Befürchtungen zum Trotz funktionierte die Stadt und wurde am Ende des 19. Jahrhunderts zum Industriestandort Siebenbürgens.5 1
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Eduard GUSBETH, Die Gesundheitspflege in Kronstadt im 19. Jahrhundert. In: Beiträge zu einer Monographie der königl. freien Stadt Kronstadt. Festschrift für die Mitglieder der 26. Wanderversammlung ungar. Ärzte und Naturforscher, Kronstadt 1892, S. 17. Ebd., S. 17. Eduard GUSBETH, Das Gesundheitswesen in Kronstadt im Jahre 1891. Achter Jahresbericht, Kronstadt 1892, S. 20-23. – DERS., Das Gesundheitswesen in Kronstadt in den Jahren 1894, 1895, 1896, Kronstadt 1897, S. 146. – DERS., Das Gesundheitswesen in Kronstadt in den Jahren 1897 und 1898, Kronstadt 1899, S. 9. – Hans-Achim SCHUBERT, Nachbarschaft und Modernisierung: eine historische Soziologie traditionaler Lokalgruppen am Beispiel Siebenbürgens, Köln, Wien 1980, S. 151, Anm. 149. GUSBETH, Das Gesundheitswesen in Kronstadt in den Jahren 1894, 1895, 1896, S. 144. Laut einer Feststellung Ende des 19. Jahrhunderts wäre eine Stadt umso entwickelter, je weniger Rumänen in ihr wohnten. Vgl. Gusztáv BEKSICS, A román kérdés és a fajok harcza Európában és Magyarországban [Die rumänische Frage und der Kampf der Rassen in Europa und in Ungarn]. Budapest 1895, S. 162. Derselbe Autor stellte jedoch 1891 fest, dass Kronstadt „eine unserer meistentwickelten Städte ist. Was den städtischen Charakter angeht, folgt Kronstadt Budapest und steht an Bedeutung neben Temeswar und Preßburg.“ DERS., Közigazgatásunk reformja és
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Diese Entwicklung war aber im 18. Jahrhundert nicht absehbar. Das lange 18. Jahrhundert begann in Kronstadt am 21. April 1689, als die Stadt abbrannte. Die Ursachen des verheerenden Stadtbrandes sind ungeklärt geblieben6, eine Rache der habsburgischen Soldaten für den Aufstand von 1688 ist nicht auszuschließen. Mit dem Brand verschwand das mittelalterliche Kronstadt zunächst optisch. Von der mittelalterlichen Architektur blieb sehr wenig übrig und die Stadt wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts nur mühselig wiederaufgebaut.7 Ihre Glanzzeit war vorüber. Zwar wurden die Führer des Aufstandes von 1688 nicht so grausam bestraft, wie es die Stadtobrigkeit ursprünglich beabsichtigte8, aber die Distanz zu Wien blieb im Laufe des 18. Jahrhunderts erhalten: Die von Hermannstadt abweichende Haltung im Empfang und der Aufnahme der Transmigranten aus Kärnten9 ist nur ein Beispiel für diese Distanz. Die Distanz zur Zentralgewalt bedeutete aber noch nicht die Abkehr von den Praktiken, die 1688 zum Aufstand geführt hatten. Mehr noch: Die Sieger der neuen Zeit waren die Patrizier, die sowohl mit den sächsischen Handwerkern der Inneren Stadt als auch mit den Rumänen der Oberen Vorstadt in einer konfliktreichen Beziehung standen.10 Die Gegensätze verliefen nicht nur entlang der Nationen, sondern auch innerhalb der Nationen.11 Dass aber der moderne Nationenbegriff für das 18. Jahrhundert nicht anwendbar ist, zeigt gerade die Lage in Kronstadt. Kronstadt bedeutete die Innere Stadt und die Vorstädte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Stadtvierteln werden: Altstadt, Obere Vorstadt (Şcheii Braşovului) und Blumenau (Bolonya). Die Innere Stadt und die Altstadt waren sächsisch besiedelt, die
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nemzeti politikánk [Die Reform unserer öffentlichen Verwaltung und unsere Nationalpolitik]. Budapest 1891, S. 108, wobei anzumerken ist, dass Kronstadt die siebenbürgische Stadt mit dem größten rumänischen Bevölkerungsanteil war (30 Prozent). Maja PHILIPPI, Die Zeit des Übergangs von der türkischen zur österreichischen Herrschaft. In: Carl GÖLLNER (Hg.), Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens. I. Bd.: 12. Jahrhundert bis 1848, Bukarest 1848, S. 220-237, hier S. 227. Harald ROTH, Kronstadt in Siebenbürgen. Eine kleine Stadtgeschichte, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 163-165. – Maja PHILIPPI, Vom Barock zum Jugendstil. Veränderungen im Stadtbild von Kronstadt im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Kronstadt. Historische Betrachtungen über eine Stadt in Siebenbürgen. Aufsätze und Vorträge, Bukarest, Heidelberg 1996, S. 206f. – Erich JEKELIUS, Das Burzenland. Bd. III/1: Kronstadt, Kronstadt 1928, S. 13-15. Der Bürgeraufstand von Kronstadt 1688. Ein Beitrag zur Geschichte Siebenbürgens am Ende des 17. Jahrhunderts. In: Paul PHILIPPI (Hg.), Beiträge zur Geschichte von Kronstadt in Siebenbürgen, Köln, Wien 1984, S. 226-276, hier S. 273. „Während sich die Nationsführung in Hermannstadt sträubte, diese ‚odiösen Emigranten’ zu empfangen, weil man ja dadurch in den Augen der Wiener Adelsbürokratie als auf der gleichen niedrigen Stufe wie die ungeliebten Ausgewiesenen erscheinen mußten, wurden sie im Burzenland würdig begrüßt – hier war man nicht nur geographisch, sondern auch ideologisch weiter von Wien entfernt.“ ROTH, Kronstadt, S. 174. Ebd., S. 166, 175f. Angelika SCHASER geht in ihrer Arbeit „Reformele iosefine în Transilvania şi urmările lor în viaţa socială [Die josephinischen Reformen und deren Folgen für das soziale Leben], Sibiu 2000“ von einem undifferenzierten Bild der siebenbürgischen Gesellschaft aus, so dass sie den nationalromantischen Vorstellungen, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen, verhaftet bleibt.
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Obere Vorstadt rumänisch und die Blumenau mehrheitlich ungarisch bewohnt.12 Bürgerrecht hatten nur die Bewohner der Inneren Stadt, die sächsischen Bewohner der Altstadt und der Blumenau hingegen hatten kein Bürgerrecht.13 Sie konnten zwar leichter das Bürgerrecht erlangen, doch sie erhielten es nicht automatisch auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur sächsischen Nation. Für die meist lutherischen Ungarn aus der Blumenau war die Assimilation (etwa durch Mischehen) die beste Möglichkeit, das Bürgerrecht zu erlangen, was im 18. Jahrhundert die Befürchtung weckte, die ungarisch-lutherische Gemeinde werde eingehen, weil zu viele Gemeindeglieder „zu Sachsen wurden“.14 Auch die Rumänen der Oberen Vorstadt hatten in mehreren Anläufen versucht, einen eigenen Stadtrat und -richter aufzustellen oder in die Zünfte aufgenommen zu werden.15 Als Joseph II. seine Reformtätigkeit begann, hatte Kronstadt schon Erfahrungen mit politisch-sozialen Auseinandersetzungen, die alle auf eine Krise der vormodernen Stadt hinwiesen. Wenn wir die Folgen des Konzivilitätsreskripts für Kronstadt untersuchen, müssen wir von der polarisierten Lage ausgehen, die die Stadt charakterisierte. Ausgehend von den Spannungen innerhalb der Stadt versucht die vorliegende Arbeit, einerseits auf die „vergessenen“ Folgen des Konzivilitätsreskripts, andererseits auf eine Täuschung hinsichtlich der Konzivilität und des ausschließlichen Besitzrechtes hinzuweisen. Die josephinischen Reformen erwecken den Eindruck, als seien sie vornehmlich gegen die sächsische Nation gerichtet gewesen.16 Dieser Eindruck täuscht insoweit, 12
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Maja PHILIPPI, 200 Jahre Familie Scherg in Kronstadt. Vom Wollenzieher Michael Schüe zur Tuchfabrik Scherg. In: Balduin HERTER (Hg.), Siebenbürgische Familien im sozialen Wandel, Köln, Weimar, Wien 1993, S. 6-106, hier S. 9-14. Ebd., S. 10. „[…] die Personen, die ihre Gemeinde verlassen, zu der sie laut ihrer Nation gehören, und ihr Volk verleugnen, werden nicht nur auf größtenteils verbotenen Wegen zu Sachsen; sondern werden zu Sachsen mit ihrem Gottesdienst, ihren Taufen, Begräbnissen und der Kommunion, der irdischen Güter und weltlichen Nutzen wegen: (damit sie sich in die Zünfte einschleichen können); da die Zahl der Ungarn sich verringert, geht das kleine Gehalt und die Stolgebühr des ungarischen Pfarrers täglich zurück […] die ungarische Gemeinde wird verschwinden und es wird kein Pfarrer mehr benötigt.“ József SZELEI / Pál BINDER, Brassói magyar krónikások és barcasági evangélikus egyháztörténészek (1550-1800) [Kronstädter ungarische Chronisten und evangelische Kirchenhistoriker aus dem Burzenland (1550-1800)]. Szecseleváros 2000, S. 99. ROTH, Kronstadt, S. 175f. „So unvermittelt nebeneinander gedrängt, nehmen sich diese rasch aufeinanderfolgenden verändernden Verfügungen Josefs II. so aus, als hätte er es im besonderen auf das sächsische Volk abgesehen gehabt. Doch darf nicht übersehen werden, daß diese Verordnungen in engem Zusammenhang mit der fast unheimlich anwachsenden Menge anderer standen, die darauf abzielten, den einheitlichen Gesamtstaat zu schaffen, die Regierungsgewalten zu stärken und zu diesem Zwecke alle Sonderrechte zu beseitigen oder doch zu mindern, den Staatsschatz aber unter allen Umständen zu mehren.“ Georg Adolf SCHULLER, Samuel von Brukenthal, Bde. I-II, München 1967-1969, hier Bd. II, S. 61. „Unter der Regierung des Höchstseligen Kaisers Joseph des Zweiten wollte man die ganze Verfassung und alle Vorrechte der sächsischen Nation aufgehoben wissen […] Je schmerzlicher es unser Nation war, sich ihrer ganzen vormahligen Verfas-
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als Joseph II. es geschafft hatte, bis zum Ende seiner Regierungszeit genauso die katholische Kirche oder den ungarischen Adel gegen sich aufzubringen.17 Das Konzivilitätsreskript, das als Schlag gegen die sächsische Nation empfunden wurde, hob tatsächlich die Sonderstellung der sächsischen Nation auf dem Königsboden auf. Das Problem, das das Reskript behandelte, schien im 18. Jahrhundert ein sächsisches Problem zu sein18, war aber eine Frage der vormodernen Stadt schlechthin. Das Konzivilitätsreskript, dessen endgültige Fassung am 4. Juli 1781 verabschiedet wurde, besagte, dass das ausschließliche Wohn- und Besitzrecht der Sachsen in den Städten des Königsbodens aufgehoben wurde, d.h. alle Bewohner Siebenbürgens, egal ob privilegiert oder nicht (in der ersten Fassung nur die privilegierten Nationen), hatten nun das Recht, Häuser zu kaufen und in den Städten zu wohnen.19 Die grundlegenden Begriffe sind „concivilitate et compossessione“.20 Das ausschließliche Wohn- und Besitzrecht der Sachsen in den Städten des Königsbodens war ursprünglich gegen den Adel gerichtet21 und die Adligen hatten dieses Recht immer schon angegriffen.22 Das Revolutionäre am Konzivilitätsreskript war die Bestimmung der zweiten Fassung, die das Recht, sich in den Städten niederzulassen, auch auf die Rumänen ausdehnte, die nicht zu den privilegierten Nationen gehörten: „verum generaliter ad omnes Magnum Transilvaniae Principatum inhabitantes cives et incolas consequenter etiam ad Valachos, dummodo praevie personali qualificatione ad possessionem acquirendam pro diversitate fundorum necessaria, et in legibus aut Statutis praescripta praediti fuerint, tam in Fundo Regio quam in Comitatibus et Sedibus extendi debeat, et quidem ea modalitate, ut quilibet post adeptam realem in Fundo regio compossessionem universis commodis, juribus et beneficiis ex hac possessione profluentibus, eodem, quo Saxones inter se utuntur, jure, tuto, licite, et escure uti, fruique valeat, e converso tamen onera quoque cum eadem conjuncta ferre, praetereque teneatur […].“23 Adlige und Rumänen galten aus ganz verschiedenen Gründen, jedoch jeweils mit Bezug auf ihre unterschiedliche Lebensweise, als unvereinbar mit dem städtischen Leben: „[…] wurde die Nation noch mehr durch das in diesen Tagen erschienene Concivilitäts-Dekret erschüttert, in welchem ihr Recht, ihren Grund und Boden mit Ausschließung aller anderen Nationen zu behaupten, das sie seit ihrer Entstehung
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sung und aller mit ungemeinem Aufwande von Mühe und Kosten durch ihre Ahnen erzwungenen Vorrechte auf einmal beraubt zu sehen […].“ Michael Conrad VON HEYDENDORFF, Unter fünf Kaisern. Tagebuch von 1786-1856 zur siebenbürgisch-österreichischen Geschichte, München 1978, S. 29. Zoltán SZÁSZ (Hg.), Erdély története. Második kötet: 1606-tól 1830-ig [Geschichte Siebenbürgens. Zweiter Band: von 1606 bis 1830]. Budapest 1986, S. 1108. SCHASER, Reformele, Anhang 3: Scrierea anonimă a lui Stephan Patrubany, în care propune introducerea concivilităţii [Die anonyme Schrift von Stephan Patrubany, in der er die Einführung der Konzivilität vorschlägt], S. 236-241, hier S. 236f. Ebd., S. 72f. (erste Fassung), S. 75f. (endgültige Fassung). Ebd., S. 72. ROTH, Kronstadt, S. 179. SCHASER, Reformele, S. 48. Ebd., S. 75.
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wider alle bisherigen Anläufe zu verfechten im Stande gewesen war, auf einmal zerstöret und jeder Fremde für fähig erkläret wurde, sich in ihren Städten ansäßig zu machen. Der Bürgerstand, dessen Eigenheiten sich weder mit der Denk- und Lebensart des Adels, noch mit der Sitte der bisher von den Städten und selbst von der ständischen Verbindung entfernt gehaltenen walachischen Menschenklasse vertrug, sah sich auf einmal mit beiden in einen Klumpen geworfen; mit dem Adel, der von keinen Verhältnissen wußte, als von denen in welchem er mit seinen Unterthanen stand und mit einem Volk, das zu keiner der drei Nationen jemals gehört, sich nach und nach nur angesiedelt, für sittliche Bildung keinen Sinn jemals gehabt, sondern alle seine Schritte entweder nach der Leitung seines kaufmännischen Geistes, oder nach den Erzeugnissen bäuerischer Handarbeiten und Wirtschaften abgemessen hatte.“24 Die Konzivilität stellte die Frage der Homogenität im juristischen Sinne – nicht einfach Gleichheit, sondern Gleichförmigkeit des sozialen Standes. Diese juristische Gleichförmigkeit bedeutet weder soziale Gleichheit, noch wurde sie auf alle Mitglieder der Nation (des Standes) ausgedehnt. Sie bezog sich im Falle Kronstadts nur auf die Bewohner der Inneren Stadt, nicht aber auf die sächsischen Bewohner der Vorstädte. Diese juristische Homogenität wäre also von der Niederlassung von nichtsteuerzahlenden Privilegierten (Adligen) und steuerzahlenden Unterprivilegierten (Rumänen) aufgebrochen worden, was das Funktionieren einer vormodernen Stadt gestört hätte. Dass diese Möglichkeiten nicht einfach Gedankenexperimente waren, zeigen die Fälle jener Siedlungen – Städte oder Marktflecken –, die außerhalb des Königsbodens lagen und deren Rechtsstand und/oder Verwaltung infolge der Niederlassung von Adligen bzw. dem Nebeneinander von verschiedenen Verwaltungen zu leiden hatte: Klausenburg oder Oderhellen.25 In Klausenburg, das seit 1458 nach dem Ofener Recht verwaltet wurde, gehörte die Verdrängung der Adligen aus der Stadt zu den Bemühungen der beiden Nationen, der sächsischen wie ungarischen, die sich die Macht in der Stadt teilten.26 Als die szeklerische Stadt Neumarkt 1616 zur königlichen Freistadt erhoben wurde, stellte sich die Frage der Adligen, die in der Stadt wohnten und deren Anwesenheit mit dem Stand einer königlichen Freistadt unvereinbar war: Die Kompromisslösung war, dass die Adligen ihre Privilegien zwar behielten, aber ihre Häuser und Grundstücke wurden den städtischen Behörden unterworfen, wobei später alles, was außerhalb der Mauer lag, zur Vorstadt erklärt wurde; innerhalb der Mauern galten keine Adelsprivilegien mehr.27 24 25 26
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George Michael VON HERRMANN, Das Alte und Neue Kronstadt. Ein Beitrag zur Geschichte Siebenbürgens im 18. Jahrhundert, Bd. 1-2, Hermannstadt 1883, 1887, hier Bd. 1, S. 152. Sándor PÁL-ANTAL, Székely önkormányzat-történet [Geschichte der szeklerischen Selbstverwaltung]. Marosvásárhely 2002, S. 258. Segesvári Bálint történeti feljegyzései [Die historischen Aufzeichnungen von Segesvári Bálint]. In: József BÁLINT / József PATAKI (Hg.), Kolozsvári emlékírók 1603-1720, Bukarest 1990, S. 136-173, hier S. 155. Miklós SZABÓ, Marosvásárhely szabad királyi várossá alakulása (1560-1759) [Die Wandlung von Neumarkt zur königlichen Freistadt (1560-1759)]. In: Sándor PÁL ANTAL / Miklós SZABÓ (Hg.), Marosvásárhely történetéből, Marosvásárhely 1999, S. 29-33, hier S. 31-33.
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Die Konzivilität war demnach im Grunde genommen keine sächsische Frage, sondern betraf die politisch-juristische Identität der vormodernen Stadt selbst. Allerdings waren die größten Städte Siebenbürgens, mit Ausnahme von Klausenburg, sächsische Siedlungen, so dass der Kampf um die Konzivilität als Kampf gegen die Privilegien der sächsischen Nation gesehen wurde. Die Konzivilität bedeutete einen Sieg des Adels, der endlich in die Städte ziehen konnte, allerdings als Steuerzahler.28 Für die weitere Entwicklung von Kronstadt ist es aber von größerer Bedeutung, dass sich 1782 der erste rumänische Kaufmann, Ioan Boghici, in der Inneren Stadt niederließ.29 1799 waren 10% der Vollbürger Kronstadts Nichtdeutsche (Adlige, rumänische oder griechische Kaufleute).30 Die Anwesenheit Ortsfremder war nicht ungewöhnlich, wie das aus der Turmknopfschrift von 1774 zu entnehmen ist: „Unter dem blühenden Oesterreichischen Scepter leben wir in stolzem Frieden und teilen unsere Ruhe mit einer Menge von Bojaren und ausländischen Kaufleuten, welche aus der Walachei und Moldau wegen der daselbsten wütenden Kriegs-Unruhen herausgeflüchtet und, um nur Leben und Freiheit zu retten, ihre ansehnliche Besitzungen den grimmigen Händen des Feindes zum Opfer gelassen.“31 Nun konnten sich die Flüchtlinge, wenn sie Bewohner Siebenbürgens waren, in der Stadt als Bürger niederlassen. Das Aufbrechen der ethnischen Homogenität der Inneren Stadt gehört zu den sichtbarsten und schwerwiegendsten Folgen des Konzivilitätsreskripts. Die demographische Entwicklung des 19. Jahrhunderts verlagerte sich in Richtung der Heterogenität, die um die Wende zum 20. Jahrhundert die Stadt auch optisch prägte: Auf einem verhältnismäßig engen Raum stehen die evangelische Stadtpfarrkirche (seit dem Brand von 1689 Schwarze Kirche genannt), die 1776 umgebaute katholische Pfarrkirche in der Klostergasse und die 1896 auf der Kornzeile errichtete orthodoxe Kirche. Die Erinnerungen von G.M.G. Herrmann weisen aber auf eine vergessene Folge hin: „Nun huben aber auch die Altstädter Klostergässer ihre Köpfe wieder empor. Schon 1781 waren sie beim Gubernium um die Befugniß eingekommen, an allen bürgerlichen Freiheiten ohne Unterschied Theil nehmen zu dürfen. Das Gubernium hatte ihnen den Bescheid gegeben, sie sollten sich mit ihren bisherigen Vortheilen begnügen und nichts Neues verlangen. Damit begaben sie sich denn zur Ruhe, erneuerten aber ihr Gesuch 1782 so auch 1783 wieder. Das thaten sie denn auch 1784. Zumal aber widersetzten sie sich 1785 der neuen Fleischbank, die der Magistrat den 18. December aus dem Grunde in die Altstadt eingeführet hatte, weil sich einige beurlaubte Soldaten, durch die den Ober-Vorstädten eingeräumten neuen Freiheiten ermuntert, auch in der Altstadt ein gleiches Recht anmaßen wollten. Das Gubernium wies indessen die Altstädter zur Ruhe und zum Gehorsam, und verfügte bei dieser Gelegenheit zugleich, dass sie künftig ohne Wissen der Stadt-Obrigkeit keine Zusammenkünfte und Nachbarschafts-Versammlungen anstellen sollten. 28 29 30 31
SCHASER, Reformele, S. 74. PHILIPPI, 200 Jahre Scherg, S. 18. Ebd. G.M.G. HERRMANN, Turmknopfschrift (1689-1774). In: Quellen zur Geschichte der Stadt Brassó, Bd. VI, Brassó 1915, S. 580-586, hier S. 580f.
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Indessen vereinigten sie sich mit den Blumenauern, und baten neuerdings um die Schanksfreiheit, ja sie verlangten 1789 bei Hofe auch gleichmäßigen Genuß aller bürgerlichen Freiheiten, und gleichen Antheil an den noch unveräußerten GemeinGründen, und dieses aus der Ursache, weil sie sich allen Lasten und Steuern wie die Bürger in der Stadt unterzögen. Der Hof gab ihnen diesfalls auch Gehör, und gestand denjenigen Altstädtern und Blumenauer Einwohnern, die den Bürgereid abgelegt hätten, oder künftig ablegen würden, auch die bürgerliche Kopftaxe und andere Gemein-Lasten trügen, den unumschränkten Genuß aller bürgerlichen Freiheiten zu.“32 Aus dem Fragment erfahren wir, dass die sächsischen Einwohner der Vorstädte rechtlich den Bewohnern der Inneren Stadt nicht gleichgestellt waren, obwohl sie zur gleichen Nation gehörten. Das heißt, die Sachsen, die in den Vorstädten wohnten, hatten ebenso kein Bürgerrecht, wie die Rumänen der Oberen Vorstadt oder die Ungarn der Blumenau. Dabei gehörten auch die Ungarn und Szekler zu den privilegierten Nationen. Dass das Konzivilitätsreskript keine sofortige Aufhebung der juristischen Ungleichheiten bedeutete, zeigt ebenfalls das angeführte Fragment: Die Altstädter und Blumenauer, die theoretisch zu den Privilegierten gehörten, kämpfen noch 1789 um die Erlangung bürgerlicher Freiheiten, die ihnen als Unzünftigen verwehrt waren. Die Biographie des ersten Schergs in Kronstadt, Gottfried Schürge, der sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Blumenau niederließ, beweist, wie differenziert die sächsische Gesellschaft war: Als Bewohner der Blumenau, unzünftig und arm, hatte er keine Möglichkeit des Aufstiegs, d.h. in eine Zunft der Inneren Stadt aufgenommen zu werden.33 Die Niederlassung von orthodoxen Kaufleuten in der Inneren Stadt hatte aber auch eine weniger beachtete Kehrseite: Sächsische Handwerker, denen das Leben in der Inneren Stadt zu teuer wurde, ließen sich in der Oberen Vorstadt nieder.34 Die 17901794 erbaute evangelische Kirche und die benachbarte Armenschule35 sind die Wahrzeichen der veränderten demographischen wie sozialen Lage in der Oberen Vorstadt, die zwar weiterhin mehrheitlich rumänisch blieb, aber einen bedeutenden sächsischen Bevölkerungsanteil hatte und sich zum Armenviertel der Stadt entwickelte, während das vormalige Armenviertel, die Blumenau, im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Fabrikviertel der Stadt wurde.36
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Ebd., S. 226. PHILIPPI, 200 Jahre Scherg, S. 14. „Die Sachsen sind hier meist arme Handwerker, welche der billigern Wohnungen und des wohlfeilen Lebens wegen aus der Stadt hierher gezogen sind.“ PHILIPPI, Die Zeit, S. 48. Ebd., S. 49. – „Das neue freundliche, bei der Kirche stehende Schulgebäude enthält ein Lehrerzimmer und eine Lehrerwohnung. Die Schule ist eine Armenschule, welche meist von den Kindern sehr armer Leute besucht wird, die in dieser Gemeinde wohnen. Mit Mühe und nur mit Hilfe anderweitiger Unterstützung ist die arme Gemeinde im Stande, ihre Schule zu erhalten.“ Ebd., S. 99. „Wenn Kronstadt nach einer Richtung hin sich einmal ausdehnen sollte, so ist es in dieser Gegend. In der neuesten Zeit sind wenigstens hier an dem hierher geleiteten Tömöschbach eine Menge Fabriken und andere industrielle Unternehmungen entstanden, welche dieser Vorstadt,
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Das Konzivilitätsreskript hatte, zumindest für Kronstadt, weitreichende und komplexe Folgen, die sich nicht auf interethnische Konkurrenz beschränken lassen. Erst das Konzivilitätsreskript hat es ermöglicht, dass entgegen seiner Absichten – die Schaffung einer einheitlichen „siebenbürgischen Nation“37 – Kronstadt sich zu der komplexen demographischen Situation entwickeln konnte, die die amtliche Dreisprachigkeit erst ermöglichte. Statt zu vereinheitlichen, hat die Konzivilität weiter differenziert, allerdings war es eine andere Form der Differenzierung als die der ständischen Gesellschaft: Die bestehenden juristischen Unterschiede zwischen aber auch innerhalb der Nationen wurden abgebaut. Nicht mehr die nationale oder administrative Zugehörigkeit (Innere Stadt oder Vorstädte) legten den Platz des Individuums in der Stadt fest, sondern sein Vermögen: „Jeder wohnt, insofern es seine Mittel gestatten, wo es ihm zusagt.“
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besonders seit der Eisenbahnverkehr begonnen hat, eine rührige Entfaltung in Aussicht stellen.“ Ebd., S. 43. – PHILIPPI, 200 Jahre Scherg, S. 98. SCHASER, Reformele, S. 48.
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DIE REZEPTION DES JOSEPHINISMUS IN DEN FRÄNKISCHEN FÜRSTBISTÜMERN BAMBERG UND WÜRZBURG
Außerhalb der Habsburger Erblande gab es wohl kaum Territorien im Reich, in denen so viel vom Josephinismus übernommen wurde wie in den fränkischen Fürstbistümern. Die Macht des Kaisers war ja seit 1648 weitgehend auf seine Herrschaft über die Erblande beschränkt, bei Reichsgeschäften blieb er auf die Mitwirkung der Fürsten und Städte angewiesen. Diese wiederum, vor allem die geistlichen Territorien und die Städte mussten sich zum eigenen Überleben an die Reichsgewalt anlehnen und sie unterstützen. Gegen den Einfluss der protestantischen Territorien war für Wien vor allem die katholische Barriere der katholischen Bistümer von Bamberg über Würzburg nach Mainz wichtig, und Kaiser und Papst unterstützten deshalb die Personalunion mehrerer dieser Bistümer unter einem ihnen genehmen Kandidaten. Das war schon bei den Schönbornbischöfen der Fall. Johann Philipp (1605-1673) war Bischof von Würzburg, Worms und Kurfürst von Mainz, Lothar Franz (1655-1729) Bischof von Bamberg und Kurfürst von Mainz und Friedrich Karl (1674-1746) Bischof von Bamberg und Würzburg. Bamberg galt seit seiner Gründung als Bistum 1007 als besonders reichs- und kaisertreu, unter Lothar Franz erreichte die enge Bindung an Wien einen gewissen Höhepunkt, der sich rein äußerlich im Kaisersaal der Neuen Residenz in Bamberg zeigt. Auf ausdrücklichen Wunsch und Vorschlag von Lothar Franz, dem das übliche Bildprogramm der vier Erdteile „zu gemein“ war, zieren die Wände seines 1709 gestalteten Repräsentationssaales die überlebensgroßen Portraits aller Herrscher aus dem Hause Habsburg, angefangen von Rudolf I. (1173-1291) bis zu dem gerade erst gewählten Joseph I. (1705-1711). Als einziger Herrscher des Mittelalters aus anderem Geschlecht führt Heinrich II. die Kaiserreihe an, womit die besondere Rolle Bambergs als „Kaiserstadt“ bewusst hervorgehoben wird. Wie eng die Beziehungen zwischen Lothar Franz und dem Kaiserhaus waren, zeigt auch die Tatsache, dass von ihm Elisabeth Christine von Wolfenbüttel, die Braut des späteren Kaisers Karl VI., 1707 im Bamberger Dom in die katholische Kirche aufgenommen wurde, dass er seinen Neffen Friedrich Karl als Reichsvizekanzler in Wien und als seinen späteren Nachfolger in Bamberg durchsetzen konnte und dass er schließlich – gegen französischen Widerstand – Karl VI. zum Kaiser wählen ließ und
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ihn 1711 in Frankfurt selbst krönen konnte. Auch als Direktor des Fränkischen Kreises hat er sich im Spanischen Erbfolgekrieg verdient gemacht. Sein Neffe Friedrich Karl, der von 1705 bis 1731 als Reichsvizekanzler für die Kaiser Joseph I. und Karl VI. die Reichshofkanzlei, die oberste Behörde des Heiligen Römischen Reiches leitete, setzte die Politik seines Onkels konsequent fort. Fünf Jahre nach seiner Wahl zum Bischof von Bamberg und Würzburg zog er sich durch Verzicht auf das Amt des Reichsvizekanzlers weitgehend aus der Reichspolitik zurück, um sich intensiver der Verwaltung seiner Territorien zu widmen. Gegen alle Proteste und selbst gegen den Einspruch des Reichskammergerichts setzte er in absolutistischer Manier und nach dem Vorbild in Österreich in seinen beiden Territorien die Polizei-, Militär- und Steuerhoheit durch. Die Nachfolger der Schönbornbischöfe, vor allem die Fürstbischöfe Adam Friedrich von Seinsheim (1757-1779) und Franz Ludwig von Erthal (1779-1795), die beide Bistümer auch wieder in Personalunion regierten, betonten in ihrer Politik auch wieder die engen Beziehungen zum Kaiserhof in Wien. Unter Seinsheim erfolgte vor allem eine umfassende Reform des Schulwesens im Sinne der Aufklärung. Vorbild dafür war die Neuordnung der katholischen Elementarschulen im preußischen Schlesien, die Ignaz Felbiger, Abt von Sagan, 1761 bis 1765 durchgeführt hatte. Felbigers Schriften erschienen seit 1767 bei der Firma Göbhardt in Bamberg und Würzburg, so 1767 sein „Anhang christlicher Grundsätze und Lebensregeln zum Unterricht der Jugend“ und 1771 der „Katholische Katechismus“.1 1770 wurde in Würzburg eine der ersten Lehrerbildungsanstalten in Süddeutschland eingerichtet. Ihr erster Direktor, Kaplan David Götz, verfasste 1772 das „Würzburger Lesebuch“ und 1774 eine „Schul-Ordnung für die Niedern Stadt- und Landschulen“, in der der ganzjährige Pflichtunterricht für alle Kinder des Hochstifts vom 6. bis zum 12. Lebensjahr vorgeschrieben wurde. Nach der Auflösung des Jesuitenordens 1773 und damit auch des Jesuitenkollegs mussten auch für Gymnasium und Universität neue Ordnungen und neue Lehrer gefunden werden. Dabei erhielten auch ausgewiesene Vertreter der katholischen Aufklärung Lehrstühle, wie etwa Franz Oberthür (1745-1831) als Professor für Dogmatik und Michael Ignaz Schmidt (1736-1794) als Professor für Reichsgeschichte. Schmidt wurde schnell zum wichtigsten Berater des Bischofs bei der Neuordnung von Gymnasium und Universität. Mit seinem 1774 erschienenen „Entwurf der Würzburger Schulen Einrichtung“ entstand ein Studienplan für die Universität, als Korrespondenzpartner des nach Wien berufenen Schulreformers Felbiger und als Autor eines erfolgreichen „Methodus tradendi prima elementa religionis sive catechizandi“ (1769) und einer mehrbändigen „Geschichte der Deutschen“ erwarb er sich überregionale Anerkennung.2 Die Schrift „Methodus […] catechezandi“ hatte er an Felbiger geschickt, der sie gemeinsam mit dem Prior des Stifts Sagan unter dem Titel „Der Katechist nach seinen Eigenschaften und Pflichten oder die rechte Weise 1 2
Karl Klaus WALTHER, Die Firma Göbhardt in Bamberg und Würzburg. In: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 62 (2004), S. 104. Gabriele POLSTER, Schule und Universität im Hochstift Würzburg. In: Ausstellungskatalog Franz Ludwig von Erthal. Fürstbischof von Bamberg und Würzburg 1779-1795, Bamberg 1995, S. 183.
Die Rezeption des Josephinismus in den Fürstbistümern Bamberg und Würzburg
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die ersten Gründe der Religion zu lehren“, ins Deutsche übersetzte. Auch dessen Übersetzung wurde 1772 in Bamberg bei Göbhardt gedruckt. Neben den österreichischen Einflüssen gab es durch entsprechende Veröffentlichungen aus den protestantischen Universitäten Wittenberg, Halle, Jena und Göttingen in Bamberg und Würzburg. Den Höhepunkt dieser Entwicklung des aufgeklärten Absolutismus nach Habsburger Vorbild brachte aber die Herrschaft Franz Ludwigs von Erthal in den beiden Bistümern. Franz Ludwig von Erthal entstammte einem alten und angesehenen Rittergeschlecht und wurde am 16. Februar 1730 im Schloss Lohr am Main geboren, in dem sein Vater, der bekannte Berater und „Kavaliersarchitekt“ des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn als Oberamtmann residierte. Franz Ludwig war sehr begabt, aber körperlich etwas schwach und kränklich. Er besuchte die Jesuitenschule in Mainz und wurde schon mit zwölf Jahren an der dortigen Universität 1742 immatrikuliert. Als Domicellar in Würzburg und Bamberg studierte er auch an diesen beiden Universitäten Jurisprudenz und Theologie, das Theologiestudium setzte er in Rom, den Erwerb praktischer Verwaltungskenntnisse in Wien fort. 1756 wurde er in das Bamberger, 1763 auch in das Würzburger Domkapitel aufgenommen. Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim, der Franz Ludwigs Fähigkeiten erkannte und ihm sein volles Vertrauen schenkte, ernannte ihn nicht nur zum Präsidenten der weltlichen Regierung im Hochstift Würzburg, sondern sandte ihn auch schon 1758 als seinen Vertreter nach Rom zu Papst Clemens XIII: Zur Berichterstattung über den Zustand der Diözesen und 1767 nach Wien, damit er dort, vom neu ernannten Kaiser Joseph II., dem Sohn Maria Theresias, die Regalien und Lehen für Würzburg und Bamberg in seinem Auftrag empfangen sollte. Die Begegnung Franz Ludwigs mit dem jungen, reformfreudigen und tatkräftigen Kaiser brachte die Wende im Leben Franz Ludwigs und war wohl auch die Voraussetzung für die Bischofswahl von 1779. Kaiser Joseph II. erkannte und schätzte die Fähigkeiten Franz Ludwigs ebenfalls, er ernannte ihn zum Wirklichen Geheimen Rat und zum Konkommissar bei der Visitation des Reichskammergerichts in Wetzlar, wo er bis 1775 wirkte. Anschließend beförderte Joseph II. ihn zum Konkommissar beim Reichstag in Regensburg wegen „jener fürtrefflichen Eigenschaften und ganz ausnehmend in denen wichtigsten Reichs-, Rechts- und Staatsgeschäften zu Tag gelegten stattlichen Erfahrenheit“, wie es im kaiserlichen Ernennungsbreve hieß.3 In dieser Funktion erhielt er auch das von Dalberg vermittelte Schreiben zur „Isenbiehlischen Sache“ von Prof. Oberthür, der sich sehr erfreut über die „liberale Denkungsart“ und die Zusage äußerte, dass Franz Ludwig sich in der Sache verwenden wolle.4 (Die These des Johann Lorenz Isenbiehl, Professor für Exegese in Mainz über die Weissagungen in Jesaias 7,14, die sich gegen 3
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Michael RENNER, Franz Ludwig von Erthal. Persönlichkeitsentwicklung und öffentliches Wirken bis zu seinem Regierungsantritt als Fürstbischof von Bamberg und Würzburg (1730-1779). In: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 24 (1962), S. 229. Franz MACHILEK, Das Leben und Wirken des Franz Ludwig von Erthal vor 1779. In: Ausstellungskatalog (wie Anm. 2), S. 16.
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die Lehre der Kirchenväter stellte, wurde von einer Reihe von „aufgeklärten“ Theologen, darunter Oberthür, unterstützt. Die meisten theologischen Fakultäten verurteilten dann aber die Thesen, am 2. September 1772 auch Papst Pius VI.). Nach dem Tod des Fürstbischofs Adam Friedrich von Seinsheim wurde Franz Ludwig am 18. März 1779 in Würzburg, am 12. April 1779 auch in Bamberg zum neuen Bischof gewählt. Sein Bruder Friedrich Karl Joseph, seit 1774 Erzbischof von Mainz und damit Kurfürst und Kanzler des Reiches, erteilte ihm am 19. September 1779 im Bamberger Dom die Bischofsweihe. Franz Ludwig war damit als geistlicher und weltlicher Herr der beiden fränkischen Bistümer und Herzog in Franken souveräner Herrscher von Gottes Gnaden im Rahmen der Reichsgesetze. Er sah sich aber in erster Linie als „Diener“ des Volkes. Bei der Einweihung seines neuen Krankenhauses 1789 erklärte er in einer Ansprache: „[…] daß von der ersten Stunde an, wo er zur Regierung gekommen wäre, er den Grundsatz genährt habe: Der Fürst sei für das Volk, und nicht das Volk für den Fürsten da. Sein ganzes Bestreben sei jedes mal dahin gegangen, sein Volk so glücklich als möglich zu machen.“5 Als Politiker hatte Erthal schon vor seiner Wahl zum Fürstbischof seine Treue zu Kaiser und Reich bewiesen und er hielt auch als Regent daran fest. Auch Joseph II. blieb er von 1767 bis zu dessen Tod 1790 eng verbunden. Das hinderte ihn aber nicht daran, dessen Klosterpolitik, seine überhasteten Entscheidungen und vor allem seine Expansionspläne, die den Frieden im Reich bedrohten, zu kritisieren. Als Joseph II. Gebietsabtretungen vom Bistum Passau erzwingen wollte, schrieb er an ihn: „Er könne zwar keine Heere gegen ihn marschieren lassen, wenn er aber von solchen Gewaltschritten nicht abstehen würde, dann werde er, Franz Ludwig, mit der Feder einen solchen Lärm machen, daß man es an den Enden der Welt hören solle.“6 In seinen Territorien straffte er die Verwaltung, behielt sich aber alle Entscheidungen selber vor, was nach seinem Grundsatz „Eile mit Weile“ aber oft zur Verzögerung von Entscheidungen führte. Auch die Rechtspflege suchte er zu verbessern und den Gang der Verfahren zu beschleunigen. 1792 gab er den Entwurf einer neuen Bambergischen peinlichen Gesetzgebung in Auftrag, der die „Peinliche Halsgerichtsordnung“ von 1507 ablösen sollte. Franz Ludwig war ja nicht nur weltlicher Herrscher in seinen Territorien, wie das die aufgeklärten Herrscher in Preußen und Österreich waren, er war gleichzeitig geistlicher Oberhirte seiner Diözesen. Er hat beide Teile dieser anspruchsvollen Doppelaufgabe von seinem Regierungsantritt an sehr ernst genommen und wurde schon von den Zeitgenossen für herausragende Leistungen in beiden Bereichen bewundert. Wie ernst er seine Aufgabe als Bischof sah, hat er selbst in seinen schriftlich formulierten Regierungsgrundsätzen gesagt: „Das Amt eines Bischofs ist: seine Herde mit Worten und Beispiel zu weiden. Ob derselbe, da er mit Worten weiden solle, 5 6
Bernhard SCHEMMEL, Das Allgemeine Krankenhaus Fürstbischof Franz Ludwig von Erthals in Bamberg von 1789. Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg, Bamberg 1989, S. 10. Karl ANDERLOHR, Franz Ludwig von Erthal. In: Franz Ludwig von Erthal (1730-1795), Lohr 1980, S. 36.
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selbst predigen, selbst katechisieren, selbst Beichte hören müsse, darauf will ich nicht eingehen […].“ Er kommt zu dem Ergebnis, dass dies für einen regierenden Fürstbischof zwar keine Pflicht sei, da er solche Aufgaben auch übertragen könne, er selber wolle aber nicht nur als Fürst selbst regieren, sondern als Bischof auch selbst seelsorgerisch wirken, weil die Religion in seiner Zeit nicht mehr, wie früher, geachtet werde, deshalb „erstunde auch der Wunsch in meinem Herzen, den Kirchensprengel meines Bambergischen Bisthums nach und nach in eigener Person zu durchreisen, meine Stimme zu denen, die meiner oberhirtlichen Seelsorg anvertrauet sind, selbst zu erheben, sie mit Unterrichten, mit Ermahnen, ja auch mit inständigsten Bitten auf den Weg des ewigen Heils zu leiten, so fort nach aller meiner Vermögenheit etwas beyzutragen, daß doch unsere wahre Heylige Religion in derenselben Herzen wiederum die ihr gebührende Hochschatzung und Verehrung erhielte, der Glaub an unsere Heyligen Religions Geheimnussen von neuem auflebe, die fast erloschene christliche Lieb wiederum erwecket, die Tugend geehret und ausgeübt, das Laster gehasset und vermieden werdte“. In der gleichen Predigt am 18. Mai 1783 in Gößweinstein erklärt er auch, dass er selbst den armen Landleuten predigen wolle, weil „der gemeine Mann sein Herz der Wahrheit leichter offnet, dieweilen er nicht so von dem falschen Reiz der Welt verführt ist, weil auch Jesus nicht den Großen, nicht den Vornehmen und Reichen, sondern meistens dem armen Landvolk sein Evangelium verkündiget hat“ und weil er „begreiflicher machen will, daß die Seele des armsten und verachtlichsten Menschen ebenso von einem unschatzbahren Werth seye, als jene des größten Monarchen“.7 Das war damals außergewöhnlich, fast eine Sensation, dass sich ein regierender Reichsfürst selbst als Seelsorger zum Landvolk begab. Die Untertanen eines geistlichen Staates erlebten ihren Bischof im 18. Jahrhundert sonst nur mit Gefolge und Gepränge, bei Huldigungsreisen, bei Jagden oder höchstens an hohen Feiertagen beim Hochamt im Dom. Franz Ludwig aber visitierte selbst die Pfarreien seiner Diözesen, hörte die Beichte, besuchte die Schulen, überprüfte Lehrer und Schüler und predigte dem einfachen Volk selbst mit schlichten und eindringlichen Worten. Als aufgeklärter absolutistischer Herrscher sah er sich, wie schon gesagt, als Lehrer und Diener seines Volkes. Er wollte durch Verbesserung der Ausbildung seinen Untertanen helfen, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Durch Schulkommissionen ließ er die Schulen visitieren, Lehrpläne reformieren und verbesserte Schulbücher einführen, vor allem bei den Trivialschulen, die in etwa unseren heutigen Grund- und Hauptschulen entsprechen. Er erließ auch Richtlinien für den Bau von Schulhäusern, legte einen Ausbildungsplan für künftige Lehrer fest und machte die Anstellung von Lehrern von er-
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Michael RENNER, Zu den Predigten Franz Ludwigs von Erthal. In: Historischer Verein Bamberg 102 (1966), S. 532f. In der Staatsbibliothek Bamberg finden sich unter der Signatur R.B. Msc. 199 noch 156 handgeschriebene Predigtentwürfe Franz Ludwigs auf 541 Papierblättern mit Ergänzungen und Korrekturen aus der Zeit der Visitationen zwischen Mai 1783 und Oktober 1785. Ein Teil der Predigten wurde nach seinem Tode in den Jahren 1797 und 1841 auch veröffentlicht.
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folgreich bestandenen Prüfungen abhängig. 1791 errichtete er zur Verbesserung der Lehrmethoden und als Fortbildungsstätte auch in Bamberg ein Lehrerseminar. Franz Ludwig war überzeugt, dass die Schule auf das Leben vorbereiten müsse und dass dies die bloße „Lernschule“ mit literarischem und theoretischem Unterricht nicht könne. Nach dem Vorbild des böhmischen Schulreformers Kindermann unterstützte er deshalb in beiden Hochstiften Bamberg und Würzburg die Einrichtung von „Industrieschulen“, in denen die Knaben in praktischen Fertigkeiten wie Feld- und Gartenbau und die Mädchen in Handarbeiten ausgebildet wurden.8 Dieser Unterricht fand mit meist an Nachmittagen in den Ferien statt. Auf dem Land führte er mit den Sommerschulen auch den ganzjährigen Unterricht ein. Auch die Mädchenbildung förderte er tatkräftig. So erhielt zum Beispiel das Englische Institut in Bamberg für seine Mädchenschulen und die Industrieschule einen neuen Seitenflügel als Anbau. Reformiert und neu organisiert wurden auch die beiden Gymnasien in Bamberg und Würzburg. Gegen starke Widerstände erzwang Franz Ludwig hier eine bessere Disziplin eine strengere Auslese und eine klare Abgrenzung zur Universität. In den neuen Lehrplänen wurden die „Realien“ stärker betont und die Fächer Physik und Französisch neu aufgenommen. Gegen Disziplinverstöße von Schülern und Studenten ging der Fürst mit aller Strenge vor, er verbot das Baden in öffentlichen Gewässern und den Wirtshausbesuch, erzwang die Einhaltung einer Kleiderordnung und ließ Listen der Schulschwänzer an die zuständigen Pfarrer und Bürgermeister schicken. Die Universitäten in Bamberg und Würzburg wurden ebenfalls nachhaltig gefördert. Durch die Berufung fähiger Professoren gewannen vor allem die juristische und die medizinische Fakultät hohes Ansehen im damaligen Reich. In Bamberg ließ er die Universitätsbibliothek einrichten (heute Bibliothek der theologischen Fakultät) und 1794 gründete er ein Naturalienkabinett (heute Naturkundemuseum). Von allen Fakultäten verlangte er Reformen, den Würzburger Professoren schlug er vor, die Kollegien in deutscher Sprache abzuhalten. Den Professor Berg beauftragte er eine Schrift abzufassen über das Thema: „Über die Folgen der Freiheit zu denken und zu handeln“. In der 1785 fertig gestellten Schrift finden sich Sätze wie: „Die Bücherzensur ist nicht befugt, dem Fortschritt der Vernunft und der freien Prüfung der Wahrheit Schranken zu setzen, die Philosophie kann selbst in Beziehung auf die Religion unter keinem anderen Gesetze stehen, als jenem, welches die Vernunft gibt. Jede Einmischung von Gewalt hebt das Wesen der Philosophie auf; wollte man aber sie, die man sich nicht unterwerfen kann, wirklich aufheben, so würde sich ihr Tod rächen; es wäre soviel, als der Vernunft Schweigen gebieten und allen Wissenschaften das Auge ausschlagen. Keine Universität kann ohne Philosophie, keine Philosophie ohne Freiheit bestehen.“9 Dass der Fürstbischof auch so dachte, zeigt seine Antwort, als ihm der Vorschlag gemacht wurde, den Theologen das Lesen protestantischer Schriften zu untersagen: „Die Scheidewand, welche ehedem zwischen Protestanten und Katholiken bestanden habe, und die noch zum Theil durch unerlaubte Mittel, nämlich durch 8 9
POLSTER (wie Anm. 2), S. 184. Friedrich LEITSCHUH, Franz Ludwig von Erthal, Fürstbischof von Bamberg und Würzburg, Herzog von Franken, Bamberg 1894, S. 69.
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wechselseitige Gehässigkeiten und unsittliches Schimpfen, aufrecht erhalten worden sei, sei ziemlichermaßen hinweggerückt worden; doch sei nicht in Abrede zu stellen, daß häufig in diesen Büchern einzelne Dogmate der katholischen Kirche angefochten und bestritten würden. Gleichwohl ließen sich selbst diese Bücher nicht ohne Nachtheil der Wissenschaft verbieten. Und dieselben aus dem Umlaufe bringen zu wollen, grenze beinahe an moralische Unmöglichkeit.“ In der gleichen Erwiderung zeigt er seinen aufgeklärten toleranten Sinn, aber auch seine religiöse, echt katholische Gesinnung die sich vorzüglich in den Verordnungen und Hirtenbriefen an die studierende Jugend auf den Universitäten kund gibt: „Ich werde“, sagte er, „wenn ich mich der Verketzerungssucht entgegen zu setzen gedenke, es ebenso wenig geschehen lassen, daß entschiedene Religionswahrheiten angefochten, verunstaltet, durch dreiste und schiefe Auslegungen untergraben und wegvernünftelt werden. Frei von aller parteiischen Abneigung gegen das Alte und ohne gleich zärtliche Vorliebe für das Neue, habe er sich bei all seinen Grundsätzen und Maßnahmen in allem dem, was außer den unveränderlichen Religionswahrheiten einem Wechsel und einer Veränderung unterliegen könne, schon längst die Mittelstraße erwählt. Er erkläre aber ferner, daß er stets ein Beförderer der wahren und zweckmäßigen Aufklärung sein und bleiben werde, von deren Wohltätigkeit, wenn darunter gründlicher Religionsunterricht und steter Betrieb der Sittlichkeit mitverstanden sei, er vollkommen überzeugt sei.“10 Dass Franz Ludwig immer bestrebt war, die Vernunft und den Glauben gleichzeitig zu ihrem Recht kommen zu lassen, zeigen auch die Formulierungen in einer Predigt, die er im April 1783 vor Würzburger Priesterseminaristen gehalten hat: „Freylich ist die Vernunft das edelste Geschenke, das uns Gott gegeben hat, durch die Vernunft seynd wir von den Thieren unterschieden, in Ansehung derselben seynd wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen […] Es ist dahero allerdings die Vernunft hoch zu schätzen und nachdeme selbige den Menschen gegeben ist, um selbst zu dencken, selbst zu prüfen und nach geprüften Grundsätzen sich zu benehmen, so wird wohl niemand die Freyheit zu dencken, und da das bloße Dencken ohne darnach zu würcken unnüz seyn würde, auch jene zu handlen, in so weit eine wie die andere Freyheit eine rechtmäßige Frucht der Vernunft ist, verwerfen wollen und mit zureichenden Gründen verwerfen können […] Der Mensch ist und darf freylich kein Sclav der Thorheiten, der Leidenschaften, der Irrthümer seyn, er ist aber ein Sclav des Glaubens und der Religion, ein Sclav der Wahrheit, ein Sclav seiner Pflichten. Seine Freyheit besteht in einem nüchternen Geist, der von keinem Schein geblendet, von keinem Vorurtheil, weder des Neuen noch des Alten geleitet ist, von keinen Leidenschaften verführt wird, der die kalte, prüfende Vernunft seine Führerin seyn lasset, der aber auch zugleich in Demuth seine Schwachheit erkennt und sich der Offenbarung unterwirft.“11 Kennzeichnend für Erthals Haltung zur Aufklärungsphilosophie ist es auch, dass er 1782 den Benediktiner Maternus Reuß als Professor für Logik und praktische Philosophie an die Universität Würzburg berief, der seinen Vorlesungen die Lehrbücher 10 11
Ebd., S. 71f. RENNER (wie Anm. 7), S. 542 und 549.
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des Göttinger Aufklärungsphilosophen Feder zugrunde legte und 1788 Vorlesungen über die kantianische Philosophie ankündigte. 1792 durfte Reuß mit einem Stipendium des Fürstbischofs sogar nach Königsberg reisen, um bei Kant selbst dessen Philosophie besser kennen zu lernen.12 Auch in der Förderung der Wirtschaft hatte Franz Ludwig in seinen Territorien Erfolge erzielen können. Es wurden Leinwandmanufakturen eingerichtet und Alaun-, Vitriol- und Schwefelhütten neu angelegt, im Steigerwald und im Odenwald entstanden Glasfabriken, in Forchheim eine Spiegelfabrik. Die Bergwerke im Land und die Kohlegrube bei Stockheim erlebten einen neuen Aufschwung.13 Ein Herzensanliegen war für Franz Ludwig die tatkräftige Hilfe für arme und kranke Menschen, und in diesem Bereich hat er als Reformer wirklich Epochemachendes geleistet. Er ließ Verzeichnisse der Armen anlegen und Vorschläge ausarbeiten, wie man ihnen zu Arbeit und Brot verhelfen könne. Mit der Gründung des „Geselleninstituts“, einer Art Krankenversicherung für Lehrlinge und Handwerksgesellen, und mit dem „Dienstboteninstitut“ gelangen ihm in seinen Territorien für die arbeitenden Menschen soziale Absicherungen, die im übrigen Deutschland erst hundert Jahre später mit der Sozialgesetzgebung Bismarcks erreicht wurden. Ähnlich fortschrittlich und zukunftsweisend waren seine Erlasse und Einrichtungen für das Gesundheitswesen. So erließ er eine Hebammenverordnung und errichtete ein Hebammeninstitut. Auch die Verbesserung des Medizinstudiums an beiden Universitäten und der Erlass einer Ärzteordnung förderten das Gesundheitswesen in seinen Ländern. Es gelang ihm auch, hervorragende Fachleute für die medizinischen Fakultäten zu gewinnen. In Würzburg war das das Professor Carl Caspar Siebold (1736-1807), mit dem Franz Ludwig die Medizinerausbildung reformierte und das Juliusspital, nach dem Vorbild des Allgemeinen Krankenhauses in Wien, das Kaiser Joseph II. 1784 hatte errichten lassen, zum modernen Ausbildungskrankenhaus ausbauen ließ. Nach den Reformen zog die medizinische Fakultät bald auch auswärtige Studenten an. Die Zahl der Würzburger Medizinstudenten stieg bis 1800 von 24 auf 264 an, „neben Wien, Göttingen und Erlangen galt sie als eine der besten Deutschlands“.14 Auch in Bamberg stieg die Zahl der Medizinstudenten und auch hier fand Franz Ludwig fähige Mediziner, wie das Professorenbrüderpaar Gotthard, beide jüdischer Herkunft, und vor allem Dr. Friedrich Markus, einen getauften Juden. Trotz böser Anfeindungen und vieler Schmähschriften, in denen Erthal als „Judenfreund und Christenfeind“ verunglimpft wurde, hielt er an diesen Fachleuten fest.15 Die herausragende Leistung in Bamberg war aber im Bereich des Gesundheitswesens der Bau des „Allgemeinen Krankenhauses“, den der Fürstbischof weitgehend aus eigenen Mitteln finanzierte und unterhielt und das in erster Linie für die Armen, für Handwerksgesellen und Dienstboten, für arme Kranke vom Land und für durchrei12 13 14 15
POLSTER (wie Anm. 2), S. 187. Rudolf ENDRES, Franken 1648-1803. In: Handbuch der Bayerischen Kirchengeschichte, Bd. II, St. Ottilien 1993, S. 413. POLSTER (wie Anm. 2), S. 186. Hans Jürgen WUNSCHEL, Das Verhältnis Franz Ludwig von Erthals zu Protestanten und Juden. In: Ausstellungskatalog (wie Anm. 2), S. 104.
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sende Fremde gedacht war. Dieses Krankenhaus war damals das modernste in Deutschland. Es entstand nach einem Entwurf des von Kaiser Joseph II. beauftragten österreichischen Arztes Fauken von 1774, der aber nicht in Wien, sondern in abgeänderter und verkleinerter Form in Bamberg verwirklicht wurde. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war dieser Bau dann Modell für viele andere Krankenhäuser in Deutschland.16 In Bamberg hat es bis 1984 seine Aufgaben als Krankenhaus erfüllt. Neu war an diesem Krankenhaus, dass nicht mehr, wie in den früheren Spitälern, auch Unheilbare, Sieche und Pfründner aufgenommen, sondern nur heilbare Kranke behandelt wurden. Neu waren aber auch die Einrichtung und die Versorgung, die der Leibarzt des Fürsten, Dr. Markus, übernommen hatte. Es gab in diesem Neubau keine großen Krankensäle mehr wie in den Spitälern, sondern kleine Räume mit höchstens zehn Betten, die mit den Kopfenden an den Zwischenwänden standen, so dass die Längsachse der Zimmer zwischen Fenster und Gangwand frei für die Betreuung der Kranken blieb. Zwischen den Krankenzimmern waren schmale Gänge mit Aborten eingerichtet, die durch eine Tür am Kopfende des Bettes für jeden Patienten und durch eine Flurtür vom Personal erreichbar waren. Großer Wert wurde auf frische Luft, auf Sauberkeit und auf hygienische Maßnahmen gelegt. Die Einweihung des Krankenhauses wurde mit einem großen Volksfest gefeiert. Die Antwort Franz Ludwigs auf die Dankesrede des Ratskonsulenten Schlehlein zeigt, dass dabei der Fürst selbst von der allgemeinen Begeisterung und Rührung übermannt wurde. Er schloss mit den Worten: „Meinen getreuen Bürgern sagen Sie aber, daß ich mit großem Vergnügen vernommen und heute selbst gesehen habe, daß sie einen so warmen Antheil an der Einrichtung dieses Hauses nehmen. Diese lebhafte Theilnahme verräth mir einen sehr wohlgefälligen Nationalcharakter; denn eigentlich geht sie doch selbst die Anstalt nicht unmittelbar an, wohl aber ist sie für den armen Theil der Einwohner bestimmt. Sagen Sie daher meinen lieben Bürgern (Thränen begleiteten diese Worte und verursachten einen Augenblick ein feierliches Stillschweigen) daß ich sie liebe und nie aufhören werde sie zu lieben.“17 Der Fürstbischof starb am 14. Februar 1795 nach schwerer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Den Großteil seines privaten Vermögens hatte er testamentarisch den Armeninstituten in Bamberg und in Würzburg vermacht. Begraben ist er im Würzburger Dom, sein Herz aber wurde auf seinen Wunsch in der Krypta des Bamberger Domes beigesetzt. Franz Ludwig von Erthal, vorletzter Fürstbischof in Bamberg und Würzburg, lebte in unruhiger und schwieriger Zeit, der Zeit der Schlesischen Kriege, der Polnischen Teilungen und der Französischen Revolution. Er versuchte am Ende des Alten Reiches in seinen Ländern erfolgreich die großen Spannungen der Zeit durch höchsten persönlichen Einsatz und durch eine Fülle von Reformen, meist nach dem Vorbild Kaiser Josephs II., zu überbrücken. In einer Zeit heftigster Angriffe „aufgeklärter
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Bernhard SCHEMMEL, Das Bamberger Allgemeine Krankenhaus von 1789. In: Ausstellungskatalog (wie Anm. 2), S. 155f. ANDERLOHR (wie Anm. 6), S. 36.
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Geister“ gegen Religion und Kirche gelang es ihm in seiner Person und in seinem Wirken, Wissen und Glauben in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Den Menschen in Bamberg und Würzburg ist er bis heute in Erinnerung geblieben. Ihm wurden Denkmäler errichtet, das älteste in Bamberg 1863 vom Bayernkönig Ludwig I., Straßen und Schulen wurden nach ihm benannt und mehrfach wurden ihm und seinem Werk auch Ausstellungen gewidmet. Seit über 200 Jahren erscheinen Aufsätze und Bücher über sein Wirken und seine Leistungen.
Peter Šoltés
EINGRIFFE DES JOSEPHINISMUS IN RELIGIÖSE FESTIVITÄTEN DER KATHOLISCHEN KIRCHE
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich in allen Provinzen der Habsburger Monarchie die ersten Impulse in Richtung gesellschaftlicher Modernisierung feststellen. Der aufgeklärte Staat erhob im eigenen Interesse den Anspruch, in solche Bereiche einzugreifen, welche bis dahin im Kompetenzbereich der Kirche(n) lagen. Nicht nur die Erziehung der Geistlichkeit, kirchliche Disziplin, sowie die materielle Sicherstellung der Kirchengemeinden, sondern auch religiöse Praxis, Gottesdienst und Volksfrömmigkeit wurden zu Objekten der normativen Tätigkeit des Staates.1 Joseph II. widmete der Beseitigung unerwünschter Elemente aus dem Kultus der katholischen Kirche enorme Anstrengungen. Zu entfernen waren alle religiösen Praktiken, die seiner Vorstellung von „wahrer Andacht“ nicht entsprachen. Für die Menschen der Vormoderne waren die meisten feierlichen Momente des Lebens an die Ausübung ihrer konfessionell bedingten Religiosität gebunden. Die religiösen Feste kann man als ritualisierte Feierlichkeiten charakterisieren, die sich durch bestimmte gemeinsame Merkmale auszeichnen, welche diese Tage aus der Alltäglichkeit hervorheben. Sie sind an bestimmte außerordentliche Situationen geknüpft (Kirchweihe, Bittgänge gegen die Pest, um Regen), oder kehren periodisch zu bestimmten Tagen oder Zeiträumen wieder (Kirchweihe, Wallfahrten zu den Gnadenbildern, Kreuzwegfeste, usw.). Zu ihren gemeinsamen Merkmalen gehörte die allgemeine Zugänglichkeit für jedes Mitglied der Gemeinde, das individuelle Erlebnis der beteiligten Personen, die Ablenkung aus der alltäglichen Routine und nicht zuletzt auch üblicherweise nicht zugänglicher Luxus.2 Die reiche Gestaltung, Musikbegleitung, visuelle Effekte und nicht minder die Tische voller Essen und Getränke machten aus den meisten religiösen Festen beliebte und ersehnte Ereignisse im Leben Einzelner, von Familien und Gemeinden. Eine klare und genaue Trennlinie zwischen den weltlichen und kirchlichen Festen ist im 18. und auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr schwer zu ziehen. Ihrem Ursprung und Charakter nach religiöse Feste wie Weihnachten oder Ostern, ebenso wie die Wallfahrten zu den Gnadenbil-
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Fritz VALJAVEC, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, München 1945, S. 66. Milena LENDEROVÁ / Tomáš JIRÁNEK / Marie MACKOVÁ, Z dějin české každodennosti. Život v 19. století [Aus der Geschichte des tschechischen Alltagslebens im 19. Jahrhundert]. Praha 2011, S. 277f.
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dern der Jungfrau Maria wurden immer auch durch verschiedene Formen weltlicher Unterhaltung und Belustigung begleitet. Der Josephinismus als eine spezifisch österreichische Form der Aufklärung, dessen Voraussetzungen bereits in der Regierungszeit von Maria Theresia gelegt worden waren, bemühte sich im Bereich der religiösen Praxis darum, seine Vorstellungen über die wahre christliche Frömmigkeit durchzusetzen.3 Bei den religiösen Festen im privaten Raum, wie Taufe, Hochzeit, Bestattung usw. war dem aufgeklärten Staat daran gelegen, den materiellen Aufwand dieser Feierlichkeiten, wie die Anzahl der Gevattersleute oder die Länge der Hochzeitsschmäuse zu beschränken. Deren gottesdienstliche Form war nämlich im römischen Ritual sehr genau festgelegt.
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Feiertage im Kirchenjahr
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkten sich an den aufgeklärten europäischen Höfen die Tendenzen zur Reduktion der kirchlichen Feiertage. Auch Maria Theresia entschloss sich unter dem Einfluss kameralistischer und merkantilistischer Argumente, die Zahl der Kirchenfeiertage zu verringern. Im Jahre 1753 ersuchte sie Papst Benedikt XIV., ihre Untertanen vom Verbot schwerer Arbeit an bestimmten Feiertagen zu befreien. Der Heilige Stuhl reagierte auf das Ansuchen der Kaiserin positiv und teilte die kirchlichen Feiertage in zwei Kategorien auf. In die Erste wurden alle Sonntage und neunzehn Feiertage aufgenommen, an welchen die Gläubigen an Gottesdiensten obligatorisch teilnehmen mussten und keine anstrengende Arbeit leisten, keinen Handel treiben und keine Reise antreten durften. In der zweiten Kategorie befanden sich die restlichen Kirchenfeiertage, bei welchen zwar die Pflicht des Kirchgangs geblieben war, Arbeit aber erlaubt wurde.4 Diese Lösung erwies sich aber bereits nach kurzer Zeit als unzweckmäßig. Ein Teil der Gläubigen fasste die zweite Gruppe der Kirchenfeste als übliche Arbeitstage also ohne Kirchenbesuch auf, der andere hielt vormittags das vorgeschriebene Fasten ein und nahm an Gottesdiensten teil, begann am Nachmittag aber keine Arbeit mehr. Besonders die Gläubigen aus den Filialgemeinden, die vom Gottesdienstort eine mehrstündige Reise entfernt waren, gingen nach der Rückkehr von der Mutterkirche nicht mehr an ihre Geschäfte.5 3
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Elisabeth KOVÁCS, Katholische Aufklärung und Josephinismus. Neue Forschungen und Fragestellungen. In: Harm KLUETING (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 246-259. – Karl von ARETIN, Der Josephinismus und das Problem des katholischen aufgeklärten Absolutismus. In: Richard PLASCHKA u.a. (Hg.), Österreich im Europa der Aufklärung. Bd. 1, Wien 1985, S. 509. Zur theoretischen Begriffsbestimmung des Josephinismus siehe: Rudolf PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche. Religion im Theresianisch-josephinischen Zeitalter. Begriffliche Vorbemerkungen. In: Helmut REINALTER (Hg.), Josephinismus als aufgeklärter Absolutismus, Wien, Köln, Weimar 2008, S. 17-52. Peter Karl JAKSCH (Hg.), Gesetzlexikon im Geistlichen, Religions- und Toleranzfache, wie auch in Güter-, Stiftungs-, Studien- und Zensursachen für das Königreich Böhmen von 1601 bis Ende 1825, Bd. I-X. Prag 1828-1830, hier Bd. 2 von E-H, Prag 1828, S. 288f. Ebd., S. 291f.
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Die Kaiserin wandte sich daher im Jahre 1771 an Papst Clemens XIV. mit der Forderung, für die zweite Gruppe der Kirchenfeste die Pflicht, das Fasten zu halten und an der Messe teilzunehmen, aufzuheben. Der Papst gab ihrem Antrag statt und hob die Verbindlichkeit der Teilnahme an der Messe für die Feste der zweiten Kategorie auf. Gleichzeitig verminderte er die Zahl der Feiertage der ersten Kategorie von 19 auf 16.6 In den Hofdekreten vom 17. Oktober und 10. Dezember des Jahrs 1771 sank also die Zahl der kirchlichen Feiertage (außer den Sonntagen) von ursprünglich mehr als 30 (in Abhängigkeit von der jeweiligen Diözese) auf 16. Im neuen Kirchenkalender für die Länder der Habsburger Monarchie blieben fünf christologische (Geburt, Beschneidung, Erscheinung oder Fest der heiligen drei Könige, Himmelfahrt Christi und Fronleichnam) und fünf mariologische (Lichtmess, Verkündigung, Himmelfahrt, Geburt und unbefleckte Empfängnis) Feiertage, des Weiteren die Feste der Apostel Peter und Paul, Allerheiligen, das Fest des Erstmärtyrers Stephan und das Landpatronfest (in Provinzen mit zwei Landespatronen jeweils zwei Feste), sowie Ostermontag und Pfingstmontag.7 Papst Clemens XIV. forderte zudem, am Fest der Apostel Peter und Paul die Erinnerung an andere Apostel zu feiern, zugleich forderte er bei der Feier des Erstmärtyrers Stephan die Erinnerung an alle anderen Märtyrer.8 Die breite Palette der kirchlichen Feiertage ergänzte noch eine andere Kategorie, die sogenannten kirchlichen Normatage. Während dieser Tage sollten sich die Gläubigen nicht nur von schwerer Arbeit, der Abwicklung von Geschäften sowie von Gerichtsverhandlungen fernhalten, auch alle öffentlichen Lustbarkeiten, Bälle, Tanzfeste und Theatervorstellungen waren streng untersagt.9 Nur in Ausnahmefällen wurden Musikaufführungen für wohltätige Zwecke bewilligt. Zu den kirchlichen Normatagen gehörten der 22., 23., 24. und 25. Dezember, Aschermittwoch, Palmsonntag, die ganze Osterwoche, Fronleichnam, Verkündigung und Geburt der Jungfrau Maria.10 Um den neuen Kirchenkalender in alltäglicher Praxis möglichst schnell zu etablieren, wurden in demselben Jahr zwei Hofdekrete erlassen, in welchen der Übersichtlichkeit wegen angeordnet wurde, die aufgehobenen Feiertage in den Kalendern nicht 6 7
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Michal LACKO, The Reduction of the Number of feast Days for the Catholics of the Byzantine Rite in Hungary in the XVIII. Century. In: Slovak Studies IV/2 (1964), S. 197-215, hier S. 198. Joseph HELFERT, Darstellung der Rechte welche in Ansehung der heiligen Handlungen dann der heiligen und religiösen Sachen sowohl nach kirchlichen, als nach Oesterreich-bürgerlichen Gesetzen Statt finden. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage, Prag 1843, S. 171, S. 222-226. – Theodor PACHMANN, Lehrbuch des Kirchenrechtes mit Berücksichtigung der auf die kirchlichen Verhältnisse Bezug nehmenden österreichischen Gesetze und Verordnungen. 2. Bd.: Kirchenverwaltung im Spirituellen, Wien 1865, S. 492-495. Ebd., S. 497. Zwei Hofdekrete haben später angeordnet, in allen auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie gedruckten Kalendern bei den Feiertagen des Hl. Peter und Paul und des Hl. Stephan anzuführen, dass an diesen Festtagen auch die Erinnerung an sonstige Apostel bzw. alle Märtyrer der Kirche gefeiert wird. Hofdekrete vom 6. Oktober 1771 und 21. November 1771. JAKSCH, Gesetzlexikon, S. 292. Maximilian OBENTRAUT, Alphabethisches Handbuch der öffentlichen Verwaltung in Bezug auf die praktische Polizei und Landeskultur. Dritter Band. Neue unveränderte Ausgabe, Prag 1843, S. 330f. Ebd., S. 331.
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mehr mit roter, sondern immer nur mit schwarzer Farbe zu drucken, auch wenn sie auf einen Sonntag fielen.11 Fremde Kalender zu verkaufen war erst nach Herausnahme des eigentlichen Kalenders mit Monatstagen und hervorgehobenen Feiertagen und nach Beurteilung des übrigen Inhalts durch die Zensur erlaubt.12 Die Eingriffe des Staates in den empfindlichen Bereich der kirchlichen Feiertage stießen in vielen sozialen Schichten auf Ablehnung und Widerstand. Die Motivation zu negativer Stellungnahme erwuchs nicht nur aus dem Bereich der religiösen Praxis, die tief greifend verändert wurde. In konfessionell gemischten Lokalgemeinschaften bildeten die Feiertage bei den Katholiken einen wichtigen Bestandteil der konfessionellen Identität. Aufgehobene Feiertage waren in manchen Ortschaften auch Tage des Kirchweihfestes und Gedenktage des Kirchenpatrons. Nicht zuletzt wurden aus verstrichenen Feiertagen „normale“ Arbeitstage. Trotz enormer Anstrengungen war der aufgeklärte Staat nicht imstande, die konsequente Einhaltung des neuen liturgischen Kalenders durchzusetzen. Die Reaktion bestand in der Intensivierung normativer Maßnahmen in allen österreichischen Provinzen.13 Zum Beispiel wurde im Hofentschluss vom 8. Juni 1780 „In Betreff der noch stets gefeiert werdenden aufgehobenen Feiertage“ angeordnet, „solche Tage nur in Choro, d. i. in dem Brevier, Psalter und Messopfer von der Geistlichkeit ohne alle Feierlichkeit sollen begangen werden“.14 Im Falle der Verletzung dieser Verordnung (öffentliche Verkündung, Läuten der Glocken am Vorabend, feierlicher Gottesdienst mit Predigt, Lesung des Evangelium oder mit anderen „öffentlichen Zeichen der Feierung“) sollte jeder solche Fall mit 10 rheinischen Gulden zugunsten des Religionsfonds bestraft werden.15 Während der josephinischen Dekade erließ die Hofkanzlei etliche Verordnungen und Hofdekrete mit dem Ziel, für „alle Klassen von Staatsbürgern und alle Gattungen von Arbeitern“ die Feier der aufgehobenen Festtage abzuschaffen. Neben den Hofbeschlüssen für das ganze Reich wurden auch Verordnungen für einzelne Provinzen verkündet.16 In die erstgenannte Gruppe gehörten die Aufträge an Ordinariate mit Anweisungen und Instruktionen für deren Geistlichkeit. Die Priester sollten von der Kanzel und beim christlichen Unterricht ihre Gläubigen überzeugen, dass „es weit verdienstlicher bei Gott seye, in einem von der Kirche selbst aufgehobenen Festtage mit allem Eifer zu arbeiten, als sich dem Müßiggange unter dem Vorwande der Feyerung zu ergeben“. Falls sie mit ihrer Kirchengemeinde weiterhin auf der Feier 11 12 13 14
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Hofdekrete vom 19. Juli 1771 und 6. September 1771. JAKSCH, Gesetzlexikon, S. 284. – DERS., Gesetzlexikon, 1. Bd., S. 177. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 249. Ebd., S. 229f. Franz RIEDER, Handbuch der k. k. Gesetze und Verordnungen über geistliche Angelegenheiten. Erster Band in 2 Theilen. Gesetze und Verordnungen vom Jahre 1740 bis 1846, Wien 1848, S. 192. Ebd. Siehe auch JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 2, S. 295f. Die Verordnungen und Hofdekrete siehe bei HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 227-231, Kapitel Verbindlichkeit zu den gewöhnlichen Berufsgeschäften an den aufgehobenen Feiertagen.
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der alten Festtage beharren würden, drohte ihnen von Seiten ihrer Bischöfe der Verlust ihrer Temporalien. Die Pfarrer waren laut dem zitierten Hofdekret vom 1. Januar 1782 aufgefordert, „daß sie an solchen Tagen unter ihrem Brote stehende Gesinde zur Arbeit mit guter Art anhalten sollen“.17 Die gleiche Forderung an das Episkopat enthielten zwei weitere Hofdekrete und eine Zivilverordnung aus den Jahren 1786 und 1787.18 Auf dem Lande war die Einhaltung dieser Verordnungen viel schwieriger zu kontrollieren als in den Städten. Die Dominien und Kreisämter, in Ungarn die Komitate, waren beauftragt, darüber Aufsicht zu führen.19 Die Stellungnahmen der Seelsorger und der lokalen Obrigkeit (Landesherren, Komitate, Kreisämter) war für die Durchsetzungen neuer Normen ausschlaggebend. Die Kontrollfunktion der Obrigkeit war auch gesetzlich verankert. Laut Hofdekret vom 27. Juli 1786 war sie verpflichtet, an abgeschafften Feiertagen einen Gottesdienst haltenden Priester anzuzeigen. Eine Geldstrafe von 50 Gulden sollte sie dazu motivieren. Eine Hälfte davon erhielt der Anzeiger, die zweite war zum Nutzen der Gemeinde zu verwenden. Die Priester sollten bei einer ersten Bezeugung nur mit einem „scharfen Verweise“ davon kommen, beim zweiten Male drohte ihnen der Verlust ihrer Benefizien.20 Eine andere Gruppe normativer Maßnahmen ziele auf einzelne Gruppierungen der Gesellschaft. Handwerkern, die ihre Werkstätte an aufgehobenen Feiertage nicht öffneten, drohte ein Arrest von 24 Stunden, den Gesellen ein zweitägiger Gefängnisaufenthalt, in Sonderfällen sogar mehr. Die Zunftvorsteher und Inhaber von Manufakturen und Fabriken waren laut Hofdekret vom 13. Juli 1786 verpflichtet, die Verletzungsfälle bei einer Strafe von zwei Gulden in Wien, in Böhmen sogar von fünf Gulden anzuzeigen.21 Die Handwerker und Käufer in den Städten, die Landesherren, Beamten und die reichen Bauer auf dem Lande – das waren die Schichten, welche die Etablierung des neuen Kirchenkalenders befördern sollten. Öffentliche Feierlichkeiten, welche traditionsgemäß zu den aufgehobenen Feiertagen gehört haben, waren ebenfalls untersagt. Die Verordnungen in einzelnen Provinzen straften Verletzungen sehr streng. Zum Beispiel war in Mähren ein Wirt mit fünf Gulden Buße, die beauftragten Wirtschaftsbeamten mit 20 Gulden und die Obrigkeit sogar mit 100 Gulden zu bestrafen.22 Noch nach einer Generation waren aber die „alten“ Feiertage aus der liturgischen Praxis nicht ganz verschwunden. Im Jahre 1805 erließ das Ordinariat in Linz eine Verordnung, in welcher den Pfarrern untersagt wurde, bei der Verkündigung der
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JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 2, S. 296. Ebd., S. 297f. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 228. Joseph KROPATSCHEK, Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die k. k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer Sistematischen Verbindung. Bd. 10, Wien 1786, S. 867. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 228f. Ebd., S. 231.
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Messen für die kommende Woche das Fest eines aufgehobenen Feiertages zu benennen und die Gläubigen von der Kanzel aus zum Gottesdienst einzuladen.23 Neben dem primären Effekt, der Erhöhung der Wirtschaftsproduktivität, hatte die Reduktion der Kirchenfeiertage, besonders in den konfessionell gemischten Gebieten, auch eine andere Auswirkung. Durch die Auslassung der meisten Gedenktage zur Erinnerung der Heiligen verminderten sich die Unterschiede zwischen dem katholischen und dem protestantischen Kirchenkalender. Sieben katholische Feiertage wurden jedoch bei den Protestanten nicht gefeiert: Fronleichnam, das Fest des hl. Peter und Paul, die Feste der Geburt, der unbefleckten Empfängnis und der Himmelfahrt der Jungfrau Maria und der Feiertag des Landpatrons.24
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Gottesdienstliche Reformen Josephs II.
In seinen Reformplänen widmete Joseph II. dem Gottesdienst besondere Aufmerksamkeit.25 Oft beteiligte er sich persönlich an der Vorbereitung von Vorschriften, Regelungen und Verboten, welche die religiöse Praxis betrafen. Die Ideen und Inspirationen für seine Pläne fand er innerhalb der katholischen Kirche, in den Werken der katholischen Aufklärer, vor allem in Lodovico Antonio Muratoris „Die wahre Andacht des Christen“.26 Ganz deutlich ist auch erkennbar, wie ihn die Liturgie der protestantischen Konfessionen inspirierte. Ihre einfachen, auf das Wort Gottes konzentrierten Gottesdienste, bekräftigt durch den anziehenden Kirchengesang in der Volkssprache, wurde im zeitgenössischen aufgeklärten Diskurs als sinnvollere, effektivere und nicht zuletzt auch billigere Form der Andacht wahrgenommen.27 Joseph II. und ein Teil des katholisches Klerus marginalisierte die Barockspiritualität und die meisten Prinzipien und Werte, auf welchen sie basierte: Verinnerlichung des Glaubens, Ausrichtung des Erdenlebens in erster Linie auf das Seelenheil, Akzentsetzung auf Emotionalität. Besonders kritisch war der Kaiser gegenüber verschiedenen Formen der Quantifizierung der Frömmigkeit, wie beispielsweise der Zählung von gelesenen Messen, besuchten Pilgerorten, abgelegten Beichten usw.28 Dazu gehörten auch alle ostentativen Ausdrucksformen von Frömmigkeit. Er sehnte sich nach einem
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Ebd., S. 227. Johann Ludwig BARTH-BARTHENHEIM, Oesterreisch’s geistliche Angelegenheiten in ihren politisch-administrativen Beziehungen, Wien 1841, S. 797. Hans HOLLERWEGER, Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich, Regensburg 1976, S. 305. ARETIN, Der Josephinismus, S. 513. Hans HOLLERWEGER, Tendenzen der liturgischen Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. In: Elisabetha KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, S. 295309. Eduard WINTER, Josefinismus a jeho dějiny. Příspěvky k duchovním dějinám Čech a Moravy 1740-1848 [Josephinismus und seine Geschichte. Beiträge zur geistigen Geschichte Böhmens und Mährens]. Praha 1945, S. 182f.
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durch den Verstand begründeten Maßhalten.29 Einer der engsten Berater Josephs II., Johann Michael Bönike (1734-1811), fasste die Rolle der Religion und damit auch direkt die Ziele der gottesdienstlichen Reformen wie folgt zusammen: „Die Religion muß dem Staate zur Stütze dienen, muß den Bürger über seine Pflichten aufklären, muß ihm Liebe zu seinem Berufe, zur häuslichen Ordnung, Emsigkeit, Genauigkeit und Treue in seinen Bewerben beibringen, muß Glückseligkeitslehre für die Gesellschaft und für jedes einzelne Glied seyn, muß also lehren, wie man von jedem erlaubten Mittel seines Lebens beständig frohe zu seyn bestmöglichen Gebrauch machen und sich noch überhin heitere Aussichten in die Zukunft vorbereiten solle.“30 Wichtigster Teil des Gottesdienstes war die Belehrung. Die Kirchengemeinde sollte aus dem Gotteshause „aufgeklärter und gebesserter auseinander [zu] gehen als sie zusammengekommen ist“.31 Die kontemplativen und emotionellen Aspekte der Gottesdienste wurden im besseren Falle als zweitrangig und unbedeutend marginalisiert, im schlechteren Falle waren sie als überflüssig oder sogar schädlich zu beseitigen. Das Hauptkriterium bei der Bewertung von verschiedenen institutionalisierten Frömmigkeitsformen sollten der Verstand und die Nützlichkeit für den Gläubigen sowie für die Gesellschaft sein. Die Vorstellungen des aufgeklärten Katholizismus wurden in etlichen Broschüren, Büchern und Pamphleten verbreitet. Sie entstanden mit Unterstützung oder sogar auf Bestellung des Wiener Hofes und dank der Lockerung der Zensur. In verständlicher und soweit als möglich auch anziehender Aufmachung wiesen sie auf die Fehlerhaftigkeit und Schädlichkeit einiger Frömmigkeitsformen hin. Im österreichischen Diskurs gehörten zu den prominentesten Vertreter dieser Genres Joseph Richters (17491813) „Bildergalerie katholischer Missbräuche“, „Bildergalerie klösterlicher Missbräuche“, beide 1784 und Joseph Valentin Eybels (1741-1805) „Was ist der Pfarrer?“, „Was ist der Bischof?“ oder „Was ist der Papst?“, alle 1782. In ihren Werken plädierten diese Autoren für die josephinischen Kirchenreformen. Zu den nicht gewünschten Frömmigkeitsformen, die Gegenstand ihrer harten Kritik und Ironisierung waren, gehörten Wallfahrten, prunkvolle Prozessionen, überschwängliche Gastmähler sowie zu strenge Fastenzeiten, mit dem Heiligenkult verbundene falsche Vorstellungen, dem Aberglauben verdächtige religiöse Gebräuche wie die Segnung von Wohnungen, der Erntegabe, usw.32 Eybel schrieb in seinem Werk „Was ist der Pfarrer?“ über die Rolle der Seelsorger bei der Verbreitung des reinen Gottesdienstes: „Sie gestatten daher nicht nur solche Andachten nicht, die an sich selbst ungereimt, und übel eingerichtet 29
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Jiří MIKULEC, Katolická zbožnost mezi barokem a osvícenstvím [Katholische Frömmigkeit zwischen Barock und Aufklärung]. In: Martina ONDO-GREČENKOVÁ / Jiří MIKULEC (Hg.), Církev a zrod moderní racionality. Víra – pověra – vzdelanost – věda v ranném novověku, Praha 2008, S. 135-167, hier S. 155-157. – DERS., Podoby zbožnosti v osvícenské době [Frömmigkeitsformen in der Zeit der Aufklärung]. In: Historie – Otázky – Problémy. Od barokní piety k interiorizaci víry? Problémy katolíckeho osvícenství 1/2 (2009), S. 191. Zitiert aus: HOLLERWEGER, Reform des Gottesdienstes, S. 300. Hans HOLLERWEGER, Die Gottesdienstlichen Reformen Josephs II. und ihre Auswirkungen auf die Frömmigkeit des Volkes. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 94 (1983), S. 62. OBERMAYR [Joseph RICHTER], Bildergalerie katholischer Missbräuche, Frankfurt, Leipzig 1784, S. 25-31, 110-129, 201-219.
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sind, und zum Aberglauben zielen, sondern auch diejenigen nicht, welche zwar löblich, doch durch Unwissenheit oder Bosheit der Menschen verwerflich werden können. Sie leiden in ihren Kirchen keine abergläubische, ungereimte, oder zweydeutige Bilder, und Vorstellungen, die auf Gaukeley hinausgehen. Sie gewöhnen ihr Volk an das gemeinschaftliche Gebet nach ächten Andachtsbüchern, nach gut verfaßten zur Liebe und zum Lobe Gottes entzückenden Liedern.“33 Die Pfarrer waren in den Reformplänen des Kaisers die Schlüsselakteure, welche die Reflexion und Rezeption der staatlichen Eingriffe des kirchlichen Lebens bei ihren Gläubigen grundsätzlich mitprägten. Eine Vorstellung davon, was der josephinische Staat von den Priestern erwartete, kann man aus dem Hofdekret vom 24. Dezember 1785 ersehen: „Von Ihnen erwartet der Staat, daß sie sich sowohl von Seite ihrer Grundsätze und ihres aufgeklärten Verstandes, ihrer Pastoralklugheit und eines würdigen sittlichen Bertragens als auch von Seite ihrer Thätigkeit in der Ausübung ihrer Berufspflichten, ihres Eifers für die Verbreitung einer zweckmässigen Aufklärung, und für die Aufnahme der öffentlichen sowohl kirchlichen, als politischen Anstalten, als da sind die Schulen- und Armenversorgungsanstalten, und endlich von Seite ihrer Verwendung für die Handhabung der landesfürstlichen Gesetze, für die Abschaffung schädlicher Mißbräuche, und die Beförderung eines reinen und vernünftigen Gottesdienstes in der Diöcese gleichsam allgemein bekannt machen.“34 Im slowakischen katholischen Diskurs setzten sich am intensivsten Juraj Fándly (1750-1811) und Jozef Ignác Bajza (1755-1836) für die josephinische Kirchenpolitik ein. Fándlys „Vertraulicher Vertrag zwischen dem Mönch und Teufel“ („Dúwerná zmluwa medzi mňichom a ďáblom“, 1789), seine Apologie der Klosteraufhebung und Abschaffung von „nebensächlichen unwahren Mönchsandachten“ lasen viele Priesterkandidaten am Generalseminar in Pressburg, für welches das Werk bestimmt war.35 Für die josephinischen Pläne der Gottesdienstreform und besonders für das Recht des Staates, die nach seiner Auffassung schädlichen und bedrohlichen Bräuche bei Gottesdiensten zu entfernen plädierte auch Bajzas fünfbändiges Lehrbuch der katholischen Religion.36 Die josephinischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Liturgie, der religiösen Andachten, der Ausstattung von Kirchen usw. zielten auf die Beseitigung übermäßiger Verschwendung und Ausschmückung. Der Gottesdienst sollte einfach sein, reduziert 33 34 35
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Joseph Valentin EYBEL, Was ist der Pfarrer?, Wien 1782, S. 47f. Anton Wilhelm GUSTERMANN, Oesterreichisches Kirchenrecht in den teutschen, ungarischen, und galizischen Erbstaaten. Erster Band, Wien 1812, S. 84, 87. Juraj FÁNDLY, Dúwerná Zmluwa mezi Mníchom a Diáblom o prwnich Počátkoch, o starodáwních, ag o wčulágších Premenách Reholňíckích [Vertraulicher Vertrag zwischen einem Mönch und dem Teufel über die Anfänge, altertümliche sowie gegenwärtige klösterliche Änderungen]. W Presporku 1789. Josep. Ignat. BAJZA, Kresťanského katolíckeho Náboženstwa, které lidu swému wikládal, a pre wsseobecný prospech widal. IIIho Ďíl Vý. O swátostách, wšech wereggních Cirkewních Poswátoobičagoch (Ceremóniách.) [Der christlichen katholischen Religion, welche seinem Volke erläutert, und für allgemeinen Nutzen herausgegeben hat]. W Trnawe 1796, S. 583-595. Siehe besonders das Kapitel „Über die Zeremonien allgemein, was sie sind, ob [sie] ungebunden, heilbringend und notwendig sind und wer sie einstellen darf“.
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auf das Wesentliche und im ganzen Reich einheitlich, damit die Einhaltung von Normen leichter kontrolliert werden konnte. Auf lokale Sitten und Traditionen in den einzelnen Pfarreien und Diözesen, auf soziale, kulturelle und Mentalitätsunterschiede wurde keine Rücksicht genommen. Die Verbote, Verordnungen und Vorschriften blieben nicht auf einer allgemeinen Ebene, detailliert wurde die genaue Zahl der Messen und Andachten mit Festlegungen, wie sie gefeiert werden durften, reguliert. In jeder Sakristei war in Form einer Tabelle die Gottesdienstordnung aufzuhängen, in welcher die genehmigten und verbotenen Gottesdienste angeführt wurden. Auf die Liste verbotener Messen geriet auch eines der größten katholischen Feste, das Auferstehungsfest am Karsamstag sowie die sehr beliebte Andacht am letzten Tag des Jahres. Die gottesdienstlichen Reformen wurden zuerst in der Wiener Erzdiözese im Jahre 1782 eingeführt, in den nächsten Jahren in den übrigen Bistümern der österreichischen und tschechischen Erbländer. Im Königreich Ungarn wurde die neue Gottesdienstordnung erst später, im Jahre 1787, verwirklicht.37 1785 wurde durch die „Gottesdienstordnung für die Kirchen auf dem offenen Lande“ detailliert festgesetzt, welche liturgischen und gottesdienstlichen Handlungen die Seelsorger an Sonntagen, an kirchlichen Feiertagen und an üblichen Arbeitstagen halten durften. Die Pfarreien wurden nach dem Charakter des Ortes und der Zahl der Geistlichen aufgeteilt. Die erste Gruppe bildeten die Stadtpfarren mit wenigstens drei Priestern, in die zweite Kategorie gehörten die Marktpfarren mit mindestens zwei Seelsorgern, in die dritte die Dorfpfarren mit zwei Priester und die vierte waren die Landpfarren mit einem einzigen Priester.38 Eine Reihe beliebter Frömmigkeitsformen fehlte unter den bewilligten Gottesdiensten: Krippenandachten, Gottesgrab-Andachten, gemeinsame Rosenkranzgebete, Novenen. Mit Ausnahme der Stadtpfarreien verbot man sogar die Vesper und andere gemeinsame abendliche Andachten. Dabei wurde nach Bedarf mit einer ausreichenden Erholung nach ganztägiger Arbeit argumentiert, nicht weniger aber auch mit moralischen Gefährdungen, welche besonders unter jungen Leuten bei der Rückkehr aus den Gottesdiensten nach Sonnenuntergang vorkommen könnten. Außer Betracht blieben ebenso wenig verschiedene Segnungen und Weihungen, die das alltägliche Leben der Gläubigen begleiteten. Untersagt war das feierliche Weihen von Kräutern, des Osterlammes, der Ostereier, der Erstlinge der Früchte, von Bäumen, Fruchtfeldern und Weinbergen, aber auch von Schwangeren, Kranken, Kindern oder Reisenden. Beibehalten sollten nur die im römischen Ritual angeführten Segnungen werden. Lokale Gewohnheiten und historisch bedingte Eigenarten sollten für die Einrichtung eines im ganzen Reiche einheitlichen Gottesdienstes das Feld räumen.39 Unter den verbotenen Segnungen befand sich auch die Weihe des heiligen Dreikönigwassers. Gestattet wurde sie nur bei den „Nationen Slavischen Ursprungs“ mit der Begründung, „weil sie bei ihnen durch den heiligen Cyrill und Methud, die 37 38 39
HOLLERWEGER, Reform des Gottesdienstes, S. 152-168. Hofentschluss vom 21. Mai 1787. BARTH-BARTHENHEIM, Oesterreich’s geistliche Angelegenheiten, S. 526-532. Hofdekret vom 5. März 1784. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 4, S. 199.
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Apostel der Slaven, eingeführt worden ist. In den deutschen, nicht von den Slaven bewohnten, Provinzen soll an dem Feste der heiligen drei Könige und an dem Vorabende desselben weder eine gemeine Wasserweihe vorgenommen werden.“40 Joseph II. wollte seine Vorstellungen zu einem einheitlichen Gottesdienst auch im protestantischen Umfeld verwirklichen. Sein Ziel bestand in der Etablierung einer einheitlichen Agenda nach dem Prinzip der Gleichförmigkeit, inspiriert durch Werk des Erlangener evangelischen Theologen Georg Friedrich Seiler, „Versuch einer christlichen Evangelischen Lithurgie“ (1782). Im ungarländischen evangelischen A. B. (auch später) Milieu stießen seine Pläne zur Reform des Gottesdienstes auf das Hindernis einer ausgeprägten Mannigfaltigkeit innerhalb der einzelnen Seniorate und sogar der Gemeinden. Neue liturgische Normen sollten, ähnlich wie andere staatliche Eingriffe im Bereich der Religion, durch die landesherrlichen Dekrete und Verordnungen ins Leben gerufen werden. Diese Art und Weise, wie die liturgischen Unterschiede und „Fehler“ zu beseitigen wären, lehnte die absolute Mehrheit der KirchenVorsteher als illegal ab. Das Recht zu solchen Maßnahmen hatte nur die Landessynode, welche Joseph II. aber aus politischen Gründen nicht einberief.41 Die Agenden, welche in deutschen, slowakischen und magyarischen evangelischen A. B. Kirchengemeinden verwendet wurden, unterschieden sich unter dem Einfluss einheimischer Traditionen und durch unterschiedlich intensive Reflexion zeitgenössischer theologischer Strömungen, besonders des Rationalismus, der sich aus den deutschen Universitäten kommend verbreitete. Der Trend zur Vereinfachung der Liturgie fand in den deutschen Gemeinden relativ schnell einen festen Boden. Ähnlich unter den magyarischen Lutheranern, die infolge latenter Konkurrenz zur reformierten Konfession die Rationalisierungstendenzen zum Teil positiv wahrnahmen. In den vorwiegend orthodoxen slowakischen Kirchengemeinden fand die Vereinfachung der Liturgie jedoch eine sehr geringe Unterstützung. Die Kirchenhierarchie im Theißdistrikt war in Frage des Gottesdienstes viel konservativer, als die Theologen in beiden Donaudistrikten. Nicht nur die kirchlichen, sondern auch die weltlichen Vorsteher der evangelischen a. B. Kirche im Theißdistrikt lehnten alle Versuche zu gottesdienstlichen Reformen grundsätzlich ab.42 Besonders in slowakischen lutherischen Kirchengemeinden stand der Unifizierung der Agenda die Existenz vieler gottesdienstlicher Handlungen (Weihen der Gebärerinnen, Erntesegen, Andachten beim Gottesgrab usw.) entgegen, die, obwohl sie Parallelen zum katholischen Gottesdienst aufwiesen, beliebt und etabliert waren.43 Die Visitation der evangelischen a. B. Kirchengemeinden im Scharosch-Zempliner Seniorat im Jahr 1808 verzeichnet in dieser östlichen Peripherie des ungarländi40 41
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HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 94f. Eva KOWALSKÁ, Evanjelické a.v. spoločenstvo v 18. storočí. Hlavné problémy jeho vývoja a fungovania v spoločnosti [Evangelische A. B. Gemeinschaft im 18. Jahrhundert. Hauptprobleme ihrer Entwicklung und Funktion in der Gesellschaft]. Bratislava 2001, S. 80. Johann Emericus KOVÁCS, Freymüthige Betrachtungen über verschiedene Gegenstände aus dem heutigen Lutherthum in Ungarn, Wien 1783, S. 6-9. Ján PETRÍK, Dejiny slovenských evanjelických a. v. služieb Božích [Geschichte der slawischen evangelischen A. B. Gottesdienste]. Lipt. Sv. Mikuláš 1946, S. 187-190.
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schen Luthertums etliche Residuen der katholischen Frömmigkeitsformen. Die örtlichen Pfarrer wiesen auch auf spezifische Verletzungen der protestantischen Normen hin, welche als Produkt der Akkulturation in diesem konfessionell gemischten Milieu zu erklären sind.44 Unter den Lutheraner bestand auch ein merkwürdiger Brauch, im Falle von Bedrohungen des Lebens- oder von Gesundheitsgefährdungen, bei Bedrohung des Besitzes oder bei anderen ausgeprägten Gefahrensituationen, die geistlichen Dienste des griechisch-katholischen Priesters in Anspruch zu nehmen.45 Im Falle einiger Frömmigkeitsformen, welche in konfessionell gemischten Gebieten nicht nur im katholischen, sondern auch im lutherischen Milieu gepflegt worden waren, nahm man ihr Verbot besonders empfindlich wahr.
3.
Wallfahrten und Prozessionen
Die Prozessionen und Wallfahrten gehörten zu denjenigen katholischen Festveranstaltungen, die im Prozess der Formierung, Festigung und öffentlichen Manifestation des Katholizismus eine Identität stiftende Rolle spielten. Besonders wichtig waren sie in konfessionell gemischten Lokalgesellschaften, denn bis zum Toleranzpatent war die Teilnahme an feierlichen Prozessionen auch für die nichtkatholischen Magistratsbeamten und Zunftgenossen verbindlich. Einerseits manifestierten die Prozessionen und Wallfahrten für die katholischen Gläubigen ihr Monopol auf den öffentlichen Raum, auf der anderen Seite demonstrierte man gerade durch diese Feste die katholische Interpretation religiöser Streitfragen und theologischer Unterschiede (Marienverehrung, Gnadenschatzvermittlung, Armeseelenkult oder Heiligenfürsprache). Die Prozessionen und Wallfahrten spielten ungeachtet des Alters, Stands oder der sozialen Schicht eine zentrale Rolle im Prozess der Glaubensvermittlung, indem sie Fragen des Religiösen in zugänglicher Form „verlebendigten“.46 Die ersten Regelungen bezüglich der feierlichen Prozessionen hatte bereits Maria Theresia vorgenommen. Die Kaiserin untersagte im Jahre 1775 Prozessionen außerhalb des Gebietes des österreichischen Staates und während der Nacht dauernde Prozessionen (mit Ausnahme von Bittgängen von Wien nach Mariazell).47 Joseph II. beschränkte im Zuge der Rationalisierung der Gottesdienste vorerst die Aufwände für 44
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Evangelikus Országos Léveltár [Evangelisches Landesarchiv] (fortan EOL), Fond Visitationes canonicae, Superintendalis Visitatio in Contubernio Zemplino-Sarossiensi 1808, f. 173. Pfarrei Žehňa: „Abusuum nomine signatus est mos, ante festum Nativitatis Jesu Christi sacra peragendi, qui qua Evangelicis maxime indignus, a modo severe interdicitur taliter.“ EOL, Visitatio 1808, f. 51f. Filiale Železník: „[…] retulit praecipue Incantationes a Ruthenicis Popis, per Plebejos requisites, institutui solitas que tanquam in obversum Religionis nostrae vergentes, serio disunnendatae suat similiter, dum aqua lustralis per eundia mystam consecratur, eam qua salubtea reptare solent, specialia Vaspatakenses.“ EOL, Visitatio 1808, f. 183, Pfarrei Obišovce: „ac in casu morbi refugium ad Ruthenos Popas exprobata est eis.“ Wolfgang BRÜCKNER, Die Neuorganisierung von Frömmigkeit des Kirchenvolkes. In: Jahrbuch für Volkskunde 21 (1998), S. 7-32, hier S. 23. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 173.
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die Festveranstaltungen. Im Jahre 1783 wurde durch Hofdekret das Tragen von Zunftfahnen, Statuen, Bildern und Kreuzen verboten.48 Ein Jahr später wurde diese Form der Feierlichkeit, mit Ausnahme von fünf im Rituale Romanum angeführten Prozessionen, ganz untersagt. Die Pfarreien durften in besonderen Fällen und nach Bewilligung durch den örtlichen Bischof jährlich zwei Bittgänge für Regen und für gute Ernte durchführen.49 Seit 1785 verbot der Kaiser auch diese Prozessionen mit Ausnahme des Fronleichnamsfestes. Ersatz für sie sah er in Quatemberandachten,50 welche zuerst in Wien und danach auch in anderen Diözesen eingeführt werden sollten.51 Die Gläubigen ließen sich verschiedene Strategien einfallen, um diese Verbote zu umgehen. Bittgänge, die sie auf bisherige Weise (mit einem Kreuz, Kirchenfahnen, Statuen und unter Anführung eines Vorbeters), aber ohne Begleitung des ordentlichen Seelsorgers machten, hielten sie nicht für Prozessionen und unternahmen sie weiterhin. Auf diese Praxis reagierte Joseph II. durch höchsten Entschluss, indem „diese Wallfahrer und Vorbether, vorzüglich aber die Urheber derlei unbefugter Wallfahrtszüge und Processionen, mit einer von der Regierung nach Umständen zu bestimmenden Strafe angesehen werden sollen“.52 Im Jahre 1787 wurde in drei Verordnungen das „Prozessiongehen der Kinder, so wie auch das Herumgehen in den sogenannten Dreikönigs- und Nikolaikleider[n]“ untersagt.53 Fortgesetzt wurde weiterhin das Bemühen, übermäßigen Aufwand und Verschwendung einzudämmen. Die Aussteckung junger Bäume am Fronleichnamstage, bei Prozessionen, an Kirchweihetagen und bei anderen Gelegenheiten, die aus staatlicher Sicht „der Waldkultur äußerst schädlicher Mißbrauch ist“, war unter keinem Vorwand gestattet.54 Bei einigen Eingriffen des Staates in die religiösen Feste wurde nicht nur mit übermäßiger Verschwendung, sondern auch mit Fragen der Sicherheit argumentiert. Gerade die Merkmale, welche die Festtage von gewöhnlichen Tagen abhoben, sollten von einem Tag zum anderen aufhören. „Aller übermässige, dem Geiste der Kirche ohnehin nicht entsprechende, Putz, Prunk und Beleuchtung wird in den Kirchen und Capellen um so mehr gänzlich abgestellt, als dabei meistens Bretter, Lack, Papier und
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JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 4, S. 559. Hofdekret vom 21. März 1784. BARTH-BARTHENHEIM, Oesterreich’s geistliche Angelegenheiten, S. 543. Mehr zu Quatembertagen siehe: Max Werner QUADT, Die Liturgie der Quatembertage, Aachen 1869. Hofdekret vom 8. März 1785. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 4, S. 573. BARTH-BARTHENHEIM, Oesterreich’s geistliche Angelegenheiten, S. 543. Zivilverordnung vom 30. April, Hofdekret vom 11. Juni und Zivilverordnung vom 25. Juni 1787. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 4, S. 560. Hofdekret vom 2. Juli 1789, Zivilverordnung vom 16. Juli 1789. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 1, S. 179. Zu den „geistigen Missbräuchen“ gehörte auch der Verkauf von Zweiglein vor dem Palmsonntagfest bei Strafe von einem Gulden. Verordnungen gegen diesen Brauch wurden für Niederösterreich noch im Jahre 1821 erlassen. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 189.
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Leinwand, folglich gar leicht Feuer fangende Materien gebraucht werden, wodurch das Publicum einer augenscheinlich Gefahr ausgesetzt wird.“55 Eine zielbewusste Kampagne führte der Staat auch gegen die Verwendung von Schusswaffen, welche besonders auf dem Lande traditionell bei vielen weltlichen und kirchlichen Festen benutzt wurden. Man schoss bei Kindstaufen, Hochzeiten, bei Fronleichnamsprozessionen, an Weihnachten oder zu Neujahr. Die große Anzahl von Verordnungen, welche dieses beliebte Element der Festveranstaltungen zu beseitigen trachteten, weist eine breite Palette an Züchtigungsmitteln auf, die der Staat bei der Disziplinierung seiner Untertanen verwendete: Das reichte von der Beschlagnahme, von Strafgeld (bis zu 20 Gulden), Gefängnis für einige Tage, bis zur Zwangsrekrutierung junger Männer. Der bürokratische Apparat des Staates, die Lehrer, Priester sowie Laien wurden finanziell motiviert, die Verletzungsfälle anzuzeigen.56 Warum der aufgeklärte Staat die Wallfahrten als unerwünschte Form der praktizierten Religiosität marginalisierte, hat ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des Reformators der Professor für kanonisches und römisches Recht an der Prager Universität, Joseph Helfert, charakterisiert. Die Wallfahrten definierte er als „fromme Fußreisen nach einem entfernten Ort in der Absicht, daselbst einem Heiligen seine Verehrung besonders zu bezeigen, in einem Anliegen von Gott Hülfe zu ersehen oder für empfangene Wohlthaten zu danken, und dabei seine Andacht besser, inbrünstiger und wirksamer zu pflegen, als zu Hause“.57 Zutrauen auf die wunderbare Kraft der Bilder, Statuen und Reliquien, an welche die Kraft der Fürbitte von Heiligen gebunden war, die Verwahrlosung des religiösen Unterrichts an Sonn- und Feiertagen und im Falle der Wallfahrten an Arbeitstagen die Schädlichkeit für die Wirtschaft des Staates – das waren die Hauptargumente gegen die beliebte Festform. Dazu kamen noch die Übelstände und Missbräuche, welche bei Pilgerreisen auf den Wegen und in Gasthäusern vorkamen. Bei Wallfahrten gab es ihren Kritikern zufolge sehr vielfältige Veranstaltungen zum Zeitvertrieb und zur Zerstreuung, und der wahre Sinn ihrer Verrichtung blieb am Rande. Nach dem zitierten Buch von Helfert soll die Ursache dafür darin liegen, „weil die meisten Menschen davon einen ganz irrigen Begriff haben, indem sie glauben, daß in dem Wallfahrten und den Processionen eine magische Kraft liege, welche sie an und für sich, unabhängig von der Andacht und der Würdigkeit derer, die daran Theil nehmen, wirksam mache […]“.58 Bei der Beseitigung von Wallfahrten sollten die Staatsbeamten an vorderster Front stehen. Man forderte von ihnen, in zweckmäßiger Form auf die Denkweise der Menschen versöhnlich einzuwirken. Die wichtigste Person bei Durchsetzung und Einhaltung der neuen Gottesdienstordnung war jedoch der Seelsorger. Ihm fiel die schwerste Aufgabe zu, seine Gläubigen zu belehren, dass „der wahre Gnadenort für jeden Katholiken seine Pfarr-, d. i. die Kirche sei, wo er in die Gemeinschaft der Gläubigen
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Hofentschluss vom 14. Mai 1782, vom 9. Februar 1784 und vom 30. Mai 1784. Siehe: BARTHBARTHENHEIM, Oesterreich’s geistliche Angelegenheiten, S. 522f. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 233. Ebd., S. 171. Ebd., S. 172f.
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aufgenommen worden, wo ihm alle Sonn- und Feiertage das Wort Gottes verkündet […] wird“.59 Ähnlich wie bei Prozessionen bemühte sich die Staatsmacht, die Anziehungskraft und Attraktivität der Wallfahrten durch verschiedene Beschränkungen ihres feierlichen Charakters abzuschwächen. Dazu gehörte auch ein Handelsverbot für Devotionalien unter Strafe der Beschlagnahme.60 Für die Statuen von Heiligen, für Amulette, Votivbilder und Rosenkränze ausgegebene Gelder stellten nach Meinung des Kaisers eine zwecklose Verschwendung dar. In den 1790er Jahren setzte sich, trotz einer gewissen Mäßigung des Kampfes gegen „schädliche“ Andachten, die durch den Staat ausgelöste Marginalisierung der Rolle von Wallfahrten im religiösen Leben fort. In jedem Pilgerort durften nur so viele Priester angestellt werden, wie für die Bedürfnisse der gewöhnlichen Seelsorge notwendig waren, ohne Rücksicht auf die Menge der Wallfahrer. Den Verwaltern von Pilgerkirchen wurde verordnet, bei Wallfahrten die Gottesdienste ohne jedwelche Feierlichkeiten gemäß der in der neuen Gottesdienstordnung vorgeschriebenen Form zu zelebrieren, und sie waren laut dem Hofdekret vom 25. Oktober 1792 angehalten, dass sie „alles vermeiden sollten, was das Volk dahin ziehen, und zur Entfernung von einem heimischen pfarrlichen Gottesdienste verleiten könnte […] namentlich der feierliche Empfang der Wallfahrter mit Glockengeläute und Darreichung des Weihbrunnens, die Herbeifuhrung fremder Priester zum Beichthören, der Vorweisung der Mirakel, die da geschehen sind u. s. w.“.61 Die Kirchweihe und der Gedenktag des Kirchenpatrons gehörten ebenfalls zu den Festveranstaltungen, die nach Meinung des Kaisers und der Religionskommission als unnütz abgeschafft werden sollten. Die Strategie des Staates bei der Beseitigung dieser allgemein verbreiteten und beliebten Feste war dieselbe wie bei Prozessionen und Wallfahrten. Den Anfang machte die Reduzierung des feierlichen Charakters, die mit der Verhinderung von Verschwendung und übermäßigem Aufwand begründet wurde. Die Priester sollten sich gemäß dem Hofdekret vom 13. Februar 1783 „von unnützer Besuchung der Kirchweihetage enthalten“.62 Die „überschwänglichen und Ärgernisse erregenden Gastmähler“, mit welchen diese Besuche gewöhnlich endeten, waren Argumente für dieses Verbot. Etwas später durften die Priester zur Feier der Kirchweihe oder des Kirchenpatrons keine Festmähler mehr geben, ohne Rücksicht darauf, ob den Aufwand dafür die Pfarrei oder sie selbst trugen. Um diesen höchst unpopulären Schritt im Alltag durchsetzen zu helfen, verboten die Verordnungen des Hofdekrets aus dem Jahre 1787 in der Zeit der aufgehobenen Kirchweihefeste in den Städten wie auf dem Lande sämtliche Belustigungen, Volksfeste und Tanzfeste. Verletzungen waren mit einer dreitägigen Gefängnisstrafe zu ahnden.63 Das Hofdekret vom 12. Oktober 1786 für „alle deutschen Erbländer“ verordnete dann eine ein-
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Ebd., S. 176. Hofdekret vom 28. April 1784. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 3, S. 353. HELFERT, Darstellung der Rechte, S. 175. JAKSCH, Gesetzlexikon, Bd. 2, S. 412. Hofdekret vom 30. August 1787. Ebd., Bd. 3, S. 411.
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heitliche Feier der Kirchweihe in allen Kirchen in den betroffenen Provinzen am dritten Oktoberwochenende, die sogenannte Kaiserkirmes.64 Das Verbot dieser volkstümlichen Festivität, bei welcher Jahrmärkte mit zahlreichen Vergnügungsangeboten sowie Familienbesuche mit freigiebigen Ess- und Trinkgelegenheiten stattfanden, war in allen Gesellschaftsschichten höchst unpopulär. Das Ausmaß seiner Akzeptanz war in einzelnen Provinzen unterschiedlich. Für das Königreich Ungarn kann man aufgrund fehlender Untersuchungen nur annehmen, dass der Grad der Einhaltung neuer Normen im Bereich der institutionalisierten Frömmigkeit vergleichsweise geringer als in anderen Provinzen der Monarchie war. Die beschränkten Möglichkeiten des Staates, ihre Einhaltung zu kontrollieren und zu sanktionieren, sind mit der Konzentration der politischen Macht in Händen des örtlichen Adels zu erklären. Auf ihren Herrschaften hatten sie dank der Institution des Patronatsrechts und besonders des Rechts zur Einsetzung der Pfarrer großen Einfluss auf das religiöse Leben. Auf Seiten des ungarländischen Episkopats fanden die josephinischen Reformen wenig Verständnis. Auf die gesamte Monarchie bezogen gab es größere Opposition gegenüber der Reformpolitik allerdings nur in der katholischen Hierarchie in den niederländischen Provinzen.65 Insbesondere die gottesdienstlichen Reformen lehnten die Bischöfe als unakzeptable Einmischung in rein kirchliche Angelegenheiten ab und ignorierten sie nicht selten unverhohlen. Einer der Zeitzeugen charakterisierte in seiner im Jahre anonym erschienenen Verteidigung der josephinischen Reformen die Einstellung der ungarländischen Bischöfe wie folgt: „Aber die Bischöfe, die eben so gut als der Kaiser und die Religionscommision wissen, dass das Wallfahrten der gröbste Aberglaube und pures Unsinn sey, lassen das arme betrogene Volk mit seinem Schaden zum Vortheil der Pfaffen, doch immer noch wallfahrten.“66 Noch größere Resistenz zeigten weniger spektakuläre Festivitäten und Frömmigkeitsformen, welche durch die Komitats- und Dikasterienbeamten schwieriger zu kontrollieren waren. Die Pfarrer und Kaplane, welche als Anhänger des Josephinismus die Pläne des Kaisers verwirklichen wollten, stießen beim Kirchenvolk, ihrem Bischof und gewöhnlich auch beim Kirchenpatron auf Missstimmung. Am Ende seiner Regierungszeit milderte Joseph II. unter dem Druck der wachsenden Unzufriedenheit in der Gesellschaft und der offensichtlich nicht intendierten Folgen der Gottesdienstreform seine negative Haltung gegenüber katholischen Festveranstaltungen und Frömmigkeitsformen ab. Auch unter Anhängern seiner Reformpolitik verstärkte sich die Auffassung, dass die radikalen Eingriffe in diesen sensiblen Bereich bei den meisten Gläubigen Verunsicherung, religiösen Indifferentismus, Schwierigkeiten bei der Seelsorge und einen Niedergang der Autorität der Geistlichkeit hervorgerufen hatten. In einigen Gebieten war der Unwille, sich den 64 65 66
Ebd., Bd. 2, S. 411. Joachim BAHLCKE, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie: Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686-1790), Stuttgart 2005, S. 324f. Politisch-kirchliches Manch-Hermaeon von den Reformen Kaiser Josephs in Ungarn. In: H.M.G. GRELLMANN, Aufklärung über wichtige Theile und Gegenstände der österreichischen Monarchie. Bd. 1, Göttingen 1795, S. 229-434, hier S. 281.
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Vorstellungen des Staates hinsichtlich der nützlichen und der zwecklosen Andachten unterzuordnen zu offener Ignoranz und politisch instrumentalisierten Verletzungen angewachsen. Besonders in Tirol und in den niederländischen Provinzen war die manifeste Übertretung der josephinischen Verbote ein wichtiger Bestandteil der Opposition gegen die Politik des Staates. Leopold II. wurde nach Antritt seiner Herrschaft mit zahlreichen Bittschriften von Bischöfen hinsichtlich des Gottesdienstes und der öffentlichen Andacht konfrontiert. Sein Hofdekret vom 17. März 179167 ist jedoch ein Kompromiss zwischen Forderungen und Erwartungen der katholischen Hierarchie und der josephinischen Vorstellung von rationaler Religion. Der Kaiser begründete den Erlass des Dekrets mit „Verfall der Religion und Sitten, worüber die Herren Bischöfe so häufig Klagen führen“. Er verteidigte die Beschränkung und Gleichförmigkeit der Gottesdienste; die Hauptursache des Religions- und Sittenverfalls sah er im mangelnden oder schlecht verrichteten Religionsunterricht, in Verwahrlosung der Seelsorge und der Sittenlehre. Die Gottesdienst- und Andachtsordnung Josephs II. blieb weiterhin gültig, gleichzeitig aber wurde den Bischöfen gestattet, „in besondern Nohtfällen und allgemeinen Anliegenheiten Bittgänge auf Verlangen der Gemeinden, und auf vorläufige Anfrage, in nicht zu großer Entfernung von der Pfarrkirche zu halten“.68 Auch in anderen Bestimmungen des Dekrets erkennt man die Inkonsequenz und Mehrdeutigkeit bei der Lösung der Frage, wer, der Staat oder mittels ihrer Bischöfe die Kirche rechtsfähig sei, über Fragen des Kultus zu entscheiden. Auch in der Stellungnahme Kaiser Franz II./I. gegenüber katholischen Festen wird die Kontinuität der Grundprinzipien des Josephinismus deutlich. Die allmählich wiederbewilligten Formen institutionalisierter Frömmigkeit standen weiterhin unter Kontrolle des Staates. Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis die Kompetenz über die eine oder andere Andacht wieder in die Hände der ortszuständigen Bischöfe gelangte.69 Die josephinische Gottesdienstordnung und die Bestimmungen des Leopoldinischen Dekrets über die Ordnung des Gottesdienstes und der öffentlichen Andacht blieben bis zum Konkordat im Jahre 1855 die wichtigsten rechtlichen Normen, welche in der Habsburger Monarchie den Kompetenzbereich der katholischen Priester und Bischöfe im gottesdienstlichen Bereich begrenzten. Franz Joseph verordnete zwar schon im Jahre 1850, dass die Rechtsfähigkeit bezüglich der liturgischen und anderen gottesdienstlichen Angelegenheiten auf dem Gebiet der Diözese dem ortszuständigen
67
68 69
Dekret siehe bei: Joseph PETZER, Systematische und chronologische Sammlung aller jenner Gesetze, und allerhöchsten Verordnungen, die von ältesten Zeiten her, bis auf 1795 für die voröst. Länder erlassen worden sind, und ißt noch bestehen. VIII. Bd., II. Abt.: Politischgeistliche Gesetze, Freyburg im Breisgau 1796, S. 468-479, hier S. 469. – Johann SCHWERDLING, Praktische Anwendung aller unter der Regierung weiland Sr. k. k. apost. Majestät Leopolds II. für die gesamten Erblande in geistlichen Sachen, Publico Ecclesiasticis ergangenen Verordnungen. Zweite Auflage, Krems 1805, S. 199-203. PETZER, Systematische und chronologische Sammlung, S. 470. HOLLERWEGER, Die Reform des Gottesdienstes, S. 301.
Eingriffe des Josephinismus in religiöse Festivitäten der katholischen Kirche
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Bischof gebührte,70 doch erst das Konkordat gab die Zuständigkeit aller Frömmigkeitsformen, Prozessionen, Wallfahrten, und Kirchweihen dem Episkopat zurück.71
4.
Resümee
Von allen josephinischen Kirchenreformen wiesen die Eingriffe in den Gottesdienst und in die mannigfaltigen Formen der Volksfrömmigkeit das größte Konfliktpotenzial auf. Im Grunde genommen ging es um eine lange Reihe von Verboten, Restriktionen und Beschränkungen, welche das Ziel verfolgten, die kontemplativen und emotionalen Aspekte der religiösen Praxis zurückzudrängen und Belehrung zum wichtigsten Teil des Gottesdienstes zu erheben. Prozessionen, Wallfahrten sowie weniger spektakuläre lokale religiöse Feste spielten beim Katechisieren in vorwiegend aliterarischen Gesellschaftsschichten eine zentrale Rolle. In angemessener Art und Weise, meist gesungen oder inszeniert, visualisierten sie die Grundprinzipien des katholischen Glaubens. Wallfahrten gehörten zu den wichtigsten religiösen Veranstaltungen des Katholizismus, denn für alle Beteiligten – unabhängig von ihrem sozialen Herkommen – stellten sie eine gerngesehene und besondere Abwechslung vom Alltäglichen dar. Weil sie im öffentlichen Raum inszeniert wurden, hatten sie Bedeutung und Einfluss in der katholischen Kirchengemeinde wie in der lokalen Gesellschaft und indirekt im ganzen Staate. Mittels der kirchlichen Festveranstaltungen, der Prozessionen, Wallfahrten, mannigfaltigen Andachten, Segnungen und Weihungen, die ursprünglich am Rande des Gottesdienstes standen, beteiligte sich das Kirchenvolk aktiv am kirchlichen Leben. Das Lateinische und die festen Teile der Liturgie ermöglichten eine aktive Beteiligung der Gläubigen nicht. Auch für die weiteren Gebiete der Habsburgermonarchie ist die These von Marie-Elisabeth Ducreaux gültig, die sie für das tschechische Milieu ausgesprochen hat, dass die Gesangbücher und der „gesungene Glaube“ im 18. Jahrhundert die Hauptquelle dafür darstellten, wie das gemeine Volk die Lehren des Glaubens begreifen konnte.72 Das josephinischen Verbot der verwurzelten und geliebten Feste führte in einigen Fällen zu ihrer Verlagerung aus dem öffentlichen in den privaten Raum, von den Kirchen, Plätzen und Straßen in Häuser und Wohnungen. Dieser Prozess der Privatisierung einiger Frömmigkeitsformen setzte sich auch nach der Wiedergenehmigung der verbotenen Andachten fort.73 Der sich am weitesten verbreitende Brauch, welchen 70 71 72
73
Ebd., S. 389-394. RIEDER, Handbuch der k. k. Gesetze, Bd. 3, S. 47. Marie-Elisabeth DUCREAUX, Čtení a vztah ke knihám u podezřelých z kacířství v Čechách 18. století [Lesen und die Beziehung zu Büchern bei der Ketzerei Verdächtigen im Böhmen des 18. Jahrhunderts]. In: Acta Universitatis Carolinae – Historia Universitatis Carolinae Pragensis 32 (1992), S. 51-80, hier S. 72, 77. Hansjörg AUF DER MAUR, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr. In: Gottesdienst der Kirche 5 (1983), S. 173-175.
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man als Folge der gottesdienstlichen Reformen anführen kann, war das Aufstellen der Krippe an Weihnachten. Er wurde nach dem Verbot der Krippenandacht unter den Gläubigen zuerst in den Städten, später auch in Landpfarreien üblich. Der Verwirklichung von Vorstellungen über die Rationalisierung, die Vereinheitlichung des kirchlichen Lebens standen in konfessionell und oft auch ethnisch gemischten Gebieten der Monarchie die ausgeprägte Pluralität der regionalen und lokalen Traditionen, die mannigfaltigen Äußerungen religiöser Praxis und Volksfrömmigkeit im Wege. Infolge eines intensiven Akkulturationsprozesses hatten verschiedene typisch römisch-katholische Barockelemente der Religiosität auch im unitarisch/griechisch-katholisch Milieu festen Fuß gefasst. In konfessionell gemischten lokalen Gemeinschaften besaß jeder Eingriff in die empfindliche Sphäre des Glaubens ein viel größeres Konfliktpotential als in konfessionell homogenen Gebieten. Der aufgeklärte Staat verfügte in einzelnen Provinzen der Monarchie bei der Etablierung der neuen Gottesdienstnormen über unterschiedlich starke Machtmittel, vermittelt vor allem über die loyalen Eliten. Das Ausmaß der Einhaltung von neu gesetzten Normen in dieser empfindlichen Sphäre praktizierter Religiosität variierte auch in Abhängigkeit vom sozialen Milieu, von konfessioneller Struktur, Loyalität oder Opposition der kirchlichen Hierarchie sowie der Komitats- und Dikasterialbeamten. Das hohe Tempo der Einführung von „schnell gestrickten“ Regelungen, Bestimmungen und Verbote führte oft dazu, sie zu ignorieren. Viele, mittels der zivilen oder kirchlichen Obrigkeit verkündete Verordnungen konnte die Bevölkerung kaum wahrnehmen. Besonders im ländlichen Milieu, wo der Staat über sehr wenige Vorkämpfer und Verteidiger der Gottesdienstreform verfügte, folgte auf die Eingriffe des Staates nicht die Abkehr vom Alten, sondern ergaben sich Verunsicherung und Beunruhigung der Gläubigen. Die Menschen stellten sich die Frage, woran sie eigentlich geglaubt hätten, wenn ihnen der Kaiser ihre Andachten verweigerte und die Beschränkungen nur die katholische Kirche betrafen. Die Durchsetzung der wahren Andacht verstand ein großer Teil der Katholiken als Einführung des Protestantismus. Anstatt zu Vereinheitlichung, Vereinfachung, Rationalisierung und im Endeffekt zur Intensivierung der Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst führten die Reformen zur Zunahme von religiösem Indifferentismus und Formalismus und dies besonders in jenen Schichten, die nach josephinischen Vorstellungen die Träger der wahren Andacht sein sollten: in den gebildeten Schichten und im bürokratischen Apparat. Hans Hollerweger fasste die Auswirkungen der josephinischen gottesdienstlichen Reformen in drei Stichworten zusammen: Glaubenskrise, Frömmigkeitsschwund, Sittenverfall.74 Die ursprüngliche Intention, den Kultus von barockem „Ballast“ zu entlasten, führte nach zeitgenössischen Aussagen zur Suche nach der fehlenden Emotionalität anderswo. Seit Ende des 18. Jahrhunderts verzeichnete man in verschiedenen Teilen der Habsburger Monarchie einen Aufschwung des Sektenwesens und verschiedener mystisch-religiöser Gemeinschaften.75
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HOLLERWEGER, Die Gottesdienstlichen Reformen, S. 53. This work was supported by the Slovak Research and Development Agency under the contract No. APVV-0119-11.
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REFLEXIONEN ÜBER DAS GEBET IN THEOLOGISCHEN LEHRBÜCHERN DER AUFKLÄRUNG
Sucht man nach theologischen Reflexionen über das Gebet außerhalb der Predigt- und geistlichen Erbauungsliteratur, ist in der Zeit der Barocktheologie das klassische literarische Genus der Summenkommentare ein Anknüpfungspunkt. Thomas von Aquin hatte in der Secunda Secundae (q. 83) seiner Summa theologiae einen eigenständigen Entwurf einer Gebetstheologie verfasst. Mit der Auffächerung der theologischen Disziplinen in der Aufklärungszeit, mit der Konstituierung der Moral- und Pastoraltheologie als eigenen wissenschaftlichen Fächern neben der Dogmatik und der besonderen Förderung der Apologetik/ Fundamentaltheologie durch die theresianisch-josephinischen Studienreformen stellt sich die Frage nach dem wissenschaftlichen Ort für die Reflexionen über Gebet, und geistliches/religiöses Leben. Die vorliegende Untersuchung geht den Spuren der Gebetstheologie in dogmatischen und moraltheologischen Lehrbüchern, die in Breslau benutzt wurden nach und vergleicht sie mit dem damals einflussreichen fundamentaltheologischen Werk der Wiener Vorlesungen von Petrus M. Gazzaniga. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Anliegen der Aufklärung, insbesondere die Reduzierung der christlichen Religion auf die ethische Komponente1, auf das Verständnis des Gebetes auswirkten.
1.
Gebet und Gnade in dogmatischer Reflexion
Im Lehrplan der Breslauer katholisch-theologischen Fakultät wurden die „Institutiones theologiae dogmaticae“ Engelbert Klüpfels (1733-1811) als Dogmatik-
1
Vgl. Rainer BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung (Forschungen u. Quellen zu Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 27), Köln, Weimar, Wien 1996, S. 164-166. – Peter EICHER, Neuzeitliche Theologen. In: DERS., Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1991, S. 7-47, hier S. 32.
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lehrbuch angegeben.2 Klüpfel, ein Augustiner-Eremit, wurde im Zuge der Theresianischen Reformen 1767 auf den Dogmatiklehrstuhl der Universität Freiburg im Breisgau berufen, den er bis 1806 innehatte. Einen Ruf Josephs II. 1789 auf den Wiener Dogmatiklehrstuhl lehnte er ab.3 Schon 1777 war Klüpfel von Rautenstrauch „zur Abfassung eines den neuen Verhältnissen entsprechenden dogmatischen Lehrbuches ermuntert worden“, 1788 wurde er damit „förmlich beauftragt“, 1789 wurde dieses Lehrbuch für alle österreichischen Universitäten „als Vorlesebuch obligat gemacht“.4 Vorausgehend waren für den gesamten deutschen Sprachraum die Werke des Dominikaners Petrus Maria Gazzaniga (1722-1799) von großem Einfluss gewesen. Dieser hatte ab 1760, ebenfalls im Zuge der Theresianischen Reformen einen Dogmatiklehrstuhl in Wien inne.5 Wirkungskräftig waren zum einen seine „Praelectiones theologicae habitae in Vindobonensi universitate“ in vier Bänden (1763-66), Vorlesungen in Wien, die durch die Studienordnung von 1752 streng geregelt waren. Sie erschienen bereits 1770 in einer zweiten und 1774/75 in einer dritten Auflage. 1776 erschien in Zusammenarbeit mit dem Augustiner-Eremiten Joseph Bertieri, von 1768-1791 Dogmatikprofessor in Wien, ein weiteres Werk, die „Theologia dogmatica in systema redacta“ in zwei Bänden (Bd. 1 von Gazzaniga, Bd. 2 von Bertieri). Es ist im Aufbau angelegt nach dem Grundriss, den Rautenstrauch ausgearbeitet und der durch Dekret für Vorlesebücher der Dogmatik vorgeschrieben worden war.6 Von Klüpfel wurden beide Werke positiv rezensiert.7 Rautenstrauch scheint jedoch nicht zufrieden gewesen zu sein, wie der Auftrag an Klüpfel zu einem neuen Lehrbuch bezeugt. Wenn ich auch für Breslau die Verwendung von Gazzanigas Lehrbüchern nicht nachweisen kann, seien sie wegen ihrer großen Bedeutung8 zum Vergleich herangezogen.
1.1.
Die dogmatischen Lehrbücher des Petrus Maria Gazzaniga
Mit einem Lob auf Maria Theresia und auf Bischof Rautenstrauch als großen Förderer von Religion und Theologie bekennt sich Gazzaniga auch zu deren theologischem
2 3
4 5 6 7 8
Vgl. BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung, S. 166. Vgl. Franz Xaver BANTLE, Unfehlbarkeit der Kirche in Aufklärung und Romantik. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung für die Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Freiburg, Basel, Wien 1976, S. 29f, mit Hinweisen auf Literatur zu Klüpfel. Wendelin RAUCH, Engelbert Klüpfel, ein führender Theologe der Aufklärungszeit, Freiburg i. Br. 1922, S. 97. Vgl. BANTLE, Unfehlbarkeit der Kirche, S. 23 (Lit.). Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. Nova Bibliotheca Ecclesiastica Friburgensis 1 (1775), S. 1-4. – Ebd., 4 (1779), S. 572-577. Einige Beispiele zur Verbreitung seiner Lehrbücher siehe bei BANTLE, Unfehlbarkeit der Kirche, S. 28f.
Reflexionen über das Gebet in theologischen Lehrbüchern der Aufklärung
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Reformprogramm:9 Er setzt sich ab von der geschwätzigen und nichtssagenden Barockscholastik wie insbesondere von den häretischen Bewegungen der jüngsten Vergangenheit und der übergroßen Neuerungssucht, die der Anfang dafür war, dass die Religion ebenso wie die Theologie bis in die Gegenwart überall zerpflückt und zerrissen wird. Als Grundlage seiner Theologie bekennt er die Heiligen Schriften, aber auch die Tradition der Kirche: die Kirchenväter und großen Lehrer der Theologie, insbesondere Augustinus und Thomas von Aquin, sowie die Dogmen der Konzilien und römischen Päpste.10 In der Auswahl des Stoffes orientiert er sich an den „dogmata religionis“.11 Sein Bemühen gilt nicht nur einer guten Begründung der eigenen Position, sondern er will die Schüler auch breit mit den Einwänden der Gegner vertraut machen.12 Zur theologischen, spezifisch dogmatischen Grundlegung gehört für Gazzaniga nicht eine eigene Abhandlung über das Gebet. Eigenschaften eines guten Gebetes, seine konkrete Gestaltung, aber auch das Problem der Sinnhaftigkeit menschlichen Betens angesichts der universalen göttlichen Vorsehung, eine theologische Schlüsselfrage für das Verständnis der menschlichen Freiheit, werden nicht angesprochen – Themen, die in dem auch von Gazzaniga benutzten theologischen Lehrwerk der „Summa theologiae“ des Thomas von Aquin systematisch bedacht wurden.13 Auf die grundsätzliche und vielfältige Notwendigkeit des Gebetes kommt Gazzaniga in Zusammenhang mit dem für die Zeit bedeutsamsten Fragenbereich zu sprechen, der Gnadenlehre. Im Hintergrund stehen die seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts währenden, teils äußerst heftigen Auseinandersetzungen um den Jansenismus, der in Orientierung an Augustins’ Kampf gegen Pelagianismus und Semipelagianismus rigoros jeden moralischen Laxismus (insbesondere der Jesuiten) bekämpfte und gnadentheologisch die völlige Verwiesenheit des verderbten Menschen auf die Gnade Gottes unterstrich.14 Im Aufgreifen dieses Streits und in der Subtilität, die die Fragen gewonnen haben, schwillt daher dieser Band zum umfangreichsten des gesamten Werkes an.15 Grundproblem Gazzanigas ist die Frage, warum der gläubige Christ, selbst wenn er sich bemüht und guten Willens ist, sündigt. Abgesehen wird hier also von dem eigenen Problembereich, warum ein Mensch, auch der Christ, Böses wollen kann. 9 10 11 12
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15
Vgl. GAZZANIGA, Praelectiones Theologicae, Bd. 1, Wien 1775, Dedicatio. Er widmet das Buch Herrn Stephan Rautenstrauch OSB. Ebd. Bd. 1: De Deo eiusque proprietatibus; Bd. 2: De Trinitate et de Creatione; Bd. 3: De Gratia Actuali et Habituali; Bd. 4: De Virtutibus Theologicis Fide, Spe et Caritate. Er bittet dabei um Nachsicht, dass er die Irrtümer, denen auch die bedeutendsten Menschen verfielen – auch sie sind Menschen, mit ihrem Namen anzeige; er wolle damit nicht Missgunst auf sie ziehen, sondern es sei für die Schüler nützlich. Vgl. Thomas VON AQUIN, Summa theologiae II-II, 83. Vgl. Charles H. O’BRIEN, Jansen / Jansenismus. In: Theologische Realenzyklopädie 16 (1987), S. 502-509. Voraus liegen die Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts zwischen einem strengen Augustinismus (Banez) und einer spezifisch jesuitischen Theologie (Molina). Insgesamt 786 Seiten.
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Jansenius hatte in seinem Werk „Augustinus“ die Meinung vertreten: „Einige Gebote Gottes sind für die gerechten Menschen, auch wenn sie wollen und sich bemühen, mit den ihnen im jetzigen Zustand zur Verfügung stehenden Kräften unerfüllbar, und sie haben auch nicht die Gnade, durch die sie erfüllbar werden.“ Bereits von Papst Innozenz X. war dieser Satz 1653 verurteilt worden.16 Auch Gazzaniga sucht seine Unhaltbarkeit aufzuweisen.17 Mit Bibelstellen (aus den Psalmen und insbesondere 1 Kor 15,13), Zitaten aus Kirchenvätern und aus den Akten des 2. Konzils von Orange und des Tridentinum bekräftigt Gazzaniga als grundlegende katholische Überzeugung, dass Gott vom Menschen nichts Unmögliches verlangte und ihn auch nicht über seine Kräfte hinaus versuchte. Wie gegen den Jansenismus so hält Gazzaniga auch explizit gegen Calvin und Luther fest, dass der Mensch Gottes Gebote in der geschuldeten Vollkommenheit erfüllen könne, freilich nicht von sich aus, sondern mit Gottes Hilfe.18 Durch die Gnade Gottes werden sie erfüllbar: „Den Gerechten, die sich darum bemühen und den Willen haben, die Gebote Gottes zu erfüllen, ist immer irgendeine Gnade Gottes (aliquam Dei gratiam) gegenwärtig, mit der sie die Gebote entweder unmittelbar erfüllen können oder zumindest mittelbar, indem sie von Gott eine stärkere Hilfe der Gnade erbitten. Denn hat einer nicht die Kräfte, eine Versuchung zu überwinden, so hat er doch die Kräfte zu beten oder die Gelegenheit zur Sünde zu meiden etc. Wenn er dies tut, wird er die zum Sieg über die Versuchung notwendigen Kräfte erhalten.“19 Die Gnade befähigt den Menschen zum Handeln oder zum Beten. Das Gebet wird nicht als Grundlage allen guten Handelns gezeigt, sondern als Möglichkeit, in Situationen, in denen der Mensch an seine Grenzen stößt, besondere, stärkere Hilfe Gottes zu erlangen. Nicht von sich aus findet der Mensch zum Gebet, es ist selbst bereits von Gott ermöglicht, durch „irgendeine Gnade“. Diese Bezeichnung ist sehr vage – sie findet sich ebenso bei Thomas von Aquin20 –, bedenkt man die Vielzahl von Fachtermini für das Gnadenwirken Gottes, die in der Zeit gebraucht werden, gleichsam als Denkmodelle, um zu verdeutlichen, dass menschliche Freiheit gewahrt werden kann und daher auch Versagen möglich ist trotz der Gnade Gottes. Im Folgenden differenziert Gazzaniga diese Grundaussage. Hintergrund sind ihm die Überlegungen des Aquinaten, die er vorausgehend bei der argumentativen Darlegung seiner eigenen Position ausführlich zitiert hatte:21 Dem Christen wurde in der Taufe Gottes Gnade geschenkt, so dass er in seiner Grundverfasstheit nicht mehr von einer egoistischen Abwendung von Gott, der Sünde, bestimmt ist, sondern von der Hinwendung zu Gott, die ihn heilt und heil macht (gratia 16 17 18 19 20 21
Vgl. die Bulle „Cum occasione“ in: DH 2001-2005. Zur Abweisung dieser Verurteilung als unzutreffend durch Antoine Arnauld vgl. O’BRIEN, Jansen / Jansenismus, S. 505. GAZZANIGA, Praelectiones Theologicae, Bd. 3, Dissertatio V, c.1-3, S. 364-422. Vgl. ebd., S. 391-393. Luther und Calvin hatten die Überzeugung verfochten, dass der Mensch selbst mit der Gnade Gottes die Gebote immer nur unzureichend erfüllen könne. Ebd., S. 393. Vgl. Summa theologiae II-II, 83. Vgl. Praelectiones Theologicae, Bd. 3, S. 191f. mit einem ausführlichen Zitat von Summa theologiae I-II, S. 109,9. In der Auseinandersetzung mit den jansenistischen Gedanken greift er Summa theologiae I-II, S. 109,6 wieder auf. Vgl. Praelectiones Theologicae, Bd. 3, S. 395f.
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habitualis). Doch bleibt er versuchbar und schwach, sein Wissen um sich und die Welt bleibt beschränkt und verdunkelt, blind. Er ist eben noch nicht im Stand der Vollkommenheit, wo er nicht mehr sündigen könnte. Um in dieser Situation menschlicher Begrenztheit und Anfechtung durch selbstsüchtige Tendenzen (Fleischlichkeit) das Gute nicht nur zu wollen (durch die gratia habitualis), sondern es auch tatsächlich tun zu können, bedarf es der weiteren, je aktuellen Hilfe Gottes (gratia actualis). Die habituelle Gnade eröffnet gleichsam den Weg des guten Handelns, die aktuelle Gnade hilft ihn zu gehen und zu vollenden. Auch die Gerechten bedürfen also weiterhin der Gnade Gottes. Die Mahnung Christi an seine Jünger, zu wachen und zu beten, ist die Mahnung an alle Gerechten, um Gottes Hilfe zu bitten, um nicht in der Versuchung zu fallen.22 Damit der Mensch das Gute fortsetzen, damit er im Guten bleiben kann, bedarf er immer wieder neu der Hilfe Gottes. Diese Hilfe ist keine bleibende Haltung, sondern je neu Geschenk. Der Weg zu diesem Geschenk ist die Bitte des Menschen. In diesem Sinn fordert Gazzaniga – im Anschluss an den Aquinaten – ähnlich wie Kollenetz das Gebet als Grundhaltung des Lebens, als Voraussetzung für ein Bestehen in den Bedrängnissen des Lebens.23 Er teilt aber nicht dessen Rigorismus, dass der Mensch von sich aus, überhaupt nichts vermöge.24 Erläuterungsbedürftig bleibt immer noch die Frage, weshalb der Mensch trotz dieser Gnaden und Gnadenangebote nicht immer das Gute tut. Als katholische Lehre arbeitet Gazzaniga heraus, dass der Mensch der Gnade auch Widerstand leisten könne.25 Das Festhalten an der grundsätzlichen Erfüllbarkeit der Gebote Gottes bedeutet nicht, dass dem gerechten Menschen immer die wirksame (gratia efficax) oder zumindest die unmittelbar und zunächst ausreichende Gnade (gratia sufficiens) gegeben ist, die Gebote zu erfüllen. Die Erfahrung spreche eindeutig dagegen.26 Als klassisches Beispiel dafür nennt Gazzaniga die Verleugnung des Petrus. Nach einer beinahe unendlichen Reihe von Zeugnissen der Väter bis hin zu den Theologen der jüngsten Zeit sucht er diesen Fall des Petrus damit zu erklären, dass diesem die wirksame Gnade fehlte, mit der er Christus folgen und auch in der Bedrängnis hätte bekennen können. Aus dem Zusammenhang mit der vorausgehenden Mahnung Jesu am Ölberg zur Wachsamkeit und zum Gebet und mit Jesu warnender Vorhersage der Verleugnung, glaubt Gazzaniga schließen zu können, dass Petrus Christus keinen Glauben schenken wollte und er die Gnade des Gebetes, die Möglichkeit, in der schwierigen Situation 22 23 24
25 26
Ebd., S. 193. Ebd., Diss. II c. VII, S. 206-224, wiederum mit zahlreichen Thomas-Zitaten. Gazzaniga orientiert sich hier an einem Mittelweg, den gemeinhin die Thomisten vertreten würden: Ohne besondere Gnade Gottes (sine peculiari Dei gratia) könne der Mensch nach dem Sündenfall einige leichtere Gebote Gottes erfüllen, jedoch nicht alle. Vgl. ebd., Diss. III c. V, S. 269-274, bes. S. 271. Er zitiert wiederholt aus Summa theologiae I-II, S. 109 (a. 4,8,9). Auch für die Erkenntnis des Menschen unterstreicht er die Verwiesenheit auf die Hilfe Gottes, doch reiche für die natürlichen Güter die schöpfungsmäßig, natürlich dem Menschen gegebene Hilfe, für die übernatürlichen Güter bedürfe es der speziellen Gnade Gottes. Vgl. Praelectiones Theologicae, Bd. 3, Diss. III c. IV, S. 264-269. Auch dies ist eine deutlich antijansenistische Position. Vgl. O’BRIEN, Jansen / Jansenismus, S. 505. Praelectiones Theologicae, Bd. 3, Diss. V c. II, S. 394.
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Gott, um Hilfe zu bitten, zurückgewiesen oder vereitelt habe. Die Verleugnung ist für ihn kein Akt, den Petrus aus Kälte begangen hätte, sondern aus Hochmut und Stolz; er glaubte, das, was er wollte, vollbringen zu können; er wies es zurück, Gott um größere Hilfe zu bitten. An dieser Argumentation zeigt sich, dass Stolz (superbia) und Selbstanmaßung (praesumptio) den Zugang zum Gebet verbauen. Nur aus einer rechten Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Grenzen – der klassische Begriff, den Kollenetz und Gazzaniga dafür verwenden, ist die Demut – weiß der Mensch die Chance des Gebetes zu nutzen. Kollenetz hatte diese Haltung dringend eingeschärft. – Thomas von Aquin zeigt als zweite Barriere die Verzweiflung; ein verzweifelter Mensch gibt ebenfalls die Hoffnung auf, durch Gebet eine Besserung bewirken zu können. – Diese Fehleinschätzungen des Menschen, das innere stolze Auf-sich-selbst-Bauen, wird es immer wieder geben. Gegen jeden moralischen Rigorismus und gegen ein letztes Verzweifeln angesichts der eigenen Sündhaftigkeit unterstreicht Gazzaniga unter Berufung auf das Tridentinum und Augustinus, dass Gott von uns keine solche Vollkommenheit verlange, dass wir gänzlich nicht mehr sündigten. Denn, wie das Tridentinum feststellte, „niemand kann im ganzen Leben sogar lässliche Sünden vermeiden“.27 Ebenso überzeugt ist Gazzaniga aber, dass Gott die Gerechten niemals gänzlich verlässt. So hat er auch Petrus nicht ganz verlassen, sondern ihm die ausreichende Gnade geschenkt, dass er, dum se perculsum sensit, den Stolz ablegen konnte und Gott um seine überreiche Hilfe bat, um nicht mehr zu sündigen.28 Gazzaniga hält fest – nun am anderen klassischen Beispiel, die Bitte des Paulus um Entfernung seines Stachels –, dass auch die Gerechten einen inneren Kampf erfahren im Bemühen, die Regungen ihrer Konkupiszenz zu bändigen. Wie die Erfahrung des Paulus zeigt, bleibt dem Menschen dieser Kampf, diese Anfechtung. Ebenso bleibend ist ihm aber die Hilfe, die Hoffnung auf die helfende Gnade Gottes, die der Mensch durch das Gebet erlangen kann. Unter Berufung auf Augustinus ist Gazzanigas abschließende Aufforderung diejenige zum täglichen Gebet. Dass der Mensch beten kann, ist bereits ein Geschenk Gottes. Niemand kann beten, „wenn er von aller Hilfe Gottes verlassen wäre“29 – ganz auch im Sinne des Aquinaten: Die Gnade befähigt, ermächtigt, ja nötigt zum Gebet, um im Guten verharren zu können. In den Gefährdungen des Lebens, im Risiko gibt es keine andere Hilfe als das hoffende, bittende Festhalten an Gott, stets neu.
27 28 29
Ebd., S. 397. Die Ausnahme ist allein die durch besonderes göttliches Privileg davor bewahrte Mutter Jesu, Maria. Ebd., S. 399. Ebd., S. 404.
Reflexionen über das Gebet in theologischen Lehrbüchern der Aufklärung
1.2.
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Die „Institutiones theologiae dogmaticae“ des Engelbert Klüpfel
Um vieles straffer und damit auch weniger umfangreich als Gazzaniga konzipiert Klüpfel sein Lehrbuch „Institutiones Theologiae Dogmaticae in Usum Auditorum“.30 In seiner Einleitung spricht er – ähnlich wie Gazzaniga – die starken religionskritischen Bemühungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart an. Zu dieser Richtung wie auch zur Gegenbewegung, die alles Neue ablehnt, sucht Klüpfel, einen Mittelweg einzuschlagen. Er bekennt sich zu einer Liebe allein zur Wahrheit, ohne Furcht gegen die Drohungen der einen und die Angriffe der anderen.31 In seiner Darstellung verbindet er wie Gazzaniga die dogmatische mit der polemischen, apologetischen Zielsetzung, was er rein sachlich für gerechtfertigt hält, da einzelne Positionen nur aus der Gegnerschaft zu verstehen seien.32 Sein Bemühen gilt der Konzentration auf das Wesentliche; müßige Fragen und überflüssige Wortstreitereien, die nur den Frieden störten, die Ehrfurcht verletzten und wertvolle Zeit stehlen, habe er weggelassen.33 In entschiedener apologetischer Abweisung derjenigen, die die Glaubensdogmen und Mysterien des christlichen Glaubens für unnütz halten, ist es ihm ein besonderes Anliegen, den praktischen Nutzen „ad pietatem et virtutis studium excitandum, fovendumque“ aufzuzeigen. Denn Gotteserkenntnis muss mit moralischer Rechtschaffenheit und Heiligkeit des Lebens verbunden sein.34 Für den Aufbau bekennt er sich zu Augustins im Kampf gegen den Pelagianismus bewährten System: de homine instituto, destituto et restituto,35 d.h., es findet sich ein auf den Menschen blickender Zugang. Während Gazzaniga seine Darstellung in den „Praelectiones“ unmittelbar mit der Gotteslehre begann, schickt Klüpfel als Prolegomena grundlegende Reflexionen über die Theologie als Wissenschaft voraus (natürliche und übernatürliche Religion als Grundlage, ihre Quellen und Prinzipien, Unterscheidung der Aufgaben der dogmatischen und polemischen Theologie). Er folgt damit dem auf Rautenstrauch zurückreichenden vorgeschriebenen Grundriss.36 Die Kurzdefinition von Theologie als „facultas cognoscendi tradendique religionem“37 führt ihn zur Unterscheidung der Religion in einen theoretischen Vollzug, die Erkenntnis der göttlichen Dinge, und in einen praktischen Vollzug, den religiösen Kult. Er knüpft nun aber nicht sofort an die theoretische Dimension an, wie bei einer knappen theologischen Grundlegung zu erwarten wäre, sondern beschreibt sein Verständnis des Kultes: Wir ehren Gott, wenn wir in angemessener Übereinstimmung mit unseren richtigen Erkenntnissen über Gott und unserer Bezogenheit auf ihn leben und handeln. Die Erkenntnis der Wahrheit hat unmittelbar ethische Bedeutung. Das nächste Ziel der Religion, die Haltung der Ehr30 31 32 33 34 35 36 37
Ich habe die Ausgabe in 2 Bänden, Wien 1789, benutzt. Engelbert KLÜPFEL, Institutiones Theologiae Dogmaticae, Bd. 1, Wien 1789, Vorwort, S. 2f. Ebd., S. 3-4. Ebd., S. 4f. Ebd., S. 5. Ebd. Dieser Grundriss ist aufgeführt bei BANTLE, Unfehlbarkeit der Kirche, S. 25. KLÜPFEL, Institutiones Theologiae Dogmaticae, Bd. 1, S. 4.
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furcht (Pietas), identifiziert Klüpfel mit der Liebe zu Gott und dem Nächsten.38 Nicht kultisch-religiöse Vollzüge stehen im Zentrum, sondern die Ethik – ein deutlich aufklärerischer Zug. Die Möglichkeit, Gott zu erkennen, freilich niemals vollkommen, und entsprechend zu leben, zeigt Klüpfel als identisch mit der Möglichkeit, Gott zu verehren, in expliziter Apologie gegen eine völlige Ablehnung durch einen anonymen Aufklärer.39 Mit der Möglichkeit ist auch die sittliche Verpflichtung zur Gottesverehrung gegeben.40 In einer kurzen Konkretisierung ist es Klüpfels Anliegen, bei aller Betonung der geistigen Akte der Gottesverehrung, die die eigentliche Mitte darstellen, klar die Notwendigkeit äußerer Akte zu verteidigen. Es ist für ihn ein natürliches Geschehen, dass ein innerer Affekt auch äußerlichen Ausdruck sucht. Entschieden unterstreicht er, dass nicht Gott des äußeren Kultes bedarf, sondern der Mensch: zum Wachsen der inneren Verehrung, zum Vorbild für andere, zur eigenen Freude. Nicht Hindernis für die wahre, innere Verehrung Gottes sind die äußeren Akte, sondern Ausdruck und Stärkung. Für die Gestaltung fordert er, ganz in aufklärerischer Zielsetzung, als Kriterium die Einfachheit, den Ernst, die Reinheit (das Fehlen von Aberglauben); nur so sei es eine Gott würdige Verehrung. Bei diesen Darlegungen, in denen Klüpfel zwar gegnerische Positionen nennt, kaum jedoch Autoritätsstützen für seine eigene Argumentation (nur einmal Augustinus) gibt er Beispiele für die äußeren und inneren Akte der Gottesverehrung, das Gebet wird direkt nicht genannt.41 Entscheidend ist ihm bei diesen einleitenden Überlegungen, die Leser (an Leserinnen hat er wohl nicht gedacht) auf die innere Zusammengehörigkeit von Gotteserkenntnis, d.h. auch aller folgenden theologischen Reflexionen, und praktischer Gottesverehrung hinzuweisen. Für die Praxis hat er in deutlich aufklärerischem Bemühen primär die inneren Haltungen im Blick; das Bitten als eine menschliche Grundhaltung wird dabei nicht angesprochen. Auch in der folgenden systematischen Darstellung der dogmatischen Grundlagen findet das Gebet keine eigene Behandlung.42 Als Abschluss seiner Ausführungen zum 38 39
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Ebd., S. 5f. Ebd., S. 7f. Er zitiert das Buch: Code de la nature, 1760. Die Möglichkeit einer Gottesverehrung zu leugnen, hat zur Konsequenz, den Unterschied zwischen Gut und Böse aufzuheben. Der Gottesgedanke ist nach Klüpfel das Fundament der Ethik. Ebd., S. 8-10. In ebenfalls aufklärerischer Weise zieht er als Analogie die Anerkennung und Verehrung heran, die weltliche Herrscher finden (ebd., S. 8f.). Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt ist ihm auch das Argument gegen Religionskritiker, die den Ursprung der Religion in der Furcht des Menschen, in Unwissenheit, Erziehung, Vorurteilen oder in der „astutia“ der Priester und Gesetzgeber oder auch in der freien Verfügungsgewalt des Menschen sehen. Demgegenüber betont Klüpfel die natürliche Religiosität des Menschen (vgl. ebd., S. 9f.). Als innere Akte nennt er: „Glaube, Hoffnung, Liebe, Gottesfurcht, Dankbarkeit und Gehorsam, Gleichgestaltung unseres Willens mit dem Willen Gottes und alle anderen derartigen Pflichten, die allein mit den geistigen Kräften ausgeführt werden.“ An äußeren Akten, bei denen geistige und körperliche Kräfte zusammenwirken, zählt er auf: ehrende Reden (Predigten) über Gott, geistliche Gesänge, zum Lob Gottes und sonst an Gott gerichtete Dienste. Vgl. ebd., S. 10f. Klüpfel wählte für seine Ausführungen folgenden Aufbau: Buch I: De Deo et homine ad imaginem Dei creato (Eigenschaften Gottes, Trinitätslehre, Schöpfungslehre); Buch II: De Deo humani generis Redemptore (Sündenfall, Alter Bund, Christologie, Ekklesiologie); Buch III: De Deo felicitatis largitore (mit Gnaden- und Sakramentenlehre).
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Leben, Sterben, Auferstehen Christi hält er gemäß Rö 8,34 fest, dass Christus bleibend mit seinen Verdiensten beim Vater eintritt, zum Heil der Menschen und zur Vergebung der Sünden.43 Diese Fürbitte Christi, die nicht vergleichbar ist seinem demütigen Bitten am Ölberg, ist für Klüpfel gleichsam veranschaulichender Ausdruck des Heilswirkens Jesu. Im Kontext der Gnadenlehre, in dem Gazzaniga am ausführlichsten zum Gebet gehandelt hatte, finden sich bei Klüpfel nur kurze Hinweise. Im Unterschied zu Gazzaniga ist sein Ziel nicht eine möglichst umfassende Einführung der Schüler in die entscheidenden Diskussionen der Gnadenlehre, sondern in extremer Knappheit sucht er die Grundlinien der Gnadenlehre herauszuarbeiten.44 Um „Notwendigeres“ (magis necessaria) darlegen zu können, übergeht er viele theologische Diskussionen um Einzelfragen, insbesondere auch die bei Gazzaniga breit verhandelte Kontroverse um den ersten verurteilten Satz des Jansenius oder um Spezialfragen zur Perseveranz, zwischen den von ihm gezeichneten drei Hauptrichtungen: den Molinisten, Thomisten und Augustinianern.45 In auffallender Weise zitiert er kein einziges Mal Thomas von Aquin; Augustinus ist ihm die theologische Autorität neben den Konzilien. Insbesondere bemüht er sich um eine biblische Fundierung. In Entsprechung zu seinen einleitenden Überlegungen zur Theologie und Religion überzeugt ihn – wie auch andere katholische und auch protestantische Theologen – die augustinische Definition der aktuellen Gnade: Sie ist eine Erleuchtung des Intellekts und eine Bewegung des Willens, sind es ja gerade die Unwissenheit und die Konkupiszenz, die uns vom Guten wegziehen.46 In der Grundlinie des Gazzaniga bewegt sich Klüpfel, wenn er einige weitere Aspekte anreißt: Da der Mensch gegen die Gnade auch Widerstand leisten kann, kann sie unwirksam sein.47 Keinem gerechten Menschen, der sich bemüht und guten Willen hat, fehlt aber die Gnade (gratia sufficiens), denn der gute Wille und das Bemühen stammen bereits aus der göttlichen Gnade.48 Um bis zum Ende im Guten ausharren zu können, bedarf es eines besonderen Geschenkes, der göttlichen Gabe der Perseveranz, die der Mensch von Gott erbitten soll, wie 1 Petr 5,10 und Augustinus betonen.49 Nicht nur die Vollendung stammt von Gott, sondern auch der Anfang allen guten Wirkens, auch der Anfang des Glaubens; in Ablehnung jeglichen Pelagianismus und Semipelagianismus unterstreicht Klüpfel mit Augustinus, dass der Mensch auch sein Herz ohne die Hilfe Gottes nicht bereiten kann; diese zuvorkommende Gnade fehle aber keinem Menschen, außer als Strafe für eine vorausgehende Sünde.50 Was Gazzaniga in Heranziehung der klaren Differenzierungen des Aquinaten herausarbeitet, bleibt bei Klüpfel undeutlich: das 43 44 45 46 47 48 49 50
KLÜPFEL, Institutiones Theologiae Dogmaticae, Buch II, c. XC, Bd. 2, S. 178. Ebd., Buch III, c. X-XXVI, Bd. 2, S. 254-288. Dabei gibt er einen gedrängten Überblick über die Geschichte der Irrtümer in der Gnadenlehre, vgl. ebd., S. 260-270. Vgl. z. B. ebd., Buch III, c. XXII, Bd. 2, S. 283f. Ebd., c. XIII, Bd. 2, S. 259. Ebd., c. XVI-XVIII, Bd. 2, S. 272-278. Ebd., c. XXII, Bd. 2, S. 283f. Ebd., c. XXI, Bd. 2, S. 282f. Ebd., c. XIX, XX, Bd. 2, S. 277-281.
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Gebet als eine notwendige Ergänzung zum von der Gnade getragenen Wirken des Menschen. In zwei von den vier praktischen Konsequenzen (usus) aus der Gnadenlehre – Klüpfel schließt damit jeden Traktat ab –, weist Klüpfel hin auf die Notwendigkeit des Gebetes: „Weil aber im Menschen ohne göttliche Gnade überall Dunkelheit, überall Elend ist und weil die Frucht eines guten Werkes nur zu erhoffen ist, wenn sie aus der Wurzel der Gnade hervorgeht, muss man Gott mit demütigen und kontinuierlichen Gebeten bitten, dass wir das erreichen, was das Gesetz befiehlt, und dass er, unser Schöpfer, uns nicht verlässt.“ „Gott ist treu, der sagt: ‚Bittet und ihr werdet empfangen.’ Derjenige ist sicher, der sich ganz Gott, der uns zuerst geliebt hat (1 Joh 4,19), anvertraut. Wer hofft, soll sich hüten, sich nicht zu übernehmen (nicht zu viel von sich zu erwarten: praesumere). Phil 2,12: ‚Mit Furcht und Zittern wirkt euer Heil.’“51 In dieser Zusammenfassung klingen Gegensatzpaare an, wie sie Kollenetz in seiner Predigt reich ausgebaut hat: die vollständige Dunkelheit und das Elend des Menschen. Was die subtilen Gnadendiskussionen differenzieren wollten, das Zusammenwirken von natürlichen Kräften des Menschen, von natürlichen Gnadengaben Gottes getragen und der Gnadenhilfe Gottes, Feinheiten, die in den vorausgehenden Ausführungen durchaus angesprochen wurden,52 ebnet Klüpfel abschließend wieder ein. Im Vergleich der Ausführungen von Gazzaniga und Klüpfel in ihren einflussreichen dogmatischen Lehrbüchern zeigen sich bezüglich der Berücksichtigung des Gebetes Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede: Beide reflektieren nicht eigens und systematisch über das Gebet. Für beide ist Augustinus eine wichtige Autoritätsstütze. Gazzaniga orientiert sich aber auch sehr an den Argumentationen des Thomas von Aquin. Wenngleich er sich von diesem nicht zu einem eigenen Gebetstraktat, wie er in der Summa theologiae vorliegt, inspirieren lässt, bewegen ihn die thomanischen Ausführungen dazu, das Gebet als Basis für ein Bleiben in der Gnade, für die je neue praktische Realisierung des von Gott Verheißenen und habituell Geschenkten zu unterstreichen. Sein grundlegender Wert als Grundhaltung der Hoffnung wird deutlich. Hingegen kommt bei Klüpfel das Gebet in dieser Prägnanz nicht in den Blick. Es ist ihm als religiöser Vollzug natürlich selbstverständlich, wurde auch von seinem theologischen „Inspirator“ Augustinus herausgestellt, in seiner strukturellen Bedeutung als zum Wirken des Menschen korrelativer Basisvollzug, wie es von Gazzaniga im Anschluss an Thomas betont wurde, wird es nicht angesprochen. Klüpfel ist am Zusammenhang von Gotteserkenntnis, Gottesliebe und Ethik, den Inhalten der Gottesverehrung, gelegen, er zeigt aber nicht das Gebet als eine Art Knotenpunkt.
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Ebd., c. XXVI, Bd. 2, S. 288. Vgl. ebd., c. XIX, Bd. 2, S. 278: „Nos arbitramur, nil obstare, quo minus asseratur, ad opera naturalia aut moraliter tandumodo bona et hosesta satis esse gratias naturales. Sed nolumus eum quoquam contendere.“
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Bei Gazzaniga kommt nur am Rande die Dimension des Vertrauens zu Sprache, bei Klüpfel höchstens andeutungsweise in den praktischen Konsequenzen: Gebet wird als ein Weg des Vertrauens in der Gefährdung, im Risiko, das das Leben darstellt. Ein Weg, um in diesem Vertrauen zu wachsen. Ein Weg, um in eine Freundschaft mit Gott hineinzuwachsen, so dass das Gebet nicht mehr nur aus Bedürftigkeit gesucht wird, sondern aus der Liebe zu Gott, aus dem Wunsch, mit ihm wie mit einem Freund, einer Freundin zu sprechen. Dazu wäre wohl eine systematische Darstellung nötig gewesen. War aber dafür der Platz nicht mehr in der Dogmatik, sondern in der Moraltheologie. Daher abschließend ein Blick auf das moraltheologische Lehrbuch der Zeit von Simon Sobiech:
2.
Gebet in praktischer Perspektive: das moraltheologische Lehrbuch von Simon Sobiech
Simon Sobiech, Professor für Moraltheologie in Breslau, verfasste ein Kompendium der Moraltheologie für die Seelsorger. Für ihre Aufgabe als Richter, Arzt und Lehrer im psychischen Bereich hält er es für unerlässlich, dass sie die notwendigen moraltheologischen Kenntnisse vertiefen.53 In einem komprimierten, aber vollständigen, klar und einfach geschriebenen Bändchen will er es ihnen erleichtern, sich die moraltheologischen Grundlagen mit wenig Mühe und in kurzer Zeit aufzufrischen, klagten die Seelsorger doch, dass sie aufgrund ihrer vielen Aufgaben für das Studium zu wenig Zeit hätten.54 Im Aufbau gibt Sobiech zunächst eine moraltheologische Grundlegung mit Erläuterungen zur Handlungsfreiheit des Menschen, zur Beurteilung der moralischen Gutheit einer Handlung (mit der Circumstantienlehre), mit Ausführungen über das Gewissen, über Gesetz und Epikie sowie über die Sünde.55 Um zentrale christliche Werte darzustellen, folgt er dem Aufbau des Dekalogs.56 Ein zweiter Hauptteil widmet sich Fragen der Sakramentenlehre und abschließend den verschiedenen Formen von Kirchenstrafen.57 Über das Gebet handelt er im Kontext des ersten Gebotes: An erster Stelle hatte er hierzu die drei theologischen Tugenden erläutert.58 Die Religion, d.h. die Gottesver53
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Simon SOBIECH, Compendium, Praefatio IV: „[…] ut quamvis pro menere pastorali approbati et idonei reperti, magis ac magis in scientia necessaria proficere non desinant, et semel saltem singulis annis principia Theologiae moralis legendo percurrere non intermittant.“ Ebd., Vf. Ebd., c. I-V, S. 1-53. Ebd., c.VI-XIII, S. 88-171. Ebd., Pars II, c.I-IX, S. 172-318. In der Suche nach Aussagen zum Gebet sind oft die Ausführungen zur Hoffnung interessant, denn auch Thomas von Aquin und in der Folge einige Kommentatoren hatten hierzu das Gebet einbezogen. Sobiech übernimmt in seinen Ausführungen zur Tugend der Hoffnung die Grundzüge des Thomas, doch nirgends wird das Gebet erwähnt. Er schließt mit einer deutlich antipro-
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ehrung, schließt sich an: sie sei aber nicht als eine theologische, sondern als eine moralische Tugend, freilich als die vorzüglichste von allen, zu beurteilen.59 In dieser kurzen Notiz bündelt Sobiech eine Diskussion, die bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht. Gemäß scholastisch-aristotelischer Logik unterscheidet er zwischen dem Materialobjekt der Gottesverehrung, den inneren und äußeren Akten, in denen die vernunftbegabte Kreatur die Erhabenheit Gottes (Dei excellentia) bezeugt, und dem Formalobjekt, dem speziellen Ehrerweis, der darin Gott geleistet wird.60 Wenngleich Sobiech bei diesen und den folgenden Erläuterungen nirgends Autoritäten und selten Schriftstellen nennt, gehen die Hauptaspekte der Ausführungen zur Religio eindeutig auf Thomas von Aquin zurück, reduziert auf Weniges.61 Der erste und grundlegende religiöse Akt ist ihm die „devotio“, die willentliche Entschlossenheit und Bereitschaft, Gott zu dienen und ihm alles, was seiner Verehrung dient, darzubringen.62 Nicht das Gebet nennt er wie Thomas in notwendiger Komplementarität als zweiten Akt, sondern die Anbetung (adoratio): Sie ist ihm der mit der Devotio korrespondierende äußere Akt, der die innere Unterwerfung anzeigt.63 Die Verehrung im strengen Sinn (die latria) kommt allein Gott zu: Der unendlichen, ungeschaffenen Erhabenheit Gottes leistet der Mensch seine tiefste Unterwerfung; er anerkennt Gottes höchste Herrschaft in allen Dingen. Wie in den Predigten des Kollonetz werden hier Gegensätze deutlich, die in Zusammenhang mit der Tugend der Gottesverehrung auch bei Thomas betont werden: Es ist der Versuch, den unendlichen, konstitutiven Abstand zwischen Geschöpf und Schöpfer anzudeuten.
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testantischen Aussage: Das Vertrauen, allein durch den Glauben ohne Werke gerettet werden zu könne, ist eine Selbstüberschätzung (praesumptio), die eine Todsünde darstelle, biete nicht ein defectus plenae deliberationis einen Entschuldigungsgrund. Vgl. ebd., c. V §6, S. 66f. Ebd., c. V, §8, S. 70. Mit einer unpräzisen Formulierung spricht Sobiech in der Überschrift „De virtutibus Religionis“. Mit dem Plural scheint er an die der Religion zugeordneten Akte gedacht zu haben. In der Durchführung spricht er bei diesen jedoch zu Recht nie von Tugenden, sondern von Akten der Tugend der Gottesverehrung. Ebd. Ähnlich wie bei Thomas folgen im Anschluss an die Akte der Religio die der Religio entgegengesetzten Laster (Aberglauben, Sakrilegien, Simonie. Vgl. ebd., S. 73-90). Unter dem zweiten Gebot folgen die Akte der Blasphemie, des Schwörens und des Gelübdes, ersteren hatte Thomas unter die der Religio entgegengesetzten Laster gefasst – auch bei Sobiech ist es gleichsam das Bindeglied –, letztere gliederte er den religiösen Akten unter (S. 90-103). Der Abschluss ist das dritte Gebot des Dekalogs (S. 104f.). Den Zusammenhang zwischen Dekalog und der Tugend der Religio hatte Thomas nicht hergestellt, sondern er behandelt sie in Zuordnung zur Kardinaltugend der Gerechtigkeit. Das Schema des Dekalogs war für Sobiech sicher durch die bewusste Ausrichtung an der pastoralen Praxis als das hilfreichere gewählt worden. Ebd., S. 70f. Vgl. Summa theologiae II-II, 82. Gemäß der klassischen Einteilung unterscheidet er zwischen der Latria, der Hyperdulia (der besonderen Verehrung Mariens), der Dulia (die Verehrung aller anderen Heiligen) und der Politiae, der Verehrung von Fürsten und anderen höhergestellten Pesonen. Vgl. SOBIECH, Compendium, S. 71.
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Die Religio ist der Akt, in dem das Geschöpf diesen Abstand anerkennt und bekennt.64 Als dritten religiösen Akt behandelt Sobiech das Gebet, das er als eine Erhebung des Geistes zu Gott bestimmt, und zwar mit einem dreifachen Ziel: um die Abwehr von Übeln zu erbitten, um Gutes für uns und andere zu erbitten, um Gott zu lobpreisen.65 Bitt- oder Lob- und damit wohl auch eingeschlossen das Dankgebet spricht Sobiech an. Über die formale Unterscheidung von mentalem und vokalem Gebet hinaus erwähnt Sobiech nur, dass das mentale Gebet immer die Grundlage sein müsse. Für die Pastoral von Bedeutung ist die Frage, wann ein Gebet Frucht bringe. Sobiech schärft als Bedingungen ein, dass es fromm und sittlich gut sein müsse, nur dann sei es ein religiöser Akt, dass es mit einer Intention, mit Aufmerksamkeit, Glaube, Demut, Vertrauen, Hingabe geschehen müsse und sich nur auf die notwendigen Dinge beziehen dürfe. Implizit lehnt er damit alles Wortgeplapper, alle leeren Phrasen ab. Die Notwendigkeit des Gebetes hängt für Sobiech – wie für seine Kollegen in der Dogmatik – mit der Notwendigkeit der Gnade für den Menschen zusammen. Sehr pauschal formuliert er, dass Gnade nur den Betenden gewährt werde.66 Dass er den Zusammenhang wenig reflektiert, macht die folgende adversative Einschärfung deutlich: die Verpflichtung zum Gebet bestehe aber noch häufiger, insbesondere in der Zeit der Versuchung.67 Ist es hier nicht ein Bitten um den Gnadenbeistand Gottes, wie die vorgestellten Dogmatiker so eindringlich betonten? Sobiech schließt mit dem Hinweis, dass der Mensch für alle bitten müsse, solange sie noch nicht am Endpunkt – gemeint sind dabei „Himmel“ und „Hölle“, nicht jedoch der „Reinigungsort“ – angekommen sind.68 Sehr knapp und bezogen auf die für die pastorale Praxis wichtigsten Aspekte sind Sobiechs Ausführungen über das Gebet; er hält ein, was er im Vorwort versprochen hatte. Nicht eine Unterweisung über geistlichen Wert und Schönheit des Gebetes noch eindrückliche Warnung vor Missständen zielt er an, sondern Orientierung für die Seelsorger in den Grundlinien: Inhalt, Haltung, Notwendigkeit des Gebetes. In der Kürze sind die Hinweise oft sehr auf das Formale reduziert, beschreiben Idealzustände. Schwierigkeiten der Praxis, z. B. das Problem des häufigen Abschweifens beim Beten, das im Gegensatz zur geforderten Grundhaltung steht, Zweifel und Klagen im Gebet bleiben ausgeklammert. Vereinfachenden Aussagen können bei wenig gebildeten Seelsorgern auch zu unguten Vereinseitigungen geführt haben.
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Ebd. Vgl. auch Summa theologiae II-II, 81. Die Definition der „elevatio mentis in Deum“ gibt Thomas unter Verweis auf Johannes von Damaskus ebenfalls in Verbindung mit dem Aspekt des Bittens (petitio decentium a Deo). Das Bittgebet betont er als das grundlegende Gebet. Vgl. ebd., 83,2, 16. Das Lobgebet behandelt er extra. Ebd., 109. SOBIECH, Compendium, S. 72. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 74.
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Die Religion wird in den Dienst genommen für den Aufbau einer politisch verfassten Zivilgesellschaft, die Gläubigen stehen in der Gefahr, indirekt zu Objekten staatlicher Politik zu werden. Dabei müssen freilich die sozialen und religiösen Aufgaben keineswegs immer in Widerspruch geraten oder in ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis treten: Mit der Festigung entsprechender religiöser Überzeugungen, die auch das Handeln der Gläubigen prägen sollen, werden auch ökonomische, gesellschaftliche Wirkungen erzielt. Wie Wohl und Wehe der Familie mit dem Hausvater steht und fällt, so Wohl und Wehe der Menschen schlechthin mit dem Glauben an Gott Vater. Der gute Pfarrer führt seine Pfarrkinder zur ewigen Glückseligkeit und zur irdischen Wohlfahrt; er gibt ihnen ein Beispiel der Rechtschaffenheit und hält sie dazu an; er reinigt die Gottesvorstellung und erweitert die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis. Aufklärung ist also im kirchlichen Raum nicht zu einer bloßen Form sozialer Kontrolle degeneriert; es ist zu pauschal, die Priester mit den Beamten gleichzusetzen. Der Mensch soll ein rechtschaffener werden, innerlich rein, nach außen hin demütig, die wilden Leidenschaften zähmend, zivilisiert, trotz seiner schwachen Natur – hier zeigt sich entgegen allem aufklärerischen Optimismus bei den untersuchten Theologen eine augustinisch, jansenistisch begründete pessimistische Einstellung gegenüber dem Menschen: Er braucht das Gebet gegen die mannigfaltigen Versuchungen. Dem schwachen Menschen steht in unnahbarer Majestät und Vollkommenheit Gott gegenüber – ihm bezeugt der Mensch seine Reverenz im Gebet, ihn muss er um Gnade bitten – Aspekte des Absolutismus werden ins Religiöse übertragen, der irdische Absolutismus dadurch bestärkt. Entsprechend sollen auch die Gottesverehrung und die Spiritualität gestaltet sein: Einfach und konzentriert; sie sind nicht Selbstzweck, sondern sollen ethische Konsequenzen haben: Die christliche Botschaft soll sich in der sich neu formierenden Gesellschaft bewähren, soll diese Umgestaltung unterstützen. Diese Anfragen und Aufträge spiegeln sich auch auf der Ebene der Theologie wider: in der Verschiebung der Schwerpunkte von der Dogmatik zur Moral.
Rainer Bendel
AUFKLÄRUNG UND ÖKUMENE
Ich benutze hier ganz bewusst den Titel der Dissertation von Christopher Spehr, des Kollegen für Kirchengeschichte in Jena, der die Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts untersucht hat.1 Ich benutze diesen Titel ohne ausführlich das Thema „Ökumene“ an dieser Stelle zu reflektieren und damit auch die Berechtigung zu klären für diese Versuche, über die eigenen Konfessionsgrenzen hinaus zu gehen und in Kontakt mit den anderen zu kommen, den Begriff Ökumene anzuwenden.2 Ich möchte Ökumene hier verstanden wissen im Sinne von Begegnungen zwischen den Konfessionen, geprägt von einem höheren Maß an Toleranz, die wiederum Konsequenz der Devise ist, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle. Zeitlich und thematisch zu verorten ist diese Phase der Öffnung zwischen den Konfessionen, zwischen der Konfessionalisierung und der Neokonfessionalisierung im 19. Jahrhundert. Diese Offenheit schlägt sich nieder – ich gehe jetzt aus von der Catholica – in den katholischen Zeitschriften, im Kirchengesang, in den Frömmigkeitsformen, in der Wertschätzung der Heiligen Schrift – gerade auch für die Predigt –, in der Apologetik. Es ist eine Phase der offeneren Wahrnehmung der anderen Konfessionen. Wenn man auch das Nebeneinander als Konkurrenz empfunden hat, war das ein Konkurrieren des sich gegenseitig Anregens, des von einander Lernens, des Ansporns, weniger des bis dato bekannten und später wieder aufgegriffenen polemischen Ausgrenzens. Man konstatierte eine Begegnungsfläche, ein Begegnungsforum im Reformgedanken, der ernsthaften Auseinandersetzung und Beschäftigung mit der Geschichte, im gemeinsamen Beitrag, den man für die Bildung, für das Schulwesen, etc. leisten will. Ich möchte hier vier solcher Ansätze vorstellen, die geographisch in unserem, in diesen Tagen hier behandelten Raum bleiben und vier solcher neuen Begegnungsmöglichkeiten herausgreifen. Die erste ist die neue Wahrnehmung der anderen Konfession, wie sie sich im „Dioecesanblatt für die Fürstbischöflich Breslauer Dioeces“ widerspiegelt, das von
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Christopher SPEHR, Aufklärung und Ökumene – Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005. Zum Thema Ökumene in historischer Perspektive vgl. etwa Reinhard FRIELING, Der Weg des ökumenischen Gedankens, Göttingen 1992.
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1803 bis 1820 im Bistum Breslau erschienen ist und auch offizielles Mitteilungsorgan, kirchliches Amtsblatt der Diözese in diesen Jahren war.3 Ein zweites Begegnungsforum ist die Zeitschrift „Religion und Priester“, die für kurze Zeit in Prag erschienen ist und sich auch dem Thema „Toleranz und Reunion“ gewidmet hat. Ein dritter Aspekt ist der Versuch, Franz Stephan Rautenstrauch für ein reunionistisches Sozietätsprojekt zu gewinnen. Viertens kommt man nicht umhin, im Kontext dieses Themenschwerpunktes auch auf den Breslauer Fürstbischof Sedlnitzki zu verweisen. Damit sind vier verschiedene Beispiele aus unterschiedlichen Ebenen und Kontexten herausgegriffen: Ein Publikationsorgan mit relativ großer Reichweite, weil es sich an die Priester, also an Multiplikatoren, wandte, die Initiative von Zirkeln und einer kurzlebigen Zeitschrift – auch das für die Zeitspanne signifikante Erscheinungen und nicht zuletzt ein spektakulärer Einzelfall, die Konversion eines Amtsträgers.
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Der entpolemisierte Blick auf die Kirchengeschichte und die andere Konfession
Themen der schlesischen Kirchengeschichte hat vor allem einer der Hauptherausgeber des Diözesanblatts, Johann Schöpe, in seinen Aufsätzen aufgegriffen. Er wollte mit seinen Beiträgen die seelsorgerlichen Reformen im Bistum Breslau geschichtlich untermauern; der Nachweis, dass Reformbestrebungen bereits in früheren Zeiten zu verzeichnen waren, legitimiert die zeitgenössischen und kann sie anregen. Eines der Hauptthemen der kirchengeschichtlichen Untersuchungen Schöpes bildet das 18. Jahrhundert, reichten doch aus diesem zahlreiche Einrichtungen in die Gegenwart herüber. Johann Schöpe4 stammte aus dem Bistumsland, er wurde am 21. Februar 1768 in Neisse geboren. Sein Vater war dort Lehrer an der katholischen Elementarschule. Die Grundlagen seines Studiums legte Schöpe am Jesuitengymnasium seiner Vaterstadt und ging dann zum Studium nach Breslau. Unmittelbar nach seiner Priesterweihe 1790 trat er in die Dienste des Generallandschaftsdirektors Graf Schaffgotsch auf Niederpomsdorf und Neuhaus als Erzieher seiner drei Söhne. Diese Aufgabe erfüllte er zunächst in Breslau, dann trat er mit seinen Schülern eine ausgedehnte Reise nach Frankreich, das eben die ersten Wirren der Revolution überstanden hatte, und in der Folge nach England an. Der junge Priester nutzte diese Zeit, um seine eigenen philosophischen und theologischen Studien zu vertiefen und um sich Kenntnisse in der französischen und englischen Sprache anzueignen. Er promovierte in Breslau in Phi3
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Dazu Andreas MIKSA, Diöcesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Diöces 18031820, Sigmaringen 1988. – Rainer BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 1996. Rainer BENDEL, Johann Schöpe (1768-1839). In: Schlesische Lebensbilder, Bd. 7, Stuttgart 2001, S. 156-159.
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losophie und Theologie, studierte dann noch Jura und promovierte auch in diesem Fach in Frankfurt/Oder. Das naturwissenschaftliche Interesse Schöpes manifestierte sich in einer umfangreichen Sammlung von Mineralien und botanischen Elaboraten. Nachdem Schöpe 1798 Benefiziat an der kurfürstlichen Kapelle am Breslauer Dom geworden war und ihm zugleich das Amt eines Sekretariatsadjunkts am fürstbischöflichen Generalvikariatamt übertragen worden war, verlief seine Karriere rasch und steil: Er wurde Assessor der fürstbischöflichen Schulenkommission, Kanonikus der Kollegiatstifte in Oppeln und Neisse, nach der Säkularisation 1810 Mitglied der königlichen Pfarreiorganisationskommission sowie 1812 Domherr und Generalvikariatsamts- und Konsistorialrat. In der Folgezeit avancierte er zum ersten Sekretär des fürstbischöflichen Generalvikariatsamtes und wurde als solcher mit den vielfältigen Verwaltungsaufgaben des großen Bistums vertraut. 1838 wurde er zum Domdechanten und fürstbischöflichen Generalvikar berufen. Während der langen Sedisvakanzen des Breslauer Bischofsstuhles lag überdies die Leitung des Bistums quasi in Schöpes Händen. Dass auch die staatliche Seite seine Verdienste anerkannte, zeigte die Verleihung des Roten Adlerordens. Neben seiner Verwaltungstätigkeit dürfte sein Einsatz im Diözesanblatt für das geistige Klima im Klerus Schlesiens die nachhaltigste Wirkung erzielt haben. Schöpe hat dieses Organ für den Klerus der Diözese 1803 mitbegründet und bis 1820 mit herausgegeben. In seinen Beiträgen zur vaterländischen Kirchengeschichte wollte er den Sinn wecken für ein Selbstbewusstsein der Teilkirche des Bistums Breslau und für ihre Vergangenheit. Er hat ein Forum mitgetragen, das eine moderate Öffnung zu den Zeitströmungen gewagt hat. Schöpe bedauerte dabei, dass das Bistum noch kein vollständiges, gründliches Werk über die Geschichte der katholischen Kirche in Schlesien kennt, und geht auf das Verhältnis zu den anderen Religionsgenossen im 18. Jahrhundert ein. Breit zitiert er die Quellen in seiner Schilderung der Ereignisse, die sich vor allem auf die Zwangsrekatholisierung in manchen schlesischen Gegenden konzentrieren und auf die sich daraus ergebenden Spannungen bis hin zur Altranstädter Konvention 1709.5 Naturgemäß nimmt dann der Herrschaftsübergang in Schlesien an Preußen einen breiten Raum ein. Schöpe deutet die Besorgnis der schlesischen Katholiken 1740 an, zitiert aber sehr bald das Patent Friedrichs II., nach welchem die bisherigen Freiheiten und Privilegien in Religionssachen garantiert wurden. Einen Meilenstein für ein tolerantes Zusammenleben der unterschiedlichen christlichen Konfessionen in Schlesien bedeutete für ihn der Hirtenbrief des Fürstbischofs Sinzendorf vom 28. August 1742, in der er an die Geistlichkeit appellierte, dass sie sich in den Predigten und im christlichen Unterricht aller schimpflichen, gehässigen und verunglimpfenden Ausdrücke gegen andere Religionsgenossen erhalten sollten. Die Apologie der katholischen Leh-
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Vgl. dazu Norbert CONRADS, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707-1709, Köln, Wien 1971.
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re sollte in gehöriger Bescheidenheit und Sittsamkeit vorgetragen werden. Schöpe druckte diesen Hirtenbrief in voller Länge ab.6 Ein zweiter Themenbereich, den Schöpe ansprach, sind die Bischöfe des 18. Jahrhunderts. Bezeichnend dabei erscheint, dass er Schaffgotsch in keiner Weise negativ zeichnet. Die Probleme, die sich bei der Installierung Schaffgotsch als Koadjutor und dann als Bischof von Breslau ergaben, sieht er ganz auf der Ebene Berlin-Rom. Am amtierenden Fürstbischof Hohenlohe preist er dessen Einsatz für eine ernsthafte Vertiefung der Seelsorge und des Schulwesens.7 Dasselbe gelte für die Diözesansynoden und Archipresbyteratskonvente.8 Die Säkularisierungstendenzen der Gesellschaft ließen sich nicht durch Rückzug und Apologie aufhalten; man müsse ihnen selbstkritisch, reformbereit und sich auf das Wesentliche besinnend begegnen. Mit seinen Beiträgen in den ersten Jahrgängen des Diözesanblattes legte Schöpe nicht nur einen Grundstein zur Geschichtsschreibung des Bistums Breslau9, sondern rechtfertigte auch das zeitgenössische Reformbemühen und wies es in gemäßigte Bahnen. Festzuhalten bleibt, mit welcher Umsicht, Korrektheit, mit welchem Bemühen um die sogenannte Objektivität, also mit welcher Sachlichkeit und Nüchternheit Schöpe das Verhältnis der Konfessionen im 18. Jahrhundert beschreibt. Die Monarchen griffen ein, von der Altranstädter Konvention bis zu den Bestimmungen Friedrichs II. Das wird alles ohne Polemik referiert, obwohl sich ja viele Verbesserungen für die Protestanten und Reformierten daraus ergaben. Katholiken und Protestanten kamen sich aber auch näher, weil sie offiziell nebeneinander leben und ihren Glauben praktizieren konnten; es waren keine Buschprediger mehr nötig, auch Schwenkfelder konnten zurückkehren. „Obschon nun durch den der katholischen Kirche zugesicherten Status quo und die den übrigen Glaubensgenossen bewilligte Gewissensfreiheit die Verhältnisse zwischen beiden im allgemeinen festgesetzt waren, so entstanden durch die Vermehrung der evangelischen Prediger, die Anzahl der neu errichteten Bethäuser und die den Protestanten überhaupt erteilten Gerechtsamen so manche neue Beziehungen, Berührungspunkte und besondere Verhältnisse, welche verschiedene bisher zum Teil nicht übliche Einrichtungen und Anordnungen nach sich zogen.“10 Die Feder Schöpes sieht das positiv, ins Herz des Schreibers lässt sich ja nicht so leicht blicken. 6 7 8 9
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Vgl. zu Philipp Ludwig Kardinal Graf Sinzendorf, Fürstbischof von Breslau von 1732 bis 1747 und zu diesem Hirtenschreiben BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Aufklärung, S. 94-98. Zu Philipp Gotthard Fürst Schaffgotsch, Fürstbischof von 1748 bis 1795 und zu Joseph Christian Franz Fürst von Hohenlohe, Fürstbischof von 1795 bis 1817, vgl. ebd., S. 99-116. Ebd., S. 221-232. Rainer BENDEL, Die Reformation in der katholischen schlesischen Kirchengeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts. In: ASKG 58 (2000), S. 27-51. – DERS., Zur Aufgabe der Historiographie im Traditionsbruch der Aufklärung. Bistumsgeschichte als Motor für Regionalbewußtsein und Reform. In: Dietrich MEYER (Hg.), Erinnertes Erbe. Festschrift für Christian Erdmann Schott, Herrnhut 2002, S. 10-20. Johannes SCHÖPE, Beiträge zur vaterländischen Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Verhältnisse der Breslauischen Kirche zu den anderen Religionsgenossen im achtzehnten
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Die Gelegenheiten zur Begegnung wurden zahlreicher. Bei Schöpe findet sich an keiner Stelle ein Wort der Verdammung, das Wort „Ketzer“ nimmt er nicht in den Mund. Vielmehr zitiert er ein Hirtenschreiben Sinzendorfs vom 28. August 1742 ganz: „Als ergeht hiemit Unser ernstlicher Befehl an alle Katholische geistlichen Standes, dass sie sich in ihren Predigten und christlichen Unterrichtungen aller schimpflichen, gehässigen und unglimpflichen Ausdrücke gegen andere Religionsgenossen enthalten, die Auslegung der katholischen Lehre und Widerlegung der entgegen laufenden Sätze mit gehöriger Bescheidenheit und Sittsamkeit vortragen, ohne jene zu schänden […] absonderlich aber des Wortes Ketzer sich enthalten sollen. Wie denn auch, wenn sie von dem Abendmahle, so die Augsburgische Confession Zugethane, ihrem Gebrauch nach zu geniessen pflegen, Erwähnung tun, solches nicht mit dem höchst schimpflichen Worte Stoppen benamsen; beinebst aber auf das äußerste besorgt sein sollen, den anderen Hauptsatz der Gebote Gottes, so in der Liebe des Nächsten wegen Gott besteht, auf die anderen Religionsgenossen jederzeit auszulegen […].“11 Schöpe lehnte den „Parteigeist“ ab. „In den meisten Oertern fand die Errichtung neuer kirchlicher Anstalten von Seiten der anderen Glaubensgenossen keine Hindernisse. Nur in der Stadt Pitschen, wo den Katholiken von der in Breslau anwesenden Religions Commission bewilligt worden war, ihre gottesdienstlichen Übungen auf dem Rathause halten zu können, entstanden sehr lebhafte Bewegungen […] Ich übergehe die näheren Umstände dieses Vorfalls, die kein anderes und besonderes historisches Interesse haben, als dass sie die Zahl der Wirkungen des damaligen Parteigeistes vermehren. Wenn ich daher in den vorhergehenden Blättern solche Umstände nicht ganz umgehen zu dürfen geglaubt habe, so geschah es aus der Ursache, damit der Leser andere mit diesen in Verbindung stehende Tatsachen richtiger zu beurteilen in Stand gesetzt würde.“12 Sehr positiv fällt das Bild des Bischofs Sinzendorf13 aus, dem Schöpe gutschreibt, dass er allem bereitwillig die Hände geboten habe, was das gute Einverständnis unter den verschiedenen Glaubensgenossen befördern konnte.14 „Eine andere schwere Probe für den Fürstbischof Philipp Ludwig waren die Veränderungen in den kirchlichen Verhältnissen mit den übrigen Glaubensgenossen, welche unter seiner Regierung erfolgten. Mit dem tätigsten Interesse suchte er die wirklichen Gerechtsamen der ihm anvertrauten Kirche zu schützen; aber alle seine Schritte waren von Bescheidenheit und Billigkeit geleitet […] Es ist nicht zu bezweifeln, dass durch dieses kluge Be-
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Jahrhundert. In: Dioecesanblatt 1 (1803), Heft 3 (1804), S. 253-297, hier S. 281 (die Rechtschreibung wurde angeglichen). Ebd., S. 279f. Johannes SCHÖPE: Beiträge zur vaterländischen Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Verhältnisse der Breslauischen Kirche zu den anderen Religionsgenossen im achtzehnten Jahrhundert. In: Dioecesanblatt 1 (1803), Heft 2 (1804), S. 121-156, hier S. 133f. Zu Sinzendorf vgl. BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung, S. 94-98. Johannes SCHÖPE, Beiträge zur vaterländischen Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Verhältnisse der Breslauischen Kirche zu den anderen Religionsgenossen im achtzehnten Jahrhundert. In: Dioecesanblatt 1 (1803), Heft 3 (1804), S. 253-297, v.a. S. 287.
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nehmen des Fürstbischofs […] so manches Recht erhalten wurde, was sonst schon längst auf immer verloschen wäre.“15 Das mag den exemplarischen Blick auf den „Sonderfall“ Sedlnitzki einordnen: Die Sympathie der Breslauer Fürstbischöfe Sinzendorf, Hohenlohe und Sedlnitzki für die Reformen der „Katholischen Aufklärung“ sind nicht zu übersehen. Dazu gehörte auch eine (zunächst vom König verordnete) nüchterne Sicht auf die andere Konfession, von der man Anregungen holte, Impulse zur Reform fand, für die man zunehmend Verständnis entwickelte. Darum war man bemüht, ein reguliertes Verhältnis zu finden, und wo dies von der Politik gestaltet wurde, es zu akzeptieren, ja zu begrüßen. Der Gedanke der Toleranz bestimmte die Anweisungen für die Seelsorger. Konkurrenz empfand man im Sinne von Anregung: Bibellektüre, Muttersprache in der Seelsorge, der Stellenwert der Predigt wurden in der katholischen Theologie und Seelsorge neu bedacht und gewertet. Insofern fällt der autobiografische Rückblick Sedlnitzkis, mag er auch deutlich legitimatorische Züge aufweisen, nicht aus dem Rahmen: Die Reformen in der katholischen Theologie und im Leben der katholischen Kirche zielten in eine Richtung, die Annäherungen an den Protestantismus aufwies.
2.
Die Zeitschrift „Religion und Priester“
Das Periodikum „Religion und Priester“ wurde zwischen 1782 und 1784 in Prag und Wien ediert, erschien erstmals im September 1782 unter dem Titel „Priester und Religion“ in Prag, wechselte dann im Folgejahr nach Wien und erschien dort mit der fünften Ausgabe unter dem umgedrehten Titel „Religion und Priester“. Es liegen insgesamt 24 Ausgaben vor. 1784 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein – also ein Periodikum, das in die ersten Jahre der josephinischen Regierungsdekade fiel. Christopher Spehr hat in seiner Dissertation diese Zeitschrift untersucht und auch vorgestellt.16 Daher kann ich mich in der vorliegenden Frageperspektive darauf konzentrieren, die Aspekte, die sich ganz spezifisch mit Begegnung der Konfessionen beschäftigen, herauszugreifen: Bereits in der ersten Nummer der Zeitschrift wird der Optimismus in Bezug auf die Wiedervereinigung der Konfessionen greifbar: „Lehrt nicht im Kreise des Volks, setze der Heuchelei Prediger, lehrt nur das Volk menschen- und Bruderlieb – fürchtet die Geisel, die Euch andere Worte lehrt […] Das wilde Gezänk, das einst die Schul erfand, fliehet; gesellig und froh wandert durch Fluren hin und hofft nahe Vereinigung – […] Joseph vereiniget uns schon auf der Straße zum Glücke des Staats – bald erfolgt Glaubensvereinigung!“17
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Johannes SCHÖPE, Beiträge zur vaterländischen Kirchengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Bischöfe dieses Jahrhunderts. In: Dioecesanblatt 1 (1803), Heft 4 (1804), S. 385-404, hier S. 403f. SPEHR, Aufklärung und Ökumene, S. 281-308. Religion und Priester, Heft 1, I, S. 6f.
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Die erste Frage lautete: Wie sah diese Vereinigung aus? Wie konnte man sie sich vorstellen? Das Thema steht gleich am Beginn dieser Zeitschrift. Die Vereinigung der Konfessionen wurde als ein grundsätzliches Anliegen wahrgenommen, als Mutter des Friedens, also als Voraussetzung des Friedens und der Bruderliebe, bezeichnet. Die erste Aufgabe wurde in der Lösung der Frage wurde kirchlichen und staatlichen Repräsentanten zugeschrieben, nämlich die zerstreuten Schafe zu einer Herde zusammenzuführen, zurückzuführen, das Wort Ketzer aus den Sprachen zu verbannen, den ewigen Frieden zu stiften, einen allgemeinen Tempel und Altar zu bauen. Dort, wo die Missbräuche beschnitten werden, wo man sich auf das Wesentliche besinnt, dort werde man auch die Ähnlichkeit und Harmonie wiederentdecken und lieben lernen. Die zerstrittene Familie sollte durch die Bemühungen des großmütigen Menschenfreundes, also des Kaisers, versöhnt werden. Aufgabe des aufgeklärten Seelsorgers ist es, diese Bemühungen um Versöhnung nicht mit konfessioneller Polemik und mit dogmatischen Schulsätzen zu boykottieren. Aufklärung ist die Voraussetzung für die Vereinigung, weil sie das Wesentliche der Religion vom Zufälligen trennt, die Dogmen von den Zuchtgesetzen. Wie es in solchen Zeitschriften gerne geschieht, wurde in einem Briefwechsel von Pfarrer und Kaplan ein Dialog entfaltet18 – das ist ein Beispiel für viele – in dem zwei katholische Seelsorger kontrovers über die katholische Aufklärung diskutieren. Der Kaplan, auch hier haben wir wieder das Generationenthema, vertritt die irenischaufklärerische Haltung der Pfarrer, verteidigt seine herkömmliche polemische konfessionelle Gesinnung. Anlass des Streits ist ein Lied von Christian Fürchtegott Gellert, das der Kaplan auf dem Klavier spielt, das der Pfarrer ablehnt, weil es aus einem sächsisch-ketzerischen Buch stammt. Der Kaplan möchte den Gemeindegesang in der Landessprache gepflegt wissen, möchte ganz in der gängigen Argumentation der Zeit den lateinischen Chorgesang aus dem Gottesdienst verbannt wissen. Der Pfarrer solle sein Vorurteil ablegen, dass alle Schriften der Protestanten die Orthodoxie gefährdeten. Man hat den Eindruck, dass der Weg und das Modell der Zielgestalt dieser Reunion nicht weiter reflektiert wird, indirekt handelt es sich wohl um eine Zurückführung der zerstreuten Schafe zur Herde, also letztlich um eine römisch-katholische Reunionsvorstellung, wobei die Aufklärung die Grundlage schaffen und die Catholica sich zuvor auch reformieren muss. Ein Aufsatz im fünften Heft beschäftigt sich mit den Hindernissen, die einer so verstandenen Religionsvereinigung im Weg stehen – Spehr vermutet, dass der Beitrag vom Herausgeber der Zeitschrift verfasst wurde. Als zentraler Grund für die konfessionelle Trennung wurde darin die weltliche Gewalt des Papstes benannt. Hier kommen febronianische, konziliaristische Argumente zum Tragen. Mit dieser Argumentation wurden päpstliche Eingriffe in den Machtbereich weltlicher Monarchen verworfen und die Unfehlbarkeit und die Irrtumslosigkeit des Papstes in Frage gestellt.19 18 19
Mehrere vergleichbare Beispiele finden sich auch im Dioecesanblatt für den Clerus der Fürstbischöflich Breslauer Dioeces. Hindernisse, welche der Religionsvereinigung im Wege stehen. In: Religion und Priester, Heft 5, I, S. 234-264.
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Eine umfangreiche theologische Diskussion zur Union wurde in einem weiteren Beitrag gefordert.20 Die Gottesgelehrten der verschiedenen Religionen sollten brüderlich zusammentreten und die wichtigsten Hindernisse beseitigen, vor allem den Religionshass, der im unvernünftigen Volk in allen Konfessionen noch bestimmend sei. Dieses Ungeheuer könne nur durch Aufklärung und Vernunft verjagt werden. Die religiöse Volksaufklärung sollte die tief sitzenden Ressentiments, Aversionen und Vorurteile abbauen und gleichzeitig Missbräuche und Aberglauben abschaffen. Die Theologen sollten gemeinsam an der religiösen Aufklärung arbeiten. Freilich konzedierte der Autor, dass die Durchführung der Reunion wie auch der Aufklärung ein langwieriger Prozess sei, der im Volk durchaus Gegenwehr evozieren könne, zumal noch nicht ganz Europa von der Aufklärung durchdrungen sei. Als mögliche Wege zu einer Reunion wurden dort vorgestellt: Eine erste Möglichkeit ist, dass sich die Konfessionen dann einer einzigen Konfession unterwerfen. Eine zweite Möglichkeit wäre, alle Konfessionen geben die Lehren auf, in denen sie von einander abweichen und eine dritte Möglichkeit: Alle Konfessionen verhandeln miteinander, welche Lehren für eine gemeinsame christliche Religion wesentlich sind. Der Autor entschied sich für das dritte Modell. Dafür sollte eine gemeinsame Konferenz einberufen werden. In der Zeitschrift „Religion und Priester“ wurde demnach auch über Unionsmodelle diskutiert. Dem Konferenzmodell wurde im 17. Heft unter dem Titel „Geschichte der Intoleranz“ und ein paar Worte über Duldung als Pendant zum vorigen Stück21 eine Alternative gegenübergestellt. Toleranz statt Reunion wurde dort propagiert, vielleicht, weil man skeptisch war, dass die Reunion möglich sein könne, wenn man die Widerstände für unüberwindbar hielt. Es lässt sich jedenfalls in der Stimmungslage in diesen zwei, zweieinhalb Jahren des Erscheinens dieses Periodikums ein deutlicher Umschwung festmachen von der anfänglichen Euphorie, jedenfalls dem anfänglichen Optimismus hin zu einer deutlichen Skepsis. Trotzdem aber bleibt als Grundtenor die Forderung nach Aufklärung, um die Annäherung zu ermöglichen, und die Forderung nach Toleranz im Miteinander. Die josephinische Toleranzgesetzgebung mit der Forderung nach Duldung religiöser Minderheiten ist also die Richtschnur, die Zielgestalt, da die Intoleranz das bürgerliche Leben letztlich behinderte und deswegen überwunden werden muss. Das Wesentliche der christlichen Religionen wurde als Sanftmut, Liebe, Geduld und Gerechtigkeit beschrieben. Die wahre Religion ist die reine Sittenlehre, die in der Einhaltung der Gebote besteht. Die Ethik steht über der Frömmigkeit. Der barmherzige Samariter wird selig, also die ethisch-richtige Handlung ist der Schlüssel zur Seligkeit. „Huber folgt mit seiner Zeitschrift folglich dem aufklärerischen Transformationsprozess von einer katholisch-konfessionellen Papstkirche zu einer eher rationalistischen, aber katholischen Religionsinstitution.“22
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Religion und Priester, Heft 16, II, S. 381-383. Religion und Priester, Heft 17, III, S. 3-40. SPEHR, Aufklärung und Ökumene, S. 304.
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Kritik erfuhr die römisch-katholische Kirche vor allem in der Spitze der Kirchenleitung, auch in der konkreten Ausgestaltung der Seelsorge, wohingegen dem Staat, vor allem dem Regenten, höchster Respekt gezollt wurde. Der Kaiser wird zum Reformator stilisiert, der die Kirchenspitze in ihre Schranken weist und mit der Aufklärung menschliches Glück schafft. Die Kirche solle sich auf das Geistliche konzentrieren, die geistlichen Fürsten sollten sich von ihrer weltlichen Herrschaft trennen. Gleichzeitig aber dachte er staatskirchlich im Sinne des Eingriffs des Kaisers in wichtige Belange der katholischen Kirche. Der Staat sollte die bürgerlichen Einschränkungen abschaffen, Toleranz einführen und die allgemeine Wohlfahrt fördern. Auch die Kirche, wenn sie sich auf die wesentlichen Aufgaben beschränkt, wurde in erster Linie dem Ziel verpflichtet, die Glückseligkeit des Menschen zu befördern. Wenn die Kirche sich auf diese Ziele besinne, Toleranz übe, ihre Missbräuche abschaffe, dann werde eine Glaubensvereinigung quasi von selbst erfolgen. „Weil durch die kaiserlichen Reformen die Hindernisse auf dem Weg zur kirchlichen Einheit beseitigt werden und so ein Versöhnungsprozess zwischen konfessionell verschiedenen Menschen eingeleitet werde, rücke auf dem Weg der brüderlichen Liebe und gegenseitigen Wertschätzung die Einheit in greifbare Nähe.“23 „Religion und Priester“ stellte in dem Jahr sein Erscheinen ein, als die „Wienerische Kirchenzeitung“ von Marx Anton Wittola (1736-1797), dem in Cosel in Oberschlesien geborenen Pfarrer, der seit 1777 in Probstdorf bei Wien wirkte und als führender Vertreter des österreichischen Jansenismus und der katholischen Aufklärung gilt, abgelöst wurde. Von 1784 bis 1789 gab Wittola die „Wienerische Kirchenzeitung“ heraus.24
3.
Entwurf zur Religionsvereinigung
Aus der Feder des Fuldaer Benediktinermönchs Peter Böhm (1747-1822) und des Kasseler reformierten Theologen Johann Rudolf Anton Piderit (1720-1791) haben wir einen von 1779 datierten handschriftlichen Entwurf für einen Plan zur Wiedervereinigung der Konfessionen vorliegen, der 1781 unter dem Titel „Entwurf oder Plan zum Versuche einer zwischen den streitigen Teilen im Römischen Reiche vorzunehmenden Religionsvereinigung“ gedruckt wurde und in der Forschung unter dem Titel „Fuldaer Plan zur Wiedervereinigung der Konfessionen“ firmiert. Die Autoren dieses Entwurfes korrespondierten auch mit Abt Franz Stephan Rautenstrauch von BrevnovBraunau, der seit 1782 in der Geistlichen Hofkommission als Mitglied tätig war und die Gründung der Theologischen Generalseminare zu leiten hatte.25 Rautenstrauch 23 24 25
Ebd., S. 306. Dazu BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung, S. 109. – Manfred BRANDL, Marx Anton Wittola. Seine Bedeutung für den Jansenismus in deutschen Landen, Steyr 1974. BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung, S. 193-196. – Beda Franz MENZEL, Abt Franz Stefan Rautenstrauch von Brevnov-Braunau. Herkunft, Umwelt und Wirkungskreis, Königstein 1969.
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hatte mit seinen theologischen Positionen und vor allem mit seiner Tätigkeit in der Studienreform auch in Fulda das Interesse geweckt. Peter Böhm schrieb am 26. Juni 1781 einen Brief an Rautenstrauch und hoffte auf Unterstützung. Rautenstrauch sollte als Fürsprecher und Mitarbeiter im Reunionsprojekt gewonnen werden. Böhm beschrieb die Pläne des Reunionsgedankens, „gemeinsam die wahren Ursachen zu untersuchen, warum es noch immer eine Trennung gibt, die irrenden Teile auf eine brüderliche, belehrende Art ihrer Irrtümer zu überführen, nach den besten Mitteln und Wegen zu suchen zur Religionsvereinigung, diese den weltlichen und geistlichen Obern geziemend vorzulegen. Wie das alles durchzuführen ist, dazu haben einige der gelehrten protestantischen Theologen einen Plan entworfen. Dieser Plan ist so gediegen und gut, dass er nicht nur von uns Fuldaern, sondern von mehr als elf auswärtigen katholischen Theologen mit großem Beifall aufgenommen worden ist.“26 Böhm schickte auch noch einen zweiten Brief an Rautenstrauch mit der Bitte um Unterstützung, vor allem um eine breitere Werbung und Streuung der Reunionsschrift in Wien. Rautenstrauch fand offensichtlich anerkennende Worte für das Projekt, ließ sich aber nicht weiter hineinziehen. Böhm beklagte jedenfalls in einem Schreiben an Rautenstrauch, dass bei den Katholiken ein mangelndes Interesse am Projekt vorhanden sei, die Protestanten arbeiteten viel intensiver daran. Aber nicht nur der katholische Fuldaer Benediktiner schrieb an Rautenstrauch, sondern auch sein evangelischer Mitstreiter Piderit schrieb am 8. Februar 1782 an Rautenstrauch, um ihn als Fürsprecher zu gewinnen. Piderit lobte Rautenstrauchs Studienreform als eine große und glückliche Revolution auf theologischem Gebiet in Österreich. Nach dieser captatio benevolentiae bat er ihn, die Reunionsbemühungen zu unterstützen, sich beim Kaiser für das Projekt einzusetzen. Der Kaiser habe bereits ein gedrucktes Exemplar des Reformplanes erhalten. Er solle den Plan doch fördern, möglichst ein kaiserliches Reskript in der Sache herausgeben. Rautenstrauch versteckte sich auch dieses Mal hinter seiner enormen Arbeitsbelastung und zeigte sich zurückhaltend. Er hatte in einem Brief an Böhm ausgeführt: „Vielleicht kann Ihr löbliches Unternehmen von hier aus Unterstützung finden. Eine religiöse Vereinigung halte ich nicht für unmöglich. Allein, ich sehe sie noch weit von uns entfernt, ob zwar manche Schritte in den Augen des gemeinen Haufens unentbehrliche Schritte gemacht werden, wodurch sie uns aber noch nicht näher gebracht ist. Noch viele Schritte gehören dazu, vormals jener von der Untrüglichkeit der Kirche, der das Eis brechen, den ganzen Weg ungemein erleichtern und die Vereinigung so ziemlich ins Gesicht bringen würde. Vielleicht näher, als von hier Fulda entfernt ist.“ In seinem Diarium eruditum hielt Rautenstrauch zu dem Reunionsplan fest. „Die nationale Denkungsart müßte erst verbessert werden, ehe man an eine äußere Vereinigung der Religionen denken kann. Diese läßt sich überall gar nicht erwarten. Am wenigsten von Religionsvereinigungsgesellschaften und am wenigsten von der neuesten, welche Protestanten mit den Katholiken vereinigen wollen. Man suche eine
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SPEHR, Aufklärung und Ökumene, S. 197, Anm. 75.
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allgemeine Menschenliebe. Die Summe des echten Christentums zu befördern, so bedürfen wir keiner solchen kirchlichen Verbindung.“27
4.
Bischof Sedlnitzki
Wenn man an Aufklärung, Schlesien und „Interkonfessionalität“ denkt, denkt man sogleich an den Grenzgänger und Grenzüberschreiter Leopold Graf Sedlnitzki, von 1836 bis 1840 Bischof von Breslau. In der Allgemeinen Deutschen Biographie erfuhr Sedlnitzki eine umfangreiche Würdigung. Dort sind Spuren für Motive zur Konversion aufgezeigt: In eine wahre Gottesfurcht und Frömmigkeit sei Sedlnitzki bereits durch die Erziehung im Elternhaus hineingewachsen. Die Freude an der Natur der engeren Heimat habe ihn zu fleißiger und eifriger Beschäftigung mit verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaft gebracht.28 Die von Erdmann verfasste Biographie ist geprägt durch die autobiographischen Aufzeichnungen Sedlnitzkis, die ein (teils auch ver-)klärendes Licht zu werfen versuchen auf die Hinwendung des katholischen Bischofs zur evangelischen Kirche. Entsprechend wird die Faszination des jungen Sedlnitzki an der das ganze Leben in allen Grundbeziehungen beherrschenden Macht der Kirche und die hohe Vorstellung von der seelsorgenden Wirksamkeit und den Heilserfolgen der Kirche unterstrichen, wird hingewiesen auf die Faszination, die die Schriften Johann Michael Sailers und seiner Schüler auf den Theologiestudenten ausübten. Auch die intensive Beschäftigung Sedlnitzkis mit der Heiligen Schrift wird herausgestellt, sein Einsatz für eine intensive Verbreitung der Bibel wie auch sein Wunsch, dass die eine, katholische, apostolische Kirche das Reich Gottes den Herzen der Menschen immer näher bringe; umso mehr musste es ihn schmerzen, dass sich in diese katholische Kirche Verweltlichung einschleichen konnte. Schließlich wird hingewiesen, dass der Bischof nach seiner Resignation und späteren Konversion zur evangelischen Kirche mit steigendem Schmerz die Gefahren verfolgte, die der katholischen Kirche aus dem Ultramontanismus erwuchsen. „Ein lebendiges Glied der evangelischen Kirche geworden, hat er fern von dem Getriebe der Welt in stiller Zurückgezogenheit als ein Mann des Friedens gelebt. Er hat nie aufgehört, auch des Guten sich zu freuen, welches er in der von ihm gewissenshalber verlassenen Kirche fand.“ Ein nicht wesentlich abweichendes, weil ebenfalls hauptsächlich auf die Autobiographie gestütztes Bild, vermitteln die schlesischen Lebensbilder.29 Hermann Hoffmanns Tenor im Bild Sedlnitzkis zielt gegen dessen falsche Vorstellung von Kirchlichkeit, die er auf eine mangelnde theologische Bildung zurückführte. 27 28 29
Zitat bei ebd., S. 200. Dietrich ERDMANN, Sedlnitzky, Leopold Graf von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 33 (1891), S. 531-553. Helmut LOTHER, Leopold Graf Sedlnitzki. In: Schlesische Lebensbilder, Bd. 4, Sigmaringen 1985, S. 339-346.
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Leopold Graf Sedlnitzki wurde am 29 Juli 1787 in Geppersdorf in Mähren geboren. Bereits mit zwölf Jahren erhielt er die Tonsur und wurde für ein Kanonikat am Breslauer Dom bestimmt. 1802 erhielt er ein Kanonikat in Neisse. Nach einer breit angelegten Ausbildung durch Hauslehrer und dem Abitur in Ratibor studierte der ab 1804 in Breslau Theologie. „Die Lehrbücher und namentlich das kanonistische Studium waren vom Geiste des Josephinimus bestimmt. Sedlnitzkis Bildung war breit angelegt, doch fehlte ihr die konfessionelle Bestimmtheit.“30 Bereits durch seine Hauslehrer und auch durch das Studium an der Breslauer Universität war Sedlnitzki den Reformkräften zugeneigt, die für die Verbesserung und Verinnerlichung der Kirche arbeiteten.31 Nach seiner Priesterweihe 1811 wurde er von Fürstbischof Hohenlohe32 als Assessor und Sekretär in das Vikariatsamt berufen. Sedlnitzkis Initiative zur Gründung der Breslauer Provinzialbibelgesellschaft – er war dazu in Regensburg angeregt worden, wo 1805 unter Sailers Einfluss eine Bibelgesellschaft gegründet worden war – stieß auf Ablehnung und Widerspruch im Vikariatsamt. Sehr ausgewogen ist Sedlnitzkis Gutachten zu der Eingabe der schlesischen Reformer 1826: Soweit die Forderungen berechtigt waren, sollte man darauf eingehen. 1830 wurde Sedlnitzki infulierter Domprobst und 1832 nach dem Tode Schimonskys durch Akklamation des Domkapitels zum Bischof gewählt; vorausgegangen waren intensive Bemühungen der preußischen Regierung, um die Bedenken Roms gegen Sedlnitzki wegen dessen irenischer Haltung gegenüber den Protestanten und wegen seines verstehenden Entgegenkommens gegenüber den Reformen zu zerstreuen. Erst am 11. Juli 1836 wurde er als Bischof von Breslau bestätigt und konsekriert. Sein pastorales Bemühen schlug sich in den zahlreichen Visitations- und Firmungsreisen nieder. Die Schwierigkeiten im Streit um die Auflösung der erloschenen Pfarreien und um die Mischehen brachten ihn unter zunehmenden Druck aus Rom, dem er sich schließlich 1840 beugte und auf seine bischöfliche Würde resignierte. Er verlegte seinen Wohnsitz nach Berlin, wurde Mitglied des Preußischen Staatrates und trat dort 1862/63 zur evangelischen Kirche über. Am 25. März 1871 ist er in Berlin gestorben. Ein Jahr später wurde aus seinem Nachlass die Autobiographie veröffentlicht.33 Sedlnitzki unterstreicht von sich, dass er sich gegen jede spiritualistische, rationalistische, die Subjektivität fördernde Auffassung von Kirche gewandt habe. Denn jede subjektivistisch besetzte Sicht der Kirche führe nur zu Eigendünkel und Selbstsucht, verdunkle das innere Auge und zerstöre das Band der Liebe. Als wesentliche Bedingung, als Kennzeichen der wahren Kirche, sieht er eine gottgeordnete Gliederung zu dem Zweck, die Liebestätigkeit gemeinschaftlich zu fördern. Eine wesentliche Rolle spielte für ihn die sozial-caritative Komponente: Schrift und Geschichte gäben reichlich Zeugnis von der überschwänglichen Kraft des Evan30 31 32 33
Erwin GATZ, Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 696-698. Wincenty URBAN, Leopold hrabia Sedlnitzki, Warszawa 1955. Zu Hohenlohe vgl. BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung, S. 112-120. Selbstbiographie des Grafen Leopold Sedlnitzki von Choltitz, Fürstbischof von Breslau, gestorben 1871. Nach seinem Tode aus seinen Papieren herausgegeben mit Aktenstücken, Berlin 1872.
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gelismus, von der großen Zahl der vom Evangelium Ergriffenen, von deren Glaube und Liebe, die nicht das Ihre suche, sondern sich ganz den Brüdern opfere. Ebenso wie die apostolische Zeit bejahte Sedlnitzki die frühere Tradition der Kirche, in der die „Werkzeuge des Geistes“, wie er die Kirchenväter bezeichnete, segensreich wirkten. Die weitere geschichtliche Entwicklung der Kirche sah er hingegen nicht einlinig. Breiten Raum räumte er Verfallserscheinungen ein: Irrtümer und Missbräuche kamen auf, Kirchenspaltungen und Sekten entstanden, eine große Sittenlosigkeit riss in den Gemeinden ein. Die von Gott gewollte apostolische Ordnung wurde gestört, zuweilen gar vernichtet. Sedlnitzki litt am Missbrauch der Gewalt, er litt daran, dass das göttliche Wort den Gläubigen nur in Bruchstücken, nicht aber in seiner ganzen Wahrheit und Kraft mitgeteilt wurde. Er litt daran, dass die wiederholten Forderungen nach einer Reform an Haupt und Gliedern keinen Erfolg errangen. Für Sedlnitzki waren die Reformer zu allen Zeiten der Kirchengeschichte wichtige alternative Orientierungspunkte, sie sind Hoffnungszeichen des Geistes, der auch in Zeiten großer Missbräuche weht, sie sind Reaktionen auf schlechte Beispiele, die äußerlich hochgestellte Männer gegeben haben. Es ist ihm ein Hoffnungszeichen, dass auch im Mittelalter und in konziliaristischen Strömungen die Kirche sich auf die apostolische Urzeit besann. Umso größer ist sein Schmerz über den reformatorischen Schnitt. Obgleich er den Reformatoren die gute Absicht nicht absprach, missbilligte er sie doch als die Verursacher eines Risses in der Einheit der Kirche. Seine Sympathie galt denjenigen, die in aller Stille in der Einheit mit der Kirche um die Reform kämpften, die kämpften für Einheit und Frieden. Den Rationalismus und Naturalismus des 18. Jahrhunderts lehnte er als Unglauben ab, unterstrich aber, dass zeitgleich ein Streben nach einer tieferen Erkenntnis der Heilswahrheit, „nach innerem lebendigem Christentum“ und „Rückkehr zur Reinheit und Heiligkeit der Kirche sich verbreitete“. Diese Rückbesinnung in der Kirche sei durch die Rückkehr zur Schrift und zu den ältesten Lehren der Kirche ermöglicht worden. Gerade die Träger der katholischen Reformbewegung hätten ihn in seiner Schulund Studienzeit in der Überzeugung bestärkt, „dass die katholische Kirche auf dem apostolischen Grunde ruhend und nach Heiligkeit strebend allein die wahre sein könne“. In dieser Kirche glaubte er die Kraft, in Zukunft alle Konfessionen wieder vereint sehen zu können. Die Mängel und Missbräuche in der Kirche übersah er nicht, hatte aber die Hoffnung, dass sie überwunden würden, dass sich die Männer durchsetzten, die die Wahrheit, die im Worte Gottes liege, in aller Reinheit verkündeten und in den Herzen ihrer Gemeinden pflegten. Nach dem Ausweis der Autobiographie Sedlnitzkis wandte sich seine schwungvolle, optimistische, hoffnungsvolle Sicht und Einschätzung der Missstände in der Geschichte der Kirche mit zunehmendem Alter in eine besorgtere. Durch übertriebene Formen der Frömmigkeitsäußerung würde im Individuum das Bewusstsein der Schuld und Sünde abgestumpft, das Bewusstsein, dass sich der Mensch letztlich auch mit guten Werken nicht selbst helfen könne; die Hingabe des Herzens im Glauben an die Fülle der göttlichen Gnade würde verhindert. Hingegen
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könne häufige Bibellektüre das Sündenbewusstsein und das notwendige Vertrauen auf Gott stärken; insofern sind in seinen Augen die wiederholten Bibelleseverbote ebenfalls Missbräuche und Irrtümer. Die Reform sollte auf dem Weg der richtigen Darstellung der christlichen Lehre und ihrer Anwendung im Leben gefördert werden. Wie die anderen Reformer hegt also auch Sedlnitzki hohe Erwartungen an das Unterrichtswesen, an die Universität, an das Predigerseminar. Den Gläubigen dürften die Reformen nicht nur übergestülpt, sondern sie müssten vorbereitet werden. Im Blick auf die katholische Liturgie sah er damals die Zeit noch nicht reif für eine durchgreifende Veränderung, da in der großen Menge das sinnliche Gefühl und die Phantasie vorherrsche, so biete die wohlklingende, wenn auch unverstandene Sprache etwas, das über den Alltag, über das Werktagsleben sich erhebe, etwas Mysteriöses an sich habe und deswegen fessele. „Daher war ich überzeugt, dass eine unvorbereitete Veränderung die Gewissen beunruhigen und viele verwirren würde.“ Als Hauptaufgabe galt ihm, die Gemeinden über Wesen, Wert und Kraft des Gebetes zu belehren; einzelne Gebete und gute Kirchenlieder könnten in der Volkssprache publiziert und bei einzelnen kirchlichen Akten dann verwendet werden. Noch eindeutiger unterstützte er nach seinem eigenen Bekunden die zweite Hauptforderung der Reformer, die Abschaffung des Zölibates, und zwar vor allem deswegen, weil er die Ehe als einen wesentlichen Teil der Heilsordnung betrachtete. Hauptziel des Bemühens Sedlnitzkis war, die Einheit des Einzelnen und der Gemeinde mit Christus zu fördern. Dazu sollte auch die Gesellschaft zur Bibelverbreitung dienen. Die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche um die Frage der erloschenen Pfarreien fällt noch in die Zeit, da Sedlnitzki Kapitelsvikar war. Die andere zäh umstrittene Frage, nämlich die nach den Mischehen, sollte den Auslöser für seine Resignation als Fürstbischof von Breslau bilden. Dem Breslauer Bischof war es von Papst Pius XI. in einer Bulle vom 11. September 1777 erlaubt worden, bezüglich der Mischehen das zu tun, was ihm in wichtigen und dringenden Fällen als das Geratenste erscheine. Damit war die Behandlung der Mischehenfrage in das Ermessen des Bischofs gestellt. Die seelsorgerliche Praxis orientierte sich in der Folgezeit an den Vorgaben des allgemeinen Landrechtes: In gemischten Ehen wurden die Söhne in der Konfession des Vaters, die Töchter in der der Mutter erzogen. Diese dem Staat entgegenkommende Haltung behielt Sedlnitzki in Schlesien unter Berufung auf die Tradition bei. „Die Folge war, dass er in einem immer heftiger werdenden Konflikt mit der Kurie und der auch in Schlesien inzwischen erstarkten kirchlichen Erneuerungsbewegung geriet. […] Es ist ihm jedoch zugute zu halten, dass sein Vorgehen dem seit mehr als einem halben Jahrhundert in Schlesien geltenden, von Rom eingeführten und nie ausdrücklich widerrufenen Rechtszustand entsprach.“ Sedlnitzki war nicht bereit, sich der erstarkten rigoroseren Richtung im Katholizismus in diesem Punkt zu beugen. Trotz der Gefangenschaft der Amtsbrüder im preußischen Herrschaftsbereich pflegte der Breslauer Bischof weiterhin gute Beziehungen zum König und zur Regierung. Diese mussten ihn in katholischen Kreisen noch weiter suspekt machen. Am 13. Mai 1840 wurde Sedlnitzki in einem päpstlichen Breve zum Rücktritt aufgefordert. „In der Begründung beschränkte sich das Breve leider nicht auf die schwerwiegenden
Aufklärung und Ökumene
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und unbestreitbaren Vorwürfe, die genügten, um den Schritt Roms zu rechtfertigen, es machte sich vielmehr alle Behauptungen der Gegner Sedlnitzkis zu eigen, auch solche, die kaum zu beweisen oder belanglos waren.“ Das mag den exemplarischen Blick auf den „Sonderfall“ Sedlnitzki einordnen: Die Sympathie der Breslauer Fürstbischöfe Sinzendorf, Hohenlohe und Sedlnitzki für die Reformen der „Katholischen Aufklärung“ sind nicht zu übersehen. Dazu gehörte auch eine nüchterne Sicht auf die andere Konfession, von der man Anregungen holte, Impulse zur Reform fand, für die man zunehmend Verständnis entwickelte. Darum war man bemüht, ein reguliertes Verhältnis zu finden, und wo dies von der Politik gestaltet wurde, es zu akzeptieren, ja zu begrüßen. Der Gedanke der Toleranz bestimmte die Anweisungen für die Seelsorger. Konkurrenz empfand man im Sinne von Anregung: Bibellektüre, Muttersprache in der Seelsorge, der Stellenwert der Predigt wurden in der katholischen Theologie und Seelsorge neu bedacht und gewertet. Insofern fällt der autobiografische Rückblick Sedlnitzkis, mag er auch deutlich legitimatorische Züge aufweisen, nicht aus dem Rahmen: Die Reformen in der katholischen Theologie, auch in deren Lehrplänen, in der Publizistik und im alltäglichen religiösen Leben der katholischen Kirche zielten in eine Richtung, die Annäherungen an den Protestantismus aufwies.
Norbert Jung
„… IST ES DEM PROFESSOR ALLZEIT ERLAUBT, DIE ÜBEREINSTIMMUNG DER GEOFFENBARTEN RELIGION MIT DER VERNUNFT ZU ZEIGEN.“ FRANZ STEPHAN RAUTENSTRAUCH UND SEINE ROLLE IM FALL ISENBIEHL
„Einige Spezialuntersuchungen, die den Rahmen des Buches gesprengt hätten, werden noch notwendig sein, um das Bild dieses Abtes, Reformers und Hofbeamten zu ergänzen und das Bemühen der katholischen Aufklärung in Österreich ins rechte Licht zu rücken.“1 Mit diesen Worten endet die Monographie von Franz Beda Menzel über Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Brevnov-Braunau. Der vorliegende Beitrag möchte in diesem Sinn anhand der Rolle des Abtes im sogenannten Isenbiehlschen Streit, die bisher noch nirgends eingehender bearbeitet worden ist, das Bild Rautenstrauchs um eine kleine Facette ergänzen und dabei auch die zeitweise erwogene Berufung Isenbiehls nach Wien erstmals näher beleuchten.
1.
Zum Forschungsstand
„Die Antworten Rautenstrauchs sind zwar freundlich, aber nichtssagend und kurz. Er geht auf dessen Vorschläge und Pläne nicht ein. Isenbiehl war ein radikaler Aufklärer, der den Boden der Rechtgläubigkeit verlassen hatte.“2 So charakterisiert Menzel den Briefwechsel des Wiener Theologen mit dem Mainzer Exegeten Johann Lorenz Isenbiehl, dessen „Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel“3 in den 1
2 3
Beda Franz MENZEL, Abt Franz Stephan Rautenstrauch von Brevnov-Braunau. Königstein/Taunus 1969 (Veröffentlichungen des Königsteiner Institutes für Kirchen- und Geistesgeschichte der Sudetenländer, Bd. 5), S. 253. Zum Zitat in der Überschrift siehe Anm. 62. Die verwendeten Abkürzungen richten sich nach dem Abkürzungsverzeichnis des LThK. Ebd., S. 201. Johann Lorenz ISENBIEHL, Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel, o.O. 1778 [tats. Koblenz 1777].
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Norbert Jung
Jahren 1777 bis 1779 eine der größten theologischen Turbulenzen der Aufklärungszeit auslöste. Seit den Forschungen Menzels hat sich niemand mehr mit dem Verhältnis der beiden Theologen auseinandergesetzt, während die Forschung zum Fall Isenbiehl selbst in den letzten Jahren und Jahrzehnten große Fortschritte machen konnte,4 nicht zuletzt auch aufgrund neuer Aktenfunde sowie der Öffnung des Archivs der Kongregation für die Glaubenslehre.5 Es wird daher zu zeigen sein, dass die harsche Beurteilung des Mainzer Theologen durch Menzel nicht aufrechterhalten werden kann; auch die Position Rautenstrauchs ist mit der Charakterisierung „nichtssagend und kurz“ wohl nicht in hinreichender Weise gewürdigt.6 Aus dem Abstand mehrerer Jahrzehnte und nicht zuletzt nach der endgültigen Rezeption der historischkritischen Methode in der katholischen Exegese in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte eine differenziertere Einschätzung der Angelegenheit möglich sein.7
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Dabei ist neben den diversen Arbeiten von Reichert (Franz Rudolf REICHERT, Johann Gertz (1744-1824). Ein katholischer Bibelwissenschaftler der Aufklärungszeit im Spiegel seiner Bibliothek. In: AMRhKG 18 (1966), S. 41-104. – DERS., Trier und seine theologische Fakultät im Isenbiehlschen Streit (1773-1779). In: Georg DROEGE u.a.(Hg.), Verführung zur Geschichte. Festschrift zum 500. Jahrestag der Eröffnung einer Universität in Trier, Trier 1973, S. 276-301) auch auf meine Dissertation zu verweisen: Norbert JUNG, Der Speyerer Weihbischof Andreas Seelmann (1732-1789) im Spannungsfeld von „nachgeholter“ Aufklärung und „vorgezogener“ Restauration, Mainz 2002 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 103), bes. S. 624-662. Die Habilitationsschrift von Dominik BURKARD „Exegese zwischen Aufklärung und Inquisition. Johann Lorenz Isenbiehls ‚Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel‘ (1778) als Testfall historisch-kritischer Schriftauslegung“ ist bisher – obwohl seit Jahren angekündigt – noch nicht im Druck erschienen. Sie konnte daher für die vorliegende Untersuchung nicht herangezogen werden. Zuletzt hat Sascha Weber die Affäre aus Mainzer Sicht zusammenfassend beleuchtet: Sascha WEBER, „Mainz ist nicht Göttingen“. Der Mainzer Kurstaat und die Affäre Isenbiehl (1773-1780). In: AMRhKG 61 (2009), S. 211-228. Bei ihm wird die Stellungnahme Rautenstrauchs nicht erwähnt. Vgl. dazu die von Hubert Wolf herausgegebene Reihe „Römische Inquisition und Indexkongregation“ und dabei besonders den Beitrag von Dominik BURKARD, Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit der päpstlichen Zensur im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel der „Causa Isenbiehl“. In: Hubert WOLF (Hg.), Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert, Paderborn 2008 (Römische Inquisition und Indexkongregation, Bd. 11), S. 299316. Bereits REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 281, Anm. 26, meinte zur Position Menzels: „Die kurze Charakteristik Isenbiehls […] erscheint etwas undifferenziert.“ Offenbar war Menzel die hier zu besprechende Stellungnahme Rautenstrauchs, die dem von ihm referierten Briefwechsel vorausging, entgangen. In exegetischer Hinsicht gelingt dies bei Marius REISER, Aufruhr um Isenbiehl oder Was hat Jes 7,14 mit Jesus und Maria zu tun? In: DERS., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Tübingen 2007, S. 277-330.
Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl
2.
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Johann Lorenz Isenbiehl, einer der ersten katholischen historisch-kritischen Exegeten8
Der Protagonist einer der aufsehenerregendsten theologischen Streitfälle des 18. Jahrhunderts, Johann Lorenz Isenbiehl (1744-1818), hatte nach dem Theologiestudium in Mainz 1769 die Priesterweihe empfangen und wirkte anschließend nach kurzer Kaplanszeit als Geistlicher in der kleinen katholischen Gemeinde in Göttingen, die nicht mehr als fünfzig Mitglieder zählte. An der dortigen, damals im deutschen Sprachraum führenden Universität nutzte er die Gelegenheit, sich bei herausragenden Dozenten der Bibelwissenschaft fortzubilden, namentlich bei Johann David Michaelis,9 um sich mit Unterstützung seines Landesherrn, des Mainzer Kurfürsten, auf eine spätere Lehrtätigkeit vorzubereiten. Dabei fiel er auch einem „Headhunter“, dem späteren Hofrat Johann Melchior Edlen von Birkenstock, auf, der 1772 im Auftrag des österreichischen Staatskanzlers Wenzel Anton Fürst von Kaunitz-Rietberg Ausschau nach Hochschullehrern hielt, die für eine mögliche Berufung nach Wien in Frage kommen konnten. Dem Besucher aus Wien war bald klar, dass keiner der renommierten Lehrstuhlinhaber von Göttingen nach Wien wechseln würde, allerdings hatte er trotz eines von ihm bei den katholischen Studenten konstatierten Bildungsrückstandes zwei Talente ausgemacht: „Unter den dermalen daselbst befindlichen Katholicken kenne ich nur Zwey welche sich dereinstens zu guten Lehreren, doch nur in einem nicht so sehr für Schulen als für Universitäten gehörigen Fache bilden dürften, nemlich ein von dem Herrn Churfürsten von Trier jährlich mit 100 Dukaten unterstützter Geistlicher, Namens Görz10, ohnweit Coblenz gebürtig, sodann der obgenannte Pfarrer Isenbiehl, welche, neben einigen anderen besonders mathematischen Wissenschaften die morgenländischen Sprachen bey dem berühmten Herrn Michaelis mit großem Eifer treiben, und wovon mir iztgedachter Professor versichert, 8 9
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Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 630f. „Michaelis ist eine Schlüsselgestalt in der Transformation des biblischen Wissens in der Aufklärung und spielt eine entscheidende Rolle für die Herausbildung der historisch-kritischen Methode.“ Daniel WEIDNER, Johann David Michaelis’ Übersetzung des Alten Testaments: Doppelte Übersetzung und Dialektik der Säkularisierung. In: Albrecht BEUTEL, Volker LEPPIN, Udo STRÄTER und Markus WRIEDT (Hg.), Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchen- und Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2010 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Bd. 31), S. 53-63, hier S. 54. In den Unterlagen des Hl. Offiziums las sich das später so: „[…] per plures annos Missionarius Göttingae, quae est Civitas purè acatholica, multisque acquè periculosis ac doctis Professoribus referta, ibidem apud illum famâ satis notum, professione externâ equidem protestanticae Religioni addictum, at de Socianismo insuper maximè suspectum Dominum Michaelis collegia scripturistica frequentavit.“ Auf diese Passage eines aus Mainz eingereichten Pro Memoria nahm das Votum des Konsultors Bezug und verwies auch darauf, dass sein Mitstudent und Fautor Gertz ebenfalls dort studiert habe. ACDF S. O. St. St. N 5-r (ein Verzeichnis der Archiv- u. Bibliothekssignaturen findet sich im Anhang dieses Beitrags). Zu Michaelis vgl. Klaus-Gunther WESSELING, Art. Johann David Michaelis. In: BBKL 5 (1993), Sp. 1473-1479. Johann Gertz (1744-1824), vgl. zu ihm und seinen Aufenthalt in Göttingen REICHERT, Gertz (wie Anm. 4), bes. S. 44-48.
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Norbert Jung
daß selbige, wenn sie also fortfahren und allenfalls noch einige privatissima über Dinge, wo es ihnen noch allzusehr fehlte würden hören können, in einigen Jahren sich zum Lehramte in der Arabischen, Hebräischen, Syrischen, Chaldäischen und Griechischen Sprache tauglich machen dürften, welches auch wohl ihre Absicht zu seyn scheinet“,11 berichtete von Birkenstock nach Wien. Auch E. F. Badenhaupt gratulierte Michaelis zu seinen beiden katholischen Schülern.12 Die beiden Talente reüssierten infolge der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 recht bald in ihrer jeweiligen Heimatdiözese: Gertz, der Isenbiehl in lebenslanger Freundschaft verbunden blieb,13 wurde schließlich Exeget in Trier – er hatte dafür sogar einen Ruf nach Wien ausgeschlagen, der offenbar in Folge des eben zitierten Gutachtens erfolgt war14 –, während sein aus dem Eichsfeld stammender Freund auf Betreiben seines Gönners und Förderers Karl Theodor von Dalberg15 Professor für Orientalische Sprachen und Exegese in Mainz wurde.16 Noch in Göttingen veröffentlichte Isenbiehl sein erstes wissenschaftliches Werk aus der syrischen Sprachlehre,17 und in Mainz folgte bald eine Zusammenstellung von Texten der griechischen Kirchenväter zu Lehrzwecken, die er noch mit Hilfe der Bestände der Göttinger Universitätsbibliothek erarbeitet hatte.18 Schon bald konnte Isenbiehl seinem Göttinger Lehrer von ersten Erfolgen berichten: „Mein Collegium über die hebraische Bibel ist ansehnlicher, als ich mirs für den Anfang versprechen konnte; die Zahl der Auditorum beläuft sich auf 30. und unter diesen sind
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Alphons LHOTSKY, Ein Bericht über die Universität Göttingen für den Staatskanzler Fürsten Kaunitz-Rietberg (1772). In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1966. Philologisch-historische Klasse, S. 39-68, hier S. 59f. Der Bericht von Birkenstock, der übrigens wie Isenbiehl in Heiligenstadt im Eichsfeld geboren war und selbst in Göttingen studiert hatte, datiert vom 13. Februar 1772. Badenhaupt schrieb am 21. Dezember 1773 an Michaelis: „Ich muß bekennen, man hat Ursach Ew[er] Wohlgeb[oren] Glück zu wünschen, daß Sie in Ihren beyden so würdigen Zuhörern der Römischen Kirche in so kurzer Zeit zwey helle Lichter aufgesteckt, und sich dadurch selbst zu gleich ein paar Ehrenpfänder gesetzt haben. Es ist wohl ein sehr seltenes Vergnügen, solche fähige Zuhörer zu haben, aber auch ein sehr günstiges Schicksal für diese, des gründlichen Unterrichts eines so berühmten Lehrers theilhaftig geworden zu seyn.“ SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 320, fol. 45v. Noch 1787 notierte Gertz in einem seiner Bücher über seinen Studienfreund: „vir clarissimus et amicus meus.“ Zitiert nach REICHERT, Gertz (wie Anm. 4), S. 97. Vgl. ebd., S. 52f. Zu ihm Georg SCHWAIGER, Art. Dalberg, Karl Theodor Freiherr von (1744-1817). In: Erwin GATZ (Hg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1983, S. 110-113. Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 626-629 und 829. Johann Lorenz ISENBIEHL, Beobachtungen an dem Gebrauche des syrischen puncti diacritici bei den verbis, Göttingen 1771. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen (1772), S. 185. Ioanni Laurentii ISENBIEHL, Sacrae scripturae et linguar. oriental. in alma semperque catholica universitate Moguntina professoris publici et ordinarii Chrestomathia patristica Graeca ex optimis editonibus delecta in usum scholarum elector. Moguntinarum. Mainz 1774. Dieses Werk wird von Rautenstrauch in seiner Stellungnahme zum „Neuen Versuch“ erwähnt, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl
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zehn verschiedene Ordensgeistliche. Es hat uns hier allso nicht an der Lust zu dem Hebräischen, sondern nur an Gelegenheit gefehlet.“19 Schon frühzeitig geriet Isenbiehl wegen seiner schon damals vertretenen Auslegung von Mt 1,22 f. in Verbindung mit Jes 7,14 mit der Mainzer Zensur in Konflikt,20 wurde aber zunächst noch vom Kurfürsten Emmerich Joseph von BreidbachBürresheim21 gedeckt. Nach dessen Tod – der neue Fürst Friedrich Karl von Erthal stützte sich auf die eher bewahrenden Kräfte im Domkapitel22 – verlor der Exeget seinen Lehrstuhl und wurde zu mehrjährigen vertiefenden theologischen Studien im Priesterseminar vergattert. Früchte dieser Studien waren eine Sammlung dogmatischer Lehrentscheidungen, wobei es sich um einen der ersten Vorläufer des später sogenannten Denzinger handelte,23 sowie eine Konkordanz, die jedoch nie im Druck erschien, weil die Anzahl der Subskribenten trotz einer Voranzeige in der dogmatischen Quellensammlung nicht ausreichte.24 Obwohl Isenbiehl, der – wie seine Publikationen zeigen – auch der französischen und englischen Sprache mächtig war, ab 1777 wieder einen Lehrauftrag für Griechisch – allerdings ausdrücklich ohne Exegese treiben zu dürfen – wahrnehmen konnte, war er mit seiner Situation unzufrieden. Angebote auswärts unterzukommen (gedacht war u. a. an eine Lehrtätigkeit an der Lehranstalt Carl Friedrich Bahrdts in Heidesheim) durfte er nicht annehmen. Als er an diesem Punkt seiner Laufbahn seinen „Neuen Versuch“ veröffentlichte, löste das den 19 20
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Schreiben Isenbiehls an Michaelis vom 26. November 1773. SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 324, fol. 423v. In seinem Briefwechsel mit Michaelis erwähnt Isenbiehl erstmals am 12. Januar 1774 sein späteres Hauptwerk: „Ich kann mich hier nicht enthalten, eine neue Erklärung über Math. I.22 mit den wenigen Worten zu communiciren: daß mir beygefallen: die Worte Jesaiae werden blos ob analogiam signi prophetici citiret, mit welchem sich dort der Jesaias, und hier der Engel beym Joseph legitimirte. Und diese historische reflexion machte der Evangelist nicht stylo historico, sondern per citatum biblicum; und auf die näml[iche] Art würde er also Cap. II. 17.18. die Betrübniß der bethlehemitischen Mütter mit biblischen Worten beschreiben, ohne einen typum anzunehmen. Ich bin wegen dieser Auslegung schon für den halben Ketzer hier erkläret, und folglich genöthiget, meine Gedanken dem Publico durch den Druck zu communiciren. Wenn der hiesige Censor librorum sollte Bedenken tragen, so werde ich die Freyheit nehmen, Ewer Wohlgebohren um Beförderung zum Druck gehorsamst zu bitten.“ Ebd., fol. 425v-426r. Zu ihm Friedhelm JÜRGENSMEIER, Art. Breidbach zu Bürresheim, Emmerich Joseph Reichsfreiherr von (1707-1774). In: Erwin GATZ (Hg.), Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1648-1803. Ein biographisches Lexikon, Berlin 1990, S. 42-44. Die Einschätzung Isenbiehls der neuen Regierung wird aus einem Postscriptum an Michaelis vom November 1774 deutlich: „Unter dieser Regierung haben Dieselbe nicht zu besorgen, daß eine Büchermesse zu Erfurt angeleget, und folglich auch nicht, daß Dero nachgedruckte Bücher dort verkaufet, oder dort nachgedrucket werden.“ SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 324, fol. 429v. Johann Lorenz ISENBIEHL, Corpus decisionum dogmaticarum ecclesiae catholicae, Koblenz 1777. Vgl. dazu Joseph SCHUMACHER, Der „Denzinger“. Geschichte und Bedeutung eines Buches in der Praxis der neueren Theologie, Freiburg i. Br. u. a. 1974 (FThSt 95), S. 101f. Interessante „Werkstattberichte“ Isenbiehls finden sich in seinen Schreiben an Michaelis, Anhang Nrn. 1, 2 u. 6. Vgl. REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 279, Anm. 18. Als sich Isenbiehl 1778 einer Operation unterziehen musste, bewahrte sein Freund Gertz das Manuskript der Konkordanz für ihn auf, vgl. BURKARD, Schwierigkeiten (wie Anm. 5), S. 301, Anm. 8.
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Norbert Jung
Isenbiehlschen Streit aus, in den am Rande auch Rautenstrauch hineingezogen wurde und der im Folgenden kurz geschildert werden soll.
3.
Isenbiehls „Neuer Versuch über die Weissagung vom Emmanuel“25
Inhaltlich geht es in dem 292 Seiten starken Werk um die Deutung der Schriftstelle Jesaja 7,14 („Seht, die Jungfrau wird empfangen […]“) und deren Interpretation im Hinblick auf Mt 1,22, wo die Geburt Jesu unter Bezugnahme auf das Prophetenzitat als Jungfrauengeburt geschildert wird. Dabei kommt Isenbiehl zu dem Fazit: „Dieser [d. h. der Ausspruch des Propheten in Jesaja 7,14] kann weder buchstäblich, noch bildlich von Jesu erkläret, und also auch nicht als eine Weissagung angebracht werden, die an Jesu eingetroffen sey.“26 Das Anliegen des Mainzer Exegeten war dabei ein apologetisches, denn er wollte Matthäus durch den Nachweis, es sei dem Evangelisten lediglich um die vergleichende Parallelisierung zweier ähnlicher Fakten der Heilsgeschichte gegangen, vom Vorwurf entlasten, die Jesajastelle fehlerhaft interpretiert zu haben. Seine mit viel Fleiß entwickelte These berücksichtigte auch so weit wie möglich die katholische Tradition – ein umfangreiches Kapitel widmet sich eigens der Exegese der Kirchenväter zu dieser Stelle –, konnte aber wie gesehen nicht umhin, die klassische Deutung von Jes 7,14 auf Jesus und Maria aus exegetischen Gründen abzulehnen und damit die Hermeneutik der Kirchenväter überhaupt zu kritisieren. Damit hatte Isenbiehl am Beginn der Rezeption der historisch-kritischen Methode im Bereich der katholischen Theologie exemplarisch den Kern der Diskussion getroffen: Inwiefern war eine von den Vorgaben der Dogmatik bzw. der Patristik unabhängige Deutung der Heiligen Schrift möglich oder nicht? „Wenn der Damm von Ansehen und allgemeiner Uibereinstimmung der Kirchenvätern in Auslegung der heiligen Schrift durchbrochen ist, so liegt die Gefahr da, daß den Bibeltextenverdrehungen kein Halt zu thun seye. Vernunft und Erfahrung belehren uns augenscheinlich, wenn wir nur einen Blick in die protestantischen Verwirrungen werfen, wie einer den andern würget in der Bibelauslegung und des andern Meinung sucht zu verdrängen, so, daß alles bei ihnen endlich ungewiß seye. Die Mode, die heiligen Väter zu beseitigen und zu verlachen, war immer den ausschweifenden Köpfen eigen. Die Kirche hat immer fest auf das Ansehen der heiligen Vätern gebauet, und in ihrer Uibereinstimmung triumphiret“27 – so stellte sich wenig später die klassische Gegenposition in einem Gutachten der Mainzer theologischen Fakultät dar. Isenbiehl war hingegen davon überzeugt, eine für einen Katholiken vertretbare Auslegung gefunden zu haben. Darin hatten ihn auch einige Stellungnahmen bestärkt, die er im Vorfeld der 25 26 27
Vgl. Anm. 3. Zum Inhalt vgl. ausführlicher JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 632-635, v.a. Anm. 50, sowie REISER, Aufruhr (wie Anm. 7), S. 287-293. ISENBIEHL, Neuer Versuch (wie Anm. 3), S. 246. Gutachten der theologischen Fakultät Mainz zu Isenbiehls „Neuem Versuch“ vom 25. November 1777. HstAD Kurköln VIII, 503 II, fol. 139v.
Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl
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Publikation seines Werkes bei namhaften Theologen eingeholt hatte, worauf er in der Vorrede seines „Neuen Versuchs“ eigens hinwies: „Ich habe denselben zuvor Freunden und Gelehrten zum Durchlesen hier und dahin geschicket.“28 Die chronologisch erste dieser Stellungnahmen stammte aus der Feder von Abt Franz Stephan Rautenstrauch.29
4.
Das Schreiben Rautenstrauchs: Die erste Stellungnahme eines Gelehrten
Während die anderen später zu diskutierenden Stellungnahmen im Umfeld der Drucklegung des „Neuen Versuchs“ entstanden sind und aus den Monaten November 1777 bis Januar 1778 stammen, datiert das Schreiben Rautenstrauchs bereits vom 19. April 1775. Diese Diskrepanz hat offenbar dazu geführt, dass die Abschriften dieser Stellungnahme, die sich in den Akten im Vatikanischen Geheimarchiv bzw. im Archiv der Glaubenskongregation befinden, fälschlicherweise auf den 19. April 1778 datiert sind – offenbar hatten es die Kopisten für unlogisch erachtet, dass eine Stellungnahme zu einem Buch, das im Spätjahr 1777 erschien, bereits zweieinhalb Jahre zuvor verfasst sein sollte. Und doch war es so. Wie erklärt sich dieser Umstand? Wie gesehen zögerte Isenbiehl lange mit der Veröffentlichung seines Werkes, das er bereits im Oktober 1774 fertiggestellt hatte. Aus eigenem Antrieb schickte er das Manuskript nach Wien zur Zensur, um eine Approbation der kaiserlichen Bücherkommission zu erhalten.30 In diesem Zusammenhang ist nun auch das frühe Gutachten Rautenstrauchs zu sehen. Rautenstrauch, Jahrgang 1734, seit 1750 Benediktiner, war im Jahr der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 zum Abt der Doppelabtei Brevnov-Braunau gewählt worden. Noch im selben Jahr wurde er zum Direktor der theologischen Fakultät in Prag ernannt und wechselte am 1. Oktober 1774 in der gleichen Funktion nach Wien. „Er war damit einer von den großen einflußreichen Männern am Wiener Hofe geworden. Für die Ausbildung und Erziehung der Theologen im ganzen Bereich des Welt- wie des Ordensklerus, für die Professoren, Lehrpläne, Lehr- und Vorlesebücher aller theologischen Schulen, für die theologischen Schulen aller Klöster, für 28 29
30
ISENBIEHL, Neuer Versuch (wie Anm. 3), Vorrede. Zu ihm und seiner Tätigkeit vgl. MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), sowie Josef MÜLLER, Zu den theologiegeschichtlichen Grundlagen der Studienreform Rautenstrauchs. In: ThQ 146 (1966), S. 62-97. – DERS., Der pastoraltheologisch-didaktische Ansatz in Franz Stephan Rautenstrauchs „Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen“, Wien 1969 (WBTh 24). Im November 1774 schrieb Isenbiehl an Michaelis: „Den 25. Octob[er] bin ich und 16. andere professores gnädig entlassen worden. Ich soll im Seminario bleiben, und Theologie und Scriptur fort studieren. Hiemit bin ich zufrieden: aber 700. fl. Gehalt verlohren, schmerzet. Vielleicht schaffet sie mir mein neuer Versuch wieder, den ich gerade den 24. fertig gebracht, und nun schon nach Wien zur Censur geschicket habe.“ SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 324, fol. 429r. Auch in der am 27. Oktober 1777 datierten Vorrede seines „Neuen Versuchs“ schreibt der Autor, dass er das Werk schon vor drei Jahren niedergeschrieben habe. Vgl. auch REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 280.
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die Zensur aller in das religiöse Gebiet einschlagenden Literatur war er der maßgebliche Referent“,31 so schildert Menzel die Position, die der Abt mit dieser Ernennung erreicht hatte. Noch in Prag hatte Rautenstrauch seinen berühmten „Entwurf“ über die Neuordnung der theologischen Studien verfasst, der zur Grundlage der Studienreform nach der Aufhebung der Jesuiten unter Maria Theresia und Joseph II. werden sollte. Die hier zu besprechende Stellungnahme Rautenstrauchs zum Hauptwerk Isenbiehls ist also im Kontext der theologischen Studienreform in Wien und der damit verbundenen personellen Neuaufstellung zu sehen.32 Einleitend weist Rautenstrauch in seiner Stellungnahme vom 19. April 177533 darauf hin, dass er den „Neuen Versuch“ auf Bitten von Hofrat Martini34 begutachtet habe, dem er diesen Wunsch nicht habe abschlagen können. Mit Vergnügen habe er die Argumentation Isenbiehls gelesen und dessen außergewöhnliche Kenntnis der Bibelhermeneutik zur Kenntnis genommen. Auch wenn der Autor von der traditionellen Deutung der fraglichen Stelle abzuweichen scheine, so habe er „doch nichts, was der Orthodoxie unsers Glaubens entgegen liefe, in dem selben gefunden“, konstatiert Rautenstrauch abschließend. Die „Chrestomathia patristica“ Isenbiehls, die dieser im „Neuen Versuch“ zitiert hatte, habe er in Wien bisher nicht erwerben können, allerdings habe er eine Rezension in den „Göttingischen Anzeigen“ gelesen. Im zweiten Teil seines Schreibens kommt Rautenstrauch auf die für 1776 geplanten Veränderungen im Hinblick auf die biblischen Studien an der Wiener Universität zu sprechen. Bisher sei die Hl. Schrift in den Vorlesungen Vers für Vers heruntergelesen worden, „wodurch dieses Studium mehr zu einem blossen Gedächtniß=Geschäft, als zu einer Wissenschaft gemacht wurde“. Von nun an solle in den ersten fünf Monaten die Hermeneutik des Alten Testaments und in den letzten fünf Monaten die Hermeneutik des Neuen Testaments gelehrt werden. Die Anwendung der hermeneutischen Regeln auf einzelne, schwierigere Stellen solle aufgezeigt und die Schüler darin geübt werden. Dazu seien aber geeignete Lehrbücher erforderlich, an denen es zurzeit noch mangele. Vielleicht könne es eine lohnende Aufgabe für Isenbiehl sein, ein solches Werk zu verfassen. Soweit die Stellungnahme des Abtes zum „Neuen Versuch“. Rautenstrauch hebt also ausdrücklich die Hermeneutik Isenbiehls hervor; er erkennt die Abweichung von der bisherigen Lehrmeinung, sieht darin aber keinen Verstoß gegen den katholischen Glauben; das Werk hat ihn auf die „Chrestomathie“ Isenbiehls neugierig gemacht und er schildert dem Mainzer Theologen die geplanten Änderungen am Wiener Lehrplan in der Hoffnung, dieser werde evtl. ein dafür geeig-
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MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 159. Die entsprechende Instruktion ist ebd., S. 256, abgedruckt. Der Kaiser sollte ihn schließlich 1782 zum Hofrat ernennen, dem die Gründung der Generalseminarien übertragen wurde. Der Abt, der als Begründer der Pastoraltheologie gilt, starb 1785 während einer Visitationsreise in Ungarn. Vgl. Quellentext Nr. 3 im Anhang. Karl Anton Martini (1726-1800) vertrat die juristische Fakultät in der Studienhofkommission, während die theologische von Rautenstrauch vertreten wurde. Insgesamt gehörten diesem Gremium zehn Personen an. Vgl. MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 160.
Franz Stephan Rautenstrauch und seine Rolle im Fall Isenbiehl
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netes Lehrbuch verfassen. Diese inhaltlichen Schwerpunkte der Stellungnahme Rautenstrauchs sollen im Folgenden ein wenig näher beleuchtet werden.
5.
Zur Frage einer möglichen Berufung Isenbiehls nach Wien35
Zum Stein des Anstoßes wurde später die Aussage Rautenstrauchs, im „Neuen Versuch“ Isenbiehls habe er nichts entdeckt, was der katholischen Glaubenslehre widerspräche. Nun fällt auf, dass die Wiener Zensurkommission,36 der Rautenstrauch als theologischer Fachreferent angehörte, zu einem deutlich anderslautenden Urteil gekommen ist.37 Wie ist das zu erklären? Isenbiehl hatte sein Werk am 24. Oktober 1774 abgeschlossen und unmittelbar darauf nach Wien geschickt. Möglicherweise war Rautenstrauch, der im selben Monat den Ruf nach Wien erhalten hatte, noch gar nicht etabliert, als der Zensurauftrag in der Kommission erteilt wurde. Jedenfalls scheint er nicht der eigentliche Zensor gewesen zu sein. Ob er bei der Schlussabstimmung in der Kommission überstimmt wurde oder seine Meinung angesichts des Urteils des Zensors vielleicht bereits geändert hatte, muss wohl offenbleiben. Das in Mainz herausgegebene Religionsjournal nahm jedenfalls im Jahr 1783 Letzteres an: „In Betreff des Briefes von dem Herrn Abbten Rautenstrauch zu Wien vom Jahr 1775. verdient, angemerkt zu werden, daß er seine dem Isenbiehlischen Versuche nur im Punkte der Orthodoxie etwas günstige Meynung nicht würde ausgestellt haben, wenn er die nicht lange hernach erfolgte genaue Beurtheilung der Wiener Büchercensur über den im Manuscript ihr von dem Verfasser zugeschickten Versuch über den Emmanuel erwartet hätte; denn als dieses, die Approbation und Beförderung zum Druck von daher zu erhalten, ohne Namen des Verfassers eingesendete Manuscript der theologischen Censur zur Beurtheilung überlassen worden, hat sie darinn bey fünfzig Stellen (wir haben sie im Rel. Journ. 1778. S. 58. angezeigt)38 als irrig, falsch und leichtfertig angemerkt; und hiedurch die sämmtliche Censur=Commission veranlasset, die ganze Schrift als opus falsum, temerarium & erroneum (falsch,
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Reichert hat diese Frage bewusst ausgeklammert, wohl um sie in einer späteren Publikation zu bearbeiten, die indes nie erschienen ist. Vgl. REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 280, Anm. 22. Auch die Forschungen Helmut Mathys zum Fall Isenbiehl wurden nicht publiziert. Vgl. ebd., S. 278, Anm. 7. Vgl. zur Arbeitsweise und den Mitgliedern dieser Kommission MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 239-242. „Auf theologischem Gebiet war der Einfluß Rautenstrauchs unbestritten.“ Ebd., S. 240. Vgl. Nova Bibliotheca ecclesiastica Friburgensis IV (1779), S. 257f. Das Werk lag der Zensurkommission anonym vor, d.h., der Name des Autors war den Zensoren angeblich nicht bekannt gewesen. Vgl. auch die entsprechende Notiz im von Hermann Goldhagen in Mainz herausgegebenen Religionsjournal 1778, Besonderes Heft für den ersten Band der Beylagen, S. 58f. Der im Anhang Nr. 7 abgedruckte Brief des Wiener Erzbischofs Migazzi an den Mainzer Kurfürsten Friedrich Karl von Erthal vom 3. Juli 1778 diente dieser Meldung offenbar als Quelle. Vgl. Anm. 37.
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vermessen und irrig) zu verwerfen.“39 Rautenstrauch hatte den „Neuen Versuch“ also offensichtlich nicht in amtlicher Funktion als Zensor, sondern sozusagen privat von Hofrat Martini erhalten.40 Ob Letzterer den Text direkt von Isenbiehl zugeschickt bekommen hatte oder ob es noch weitere Mittelsmänner gab, geht aus den erhaltenen Quellen nicht hervor. In Frage käme u. a. der von Isenbiehl in einem Schreiben vom 15. Mai 1775 erwähnte Professor Ignaz Mathes von Heß, der ebenfalls in Göttingen studiert hatte und seit 1774 Universal- und Literaturgeschichte an der Universität Wien lehrte.41 Zudem hatte Isenbiehl in Wien einen Vetter, der dort Jura studierte.42 Isenbiehl hatte durch die Versendung seines Manuskripts nach Wien offenbar ein doppeltes Ziel verfolgt: Durch die erhoffte Approbation von höchster Stelle hoffte er, seinen Gegnern frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen, er wollte aber auch den Wiener Behörden Gelegenheit geben, aus eigener Anschauung zu prüfen, ob die Gerüchte über ihn zuträfen, die seit der Aberkennung seines Lehrstuhls im Umlauf waren, „damit man daraus vorher meine Denkensart kennen lerne, ob sie sich nach Wien schicke oder nicht“.43 Diese Aussage lässt sich in Verbindung mit ähnlichen Anklängen wohl nur so plausibel deuten, dass nach der Absage des Trierer Theologen Gertz, der seinen im Oktober 1774 erfolgten Ruf wohl noch im selben Monat ausgeschlagen hatte, da sein Landesherrn ihn in Trier halten wollte,44 offenbar überlegt worden ist, den Mainzer Exegeten nach Wien zu berufen. Isenbiehl erwähnt in einem Schreiben vom 3. Dezember 1774 an Michaelis ein Gutachten, das Michaelis seinetwegen abgegeben habe und gibt eine Deckadresse an, damit sein Gesuch um eine auswärtige Professur – vielleicht hatte er sich auf Anraten seines Freundes Gertz selbst beworben, der ihm auch vom Gutachten Michaelis’ berichtet hatte – sowie die Bitte um Beurteilung seines „Neuen Versuchs“ nicht entdeckt und hintertrieben werden könnten.45 Wenig später, am 28. Dezember, bat er seinen Lehrer, nichts weiter für ihn zu unternehmen, fügte aber hinzu: „Nun ist mir eine professur zu Wien immer lieber, als eine zu Mainz, weil die Frucht derselben sich dort weiter ausbreitet, und weil ich für mich mehrere Hülfsmittel finde, oder anschaffen könnte. Wenn sich in 39 40
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Religions=Journal 1783, S. 265f. Das erklärt auch die „zwey Wiener Briefe“, die Isenbiehl seinem Lehrer Michaelis in Abschrift am 15. Mai 1775 (siehe Anhang 5) zuschickte: Sehr wahrscheinlich hat es sich um die private Stellungnahme Rautenstrauchs sowie um das offizielle Urteil der Bücherkommission, das ihm vermutlich durch Martini übermittelt worden war, gehandelt. Zu Heß vgl.Gerald GRIMM, Ignaz Mathes von Heß (1746-1776). Ein deutsch-österreichischer Aufklärungspädagoge und Schulreformer der spättheresianischen Epoche. In: Dieter JEDAN / Fritz-Peter HAGER (Hg.), Educational Thinkers of the Enlightenment an their Influences in different Countries, Murray/Kentucky (USA) 1987, S. 50-65. Auch Heß war 1772 im Bericht von Birkenstock über Talente an der Universität Göttingen erwähnt worden. Vgl. LHOTSKY, Bericht (wie Anm. 11), S. 59, dort „Hesse“ geschrieben. Isenbiehl erwähnt seinen Vetter in seinem Schreiben an Michaelis vom 3. Dezember 1774 (siehe Anhang 1). Ebd. Vgl. REICHERT, Gertz (wie Anm. 4), S. 52f. Anhang Nr. 1. Isenbiehl erwähnt, dass die geplante Berufung des Kanonikus Haerdt zum Direktor der Mittelschulen in Wien durch Indiskretionen vereitelt worden sei.
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Zukunft eine Gelegenheit darbietet, mir dieselbe zu verschaffen, so werde ich sie auf alle Wege ergreifen; und auf den Fall bitte ich auch Ewer Wohlgebohren, das Ihrige zu meinem besten zu thun.“46 Ob das Urteil der kaiserlichen Bücherkommission über den „Neuen Versuch“ mit ausschlaggebend dafür gewesen ist, dass aus dieser Berufung schließlich nichts wurde, muss Spekulation bleiben, da sich keine entsprechenden Akten erhalten haben. Isenbiehl selbst äußerte sich jedenfalls bereits vor dem Urteil der Bücherkommission skeptisch: „Wenn die Wiener auf meine eigene Arbeit keine Rücksicht nehmen: so verzeihe ich auf ihre professuren. Denn entweder kennen sie sie nicht; und dann will ich lieber ruhig auf dem parterre als auf dem Schauplatze stehen: oder sie kennen sie; und dann wird ihnen meine Offenherzigkeit so wenig gefallen, als den Mainzern, im Falle sie mich zurücksetzen.“47 Immerhin waren Gertz und Isenbiehl wie gesehen 1772 von Michaelis gegenüber dem Talentsucher aus Wien für eine künftige Lehrtätigkeit empfohlen worden; es gibt daher keinen Grund, an den Angaben in Isenbiehls Privatschreiben zu zweifeln, dass er Mitte der siebziger Jahre für einen Ruf nach Wien im Gespräch war.48
6.
Die sogenannte Chrestomathie Isenbiehls
Rautenstrauch berichtet in seiner Stellungnahme von seiner Absicht, sich die sogenannte Chrestomathie Isenbiehls (ein Florilegium aus Schriften der Kirchenväter für den griechischen Sprachunterricht) im Buchhandel zu besorgen, was ihm bisher noch nicht gelungen war.49 Allerdings hatte er eine Rezension in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen gelesen. Offenbar war es ein Hinweis im „Neuen Versuch“ gewesen, der den gelehrten Abt auf dieses Werk neugierig gemacht hatte. Die „Göttingischen Anzeigen“ waren eines der bedeutendsten Rezensionsblätter der Aufklärungszeit und gaben den Gelehrten des deutschen Sprachraums die Möglichkeit, an den innovativen Ideen der in Göttingen, der damals wohl führenden deutschen Universität, vertretenen Hochschullehrer zu partizipieren. Rautenstrauch empfahl dieses Periodikum später für die Lektüre in den Generalseminarien, und zwar als einziges
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Anhang Nr. 2. Ebd. Letztmals äußerte sich Isenbiehl in einem Brief vom 13. März 1777 an Michaelis zur Frage einer möglichen Berufung nach Wien: „Aus eben diesen Ursachen bitte ich Ewer Wohlgebohren, dermalen alle Gedanken von einer Beförderung auf Wien fahren zu lassen. Sollte das auch nachher einmal geschehen können, so werde ich alsdann ebenso wenig meine Entlassung von hier bekommen können, als dermalen, da ich schon vor 3. Monaten darum gebetten habe.“ Vgl. Anhang Nr. 6. Nach der späteren Verurteilung seines „Neuen Versuchs“ durch den Reichshofrat und den Papst (s. u.) war wohl an einen Ruf nach Wien nicht mehr zu denken. Isenbiehl erwähnt den Grund dafür im Schreiben an Michaelis vom 3. Dezember 1774: Obwohl das Werk die kirchliche Approbation erhalten hatte, trug der Verleger offenbar Bedenken, es nach dem Tod des Kurfürsten Emmerich Joseph und der damit verbundenen Absetzung Isenbiehls als Professor auszuliefern. Vgl. Anhang Nr. 1.
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ausdrücklich genanntes Rezensionsblatt.50 Der Fakultätsdirektor selber nutzte die Möglichkeiten des in Wien eingerichteten sogenannten Lektürekabinetts, wo er in einem Lesesaal die gelehrten Zeitschriften und Neuerscheinungen einsehen und auswerten konnte. Die „Orientalische und exegetische Bibliothek“, 1771-1779 herausgegeben vom Göttinger Lehrer Isenbiehls Michaelis wurde ebenfalls von ihm geschätzt.51 Rautenstrauch schöpfte reichlich aus diesem Fundus, aber auch aus vergleichbaren Journalen, wie seine erhaltenen Exzerptsammlungen z. B. im „Diarium eruditum“ zeigen.52 Die von ihm genannte Rezension zur „Chrestomathie“ Isenbiehls findet sich im 31. Stück des Jahresbandes 1775 der „Göttingischen Anzeigen“ vom 14. März 1775.53 Der Autor, wohl der Göttinger Professor Christian Wilhelm Franz Walch, verweist auf die von Isenbiehl bereits bei seinem Aufenthalt in Göttingen an den Tag gelegten Beweise seines Fleißes und betont, dass es sich bei dem zu besprechenden Werk,54 das von Isenbiehl – wie aus dem Titel hervorgeht – als Lehrbuch für seinen Sprachunterricht gedacht war, um eine Innovation handle. Der Mainzer Gelehrte hatte 163 Stellen aus den Schriften der griechischen christlichen Schriftsteller der ersten sieben Jahrhunderte zusammengetragen, wobei ihm der Rezensent eine gut gelungene und abwechslungsreiche Auswahl bescheinigt. Das Buch sei eine sprechende Antwort auf die immer wieder gehörte Frage, welchen Nutzen es bringe, die Kirchenväter zu lesen. Besonders verweist der Rezensent auf die Vorrede des Werkes, die den Nutzen der Lektüre der Kirchenväter geschickt begründe, zum Teil mit Argumenten, die man von einem katholischen Hochschullehrer nicht erwartet hätte. Soweit die Rezension. Die Anmerkung im „Neuen Versuch“, mit der sich Isenbiehl auf seine Chrestomathie bezieht, findet sich im Kapitel „Von dem Zeugnisse der Kirchenväter“ auf Seite 126. Der Autor argumentiert an dieser Stelle, dass man aus Aussagen der Kirchenväter nicht ohne Weiteres auf den definierten Glauben der Kirche schließen könne.55 Pikanterweise gehörte diese Stelle aber zu den wenig später vom Gutachter der Zensurkommission als – wie gesehen – „irrig, falsch und leichtfertig“ inkriminierten Aussagen des Buches.56 Offenbar war es aber dieser Gedankengang Isenbiehls gewesen, der die Aufmerksamkeit Rautenstrauchs erregt hatte.57
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Vgl. MÜLLER, Ansatz (wie Anm. 29), S. 63, Anm. 232. Vgl. ebd., S. 63-66. Vgl. ebd., S. 71 mit Anm. 276. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1775, 31. Stück, 14. März 1775, S. 258-261. Danach das Folgende. Isenbiehl hatte das Buch wohl gegen Ende des Jahres 1774 an Michaelis geschickt, vgl. Anhang Nr. 2. Isenbiehl bedankte sich am 15. Mai 1775 für die Rezension, vgl. Anhang Nr. 5. Vgl. Anm. 18. Vgl. ISENBIEHL, Neuer Versuch (wie Anm. 3), S. 122-132, hier S. 126. Vgl. das im Anhang Nr. 7 abgedruckte Antwortschreiben des Wiener Erzbischofs Migazzi an den Mainzer Kurfürsten vom 3. Juli 1778, wo die Seite 126 unter den anstößigen Stellen genannt wird. Der Autor selbst hatte sein Werk gegenüber Michaelis wie folgt charakterisiert: „Der Stoff ist so ausgesuchet, daß er Gelegenheit gibt, gerade jene Fächer kennen zu lernen, welche bey Katholi-
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7.
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Zur Bibelhermeneutik Isenbiehls und Rautenstrauchs
Besonders fällt auch das Lob Rautenstrauchs für Isenbiehls Bibelhermeneutik auf. Ein Blick in den berühmten „Entwurf“ des Abtes zur besseren Einrichtung der theologischen Schulen zeigt, dass darin mehrfach die Bedeutung der Hermeneutik hervorgehoben wird, da die Heilige Schrift die Grundlage aller theologischen Studien sei.58 Sie steht deshalb auch zusammen mit der Patristik am Beginn des theologischen Curriculums im zweiten Studienjahr. Wörtlich heißt es im einleitenden Kapitel des Studienplans, ein künftiger Diener des Evangeliums müsse daher „sowohl seine Bibel verstehen, sie erklären und deutlich machen können und dies mittels der Hermeneutica sacra oder dem Studio Scripturistico lernen, als auch die Väter der Kirche und ihre Schriften und Bücher kennen, unter diesen die unechten von den echten unterscheiden wissen, was für Autorität ihnen die Kirche beilege, wie die Väter überhaupt zu lesen und nach was für Regeln der Kritik sie zu erklären seien, weshalb er mittels einer gründlichen Patristik lernen muß“.59 Vergleicht man den Abschnitt aus dem „Entwurf“, der sich mit den Inhalten des zweiten Studienjahrs befasst, mit dem vorliegenden Gutachten Rautenstrauchs für Isenbiehl, so wird aufgrund weitgehender wörtlicher Übereinstimmung schnell deutlich, dass der zweite Teil des Gutachtens im Grunde ein Exzerpt dieses Absatzes darstellt, der sich mit der Hermeneutik der Hl. Schrift befasst.60 Diese Tatsache, die bisher niemandem aufgefallen ist, lässt wohl folgende Deutung zu: Angeregt von der innovativen Bibelhermeneutik Isenbiehls teilte Rautenstrauch diesem seine diesbezüglichen Studienreformpläne mit, möglicherweise in der Absicht, diesen anzuregen, ein geeignetes Lehrbuch für diese Materie zu verfassen.61 Noch deutlicher zeigt der Abschnitt über die Hermeneutik der Glaubenslehre aus Rautenstrauchs „Entwurf einer besseren Einrichtung theologischer Schulen“, wieso der „Neue Versuch“ Isenbiehls den Wiener Fakultätsdirektor angesprochen hat. Deshalb sei dieser Schlüsseltext hier zitiert: „Die Natur des systematischen Zusammenhangs erfordert ferner, daß bei jedem zu demonstrierenden Glaubenssatze nicht wie bisher allerlei Proben ohne Wahl und Kritik zusammengestoppelt werden, die bei
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ken öde gelegen sind, oder auch das Gute und angenehme der Kirchenväter so, wie ihre Teuglichkeit zu zeigen.“ Vgl. Anhang Nr. 2. Vgl. dazu auch den Eintrag Rautenstrauchs in seinem Diarium eruditum vom 3. Januar 1784: „Wer nicht die Bibel im Original verstehen kann, das N.T. ganz und das A.T. wenigstens in den Hauptstellen, die ganze gelehrtere Theologie gelernt und durchdacht, mit ihrer Geschichte sich bekannt gemacht, ältere Theologen gelesen […], der sollte es nicht wagen, vor einer christl. Gemeinde aufzutreten oder ihr gar vorstehen zu wollen, am wenigsten aber Schriften über das Christentum herauszugeben.“ Zitiert nach MÜLLER, Grundlagen (wie Anm. 29), S. 96, Anm. 130. Zitiert nach der Edition bei ebd., S. 144. Vgl. ebd., S. 148f. Die beiden Quellentexte sind im Anhang Nrn. 3 u. 4 zum Vergleich abgedruckt. Die Korrespondenz zwischen Isenbiehl und Rautenstrauch war also nicht durch den Studienreformplan ausgelöst worden, wie Menzel meint, sondern war eine Folge der im „Neuen Versuch“ dargelegten Bibelhermeneutik Isenbiehls. Vgl. MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 201.
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genauerer Prüfung nicht Stich halten, sondern nur jene vorzutragen sind, die ein strengere Prüfung aushalten und eigentlich die klassischen sind. Und damit die Schüler auch die Stärke derselben einsehen lernen, so soll der Professor nicht nur die Probe-Texte bloß herunterrezitieren, sondern selbe nach den Regeln der Hermeneutik genau zergliedern und durch Anführung desjenigen sowohl, was vorausgeht, als was in dem Kontext folgt, wie auch den wahren Sinn der ganzen Absicht eines heiligen Schriftstellers, den man anführt, unwiderleglich zeigen. Sind es solche Sätze, die entweder aus der Vernunft erwiesen oder faßlicher gemacht werden können, so ist es dem Professor allzeit erlaubt, die Übereinstimmung der geoffenbarten Religion mit der Vernunft zu zeigen.“62 Im Grunde hatte Isenbiehl dieses Programm in seinem „Neuen Versuch“ genau umgesetzt – er war ja zu diesem Zeitpunkt einer der wenigen katholischen Theologen überhaupt im deutschen Sprachraum, die dazu in der Lage waren –, woraus sich mühelos das Wohlwollen Rautenstrauchs gegenüber dem Mainzer Exegeten erklärt. Offenbar entspann sich aus dem Gutachten Rautenstrauchs ein Schriftwechsel zwischen den beiden Männern, der sich aber leider nicht erhalten hat.63 Jedenfalls hat Isenbiehl Anfang Mai 1775 in einem Antwortschreiben an den Wiener Fakultätsdirektor die angesprochenen hermeneutischen Fragen erörtert, wie aus einem wenig später verfassten Brief an seinen Lehrer Michaelis hervorgeht: „Inzwischen freuts mich, daß der Schaden der nicht-erfolgten approbation durch den Gewinst der Bekanntschaft mit dem Abt Rautenstrauch ersetzet ist. Ich habe ihm vor acht Tagen geantwortet, daß ichs nicht für rathsam hielte, die hermeneutischen Regeln voraus zu schicken, weil sie ohne Sprachkenntnisse nicht recht können verstanden, und ohne einige Übung im exegesiren nicht leicht können beigebracht werden; noch weniger die hermeneutic übers alte und neue Testament abzutheilen.“64 Der Mainzer Exeget hatte einen entsprechenden knappen Lehrplan entworfen und für die weitere Zukunft eine ausführlichere Version und möglicherweise sogar – wie von Rautenstrauch im Gutachten angeregt – die Abfassung eines Schulbuchs in Aussicht gestellt („weil ich aber sehe, dass der Abt in die hermeneutic ganz verliebt ist“)65, wofür er sich von Michaelis Anregungen erbat. Isenbiehl korrespondierte also bereits im Vorfeld der Einführung des Studienplans Rautenstrauchs 1776 in Mainz mit dessen Autor, um dabei inhaltliche Fragen zu diskutieren.66 Zudem beklagte er sich über die Anfeindungen seiner 62 63
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MÜLLER, Ansatz (wie Anm. 29), S. 154. Vgl. die Überschrift des vorliegenden Beitrags. Die Briefe auswärtiger Absender der Jahre 1773-1783, auf die sich Menzel bei der Erarbeitung seiner Monographie noch stützen konnte, sind seit 1948 verschollen. Vgl. REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 281, Anm. 26. Die Passivkorrespondenz Isenbiehls ist nicht überliefert. Anlage Nr. 5. Ebd. Vgl. zur Rolle des Mainzer Geistlichen Rats Johann Valentin Schumann bei der Einführung der Wiener Studienplans in Trier Franz Rudolf REICHERT, Trierer Seminar- und Studienreform im Zeichen der Aufklärung (1780-1785). In: AMRhKG 27 (1975), S. 131-202, hier S. 152-154. Vgl. auch DERS., Gertz (wie Anm. 4), S. 97. Schumann gehörte unter Fürstbischof Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim der Schulreformkommission sowie dem Mainzer Freundesund Unterstützerkreis Isenbiehls an. Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 627 mit Anm. 21 u. 23.
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Gegner und erwähnte seine beiden Buchprojekte, das Kompendium der Lehrentscheidungen sowie die Konkordanz, die er dem Direktor der Wiener theologischen Fakultät zur Begutachtung zusenden wollte. Rautenstrauch ging auf diese Schreiben Isenbiehls nicht mehr groß ein,67 wohl um nicht selbst in den Geruch der Heterodoxie zu kommen.
8.
Das Gutachten Rautenstrauchs im Vergleich mit anderen Stellungnahmen
Wie gesehen, zögerte Isenbiehl lange mit der Veröffentlichung seines Werkes und suchte, zunächst eine Druckerlaubnis bzw. wenigstens zustimmende Gutachten weiterer katholischer Gelehrter zu erlangen, um sich rechtzeitig gegen die zu erwartenden Angriffe abzusichern. Das war im Herbst 1777 dadurch leichter möglich, da das Werk bereits im Druck war und so von ihm in seinen hauptsächlichen Teilen (Seite 3-224; es fehlten nur etwa 70 Seiten) an andere Wissenschaftler versandt werden konnte. Diese Stellungnahmen sollen im Folgenden kurz in chronologischer Reihenfolge referiert werden, um die Position Rautenstrauchs damit vergleichen zu können. Am 4. November 1777 urteilte der Trierer Bücherzensor Philipp Cordier, dass nichts darin enthalten sei, was dem wahren Glauben widerspreche.68 Der Trierer Weihbischof Nikolaus von Hontheim, der sich auf die ihm bereits vorliegende Stellungnahme Cordiers stützte, wich zwar von der Auffassung Isenbiehls ab, erhob aber keinerlei Einwände gegen die Publikation des „in keinem Stück gegen unsere heilige Religion anstoßende[n] Werk[es]“.69 Auch der Würzburger Theologieprofessor Franz Oberthür hatte sich auf Bitten Karl Theodor von Dalbergs, der mit Oberthür eng befreundet war und Isenbiehl seit Jahren protegierte, mit dem Werk Isenbiehls auseinandergesetzt: „Ich habe nicht das mindeste angetroffen, das nur von weitem einer Kezerei gleich sähe.“ Er schließt ausdrücklich die Möglichkeit aus, dass das Werk der Religion schaden könne, denn diese habe selbst ein Interesse daran, dass zu ihrer Verteidigung nur solche Argumente gebraucht würden, die jeder, auch der schärfsten, Kritik stand-
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Vgl. MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 201. „[N]ihil in eo reperitur, fidei orthodoxae repugnans.“ Der mit „Approbatio“ überschriebene lateinische Text vom 4. November 1777 ist abgedruckt in LE BRETS Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 24. Vgl. dazu REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 290f. Der Text des Schreibens Hontheims an Isenbiehl vom 6. November 1777 ist abgedruckt in LE BRETS Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 24f. Vgl. dazu REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 289-291. Siehe auch LE BRETS Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VII (1780), Vorrede, darin in einer Fußnote: Schreiben Hontheims an den Kurfürsten v. Trier vom 9. April 1778. Hontheim lagen zu diesem Zeitpunkt auch die Stellungnahmen von Oberthür, Seelmann und Gertz vor. Zu Hontheim vgl. Wolfgang SEIBRICH, Art. Hontheim, Johann Nikolaus (1701-1790). In: GATZ, Bischöfe 1648-1803 (wie Anm. 21), S. 192-195.
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halten könnten.70 Es handelt sich zweifellos um das wohlwollendste der Gutachten zugunsten Isenbiehls.71 Der Speyerer Weihbischof Andreas Seelmann – der Lehrer des ersten Linzer Bischofs Joseph Anton Gall72 – äußerte sich vorsichtig positiv, was für seinen Fürstbischof Damian August von Limburg-Styrum73 bald ein willkommener Anlass sein sollte, seinen ihm missliebigen Weihbischof zu maßregeln. Der Weihbischof hatte nichts in dem Buch gefunden, das dem Glauben widersprechen würde, hält die Erkenntnisse Isenbiehls für „viel wahrscheinlicher“ als die bisher gängige Lehrmeinung und erwartet allgemeinen Beifall für das Werk in den Ordinariaten und Fakultäten.74 Natürlich fiel das Gutachten des Studienfreundes Isenbiehls und Trierer Exegeten Johannes Gertz ebenfalls positiv aus.75 Die Stellungnahme des Kölner Juristen und Domherrn Franz Karl Joseph von Hillesheim war hingegen inhaltlich nichtssagend. Er lobte die philologischen Kenntnisse Isenbiehls, lehnte aber als Rechtsgelehrter, der kein Fachtheologe sei, eine Begutachtung ab. Wunschgemäß werde er gerne den „Neuen Versuch“ sowohl an die Kölner als auch an die Bonner Minoriten weiterlei-
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Die Stellungnahme Oberthürs besteht in einem Brief von seiner Seite an Karl Theodor von Dalberg vom 22. Dezember 1777 und ist abgedruckt in LE BRETS Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 25-28. Zur Rolle Oberthürs im Isenbiehlschen Streit vgl. Annemarie LINDIG, Die Passivkorrespondenz Professor Franz Oberthürs (1745-1831), 3 Bde., Diss. (masch.), Würzburg 1963, S. 190-199, sowie Ferdinand KOEPPEL, Karl von Dalbergs Wirken für das Hochstift Würzburg unter Franz Ludwig von Erthal. In: ZBLG 17 (1953/54), S. 253-298, hier S. 294-297. Franz Ludwig von Erthal, der im Jahr darauf zum Fürstbischof von Bamberg und Würzburg avancierte, soll Oberthür gegenüber in der Lehrstreitigkeit um Isenbiehl eine offene Haltung vertreten haben. Vgl. Franz MACHILEK, Das Leben und Wirken des Franz Ludwig von Erthal vor 1779. In: Renate BAUMGÄRTEL-FLEISCHMANN (Hg.), Franz Ludwig von Erthal. Fürstbischof von Bamberg und Würzburg 1779-1795, Bamberg 1995, S. 11-19, 16. Tatsächlich wurde von Oberthür später kein förmlicher Widerruf verlangt. Zu ihm Rudolf ZINNHOBLER, Art. Gall, Joseph Anton (1748-1807). In: GATZ, Bischöfe 1785/1803-1945 (wie Anm. 15), S. 228f. Zu ihm vgl. Hans AMMERICH, Art. Limburg-Styrum, Damian August Philipp Karl Reichsgraf von (1721-1797). In: GATZ, Bischöfe 1648-1803 (wie Anm. 21), S. 279-281. Seelmanns Gutachten datiert vom 16. Januar 1778. Vgl. dazu JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 639-652 und S. 832f. Seelmann interpretierte später den von ihm erwarteten Beifall anderer Theologen als Vorbehaltsklausel: Da das Urteil der Fakultäten und Ordinariate negativ ausgefallen sei, sei auch sein Gutachten hinfällig. Sehr wahrscheinlich war auch er von Dalberg zu seiner Stellungnahme aufgefordert worden. Das lateinische Gutachten ist abgedruckt in LE BRETS Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 30-36. Zu Gertz vgl. REICHERT, Gertz (wie Anm. 4), bes. S. 93-98 bzw. DERS., Trier (wie Anm. 4), bes. S. 286-289. Beachte auch ebd., S. 287, Anm. 52, welche im Vergleich zu einem handschriftlichen Exemplar des Gutachtens aus der Seminarbibliothek Trier eine sinnentstellende Auslassung bei Le Bret nachweist, die aber das Gesamturteil nicht beeinflusst. Gertz spielte wie Rautenstrauch wenig später auch eine Rolle im ökumenisch orientierten sogenannten Fuldaer Reunionsplan. Vgl. Christopher SPEHR, Aufklärung und Ökumene. Reunionsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im deutschsprachigen Raum des späteren 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 182-184 und 196-200.
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ten, allerdings solle sich der Korrespondenzpartner nicht allzu viel Hoffnung machen.76 Isenbiehl hatte sein Manuskript auch an Michaelis in Göttingen und an Karl von Piesport77 in Fulda geschickt, deren Gutachten aber nicht erhalten geblieben sind. Laut Isenbiehl hatte sein Lehrer Michaelis nichts an seinem „Neuen Versuch“ auszusetzen gehabt.78 Vergleicht man die vorliegenden Stellungnahmen, so betonen alle Gutachter, dass das Werk Isenbiehls den Glaubensinhalten nicht entgegenstehe. Während Cordier und Hontheim aber ausdrücklich betonten, dass sie persönlich Isenbiehl inhaltlich nicht folgen könnten, äußerten sich Seelmann und noch mehr Oberthür (vorsichtig) zustimmend zur Hauptthese des Exegeten, während Gertz – ähnlich wie Rautenstrauch – sich auf eine reine Defensivposition beschränkte und Hillesheim eine Stellungnahme im Grunde ablehnte. So gesehen fand sich Rautenstrauch durch seine Stellungnahme in einer Art Avantgarde klangvoller Namen der deutschsprachigen Theologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder; was die Eindeutigkeit seiner Positionierung betrifft, gehört er ins Mittelfeld der Verteidiger Isenbiehls. Als Johann Nikolaus von Hontheim, der als Verfasser des „Febronius“ sicher einer der Protagonisten der deutschen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts gewesen ist, am 9. April 1778 an seinen Bischof, den Kurfürsten von Trier schrieb: „[…] gleichwohlen bin ich unterthänigst versichert, daß Höchstdieselben nicht in den Gedanken stehen werden, als wäre mir, dem Speyerischen Weybischoff, ernannten dreyen Professoribus Theologiae […] und mehrern andern, Ihnen beystimmenden Gelehrten nur zum mindesten in den Sinn gekommen, der Religion einen bösen Streich zu versetzen“,79 brachte er damit das Selbstverständnis der Verteidiger Isenbiehls zum Ausdruck: Wie der Mainzer Exeget selber hatten sie der Kirche einen Dienst erweisen wollen. Sie hatten sich in ihrer Meinung durch die Stellungnahmen der anderen Gelehrten bestärkt gefühlt, fanden sich nun aber im Verdacht der Ketzerei wieder. Für Hontheim wurde diese Affäre schließlich zum Anlass, seinen berühmten „Febronius“ widerrufen zu müssen,80 Seelmann entging nur knapp einer Absetzung. Gab es möglicherweise auch Folgen der Stellungnahme Rautenstrauchs? 76
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Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 831f. Zu Hillesheim (1731-1803), der der Kölner Delegierte bei den Koblenzer Gravamina 1769 gewesen war, vgl. Arnold STELZMANN, Franz Carl J. von Hillesheim. Ein Beitrag zur rheinischen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: AHVNRh 149/50 (1950/51), S. 181-232, sowie Peter FROWEIN, Philipp Hedderich (1744-1808). Ein rheinischer Kanonist aus dem Minoritenorden im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Wien 1973 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte, Bd. 3), S. 23, Anm. 55. Zum Kontakt Karl Freiherr von Piesports OSB (1716-1800), Geistlicher Rat, Hoftheologe und Regierungspräsident in Fulda, mit Johann Gertz vgl. REICHERT, Gertz (wie Anm. 4), S. 46 und 95f. Vgl. Anhang Nr. 5 sowie REICHERT, Trier (wie Anm. 4), S. 280-282. Johann Friedrich LE BRET, Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VII (1780), Anmerkung zur Vorrede. Vgl. dazu zuletzt SPEHR, Aufklärung (wie Anm. 75), S. 34f. mit Anm. 10 (Literatur), sowie für unseren Zusammenhang Manfred BRANDL, Bemühungen der Wiener Nuntiatur um die Verbreitung von Hontheims (Febronius’) Widerruf (1779). In: RöHM 20 (1978), S. 77-107, bes. S. 79.
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9.
Der weitere Verlauf der Angelegenheit bis zur Verurteilung durch den Papst
Der weitere Verlauf der Affäre Isenbiehl, der schließlich zum feierlichen Verbot des Werkes durch den Hl. Stuhl führte, kann hier nicht näher entfaltet werden, das ist bereits andernorts geschehen und würde den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen.81 An dieser Stelle soll lediglich der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Stellungnahme Rautenstrauchs bei den auf die Veröffentlichung des „Neuen Versuchs“ folgenden theologischen Streitigkeiten und Sentenzen spielte. Um es gleich vorweg zu sagen: Offenbar kaum eine. In den erhalten gebliebenen Quellen wird das Gutachten Rautenstrauchs während der etwa zwei Jahre dauernden Auseinandersetzungen m. W. nur an einer Stelle explizit, und zwar in einem Schreiben Weihbischof Seelmanns erwähnt, was aber keine Folgen zeitigte, während die Stellungnahmen namentlich der beiden Weihbischöfe einen nicht unerheblichen Wirbel verursachten – das aber hatte (zumindest auch) diözesaninterne, kirchenpolitische Gründe. Es ist zwar häufig von mehreren angesehenen Gelehrten die Rede, die den „Neuen Versuch“ gelesen und gut geheißen hätten, Rautenstrauch wird dabei aber in der Regel nicht explizit genannt, auch wenn er bei dem einen oder anderen gut informierten Autor vielleicht mitgemeint gewesen sein mag. Der Grund dafür scheint gewesen zu sein, dass das Schreiben direkt an Isenbiehl gegangen war und nicht wie in den anderen Fällen Domherren Mittelsmänner waren. Möglicherweise kursierten deswegen zunächst keine Abschriften des Textes unter den Verteidigern Isenbiehls; zumindest Weihbischof Seelmann wusste aber von der Existenz der positiven Stellungnahme Rautenstrauchs. Die Gegner Isenbiehls und wohl auch der Fakultätsdirektor selbst hatten wohl kein Interesse daran, eine hochrangige Persönlichkeit des Hofes in den Prozess zu verwickeln bzw. darin verwickelt zu werden. Unter welchem Druck seiner konservativen Gegner aus dem Episkopat Rautenstrauch im Falle eines öffentlichen Bekanntwerdens seiner Stellungnahme möglicherweise gestanden wäre, kann man sich lebhaft vorstellen, da der „Neue Versuch“ am 2. Juli 1778 auch vom Reichshofrat verurteilt worden war.82 Der Mainzer Kurfürst lobte Joseph II. dafür in einem Schreiben an den Papst vom 11. Februar 1779 mit überschwänglichen Worten für seinen Glaubenseifer und seine Frömmigkeit.83 Friedrich Karl von Erthal hatte auch 15 Bischöfe, darunter die beiden Erzbischöfe von Wien und Prag über das Mainzer Verbot des „Neuen Versuchs“ informiert und sie ebenfalls um Maßnahmen gegen das Buch gebeten. Durch die Antwort von Kardinal Migazzi vom 3. Juli 1778 wurde die Ablehnung des „Neuen Versuchs“ durch die Wiener Bücherzensur aus dem Jahr 1775 wohl erstmals außerhalb Wiens bei den Gegnern Isenbiehls bekannt und – 81 82 83
Vgl. zuletzt BURKARD, Schwierigkeiten (wie Anm. 5). – JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 653662 sowie WEBER, Isenbiehl (wie Anm. 4). Abdruck des Reichshofratsconclusums in der XIV. Beylage zum Religions=Journal. Maynz, den 29. August 1778, S. 226-229. ACDF S. O. St. St. N 5-r. Wegen seiner Kuriosität ist der Abschnitt im Anhang Nr. 9 wiedergegeben. Zu Joseph II. zuletzt Helmut REINALTER, Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, München 2011, der allerdings auf die hier interessierenden kirchenpolitischen Fragen kaum eingeht.
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wie gesehen – auch gleich publizistisch ausgenutzt.84 „Es ist leyder zu bedauern, daß diejenige, welche die Steine des Heiligthums zu seiner Aufrechterhaltung seyn sollten, ihme zum Steine der Aergerniß und des Umsturzes werden“, kritisierte der Wiener Oberhirte in seiner Stellungnahme den Mainzer Exegeten und damit indirekt auch Rautenstrauch.85 Anton Peter Graf Przichowsky von Przichowitz, der als Prager Erzbischof Rautenstrauch die Priester- und die Abtsweihe erteilt hatte, antwortete seinem Mainzer Kollegen am 28. Juli und schloss sich ebenfalls dessen Einschätzung an, „und zwar um so stärker, je verborgener und gefahrvoller die von dem Verfasser desselben darinn ausgestreute sophistische Trugschlüsse und Kunstgriffe zur Verbreitung seiner Irthümer sind“.86 Beide Erzbischöfe waren in der Vergangenheit mehrfach mit Rautenstrauch in inhaltliche Konflikte geraten und zählten zu dessen erklärten Gegnern, konnten aber nichts gegen den Abt ausrichten, weil dieser von der Regierung gedeckt wurde.87 Möglicherweise war der Umstand, dass der Mainzer Kurfürst auch diese beiden innerkirchlichen Hauptgegner Rautenstrauchs angeschrieben hatte, dem positiven Gutachten des Abtes geschuldet. Jedenfalls gelangten Abschriften und in der Folge Übersetzungen des Gutachtens Rautenstrauchs (bzw. dessen ersten Teils, da der zweite Teil lediglich die geplante Studienreform betraf) in die Unterlagen der Kölner88 bzw. Wiener89 Nuntiatur, des Staatssekretariats und von dort schließlich auch in die des Sanctum Offizium.90 Wie ist das zu erklären? Am 22. Dezember 1777 ordnete der Mainzer Kurfürst eine Hausdurchsuchung der Wohnung des inhaftierten Isenbiehl an; dabei sollten heimlich Abschriften seiner Korrespondenz angefertigt werden.91 Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Schreiben Rautenstrauchs den kirchlichen Behörden erst auf diese Weise bekannt wurde und nach Rom gelangte, ohne ans Licht der Öffentlichkeit getreten zu sein. Gedruckt wurde es erst fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in Le Brets Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte. Dem Herausgeber, einem protestantischen Aufklärer, waren die für Isenbiehl positiven Stellungnahmen vermutlich aus dem Umkreis Isenbiehls (oder von diesem selbst) zugespielt worden, so dass er sie 1783 publizieren konnte.92 Als Reaktion darauf veröffentlichte 84 85
86 87 88 89 90 91 92
Vgl. Anm. 37. Anhang Nr. 7. Zum Wiener Erzbischof vgl. Erwin GATZ, Art. Migazzi, Christoph Bartholomäus Anton Graf (1714-1803). In: DERS., Bischöfe 1785/1803-1945 (wie Anm. 15), S. 505-508. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass das Schreiben einen Tag nach dem Urteil des Reichshofrats verfasst wurde. Anhang Nr. 8. Zum Prager Erzbischof vgl. Kurt A. HUBER, Przichowsky von Przichowitz, Anton Peter (seit 1759 Graf) (1707-1793). In: GATZ, Bischöfe 1648-1803 (wie Anm. 21), S. 352f. Vgl. MENZEL, Rautenstrauch (wie Anm. 1), S. 104-109, 150-153, 178-183, 187f. und 214. – HUBER, Przichowsky (wie Anm. 86), S. 352. ASV ANC, Vol. 286, fol. 137v (ital.; irrtümlich datiert auf den 19. April 1778) bzw. fol. 145r-v (deutsch). ASV ANV, Vol. 63, fol. 61r (deutsch). ACDF S. O. St. St. N 5-r, unfol. (ital.; irrtümlich auf den 19. April 1778 datiert). DDAMz, Generalvikariatsprotokoll Mainz 1778 (1/066), pag. 47, § 144. Johann Friedrich LE BRET, Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 22-37.
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Isenbiehls publizistischer Hauptgegner, der Mainzer Exjesuit Hermann Goldhagen, noch im selben Jahr mehrere Widerrufe (v.a. der beiden Weihbischöfe von Hontheim und Seelmann), zu denen sich die Beteiligten auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mehr oder weniger gezwungen gesehen hatten. Allerdings fehlt ein solcher bei Rautenstrauch: Zu dessen Gutachten merkt Goldhagen lediglich – wie oben gesehen – an, dass diese Stellungnahme sicher anders ausgefallen wäre, wenn sie sich vor acht Jahren nicht mit dem Gutachten der Zensurkommission unglücklich überschnitten hätte. Ob Goldhagen darüber interne Informationen besaß oder ob seine Meinung lediglich auf Wunschdenken beruhte, kann aufgrund der Quellenlage heute nicht mehr entschieden werden. Ein förmlicher Widerruf, scheint jedoch von Rautenstrauch niemals verlangt worden zu sein.93 Der erste Teil seines Schreibens, der sich mit dem „Neuen Versuch“ befasste, war schließlich Teil der Unterlagen, die dem Referenten der Angelegenheit, dem Konsultor des Hl. Offiziums Giuseppe Antonio Martinelli vorlagen, als er sein Votum für die entscheidende Kardinalskongregation des Sanctum Officium am 18. März 1779 ausarbeitete.94 Die Stellungnahme Rautenstrauchs wird in diesem Votum auch erwähnt. Der Zensor referiert nämlich eingangs den bisherigen Verlauf der Angelegenheit in Deutschland und zitiert dabei ausführlich aus den ihm vorliegenden Dokumenten. Weihbischof Seelmann hatte am 29. März 1778 gegenüber seinem Fürstbischof Damian August von Limburg-Styrum95 geäußert: „[…] über daselbige Buch hab ich meine unvorgreifliche Meinung nicht als Rath von Euer Hochfürstl[ichen] Gnaden, sondern einmal als Privatgelehrter und so geäußert, wie solche mit mir einstimmig der Director Studii Theologici zu Wien und Prälat H[er]r Rautenstrauch, 2. Theologen und öfentliche Lehrer der Universität Wirtzburg, 2. Professores Theologiae zu Trier, 2. Privattheologen zu Rom, der H[er]r Weybischof von Trier, und andere mehr geäußert haben“.96 Diese Aussage aus dem von Seelmann selbst dem Papst in lateinischer Übersetzung übersandten Schreiben97 wurde wörtlich ins Gutachten Martinellis über93
94 95 96
97
Religionsjournal 1783, S. 259-271: „Anmerkungen über den II. Artikel des Herrn J.f. de Bret im VIII. Theile seines Magazins zum Gebrauch der Staaten und Kirchengeschichte.“ Zu Rautenstrauch S. 265f. ACDF S. O. St. St. N 5-r. Vgl. dazu BURKARD, Schwierigkeiten (wie Anm. 5), S. 304f. sowie S. 313f. Vgl. Anm. 73. Am Ende seines Schreibens verwahrte sich Seelmann gegen den Vorwurf, seine Stellungnahme berühre die Ehre des Fürstbischofs: „ […] immaßen ein unter vorausbemerckten Verhältnisen gestelltes Gutachten die Ehre von Euer Hochfürstl[ichen] Gnaden eben so wenig angehen kan, als jene die Ehre Allerhöchster und respe[ctiv]e Höchster Regenten berühren, welche päbstliche-, kaiserliche-, ertz- und bischöfliche Räthe oder Diener mit mir einstimmig und in ihren Privatnamen gestellt haben“ – mit der Anspielung auf einen kaiserlichen Rat war Rautenstrauch gemeint. EAF A 31/42, Seelmann an Limburg-Styrum vom 29. März 1778. Vgl. die Edition des Schreibens Seelmanns an Papst Pius VI. vom 17. Juni 1778 bei JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 837-840 (mit Anm. 38 zum Schreiben Seelmanns an LimburgStyrum, das in den lateinischen Übersetzungen irrtümlich auf den 30. [recte: 29.] März 1778 datiert ist). Das Schreiben an den Papst mit der erwähnten Anlage befindet sich im Original in ACDF S. O. St. St. N 5-r, Abschriften finden sich in ASV SSCol Vol. 194, fol. 184r-185r u. 188r-189r.
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nommen,98 während der Text Rautenstrauchs selbst keinen Niederschlag in dem Votum gefunden hat. Rom war hauptsächlich daran interessiert, die Angelegenheit mit dem Autor selbst und den beiden Weihbischöfen von Hontheim und Seelmann zu klären, da diese dem Episkopat angehörten. Die Stellungnahmen der anderen beteiligten Theologen spielten keine größere Rolle. Der Prozess des Hl. Offiziums, an dem der Papst persönlich beteiligt war, woran man die Bedeutung ablesen kann, die man der Angelegenheit in Rom zumaß, führte schließlich am 20. September 1779 zur Publikation eines Breves, wodurch der Druck, der Besitz und sogar die Lektüre des schließlich sogar als häretisch qualifizierten „Neuen Versuchs“ bei Strafe der Exkommunikation verboten wurde. In der damals in Deutschland publizierten Übersetzung liest sich das so: „[…] so verdammen Wir aus eigener Bewegung, aus unserer gewißen Wissenschaft, und aus der Völle der apostolischen Gewalt vorbenanntes Buch […] als ein solches, das falsche, vermessene, ärgerliche, schädliche, irrige, der Ketzerey günstige, und ketzerische Sätze enthält.“99 Es handelte sich dabei um die einzige Entscheidung des Lehramts zu exegetischen Fragen aus dem Zeitraum zwischen dem Konzil von Trient und der Publikation des „Syllabus“, die in das „Enchiridion biblicum“ der päpstlichen Bibelkommission aufgenommen worden ist. Offiziell ist diese Aussage des Papstes bis heute in Geltung, auch wenn die katholische Bibelwissenschaft dessen ungeachtet inzwischen die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese weitgehend rezipiert hat.100
10. Fazit Isenbiehl unterwarf sich dem päpstlichen Urteil und konnte in der Folge ein Kanonikat an der Stiftskirche in Amöneburg antreten. Nach einiger Zeit als Seelsorger in Marburg wurde er 1788 Vikar an St. Alban in Mainz. Es gelang ihm trotz verschiedentlicher Anläufe in den achtziger Jahren nicht mehr, einen Lehrstuhl – im Gespräch waren die Universitäten Mainz und Freiburg gewesen – zu erlangen. Der Mainzer Exeget war mehrfach mit innovativen Ideen hervorgetreten: Er war ein Pionier der Rezeption der historisch-kritischen Methode in der Exegese;101 er stellte als erster eine Dokumentensammlung im Stil des späteren „Denzinger“ zusammen und er hatte mit seiner „Chrestomathie“ ein neuartiges Lehrbuch konzipiert. Es kann daher nur bedauert werden, dass er keine Gelegenheit bekommen hat, sein unbezweifelbar vorhandenes Talent vollends in den Dienst der theologischen Wissenschaft zu stellen. Ein Satz aus der Vorrede seines „Neuen Versuchs“ zeigt, dass er sich seiner Lage 98 99 100 101
ACDF S. O. St. St. N 5-r, Gutachten für den 18. März 1779, fol. 6r-v. Edition der zeitgenössischen deutschen Übersetzung bei JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 860866, das Zitat S. 864. Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 658f. Vgl. die zeitliche Parallele der Affäre Isenbiehl auf katholischer Seite mit dem berühmten „Fragmentenstreit“ im protestantischen Bereich, Arno SCHILSON, Art. Fragmentenstreit. In: LThK 3 (Freiburg i. Br. ³2009), S. 1377f.
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durchaus bewusst war: „Vielleicht komme ich noch zu früh“,102 hatte er darin geschrieben. Nach der Säkularisation lebte Isenbiehl von einer kärglichen Pension und starb 1818 im Alter von 74 Jahren.103 Seine zunächst hoffnungsvoll begonnene akademische Laufbahn zeigt ihn auf der Höhe der theologischen Diskussion seiner Zeit und ist zugleich ein Beispiel für das vielfältige Beziehungsnetz, das in der Aufklärungszeit nach dem vorläufigen Ende des Jesuitenordens zwischen den einzelnen Vertretern der katholischen Reformbewegung bestand: Während die Konzepte Felbigers und Rautenstrauchs in den katholischen Hochstiften Deutschlands rezipiert wurden, wurden Nachwuchskräfte wie Bischof Joseph Anton Gall oder Michael Ignaz Schmidt in die Donaumonarchie geholt, um dort im Reformprozess Impulse zu setzen.104 Offenbar hatten die reformorientierten Kräfte in Wien schon früh auch das Talent Isenbiehls erkannt. Seine Berufung dorthin kam aber wohl aufgrund der Beanstandungen seiner Lehrtätigkeit schließlich nicht zum Tragen. Ildephons Schwarz, einer der Mönche der als Hochburg der katholischen Aufklärung bekannten fränkischen Benediktinerabtei Banz, die Rautenstrauch zur Mitarbeit an ihrer Rezensionszeitschrift „Literatur des katholischen Deutschland“ eingeladen hatten, was dieser aber wegen Arbeitsüberlastung ablehnte, meinte im Rückblick über den „Isenbiehlschen Streit“: „Im Grunde hätte unsere Kirche, desgl[eichen] die Protest[anten] und alle Bibelverehrer für diese Schrift danken sollen. Wich Herr I[senbiehl] gleich von den Meinungen unserer Kirche in der Auslegung dieser Stelle ab, so betraf es doch nicht ein Dogma. Angesehene Theologen unserer Kirche und das ganze geistl[iche] Gericht zu Coblenz hielten sein Werk für völlig orthodox.“105 Franz Stephan Rautenstrauch, einer dieser „angesehenen Theologen unserer Kirche“, hatte durch seine Stellungnahme gezeigt, dass er sich auf der Höhe der zeitgenössischen Diskussion befand.
102 ISENBIEHL, Neuer 103 Vgl. zur zweiten
104
105
Versuch (wie Anm. 3), Vorrede. Lebenshälfte Isenbiehls JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 631f. mit Einzelnachweisen. Seine letzte Veröffentlichung erschien unter dem Titel: Johann Lorenz ISENBIEHL, De rebus divinis. Tractatus introducentes in universam Veteris ac Novi Testamenti scripturam et theologiam christianam. Bd. 1. Mainz, Frankfurt 1787. In einem Gutachten der theologischen Fakultät der Universität Bonn urteilte deren Dekan Hedderich darüber: „Nie würden wir dieses für die Arbeit eines Isenbiehls erkennet haben, wenn uns sein vorgedruckter Name nicht davon versicherte.“ HStAD, Bestand Kurköln VIII, Nr. 503/II, fol. 179r. Das Werk ließ vom einstigen kritischen Geist des Autors nichts mehr erkennen. Vgl. JUNG, Seelmann (wie Anm. 4), S. 71-76, 271-279 u. 384f. Michael Ignaz Schmidt vertrat hinsichtlich der Rolle der Bibelwissenschaft innerhalb des Theologiestudiums schon in Würzburg einen ähnlichen Ansatz wie Isenbiehl, vgl. Albrecht BEUTEL, Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 2009, S. 180. Johann Baptist SCHAD (Hg.), Ildephons Schwarz: Anleitung zur Kenntniß derjenigen Bücher, welche den Candidaten der Theologie, den Stadt= und Landpredigern, Vicarien etc. in der catholischen Kirche wesentlich nothwendig und nützlich sind, Bd. I., Coburg 1804, S. 170f.
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11. Archiv- und Bibliothekssignaturen ACDF S. O. St. St. = Archivium Congregationis pro Doctrina Fidei, Sanctum Officium, Stanza storica ANC = Archivio della Nunziatura di Colonia ANV =Archivio della Nunziatura di Vienna ASV = Archivio Segreto Vaticano DDAMZ = Dom- und Diözesanarchiv Mainz EAF = Erzbischöfliches Archiv Freiburg i. Br. GKS = Geistliche und Kirchensachen HHStA = Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien HStAD = Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf MEA = Mainzer Erzkanzlerarchiv SSCol = Segreteria di Stato: Colonia SUB = Staats- und Universitätsbibliothek
12. Quellentexte 12.1. Schreiben Isenbiehls an Michaelis vom 3. Dezember 1774106 Wohlgebohrner, Hochgelehrter, Hochzuehrender Herr Hofrath! Seit drey Monaten sind mir alle Briefe richtig und unmittelbar von der Post zu Handen gekommen. Noch eine Ursache, warum ich die Vorsicht, eine addresse anzugeben, nicht gebrauchte, war, weil ich damals noch nicht wußte, daß Ewer Wohgebohren meinetwegen ein Gutachten abgestattet hätten. Das habe ich erst nachher vom H[errn] Gertz erfahren. Wenn es beliebt, so bitte die Briefe in einem Couvert à Mr. Trattenig Bailli de S. E. M. le comte de Metternich hieher zu schicken, welcher mein wahrer Freund, und einer von denen ist, durch welche ich alle meine Briefe fortschicken lasse, um nicht bey meinen doppelten Geschäften der Censur meines Buches über Matth. I. 22., und des Gesuches um eine auswärtige Professur Gefahr zu laufen, daß eins oder das andere entdecket und hintertrieben werde, wie der Ruf des Canonicus Haerdt zum directorio der Mittelschulen zu Wien. Ohne diese Ursache hätte ich nicht nöthig, zur addresse etwas anders als meinen Namen schreiben zu lassen: weil ich bekannt genug; und jetzt auch allein hier der Isenbiehl bin, nachdem mein Vetter auf Wien gegangen ist, um da seine juristische Studien zu endigen. Daß Ewer Wohlgebohren ungefordert keine Vorschläge zu meinem besten gemacht haben; das ist zu meiner Einschließung sehr passend. Weil ich nach der Bekanntmachung der gnädigsten Willensmeinung nicht mogte einen Ausgang aus Mainz 106
SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 324, fol. 430r-431v. Michaelis beantwortete dieses Schreiben am 10. Dezember. Diese Antwort hat sich nicht erhalten.
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suchen; sondern inzwischen die Zeit zur Verfertigung der Concordanz benutzen. [fol. 430v] So bequeme Zeit werde ich doch nicht mehr finden. Es hatte mich post opus coeptum ein hier durchgereister doctor Sorbonicus, l’abbé Depral irre und wankelmüthig gemacht, der mich versicherte, daß Montfaucon ein ähnliches Werk schon angefangen hätte, aber nicht wußte, ob die Congregatio St. Mauri fortarbeitete? Aber bereits vor acht Tagen arbeite ich wieder, aus der Ursache, weil jenes eine hebraische, griechische u[nd] lat[einische] Concordanz zugleich, u[nd] folglich ein Werk von 12. folio Bänden nach der gemachten Beschreibung seyn müßte, dessen Ausgabe mein wohlfeileres u[nd] bequemeres Werk nicht unterdrücken würde. Ich hatte bisher die Septuaginta auch bey jedem Worte conferiret; allein nicht Texte, sondern bloße rubriquen, wie die hebraische Wörter vorangesetzet. Diese besondere Mühe würde das Buch nicht um ein alphabet größer machen; sie kostet aber etwas über ein Drittel Zeit: darum folge ich nun auch Dero ersten Rathe, und bekümmere mich allein um die Vulgata. Ich arbeite daran so lange es Tag ist, gewiß 5. Stunden. Auszüge einiger Stellen aus der Vulgata zu ihrer Empfehlung werde ich zu einer andern Zeit besser und glücklicher machen können. Jetzt ist es ohnehin kein Pflaster auf die Wunde. Denn die Lügen ist keinem eingefallen, eine Geringschätzung der Vulgata mir nachzusagen. Was Ewer Wohlgebohren von meinen Beschuldigungen gehöret haben, wird ohne Zweifel alles falsch seyn, weil die Quelle davon das Sagen des Pöbels ist. Diesen hat man viel weis gemacht, und weils nöthig zu seyn schien, erdichtet, wenn man nichts wahres wußte. Ich bin auch über nichts von allen dem, was das publicum mir schuld gegeben hat, zur Rede gestellet: nur über theses ex Evangelio Matthaei, die ein Auditor defendiren wollte, u[nd] darinnen den Censori brachte. Hierinn wünschte man Ketzereyen zu finden. Die schlimmste thesis war die 6.te Verba Isaiae VII.14. ob analogiam signi prophetici, quo angelus sese verum die nuncium probabat, hic v. 22. citantur [fol. 431r] quin prophetia litteralis aut typica de B. V. Maria aut de Messia declaretur. Ein Paar doctores hatten Lust, sie für haereticam zu brandmarken; weil aber noch keine definitio ecclesiae darüber vorhanden ist: so hieß es auf Anrathen eines andern: Temeraria, scandalosa, piarum aurium offensiva. Die übrigen wollten alle nicht so viel sagen, wie mir die Commissarii versicherten. Ich will zur Probe einige verworfene theses hersetzen. 9. Stella in ortu suo a magis visa probabilius fuit cometa. (Dieß sagte doch auch Origenes). 42. Cap. VI. v. 19 sqq. Hujus capitis non praecepta, sed argumenta persuasibilia proponuntur; igitur studium acquirendi bona temporalia non reprehenditur v. 19. 24. 25. 28. 31. Sed anxia circa sustentationem solicitudinis inutilitas docetur. 91. Jesus a ministris regni sui caelibatum exigit c. XIX. 11. 12. 128. Verba Jeremiae ab Evangelista allegata c. XXVII. 9. 10. non reperiuntur in libris nostris canonicis. 124. Peccat qui contra magistratum etiam inique agentem vi abutitur: quod recte concluditur ex reprehensione Petro data, qua etiam leges principis poenales approbantur. Hieraus können Ewer Wohlgebohren urtheilen, wie förchterlich mir die theologische Censuren gewesen sind! Es hieß die Männer vom Mittelstande, welche die Triebfeder der Begebenheiten gewesen, wünschten – und bereueten – weil sie für sich vergebens gearbeitet haben. Inzwischen würde es outrage du public gewesen seyn,
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jene professores bey zubehalten, wider welche man es zur Raserey aufgebracht hatte. Ich meine aber, meine Entehrung solle mir nur noch desto mehr Ehre schaffen, contraria magis elucescunt, wenn meine Schrift ins publicum tritt. Sie ist jetzt zu Wien, wohin ich sie um deswillen geschicket, damit man selbst urtheilen können, ob der wegen dem Gerüchte wider mich nothwendiger weise entstandene Verdacht gegründet sey? Und damit man daraus vorher meine Denkensart kennen lerne, ob sie sich nach Wien schicke oder nicht? [fol. 431v] Meine gr[iechische] Chrestomathie ist acht Tage vor dem Tode des sel[igen] Kurfürsten fertig u[nd] auch ihm überreicht worden. Alef, der sie im Verlage hat, zauderte mit dem Zusammenlegen der exemplarien; und nach dem Tode des Kurfürsten hat er sich geweigert, mir die exemplarien zu liefern, welche ich mir für meine Freunde ausbedungen hatte. Noch gestern habe ich wieder zu ihm geschicket, aber umsonst: und klagen mag ich nicht. Er selbst versteht die Handlung nicht: darum wird auch noch kein Exemplar außerhalb Mainz verkauft seyn. Sobald ich nur eins empfangen habe, will ich es überschicken. Ich war ja approbiret! Unterdrückt ist es nicht, wie der erste Band der Mainzer Schulschriften, der bis auf einen Bogen abgedrucket war. Herr Spamer, den ich vor 14. Tagen in Frankfurt besuchet habe, um freye Luft zu schöpfen, hat das hebr[äische] Evangel[ii] Titii mit den Münsterischen zu conferiren angefangen. Ich habe die Ehre in vollkommenster Hochachtung zu beharren Ewer Wohlgebohren Mainz den 3. Dec[ember] 1774. ganz-gehorsamster Diener. Jo[annes] Laur[entius] Isenbiehl.
12.2. Schreiben Isenbiehls an Michaelis vom 28. Dezember 1774107 Mainz den 28. Decemb[er] 1774. Wohlgebohrner Hochgelehrter Hochgeehrtester Herr Hofrath! Ewer Wohlgebohren sind wegen mir nur zu sehr bekümmeret; Ich danke schuldigster maßen für die ausserordentliche Gewogenheit und Freundschaft. Weil ich aber sehe, daß Dieselbe für mich besorgter, ja unruhiger sind, als ich selbst bin: so muß ich bitten, keine Gelegenheit zu meiner anderweitigen Beförderung mehr zu suchen. Ich bin in der Lage, worin ich mich wirklich befinde, zufrieden, und lebe vergnügt. Denn an Arbeit und Brod fehlt mirs nicht, und es wird mir nie daran mangeln. Ich zweifele auch nicht, daß ich nach zwey Jahren wieder werde als professor aufgestellet werden. Noch vor ein paar Tagen ist mir in einem kurfürstl[ichen] rescript, wodurch ich zur langen Kleidung angehalten werde, beyläufig anbefohlen, mich vorzüglich auf die Scriptur zu verlegen. Man muß sich förchten, ich mögte das Handwerk abandonnieren, aus Verzweiflung in Zukunft mein Brod damit verdienen zu können. Nun ist mir eine professur zu Wien immer lieber, als eine zu Mainz, weil die Frucht derselben 107
Ebd., fol. 433r-434r (ohne Antwortvermerk).
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sich dort weiter ausbreitet, und weil ich für mich mehrere Hülfsmittel finde, oder anschaffen könnte. Wenn sich in Zukunft eine Gelegenheit darbietet, mir dieselbe zu verschaffen, so werde ich sie auf alle Wege ergreifen; und auf den Fall bitte ich auch Ewer Wohlgebohren, das Ihrige zu meinem besten zu thun. Allein mehrere Schritte, als ich wirklich gethan habe, thue ich nicht; und wünsche es auch von anderen nicht. Ewer Wohlgebohren aber sollten aus eigenem interesse, das Sie sich aus der lat[einischen] Concordanz machen, den Wunsch meiner baldigen Beförderung fahren lassen. Ich habe einige Zeit [fol. 433v] her auch bei Licht daran gearbeitet, um sie geschwinder vollenden, und den Wunsch eines Freundes erfüllen zu können, dessen gleichen ich in Israel noch nicht gefunden habe; den ich darum von Tage zu Tage immer höher schätze. Dennoch kann ich nach meinem Überschlage kaum in zwey Jahren mit dem fertig werden, was sich aufs Hebräische bezieht. Wenn ich diejenigen Bücher des alten Testaments, die nur griechisch übrig sind, und das neue Testament auch hineintrage, so ist es eine ununterbrochene Arbeit für ganze fünf Jahre. Ewer Wohlgebohren würden bey dieser Erwartung ungeduldig werden; ich würde in der Kritik viel gewinnen, aber in exegesi verlieren; ich zweifle, ob eine Concordanz über den griechischen Theil so interessant sey wie über den hebräischen: darum bin ich halb entschlossen, alsdenn aufzuhören, wenn ich mit den hebräischen Büchern zu Ende bin; um nur noch etwa diejenigen griechische Bücher des alt[en] Testaments mit durchzugehen, welche Hieronymus nicht aus dem griechischen, sondern aus dem hebraischen verbesseret hat. Ob er nun dieß bey Syrach, den Macchabaern etc. gethan habe, das weis ich noch nicht, werde ihn aber selbst zu seiner Zeit darum befragen. Nach diesem Plane könnte die Concordanz in drey Jahren fertig und auch abgedrucket seyn. Ewer Wohlgebohren werde nicht nur diese kurze Zeit, sondern noch viel länger leben: ich wünsche es von Herzen, und verspreche mir von der Providenz, daß diese Sie so lange leben läßt, bis Dero Bibelübersetzung vollendet ist. Was eine Übersetzung sey? Das lerne ich jetzt bey der genauen Vergleichung der Vulgata. Ich notire mir a part die kleinsten Differenzen. Vielleicht habe ich einmal Gelegenheit, stückweise in discretionen zu zeigen, was für Freyheit die Vulgata sich genommen habe, um den [fol. 434r] genium latinum nicht zu verbannen. Ihr Beyspiel würde bey Katholiken einen deutschen Übersetzer rechtfertigen; und dergleichen dissertationes die praeparatoria seyn zu einer andern neuen Übersetzung, oder zur Aufnahme einer anderen, die wirklich fertig wäre. Mit dem nächsten Postwagen werde ich nebst einem Andenken Emerich Josephs auch meine Chrestomathie schicken. Der Stoff ist so ausgesuchet, daß er Gelegenheit gibt, gerade jene Fächer kennen zu lernen, welche bey Katholiken öde gelegen sind, oder auch das Gute und angenehme der Kirchenväter so, wie ihre Teuglichkeit zu zeigen. Hierauf zweckt gleich das erste Stück ab. Jedoch darf ich diese Absicht nicht äussern. Ewer Wohlgeboren werden sich wundern, daß auch zwey Stücke aus Ephraem darinn stehen: ich wollte den Mann nur bekannt machen, und Gelegenheit haben, von seinen Schriften zu sprechen. Der gelehrte Franzos ist Mr. Foucher. Ich werde an denselben schreiben, weil in 14. Tagen der professor der Mathematik Eickemayer108 nach Paris reiset, auf Kösten 108
Heinrich Maria Johann Rudolf Eickemeyer (1753-1825), Professor für Mathematik an der Mainzer Universität.
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unseres Kurfürstens; aber nicht, um durch ihn den kaiserl[ichen] Beichtvater rege zu machen. Könnte denn wohl von einem Mönche etwas Gutes zu hoffen seyn für einen der Emericianischen Parthie? Wegen der Montfauconischen Concordanz will ich mich erkundigen. Wenn die Wiener auf meine eigene Arbeit keine Rücksicht nehmen: so verzeihe ich auf ihre professuren. Denn entweder kennen sie sie nicht; und dann will ich lieber ruhig auf dem parterre als auf dem Schauplatze stehen: oder sie kennen sie; und dann wird ihnen meine Offenherzigkeit so wenig gefallen, als den Mainzern, im Falle sie mich zurücksetzen. Ich habe die Ehre in vollkommenster Hochachtung zu beharren. Ew[er] Wohl[gebohren] geh[orsam]ster D[iene]r Isenbiehl.
12.3. Das Gutachten Rautenstrauchs zum „Neuen Versuch“109 Wohlehrwürdiger und Hochgelehrter Herr Professor! Herr Hof Rath von Martini haben mich ersucht, dero Neuen Versuch über die schwere Stelle Math.am 1 Cap. 22.23. V. durch zu gehen und meine Meynung darüber zu sagen, ich könte dieses Gesuch sowohl der Freundschaft des H. Hof Raths als seinen grossen Verdiensten um die Gelersamkeit nicht abschlagen, ich laß also aber mit Vergnügen laß ich, da ich eine bey vielen unserer Scholastiger nicht sehr gewöhnliche Kenntnis der Hermeneutik darinne antraf, die Stelle der Hl. Schrift, worüber sie geschrieben, verdiente gewiß eine Abhandlung, und ob sie schon in ihrem Versuche von den gewöhnlichen Schriftauslegern abzugehen scheinen, so habe ich doch nichts, was der Orthodoxie unsers Glaubens entgegen liefe, in dem selben gefunden. Dero Chrestomathie Patristica auf welche sie sich in der Abhandlung beziehen, habe ich von unsern Buchführern biß hieher nicht erhalten können; doch ich laße diese Tage in den Göttingischen Anzeigen ein Recension darüber. [Das Studium scripturisticum wird künftiges Jahr auf hiesiger hohen Schule etwas geändert werden. Die Vorlesungen bestunden bishero hauptsächlich darinn, daß man die heilige Schrift durch 4. Jahre nach einander von Vers zu Vers herunter las, und Auflösungen scheinbarer Antilogien beifügte, wodurch dieses Studium mehr zu einem blossen Gedächtniß=Geschäft, als zu einer Wissenschaft gemacht wurde. Ich glaube dahero mit grösserem Nuzen die Vorlesungen über die heilige Schrift so einzurichten, daß die ersten 5. Monate die Hermeneutik des Alten, und die lezten 5. Monate die Hermeneutik des Neuen Testaments vorgetragen, auch die Anwendung von hermeneutischen Regeln auf einzelne schwere Stellen gezeigt, und die Schüler darinn praktisch geübt werden sollen. Nur wünsche ich gute Vorlesbücher, die nach dieser Art eingerichtet wären, zu haben. Vielleicht ist auch hierinn von Ihnen etwas zu hoffen.] Wien den 19.ten Aprill 1775. Dero Ergebenster Stephanus Abt und Director der theol[ogischen] Facultät. 109
Johann Friedrich LE BRET, Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte VIII (1783), S. 22f. In den Archivalien zur Affäre Isenbiehl findet sich mehrfach Abschriften und Übersetzungen des Textes (vgl. Anm. 88-90). Dabei wurde aber der zweite, hier eingeklammerte Teil des Textes weggelassen.
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12.4. Der entsprechende Abschnitt aus dem „Entwurf“ Rautenstrauchs über die biblische Hermeneutik Annus secundus Nun müßte man im zweiten Jahr des Cursus Theologici zu den theologischen Wissenschaften selbst schreiten, und zwar mit der Hermeneutica sacra den Anfang machen, weil die Heilige Schrift unstreitig die Grundquelle aller theologischen Wissenschaften ist. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die öffentlichen akademischen Vorlesungen über die Schrift bisher nicht von jenem Nutzen gewesen, den man gewünscht hat. Die Ursache lag in der Art und Einrichtung der Vorlesungen selbst, die nur darin bestanden, daß man die Heilige Schrift durch vier Jahr nacheinander herunterlas und zur Not einige Auflösungen der scheinbaren Antilogien beifügte; wodurch dieses Studium mehr zu einem bloßen Gedächtnisgeschäft als zu einer Wissenschaft gemacht wurde; diesem nach war nichts natürlicher, als daß, sobald man diese herunterrezitierten Auflösungen aus dem Gedächtnis von einem bis zum anderen Jahre verloren hatte, man nicht mehr imstande war, eine schwere Stelle zu erklären; besonders weil man die Haupt- und besonderen Regeln der Hermeneutik, als durch welche der Sinn der Heiligen Schrift zu bestimmen ist, in ihrem ganzen Zusammenhang nie gelernt, noch in der Anwendung dieser Regeln auf einzelne Fälle geübt worden war. Mit größerem Nutzen also wären diese Vorlesungen künftig so einzurichten, daß […] die Regeln der Hermeneutica sacrae, aus welchen eigentlich der Sinn der Heiligen Schrift zu erklären ist, in ihrem ganzen Umfange vorgetragen und dann die Anwendung davon auf einzelne schwere Stellen gezeigt und die Schüler darin praktisch geübt würden. […] Diese Regeln der Erklärungskunst können samt ihrer Anwendung auf einzelne Fälle vormittags und nachmittags täglich eine Stunde dergestalt abgehandelt werden, daß die erste Hälfte des Studienjahres der Hermeneutik des Alten und die andere Hälfte des Neuen Testaments gewidmet werde, wobei man auch dieses gewinnt, daß (wie man schon lange gewünscht) das Studium scripturisticum, so wie alle übrigen theologischen Wissenschaften, in einem Jahr ganz vorgelesen und absolviert werden wird.110
12.5. Schreiben Isenbiehls an Michaelis vom 15. Mai 1775111 Wohlgebohrener Hochgelehrter Hochgeehrtester Herr Hofrath! Ich habe die Ehre Ewer Wohlgebohren meinen neuen Versuch, zwey Wiener Briefe, und die Theses des hiesigen Franciscanerlectors zu schicken. Aus diesen kann man sehen, daß ich doch etwas hier genutzt habe, daß man nämlich anfängt die Bibel zu 110 111
MÜLLER, Ansatz (wie Anm. 29), S. 148f. SUB Göttingen, 2o Cod. Ms. Michaelis 324, fol. 435r-436v. Laut einem handschriftlichen Vermerk auf fol. 435r antwortete Michaelis am 5. Oktober 1775 auf dieses Schreiben; dabei sandte er auch die beiliegenden Schriften zurück.
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studieren, und Dero Schriften zu lesen. Aus den Briefen können Dieselbe sehen, wie mirs geht, oder wie mirs doch gehen könne. Das Manuscript bitte zu lesen, und Dero Anmerkungen mir mitzutheilen. Nun will ich es nur noch einmal um eine approbation wagen: bekomme ich keine, so will ich es ohne approbation drucken lassen. Ich habe jetzt ein Paar privat-Censuren, welche wenigstens soviel wirken, daß sie dem ersten Lärmen von Ketzereyen Einhalt thun. Ich meine aber, wer meine Abhandlung in Zukunft liest, wird sich bekehren, wie ich zeither alle diejenigen umgekehrt habe, denen ich sie zu lesen gab, obschon sie mit noch so starken Vorurtheilen zu lesen anfiengen. Wollten Ewer Wohlgebohren die Gewogenheit haben, und das Manuscript wieder weiters an den P[ater] von Pisport nach Fulda unmittelbar schicken, unter der adresse: dem Hochwürdigen und Hochwohlgebohrnen [fol. 435v] Freyherrn von Pisport, Superior der fürstlichen Abtey zu Fulda. Ich will sodann ohngefähr in 14. Tagen, denn bis dahin mögten Dieselbe mit lesen fertig seyn, den Brief dazu auch ohnmittelbar an ihn abschicken, damit er wisse, von wem und zu was für einem Ende er das Manuscript erhalte. Diesem Manne hat Fulda alles zu danken, was dort gutes für die Studien angefangen ist. Ein Paar Piecen, die vor kurzem allda sind herausgegeben worden, verrathen daß man mit approbationen eben nicht so engbrüstig ist; und mache mir also mehrere Hoffnung, als von der Wiener Censur-Commission. Was diesen nicht gefallen habe, scheint durch die kleinen Eselsohren gezeichnet zu seyn. Inzwischen freuts mich, daß der Schaden der nicht-erfolgten approbation durch den Gewinst der Bekanntschaft mit dem Abt Rautenstrauch ersetzet ist. Ich habe ihm vor acht Tagen geantwortet, daß ichs nicht für rathsam hielte, die hermeneutischen Regeln voraus zu schicken, weil sie ohne Sprachkenntnisse nicht recht können verstanden, und ohne einige Übung im exegesiren nicht leicht können beigebracht werden; noch weniger die hermeneutic übers alte und neue Testament abzutheilen. Den Plan dazu habe ich ganz kurz entworfen, und nach der biblischen prosa und poesie eingetheilet, daß im ersten Theile zum Behuf der historischen und didactischen [fol. 436r] Büchern, die kritischen und die allgemeinen Erklärungs-regeln, im zweyten aber das abgehandelt werde, was zum Verstande der poesie nöthig ist, und theils von schönen Wissenschaften muß geborget, theils in den morgenländischen Bildern muß gesuchet werden. Einen weitläufigern Entwurf der Regeln selbst, und die baldige Ausarbeitung eines Schulbuches habe ich wegen meiner jetzigen Beschäftigung, wegen Mangel an gesammelten Materialien und Hülfsmitteln, und wegen der Unvermeidlichkeit neuer Anstösse bis dahin ausgesetzet, bis die Köpfe erst ein wenig umgeschaffen wären. Weil ich aber sehe, daß der Abt in die hermeneutic ganz verliebt ist: damit nicht eine kleine caprice auf der einen oder der anderen Seite den guten Keim ersticke, und alles zu Wasser mache; so will ich dem Herrn professor von Hess schreiben, daß ich nach mehrerem Dringen auf einem ausführlicheren Plan wolle bedacht seyn. Können Ewer Wohlgebohren auf den Fall mir nicht was dienliches und gutes anrathen? Die Recension ist auch zu rechter Zeit gekommen. Daß sie von einer andern Hand, als der Ihrigen sey, habe ich gleich gemerket. Den Herrn Consistorialrath bitte gelegenheitlich meinen schuldigsten Dank zu melden.
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Zu meinem Manuscripte habe ich noch keinen Verleger. [fol. 436v] Göbhard zu Bamberg will für den gedruckten Bogen ordinairen- octav formats mir einen Ducaten, und zwar für dessen Hälfte Bücher geben. Ich denke aber ohne den innerlichen Werth, den ich nicht bestimmen darf noch kann, werde das Buch wegen meinen Umständen einen äußerlichen Werth und geschwinden Absatz haben, daß ein Verleger wohl einen Louis d’or geben könne. Ewer Wohlgebohren werden doch öfters von Verlegern angegangen, und könnten mich sehr verbinden, wenn Sie während der Zeit, als das Manuscript in der Censur ist, es so einem Verleger anempfehlen. Ich mögte es gerne noch vor künftiger Herbstmesse gedruckt haben. Ich war entschlossen die Citata nicht unter den Text, wo sie Ungelehrten misfallen könnten, sondern ans Ende, und den griechischen Text ohne lateinische Version drucken zu lassen. Hierüber mögte ich Dero Gedanken wissen. Ich habe die Ehre in schuldigster Veneration zu beharren, Ewer Wohlgebohren Mainz den 15. May 1775. ganz-gehorsamster Diener Jo[annes] Laur[entius] Isenbiehl.
12.6. Schreiben Isenbiehls an Michaelis vom 13. März 1777112 Wohlgebohrener Hochgelehrter Hochgeehrtester Herr Nach der Vorrede zu diesem symbolischen Buche, welches ich die Ehre habe Ewer Wohlgebohren durch den Herrn Dechant Frantz von Nörthen zu schicken, habe ich auf Begehren des Herrn Hubers eine Anzeige der lateinischen Concordanz über die Vulgata hinzu drucken lassen. Aus derselben können Dieselbe sehen, wie weit ich gekommen bin. Noch zwey drittheil von den Propheten habe ich vor mir, und an diesen habe ich gewiß noch bis Michaelis zu arbeiten. Das andere Vierteljahr brauche ich, um die rubriquen in die hebräisch-alphabetische Ordnung zu bringen. Sollten unter den Anmerkungen der Gelehrten, die ich mir bey der Anzeige ausgebetten habe, viele seyn, die eine ganze Vergleichung des lateinischen mit dem hebräischen Texte erfordern, so muß die Zeit zum Drucke noch weiter ausgesetzet werden. Wie glücklich war ich, zwey Jahre lang nicht Professor, und wieder nur Professor der griechischen Sprache zu seyn! Ich würde mich auch sehr wehren, vor zwey Jahren meine vorige Geschäften wieder aufzunehmen: da diese mir keine Zeit übrig lassen würden, die ich noch [fol. 439v] so sehr nothwendig habe, um die Concordanz zu vollenden. Aus eben diesen Ursachen bitte ich Ewer Wohlgebohren, dermalen alle Gedanken von einer Beförderung auf Wien fahren zu lassen. Sollte das auch nachher einmal geschehen können, so werde ich alsdann ebenso wenig meine Entlassung von hier bekommen können, als dermalen, da ich schon vor 3. Monaten darum gebetten habe. Den Titelbogen, der noch nicht abgedrucket ist, werde ich auf der Briefpost nachschicken. Ich habe die Ehre in schuldigster Hochachtung zu harren 112
Ebd., fol. 439r-v (ohne Antwortvermerk).
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Ewer Wohlgebohren Mainz den 13. Merz 1777. Ganz gehorsamster Diener Jo[annes] Laur[entius] Isenbiehl
12.7. Das Antwortschreiben des Wiener Erzbischof Migazzi an den Mainzer Kurfürsten113 Hochwürdigster Erzbischof, des Heil[igen] Röm[ischen] R[eichs] Churfürst, besonders lieber Herr und Freund! Euer Liebden erstatte ich verbindlichsten Dank für die mir gemachte gütige Mittheilung sowohl des verderblichen Buches, als des oberrichtlichen Ausspruches, welcher darüber gegeben worden. Es ist leyder zu bedauern, daß diejenige, welche die Steine des Heiligthums zu seiner Aufrechterhaltung seyn sollten, ihme zum Steine der Aergerniß und des Umsturzes werden. Meine unverbrüchliche Verehrung, und besondere Rücksicht gegen Euer Liebd[en] gestattet mir nicht, daß ich zu gleich Hoch Dero selben jenes verhalte, was sich in Betreff dieses nehmlichen Werkes hier zu getragen hat. Anno 1775. ist das Manuscript unter verdecktem Namen des Verfassers der hiesigen Bücher Censur zur Gutheißung und zur Beförderung zum Druck übergeben worden: anbey ware es auch angemerket, daß eben dieser Verfasser Anno 1774. Professor zu Mainz gewesen wäre. Der theologische Censor bemerkte in solcher Abhandlung sehr viele Stellen in pag. 2. 3. 4. 7. 9. 14. 19. 23. 36. 37. 38. 43. 46. et sequentibus 52. 57. 59. 65. 66. 78. 81. et sequentibus 84. 85. 100. 126. 131. 143. 144. 145. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153. 154. 156. 157. 160. 161. 162. 163. 246. 247. 252. 261. 263. 264. 265. 266. 268. als irrig, falsch und leichtfertig, legte solche der sammentlichen Censur=Commission vor, und diese verwarf es als ein opus falsum, temerarium, et erroneum; dessen unerachtet aber werde ich besonders mein ganzes Augenmerk auf alle Bewegungen tragen, welche neuerdings gemacht, und gewagt werden mögten, und falls sich etwas wichtiges ereignen solte, werde nicht ermangeln, Euer Liebden die geziemende Nachricht davon zu geben. Da indessen mit vollkommenster Hochachtung zu Erweisung all angenehm freundlichster Dienstgefälligkeiten stets willig und bereit zu geharren die Ehre habe. Euer Liebden Wien den 3ten Juli 1778. Dienstwilligster treuer Freund Christoph Cardinal Migaz.
113
EAF A 31/42. Originalschreiben des Erzbischofs von Wien, Kardinal Migazzi, an den Kurfürsten von Mainz Karl Friedrich von Erthal vom 3. Juli 1778.
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12.8. Das Antwortschreiben des Prager Fürsterzbischofs Przichowsky von Przichowitz an den Mainzer Kurfürsten114 Unsere freundliche Dienste, auch alles was Wir liebes und Gutes vermögen zuvor! Hochwürdigster in GOTT Kurfürst, besonders lieber Herr und Freund! Ew[er] Liebden haben Uns in dem jüngsthin erlassenen höchst schäzbaren Schreiben einen neuen Beweiß von dero ruhmwürdigsten Eifer für die Erhaltung der Reinigkeit der göttlichen Grundlehren und Glaubens=Sätze der Offenbarung, wie auch von jenen tiefen Einsichten zu geben beliebt, mit welchen dieselben die Wichtigkeit der geistlichen Regierung einer christlichen Gemeinde zu unseren so leicht zur Freydenkerey und andern Irthümern im Glauben zu verführenden Zeiten zu betrachten gewohnt sind. So lebhaft Wir nun auch Unsererseits überzeugt sind, daß gegen alle dergleichen ohnmächtige Bemühungen des Unglaubens oder des unter dem Scheine von Starkgeisterey sich verbergenden Unsinnes die Kirche Christi auf ihrem unzerstörbaren Felsen ewig unerschüttert stehen werde; so sehen Wir dennoch zu gleicher Zeit die Nothwendigkeit ein, welche alle und jede zeitliche Stadthalter und Vorsteher derselben unumgänglich verbindet; auch den entferntesten Gelegenheiten oder Verführungsmitteln zu irgend einer Irrlehre auf das sorgfältigste vorzubeugen. Und in eben dieser Rücksicht können wir nicht anderst als dem von Ew[er] Liebden gegen Uns geäuserten gründlichen und geistreichen Urtheile über das Uns gütigst mitgetheilte Isenbihlische Werk den uneingeschränktesten Beifall zu geben, und zwar um so stärker, je verborgener und gefahrvoller die von dem Verfasser desselben darinn ausgestreute sophistische Trugschlüsse und Kunstgriffe zur Verbreitung seiner Irthümer sind worinn Wir denn noch mehr durch die Uns ebenfalls angeschlossene gelehrte Beylagen und Widerlegungen besagten Werkes bestärkt werden. Wir werden daher zufolge denen Uns obliegenden geistlichen Hirtenpflichten um so weniger entstehen, auch in Unserm ohnehin von mehr als einer Seite der Nachbarschaft irrender Glaubensgemeinden bloßgestellten Kirchsprengel Unsere ganze Aufmerksamkeit und Sorge anzuwenden, daß mehrerwähntem Isenbihlischen Werke, welches Wir Uns vortragen lassen, auch Selbst mit Bedachte durchgelesen, und eben wie jene Censur, höchst bedenklich und verwerflich gefunden, so wie jedem andern die wahre Religion und den guten Sitten gefährlichen Buche nicht die mindeste Duldung zugestanden werde. Die Wir übrigens zu Erweisung aller ersinnlichen angenehmen Dienstgefälligkeiten stäts willig und bereit verbleiben. Prag den 28sten Julius 1778. Anton Peter von Gottes Gnaden Erzbischof zu Prag, des heil[igen] apostol[ischen] Stuhls Legatus natus, des heil[igen] röm[ischen] Reichs Fürst und Graf, beider Kaiserl[ichen] und Königl[ichen] Apostol[ischen] Majestäten wirklicher geheimer Rath, des königl[ichen] St. Stephans=Ordens=Großkreutz und Primas des Königreichs Böhmen etc. etc. Euerer Liebden Dienst=willigster wahrer freyndt und Diener Anton Pet[er] Ertz=bischof zu Prag. 114
HHStA Wien, MEA, GKS, Fasz. 81, Teil IV, prod. 57.
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12.9. Auszug aus einem Schreiben des Mainzer Kurfürsten Friedrich Karl von Erthal an den Papst vom 11. Februar 1779115 Interim necdum cessavi ab hoc opere tactus dolore cordis intrinsecus, quod per sacerdotem quendam, dioecesanum meum, erroneae et periculosae sententiae latius diffunderentur; sed et fortissimum piissimi, et augustissimi Imperatoris nostri Josephi, quem, ubi primum divino judicio ad Imperium fuit evectus, inter tantas necessitates Romani Imperii nulla magis causa usque huc constrinxit, quam ut sancta et pura fides Christiana indubitata omnium animis insideret, auxilium implorandum esse duxi; id quod et indilate praestabatur, cum Isenbihlii librum vendere vel emere per totum Imperium admodum serio vetaretur. Multam sane causam nos Germani habemus, votis omnibus divinam potentiam exorandi, ut Caesaream Majestatem in hoc ardore fidei, in hac devotione mentis, in hoc integrae religionis studio, sine defectu sui, in longiora tempora conservet; cum Rex probus justus et sapiens semper sit ventilator impiorum.
115
ASV SSCol, Vol. 195, fol. 42r-46r, hier 44r-v.
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„FÜR OESTREICHS RUHM ZU WIRKEN BEMÜHT“. JOHANN LADISLAUS PYRKER OCIST ALS GRENZGÄNGER ZWISCHEN ZEITEN, KULTUREN UND SYSTEMEN
1.
Zur Relevanz des Themas
Das Thema der Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts“ war 1988 in Trier das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Aufklärung. Als Endergebnis wurde festgehalten, dass die Relevanz personengeschichtlicher Untersuchungen und die Erforschung der internationalen Beziehungen als besonders wegweisend erschienen. Insbesondere wurde mit Nachdruck die Untersuchung jener Akteure nahe gelegt, die als Amtsträger der Institution Kirche kirchenpolitisch sich hervorgetan und nicht nur die Frömmigkeit, sondern auch den soziopolitischen Alltag prägten, doch über deren Wirksamkeit wir unter dem Strich nur wenig wissen.1 Damit wurde ein wichtiger Weg vorgezeichnet, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass schon das 1977 von der Wiener Katholischen Akademie veranstaltete und äußerst innovative Forschungsperspektiven summierende internationale Symposion „Katholische Aufklärung – Josephinismus“ vornehmlich die „Verflochtenheit von Theologie und Politik“ bzw. die Interdependenz Kirche und Staat unter die Lupe nahm.2 Doch (auch) die ecclesia semper reformanda wurde und wird von Menschen gestaltet und geprägt, die mit ihren persönlichen Erfahrungshorizonten und Wertekanonen ihren besonderen Stempel aufdrücken. Der Zisterzienserabt Johann Ladislaus Pyrker (1772-1847) eignet sich unter diesen Vorgaben als besonders untersuchungswürdig: Erstens wissen wir über ihn noch immer viel zu wenig, obwohl er als Grenzgänger zwischen Zeiten, Kulturen und Systemen eine multidimensionale Perspektive 1
2
Vgl. Georg HEILIGENSETZER, Bericht über die Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18 Jahrhunderts (16.-18. November 1988). Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 5 (1988/1989), S. 64-70. Vgl. Elisabeth KOVACS, Vorwort. In: Katholische Aufklärung und Josephinismus. Hg. v. DERS., Wien 1979, S. 7-9, hier S. 8.
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für Ereignisse, Entwicklungsläufe, Kontinuitäten und Diskontinuitäten wie kein anderer bietet. Zweitens lassen sich gerade anhand seiner Biographie Konfliktpotentiale kultureller Unterschiede und struktureller Umwälzungsprozesse wie des Spätjosephinismus schärfer fokussieren und nachzeichnen.3 Dabei geht es weder um die Hagiographie eines herausragenden Kirchenmannes, der unterschiedliche Führungsämter innehatte und eine zweifellos ungewöhnliche Karriere durchlief4, noch geht es darum, einzelne Komponenten einer Biographie im (Spät-)Josephinismus kumulativ aneinanderzureihen.5 Vielmehr geht es um die Frage der Rezeption von kirchlichen Würdenträgern der katholischen Aufklärung und des (Spät-)Josephinismus am Beispiel eines einzelnen Akteurs, in diesem Falle Pyrkers.6 Insbesondere, zumal die praktische Umsetzung der katholischen Aufklärung wie des Josephinismus gerne als ein vertikaler Prozess, also von oben nach unten, betrachtet wird. Dies würde allerdings zum erstarrten Bild führen, wonach Aufklärung eindimensional zu verstehen wäre, nämlich als ein Modernisierungsakt von oben nach unten. Doch ausgerechnet die Rolle der Multiplikatoren belegt vielmehr, wie die Rezipienten der aufklärerischen Ideen diese nicht nur eine Stufe weiter nach unten trugen und verbreiteten, sondern sich mit Gleichgesinnten austauschten und sich gegenseitig motivierten und somit eine fluide horizontale Verbreitung förderten. Und nicht allein das: Mit Zoltán Gőzsy versuchten wir, im protestantischen Milieu von der Herrschaft Hohenlohe über das Zentrum Szarvas von Samuel Tessedik bis zu den Esterházys in Süd-Transdanubien dies zu rekonstruieren. Dabei stellte sich heraus, dass das klassische „vertikale“ Modell auch in die Gegenrichtung funktionierte: Aufklärerische Ideen unterbreitete z.B. der protestantische Geistliche Johann Georg Mayer an seinen Grundherrn Hohenlohe-Schillingfürst, der daraufhin deren praktische Umsetzung dem Initiator überließ.7 Es war also ein äußerst 3
4
5
6
7
Ähnliche Zielstellung verfolgten Gábor Tüskés und Éva Knapp in ihrer Arbeit über den Missionarmönch Oddo Koptick in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gábor TÜSKÉS / Éva KNAPP, Frömmigkeit zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung. Eine personengeschichtliche Untersuchung. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 9 (1994), S. 56-73. Dazu zählt die bis heute einzige umfangreiche Monographie eines Gymnasiallehrers, der in Pyrker das Exotische gefunden haben will. „[…] war erstaunt über die Vielzahl der Lebensstationen des Kirchenfürsten: gebürtiger Ungar tirolischer Abstammung, Zisterzienser in Lilienfeld […].“ Roland DOBERSBERGER, Johann Ladislaus Pyrker. Dichter und Kirchenfürst, St. Pölten, Wien 1997, S. 11. Dabei wird Pyrker vor allem als Lyriker wahrgenommen. Vgl. August SAUER, Pyrker, Johann Ladislav. In: Allgemeine Deutsche Biographie 26 (1888), S. 790-794. Siehe auch die Dissertation von Alexander LÄUCHLI, Der Dichter Johann Ladislaus Pyrker (1772-1847), Zürich 1994. Welche Holzwege hier möglich sind, belegt ausgerechnet diese Schweizer Qualifikationsarbeit eines Germanisten, der sich in der historischen Interpretation auf Eduard Winters Josephinismusdeutung einlässt und in Pyrker einen verkappten, weil antiprotestantischen „Ultramontanen“ erkennen will. LÄUCHLI, Pyrker, S. 26. Norbert SPANNENBERGER / Zoltán GŐZSY, „Discipulus Teschedikianus huc pro experientia mitti deberet“. Das Prinzip der „ordo“ in den Entwürfen deutscher und ungarischer Aufklärer. In: Ungarn-Jahrbuch 29 (2008), S. 59-73. – DIES., „Ex minimis faciunt maxima“. Kísérlettípusok a paraszti közösség ideális rendjének kialakítására a felvilágosult evangélikus lelkészek
Abt Johann Ladislaus Pyrker als Grenzgänger zwischen Zeiten, Reichen und Systemen
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multipolarer Prozess, der sich nicht aus einem Initiator „oben“ und vielen Rezipienten „unten“, sondern von vielen Initiatoren und Rezipienten auf allen Ebenen zusammensetzte, um dadurch ein komplementäres und in der Wirksamkeit kohärentes System zu bilden. Vorliegender Aufsatz versucht in diesem Sinne eine Deutung dieses hoch gebildeten und von den josephinischen Idealen geleiteten Kirchenfürsten. Gegenwärtig gibt es – meines Wissens – ein einziges aktuelles Vorhaben, das sich mit Pyrkers Erbe auseinandersetzt. Es bleibt zu hoffen, dass dabei Pyrker als Priester, Aufklärer und Amtsträger, Mensch und Wohltäter, Dichter und Mäzen gleichermaßen gewürdigt wird.8
2.
Herkunft und Identität
Johann Baptist Pircher ist am 2. November 1772 in (Nagy-)Láng geboren. Dieser Ort ist längst in Soponya eingemeindet und galt als Sitz der Domänenverwaltung des Grafengeschlechts Zichy. Als Soldat diente sein Vater, Stephan Pircher, unter General Luzsinszky während des Siebenjährigen Krieges, tat sich besonders heldenhaft in der Schlacht von Kunersdorf gegen die Preußen hervor und erwarb damit das besondere Wohlwollen seines Kommandanten. Nach dem Kriege stellte er ihn deshalb als Oberverwalter ein. Die Relevanz dieser Gönnerhaftigkeit als rechte Hand des Gutsherrn darf nicht unterschätzt werden, weil es sich nicht um eine Mildtätigkeit handelte, sondern um eine besonders gut dotierte Förderung mit Machtposition im Klientelsystem. Zudem verehelichte der General seine Adoptivtochter, Marie Anna Hafner aus Brannzoll im Etschtal (Tirol), mit Pircher. Aus der Ehe entsprangen insgesamt acht Kinder, Johann Baptist war das zweitälteste Kind und der älteste Sohn.9
8
9
munkáiban [„Ex minimis faciunt maxima“. Ansätze zur Verwirklichung der Idealordnung bäuerlicher Gemeinschaften in den Werken aufgeklärter evangelischer Pfarrer]. In: Korall 10/36 (2009), S. 102-118. Geplant ist in Ungarn eine neue Synthese mit den Biographien aller Erzbischöfe aus Erlau. Vgl. Erzsébet LÖFFLER, Kutatási eredmények az Egri Főegyházmegye gyűjteményeiben [Forschungsergebnisse aus den Sammlungen der Erzdiözese Erlau]. In: Közgyűjteményi tudományos napok II-III. Eger-Kecskemét. Hg. v. Péter EKLER, Budapest 2008, S. 9-22, hier S. 19. Nicht zuletzt die Tiroler Mutter ließ in Pyrker eine romantische Zuneigung gegenüber Tirol entwickeln. Sie schwärmte er in seinem Gedicht Tyrol aus dem Sammelband „Lieder der Sehnsucht nach den Alpen“ (1845/46) an: „Tyrolerland, du Wiege meiner Ahnen, Sey mir gegrüßt! Du wurdest Oestreichs Stern, Zu leuchten auf des Ruhmes hehren Bahnen, Als Nacht die Völker deckte nah’ und fern! Sie blickten staunend auf zu deinen Fahnen, Die du erhobst für deinen hohen Herrn, Für deine Sitten, Freiheit, heil’gen Glauben, Und nicht gelang’s dem Fremdling sie zu rauben.“
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Bereits hier gibt es Dissonanzen in der Herkunft Pyrkers, da er schrieb: „Von meinem Vater hörte ich später, daß mein Großvater ein in der Gegend von Bozen geborener Tiroler war.“10 Die Mutter kam tatsächlich aus Tirol, deshalb klang es nach außen gut, die väterliche Linie ebenfalls auf diese Herkunftsregion zurückzuführen. Doch sie entstammte aus Oberungarn, die Vorfahren lebten seit dem 16. Jahrhundert im Königreich Ungarn. Ein geadelter Pyrker aus Oberwart im heutigen Burgenland erkannte die Verwandtschaft an, erst ab 1816 nannte sich deshalb der Zisterzienserabt „Pyrker von Felső-Eör“. Das dürfte dem Vater aus Prestigegründen, dem Sohne aber aus Karrieregründen durchaus von Nutzen sein, da, wie er selber bestätigte, der Adelstitel „in Ungarn von großem Belange“ war.11 Nach eigenem Empfinden hatte er eine „wenig frohe Jugend“, mehr Lebensfreude und Zuneigung soll er in Lilienfeld erfahren haben.12 Zu Hause sprach er Deutsch, mit den Herrschaftsbeamten und den Untertanen Ungarisch. Das Ungarische dürfte er sehr gut beherrscht haben, da er nach eigener Aussage schon in der „zweiten Normalschulklasse im Lesen und Schreiben […] den meisten meiner Mitschüler überlegen war“.13 An seiner Gewandtheit in der ungarischen Sprache und Kultur wurde an der Akademie in Fünfkirchen, wo er Philosophie hörte, weiter geschliffen. Zugleich blieben seine Deutschkenntnisse auf einem niedrigeren Niveau, da er in der Schulausbildung nichts in seiner Muttersprache genoss. Ich betone diese biographischen Details, um die Koordinaten seiner Identität schärfer bestimmen zu können. So ging er zwar mit 18 Jahren nach Ofen, um eine Anstellung in der Verwaltung zu bekommen, doch nicht zuletzt wegen seiner mangelhaften Deutschkenntnisse wurde er abgelehnt. Wie schmerzlich ihm diese Erfahrung war, belegt seine Bemerkung über seine Zeit als Mönch: „Bei weitem die größte Mühe und Anstrengung kostete mich aber die vollkommene Ausbildung in der deutschen Sprache und die Metrik oder die Erlernung des Versbaues.“14 Allerdings vermochte er, mit Fleiß diese Defizite zu kompensieren. In Ofen nahm er Quartier bei einem aus Wien dorthin versetzten Beamten namens Reitinger. In seiner Bibliothek befanden sich Werke von Wieland, Klopstock und Ossian, einige von Goethe, Schiller und Lessing. Da er auch hier zu „schriftstellern“ begann und zudem Italienisch und Französisch lernte, dürften diese Impulse entscheidend für sein Weltbild gewesen sein: weltgewandt, gebildet, offen für schöngeistige Einflüsse, doch zugleich in der deutschen Kultur beheimatet und verwurzelt. Trotzdem dürfte er sich auch mit der ungarischen Kultur verbunden fühlen, da er auch bewusst ungarische historische Themen als Gegenstand seiner literarischen Arbeit wählte: 1810, schon als
10 11 12 13 14
http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1772 (08.12. 2014). Ebd. Ebd., 1821-1827, S. 9 von 10. Ebd. Ebd., 1792-1819, S. 2 von 13. Zur Magyarisierungsproblematik dieser Zeit siehe Gerhard SEEWANN, Geschichte der Deutschen in Ungarn. Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860, Marburg 2012, S. 269-278.
Abt Johann Ladislaus Pyrker als Grenzgänger zwischen Zeiten, Reichen und Systemen
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Mönch in Lilienfeld, verfasste er „Die Korwinen“ und „Karl den Kleinen“.15 Und nachweislich korrespondierte er mit dem Paulinermönch Benedikt Virág in Ungarn, der später eine Schlüsselfigur des ungarischen Katholizismus werden sollte.16
3.
Mönchsein als Dienst an den Menschen
Nach einem Intermezzo in Italien meldete er sich 1792 im Kloster Lilienfeld, das 1202 vom Herzog Leopold dem Glorreichen gestiftet worden war. Die geschichtsträchtige Vergangenheit dieses „Herrenklosters“ mit der vornehmen Stellung unter den österreichischen Monasterien war ihm bewusst. Er hatte ohnehin Sinn für das Historisch-Heroische. Doch das war nicht das Entscheidende, denn welche Potentiale im monastischen Leben dieser Region steckten, darüber hielt er begeistert fest: Neben dem gelebten benediktinischen Prinzip der ora et labora und der aktiven Seelsorge engagierten sich nämlich die Zisterzienserpatres auch künstlerisch, wissenschaftlich und als Lehrer im Schulwesen. Um diesem mehrfachen Anspruch gerecht zu werden, bedurfte es aber intakter Gemeinschaften, die zu ihren Aufgaben hingeführt werden mussten: „Je nachdem in dem einen und dem anderen unter der Leitung eines tüchtigen Vorstehers der gute, nämlich die Frömmigkeit, Sitte, Anstand und Neigung zu wissenschaftlicher Beschäftigung zum Gemeingut wurde, sieht man dort alles in der gehörigen Ordnung [sic!] vorwärts schreiten und freut sich des dauernden Segens, der ihr entquillt. St. Florian und Kremsmünster in Oberösterreich haben auch aus der letzteren Zeit hochgeachtete Schriftsteller aufzuweisen, nicht minder Melk, Klosterneuburg und Wien zu den Schotten im Unteren. Reichhaltige Bibliotheken bieten allen die nötigen Hilfsmittel. Übrigens ist die Verfassung eines solchen Stiftes, ich möchte beinahe sagen, eine republikanische unter einem selbstgewählten Präsidenten, denn obschon das Gelübde des Gehorsams die Mitglieder dem Stiftsoberen streng untergeordnet, so vergessen sie es doch selten ganz, daß er durch ihre Wahl zu jener Würde erhoben wurde. Auch wird seine Macht bei wichtigeren Dingen, z.B. Kauf und Verkauf von Realitäten, durch Einfluß des Kapitels bei Einberufung sämtlicher, oder des größeren Teils der Kapitularen beschränkt, wozu übrigens auch die landesfürstli15
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Mathias „Corvinus“ (1453-1490) galt als der legendäre König des ungarischen Mittelalters, der sein Reich stabilisierte, ihm zur regionalen Ordnungsmacht verhalf und imperiale Träume hegte. Sein Vater, Johann Hunyady, verteidigte mit dem Franziskanermönch Johannes Capistrano Belgrad mit Erfolg gegen die Osmanen. Mathias’ Bruder Ladislaus wiederum, der in den „Korwinen“ besonders exponiert vorkommt, gilt als tragischer Held und Opfer von Intrigen. König Karl II. (1385-1386), der „Kleine“, entstammte aus dem Neapolitaner Zweig des Hauses Anjou. Er soll mit seinem Charme die oppositionellen Ungarn erobert haben, schuf Frieden und Eintracht im vom Bürgerkrieg heimgesuchten Ungarn. Pyrker dürfte mit diesem die sonst keineswegs von der ungarischen Erinnerungskultur favorisierte Episode europäischer Größe unter einer fremden Dynastie popularisieren helfen wollen. So betonte Franz Kazinczy in einem seiner Briefe, dass Pyrker „aus Deutschland, wo er zisterziensierte [sic!], mit Virág korrespondierte“. http://deba.unideb.hu/deba/kazinczy_muvei/ fk.php?fkid=kazinczy_ford_12_j (08.12. 2014).
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che Bewilligung ein geholt werden muß. In Hinsicht der Anstellungsfähigkeit hängen diese von der Approbation des Diözesanbischofs ab“, beteuerte Pyrker in seinen Memoiren.17 Welche Ideale machte sich also Pyrker als Mönch in Lilienfeld zu Eigen? Das Individuum war Teil einer organischen Gemeinschaft, die im Dienste der göttlichen Ordo hoch motiviert und effizient betete, lebte und arbeitete. Dies aber war kein Selbstzweck, um etwa eine Perfektion in der Ausübung der Tugenden zu erlangen. Vielmehr sollten christliche Frömmigkeit, Bildung und das Wirken für die Gemeinschaft als eine organische Einheit am Allgemeinwohl verstanden werden. Folgerichtig waren die Klöster und die Priester bzw. Mönche keine isolierten Akteure einer „anderen“, „heilen“ Welt, sondern Zentren innovativer Impulse, die sämtliche Bereiche menschlichen Lebens zu erreichen hatten.18 Natürlich musste man mit gutem Beispiel vorangehen: Deshalb studierte Pyrker „mit ungemeinem Fleiße und nie empfundener Freude“ ab 1793 am Priesterseminar zu St. Pölten. 1796 wurde er zum Priester geweiht und am 08. Dezember hielt er seine Primiz. Schon 1798 wurde er zum Ökonomiedirektor des Stiftes ernannt, der „wegen der Alpenwirtschaft mit vieler anstrengender Bewegung verbunden war, ganz gegen meine Neigung, doch ich musste gehorchen“.19 Zwei Jahre später übernahm er die Leitung der Stiftskanzlei und des Forstamtes.
4.
Der homo politicus als poeta Christianus
Doch die Napoleonischen Kriege machten aus den Idealen des Jünglings blutigen Ernst. Außenminister Graf Johann Philipp Stadion befürwortete die Mobilisierung der „Volkskräfte“ gegen Napoleon.20 Den Priestern oblag, von der Kanzel herab, „die
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http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1792-1819, S. 1 von 13. Zur Relevanz dieser Klöster siehe Patrick FISKA, Die österreichischen Stifte als Schrittmacher der österreichischen Geschichtsforschung. In: Ordensnachrichten 48 (2009), S. 78-91. – Engelbert MÜHLBACHER, Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 1905. Zu dieser fruchtbaren Zeit in Lilienfeld siehe DOBERSBERGER, Pyrker, S. 50-70. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1792-1819, S. 2 von 13. Johann Philipp Karl Joseph Graf von Stadion (1763-1824) war Sohn des kurmainzischen Hofrats. Er studierte in Göttingen, war Gesandter in Stockholm (1787-90), London (1790-93), Berlin (1800-03) und danach in Sankt Petersburg. Hier gelang es ihm, den Zaren zur Beteiligung am Dritten Koalitionskrieg zu überreden. 1805 wurde er österreichischer Außenminister, befasste sich aber vornehmlich mit den inneren Reformen des Schulwesens, der Verwaltung, der Ökonomie und der Volksbewaffnung. Als aber Preußen wider Erwarten sich nicht an dem Aufstand von 1809 beteiligte, brach das System zusammen und Stadion wurde durch Metternich abgelöst. Nach dem Wiener Kongress setzte er sich zu dessen Ordnung in Opposition, weil er einen anderen deutschen Staatenbund unter österreichischer Führung befürwortete. Noch 1803 empfahl er dem Kaiser, das Alte Reich aufzulösen, um den Rheinbund zu verhindern. 1815 wurde er zum
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Völker von Österreich“ zu mobilisieren und die Landwehr zu segnen. Als Pfarrer von Türnitz (1807-1811) fand er den Zugang zum Volk und 1807 nahm er aktiv am Widerstandskampf gegen die napoleonische Armee bzw. seine Verbündeten teil. Besonders das Jahr 1809 empfand er als „abscheulich“, verbittert notierte er sich, dass „besonders die Württemberger und die Sachsen, gegen das Landvolk viel härter waren als die Franzosen“.21 Das Stift Lilienfeld verlor zudem sein gesamtes Nutzvieh, seine Weinvorräte und einen Großteil seines Vermögens. Zudem brannte das Kloster am 10. September 1810 komplett ab. Eine creatio ex nihilo war das Gebot der Stunde. In Türnitz hatte er ein weiteres Schlüsselerlebnis, das er sehr ausführlich in seinen Memoiren schildert. Als die französischen Besatzungstruppen eine Vergeltungsaktion durchführten und einige seiner Pfarrkinder exekutieren wollten, intervenierte er beim zuständigen Kommandanten, der daraufhin „in Tränen ausbrach“ und von der Vergeltung Abstand nahm.22 Der Hirte war bereit, sein Leben für seine Schafe zu geben, um diese zu retten. Wirkungsvolle Aktivität entfaltete er auch in einem anderen Sinne: Das am 07. Dezember 1804 proklamierte Kaisertum Österreich erfolgte ohne die Zustimmung der Stände der Erbländer und ohne Berücksichtigung der Reichsverfassung.23 Doch es war nicht die Stunde der Staatsrechtler, sondern die der Aktivisten für die Entfachung der patriotischen Gefühle. Während Erzherzog Karl die Armee reformierte und Erzherzog Johann sich um ein Volksheer kümmerte, koordinierte der Publizist Friedrich von Gentz die Agitationspropaganda mithilfe von Gedichten, Liedern und Flugschriften. Pyrkers späterer literarischer Konkurrent, Franz Grillparzer, brachte den spirituellen Zustand seiner Zeitgenossen bitterböse auf den Punkt: „Seit man nicht mehr in die Kirche geht, ist das Theater der einzige öffentliche Gottesdienst, so wie die Literatur die Privatandacht.“24 Doch genau Religion und Patriotismus wollte Pyrker miteinander verknüpfen und in Einklang bringen. Die Zeit des großen Tiroler Aufstandes im April 1809 verbrachte Pyrker in seiner Stube und schrieb Theodor Körners „Zrínyis Tod“ als Bühnenstück um, das 1810 erschien.25 Darin beschwor er in doppelter Hinsicht die Geister: Einerseits erwies sich Pyrker als aktiver Widerständler wie auch der junge Körner, der selbst zur Waffe griff. Andererseits wollte Pyrker mit dem Thema bewusst Parallelen ziehen: Der kroatische Banus Nikola Zrinski Šubić (ungarisch Miklós Zrínyi) galt als Held in einem aussichtslosen Kampf, der gegen die quantitati-
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Finanzminister ernannt, er unterzog das Steuersystem einer Revision und gründete 1816 die Österreichische Nationalbank. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1792-1819, S. 2 von 13. Johann Ladislaus PYRKER, Mein Leben. Hg. v. Aladar Paul CZIGLER, Wien 1966, S. 50. Friedrich WEISSENSTEINER, Große Herrscher des Hauses Habsburg. 700 Jahre europäische Geschichte. München 2000, S. 281. Franz GRILLPARZER, Tagebücher und Reiseberichte. Hg. v. Klaus GEIßLER, Berlin 1981, S. 188f. Carl Theodor Körner (1791-1813) kam aus einer aufgeklärten Intellektuellenfamilie in Dresden. Als Dichter und Dramatiker wurde ihm schon 1812 eine Wirkungsstätte am Wiener Burgtheater angeboten. Im Sommer 1812 wurde im Fieber antinapoleonischer Kämpfe sein größtes Drama „Zriny“ im Hoftheater aufgeführt. Als Mitglied des legendären Lützowschen Korps starb er in Gefechten am 26. August 1813.
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ve Übermacht der Osmanen 1566 zwar letztlich unterlag, sein Tod aber war nicht umsonst, denn erstens zögerte er damit den Anmarsch der Türken gegen Wien hinaus und zweitens starb der strahlende Sultan Süleyman I. während der Belagerung von Sigeth.26 Als Erzherzog Karl bei Aspern gegen Napoleon den Sieg davontrug, war der Nimbus des Unbezwingbaren verloren. Doch ausgerechnet auf dem Marchfeld, wo vor über 500 Jahren der böhmische König Ottokar von Kaiser Rudolf besiegt und damit der Aufstieg des Hauses Habsburg besiegelt worden war, schlug Napoleon die österreichische Armee entscheidend.27 Im Frieden von Schönbrunn wurde Österreich auf den Status einer Mittelmacht reduziert. In diesem Kontext wandte sich Pyrker der historischen Figur Karl V. zu, um aus ihm den „Stoff eines Nationalepos der Deutschen“ auszuarbeiten.28 Sein „Tunisias“ wurde erst 1816 fertig gestellt und 1820 veröffentlicht. Doch bereits zu dieser Zeit entdeckte Pyrker – ganz im Fahrwasser des Hormayrschen Kreises – das patriotische Epos für sich, indem er herausragende Gestalten der Geschichte zum Gegenstand seiner Dichtkunst wählte. Das kam dem Konsolidierungskurs von Metternich nur entgegen: Nicht die borussischen Heroen sollten als Bezugspunkt herangezogen werden, sondern die österreichischen. Im „Tunisias“ wurde die Eroberung von Tunis durch Karl V. besungen, dem sein Ahnherr Rudolf von Habsburg als Bote Gottes eine glückliche Zukunft prophezeit.29 In dem „Rudolphias“, 1824 bzw. 1827 in der erweiterten Ausgabe veröffentlicht, wurde schon die segensreiche Herrschaft der Habsburger besungen. So klang etwa die Huldigung der Kriegsvölker: „Gottes Segen mit dir, und mit deinem Geschlechte! Der Nachwelt Stell’ ich es freudig anheim, was heut’ allhier sich begeben. Möge sie noch an der Zeiten entferntestem Ziele, des Glückes Herrlichster Fülle froh, laut Habsburg segnen und Oestreich!“ Und weiter: „Heil dir, Oestreichs Herrn, dir edelstem Kaiser der Deutschen!“30 26
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Welchen Stellenwert der Held von Sigeth (ung. Szigetvár), Nikolaus Zrínyi/Zrinski, über Jahrhunderte hindurch in der ungarischen Erinnerungskultur hatte, belegt, dass, als Kaiser Wilhelm II. im September 1897 Budapest besuchte, er in seiner Ansprache sein ungarisches Auditorium damit eroberte, dass er den Geist von Zrínyi beschwor. Damit nahm er einen indirekten Bezug auch auf Körners Figur als nationalen Identifikationspunkt. Béla G. NÉMETH (Hg.), Herczeg Ferenc emlékezései. A Várhegy. A gótikus ház [Franz Herzogs Memoiren. Der Burgberg. Das Gothische Haus]. Budapest 1985, S. 325. Die größte Ritterschlacht der Weltgeschichte war die am 26. August 1278 zwischen Rudolf von Habsburg und dem böhmischen König Ottokar Przemysl ausgefochtene auf dem Marchfeld östlich von Wien. 60.000 Lanzenreiter und Bogenschützen traten gegeneinander an, 12.000 ließen ihr Leben. Damit niemand das Gerücht in die Welt setzen konnte, König Ottokar habe überlebt, ließ Rudolf die Leiche seines Gegners ausweiden, mit Asche füllen und 30 Tage lang öffentlich ausstellen. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben, S. 2 von 13. Tunisias. Ein Heldengedicht in zwölf Gesängen. Wien 1812. Auf Italienisch kam das Werk 1826 in Mailand und 1828 in Venedig heraus. Rudolphias, 12. Gesang.
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Der Kirchenfürst und Mäzen
Der eigentliche Aufbau des Klosters Lilienfeld nach den napoleonischen Wirren war mit Pyrkers Namen verbunden, der 1812 zum Abt ernannt wurde. Sein Vorgänger, der nach Pyrkers Urteil in Apathie verfallen war, hatte auch die Schäden zu verantworten. So war ein tatkräftiger Abt gefragt. Dank einer systematischen Aufbauarbeit gelangte das Stift nicht nur zu alter ökonomischer Macht zurück, sondern auch zu einem glanzvollen Aufschwung. Abt Pyrker gründete eine namhafte Musikschule und ein Naturalien-, ein technologisches und ein Mineralienkabinett, das eine besondere Anerkennung des 1814 im Kloster weilenden Kaisers fand. Zu Kaiser Franz pflegte der Abt ein besonders inniges Verhältnis, seine Loyalität zum Herrscher war auch das Fundament seiner famosen Karriere. Zudem waren die Erzherzöge Karl, Johann, Rainer und Ludwig seine Gäste, auf die er auch später zählen konnte. Wie rationell der Abt mit seiner Zeit umging, um seiner Leidenschaft – der Kunst – huldigen zu können, belegt die Tatsache, dass er bei seinen häufigen Geschäftsreisen nach Wien „im Wagen sitzend, frei von jedem lästigen zwang und im Anblick der schönen Natur“ seine Texte verfasst hatte. Wenn er keine anderen Schmierzettel fand, beschrieb er die leeren Seiten von Briefen aus der Rocktasche.31 In Wien wiederum pflegte er bewusst den Umgang „im Kreise ausgezeichneter, edler und guter Menschen“, wie mit Hofrat Joseph von Hammer(-Purgstall) etc.32 Als Pyrker mit dem Monumentalwerk „Tunisias“ von 1820 bekannt und populär wurde, war sein sozialer Aufstieg perfekt. Und er profilierte sich als mächtiger Abt des finanzstarken Klosters, als Mäzen und Wohltäter. So absolvierte er mit seinem Protegé Franz Grillparzer Kuraufenthalte in Gastein. In Karlsbad und in Gastein stiftete er jeweils ein Kurhaus für Kriegsinvaliden. Ebenso spektakulär war sein Mäzenatentum als Bischof der Zips. Am 18. August 1818 ernannte ihn der Kaiser zu diesem Kirchenamt ob seiner Sprachkenntnisse. In Ofen (ung. Buda) erwiesen ihm Intellektuelle und politische Persönlichkeiten die Ehre. Der führende Aufklärer und Protestant Gregor Berzeviczy veranstaltete sogar als Einstand einen musikalischen Abend.33 Pyrker pflegte bewusst den Kontakt zu ihm. Dies bedeutete allerdings keine konfessionelle Indifferenz seinerseits – im Gegenteil. Als Kirchenfürst stellte er bissig die Tatsache fest, dass ein Großteil, eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung in seiner Diözese, protestantisch war. Doch nicht die Konfrontation mit diesen, sondern die Festigung der Strukturen der katholischen Kirche wurde von ihm als dringende Aufgabe erachtet. Er begann seine Amtszeit mit einer Visitation, die mit der anstehenden Firmung begründet wurde. Etwa acht Wochen Zeit investierte er, sein Bistum kennen zu ler31 32 33
http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben, S. 12 von 13. Ebd., S. 13 von 13. Gregor Berzeviczy (1763-1822) studierte 1783-86 in Göttingen und bereiste danach Deutschland, Frankreich, Belgien und England. Als Aufklärer, der die soziale Ordnung Ungarns heftig kritisierte, fand er auch Zugang zu den Jakobinern. 1802 wurde er zum Mitglied der Göttinger Gelehrtengesellschaft gewählt.
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nen. Als Resultat stiftete er u.a. eine Ausbildungsstätte für angehende Dorfschullehrer, die Räumlichkeiten stellte er in seinem Bischofspalais zur Verfügung. Als Gegenstand des Unterrichts bestimmte er Katechese, Methodologie, Orthographie, Kalligraphie, Arithmetik, Natur- und vaterländische Geschichte sowie biblische Geschichte des Alten wie des Neuen Testaments, zudem Gesang- und Orgelstunden. Der Kurs dauerte zwei Jahre, halbjährig hatten die Kandidaten eine Prüfung abzulegen. Diese erste ungarischsprachige Lehrerbildungsanstalt, die übrigens in der magyarischen Erinnerungskultur keinerlei Erwähnung findet, wurde damals nicht nur vom Kaiser und der Öffentlichkeit gewürdigt. Auch die protestantischen Damen der Zips sahen darin eine löbliche Initiative und begannen eine große Spendenaktion zugunsten dieser Einrichtung.34 Bischof Pyrker dürfte hier mit den Menschen die richtige Sprache gefunden haben, insgesamt äußerte er sich sehr positiv über seine zwei Jahre in der Zips. Mit den wichtigsten Intellektuellen stand er in regem Verkehr, Graf Johann Nepomuk Majláth, der Verfasser der Geschichte der Magyaren und Österreichs, oder Franz Verseghy, ein Paulinermönch und späterer Jakobiner, waren öfters Gast bei ihm. Und er beendete hier sein Werk „Die Perlen der heiligen Vorzeit“, eine epische Würdigung heroischer Gestalten des Alten und des Neuen Testaments. 1820 ernannte ihn der Kaiser zum Patriarchen von Venedig. Auch hier ging er mit josephinischer Pflichtentschlossenheit und Gründlichkeit vor und begann seine Amtsausübung mit einer Visitation.35 „Diese pflichtgemäße Amtshandlung – in Venedig in solcher Form nie erlebtes – war für die Sache und für mich von den erfreulichsten Folgen“, beteuerte er.36 Diese Selbstwahrnehmung mag seinen eigenen Erwartungen und denen Wiens entsprochen haben; doch nicht Leistung und Erfolg begleiteten die Bewertung seiner Amtsführung, sondern zwei andere Faktoren: Erstens wählten den Patriarchen zuvor der Rat von Venedig. Pyrkers Ernennung war somit ein Zeichen der „österreichischen Willkür“ auf italienischem Boden.37 Und zweitens wurden seine strengen Maßnahmen seitens des Klerus ganz und gar nicht mit Sympathie betrachtet, auch wenn er selbst dies in seinen Memoiren anders sehen wollte. Tatsächlich griff er hart durch: Er verpflichtete seine Priester zur Predigt, womit er ernste Auseinandersetzungen hatte, las danach selbst die Heilige Messe, erteilte die Firmung und ließ die Kinder in seiner Anwesenheit in der Katechese prüfen oder nahm ihnen höchstpersönlich die Prüfung ab. Er ließ genaue Verzeichnisse über die liturgischen Geräte erstellen, kontrollierte die Matrikelbücher und die Stole- und Messkataloge. Über seine Erwartungen informierte er die Priester in seinen 34 35 36 37
http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1819-1820, S. 1 bis 4. Siehe dazu ausführlich: Bruno BERTOLI / Silvio TRAMONTIN (Hg.), La vista pastorale di Giovanni Ladislao Pyrker nella deocesi die Venezia (1821), Roma 1971. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1821-1827, S. 1 von 10. Vgl. Erzsébet LÖFFLER, Pyrker László érsek és az egri vár kultusza [Erzbischof Ladislaus Pyrker und der Kult der Erlauer Burg]. Hier zitiert nach http://www.eke.hu/index.php/rendezvenyek/ 44-koezgyles/147-eladasok-a-koezgylesekrl-2007-szombathely-loeffler-erz.ebet-pyrker-laszloegri-ersek-es-az-egri-var-kultusza?tmpl=component&print=1&page= (08.12. 2014).
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„Circularum litterae“. Als er die Pflichtpredigt verordnete, entsandten die Priester Delegationen zu ihm mit der Bitte, davon Abstand zu nehmen. Er erklärte ihnen, dass die Predigt einen wesentlichen Teil der Liturgie ausmachte, die vor allem für die unteren Schichten von besonderem Nutzen sei.38 Zugleich sorgte er für seine alten und finanziell schlecht gestellten Priester, die entweder nie richtig angestellt waren oder im Rentenalter existenzielle Sorgen hatten, und „in bettelhaft schmutzigem Anzug“ auf den öffentlichen Straßen und Plätzen zu sehen waren. In einem ehemaligen Kloster wurde das „Defizientenhaus“ errichtet und tatsächlich waren die gealterten Priester nicht mehr in heruntergekommenen Weinschenken (botteghe) anzutreffen.39 Noch bevor er Venedig verließ, überreichte er dieser Einrichtung wieder eine größere Spende und kümmerte sich um dessen sichere Fortfinanzierung. Ebenso kümmerte er sich um den Nachwuchs: Als er sein Amt antrat, gab es insgesamt drei Priesterseminaristen, kurz vor seinem Abschied schon dreißig.40 Doch das war nicht sein einziges soziales Engagement: Als Vorsitzender der Wohltätigkeitskommission Commissione di Pubblica Beneficenza studierte er ausführlich die Lage aller Schichten der Bevölkerung, verfasste eine Studie an den Kaiser mit dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte aller Untertanen in die Armutsliste aufgenommen und die Wiederherstellung des Armenfonds bewilligt wurde. Als der Vizepräsident Venedigs an die Spitze der Räte öffentlich erklärte, er hätte sich eine solche Eingabe nie getraut, einzureichen, entgegnete ihm Patriarch Pyrker: „Warum nicht? […] die Erfüllung einer Pflicht ist immer mit Mut gepaart!“41 Er selbst spendierte diesem Fonds 10.000 Franken. In einer weiteren Eingabe forderte er ökonomische und verwaltungstechnische Reformen für die Stadt Venedig, die von Wien ebenfalls bewilligt wurden. Der regierende Kirchenfürst konnte auch seine Huldigung an die Kunst richtig erweisen. Er kaufte über 190 Gemälde von Meistern des italienischen Barock und der Renaissance an. Und er brach mit einer etablierten Tradition, denn den Gesang der Kastraten in seiner Pfarrkirche empfand er als „unerträglich“. So regte er an, aus dem Waisenhaus der Stadt, Kinder für den Chor anzuwerben, die dann von professionellen Musikern ausgebildet werden sollten. Vom Gubernium vermochte er auch dafür Gelder aufzutreiben, so dass die Musikszene in der Markuskirche eine neue Blütezeit fand.42 Und nebenbei verfasste er anlässlich seiner Exkursionen und Jagden in den Alpen seinen Zyklus „Lieder der Sehnsucht nach den Alpen“. Doch lange konnte er Venedig, wo er sich ebenfalls wohlfühlte, nicht genießen. Nach sieben Jahren bestimmte ihn das „edle“ und „väterliche Herz“ des Kaisers zu
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http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1821-1827, S. 2 von 10. Ebd., S. 9 von 10. LÖFFLER, Pyrker. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1821-1827, S. 7 von 10. Ebd., 1827-1837, S. 1 von 14.
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neuen Aufgaben, und zwar erneut in seinem Geburtsland. Er wurde 1827 zum Erzbischof von Erlau (ung. Eger) ernannt.43
6.
Das Ende der imperialen Gemeinsamkeit im Kaisertum Österreich: der Vormärz
Auch wenn die erste Etappe seiner politischen Karriere, nämlich die Ernennung zum Bischof der Zips, vordergründig mit seinen Sprachkenntnissen begründet worden war, war allen Beteiligten klar, dass diese Rolle in Ungarn vor allem eine politische war.44 Wenn der Verfasser des „Tunisias“ und des „Rudolph von Habsburg“ als Hofpoet der Habsburger als Vermittler in Ungarn fungieren sollte, so hatte er eine Herausforderung angenommen, deren Tragweite er offensichtlich nicht einzuschätzen wusste. Mit den geistigen Umwälzungen in der transleithanischen Reichshälfte war er als Patriarch von Venedig und Primas von Dalmatien nicht vertraut. 1824 verfasste Ján Kollár seine „Slavy dcera“, ein Epos allslawischer Identität, dessen Popularität alle Vorstellungen übertraf.45 Und ein Jahr später, als Pyrker und Grillparzer gleichzeitig ihre Heldenepen über König Ottokars Unglück auf dem Marchfeld im Jahre 1278 besangen46, erschien das Epos der ungarischen Landnahme „Die Flucht Zaláns“ von Mihály Vörösmarty, worin im Zeichen der Nationalromantik die „urmagyarische“ Mythologie genauso zum Vorschein kam wie das Nachtrauern nach der alten Glorie und die Erweckung der Nation zu neuen Heldentaten.47 Die Erfindung der modernen magyarischen Nation war im vollen Gange, wobei den tonangebenden Kanon Literaten und Sprachpfleger schufen.48 43
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Zu den Umständen seiner Ernennung und zum Wirken siehe István SUGÁR, Pyrker János László és Eger városa [Johann Ladislaus Pyrker und die Stadt Erlau]. In: György HÖLVÉNYI (Hg.), Pyrker emlékkönyv, Budapest 1987, S. 89-156. – DOBERSBERGER, Pyrker, S. 302. Ebd. Ján Kollár (1793-1852) studierte 1817-19 in Jena Philosophie und Theologie. Animiert vom Wartburgfest und von der Assimilierung der Sorben in der Lausitz verschrieb er sich der politischen Romantik und nationalen Zielen. Als slowakischer evangelischer Geistlicher in Pest 181949 träumte er von der slawischen Brüderlichkeit, nationalisierte seine Gemeinde, wirkte aber zugleich als Vertrauensmann Wiens. Wenig schmeichelhaft notierte sich der scharfzüngige Grillparzer in seinem Tagebuch: „Sonnabend, den 19. Februar 1825. Aufführung des Trauerspiels ‚Ottokar’. Wer sich unter die volkstümlichen Kleien mischt, dem geschieht recht, wenn ihn die patriotischen Schweine fressen.“ GRILLPARZER, Tagebücher, S. 102. Mihály Vörösmarty (1800-1855) war Dichter, Schriftsteller und Übersetzer. Sein Wirken markiert den Übergang von der klassischen zur romantischen Schule. 1824 veröffentlichte er sein patriotisches Heldenepos „Zaláns Flucht“. Von den patriotischen Reformvorhaben des Landtags 1825 war er beeindruckt. Sein „Szózat“ (dt. etwa „Aufruf“ oder „Aufforderung“) gilt als zweite Nationalhymne Ungarns und wird oft nach der offiziellen zusätzlich gesungen. Eine sehr gelungene Synthese dazu siehe bei László KATUS, A modern Magyarország születése. Magyarország története 1711-1914 [Die Geburt des modernen Ungarns. Geschichte Ungarns 1711-1914]. Pécs 2010, S. 192-248.
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Doch anfangs schien noch alles seinen geregelten Weg zu gehen: Am 19. September 1827 zog Pyrker in Erlau ein. Vierzehn Tage später initiierte er die Erneuerung und die Verschönerung der Altstadt und der Festung, ergänzte das Bischofspalais um einen neuen Flügel und brachte hier seine Gemäldesammlung unter, als passionierter Kurbadbesucher ließ er ein Badehaus mit zwei Raststätten bauen. Um diese Baumaßnahmen auf tragfähige Fundamente zu stellen gründete er 1828 eine Kommission für die Verschönerung der Stadt. Im selben Jahr führte der neue Erzbischof eine kanonische Visitation durch, die in der Diözese seit 60 Jahren nicht mehr stattgefunden hatte, und firmte über 30.000 Menschen.49 Nur, um die Relationen zu sehen: In der gesamten Erzdiözese lebten um diese Zeit 50.000 Katholiken neben 150.000 Kalvinisten. Wie in Venedig wurden auch hier die Inventare und die Predigten der Priester vom Oberhirten geprüft. Er befragte zudem die Gläubigen über den eigenen Pfarrer, um sich ein Bild auch von der anderen Perspektive zu verschaffen. Wie in der Zips gründete er auch hier eine Dorfschullehreranstalt und eine Zeichnungsschule für die Handwerksgesellen.50 1830 veröffentlichte er seine Pläne über den Bau einer neuen Kathedrale, weil „gewohnt in Venedig durch eine längere Zeit herrlichsten Kirchen vor Augen zu haben, war mir der Anblick der kleinen, einer Dorfkirche ähnlichen Metropolitankirche mehr und mehr peinlich geworden“.51 Als Architekt konnte Josef Hild gewonnen werden, der sein Handwerk in Rom erlernt und sich in Pest bereits bewährt hatte. Als 1831 die Cholera von Galizien aus über die Grenze hinübergriff, ließ er Aufklärungsschriften zur Vorbeugung und Behandlung in deutscher und ungarischer Schrift anfertigen. Erzherzog Johann ließ 16.000 Exemplare davon allein in der Steiermark drucken und verteilen. Und auf dem ungarischen Reichstag von 1832-33 ließ er seine patriotische Gesinnung mit einer veritablen Spende zur Schau stellen: Er bot seine Gemäldesammlung aus Venedig für die zu gründende Nationalgalerie an.52
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Siehe dazu ausführlich György HÖLVÉNYI, Pyrker János László egri pátriárka-érsek főpásztori tevékenysége a vizitációs jegyzőkönyvek türkében [Das Wirken als Oberhirte des PatriarchenErzbischofs Johann Ladislaus Pyrker im Spiegel der Visitationsprotokolle]. In: Pyrker emlékkönyv, S. 157-178. Der erste Lehrer der Zeichnerschule, Johann Joó, begründete die Existenzberechtigung dieser Einrichtung wie folgt: „Das Zeichenkönnen beeinflusst die intellektuelle Entwicklung und die Förderung der Bildung eines Einzelnen.“ Auch die Lehreranstalt forcierte Pyrker, weil die Unbildung der Lehrer ihn zur Verzweiflung brachte. Pyrker gründete eine Stiftung, aus deren Zinsen schließlich – wie auch in Venedig – die alten Lehrer sowie deren Witwen und Waisen unterstützt wurden. Erzsébet LÖFFLER / Ferenc BALOGH, Az egri Líceum művelődéstörténeti szerepe a XVIII-XIX. században [Die bildungspolitische Rolle des Lyzeums von Erlau im 18.-19. Jahrhundert]. In: http://efkt.hu/index.php?option=com_content&task=view&id=22&Itemid= 47 (08.12. 2014). http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1827-1837, S. 4 von 14. Bis heute bildet diese die wichtigste Sammlung im Museum der Bildenden Künste nach der sogenannten Esterházy-Kollektion. Vgl. Péter KISS, A Pyrker-képtár sorsa Egerben a 19-20. században és Pesten 1848-ig [Das Schicksal der Pyrker-Galerie in Erlau im 19.-20. Jahrhundert und in Pest bis 1848]. In: Művészettörténeti Értesítő 1-4 (1987), S. 131-141. – Marianna
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Diese Opferbereitschaft war aber auch ein Verzweiflungsakt: Er hatte als Höhepunkt einen heftigen Streit hinter sich, der ganz und gar nicht zu seinen erfolggekrönten Aktivitäten passte. Noch 1821 erschien in der Betreuung des Ofener Wohltätigen Frauenvereins unter der Leitung von Gräfin Marianne Brunsvik-Majtényi sein Frömmigkeitswerk „Perlen der heiligen Vorzeit“.53 Es wurde zum Bestseller und auch der ungarische Literaturpapst, Franz Kazinczy, war davon beeindruckt.54 Er fertigte eine ungarische Übersetzung an und ließ sie drucken. Im Januar brach aber der sogenannte Pyrker-Streit aus, als in der Zeitschrift „Kritikai Lapok“ des Aurora-Kreises ein anonymer Rezensent „G.“ diese Übersetzung heftig angriff.55 Der anonyme Rezensent entpuppte sich als ein gewisser Ferenc Toldy, der sowohl fachliche Einwände – Kazinczy übersetzte Pyrkers Gedicht nicht in Hexameter – als auch „national-patriotische“ Vorwürfe artikulierte, wieso das deutsche Gedicht eines „ungarischen Dichters“ ins Magyarische übersetzt werden sollte.56 Weil Pyrker sein Werk auf Deutsch geschrieben hatte, nannte ihn Toldy „dreckbesudelt“. Auch der aktuelle Dichterfürst und enge Weggefährte von Toldy, Mihály Vörösmarty, warf Pyrker aus demselben Grund Vaterlands- und Gottlosigkeit vor. Der dritte Mann in diesem Kreis, Josef Bajza, der Begründer der ungarischen Literaturkritik, erklärte auch den Grund dieser heftigen Angriffe: „Nicht hassen soll man den Deutschen, sondern uns vor ihm in Acht nehmen, bildet er doch das gefährlichste
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HARASZTINÉ TAKÁCS, A Pyrker Képtár a Szépművészeti Múzeumban [Die Pyrker Galerie im Museum der Schönen Künste]. In: Pyrker emlékkönyv, S. 205-300. Das Werk wurde noch zu Pyrkers Lebzeiten in italienischer, lateinischer, tschechischer und russischer Sprache herausgegeben. Vgl. http://deba.unideb.hu/deba/kazinczy_muvei/fk.php? fkid=kazinczy_ford_12_j (08.12. 2014). Kazinczy, Franz (1759-1831) war ein aufgeklärter Schriftsteller und Sprachreformer. Er übersetzte Klassiker und erweiterte dabei den Wortschatz wie auch die grammatikalischen Strukturen der ungarischen Sprache. Dank seinen Reformbemühungen wurde 1844 anstatt des Lateinischen Ungarisch die offizielle Amtssprache. Auch nach dem Tode Kazinczys am 24. Oktober 1831 hielt der „Pyrker-Streit“ an. Zur Affäre siehe ausführlich István FENYŐ, Valóságábrázolás és eszményítés [Realitätsschilderung und Idealisierung]. Budapest 1990, S. 99-112. Der 1788 geborene Karl Kisfaludy, Dichter und Maler, redigierte die Zeitschrift „Aurora“ und gründete darum einen Kreis der patriotischen jüngeren Generation der Literaten. Sein Werk wurde vom Literaturkritiker Josef Bajza fortgesetzt. Toldy, Franz (1805-1875) kam als Franz Schedel auf die Welt, seine Eltern beherrschten Ungarisch nicht. Erst in der Schule erlernte er diese Sprache. 1814-18 besuchte er das Gymnasium der Piaristen, die besonders nationalagitatorisch wirkten. Als Student wurde er Freund von Bajza. Beide verschrieben sich der Spracherneuerung und vergötterten Kazinczy. Toldy übersetzte u.a. Schillers Räuber, 1829-30 besuchte er in Weimar u.a. Goethe. In den 1830ern avancierte er zur Führungsfigur der literarischen Welt. 1836-43 belieferte er die Geheimpolizei von Metternich mit Berichten über das politische und literarische Leben in Ungarn. http://lexikon.katolikus.hu/T/Toldy.html (08.12. 2014). Ausführlich dazu Péter DÁVIDHÁZI, Egy nemzeti tudomány születése (Toldy Ferenc és a magyar irodalomtörténet) [Die Geburt einer nationalen Wissenschaft (Franz Toldy und die ungarische Literaturgeschichte)]. Budapest 2004.
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Element unserer Nation.“57 Das war zumindest aufrecht in der Benennung der wahren Ursachen dieser Schlammschlacht. Ein anderer Publizist, der deutsche Bürger Karl Georg Rumy aus Pressburg, sah es nicht anders, kam aber zu einem anderen Ergebnis: „Hätte der geniale Pyrker, anstatt die Perlen der biblischen Vorzeit zu dichten, und statt Karl V. und Rudolf von Habsburg zu besingen, den párduczos, buzogányos Árpád oder Taksony, oder gar die hunnische Geisel Gottes Etel [Attila] besungen, […] dann würde ihm der Pseudonyme G. gewiss Weihrauch bis zum Ersticken gespendet“ haben.58 Hinter einem Literaturstreit verbargen sich allerdings abgründigere Ursachen. Aus der Korrespondenz von Bajza und Toldy ging deutlich hervor, dass hierbei ein geplanter „Vatermord“ zelebriert wurde. Der 70 Jahre alte Kazinczy sollte vom Sockel der Literaturgrößen gestürzt werden, seinen Platz beanspruchte das Triumvirat der drei Kritiker. Das nationalmagyarische Argument war eine logische Stütze, denn der auf Deutsch konsumierende Literaturmarkt Ofens sollte durch die Zeitschriften und durch die Lenkung der drei Jüngeren ersetzt werden.59 Die identitätsstiftende Lyrik eines Pyrkers, „für Oestreichs Ruhm zu wirken bemüht“, war im Ungarn des Vormärz also nicht mehr gefragt.60 Wie sehr sich die politische Atmosphäre in Ungarn verändert hatte, illustriert die Aussage von Alexius Fényes in seinem umfassenden Handbuch über Ungarn, worin er beteuerte: „Die Einwohner Ungarn’s sind nicht Eines Stammes und einer Sprache, sondern gehören verschiedenen Nationalitäten an, unter welchen die ungarische die erste Stelle einnimmt und als die herrschende der ganzen Nation den Namen gibt.“61 Das System Metternichs wackelte auch im Kaisertum Österreich und Grillparzer fasste diese Atmosphäre zeitgleich mit dem Pyrker-Streit wie folgt zusammen: „Die Macht der Religion, die sonst in dieser Beziehung wohltätig wirkte, ist erschöpft; ja, der Bürgersinn würde vielleicht die Religion entbehrlich machen, was um so besser wäre, da ihr positiver Teil doch zu eitel dummem Zeug führt. Die ganze Welt wird durch den neuen Umschwung sich erkräftigen, nur Östreich wird daran zerfallen. Der schändliche Machiavellismus der Leiter, die, damit die Herrscherfamilie das einzige Staatsverband ausmacht, die wechselseitige Nationalabneigung der einzelnen Provinzen hegten 57
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József BAJZA, Nemzetiség és nyelv [Ethnizität und Sprache]. In: Válogatott cikkek és tanulmányok, Budapest 1954. Hier zitiert nach http://mek.nlif.hu/07400/07491/07491.htm#27 (08.12. 2014). Karl Georg RUMY, Patriotische Rüge. In: Der Spiegel 33 (1831), S. 88-93. Paradoxerweise bedauerte Kazinczy selbst, dass Pyrker sein Opus nicht auf Ungarisch verfasst hatte, als Entschuldigung betonte er in seinem Vorwort, dass Pyrker zu lange „im Ausland“ lebte und deshalb der ungarischen Sprache nicht sicher war. http://deba.unideb.hu/deba/kazinczy_muvei/ fk.php?fkid=kazinczy_ford_12_j. Ilona T. ERDÉLYI, Egy kései kiengesztelés kísérlete. (Néhány megjegyzés a Pyrker-pör kapcsán) [Versuch einer alten Verzeihung. (Einige Anmerkungen im Zusammenhang mit dem PyrkerStreit)]. In: http://epa.oszk.hu/00000/00001/00001/rezterde.htm (08.12. 2014). Zur Kontextualisierung siehe Mária KAJTÁR, Pyrker János László és a magyar irodalom [Johann Ladislaus Pyrker und die ungarische Literatur]. In: Pyrker emlékkönyv, S. 179-194. Alexius FÉNYES, Ungarn im Vormärz. Nach Grundkräften, Verfassung, Verwaltung und Kultur, Leipzig 1851, S. 36.
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und nährten, hat es die Schuld. Der Ungar haßt den Böhmen, dieser den Deutschen, und der Italiener sie alle zusammen; und wie widersinnig gekuppelte Pferde werden sie sich in alle Welt zerstreuen, wenn der fortschreitende Zeitgeist die Gewalt des klemmenden Joches schwächt und bricht. Dieses Land allein wird nicht bestehen, wenn der erfrischende Morgen für die andern hereinbricht.“62
7.
Das vollendete Werk des Erzbischofs
1835 verstarb Pyrkers Förderer, Kaiser Franz I. „Er gab mir Wohlstand, Würden und Auszeichnungen“, trauerte er ihm nach.63 Von seinem Nachfolger wusste Pyrker deutlich weniger effektive Stütze zu erhalten. Der Erzbischof konzentrierte sich auf die Vollendung seiner Kathedrale in Erlau, die am 6. Mai 1837 in der Anwesenheit von über 10.000 Menschen und sieben Bischöfen eingeweiht werden konnte. Zudem kümmerte er sich nicht nur um die Renovierung der Burganlage in seinem Erzbischofssitz, sondern schuf auch die Grundlagen für den historisierenden Mythos um dieses Erbe.64 Erzbischof Pyrker ließ sich nicht beirren und führte sein Leben als Intellektueller und als Kirchenfürst fort. Die Angriffe aus dem politischen und literarischen Milieu Ungarns waren verletzend, davor floh er gerne nach Europa. Er setzte seine Kuraufenthalte in Karlsbad und Gastein fort und machte eine Rundreise in Deutschland. In Berlin besuchte er Alexander von Humboldt. In den sächsischen Ländern, die sich „ob ihrer Aufklärung und hoher Intelligenz rühmten“, klagte Pyrker über die Intoleranz und den Hass gegen die katholische Kirche. In München traf er Möhler, dessen Symbolik in der katholischen Literatur „Epoche machte“, und in Stuttgart kontaktierte er Wolfgang Menzel, Gustav Schwab und Albert Knapp. Und Goethe widmete „dem Autor des Tunisias“ ein Exemplar aus der ersten Auflage der „Iphigenie“.65 Als Dichter und aufgeklärter Kirchenfürst war er also weiterhin salonfähig. 1839 wandte er sich wieder seinen Aufgaben als Obergespan von Heves zu und ließ eine Straße, die sich als Handelsroute für Korntransporte aus Erlau bewährte und die Komitate Gömör und Nógrád miteinander verband, fertigstellen. Wenn Fronarbeiter des Komitates nicht ausreichten, ließ er Spezialarbeiter auf eigene Kosten anwerben. Eine Tafel zeugt heute noch von diesem Projekt in Szarvaskő: „Solange diese Felsen stehen, wird Dein Name verherrlicht sein Patriarch-Erzbischof Joh. Ladislaus 62 63 64
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GRILLPARZER, Tagebücher, S. 139. http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1772, 18271837, S. 6 von 14. Stefan Dobó (1502-1572) verteidigte 1552 erfolgreich die Burg gegen die Übermacht der Osmanen. Pyrker ließ 1833 eine Tafel anbringen mit der Würdigung des „heldenhaften Verteidigers“. LÖFFLER, Pyrker. Géza Gárdonyi griff das Thema 1899 bzw. 1901 im patriotischen Fieber des Dualismus in seinem Roman „Egri csillagok“ [„Die Sterne von Erlau“] auf. 2005 wurde dieser zum „populärsten Roman Ungarns“ gewählt. LÖFFLER, Kutatási eredmények, S. 15.
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Pyrker 1846.“66 1842 schenkte er der Stadt Erlau sein Haus für die Unterbringung der Offiziere des hier stationierten k. k. Regimentes. Als Dank des Magistrates malte der populäre Maler Miklós Barabás sein Portrait als Kirchenfürst von Erlau.67 Und 1844 organisierte er noch seine Lehrerbildungsanstalt neu, führte neue Fächer ein und erhöhte die Zeit der Ausbildung auf zwei Jahre.68 Seine karitative Tätigkeit, seine Pflichterfüllung als Amtsträger der Kirche wie des Staates wurden von seiner spätjosephinischen Ethik geleitet. Und insbesondere im Vormärz, als rauer ungarischer Gegenwind wehte, bekannte er sich zum österreichischen Gesamtstaat. 1847 wirkte er bei der Gründung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tatkräftig mit. Und noch 1842 ließ er anlässlich des Mozart-Festes eine „Volkshymne“ mit dem Titel „Oestreich“ aufführen, deren Melodie Neukomm komponierte: „Heil dir, o theures Vaterland! Dir will, zum frohen Zeichen Stets Ruhm und Glück, aus voller Hand Der Herr des Weltalls reichen; […] Wohl hast du viele Völker hier Vereint im Bruderbunde; Doch alle hielten fest zu dir, Droht‘ einst Gefahr die Stunde. Und also wird‘s hier immer seyn: Denn wahre Liebe, fest und rein, Wird in dem Reiche wohnen Wo Väter-Herrscher thronen! […] Auf –, solltest du, von edlem Blut, In Deutschlands Völkern ragen; Als Markmann führtest du die Huth […] Das sich zu Lieb’ und Treu’ verband Für Glauben, Fürst, und Vaterland. Es soll in Ruhm und Ehren Dein Segen ewig währen!“69
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http://www.zeno.org./Kulturgeschichte/M/Pyrker,+Johann+Ladislaus/Mein+Leben+1838-1847, S. 3 von 9. Siehe dazu ausführlich György RÓZSA, A Pyrker-ikonográfia képtípusai [Die Bildtypen der Pyrker-Ikonografie]. In: Pyrker emlékkönyv, S. 301-334. LÖFFLER/BALOGH, Az egri Líceum. Oestreich. Eine Volkshymne. Salzburg 1842.
Werner Simon
BENEDIKT STRAUCH (1724-1803) – REFORM DER SCHULE UND REFORM DER KATECHESE IN SCHLESIEN IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS
Dass der Mensch durch Erziehung und Bildung zu einem tugendhaften Leben motiviert werden kann und soll, durch das sowohl individuelles Glück als auch die allgemeine Wohlfahrt gleichermaßen gemehrt und gefördert werden, ist ein Kerngedanke der Aufklärung: „Aufgrund der Synchronisierung von individueller Glückseligkeit und der Vollkommenheit des Gemeinwesens werden soziale Brauchbarkeit und Nützlichkeit zu erstrebenswerten Tugenden und zu legitimen Erziehungszielen.“1 So kommt es insbesondere in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in den katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu umfassenden Reformen des niederen (Elementarschulen) und des höheren Schulwesens (Gymnasien, Universitäten), die zugleich zum Ausbau einer staatlichen Schulaufsicht, zu einer Verbesserung der Lehrerausbildung (Lehrerseminare, Normalschulen) sowie zu einer nachdrücklicheren Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht führen.2 Eine überregionale Bedeutung erlangen in diesen Zusammenhang die Reformen des niederen Schulwesens (Stadt- und Dorfschulen), die in den 1760er Jahren in den Pfarrschulen des niederschlesischen Augustinerchorherrenstifts Sagan durchgeführt wurden. Promotor dieser Reformen war Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788), der dem Stift von 1758 bis 1778 als Abt vorstand. Felbiger wurde aufgrund der als vorbildlich wahrgenommenen Reformen vom preußischen König Friedrich II. mit der Abfassung des 1765 erlassenen „Königlich Preußischen General-Land-Schul-Reglements für die Römisch-Catholischen in den Städten und Dörfern des souverainen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz“ beauftragt und 1774 von Maria Theresia mit Zustimmung Friedrichs II. nach Wien berufen, wo er auf der Grundlage der noch im gleichen Jahr veröffentlichen „Allgemeinen Schulordnung für die deut1 2
Winfried BÖHM, Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart, München 2004, S. 66. Vgl. Maria ZENNER, Die Bedeutung der Aufklärung für die Entwicklung des katholischen Schulund Bildungswesens. In: Rainer ILGNER (Hg.), Handbuch Katholische Schule, Bd. 3: Zur Geschichte des katholischen Bildungswesens, Köln 1992, S. 69-111. – Notker HAMMERSTEIN / Ulrich HERRMANN (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 18. Jahrhundert, München 2005.
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schen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen Kaiserl. Königl. Erbländern“ die grundlegende Reform des österreichischen niederen Schulwesens organisierte und durchführte.3 Zeitgenössische und zeitnahe Quellen weisen darauf hin, dass die am Anfang dieser Entwicklung stehenden Reformen in Sagan in einer engen Zusammenarbeit Abt Felbigers mit dem ihm freundschaftlich verbundenen Prior des Stiftes Benedikt Strauch (1724-1803) eingeleitet und durchgeführt wurden. Aus diesen Quellen kann darüber hinaus erschlossen werden, dass nicht wenige der in der Folgezeit unter dem Namen Felbigers überlieferten und rezipierten Schriften von Strauch verfasst oder mitverfasst wurden.4 Während Felbigers Wirken und Werk sowohl in der älteren als auch in der jüngeren Forschung breite Aufmerksamkeit gefunden haben, fehlen vergleichbare Untersuchungen zur Person und zum spezifischen Beitrag Strauchs im Zusammenhang der Saganschen Reformen. Der Grund für diesen Umstand dürfte zum einen in der überregionalen Bedeutung liegen, die Felbigers Wirken zukommt und die auch aus dem Netzwerk der in Felbigers Korrespondenz aufscheinenden Beziehungen ersichtlich wird. Ein weiterer Grund kann darin gesehen werden, dass zahlreiche Schriften der Saganschen Reform 3
4
Vgl. Ulrich KRÖMER, Johann Ignaz von Felbiger. Leben und Werk, Freiburg/Br. 1966 (Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge 22). – Josef STANZEL, Schule, Kirche und Staat in Recht und Praxis des aufgeklärten Absolutismus, Paderborn 1976 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. Neue Folge 18). – Peter BAUMGART, Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788). Ein schlesischer Schulreformer der Aufklärung zwischen Preußen und Österreich. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990), S. 121-140. – Winfried ROMBERG, Johann Ignaz von Felbiger und Kardinal Johann Heinrich von Franckenberg. Wege der religiösen Reform im 18. Jahrhundert, Sigmaringen 1999 (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 8). Vgl. „Ausführliche Nachricht von der erst zu Sagan, dann in ganz Schlesien und in der Grafschaft Glatz unternommenen Verbesserung der katholischen Schulen“. Die zunächst als Vorwort für die von Strauch verfassten „Katechetischen Betrachtungen“ (Bamberg 1768) konzipierte und gedruckte „Ausführliche Nachricht“ wird von Felbiger übernommen und „mit wenigen Veränderungen“ als § 1 der „Einleitung“ in die von ihm herausgegebenen „Kleinen Schulschriften“ (Sagan 1769) integriert. – Michael Ignaz Schmidts der heil. Schrift Doctors, wirkl. geistl. Raths, und der Universität zu Würzburg Bibliothekars Katechist nach seinen Eigenschaften und Pflichten oder die rechte Weise die ersten Gründe der Religion zu lehren. Aus dem Lateinischen übersetzt durch Benedict Strauch Can. Reg. Ord. S. Augustini Congr. Later. bey unser lieben Frauen zu Sagan Prior. Mit einer Vorrede des saganischen Prälaten Johann Ignaz von Felbiger, Bamberg und Würzburg 1772, Kapitel 6, § 31, Nr. 8. – Johann Gottlob WORBS, Geschichte des Herzogthums Sagan, Züllichau 1795. Neuausgabe: Sagan 1930, S. 452-454. – Strauch (Benedict). In: Georg Christoph HAMBERGER / Johann Georg MEUSEL (Hg.), Das gelehrte Teutschland, oder Lexikon der jetzt Lebenden teutschen Schriftsteller, Bd. 7, Lemgo 1798, S. 692f. – Benedict Strauch. In: Litterarische Beilage zu den Schlesischen Provinzialblättern. Zwölftes Stück. Dezember 1803, S. 353-365. Der mit „St.-l.“ unterzeichnete Nekrolog wurde von einem Ordensangehörigen des Augustinerchorherrenstifts Sagan verfasst und noch im Todesjahr Strauchs gedruckt. In: Benedict Strauch. Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Nach ihrem Leben und Wirken dargestellt von Dr. Heinrich DOERING, Bd. 4, Neustadt an der Orla 1835, S. 416-418 und 898. Im Anschluss an frühere lexikalische Quellen.
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unter der Herausgeberschaft Felbigers veröffentlicht und von diesem mit Vorworten versehen wurden. Sie wurden somit vom Abt des Stiftes autorisiert, dem Strauch als Prior – trotz einer bestehenden persönlichen Freundschaft – doch weisungsgebunden untergeordnet blieb. Als dritter Grund dürfte auch das Verlegerinteresse wirksam gewesen sein, die Veröffentlichungen unter einem werbewirksamen Autornamen auf dem Buchmarkt zu vertreiben. Der folgende Beitrag versucht, in Auswertung von vorliegenden biographisch und bibliographisch relevanten Quellen und von Schriften Strauchs sowie in Sichtung der bisher gewonnenen Forschungsergebnisse, die Bedeutung Benedikt Strauchs und seines Wirkens im Zusammenhang der mit dem Namen von Johann Ignaz von Felbiger verbundenen Schulreform zu präzisieren und vorläufige Antworten auf Fragen zu finden, die zugleich zu weiteren und differenzierteren Einzeluntersuchungen anregen wollen: - Wer war Benedikt Strauch? Wie verlief sein Lebensweg? Wie waren die Lebenswege Strauchs und Felbigers miteinander verknüpft? - Wie lässt sich der Beitrag Strauchs zu den Saganschen Schulreformen näher bestimmen und abgrenzen? - Worin besteht der Beitrag Strauchs zur Reform der nun als schulisches Unterrichtsfach konzipierten und institutionalisierten Katechese? - Welches religionsdidaktische Profil zeigen die von Strauch zu diesem Zweck verfassten Religionsbücher? - Wie lassen sich die gewonnenen Einsichten und Ergebnisse im Kontext „katholischer Aufklärung“ verorten und interpretieren?
1.
Benedikt Strauch und Johann Ignaz von Felbiger
Benedikt Strauch wurde am 12. März 1724 in Frankenstein/Niederschlesien geboren. Nach dem Besuch des Elementarunterrichts in der dortigen Stadtpfarrschule wechselte er an das von Jesuiten geleitete Gymnasium in Breslau. Die sich anschließenden philosophischen und theologischen Studien an den Universitäten Olmütz und Breslau schloss er mit dem Erwerb des Grades eines Baccalaureus ab. Beide Universitäten waren „Jesuitenuniversitäten“ und boten nach Maßgabe der „Ratio studiorum“ ein dem Aristotelismus und der scholastischen Theologie verpflichtetes Bildungsprogramm an.5 Nach Abschluss des Studiums trat Strauch am 20. November 1746 in das 5
Vgl. Werner SIMON, „Ratio studiorum“. Organisation von Bildung im Kontext neuzeitlicher Herausforderungen. In: Mariano DELGADO / Hans WALDENFELS (Hg.), Evangelium und Kultur. Begegnungen und Brüche, Fribourg, Stuttgart 2010, S. 518-529. – DERS., Katholische „Katechetik“. Anfänge ihrer Institutionalisierung. In: Bernd SCHRÖDER (Hg.), Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historisch-systematische Studien zu ihrer Genese als Wissenschaft, Tübingen 2009, S. 23-51. – Karl HENGST, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten. Zur Geschichte der Universitäten in der Oberdeutschen und Rheinischen Provinz der Gesellschaft Jesu im Zeitalter der konfessionellen Auseinandersetzungen, Paderborn 1981 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. Neue Folge 2). Zur Geschichte der Universität
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Augustinerchorherrenstift Sagan ein, legte nach einjährigem Noviziat am 26. November 1747 die Ordensgelübde ab und empfing am 21. September 1748 die Priesterweihe. Nur fünf Monate früher als Strauch war Johann Ignaz von Felbiger in das Stift eingetreten. Am 8. Januar 1724 und somit im gleichen Jahr wie Strauch in GroßGlogau/Niederschlesien geboren, war er nach den im Jahr 1744 abgeschlossenen philosophischen und theologischen Studien an der Universität Breslau zunächst als Hauslehrer tätig gewesen. Die Ordensgelübde legte Felbiger nach dem Noviziat wie Strauch im Jahr 1747 ab und wurde Ostern 1748 zum Priester geweiht. In der gemeinsamen Zeit des Noviziats wurden Grundlagen für eine Freundschaft gelegt, die bei gemeinsamen Interessen in einem kontinuierlichen und regen geistigen Austausch der in den persönlichen Studien gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse einen konkreten Ausdruck fand. „Der Umstand, daß Felbiger mit unserm Strauch, von gleichem Alter und von gleicher Vorliebe für die Wissenschaften belebt, nur um fünf Monate eher Stiftsmitglied geworden war, vereinigte beide zu innigster Freundschaft, und erweckte in ihnen den festen Vorsatz, gemeinschaftlich an ihrer gegenseitigen Geistesbildung zu arbeiten. Strauch widmete sich vorzüglich dem Studium der Theologie, des Kirchenrechts, der Kirchenväter, der Kirchen- und Profangeschichte; Felbiger außerdem noch besonders der Philosophie, der Naturkunde und der französischen Sprache. Bey ihren täglichen Zusammenkünften theilten sie sich die Früchte ihrer einsamen Lectüre mit, und einer war des andern Lehrer und Lehrling. Dieses gemeinschaftliche Studium dauerte mehrere Jahre hindurch, bis sie, durch den Ruf ihrer Obrigkeit in eigene bestimmte Wirkungskreise versetzt, genöthiget wurden, jeder für sich auf den ihnen angewiesenen Laufbahnen zu wandeln.“6 Das 1217 zunächst als Propstei zu Naumburg/Bober gegründete, später zur Abtei erhobene und 1284 nach Sagan verlegte Augustinerchorherrenstift „Unserer Lieben Frauen“ war, wie seine bedeutende Klosterbibliothek und sein astronomisches Observatorium belegen, ein Zentrum der Bildung und gelehrter Studien und Forschungen. Es verfügte darüber hinaus über einen beachtlichen landwirtschaftlichen Besitz in 13 Stiftsdörfern. An der Spitze des Stifts stand ein infulierter und auf Lebenszeit gewählter Abt, ihm zur Seite ein Prior als sein Stellvertreter. Zur Zeit Felbigers zählte das Stift etwa 30 Priester. Außerdem waren etwa 15 auswärtige Pfarreien mit Stiftsangehörigen besetzt. Stiftsgeistliche nahmen die Seelsorge sowohl in der Stadtpfarrei der Stadt Sagan als auch auf den Stiftsdörfern wahr. Die Stadtpfarrkirche war zugleich Klosterkirche. Dem Stift oblag auch die Schulaufsicht über die katholischen Pfarr-
6
Breslau im 18. Jahrhundert: Carsten RABE, Alma Mater Leopoldina. Kolleg und Universität der Jesuiten in Breslau 1638-1811, Köln u.a. 1999 (Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 7). – Peter BAUMGART, Universitäten im konfessionellen Zeitalter, Münster 2006, S. 423-443. Zur Geschichte der theologischen Fakultät der Universität Olmütz: Josef TITTEL, Geschichte der theologischen Facultät in Olmütz. In: Hermann TZSCHOKKE, Die theologischen Studien und Anstalten der katholischen Kirche in Österreich, Wien, Leipzig 1894, S. 308-345. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 353f.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 271
schulen in der Stadt und in den Stiftsdörfern, die u.a. die Einsetzung, die Besoldung und die Pensionierung der Lehrer sowie die Benennung der Inspektoren implizierte. Das 1628 in Sagan gegründete Jesuitenkolleg mit seinem Gymnasium ermöglichte ein über den Elementarunterricht der Stadtpfarrschule hinausgehendes Angebot „höherer schulischer Bildung“. Sagan war Residenzstadt des mittelbaren Herzogtums Sagan und zählte 1791 knapp 4000 Einwohner. Die Bevölkerung war mehrheitlich protestantisch. Die vor der Stadt errichtete evangelisch-lutherische Kirche zählt zu den mit der Altranstädter Konvention (1707) bewilligten „Gnadenkirchen“ und war mit einer evangelisch-lutherischen Pfarrschule verbunden.7 Nach der Priesterweihe nahmen Felbiger und Strauch Aufgaben in unterschiedlichen Aufgabenfeldern des Stiftes wahr. Während Felbiger Erfahrungen vor allem in der Verwaltung und Besorgung der äußeren Angelegenheiten des Stiftes sammelte, war Strauch nach einer nur kurzzeitigen Tätigkeit als Kirchen- und Kellermeister vor allem auf Feldern der Seelsorge tätig: als Kaplan in Dittersbach und als Stadtkaplan in Sagan. Felbiger wird nach dem Tod seines Vorgängers Gottfried Ignaz Kamur 1758 zum Abt gewählt und übernimmt so die Leitung des Stifts und damit auch die Schulaufsicht über die dem Stift zugehörigen Pfarrschulen. Strauch, der schon bisher als Stadtkaplan den Prior des Stifts Jakob Hegenbart in der Seelsorge unterstützte, wird am 27. August 1762 zu dessen Nachfolger im Amt des Priors gewählt und so Stellvertreter Felbigers. Mit dem Amt des Priors übernimmt er zugleich die Aufgabe des Proparochus (Stellvertreter des Abtes als Stadtpfarrer), in der er durch zwei Kapläne unterstützt wird, und damit verbunden die Aufgabe der sonntäglichen Predigt, ferner das Amt des Novizenmeisters und so die Verantwortung für die Bildung der jüngeren Stiftsgeistlichkeit. Es waren Erfahrungen in der Stadtseelsorge, die Strauch bereits 1761 veranlassten, Abt Felbiger auf offensichtliche Mängel des Zustands der Stadtpfarrschule und des in ihr erteilten Unterrichts hinzuweisen, und auf deren Behebung zu drängen. So kommt es in den Folgejahren zu tiefgreifenden Reformen der Pfarrschulen des Stifts Sagan in einer noch näher zu untersuchenden Zusammenarbeit Felbigers und Strauchs, dem bereits vor der Wahl zum Prior die Aufsicht über die Stadtpfarrschule in Sagan übertragen wurde. Die Reformen finden ihre maßgeblichen Vorgaben in den Verordnungen der Jahre 1761 („Erste Verordnung zur Verbesserung der katholischen Trivialschulen zu Sagan“ vom 30. November 1761) und 1763 („Vorläufige Anzeige von besserer Einrichtung der öffentlichen Trivialschule zu Sagan“ vom 17. Juni 1763; „Verordnung, nach welcher die Schulen der zum Saganischen Stift gehörigen Dörfer eingerichtet und verbessert werden sollen“ vom 10. November 1763). Das „GeneralLand-Schul-Reglement“ vom 3. November 1765 bestimmt neben sechs weiteren 7
Vgl. Werner BEIN (Hg.), Sagan und Sprottau in der schlesischen Geschichte. Les „vues de Sagan“, Würzburg 1992. Als zeitgenössische Quellen: WORBS (wie Anm. 4). – Johann Adam Valentin WEIGEL, Geographische, naturhistorische und technologische Beschreibung des souverainen Herzogthums Schlesien, Bd. 6: Die Fürstenthümer Sagan und Breslau, Hamburg 1802, S. 1-17. Zur Geschichte des Jesuitengymnasiums: Hermann HOFFMANN, Die Saganer Jesuiten und ihr Gymnasium, Sagan 1928.
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Schulen auch die „Schule […] des Augustinerstifts zu Sagan“ als eine der Schulen, „in denen nicht allein die Jugend vorzüglich gut unterrichtet, sondern auch Erwachsene angeführt werden sollen, wie sie sich beim Unterricht der Jugend weislich verhalten können“.8 Die für die Ausbildung in diesem Lehrerseminar maßgeblichen Grundsätze entfaltet das im Jahr 1768 veröffentlichte – und nach Auskunft des Nekrologs als „gemeinschaftliche Arbeit Felbigers u. Strauchs“9 anzusehende – Lehrerhandbuch „Eigenschaften, Wissenschaften und Bezeigen rechtschaffener Schulleute, um nach dem in Schlesien für die Römischkatholischen bekannt gemachten Königl. GeneralLandschul-Reglement in den Trivialschulen der Städte, und auf dem Lande der Jugend nützlichen Unterricht zu geben“.10 Die wichtigsten Verordnungen, Instruktionen und Rundschreiben sowie weitere die Schulreform betreffende Dokumente und Zeugnisse veröffentlichte Felbiger im darauf folgenden Jahr in den „Kleinen Schulschriften nebst einer ausführlichen Nachricht von den Umständen und dem Erfolge der Verbesserung der kath. Land- und Stadt-Trivialschulen in Schlesien und Glatz“.11 Das Jahr 1769 bedeutete insofern einen Einschnitt im Hinblick auf die angestoßenen Reformen, als Felbiger mit dem Tod des schlesischen Provinzialministers Ernst Wilhelm von Schlabrendorff (1719-1769), der die Reformen bisher tatkräftig unterstützt hatte, einen Förderer verlor, so dass in der Folgezeit die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung und Verwirklichung der Reformmaßnahmen zunahmen. Mit der Beurlaubung Felbigers nach Wien im Jahr 1774 wuchsen die Aufgaben, die Strauch nun als Stellvertreter des Abtes auch in der Leitung des Stiftes oblagen. Als Felbiger 1777 durch Friedrich II. vor die Entscheidung gestellt wird, nach Sagan zurückzukehren oder auf die Prälatur zu verzichten, legt er, um den Fortgang der eingeleiteten österreichischen Reformen nicht zu gefährden, am 21. März 1778 nach Entlassung aus dem preußischen Untertanenverband die Abtswürde nieder. Noch im gleichen Jahr ernennt Maria Theresia Felbiger zum Oberdirektor des Normalschulwe8
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Königlich preußisches General-Land-Schul-Reglement für die Römisch-Katholischen in Städten und Dörfern des souverainen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz vom 3. November 1765, Nr. 2. Zitiert nach: Johann Ignaz von FELBIGER, General-Landschul-Reglement – Eigenschaften, Wissenschaften und Bezeigen rechtschaffener Schulleute – Methodenbuch. Besorgt von Julius SCHEVELING, Paderborn 1958, S. 5f. Nekrolog (wie Anm. 4). Sagan: Verlag der katholischen Trivialschule 1768. Weitere Auflagen: Bamberg und Würzburg 1772; Fulda, Würzburg und Bamberg 1773; Würzburg 1773; Bamberg und Würzburg 1780, 1791; Breslau 1792; Sagan und Breslau 1792. Vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 262f. Karen Lambrecht macht auf eine bisher übersehene Quelle aufmerksam, die offensichtlich dem Lehrerhandbuch als Vorbild diente: Conrad Friedrich STRESOW, Vollständiges Handbuch für Schulmeister, besonders auf dem Lande, die ihnen anvertraute Jugend fruchtbarlich zur Seligkeit zu unterweisen, Halle 1765. Stresow war Propst und Konsistorialrat in Burg auf Fehmarn (Holstein). Vgl. Karen LAMBRECHT, „Die nötige Erziehung in der Religion und in den bürgerlichen Pflichten“. Die katholischen Reformbemühungen Johann Ignaz von Felbigers und Karl Egon von Fürstenbergs. In: Joachim BAHLCKE / Karen LAMBRECHT / Hans-Christian MANER (Hg.), Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Leipzig 2006, S. 575-601, hier S. 578. Sagan: Verlag der katholischen Trivialschule 1769. Weitere Auflagen: Bamberg und Würzburg 1772; Wien 1775. Vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 263f.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 273
sens für die österreichischen Staaten und nominiert ihn als Propst des Kollegialstiftes Pressburg. Bereits am 28. März 1778 wird Strauch in einer einstimmigen Wahl zum 1. Kandidaten für die Nachfolge Felbigers gewählt und in der Folge als neuer Abt des Stiftes Sagan installiert. Strauch und Felbiger stehen auch nach 1778 in einem freundschaftlichen Austausch, der auch nach der Entlassung Felbigers als Oberdirektor des Normalschulwesens durch Joseph II. im Jahr 1782 fortdauert. Felbiger verbringt seine letzten Lebensjahre als Propst in Pressburg mit dem Auftrag, von dort aus auch die Reform der ungarischen niederen Schulen voranzutreiben. Dort stirbt er am 17. Mai 1788. Ein Zeugnis der freundschaftlichen Verbundenheit Strauchs und Felbigers ist der letzte Brief Felbigers, in dem er sich bei Strauch für den Trost bedankt, der ihm dessen Betrachtungs- und Gebetsbuch für Kranke gewährt habe.12 Für die Zeit des Wirkens Strauchs als Abt des Stiftes Sagan liegen uns nur die spärlichen Informationen des Nekrologs vor. Sie weisen auf die schwierige ökonomische Lage des Stifts hin, die es zu bewältigen galt. In diesem Zusammenhang gilt Strauchs Aufmerksamkeit auch dem Schulwesen: „Von dem Grundsatze geleitet, daß die aus der Oekonomie sich ergebenden Ueberschüsse nicht zweckmäßiger als wieder zum Besten derselben, zum Besten des Stifts und dessen Unterthanen verwendet werden können, ließ er sich vorzüglich in den letzten 12 Jahren die Instandsetzung der Wirtschaftsgebäude und der Gemeindehäuser auf den stiftlichen Dörfern angelegen seyn. Diesem zu Folge ordnete er nach und nach auf den meisten stiftlichen Dörfern Bauten an, und was er entweder ganz oder auch nur zum Theil aus den Mitteln des Stifts bauete, bauete er maßiv und für die Dauer. Besonders sagte er: müssen die Gemeindehäuser, als Pfarr- und Schulgebäude für die Dauer gebauet werden; denn solche Bauten können nicht alle Jahre vorgenommen werden.“13 Weiterhin trug Strauch auch als Abt Sorge für die Bildung der jüngeren Stiftsgeistlichkeit: „Wie zuvor als Prior, hielt er alle Tage selbst Vorlesungen, und sein eben so deutlicher als herzlicher Vortrag machte diese Unterrichtsstunde stets zu einer der angenehmsten des Tages.“14 Ebenso nahm er im Rahmen der ihm verbliebenen zeitlichen Möglichkeiten Aufgaben der Schulaufsicht wahr: „Wenn es ihm seine Geschäfte nicht mehr erlaubten sie [sc. die Schuljugend] persönlich zu unterrichten, so unterließ er es doch nicht, den jährlichen Schulprüfungen so wohl hier in Sagan, als auf den stiftlichen Dörfern beyzuwohnen, sich von den gemachten Fortschritten der Schuljugend zu überzeugen, und sie dann zu beschenken.“15 Benedikt Strauch leitete das Stift als Abt über den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts. Er starb im 80. Lebensjahr am 19. Oktober 1803 an den Folgen eines Schlaganfalls. Nur sieben Jahre später wurde das Augustinerchorherrenstift Sagan im Jahr 1810 aufgehoben und säkularisiert.
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Vgl. ebd., S. 156. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 361f. Ebd., S. 362. Ebd., S. 363.
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2.
Die Reform der niederen Schulen des Stifts Sagan
Die Bedeutung, die Benedikt Strauch im Hinblick auf die Reform des niederen Schulwesens des Stifts Sagan zukommt, kann aus der „Ausführlichen Nachricht von der erst zu Sagan, dann in ganz Schlesien und der Grafschaft Glatz unternommenen Verbesserung der katholischen Schulen“ erschlossen werden.16 Wie bereits erwähnt, ging die Initiative zu der Reform von Strauch aus. Sie hatte das Ziel, Mängel des schulischen Unterrichts in der katholischen Stadtpfarrschule abzustellen, die dazu führten, dass auch katholische Bürger ihre Kinder den qualitativ besseren Unterricht der protestantischen Pfarrschule besuchen ließen. Erste disziplinarische Anweisungen Felbigers erwiesen sich im Hinblick auf die angestrebte Verbesserung als wenig effektiv. „Dieser war hierzu wohl geneigt, aber wegen ermangelnder Einsicht nicht imstande, den Gebrechen abzuhelfen; denn nie war er in einer öffentlichen Trivialschule gewesen und hat damit in seinem ganzen Leben nichts zu schaffen gehabt.“17 Es bedurfte einer konzeptionellen Neuorientierung. Die diesbezüglichen Maßstäbe und Modelle gewann Felbiger zunächst durch das literarische Studium zeitgenössischer protestantischer Schulschriften. „Der Buchhändler schickte ihm so viel Schriften über diesen Gegenstand, daß der Abt einen ganzen Monath, solche durchzuschlagen und die vornehmsten zu lesen nöthig hatte. Der dritte Theil des Schulbuchs der Berliner Realschule und das Schulreglement für die braunschweigischen Lande haben ihn am meisten aufgeklärt und von der guten Beschaffenheit der Trivialschulen einige Begriffe gemacht.“18 Ein im Mai 1762 inkognito durchgeführter Besuch der Berliner Realschule überzeugte Felbiger auch durch die Praxis des Unterrichts vom vorbildlichen Modellcharakter der in dieser von Johann Julius Hecker (1707-1768)19 im Jahr 1747 als „Ökonomisch-mathematische Realschule“ gegründeten Reformschule verwirklichten Lehrart. Diese wurde nun zum normativ maßgebenden Muster für die in den Folgejahren in Sagan eingeführten Reformen. Nach einer aus Mitteln des Stifts finanzierten Ausbildung an dem mit der Berliner Realschule verbundenen Lehrerseminar wurden im Juni 1763 an der Stadtpfarrschule in Sagan zwei mit der „verbesserten“ Lehrart vertraute Lehrer neu eingestellt, die zugleich die Funktion von Multiplikatoren im Zusammenhang der Weiterbildung der Lehrer der übrigen Stiftsschulen übernahmen. Zeitgleich wird die neue Lehrart mit den Verordnungen vom 17. Juni 16
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Vgl. Anm. 4. Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Heinrich KREUTZWALD, Zur Geschichte des Biblischen Unterrichts und zur Formgeschichte des biblischen Schulbuches, Freiburg/Br. 1957 (Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge 11), S. 69-74. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70f. Vgl. Des Berlinischen neu eingerichteten Schulbuches 3. Theil welcher die Lehrart, wornach die im 1. und 2. Theil befindlichen Sachen der Jugend beyzubringen sind, enthält, Berlin 1758. – Ordnung für die Schulen auf dem Lande in dem Herzogthum Braunschweig Wolfenbüttel und dem Fürstenthum Blankenburg. 1753. Abdruck in: Friedrich KOLDEWEY (Hg.), Braunschweigische Schulordnungen von der ältesten Zeit bis zum Jahre 1828, Bd. 2, Berlin 1890 (Monumenta Germaniae Paedagogica 8), S. 299-357. Vgl. Hugo Gotthard BLOTH, Johann Julius Hecker (1707-1768). Seine „Universalschule“ und seine Stellung zum Pietismus und Absolutismus. In: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 61 (1968), S. 63-129.
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und vom 10. November 1763 in den Schulen des Stifts eingeführt und verpflichtend gemacht. Dass Strauch diese von Felbiger konzeptionell und organisatorisch vorangetriebene Neuorientierung des Schulwesens tatkräftig unterstützte, wird zum einen daraus ersichtlich, dass er aus eigenen Mitteln die Ausbildung eines weiteren Lehrers am Berliner Lehrerseminar finanzierte: „Ihm war es nicht genug, daß nur in der Saganischen Schule die Jugend im Lesen, Schreiben und Rechnen besser als zuvor unterrichtet wurde, er glaubte, man müsse auch diejenigen vorbereiten, welche in die Schulen der Jesuiten sich zu begeben Lust haben. Er hatte gehört, dass man in der Berliner Realschule besondere Vortheile brauchte, um in Sprachen, ohne die sonst gewöhnlichen Umschweife, Unterricht zu ertheilen; dieß bewog ihn, gleich nach unternommener Schulverbesserung, noch eben in dem Jahre 1763, seinem Abte neue Vorstellungen zu thun, um ihn dahin zu bringen, jemanden nach Berlin zu schicken, auch diese Vortheile zu erlernen; er erboth sich zur Bezahlung der hierzu nöthigen Kosten; er bezahlete sie wirklich; und dadurch veranlaßte er, daß Joseph Kauschke noch mit Ende des 1763ten Jahres nach Berlin geschickt und daselbst fast ein halbes Jahr unterhalten wurde.“20 Zum anderen wird diese tatkräftige Unterstützung auch daraus erkennbar, wie Strauch den Bürgern seiner Geburtsstadt bei der Durchführung der dortigen Schulreform nach Saganschem Vorbild seine Hilfe zukommen ließ: „Die Bürger der Stadt Frankenstein […] erhielten Nachricht von der Saganischen Schulverbesserung und dem Antheil, den ihr Landsmann daran hatte, sie wünschten eine gleiche Verbesserung für ihre Schule; sie trugen nicht allein so viel Geld zusammen, als nöthig war, die Schulgebäude in guten Stand zu setzen; sondern sie schickten ihren Rector und Organisten mit Anfang Octobr. des 1764ten Jahres nach Sagan, um sie in der Lehrart unterrichten zu lassen. Der Prior that alles, um seinen Landsleuten zu ihrem Vorhaben behüflich zu seyn und sich um seyne Vaterstadt ebenso verdient zu machen, als er sich beflissen hatte, es in Absicht auf die Stadt Sagan zu seyn.“21 Die Rezeption der für die Saganschen Reformen maßgeblichen „Lehrart“ der Heckerschen Realschule bedeutet zugleich eine Anknüpfung an die für diese Reformschule und das ihr seit 1748 angegliederte Lehrerseminar maßgebliche pietistische Tradition Hallescher Prägung. Hecker hatte nach seinem Theologiestudium in Jena und Halle 1729 die Stelle eines Lehrers am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen übernommen, bevor er 1735 als Prediger, Lehrer und Schulinspektor an das nach Halleschem Vorbild gegründete Militärwaisenhaus in Potsdam und 1739 als Prediger an die Dreifaltigkeitskirche in Berlin berufen wurde. Erziehung zielt im Verständnis dieser von August Hermann Francke (1663-1727)22 geprägten pietistischen Tradition 20 21 22
Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 71f. Ebd., S. 72. Vgl. Peter MENCK, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gotts und zu Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes, Tübingen, Wiesbaden 32001 (Hallesche Forschungen 7). – Siegfried WIBBING, August Hermann Francke (1663-1727). In: Henning SCHRÖER / Dietrich ZILLESSEN (Hg.), Klassiker der Religionspädagogik, Frankfurt/M. 1989, S. 74-84. – Gerhard RINGSHAUSEN, August Hermann Francke (1663-1727). In: Hans SCHEUERL (Hg.), Klassiker der
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auf eine in praktischer Frömmigkeit fundierte und sich im tätigen Leben bewährende Sittlichkeit und findet ihren Endzweck in der Ehre Gottes. Der Unterricht in den diesem Erziehungskonzept verpflichteten Schulen intendiert eine „nützliche“ und „realistische“ Bildung, die die Schüler auf ein Leben in der bürgerlichen Gesellschaft und der Berufswelt (Handwerk, Wirtschaft, Handel) vorbereitet und im Hinblick auf deren Erfordernisse „ertüchtigt“. Eingebettet in diesen erziehlichen Rahmen akzentuiert die unterrichtliche Lehrart die Aufgabe einer effektiven Schulung nicht nur des Gedächtnisses, sondern auch des Verstandes und von praxisorientierten Fähigkeiten und Fertigkeiten. Einen besonderen Stellenwert erlangt in diesem Zusammenhang die von Johann Friedrich Hähn (1710-1789)23 entwickelte Literal- und Tabellarmethode. Hähn war in seiner Zeit als Pastor adjunctus an der Dreifaltigkeitskirche von 1753 bis 1759 Inspektor der Realschule und zur Zeit der Saganschen Reformen von 1762 bis 1771 Abt und Direktor der Klosterschule von Kloster Berge und in diesem Amt zugleich Generalsuperintendent des Herzogtums Magdeburg. Felbiger stand in dieser Zeit im Austausch sowohl mit Hecker als auch mit Hähn. So orientiert sich auch der von Felbiger verfasste Entwurf des „General-Land-SchulReglements“ von 1765 am Vorbild des für die evangelischen Landschulen erlassenen „Königlich Preußischen General-Land-Schul-Reglements“ von 1763, das auf einen Entwurf Heckers zurückgeht, der sich selbst wiederum an der im Jahr 1754 erlassenen Schulordnung für Minden-Ravensberg orientiert. Als die vier tragenden Säulen der in der Folge als „Sagansche Methode“ rezipierten verbesserten Lehrart gelten den Reformern: 1.) das Zusammenunterrichten: „Alle Kinder einer Klasse müssen nicht nur einerlei Sachen vornehmen, sondern sie müssen es auch zur gleichen Zeit tun; anstatt daß nach dem ehemaligen Brauche ein Kind nach dem anderen, wie Schulmeister reden, aufsagt, so sagen jetzt alle zugleich auf; sie buchstabieren, lesen, schreiben, rechnen, lernen zugleich auswendig, sie wiederholen und antworten; kurz, sie machen alles zusammen und zu gleicher Zeit.“24 2.) der Unterricht durch Fragen oder das Katechisieren: „Weil die Schüler alles, was sie lernen, nicht bloß ins Gedächtnis fassen, sondern deutlich verstehen sollen, so ist es nötig zu erforschen, ob dies geschehen sei. Ein
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Pädagogik, Bd. 1, München 1979, S. 83-93. – Juliane DITTRICH-JACOBI, Pietismus und Pädagogik im Konstitutionsprozess der bürgerlichen Gesellschaft. Historisch-systematische Untersuchungen der Pädagogik August Hermann Franckes (1663-1727), Phil. Diss., Bielefeld 1976. – Gerhard SCHMALENBERG, Pietismus – Schule – Religionsunterricht. Die christliche Unterweisung im Spiegel der vom Pietismus bestimmten Schulordnungen des 18. Jahrhunderts, Bern, Frankfurt/M. 1974. Vgl. Georg SCHINDLER, Art. Hähn, Johann Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 432. – Art. Hähn, Johann Friedrich. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 1 (1990), S. 434f. 2. Hauptstück, 1. Abschnitt, § 1. Zitiert nach FELBIGER (wie Anm. 8), S. 57.
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Schulmann muss also hierüber Untersuchungen anstellen, dies kann er nicht leichter als durch Fragen tun, […] er muß seine Fragen so einrichten, daß er dadurch in Erfahrung bringe, ob der Schüler alles, was zur Sache gehört, deutlich gefaßt habe.“25 3.) die Buchstabenmethode (Literalmethode): Bei dieser Methode werden die Anfangsbuchstaben der Wörter des in Tabellen gefassten und memorierend zu lernenden Lehrstoffs als Stütze beim Auswendiglernen und Wiederholen an die Tafel geschrieben. Sie gilt als eine Methode, das, was gelernt werden soll, besser ins Gedächtnis zu bringen. „Alles, was ins Gedächtnis gefaßt oder, wie man insgemein sagt, auswendig gelernt werden soll, wird durch die Buchstabenmethode viel leichter als auf andere Art gelernt.“26 4.) die Tabellen (Tabellarmethode): „Tabellen, von denen hier die Rede ist, sind Aufsätze, durch die man das, was Schüler lernen sollen, nach allen Hauptstücken und Nebendingen, Abteilungen, Zusätzen und Bestimmungen dergestalt geordnet hat, daß Lernende daraus nicht allein alles, was sie von solchen Sachen zu wissen nötig haben, sondern auch die Ordnung einsehen können, wie eins auf das andere folgt und mit ihm zusammengehört.“27 Prägnant werden am Ende des zweiten Hauptstücks des Lehrerhandbuchs die „alte“ und die „neue“ Lehrart unterschieden und kontrastiert: „I. Die alten Schulleute sahen vornehmlich nur auf das Gedächtnis; sie plagten die Jugend mit Auswendiglernen und glaubten, alles getan zu haben, wenn sie nur für das Gedächtnis ihrer Schüler sorgten. Bei der neuen Lehrart sucht man a) das Gedächtnis nicht mit bloßen Wörtern, sondern mit Sachen anzufüllen, b) den Verstand zu üben, zum Nachdenken und Überlegen anzuleiten. c) Man gibt von allen Dingen soviel wie möglich den Grund an und läßt ihn von der Jugend wieder angeben, um überzeugt zu werden, daß sie ihn einsehe, oder ihr zu helfen, wenn dies nicht geschehen ist, d) Man gewöhnt die Jugend durch beständiges Antworten auf die vorgelegten Fragen daran, über Dinge ihre Gedanken zu äußern und von dem zu reden, was sie gelernt hat. e) Man sucht den Willen der Jugend geneigt, auch sie geschickt zu machen, das zu lernen und zu tun, was notwendig, nützlich und anständig ist, um in der Welt fortzukommen.
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2. Hauptstück, 2. Abschnitt, § 1. Ebd., S. 60. 2. Hauptstück, 3. Abschnitt, § 4. Ebd., S. 70. 2. Hauptstück, 4. Abschnitt, § 1. Ebd., S. 71.
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II. Früher lehrte man in den Schulen, ohne sich sehr darum zu bekümmern, ob das, was man der Jugend beibrachte, auch so gelehrt würde, wie man es braucht. Man begnügte sich in den meisten Schulen damit, die Kinder bloß lesen und einen kurzen Katechismus auswendig lernen zu lassen; an das Rechnen oder andere Fächer wurde nicht gedacht. Nun bemüht man sich, a) nichts, als was man im täglichen Leben braucht, und dies so, wie man es braucht, zu lehren. b) Man trachtet danach, sowohl vernünftige als auch brauchbare, arbeitsame und gesittete Leute in den Schulen zu bilden.“28 Strauch war nicht nur Initiator der durch sein Drängen auf die Abstellung bestehender Mängel angestoßenen Reformen. Er trug auch im Rahmen der Schulaufsicht Verantwortung für deren konkrete Durchführung und Durchsetzung: zunächst als Prior und in Stellvertretung des Abtes während Felbigers dreijähriger Visitationsreise als Schulinspektor im Zusammenhang der schlesischen Schulreform (1765-1768) und während seiner Beurlaubung nach Wien (1774-1778), dann – nach der Resignation Felbigers im Jahr 1778 – als Abt und als Erzpriester des dem bischöflichen Kommissariat Glogau unterstehenden Archipresbyterats Sagan. Ein enger Kontakt zur Schulpraxis bestand auch durch den selbst erteilten Unterricht in der Stadtpfarrschule und durch die Lehrpraxis in den Kursen des mit dieser Schule verbundenen Lehrerseminars. Die Verordnungen von 1761 und 1763 hatten die bisher als sonntägliche Kirchenkatechese erteilte Christenlehre für die Kinder und Jugendlichen in den Lehrplan der Schule integriert, so dass sie von nun an als schulischer Unterricht erteilt wurde. Die Verordnung von 1763 trifft Bestimmungen zum Inhalt und zur Methode des für die Schulen des Stifts als Pflichtfach eingeführten Religionsunterrichts, der nach der verbesserten Lehrart der Stadtpfarrschule in Sagan erteilt wird. „Er umfasste außer der für alle Schulen vorgesehenen Christenlehre (eine Stunde in der Woche) je eine Stunde Religionsgeschichte, Sittenlehre (nur in den Stadtschulen) und die Perikopenstunde am Wochenende; daneben blieb die Kirchenkatechese am Sonntag für Erwachsene Pflicht. Die täglichen Leseübungen aus der Evangelienübersetzung und die ebenfalls täglich zu leistende Arbeit der Lehrer in Vorbereitung und Wiederholung der [durch die Pfarrer erteilten] Katechese bedeuteten eine weitere Vermehrung der religiösen Belehrung.“29 Aus diesem Umstand ergab sich die Notwendigkeit, für den schulischen Unterricht und damit für das Zusammenlernen und für das Katechisieren geeignete Unterrichtsund Lesebücher zu erarbeiten. Im Auftrag seines Abtes erarbeitete Strauch im Zeitraum von weniger als einem Jahrzehnt fast alle maßgeblichen Schulbücher für den Religionsunterricht. Von Felbiger als Abt autorisiert und herausgegeben, werden sie vornehmlich in der mit königlichem Privileg vom 28. März 1765 als Verlag der katholischen Trivialschule eingerichteten und von Johann Christoph Lauhen betriebenen 28 29
2. Hauptstück, Anhang. Ebd., S. 75. KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 52.
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Schulbücherdruckerei in Sagan verlegt. Die Verfasserschaft Strauchs darf dabei für die folgenden Werke als gesichert gelten30: - Die Evangelien, wie sie von den vier Evangelisten Matthaeo, Marco, Luca und Johanne geschrieben worden, nebst den Lectionen und Episteln, die das ganze Jahr hindurch in der Catholischen Kirche gelesen werden, zum Gebrauche der LeseSchüler des Saganschen Stifts, 1764.31 - Römisch Katholischer Katechismus für die II. Classe der Kinder der Schulen des Saganischen Stifts Can. Reg. S. Augustini Congr. Lateran., Sagan 1765.32 - Römisch-Katholischer Katechismus für die III. Classe der Kinder in den Schulen des Saganischen Stifts Can. Reg. Ord. S. Augustini Congr. Lateran. Nebst einer Vorrede, darin von der Einrichtung und dem Gebrauche des für jede Classe verfertigten Catechismus ausführlich gehandelt wird, Sagan 1766.33 - Kern der Biblischen Geschichte des Alten Testaments, daraus der Jugend die vornehmsten Begebenheiten des Volkes Gottes und der berühmtesten Personen aus diesem Volke sehr leicht bekanntgemacht werden können, Sagan 1767.34 - Kurze Geschichte der Religion, nebst dem Hauptsächlichsten aus der christlichen Sittenlehre für die zum Saganischen Stift gehörigen Stadtschulen, Sagan 1769.35 - Kern der biblischen Geschichte alten und neuen Testaments mit beygesetzen kurzen Sittenlehren, Bamberg und Würzburg 1777.36 Die angeführten Werke erfuhren zahlreiche Neuauflagen und erlangten dadurch eine weite überregionale Verbreitung. Die Katechismen für die 2. und 3. Klasse wurden gemeinsam mit dem von Felbiger verfassten „Römischkatholischen Catechismus für die erste Classe der Kinder in den Schulen Saganischen Stifts Can. Reg. Ord. S. Augustini Congr. Lat.“37 in einer dem Breslauer Weihbischof Johann Moritz von 30 31 32
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Vgl. Anm. 4 und die Ergebnisse der Untersuchungen von KREUTZWALD (Anm. 16) und KRÖMER (Anm. 3). Der Nekrolog gibt an, dass die „Evangelien“ neunmal aufgelegt wurden. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 356. Vgl. auch KRÖMER (wie Anm. 3), S. 257. Der Katechismus für die 2. Klasse wurde als erster Druck der neu eingerichteten Druckerei des Verlags der katholischen Trivialschule Mitte Dezember 1765 ausgeliefert. Weitere Auflagen: Sagan 1767, 1776; Koblenz: 4 Auflagen zwischen 1775 und 1779, 1780, 1781, 1785, 1787, zahlreiche weitere Auflagen bis Ende der 1840er Jahre. Vgl. ebd., S. 259. Gedruckt im Verlag der katholischen Trivialschule. Weitere Auflagen: Sagan 1771, 1776; Koblenz: 3 Auflagen zwischen 1775 und 1776, 81826, 171840; Hadamar 61821. Vgl. ebd. Gedruckt im Verlag der katholischen Trivialschule. Weitere Auflagen: Bamberg und Würzburg 1771; Münster 1773; Mannheim 1777. Vgl. ebd., S. 261. Gedruckt im Verlag der katholischen Trivialschule. Die „Kurze Geschichte“ wird später in Felbigers „Lesebuch für die Schüler der deutschen Schulen in den k. k. Staaten“ (Wien 1774) und in Felbigers „Großes Lesebuch für Schüler der deutschen Normal- und Hauptschulen in den k. k. Staaten“ (Wien 1777) aufgenommen. Vgl. ebd., S. 263. Gedruckt und verlegt bei Göbhardt. Weitere Auflagen: Bamberg und Würzburg 1777; Bamberg 1805, 1809; Würzburg 1782, 1784, 1802, 1812; Sagan 1799; Köln 1777, 1785, 1799, 1809, 1813, 1821; Bonn 1811; Ehrenbreitstein 1813; Rastatt 1810. Vgl. ebd., S. 270. Sagan 1765. Weitere Auflagen: 1766, 1768, 91788, 1792, 1793, 1795, 1801. Vgl. ebd., S. 258f.
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Strachwitz dedizierten Gesamtausgabe zusammengefasst und 1766 mit dem von diesem genehmigten Zusatz „zum Gebrauche der Schlesischen Schulen“ gedruckt und veröffentlicht.38 Die Widmung dieser fortan als „Schlesischer Katechismus“ rezipierten Gesamtausgabe unterschrieben Benedikt Strauch als Prior, Joseph Sucher als Direktor und Johannes Luby als Inspektor der Saganschen Schulen. Die Ausgabe von 1775 greift in ihrem Titel die zwischenzeitlich erreichte weite Verbreitung des Katechismus auf: „zum nunmehrigen Gebrauch fast aller Schulen Deutschlands“.39 Zu erwähnen bleibt, dass Strauch von Felbiger auch mit der Übersetzung des für die Entwicklung einer systematisch reflektierten Theorie der Katechese bedeutenden Schlüsselwerks beauftragt wurde, das der Regens des adligen Seminars in Würzburg Michael Ignaz Schmidt (1736-1794)40 unter dem Titel „Methodus tradendi prima elementa religionis, sive catechizandi“ im Jahr 1769 veröffentlicht hatte.41 Das in Kenntnis der Saganschen Reformen verfasste Werk vertritt in seinen inhaltlichen und methodischen Vorschlägen zur Verbesserung der Katechese einen dem Saganschen vergleichbaren Ansatz, so dass Felbiger durch die von Schmidts Verleger Tobias Göbhardt (1734-1794)42 angeregte Übersetzung diesen seinen eigenen verwandten Reformideen eine breitere Rezeption und so auch größere Wirksamkeit ermöglichen wollte. Die Übersetzung Strauchs wurde mit einem Vorwort Felbigers, in dem er in einem geschichtlichen Abriss die Katechese als eine zentrale Aufgabe der Pfarrseelsorge aufweist, im Jahr 1772 unter dem Titel „Der Katechist nach seinen Eigenschaften und Pflichten, oder die rechte Weise, die ersten Gründe der Religion zu lehren“ in Bamberg und Würzburg ebenfalls bei Göbhardt verlegt.43 Sie fand in der Folgezeit überregionale Verbreitung und wurde auch als Lehrbuch in der katechetischen Ausbildung verwandt. Felbiger war sich bewusst, welch großen Anteil Strauch an den Reformen hatte, die in der Folgezeit vor allem mit seinem eigenen Namen verknüpft und überliefert wurden. So schreibt er 1778 im Zusammenhang seiner Resignation als Abt in einem 38 39 40
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Sagan: Verlag der katholischen Trivialschule 1766. Sagan: Verlag der katholischen Trivialschule 1775. Zu weiteren Auflagen und der weiteren Verbreitung auch außerhalb Schlesiens vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 260. Vgl. Wilhelm BÜTTNER, M. I. Schmidt als Katechet. Ein Beitrag zur Geschichte der Katechese im Aufklärungszeitalter, Paderborn 1921. – Uwe PUSCHNER, Art. Schmidt, Michael Ignaz. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 210f. – Silvia WIMMER, Art. Schmidt, Michael Ignaz. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 9 (1995), S. 471-473. – Karl Josef LESCH, Neuorientierungen der Theologie im 18. Jahrhundert in Würzburg und Bamberg, Würzburg 1978. Methodus tradendi prima elementa religionis, sive catechizandi. Accedit ad calcem brevis historia catechetica, sistens facta catecheseos, nec non celebriores, qui prodierunt usque ad nostra tempora, catechismos. Authore M. I. SCHMIDT, Bamberg und Würzburg 1769. Vgl. Klaus WALTHER, „Eine kleine Druckerei, in welcher manche Sünde geboren wird“. Bambergs erster Universitätsbuchhändler. Die Geschichte der Firma Göbhardt, Bamberg 1999. – DERS., Buch und Leser in Bamberg 1750-1850. Zur Geschichte der Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, Wiesbaden 1999 (Beiträge zum Buchund Bibliothekswesen 39). Vgl. Anm. 4.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 281
Brief an Strauch: „Sie sind doch der Urheber von allem, und Ihnen gebüret aller Dank und alle Ehre.“44 Auch die Aufnahme der „Ausführlichen Nachricht“ in die von Felbiger herausgegebenen „Kleinen Schulschriften“ (1769), die Strauchs Verdienste um die durchgeführten Reformen betont und deutlich herausstellt, lässt erkennen: „Beide, Felbiger und Goebhardt, sind […] Zeugen für die mitgeteilten Tatsachen; beide trafen sich offenbar auch in dem Wunsche, den Anteil Strauchs an der Schulverbesserung klar ans Licht zu stellen und für kommende Zeiten festzuhalten.“45 Der Nekrolog formuliert einschränkend: „Nur ist zu bemerken, daß Strauch meistens dasjenige im Stillen entwarf, was Felbiger öffentlich verbreitete.“46
3.
Christenlehre als schulischer Katechismusunterricht
Maßgeblich für die schulische Christenlehre wird der nun als schulisches Unterrichtswerk konzipierte Katechismus. Der „Schlesische Katechismus“ ist – in Kenntnis französischer Vorbilder (Claude Fleury (1640-1723)47, Jaques-Bénigne Bossuet (1627-1704)48, François-Aimé Pouget (1666-1723)49) – ein mehrstufiger Katechismus und umfasst drei Katechismen für die drei „Classen“ der nach Altersstufen eingeteilten Schüler.50 Die Stufung erfolgt entwicklungspsychologisch begründet und in der Tradition der augustinischen Anthropologie nach den in den verschiedenen Altersstufen vornehmlich ausgebildeten und daher vornehmlich anzusprechenden Seelenkräften. So wendet sich der Katechismus für die 1. Klasse zunächst an das Gedächtnis. Ihm entspricht als Lernform das Memorieren. Der Katechismus für die 2. Klasse wendet sich vor allem an den Verstand und zielt auf ein durch Wort- und Sacherklä44 45 46 47
48 49
50
Zitiert nach KRÖMER (wie Anm. 3), S. 241. KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 74. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 356. Catéchisme historique, contenant en abrégé l’Histoire Sainte et la Doctrine Chrétienne. 2 Bde. Paris 1683. Deutsche Übersetzung des kleinen Katechismus: Wien 1750, des kleinen und des größeren Katechismus, Wien 1776. Catéchisme du diocèse de Meaux. Paris 1687. Deutsche Übersetzung: München 1775. Instructions générales en forme de catéchisme où l’on explique en abrégé, par l’Écriture sainte et par la tradition, l`histoire et les dogmes de la religion, la morale chrétienne, les sacrements, les prières, les cérémonies et les usages de l’Église, à l’usage des anciens et des nouveaux catholiques et de tous ceux qui sont chargés de leur instruction, avec deux catéchismes abrégés des enfants. Paris 1702 („Catéchisme du diocèse de Montpellier“). Deutsche Übersetzungen: Köln 1710; Wien 1735. Vgl. zum Folgenden: Rainer BENDEL, Der Seelsorger im Dienst der Volkserziehung. Seelsorge im Bistum Breslau im Zeichen der Aufklärung, Köln u.a. 1996 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 27), S. 321-341. – KRÖMER (wie Anm. 3) – Johannes HOFINGER, Geschichte des Katechismus in Österreich von Canisius bis zur Gegenwart. Mit besonderer Berücksichtigung der gleichzeitigen gesamtdeutschen Katechismusgeschichte, Innsbruck, Leipzig 1937 (Forschungen zur Geschichte des innerkirchlichen Lebens 5/6), S. 2961. – Franz Xaver THALHOFER, Entwicklung des katholischen Katechismus in Deutschland von Canisius bis Deharbe, Freiburg/Br. 1899, S. 78-90.
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rungen gefördertes Verstehen. Der Katechismus für die 3. Klasse schließlich wendet sich vor allem an den Willen und will durch einsichtige Beweisführungen und lebenspraktische Anwendungen zum Handeln anleiten und motivieren. In der Ausgabe des „Schlesischen Katechismus“ von 1775 hat der Katechismus für die 1. Klasse einen Umfang von sieben Seiten, der Katechismus für die 2. Klasse einen Umfang von 37 Seiten und der Katechismus für die 3. Klasse einen Umfang von 226 Seiten. Der inhaltliche Aufbau folgt in allen drei Teilkatechismen dem klassischen Modell der fünf Hauptstücke der Katechismen des Petrus Canisius SJ (1521-1597), wobei der „Schlesische Katechismus“ das fünfte Hauptstück („Von der wahren christlichen Gerechtigkeit“) in drei Hauptstücke aufteilt, so dass sich folgende Gliederung ergibt: 1. Hauptstück: Vom Glauben 2. Hauptstück: Von der Hoffnung 3. Hauptstück: Von der Liebe 4. Hauptstück: Von den heiligen Sakramenten 5. Hauptstück: Von den Sünden, die wir meiden sollen 6. Hauptstück: Von den Dingen, die wir üben sollen 7. Hauptstück: Von den Dingen, die wir gewärtigen sollen Felbiger verdeutlicht in der von ihm verfassten „Vorrede“ zum „Schlesischen Katechismus“ die mit dieser Gliederung verbundene religionspädagogische Intention: „Die Religion bestehet im göttlich Glauben, Hoffen, Lieben, daß ist, im rechtschaffen Leben; sie bietet die Hülfsmittel dar, die zur Erfüllung dieser Forderungen nöthig sind; sie dienet dazu, um ihre Bekenner zeitlich und ewig glückselig zu machen. Die Jugend muß also von sieben Stücken; nämlich: a) von den Wahrheiten, die wir glauben; b) von den Gütern, die wir hoffen; c) von den Dingen, die wir lieben; d) gebrauchen, e) meiden, f) üben und g) gewärtigen sollen, unterrichtet werden.“51 Der von Felbiger verfasste und 1765 im Verlag der katholischen Trivialschule gedruckte Katechismus für die 1. Klasse hat einen Vorläufer in den „vornehmsten Stuecken des Christenthums“, die als Anhang dem 1763 veröffentlichen „Neu eingerichteten ABC-Buchstabir- u. Lesebüchlein“ für den Unterricht in den Schulen des Stifts beigefügt waren.52 Dieser für Kinder bis zum Alter von sieben/acht Jahren gedachte „erste“ Katechismus listet – ergänzt durch einen Anhang mit Morgen-, Abendund Tischgebeten – die traditionellen katechetischen Grundtexte (Apostolisches Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Ave Maria, Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, Dekalog) und traditionelle katechetische Reihen (Sünden, Tugenden, Werke der
51 52
Vorrede, §12. Zitiert nach KRÖMER (wie Anm. 3), S. 201. Neu eingerichtetes ABC-Buchstabir- und Lese-Büchlein zum Gebrauche der Schulen des Fürstl. Stifts Canonicor. Regul. Ord. S. Augustini Congreg. Lateran. bey unser lieben Frauen zu Sagan. Nebst einer Vorrede in welcher ausführlich angezeigt wird, worin der Vorzug bestehe, den diese neue Einrichtung vor der alten hat, und einiger Anleitung vom nützlichen Gebrauch dieses Büchels beym wirklichen Unterrichte. 1763. – Anhang: Die vornehmsten Stuecke des Christenthums samt kurzen Morgen-, Abend- und Tisch-Gebethen, als ein Anhang zum Saganischen ABC. 1763. Vgl. auch KRÖMER (wie Anm. 3), S. 257.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 283
Barmherzigkeit u.a.) auf ohne Fragen oder Erklärungen und zum Zweck der memorierenden Aneignung. Der von Strauch verfasste und ebenfalls im Jahr 1765 erstveröffentlichte Katechismus für die 2. Klasse ist als Frage-Antwort-Katechismus konzipiert. Der in 14 Lektionen geordnete Lehrstoff korrespondiert den 14 Wochen des verpflichtenden Schulbesuchs der Dorfkinder im Winterhalbjahr. Der Katechismus wendet sich an Kinder im Alter von sieben bis zehn/elf Jahren. Die Erklärung der katechetischen Formeln und Reihen des Katechismus für die 1. Klasse, die zum Zweck der Anknüpfung und der Wiederholung artikelweise am Seitenrand mit abgedruckt werden, erfolgt in 309 Fragen und Antworten, so dass auf jede Lektion im Durchschnitt 20 Fragen und Antworten entfallen. Dem Katechismus für die 2. Klasse wird im „Schlesischen Katechismus“ ab dem Jahr 1768 ein Anhang beigefügt. Er handelt in fünf Lektionen von der heiligen Messe, vom Anhören der Predigt, von der Beichte, von der heiligen Kommunion und vom Ablass. Der Nekrolog nennt Strauch als Verfasser des „Vorbereitende[n] Unterricht[s] vor der Vorbereitung zur heiligen Beichte und Kommunion, als ein Anhang zum zweyten Schlesischen Katechismus“.53 Gesichert ist auch die Verfasserschaft Strauchs für den im Jahr 1766 erstveröffentlichten Katechismus für die 3. Klasse. In einer diesem Katechismus vorangestellten „Vorrede“ erläutert Felbiger als Herausgeber die bei der Abfassung der drei neu eingeführten Katechismen maßgeblichen Grundsätze und benennt Grundregeln für deren methodische Erarbeitung im Unterricht. Von Felbiger stammt auch die 1. Lektion des 1. Hauptstücks „Vom Glauben“. Der Katechismus für die 3. Klasse ist als Lehrstückkatechismus konzipiert und wendet sich an Kinder ab elf Jahren. In 43 Lektionen entfaltet er den Inhalt der Katechese in zusammenhängenden Lesetexten, in denen die Lehre mit Beweisführungen zur Überzeugung des Verstandes und Paränesen zur Motivation des Willens verknüpft wird. In den Text eingewoben sind zahlreiche Zitate aus den biblischen Schriften. In Fußnoten werden ihre Fundstellen ausgewiesen, so dass sie in der Bibel nachgeschlagen werden können. Die Lektionen enden in der Regel mit „Lehren“: Anwendungen auf die Glaubens- und Lebenspraxis oder auch passenden Schriftstellen. Auf jeder Seite finden sich unter dem Strich auf den Lesetext bezogene und in diesem durch Fußnotenverweise ausgewiesene Fragen, die bei der Überprüfung des Verständnisses des Textes im Unterricht Hilfestellungen geben wollen. „Der Katechismus für die 3. Klasse ist zweifellos die originellste Arbeit unter den Saganer Katechismen, bildet er doch einen ganz neuen Typ in der Katechismusliteratur Deutschlands. Er ist wohl der erste Katechismus in zusammenhängenden Lehrstücken.“54 Nur zwei Jahre nach der Drucklegung des „Schlesischen Katechismus“ erschien eine weitere katechetische Veröffentlichung Strauchs, die – da kein Schulbuch – nicht in Sagan, sondern in Bamberg im Verlag Tobias Göbhardts verlegt wurde. Sie trägt den Titel „Katechetische Betrachtungen, in denen der Inhalt des hl. röm.-kath. Glaubens dergestalt vorgetragen wird, daß Personen, welche in der Jugend schlecht unter53 54
Nekrolog (wie Anm. 4), S. 358. HOFINGER (wie Anm. 50), S. 48 (ohne die Hervorhebungen des Originals).
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richtet worden, oder die den erhaltenen Unterricht vergessen haben, die Glaubenswahrheiten und Lebenspflichten dieser hl. Religion sich leicht und rührend bekannt machen können“.55 Die in ihrem Aufbau der Gliederung des „Schlesischen Katechismus“ folgenden „Katechetischen Betrachtungen“ wenden sich an Erwachsene. Sie sind weder ein Kommentar zum Unterrichtswerk noch ein Unterrichtswerk für Erwachsene. Vielmehr wollen sie in einer elementaren und das Gemüt ansprechenden Weise („leicht und rührend“) die „Glaubenswahrheiten und Lebenspflichten“ der christlichen Religion erschließen. Die „Ausführliche Nachricht“ beschreibt die mit ihrer Abfassung verbundene Intention Strauchs: „Er hoffte durch solche den Verstand derjenigen aufzuklären und deren Herzen zu bewegen, die, ohne guten Unterricht in der Jugend gehabt zu haben, in Unwissenheit erwachsen und hernach selten geneigt sind, sich aus gewöhnlichen Unterrichtsbüchern zu belehren.“56 Strauch selbst verweist in der „Vorrede“ auf das Vorbild der geistlichen Schriften François Fénelons (1651-1715): „[S]ie klären nicht allein den Verstand über die wichtigsten Gegenstände der Sittenlehre auf, und stellen sie aus einem sehr gefälligen Gesichtspunkte vor; sondern, was das vornehmste und schätzbarste ist, sie bewegen den Willen und machen ihn geneigt zur Befolgung des Guten.“57 Die Saganschen Katechismen entfalten die Glaubenslehre auf der Grundlage der geschichtlichen Offenbarung, die in den biblischen Schriften glaubwürdig bezeugt und überliefert wird. Ansätze einer „natürlichen“ Theologie oder einer Begründung der Sittenlehre im Rekurs auf eine „natürliche“ Sittlichkeit lassen sich nicht erkennen: „Was ist der Glaube? Eine Gnade Gottes und Licht, vermöge welcher wir alles für wahr halten, was Gott geoffenbart hat, und uns durch seine Kirche zu glauben vorstellt.“58 Der Glaube ist für Strauch somit zugleich ein kirchlich vermittelter Glaube: „Ehret die Kirche mit kirchlichem Gehorsame, sie ist eure geistliche Mutter, sie ist die Braut Jesu Christi. Haltet euch fest an sie, sie ist die Säule und Grundfeste der Wahrheit. Man setzet sich der Gefahr aus, in dem Glauben der Kirche zu wanken, wenn man ihren Gebothen [sc. den Kirchengeboten] ungehorsam wird.“59 In den „Katechetischen Betrachtungen“ beschreibt Strauch den Primat, der der Offenbarung Gottes auch gegenüber der menschlichen Vernunft zukommt: „[…] so bered und rührend auch das Firmament mit seinen Sternenheere mir die Macht, Weisheit und Herrlichkeit Gottes erzählet; so lerne ich doch GOtt und seine Eigenschaften noch besser aus einem Buche kennen, welches von außen und von innen solche Merkmale an sich hat, die nicht zweifeln lassen, daß dieses Buch von GOtt selber, welcher allein in die Zukunft, in die späteren Zeiten, ja in alle Ewigkeit, eine uneingeschränkte Aussicht hat, sey eingegeben worden; denn es enthält Prophezeyungen solcher Dinge, die niemand vermuthen konnte, die aber dennoch zu bestimmten Zeit 55 56 57 58 59
Bamberg: Göbhardt 1768. Weitere Auflagen: Pressburg 1770; Krems 1771; Sagan 1775; Münster 1788. Vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 262. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 73. Katechetische Betrachtungen, Vorrede. Zitiert nach der Ausgabe Münster 1788. Katechismus für die 2. Klasse, 1. Hauptstück, 1. Lektion. Zitiert nach der Ausgabe Trier 1822. Katechismus für die 3. Klasse, 3. Hauptstück, Lehren der 14. Lektion. Zitiert nach der Ausgabe Trier 1822.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 285
sind erfüllt worden. In diesem Buche, an dessen Göttlichkeit nur noch Thoren zweifeln, lese ich, daß GOtt nicht nur ewig, unendlich, weise, mächtig, gerecht, gütig, barmherzig, und der einzige Gott, sondern auch, daß er dreifach in den Personen sey. Ueber diese unerwartete Wahrheit stuzet meine Vernunft, sie will Schwierigkeiten machen, und ihr anfänglich den Beyfall versagen; wenn sie aber bedenket, daß niemand besser zu sagen wisse, was GOtt sey, als GOtt selber, der zugleich in seinen Offenbarungen wahrhaft, und untrüglich ist, so leget sie sich zum Ziele, sie unterwirft sich, und hält für wahr, was GOtt saget, ohngeachtet, daß sie es nicht einsieht, und versteht; sie glaubet, daß der einzige GOtt in dem Vater, Sohne und heiligen Geiste müsse angebethet werden. Nimm, o GOtt! diese Unterwerfung meiner Vernunft unter deine Offenbarung, als ein Opfer an, das ich deiner untrüglichen Wahrheit schuldig bin, gestatte nicht, daß Zweifel und Unglauben jemal dieses Opfer deiner Wahrheit streitig machen, sondern stärke meinen Glauben immer mehr und mehr, damit ich den von dir geoffenbarten Wahrheiten zu allen Zeiten einen ungezweifelten Beyfall leiste. Amen.“60
4.
Unterricht in der biblischen Geschichte
Die „Vorläufige Anzeige“ der verbesserten Einrichtung der Stadtpfarrschule in Sagan vom 17. Juni 1763 erwähnt zum ersten Mal einen von der Christenlehre unterschiedenen biblischen Geschichtsunterricht: „Montags zu eben der Zeit [sc. 10-11 Uhr] unterrichtet der Katechet in der Religionsgeschichte und erklärt die zu dem Ende für die Schulen bestimmten Bilder, sobald als solche fertig seyn werden.“61 In der die Reform der Dorfschulen des Stifts regulierenden Verordnung vom 10. November 1763 findet diese Montagsstunde keine Erwähnung. Es findet sich dort jedoch die für jeden Tag geltende Bestimmung: „Von ¾ auf 10 bis ¼ auf 11 lesen erstlich die Kinder der ersten und zweyten Klasse zusammen aus dem für die Schulen gedruckten Evangelium.“62 Ausführlich geht das 1768 veröffentlichte Lehrerhandbuch auf die Methode ein, „[w]ie der Inhalt der Evangelien und Episteln in den Schulen der Jugend beizubringen ist“63, und setzt damit die Praxis der samstäglichen Perikopenstunde als eine allgemeine Praxis voraus. Es galt nun, auch für die in den schulischen Unterricht integrierte biblische Unterweisung geeignete Unterrichtsbücher zu erarbeiten. Strauch kommt auch in dieser Hinsicht die führende Rolle zu, so dass er mit Recht als der
60 61 62 63
Katechetische Betrachtungen, Das apostolische Glaubensbekenntnis, 1. Artikel. Zitiert nach der Ausgabe Münster 1788. Vorläufige Anzeige von besserer Einrichtung der öffentlichen Trivialschule zu Sagan. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 58f. Verordnung, nach welcher die Schulen der zum Saganischen Stift gehörigen Dörfer eingerichtet und verbessert werden sollen. Zitiert nach ebd., S. 59. 3. Hauptstück, 2. Teil, § 4. Vgl. FELBIGER (wie Anm. 8), S. 87-92.
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„eigentlich[e] Begründer des biblischen Geschichtsunterrichts“64 im katholischen deutschen Sprachraum angesehen werden kann. Er veröffentlichte 1764 zunächst ein als Lesebuch konzipiertes Evangelienbuch: „Die Evangelien, wie sie von den vier Evangelisten Matthaeo, Marco, Luca und Johanne geschrieben, nebst den Lectionen und Episteln, die das ganze Jahr hindurch in der Catholischen Kirche gelesen werden, zum Gebrauch der Leseschüler des Saganischen Stifts“.65 Die „Ausführliche Nachricht“ merkt dazu an: „Die ausgesonderten Stücke, welche an Sonn- und Festtagen gelesen werden, schienen ihm nicht weitläufig genug; daher sah er es für gut an, die Evangelien unzertrennt, so wie sie in der Heiligen Schrift stehen, drucken zu lassen.“66 Es handelt sich bei den Texten des Evangelienbuchs um eine von Strauch unter Benutzung der Vulgata und der Polyglotte des Benito Arias Montanus (1527-1598)67 überarbeitete Fassung des Textes der deutschen Bibelübersetzung des Wessobrunner Benediktiners Thomas Erhard (1675-1743).68 Drei Jahre später folgte als „eine zusammenhängende kurze Geschichte des Alten Testamentes“69 der von Strauch verfasste „Kern der Biblische Geschichte des Alten Testaments, daraus der Jugend die vornehmsten Begebenheiten des Volkes Gottes und der berühmtesten Personen aus diesem Volke sehr leicht bekanntgemacht werden können“.70 Der „Kern“ bietet einen „Auszug der Biblischen Geschichte“. Er trifft einerseits eine Auswahl von Erzählungen und Erzählzusammenhängen, die mit eigenen Worten, oft knapp zusammengefasst, „nacherzählt“ werden. Er will anderseits aber auch den Zusammenhang der als „historische Zeit“ gegliederten „biblischen Geschichte“ wahren, in deren „großen Begebenheiten […] sich Gott dem menschlichen Geschlechte geoffenbaret und seinen Willen und Ratsschlüsse bekanntgemacht hat“.71 Sechs Hauptstücke mit 39 Lectionen gliedern die Lesetexte, die ohne zusätzliche Fragen oder Erklärungen der „Chronologie“ der Geschehnisse folgend dargeboten werden. In der Gliederung der Hauptstücke folgt Strauch der Zeitberechnung des französischen Benediktinerabts Augustin Calmet (1762-1757)72: 1. Hauptstück: Von der Erschaffung der Welt bis auf die Sündfluth, 1675 Jahre – 4 Lektionen 2. Hauptstück: Von der Sündfluth bis zur Verkündung des Gesetzes, 865 Jahre – 12 Lektionen 64 65 66 67 68
69 70 71 72
KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 75. Vgl. Anm. 31. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 72. Biblia sacra hebraice, chaldaice, graece et latine. Antwerpen 1568-1571. Biblia sacra vulgatae editionis. Bibel oder Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Augsburg 1723. – Vgl. KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 248, Anm. 120 (im Anschluss an Christian Walch). Ebd., S. 72. Vgl. Anm. 34. Kern der Biblischen Geschichte des Alten Testamentes, Vorrede. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 76. Histoire sainte de l’Ancien et du Nouveau Testament et des Juifs, Paris 1718. Deutsche Übersetzung: Augsburg 1759.
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3. Hauptstück: Von der Verkündigung des Gesetzes bis zur Einweihung des ersten Tempels, 487 Jahre – 9 Lektionen 4. Hauptstück: Von der Eroberung des ersten Tempels in Jerusalem bis zur Zerstörung desselben, 416 Jahre – 7 Lektionen 5. Hauptstück: Von der Zerstörung des ersten Tempels zu Jerusalem und Einweihung des zweiten, 73 Jahre – 4 Lektionen 6. Hauptstück: Von der Erbauung und Einweihung des zweiten Tempels bis auf Christi Geburt, 511 Jahre – 3 Lektionen Das „Vorwort“ beschreibt den didaktisch-methodischen Ort des „Kerns“ im biblischen Unterricht: „Will man dieses Büchlein bey Kindern, welche in der Schule lesen lernen, mit Nutzen und Vortheil brauchen: so lasse man sie in ihren Leseübungen nebst dem Evangelio und dem Katechismo, täglich, oder auch über den anderen Tag durch die Woche, ein und die nämliche Lektion lesen; am Ende der Woche oder zu Anfang der künftigen Woche erkläre man ihnen diese Lektion, man katechisiere und examiniere sie darüber, man lasse sie selbige erzählen; da wird man nach Verlauf eines Jahres (denn binnen dieser Zeit kömmt man mit diesem Büchlein zu Ende, weil es nicht gar 50 Lectionen enthält) finden, daß die Kinder nicht nur die Begebenheiten zu erzählen wissen, sondern sie werden auch Muster und Regeln tugendhafter Sitten innehaben, die einst auf ihren Lebenswandel einen starken Einfluß haben können: durch diese Erzählungen lernen die Kinder auch sich über andere Begebenheiten und Vorfälle auszudrücken, die sie dermal einst dürfen vorzutragen haben; welches unseres Erachtens kein geringer Vortheil ist.“73 Die „Ausführliche Nachricht“ (1767/1768) erwähnt, dass Strauch auch bereits den zweiten Teil des „Kerns der biblischen Geschichte“ ausgearbeitet habe, der „die vornehmsten Begebenheiten des Neuen Testaments“ enthalte74, dessen Drucklegung jedoch aus quellenmäßig nicht belegbaren Gründen erst ein Jahrzehnt später durch Integration in den im Jahr 1777 veröffentlichten „Kern der biblischen Geschichte Alten und Neuen Testaments“ erfolgte. Dies gilt auch für die nach Auskunft der „Ausführlichen Nachricht“ ebenfalls bereits ausgearbeiteten „tabellarisch verfaßten Episteln und Evangelien“75, die als Hilfen für den Unterricht in der Perikopenstunde gedacht waren. Nur zwei Jahre nach der Drucklegung des „Kern der Biblischen Geschichte des Alten Testaments“ erscheint die ebenfalls von Strauch verfasste „Kurze Geschichte der Religion, nebst dem Hauptsächlichsten der christlichen Sittenlehre für die zum Saganischen Stift gehörigen Stadtschulen“.76 Sie bietet in einem knappen Abriss in skizzenhafter Form die „Religionsgeschichte des Alten Testaments“ bis zur Einnahme des Gelobten Landes und die „Religionsgeschichte des Neuen Testaments“ vom Kommen Christi in die Welt bis zu „[a]llerley Anordnungen, die in den Schriften der 73 74 75 76
Kern der Biblischen Geschichte des Alten Testamentes, Vorrede. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 76. Ebd., S. 73. Ebd. Vgl. Anm. 35.
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Apostel vorkommen“, mit genauen Angaben der jeweiligen biblischen Belegstellen. „Das Ganze erweckt den Eindruck, daß es sich hier um einen zusammenfassenden Überblick, eine Art vertiefende Wiederholung und Auswertung des schon im einzelnen bekannten biblischen Stoffes handelt“77, so dass eine Verwendung als Wiederholungs- und Lesebuch wahrscheinlich ist. Das der „Geschichte der Religion“ beigefügte „Hauptsächlichste der christlichen Sittenlehre“ ist ein Auszug aus den „Christliche[n] Grundsätzen und Lebensregeln zum Unterrichte der Jugend in den niederen Schulen, besonders in den angeordneten Wiederholungsstunden“78, für die aufgrund der im Nekrolog vorgenommenen Zuschreibung an Strauch wohl dessen Mitverfasserschaft angenommen werden darf.79 Diese bieten einen Abriss der Sittenlehre in der Form einer Aufzählung der Pflichten nach den drei Pflichtenkreisen (Pflichten gegenüber Gott, den Mitmenschen, sich selbst) unter Beifügung von Belegstellen aus der Heiligen Schrift. Die „Ausführliche Nachricht“ weist auch darauf hin, dass die im „Kern“ von 1767 veröffentlichte „Geschichte des Alten Testaments“ – wie wohl auch die übrigen katechetischen Werke Strauchs – aus der Praxis eigenen Unterrichts erwachsen sind: „Er hat sie […] nicht nur lange zuvor schon verfertigt und auch die zur Erinnerung der vornehmsten Begebenheiten entworfenen Bilder gleich zu Anfang der Schulverbesserung auf eigene Kosten mahlen und dadurch der großen Schulstube eine nützliche Verzierung geben lassen, sondern er hat sie auch mit den Schülern selbst seit einigen Jahren wöchentlich, besonders alle Montage abgehandelt, so wie er auch an den Sonnabenden die tabellarische Abhandlung des Evangelii und der Episteln seit zwey Jahren auf sich genommen und zum besten der Jugend fortgesetzt hat.“80 Das bedeutendste Werk unter den von Strauch für den Unterricht erarbeiteten biblischen Schulbüchern ist der „Kern der biblischen Geschichte Alten und Neuen Testaments mit beygesetzten kurzen Sittenlehren“.81 Es handelt sich dabei um „die erste vollständige Biblische Geschichte für den Schulunterricht im katholischen Deutschland“.82 Dem Text der biblischen Geschichte vorgeschaltet werden ein „Vorwort“ und ein „Kurzer Unterricht von der Heiligen Schrift oder der Bibel, das ist von den Büchern des Alten und Neuen Testaments“, in dem ein Überblick über Gliederung, Umfang und Themen der einzelnen biblischen Schriften gegeben wird. Es folgt – in fast wörtlicher Übereinstimmung mit dem Text des „Kerns“ von 1767 – die „Geschichte des Alten Testaments“ in sechs Hauptstücken mit 39 Lektionen sowie an sie anschließend die „Geschichte des Neuen Testaments“ in fünf Hauptstücken mit 27 Lektionen: 1. Hauptstück: Von der Geburt Jesu bis zu seynen drey letzten Lebensjahren 5 Lektionen
77 78 79 80 81 82
KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 85. Sagan: Verlag der katholischen Trivialschule 1768. Weitere Auflagen: Bamberg und Würzburg 1770, 1772; Würzburg 1786. Vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 262. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 357. Zitiert nach KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 73. Vgl. Anm. 36. KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 90.
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2. Hauptstück: Erste Abtheilung: Von der Taufe Jesu bis zu seinem Einzug in Jerusalem 3 Lektionen Andere Abtheilung: Von den merkwürdigen Wunderwerken, Sittenlehren, Parabeln und anderen Vorfällen Jesu 3 Lektionen 3. Hauptstück: Von dem Einzug Jesu in Jerusalem bis zu seiner Auferstehung 4 Lektionen 4. Hauptstück: Von der Auferstehung Jesu bis zur Sendung des Heiligen Geistes 3 Lektionen 5. Hauptstück: Von der Sendung des Heiligen Geistes über die Apostel und der ferneren Ausbreitung der christlichen Kirche 9 Lektionen Heinrich Kreutzwald identifiziert in einer sorgfältigen und überzeugend durchgeführten Untersuchung diese „Geschichte des Neuen Testaments“ mit dem von Strauch bereits bei Erscheinen der „Ausführlichen Nachricht“ (1767/1768) ausgearbeiteten und bisher unveröffentlichten zweiten Teil des „Kerns der biblischen Geschichte“.83 Dem „Vorwort“ korrespondiert ein „Beschluß“, der sich an den neutestamentlichen Teil des „Kerns“ anschließt. Die ausgewählten, überwiegend erzählenden biblischen Texte werden in einem dem Geschehensablauf folgenden Zusammenhang „nacherzählt“. Im Text eingefügte Fußnotenhinweise verweisen auf Fragen, die auf der jeweiligen Seite unter dem Strich beigegeben werden und die – ebenfalls an dem Geschehensablauf orientiert – bei der fragenden Überprüfung des Textverständnisses im Unterricht Hilfestellungen geben wollen. Jede Lektion endet – wie die Lektionen des Katechismus für die 3. Klasse – mit einer „Sittenlehre“ paränetischen Charakters, die in der Regel in einem pointierenden Schriftwort gipfelt. Das „Vorwort“ verteidigt die Darstellungsweise in Zusammenhängen gegenüber zu erwartenden Einwänden: „Es werden vielleicht einige Schullehrer wünschen, daß man diese Geschichte nicht in einer verbundenen, zusammenhängenden Rede, sondern in Fragen und Antworten abgefasst hätte; allein man hat die gemeinere Schreibart der Geschichte beygehalten, weil man aus der Erfahrung weiß, daß die Jugend bei einem zusammenhängenden Vortrage der Geschichte viel aufmerksamer als bey demjenigen ist, der durch beständige Fragen und Antworten unterbrochen wird, wenn derselbe auch noch so gut und geschickt eingerichtet ist. Man hat auch befürchtet, die Kinder möchten auf solche Weise in den Schulen nur bloß das Gedächtnis brauchen und die erlernten Antworten maschinenmäßig hersagen, da sie nach der gegenwärtigen Einrichtung zugleich in die Nothwendigkeit versetzt sind, ihren Verstand anzustrengen und die Antwort mit ihren eigenen Worten vorzutragen […].“84
83 84
Vgl. Zitiert nach ebd., S. 73. Kern der Biblischen Geschichte des Alten und Neuen Testaments, Vorwort. Zitiert nach ebd., S. 91.
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Es wird auch auf eine mögliche Vernetzung des biblischen Unterrichts mit dem Katechismusunterricht hingewiesen: „Diese Geschichten können an Stelle der Exempel treten, welche die Kinder nur gar zu gerne hören. Und damit den Kindern das Lernen durch die ganze Schulzeit angenehm bleibe, so sollen die Schullehrer diese Geschichten in die gehörigen Orte des Katechismus vertheilen und also dem katechetischen Unterrichte am gehörigen Orte miteinmischen. Diese Abwechslung macht den Kindern ungemeine Lust und erleichtert ihnen zugleich den Begriff der christlichen Lehre.“85 Der „Beschluß“ akzentuiert die gleichermaßen ethisch-pragmatische wie religiöserziehende Ausrichtung der biblischen Geschichte: „Dies ist die kurze Geschichte unserer heiligen allein seligmachenden Religion. Durchaus strahlet die unendliche Liebe Gottes gegen uns Menschen darinnen hervor, der uns, nachdem er uns, ohne unser benöthigt zu seyn, zu seinem Wohlgefallen erschaffen, durch die geoffenbarte Religion hat lehren wollen, wie wir seine Gaben hier auf Erden zu seiner Ehre und unserem Besten gebrauchen und nach diesem Leben den Weg der ewigen Glorie nicht verfehlen sollen. […] und überhaupt ist diese heilige Religion nichts anderes als die weiseste, gütigste Vorschrift, wie wir unseren Leib und unsere Seele vor Unglücken bewahren, wie wir hinwieder jedermann das Seinige gönnen, wie wir einander in der Noth beystehen, wie wir in Widerwärtigkeiten nicht verzagen; wie wir endlich untereinander unsere leibliche und geistliche Glückseligkeit befördern sollen.“86 Es lassen sich Traditionen benennen, die Strauch bei der Abfassung seiner Bücher für den biblischen Unterricht bekannt gewesen sein dürften, ohne dass jedoch eine direkte Abhängigkeit quellenmäßig belegt werden kann. In diesem Zusammenhang ist zunächst das Vorbild des Unterrichts der Berliner Realschule anzuführen, in dem in pietistischer Tradition der Bibel und ihrer gemeinsamen Lektüre ein zentraler Stellenwert zukam. Auch die dem Evangelienbuch beigefügte und von Felbiger verfasste „Tabelle […], daraus die Zahl und Eintheilung sämtlicher Bücher der Heiligen Schrift nebst der Zahl der Capitel jedes Buches ersehen werden können“87, findet ein Vorbild in der dem Berliner Buchstabier- und Lesebüchlein im Anhang beigegebenen biblischen Tabelle. Quellenmäßig belegen lässt sich auch die Kenntnis der französischen und in deutschen Übersetzungen vorliegenden „historischen Katechismen“ von Fleury und Pouget, die dem dogmatischen Teil des Katechismus einen biblisch-geschichtlichen Teil in der Funktion einer Grundlegung voranstellen und diesen in Fragen und Antworten erschließen.88 Schließlich sind aus der protestantischen Tradition die als „katechetische Kinderbibel“ konzipierten „Zweymahl zwey u. funffzig auserlesene[n] Biblische[n] Historien aus dem Alten und Neuen Testamente, der Jugend zum Besten
85 86 87 88
Ebd., S. 92. Kern der Biblischen Geschichte des Alten und Neuen Testaments, Beschluß. Ebd., S. 100. Sagan 1764. Vgl. KRÖMER (wie Anm. 3), S. 258 und KREUTZWALD (wie Anm. 16), S. 283. Vgl. ebd., S. 13-29, „Die historischen Katechismen Frankreichs im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert als Wegweisung zu einem besonderen biblischen Geschichtsunterricht“.
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abgefasset“89 zu nennen, die Johann Hübner (1668-1731) als Rektor des Merseburger Domgymnasiums verfasste und die Felbiger in ihrer Anlage und Form als bemerkenswert erwähnt. „Die Bibel ist in Lektionen für 52 Wochen […] aufgeteilt, die aus dem Text u[nd] jeweils drei Anhängen bestehen, die ‚drey herrliche Talente des Kindes’ schulen sollen: das Gedächtnis durch Fragen, den Verstand durch Lehren, den Willen durch Reimverse (Vorrede).“90 Hübner fügt mit dieser Zweckbestimmung dem Erzähltext der jeweiligen „Historie“ und an ihn anschließend „Deutliche Fragen“, „Nützliche Lehren“ und „Gottselige Gedanken“ bei (letztere in Versform und in späteren Auflagen auch zusätzlich in lateinischer Übersetzung).
5.
Benedikt Strauch und die Reform im Stift Sagan – ein Ansatz „katholischer Aufklärung“?
Die Reform des niederen Schulwesens im Stift Sagan teilt das zeitgenössische „aufgeklärte“ Erziehungsideal einer Vorbereitung und Ertüchtigung für das praktische Leben und beschreibt den Weg tugendhafter Pflichterfüllung als Weg zu einem „glückseligen“ Leben. „Aus der Sicht der Aufklärung ist das Schulwesen ein zentraler Ansatzpunkt, um die Bildung, die Aufklärung des Volkes anzuheben, um es auf eine höhere Stufe der Sittlichkeit und damit zur Glückseligkeit zu führen.“91 Der erste Paragraph des 1. Hauptstücks des Lehrerhandbuchs formuliert prägnant diese „Hauptabsicht“ des schulischen Unterrichts: Die Kinder sollen, „tüchtig gemacht werden […], nützliche Glieder des Staates, vernünftige Menschen, rechtschaffene Christen, d. i. Mitgenossen zeitlicher und ewiger Glückseligkeit zu werden“.92 Das „Korrespondentennetz“93, das aus Felbigers Briefwechsel rekonstruiert werden kann, zeigt einen überregionalen Austausch mit führenden Vertretern der innerkirchlichen katholischen Aufklärung wie Michael Ignaz Schmidt (1736-1794) in Würzburg, dem Fürstabt der Benediktinerabtei St. Blasien Martin Gerbert (17201793), dem Propst des Augustinerchorherrenstifts Polling Franz Töpsl (1711-1796) und Stephan Alexander Würdtwein (1722-1796) in Mainz. Seine Schulschriften trugen Felbiger im Frühjahr 1766 die Ehrenmitgliedschaft der im Jahr 1759 gegründeten 89
90 91 92 93
Leipzig 1714. Vgl. Christine REENTS, Die Bibel als Haus- und Schulbuch für Kinder. Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset […], Leipzig 1714 bis Leipzig 1874 und Schwelm 1902, Göttingen 1984 (Arbeiten zur Religionspädagogik 2). Christine REENTS, Art. Hübner, Johann. In: Lexikon der Religionspädagogik 1 (2001), S. 844846, hier S. 845. BENDEL (wie Anm. 50), S. 285. 1. Hauptstück, § 1. Zitiert nach FELBIGER (wie Anm. 8), S. 35. Vgl. Karen LAMBRECHT, Gelehrte Briefe: Sagan und das Korrespondentennetz von Johann Ignaz von Felbiger. In: Marek HAŁUB / Anna MAŃKO-MATYSIAK (Hg.), Ślącka republika uczonych. Schlesische Gelehrtenrepublik. Slezská vědecká obec, Bd. 1, Wrocław 2004, S. 302-324. – DIES., Erziehung (wie Anm. 10). – DIES., Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788) und das Stift der Augustiner-Chorherren zu Sagan. In: BEIN, Sagan und Sprottau (wie Anm. 7), S. 85-90.
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Werner Simon
Churbayrischen Akademie der Wissenschaften in München ein. Felbiger korrespondiert mit deren Sekretär, dem Benediktiner Ildephons Kennedy (1722-1804). Beziehungen zu einem Vertreter protestantischer Aufklärungspädagogik dokumentiert der Briefwechsel Felbigers mit Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805)94, der als Vertreter einer „Volksaufklärung“ auf seinem Gut in Reckahn bei Brandenburg eine vom Erziehungsdenken der Philanthropen (Johann Bernhard Basedow [1724-1790], Christian Gotthilf Salzmann [1744-1811]) beeinflusste Musterschule für die Ausbildung von Landschullehrern gründete und entscheidende Impulse für die Reform der Landschulen in der Mark Brandenburg gab. Felbiger gehörte auch zu den Subskribenten des im Jahr 1774 erstveröffentlichten vierbändigen „Elementarwerks“ Basedows, des Hauptvertreters der deutschen Aufklärungspädagogik.95 Gleichwohl fehlt im Saganschen Ansatz der Reform des Unterrichts und der Katechese ein zentrales Element der „Aufklärungspädagogik“ und der von führenden Aufklärungspädagogen vertretenen „Religionspädagogik“. Denn der im Modell des Katechisierens entfaltete Ansatz des „Unterrichts durch Fragen“96 darf nicht mit der für die Aufklärungspädagogik maßgeblichen „sokratischen Methode“ verwechselt werden. Letztere beschreibt in Analogie zur sokratischen Mäeutik ein Unterrichtsverfahren, „das die Unterrichtsinhalte nicht in die Kinder hineinlegen, sondern aus ihnen herausholen soll“.97 Der induktiv von der Erfahrung ausgehende Ansatz der Sokratik korreliert dabei mit dem Religionsverständnis einer „natürlichen Religion“, die ihrerseits im Ausgang von der Erfahrung und durch die Vernunft pädagogisch erschlossen werden kann. Eine solche undogmatische Grundlegung der Religionspädagogik ist dem konsequent offenbarungstheologisch profilierten katechetischen Ansatz Strauchs und Felbigers fremd. Vor diesem Hintergrund gewinnen zwei weitere Traditionslinien Gewicht, die sich für den vorgestellten Saganschen Ansatz namhaft machen lassen. Dies ist zunächst die bereits mehrfach erwähnte pietistische Tradition der Pädagogik Hallescher Prägung – vermittelt im pädagogischen und didaktisch-methodischen Konzept der von Hecker gegründeten Berliner Realschule. Das in diesem Zusammenhang konzeptionell maßgebliche Interesse an einer „realistischen“ Bildung konvergiert mit dem In94
95
96 97
Vgl. Hanno SCHMITT / Frank TOSCH (Hg.), Vernunft für das Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734-1805 im Aufbruch Preußens, Berlin 2001. – Annegret VÖLPEL, Art. Rochow, Friedrich Eberhard Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 683f. – Rainer LACHMANN, Art. Rochow, Friedrich Eberhard von. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 8 (1994), S. 461-466. Elementarwerk. Ein geordneter Vorrath aller nöthigen Erkenntniß. Zum Unterrichte der Jugend von Anfang, bis ins academische Alter. Zur Belehrung der Eltern, Schullehrer und Hofmeister. Zum Nutzen eines jeden Lesers, die Erkenntniß zu vervollkommnen. In Verbindung mit einer Sammlung von Kupferstichen, und mit französischer und lateinischer Uebersetzung dieses Werks, 4 Bde., Dessau 1774. – Johann SCHMITT, Der Kampf um den Katechismus in der Aufklärungsperiode Deutschlands, München 1935, S. 281. 2. Hauptstück, 2. Abschnitt: Vom Unterrichte durch Fragen oder von dem Katechisieren. Vgl. FELBIGER (wie Anm. 8), S. 60-67. Michael MEYER-BLANCK, Art. Sokratik. In: Lexikon der Religionspädagogik 2 (2001), S. 1995f., hier S. 1995.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 293
teresse der Aufklärung an einer „sittlichen“ Bildung. Felbiger besucht während seiner zweiten Studienreise im Jahr 1765 nicht nur Hecker in Berlin, Hähn im Kloster Berge und die Franckeschen Stiftungen in Halle, mit dem Leiter deren Waisenhausdruckerei, Johann Michael Witte (1721-1793), er ebenfalls in Kontakt steht, sondern auch einen führenden Vertreter der deutschen Aufklärung, Johann Christoph Gottsched (1700-1766) in Leipzig. Mit dem Hinweis auf das Vorbild Fénelons im Vorwort der „Katechetischen Betrachtungen“ erinnert Strauch an eine weitere Traditionslinie, die in seinen katechetischen und geistlichen Schriften zum Tragen kommt: den Einfluss der französischen katechetischen und geistlichen Literatur des 17. und des 18. Jahrhunderts, die im deutschen Sprachraum auch in Übersetzungen weit verbreitet war. Die Textgattungen sowohl des mehrstufigen Katechismus als auch der biblischen Geschichte kennen französische Vorbilder. In einer eigenen Übersetzung aus dem Französischen veröffentlicht Strauch „Des Herrn Franz Latifau; Bischoffs zu Sisteron, geistliche Briefe an eine Closterjungfer“.98 Sowohl Fénelon (1651-1715) als auch Pierre-François Latifau (1685-1764) stehen frömmigkeitsgeschichtlich in einer Tradition, deren Spiritualität des inneren Gebets das „Gemüt“ als einen Ort der Gotteserkenntnis und der Gottesliebe identifiziert und in diesem Zusammenhang die Aufgabe der „Gemütsbildung“99 als eine zentrale Aufgabe geistlicher Begleitung und religiöser Erziehung beschreibt.100 In dieser Aufgabenbeschreibung konvergieren Ansätze katholischer und pietistischer Spiritualität. Antworten des Strauchschen Katechismus für die 2. Klasse gewinnen in diesem Kontext ein spezifisches Profil: - „Wie übet man die Hoffnung? Mit dem Bethen.“101 - „Worin besteht das Gebeth? In der Erhebung unseres Gemüthes zu Gott.“102 - „Worin besteht die Liebe Gottes? Dieß ist die Liebe Gottes, daß wir seine Gebothe halten.“103 - „Können wir die Gebothe Gottes halten? Ja mit der Gnade Gottes.“104 Zu prüfen wäre, wie in den katechetischen und geistlichen Schriften Strauchs auch die augustinische Ordensspiritualität zum Tragen kommt: etwa im Verständnis der Liebe als christlicher Grundhaltung, in der anthropologischen Gewichtung des Strebevermögens der menschlichen Seele sowie in der Auslegung der Glückseligkeit als Ziel des menschlichen Strebens. 98 99 100
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Bamberg und Würzburg: Göbhardt 1767. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Martin SCHREINER, Gemütsbildung und Religiosität, Göttingen 1992 (Arbeiten zur Religionspädagogik 8). Vgl. Louis DUPRÉ, Jansenismus und Quietismus. In: Louis DUPRÉ / Don E. SALIERS in Verbindung mit John MEYENDORFF (Hg.), Geschichte der christlichen Spiritualität. Bd. 3: Die Zeit nach der Reformation bis zur Gegenwart, Würzburg 1997, S. 145-167. Katechismus für die 2. Klasse, 2. Hauptstück, 1. Lektion. Zitiert nach der Ausgabe Trier 1822. Ebd. 3. Hauptstück, 1. Lektion. Ebd.
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Werner Simon
Wie aber – so bleibt abschließend zu fragen – versteht Benedikt Strauch selbst das Verhältnis von christlicher Religion und Aufklärung? Rainer Bendel macht in seinen Analysen der am Sonntag Laetare des Jahres 1765 – am „Gedächtnißtag des in Schlesien vor acht hundert Jahren eingeführten Christenthums“ – in der Stifts- und Pfarrkirche zu Sagan gehaltenen und im Jahr 1768 als Musterpredigt veröffentlichten Rede Strauchs105 auf einen Schlüsseltext aufmerksam, der uns bei der Beantwortung dieser Frage helfen kann.106 Strauch wählt in dieser Predigt die für die Aufklärung bezeichnende Lichtmetaphorik und ruft seine Zuhörer dazu auf, Gott, „dem Vater der Lichter [vgl. Jak 1,17], mit freudigen und frohlockenden Herzen [zu] danken, daß er heute vor acht hundert Jahren das Licht des Evangelii unserm Vaterlande aufgehen und das Christenthum einführen“107 ließ. Unter Bezugnahme auf Joh 1,9 erinnert er daran, dass Gott alle Menschen „erleuchtet“: „Die Religion lehret uns zwar, daß wir den Willen des himmlischen Vaters nicht thun, und seine Gebothe aus eigenen Kräften nicht halten können, es sey denn, daß uns Gott hiezu seine Gnade verleihe; diese fehlet aber keinem Menschen, Gott erleuchtet alle Menschen, die in diese Welt kommen, wenn die meisten dem Lichte seiner Gnade nicht folgen, so geschieht es aus eigener Boßheit.“108 Das „für unser ewiges und zeitliches Heil so wichtige Werk der Bekehrung Schlesiens“ ist keinem „blinden Zufall“ beizumessen, sondern der „erbarmenden Güte des Vaters der Lichter“.109 Das „Licht des Evangeliums“ führt zur wahren Erkenntnis Gottes und zur wahren Erkenntnis der Bestimmung des Menschen. Die christliche Religion hat insofern eine „aufklärende“ Kraft und trägt zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit bei, als sie den Menschen die richtigen Begriffe von Gott, von Christus als dem Erlöser und vom Menschen und seinen Pflichten gibt. Sie leistet darin zugleich einen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft, „indem sie jedem Stande solche Gesetze vorschreibet, mit deren Beobachtung die öffentliche Ruhe, die Glückseeligkeit des Staates aufs genaueste verknüpft ist“:110 „Ich sage mit kurzen Worten, sie machet nicht nur dem äußerlichen Scheine nach, sondern aus innerlicher Ueberzeugung gnädige und gerechte Obrigkeiten, gehorsame Unterthanen, billige Herrschaften, treue Dienstboten, züchtige Eheleute, weise Eltern, fromme Kinder, standhafte Freunde, ehrliche Handelsleute, arbeitsame Handwerker.“111 105
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Rede an dem Sonntag Lätare 1765 dem Gedächtnißtage des in Schlesien vor acht hundert Jahren eingeführten Christenthums gehalten, in der Stifts- und Pfarrkirche zu Sagan von Benedicto Strauch, des Fürstlichen Stifts Canon. Reg. Lat. Ord. St. Augustini daselbst, Priore et Proparocho, Bamberg und Würzburg 1768. Vgl. BENDEL (wie Anm. 50), S. 343-345. – DERS., Aufklärung und religiöses Leben in Schlesien. In: Joachim KÖHLER / Rainer BENDEL (Hg.), Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, Münster 2002, S. 577-613, hier S. 577-581. – DERS., Prediger im Bistum Breslau zwischen Jansenismus und Aufklärung. In: Wojciech KUNICKI (Hg.), Aufklärung in Schlesien im europäischen Spannungsfeld. Traditionen – Diskurse – Wirkungen, Wrocław 1996, S. 197214, hier S. 204f. Rede an dem Sonntag Lätare (wie Anm. 105), S. 18. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43f.
Benedikt Strauch – Reform von Schule und Katechese im Schlesien des 18. Jahrhunderts 295
Strauch gewinnt aus dem Verständnis der christlichen Religion als einer Offenbarungsreligion das Verständnis einer in dieser „Offenbarung“ selbst gründenden „Aufklärung“.112 Diesem Zweck dient auch die schulische Erziehung, für die er in seinen Büchern für den Religionsunterricht neue Medien bereitstellt: als Medien der Belehrung, der Bildung und der Frömmigkeit. Der Nekrolog verortet Strauch als den Vertreter einer „via media“: „In Ansehung seiner Religiosität will ich blos bemerken, daß sie auf ächt christlich katholischen Grundsätzen beruhete, und er in seinen Meinungen, so wie in seinen Handlungen, von der Mittelstraße nie abwich. Er prüfte alles, und behielt stets das Beste.“113
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Vgl. in diesem Zusammenhang auch die positionelle Verortung Johann Ignaz von Felbigers im Spannungsfeld von Orthodoxie, Jansenismus und Aufklärung: ROMBERG (wie Anm. 3), S. 4071. Nekrolog (wie Anm. 4), S. 365.
Horst-Alfons Meißner
DIE SCHULVISITATION DES KÖNIGLICHPREUSSISCHEN DECANUS UND PRAGER ERZBISCHÖFLICHEN VIKARS CARL WINTER IM JAHR 1770 IN DER GRAFSCHAFT GLATZ EIN BEITRAG ZUR PREUßISCHEN VOLKSBILDUNGSOFFENSIVE NACH DEN SCHLESISCHEN KRIEGEN
Annelies Maria gewidmet
1.
Schulpflicht und Schulrevision in der Grafschaft Glatz 1770
„Aus meiner Sicht ist zum Wohle der nachwachsenden Generation ein besonderes Augenmerk auf die Durchsetzung der Schulpflicht zu richten“, schreibt Kirsten Heisig 2010.1 Sie bezieht sich damit auf Beobachtungen im heutigen Berlin, wo sich u. a. viele Neubürger zu ihrem und des Landes Schaden der Schule entziehen. Probleme wegen dramatischer Schulpflichtverletzungen gab es schon einmal in Deutschland, aber vor 250 Jahren! „Bey gehaltener canonischen Kirchen- und Pfarr-Visitation wurde auch die hiesige Schule revidiret. Es zeigte sich gleich bey dem ersten Anblick, wie schlecht die Gemeinde die höchsten Schulverordnungen beobachtet […] Denn 1. trefft man nicht mehr denn 30 Kinder [19,6 %] zur Schule, wodoch der angefertigte General-SchulExtrakt [Schülerliste] ausdrücklich besaget, daß ihrer 153 schulfähig [schulpflichtig] sind. Es ist dieser beträgl. Abgang [Fehlzahl] dem Scholzen, und Gerichten [Gemeindevertreter] höchstens verwiesen / und aufgegeben worden, nach mißbrauchter Güte / durch Zwangsmittel die wiedersetzlichen Eltern zu rechte zu bringen.“2 Das schreibt, merklich ungehalten, der königlich-preußische Dechant, staatlicher Würdenträger und gleichzeitig Prager fürsterzbischöflicher Vikar in der Grafschaft 1 2
Kirsten HEISIG, Das Ende der Geduld, Freiburg 2010, S. 106. Protocoll welches Bey der Canonischen Visitation über dem Statum der sämtl. Schulen aufgenommen worden ist. Bey der Königl. Preusz. Souverainen Grafschaft Glatz Pro Anno 1770. (19.8. 1770 bis zum 5.1. 1771).
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Horst-Alfons Meißner
Glatz, Carl Winter, am 22. Oktober 1770 in Wölfelsdorf ins Protokoll der jährlichen Schulüberprüfung. Die Wölfelsdorfer verweigern sich mehrheitlich der fünf Jahre zuvor eingeführten allgemeinen Schulpflicht. Der hohe Geistliche erteilt „höchstens“, d.h. im Namen des Königs, dafür einen Verweis und gibt den Gemeindevätern auf, nachdem Güte nichts gefruchtet habe, die widersetzlichen Eltern durch Zwangsmittel „zu rechte zu bringen“. Damit meint er: zur Beachtung des „Königlich preußischen General-Land-Schul-Reglements für die Römisch-Katholischen in Städten und Dörfern des souveränen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz“. König Friedrich II. von Preußen hatte das Schulgesetz 1765 in Potsdam erlassen, das der besseren Schulbildung der katholischen Neubürger Preußens galt.3 Fünf Jahre nach Veröffentlichung des Schulreglements „für die RömischKatholischen“ in Schlesien und der Grafschaft Glatz visitierte der höchste Geistliche der Grafschaft, Dechant Carl Winter, 1770 pflichtgemäß alle Trivial-Schulen4 des Glatzer Landes, und das waren mehr als 80, um die Umsetzung des neuen Schulgesetzes zu überprüfen und zu fördern. Das Protokoll dieser Besichtigungsreise ist ein bemerkenswertes Dokument, das flächendeckend und schlaglichtartig über die Wirkung der preußischen Volksbildungsoffensive vor 250 Jahren und die Mentalität der Bewohner einer schlesischen Landschaft, des Glatzer Gebirgskessels, informiert, der nach der Annexion Schlesiens durch Preußen kirchlich weiterhin Teil des Erzbistums Prag blieb. Im Folgenden soll am Beispiel der Grafschaft Glatz aufgezeigt werden, wie mühsam und schwierig die Alphabetisierungskampagne für die Verantwortlichen war, weil sie in der Bevölkerung wenig Gegenliebe hervorrief. Nebenbei wird deutlich, dass sich in der Pionierzeit der Volksbildung Bildungsstrukturen entwickelten, die bis heute nachwirken. Die Träger der Schuloffensive waren durchweg Geistliche, deren Aufsicht über das Volksschulwesen mehr als 150 Jahre währte.
2. 2.1.
Hintergründe der Schulinspektion von 1770
Der Krieg um Schlesien
1740 kam es innerhalb der Grenzen des noch bestehenden Hl. Römischen Reiches deutscher Nation zum Krieg: Der Hohenzoller Friedrich II. von Preußen fiel unter dem Vorwand von Erbansprüchen in das habsburgische Schlesien mit der Absicht ein, es seinem Territorium anzugliedern. Endgültig gelang das erst nach 23-jährigem Kampf, als Maria Theresia im Frieden von Hubertusburg zwischen Preußen, Österreich und Sachsen am 15. Februar 1763 schweren Herzens auf Schlesien und die
3 4
Königlich preussisches General-Landschul-Reglement für die Römisch-catholischen in Städten und Dörfern des souverainen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz vom 3.11. 1765. Schulen, die die drei Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen lehren.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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Grafschaft Glatz verzichtete. Das überwiegend protestantische Preußen war reicher geworden, nun auch an Menschen katholischer Konfession. Während der Feldzüge hatte der aufgeklärte König erschreckendes Unwissen vor allem bei der Dorfbevölkerung erlebt. Die Ursachen? Es besuchten z. B. „im Fürstentum Neiße (Oberschlesien) von 7500 [schulpflichtigen Kindern] nur 445 die Schule [6%]“, in „ganz Böhmen zählte man höchstens 30 000 Schüler, den 20ten Teil der schulpflichtigen Kinder“.5 Zu Böhmen gehörte auch die Grafschaft Glatz.
2.2.
Die Volksbildungsoffensive Friedrichs II. von Preußen nach dem Krieg
Schon einen Monat nach Friedensschluss informierte Friedrich II. von Schweidnitz (Niederschlesien) aus die drei evangelischen Oberkonsistorien seines Landes und den Breslauer Weihbischof Johann Moritz v. Strachwitz6 über seine Absicht, die Volksbildung zu verbessern. Den Entwurf eines Schulgesetzes mit dem Titel „KöniglichPreußisches General-Land-Schul-Reglement, wie solches in allen Landen Sr. Königl. Maj. von Preußen durchgehends zu beobachten“,7 lieferte der Berliner Schulreformer Johann Julius Hecker,8 Friedrich II. unterschrieb es am 12. August 1763 in Berlin. Einleitend ließ sich der König wie folgt vernehmen: „Demnach Wir zu Unserem höchsten Misfallen selbst wahrgenommen, daß das Schul-Wesen und die Erziehung der Jugend auf dem Lande bisher in äussersten Verfall gerathen / und […] die jungen Leute auf den Dörfern in Unwissenheit und Dummheit aufwachsen: so ist Unser so wohlbedachter als ernsthafter Wille, daß das Schul-Wesen auf dem Lande / in allen Unsern Provintzen / auf einen bessern Fuß als bishero gesetzet und verfasset werden soll. Denn so angelegentlich Wir nach […] allgemeinem Frieden / das wahre Wohlseyn Unserer Länder in allen Ständen Uns zum Augenmerk machen: so nöthig […] erachten Wir es auch […], den guten Grund dazu durch eine vernünftige / sowol als christliche / Unterweisung der Jugend / zur wahren Gottesfurcht und andern nützlichen Dingen / in den Schulen legen zu lassen. Diesem nach befehlen Wir […] auf nachstehendes General-Land-Schul-Reglement feste zu halten […] damit der so höchstschädlichen und dem Christenthum unanständigen Unwissenheit vorgebeuget und abgeholffen werde, um […] in den Schulen geschicktere und bessere Unterthanen bilden und erziehen zu können.“9
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VOLKMER, Felbiger, S. 60f. Weihbischof Moritz v. Strachwitz leitete das Bistum Breslau, weil Friedrich II. die Loyalität des Fürstbischofs v. Schaffgotsch bezweifelte und ihn ins Exil nach Jauernig in Böhmen (Schloss Johannesberg) gedrängt hatte. Vgl. VOLKMER, Felbiger, S. 14. Königlich Preußisches General-Landschul-Reglement, wie solches in allen Landen Sr. Königl. Maj. von Preußen durchgehends zu beobachten, vom 12.8. 1763. Johann Julius Hecker (1707-1768): Prediger (Dreifaltigkeitskirche Berlin), Oberkonsistorialrat, Schulreformer. General-Landschul-Reglement von 1763.
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Horst-Alfons Meißner
Die „besseren Unterthanen“10 – Endzweck der Schulverbesserung – sollten „geschickter“, treu, gehorsam, vernünftig, brauchbar und arbeitsam sein.11 Friedrich beabsichtigte, das Schul-Wesen in „allen Unsern Provintzen“ nach diesen Nützlichkeitsgrundlinien zu verbessern – nicht nur in Schlesien, denn darin läge der gute Grund für „das wahre Wohlseyn“ der Menschen. Doch geschah des Königs Bildungsinitiative an einem pädagogischen Wendepunkt, denn just zu dieser Zeit – 1763 – erschien Rousseaus „Emile“ in deutscher Übersetzung, ein Erziehungsroman, der mit geradezu umstürzlerischen pädagogischen Ideen in interessierten Kreisen sofort großes Aufsehen erregte. Kant soll das Buch in einer Nacht gelesen haben. Rousseau lehnte die zweckdienliche Erziehung zum guten Untertanen ab zugunsten einer Entfaltung der Anlagen des ursprünglich guten Kindes durch eigene Erfahrungen. Im Licht dieser Neuorientierung, die mithalf, der Französischen Revolution den Weg zu bereiten, geriet das systemstabilisierende Werk Friedrichs II. von Anfang an als nicht mehr zeitgemäß unter heftige Kritik, und so verlor die an sich sehr verdienstvolle preußische Alphabetisierungskampagne an Glanz.
2.3.
Ein Schulgesetz für die katholischen Neubürger Preußens
Auf die Situation der vielen preußischen Neubürger katholischen Glaubens ließ sich das neue Reglement nach Meinung des Weihbischofs v. Strachwitz aber nicht so einfach übertragen,12 und dabei dachte er offenbar vor allem an Oberschlesien. Gründe waren neben anderen Traditionen die Betonung christlicher Erziehung, die sich zu jener Zeit nur im konfessionellen Rahmen denken ließ und die deshalb der Mitarbeit der Geistlichen beider Konfessionen bedurfte. Nur 200 Jahre nach der Reformation waren die Bekenntnisgräben noch zu tief für ein einheitliches Schulgesetz. Ein Jahr später, 1764, stellte der Minister für Schlesien, Ernst Wilhelm v. Schlabrendorff, bei einer Reise durchs katholische Oberschlesien selbst fest, dass die verantwortliche königliche Kammer in Breslau mit der Umsetzung des General-LandSchul-Reglements noch nicht weit gekommen war. Im Kreis Ratibor mit seinen 169 Dörfern fand er nur 30 Schulmeister vor und im Beuthener Kreis ganze sieben, die – im Gegensatz zu Niederschlesien – meist nicht einmal deutsch sprachen.13 Es fehlte vor allem an geeigneten Lehrern. Ernst Wilhelm v. Schlabrendorff, der seinem König regelmäßig berichtete,14 widmete sich dem Schulproblem nun persönlich. Er fand Kontakt zu Abt Johann Ignatz v.
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Damals hatte das Wort noch nicht den heutigen negativen Beigeschmack. FELBIGER, Kleine Schulschriften, S. 176. N.N., Nachrichten von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, S. 225. REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 322f. Verbesserung des schlesischen Schulwesens. Bericht des Etat-Ministers v. Schlabrendorff, S. 254.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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Felbiger15 aus dem niederschlesischen Sagan, der den Schlüssel zur Schulverbesserung bei den Lehrern sah. Felbiger überzeugte den Minister von der Notwendigkeit, Seminare (Pflanzstätten) für die Ausbildung katholischer Schulmeister zu schaffen16 und lieferte auch den Entwurf für einen neuen Schulerlass. Daraus wurde unter Bezug auf das bereits bestehende Schul-Reglement das spezielle General-Land-SchulReglement für die „Römisch-Catholischen in Schlesien“, dessen Veröffentlichung Weihbischof v. Strachwitz mit einem eindringlich empfehlenden Hirtenbrief an die Geistlichkeit der Breslauer Diözese begleitete, die den Religionsunterricht übernehmen und die Aufsicht über die Schulen führen sollte.17 An die Priester der Grafschaft Glatz schrieb der Prager Erzbischof.18 Damit waren die Weichen für ein evangelisches und ein katholisches Gleis in der preußisch-schlesischen Volksbildung gestellt. Nun gab es zwei Schulgesetze in Preußen, ein General-Land-Schul-Reglement aus der Feder des evangelischen Konsistorialrats Hecker (1763) und das des katholischen Abtes v. Felbiger (1765). Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung unterschieden sie sich nicht nur in der Länge. Johann Julius Hecker hatte bei dem Pietisten August Hermann Francke19 in Halle studiert und als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche 1747 die florierende Berliner Realschule gegründet. Im Gegensatz zu den lateinischen Gymnasien der Zeit, die auf den geistlichen Beruf ausgerichtet waren, orientierte sie sich durch einen neuen Fächerkanon an den realen Bedürfnissen auch anderer höherer Berufe. Daher die Schulbezeichnung. Hecker hatte neue Unterrichtsmethoden entwickelt und bildete auch Lehrer aus. Sein Entwurf umfasste 26 Artikel und stellte – wohl auf Wunsch des Königs – die allgemeine Schulpflicht an die erste Stelle und damit in den Vordergrund.20 Abt Johann Ignatz v. Felbiger hatte sich seit 1761 erfolgreich um die Verbesserung der katholischen Schulen des Saganer Klosterlandes bemüht und dazu – inkognito – Reisen zu Hecker nach Berlin unternommen. Die unterschiedliche Konfession hinderte beide Männer nicht daran, sich gegenseitig zu schätzen und voneinander zu lernen. Für den Abt lag das Grundproblem der Schule bei der Ausbildung der Lehrer, weil die Eltern ihre Kinder nach Saganer Erfahrung nur guten Lehrern anvertrauten, und so entwickelte er seine Saganer Stadtschule zu einer Muster- und Übungsschule, die bald zur Pilgerstätte für Schulreformer wurde.21
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Johann Ignatz von Felbiger, *1724 in Glogau, †1788 in Pressburg, begraben im dortigen Dom. Abt in Sagan und Schulreformer in Schlesien und Österreich. Circulare wegen der, zur Verbesserung des Catholischen Schul-Wesens […] anzulegenden Seminarien, S. 326-328. N.N., Nachricht von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, S. 230, und FELBIGER, Kleine Schulschriften, S. 65. Siehe auch das Quellenverzeichnis unter: Königlich preussisches General-Landschul-Reglement (1765). FELBIGER, Schulschriften, S. 66-68, Prager Brief vom 27.10. 1766. August Hermann Francke (1663-1723): Pietist, Pädagoge, Gründer der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale. General-Landschul-Reglement von 1763, Art. 1-6. Vgl. auch REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens in Schlesien. Vgl. N.N., Johann Ignatz von Felbiger sowie VOLKMER, Felbiger.
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Das „General-Land-Schul-Regelement für die Römisch-Katholischen“ (im folgenden GLR/rk) setzte deshalb die Lehrerausbildung an den Anfang der 73 Artikel und damit neue Maßstäbe.22 Die Bestimmungen zur allgemeinen Schulpflicht fanden sich erst in den Artikeln 25-36. In der Öffentlichkeit wurde das als Fortschritt gewürdigt, und der Berliner Probst Süßmilch fürchtete schon, die evangelischen Schulen könnten ins Hintertreffen geraten.23 Das GLR/rk sah die Gründung folgender katholischer Lehrerseminare vor: Breslau (Hauptseminar), Leubus, Grüssau und Sagan in Niederschlesien, Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz und Ratibor und Rauden in Oberschlesien.24 Ihr Besuch war nicht nur Lehramtskandidaten, sondern auch allen Geistlichen vorgeschrieben, die in Zukunft den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen erteilen und die Aufsicht über sie ausüben sollten. Ob die Passagen über die dürftige Lehrerbesoldung im Sinne des Ministers v. Schlabrendorff waren, ist fraglich, denn der sah den Anreiz zur Gewinnung besserer Lehrer vor allem in ausreichenden Gehältern.25 Er war es auch, der 1764 per Erlass den Basisunterhalt der nicht klostergestützten schlesischen Lehrerseminare, darunter Habelschwerdt, dadurch zu sichern suchte, dass er jeden neuen Pfarrer verpflichtete, das erste Viertel seines ersten Jahresgehalts in eine besondere Seminarkasse zu zahlen. Diese Steuer, Quarta seminaristica genannt, bestand bis 1856 und machte leider viele Pfarrer zu Gegnern der Reform.26 Beide Land-Schul-Regelements krankten schon aus zeitgenössischer Sicht - pädagogisch betrachtet, an der Nichtberücksichtigung emanzipatorischer Erziehungsideen eines J. J. Rousseau und an der Vorgabe von Unterrichtsmethoden, die, unbeabsichtigt, wieder das Auswendiglernen begünstigten, - wirtschaftlich gesehen, an der Verpflichtung der oft sehr armen Gemeinden zur Übernahme aller Schullasten einschließlich der Lehrerbesoldung, - sozial gesehen, an zu engen Kontrollen der Lehrer, die Eigenständigkeit und Initiativen erstickten, und an Mitwirkungsrechten der Grundherren, deren Interesse an besserer Volksbildung sich in engen Grenzen hielt. Pädagogisch neu war, dass beide Land-Schul-Reglements erstmals Schulpflicht, Lehrerausbildung, Unterrichtsorganisation, Unterrichtsmethoden, Unterhaltspflichten und Schulkontrollen, mithin alle wesentlichen Schulfragen, einheitlich fürs ganze 22 23 24
25 26
General-Landschul-Reglement von 1765, Art. 1-19. N.N., Johann Ignatz von Felbiger, S. 100, und REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens in Schlesien, S. 341, sowie VOLKMER, Felbiger, S. 29. Die Klosterseminare Grüssau, Leubus, Sagan und Rauden hatten ihren Unterhalt. Rauden (Oberschlesien) wurde vorgeschlagen, „weil im Hauptseminario zu Breslau niemand ist, der polnisch verstehet“. FELBIGER, Kleine Schulschriften, S. 513. Verbesserung des schlesischen Schulwesens, 254. Immediat-Bericht v. Schlabrendorff vom 30.10. 1765. Circulare wegen der, zur Verbesserung des Catholischen Schul-Wesens, 1764, S. 326-328, und VOLKMER, Felbiger, S. 21f. Die Breslauer Seminarkasse nahm 1765-1770 aus der Besteuerung der Pfarrer 6837 Reichstaler ein. Vgl. REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 347.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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Land regelten. Beide Schulgesetze leiteten deshalb trotz aller Mängel die Pionierzeit der Volksbildung in Preußen ein,27 und sie erlauben, die Berichte des Glatzer Dechanten Carl Winter einzuordnen und somit die Wirksamkeit der neuen Schulgesetzgebung am Beispiel eines Landesteils einzuschätzen.
2.4.
Die Durchsetzung des neuen Schulgesetzes
Felbiger bildete noch 1765 an seiner Saganer Stadtschule – auf eigene Kosten – 175 Personen ein halbes Jahr lang pädagogisch durch Vorlesungen, Unterrichtshospitationen und Lehrproben aus, darunter 105 Theologen, 47 Schulmeister, 15 zukünftige Seminardozenten und acht Personen, die als Seminardirektoren Gründungsarbeit leisten sollten, allesamt ebenfalls Männer des geistlichen Standes.28 Darunter war der junge Franz Günzel,29 den Dechant Christoph Joseph Exner, oberster Geistlicher der Grafschaft Glatz, auf Vorschlag des Prager Weihbischofs Kayser aus der Grafschaft nach Sagan geschickt hatte.30 Das Ausbildungsprogramm wurde von Felbiger selbst entwickelt, doch spielten Rousseaus Gedanken dabei ganz sicher noch keine Rolle. Weil sich die Grafschafter nicht durch Bildungshunger auszeichneten und zahlreich den „allerhöchsten Absichten“ widersetzten, glaubte die Breslauer Kammer nach einem Bericht des Dechanten Exner, dass es „mit der Schul- und Seminarieneinrichtung in der Grafschaft Glatz bis hieher keinen Fortgang“ nähme „und gedachter Decanus dem Werke nicht gewachsen zu seyn scheinet“.31 So wurde Abt Felbiger am 27. März 1766 gebeten, in die Grafschaft Glatz zu reisen, um pädagogische Geburtshilfe zu leisten. Der tatkräftige Schulreformer hielt sich vom 31. August bis zum 13. Oktober 1766 – wieder auf eigene Kosten – in Habelschwerdt auf und führte selbst die Pfarrer und Kapläne32 nach Saganer Muster in das neue Schulgesetz ein, um 27 28 29
30 31 32
Abt Johann Ignatz v. Felbiger reformierte ab 1774 im Auftrag Maria Theresias und mit Erlaubnis Friedrichs II. das österreichische Schulwesen. Vgl. ebd., S. 62. FELBIGER, Schulschriften, S. 481, und REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 334. Franz Günzel (*1742) „war, ohne Erlaubniß der Königl. Cammer, während des Krieges außer Landes gegangen, und in geistlichen Stand getreten. Dieses Vergehen wurde ihm erlassen, und erlaubet, zurück zu kommen, nachdem er sich der Schule gewiedmet. Er wurde auch zu Erlangung der geistlichen Beneficien fähig erkläret“. FELBIGER, Schulschriften, S. 330. Günzel hat die Priesterweihe erst später erhalten. Rührend ist Felbigers schriftliche „Letzte Anrede, an den, hier durch ein halbes Jahr in der Präparation gewesenen Diaconum, Herrn M. Franciscorum Günzel, der zum Inspectore des für die Grafschaft Glatz zu Habelschwerdt zu errichtenden Schulmeister-Seminarii bestelltet worden. Am Vorabend seiner Abreise“, die sein ganzes Engagement zum Ausdruck bringt. Ebd., S. 327-329. VOLKMER, Felbiger, S. 24f. FELBIGER, Schulschriften, S. 493f. – REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 344. Es gab 1766 in der Grafschaft 63 Kapläne, „die eher nicht, nach den Landesgesetzen, zum Besitz der Pfarretheyen kommen können“. Felbiger warnt den jungen Günzel in seiner Anrede vor ihnen, denn sie „werden gewiß nicht sehr geneigt seyn, sich von Ihnen viel sagen zu lassen“. FELBIGER, Schulschriften, S. 328.
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seine geistlichen Brüder für das Anliegen zu gewinnen. In Arbeitsteilung instruierte Seminarleiter Günzel die Schulmeister.33 Die Übungsschule, die schon am 24. Juni 1766 den Betrieb aufgenommen hatte, konnte im Sinne des Gesetzes schon mit guten Leistungen aufwarten, als die Habelschwerdter Lehrerausbildung am 1. September 1766 startete. Felbiger war übrigens der Meinung, dass man den Ort „sehr unschicklich zum Seminario für diese Grafschaft erwählet hatte“.34 Er schlug während seines Aufenthalts weitere pädagogische Pflöcke ein. Die 40 Grafschafter Pfarreien teilte er in vier Kreis-Schulinspektionen auf und wies Schulen in abgelegenen Dörfern ohne Pfarrer Kaplänen zur Betreuung und Aufsicht zu. Und mit Landrat v. Pfeil klärte er die Standorte neuer Schulen und die Einsatzorte der Schulmeister.35 Dem Abt gelang es aber nicht, dem Habelschwerdter Seminar eine sichere finanzielle Basis zu verschaffen, denn „niemand wollte etwas dazu beytragen“36 und das Geld der Quarta seminaristica war bald für die Ersteinrichtung ausgegeben und reichte für seinen Unterhalt nicht aus.37 Im Juni 1768 kam Felbiger erneut in die Grafschaft, um die Pfarrer mit Unterstützung des gerade visitierenden Prager Weihbischofs Kayser für eine engagiertere Mitarbeit an der Bildungsreform zu gewinnen. Deren „Pflicht“ und „schwerste Verantwortung“ war es nach Art. 43 des GLR/rk nämlich, „daß diesem Regl.[ement] überhaupt ein völliges Genügen geschehe“.38 Erfahrungen mit zahlungsunwilligen Schulverweigerern führten Felbiger auch zum Vorschlag, das Schulgeld nicht in demütigender Bettelei vom Lehrer einsammeln zu lassen, sondern per Umlage monatlich bei allen Gemeindemitgliedern zu erheben, „sie haben Kinder oder nicht, deren viel oder wenig“39 und dann vierteljährlich über den Scholzen an den Schulmeister zu zahlen. Der Überschuss (Surplus) sollte für Schulgeräte und die Schulbücher armer Kinder verwendet werden. Schlabrendorff entsprach Felbigers Vorschlag am 31. Dezember 1768.40 Minister v. Schlabrendorff starb 1769, damit verlor Abt v. Felbiger einen Gönner und Freund und die schlesische Volksbildung ihren Förderer. Unter dem Nachfolger regten sich ihre Widersacher: - Fortschrittliche, denen die Reform angesichts umwälzender Erziehungsideen nicht weit genug ging, - Geistliche, die sich über die Seminarabgabe, die Seminarausbildung und Aufsichtspflichten ärgerten und die Schulreform überhaupt für „unkatholisch“ hielten, weil des Lesens kundige Gemeindemitglieder die Bibel selbst auslegen konnten, 33 34 35 36 37 38 39 40
„Nach Anordnung des Dechants sollte jeder Pfarrer 6 Tage, jeder Caplan 14 Tage, jeder Schulmeister aber 3 Wochen in Habelschwerdt zubringen.“ Ebd., S. 502. Ebd., S. 501. Ebd., S. 505. Ebd., S. 506. Ebd. Nach Exners Anordnung mussten bei Fälligkeit 16 Pfarreien 80, elf Pfarreien 70 und 13 Pfarreien 50 Reichstaler in die Seminarkasse abführen. VOLKMER, Felbiger, S. 52. FELBIGER, Schulschriften, S. 272f. Ebd. Vgl. auch VOLKMER, Felbiger, S. 53.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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Herrschaften und Eltern, die den Entzug der kindlichen Arbeitskräfte fürchteten,41 Grundherren, die in der Bildungsreform sozialen Sprengstoff witterten.42 Da waren die Eckpfeiler der Volksbildung aber schon gesetzt: Schulpflicht und Lehrerausbildung, Ergänzung des Schulnetzes, Schulunterhalt und Schulaufsicht. Dass die grundlegende Schulreform – im ausgehenden Rokoko, zu Lebzeiten Goethes und Rousseaus, 24 Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution und immerhin noch sechs Jahre vor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – im Land so wenig Zustimmung fand, lag einmal an den damit verbundenen finanziellen Lasten, zum anderen daran, dass Friedrich II. der Bevölkerungsmehrheit die Aussicht auf ein würdigeres Leben schuldig blieb. Was ließ sich mit der Beherrschung der Basiskulturtechniken anfangen? So wurde aus der Volksbildungsoffensive von oben ein langer Kampf der Verantwortlichen gegen ein widerstrebendes Volk.
-
2.5.
Die Verantwortlichen in der Grafschaft Glatz für die Volksbildung ab 1765
Als oberste schlesische Behörden, zuständig auch für das Unterrichtswesen, fungierten die königlichen Kammern in Glogau und Breslau, deren Arm in der Grafschaft war um 1766 Landrat von Pfeil und um 1770 Landrat Carl Wenzel von Prittwitz und Gaffron.43 Als oberste Geistliche auf der Ebene des Breslauer Generalvikars, dem im dortigen Bistum das katholische Schulwesen unterstand, wirkten in der Grafschaft der königliche Dechant und fürsterzbischöfliche Prager Vikar Christoph Joseph Exner (1763-1766), dem Anton Rathsmann folgte, und ab 1767 Carl Winter mit Dienstsitz in Mittelwalde, ganz im Süden der Grafschaft gelegen. Winter war Glatzer. 1773 wurde er Domherr in Neiße und später Archidiakon.44 Carl Winter hatte somit zwei Dienstherren, den preußischen König, dem er seit 1764 durch den Eid der Treue verpflichtet war, wie alle katholischen Geistlichen, und den seit sieben Jahren ausländischen Prager Erzbischof.
3.
Carl Winters Schulrevision 1770 in der Grafschaft Glatz
Unter Beachtung der besonderen Attention, die Winter laut Art. 51 des neuen Schulgesetzes „auf diesen für den Staat so wichtigen Gegenstand“ zu richten hatte, führte er jährlich eine Schulrevision durch, verband sie aber mit der ebenfalls jährlich anste41 42 43 44
N.N., Nachrichten von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, S. 252. REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 344. Vgl. POHL / TAUBITZ, Bildungswesen, S. 14. Landrat v. Pfeil soll wegen Untätigkeit im Schulwesen abgesetzt worden sein. JUNG, Sie gehören zu uns, und KÖGLER, Chroniken der Grafschaft Glatz.
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henden Kirchenrevision, sodass er im Auftrag beider Dienstherrn, in Verfolgung seiner staatlichen und kirchlichen Aufgabe, regelmäßig in den Städtchen und Dörfern der Grafschaft erschien. Gegenstand dieses Aufsatzes ist die Kirchen- und Schulrevision, die Winter vom 19. August 1770 bis zum 7. Januar 1771 an 44 Tagen in der Grafschaft durchführte. Dabei besuchte er gut 40 Kirchen und 80 Schulen – eine Strapaze angesichts des noch wenig ausgebauten Verkehrsnetzes. Obwohl die Schulinspektion ein hoheitlicher Akt war, bekam der Erzbischof in Böhmen eine Abschrift des Visitationsprotokolls, die erhalten ist und diesen Ausführungen zugrunde liegt. Die Protokolle werden aber auch in Glatzer Dekanatsarchiv aufbewahrt. Dechant Winter war ein loyaler preußischer Untertan und die Schulreform kein Staatsgeheimnis. Der Preußische Staat und die Prager Kirche wirkten bei der Verbesserung des Grafschafter Schulwesens einträchtig zusammen – über die neuen Grenzen hinweg, und auch die Kombination der Überprüfung der kirchlichen und staatlichen Einrichtungen zeigt deren enge Verzahnung: „Daß vorstehendes Protokoll mit dem Original von Wort zu Wort gleichlautend seye / attestire pflichtmäßig. Mittelwalde d. 22. Martz 1771 / Winter“ steht über dem Dokument trotz vieler orthographischer und grammatischer Mängel, gemessen am Standard der Zeit, die nicht vom Dechanten selbst stammen können. Der Kopist schreibt gleiche Wörter in einem Text unterschiedlich und mal groß, mal klein, das gilt auch für Orts- und andere Namen. Manche Sätze hat er offensichtlich gar nicht verstanden. Und doch ist diese Sprache faszinierend und der Rohdiamant, den Zeitgenossen wie Goethe oder Kleist zu einem Brillanten schliffen. Aus Quellentreue ist in den Zitaten nichts geglättet worden.45 Übrigens gibt es auf der Kopie keine Randbemerkungen – ein Hinweis darauf, dass sie in Prag keinen Leser fand. Der königliche Dechant und erzbischöfliche Vikar, 1770 drei Jahre im Amt, war rangbewusst und legte Wert auf Außenwirkung und Respekt, vielleicht auch deshalb, weil ihn aufgebrachte Dorfbewohner bei der Schulvisitation 1768 übel beschimpft hatten.46 Seinen Besuch kündigte Winter, wie im Artikel 55 GLR/rk vorgeschrieben, in einem Rundschreiben so an: „Bey denen Kirchen- und Schul-Visitations-Actus beobachtet jeder Schulmann, und Glöckner folgendes. Bey Ankunft des Decani läutet derselbe, so wie bey dessen Abgang / mit allen Glocken; dann hat er schon dahin gesorget, womit [dass] die Kirchen rein ausgekehret, alle Altäre abgestaubet und mit weißer und reiner Wäsche bedecket, die Leuchter geputzet […] ganze Kerzen auf den Altären, und in Summa alles rein, und sauber seye […] Sobald der Decanus die Kirchen betritt, ist derselbe mit versammelter Schuljugend gegenwärtig […] Dann geschiehet die Visitation der Altäre; nach welcher der Schulmeister mit seiner Jugend zugegen ist, und dieselbige in der Christl. Lehre sondiret und befraget wird. 45 46
Zum besseren Verständnis wurden aber in manche Sätze senkrechte Striche eingefügt. REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens, S. 344.
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Nachdeme verfüget sich die Jugend stille, und in guter Ordnung in die Schule, und erwartet die Ankunft des Decani; wie bald derselbe die Schule betritt, stehet die Jugend, der Schulmann fanget mit dem Gebete die Schule an, und erwartet die Befehle vom Dechant, wie derselbe verfahren solle […].“47 Danach wird aufgezählt, welche Unterlagen der Schulmeister vorlegen muss, ein Beweis der engen jährlichen Kontrolle: Schülerlisten, Fleiß-Kataloge (Aufzeichnungen über die Lernfortschritte jedes einzelnen Schülers!), Stundenpläne, ein Inventarverzeichnis, das Seminarzeugnis, Einkommensnachweise, einen Nachweis über das öffentlich abgelegte Glaubensbekenntnis, Schriftproben von Schulmeister, Hilfslehrer und Kindern, Mietverträge, Nachweise über Nebentätigkeiten und u. U. den Vertrag über die Anstellung und Bezahlung eines Hilfslehrers.48 Überprüfen musste Winter gemäß GLR/rk, Artikel 54-62, vor allem: - die Schullisten, um Schulpflichtverletzungen fest- und abzustellen, - die Lernfortschritte der Kinder durch Unterrichtshospitationen und Einzelprüfungen im Vergleich mit den Fleiß-Katalogen, - den Einsatz der Pfarrer für die Schulen, - den Einsatz und Lebenswandel des Schulmeisters, - den Zustand des Schulgebäudes, der Geräte und Bücher sowie die Zahlung des Lehrergehalts. Ein zeitraubendes Programm, aber Winter ging es in den Pionierjahren der Volksbildung um die Ingangsetzung der Reform und somit in erster Linie um die Hauptprobleme: - Beachtung der Schulpflicht, - Lehrerqualitäten und Schülerleistungen, - Neu- und Ausbau der Schulgebäude. bzw. des Schulnetzes. Natürlich musste er sich dabei mit Finanzfragen aller Art befassen. Winter dokumentierte Eindrücke und Maßnahmen an jeder Schule gewissenhaft. Mängel suchte er in mühseliger Arbeit abzustellen, nie ließ er den Eindruck aufkommen, er wäre dieser Arbeit überdrüssig. Begleitet wurde Winter zeitweise von den Kreis-Schulinspektoren Anton Wenke, Pfarrer in Rückers, und Christoph Volckmer, Pfarrer in Reyersdorf, denen er als oberster Geistlicher der Grafschaft vorgesetzt war, und auch vom Habelschwerdter Seminardirektor Günzel, sodass er sich mit Experten über die Schulsituation austauschen konnte, die manchmal auch protokollierten. Die Schulinspektionen führte Winter gemäß Art. 55 öffentlich durch, d.h. in Anwesenheit der Ortspfarrer, der Scholzen und Gerichte. Das war sicher eine Belastung
47
48
„An die Schulmeister bey der Canonischen Visitation pro 1771“. Bis in die heutige Zeit kündigen sich Schulräte und Schulinspektoren bei den Lehrern und Schulen mit ihren Wünschen schriftlich an. Manche Schulmeister beschäftigten auf eigene Kosten Hilfslehrer, meist „Schulhalter“ genannt.
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für den Schulmeister, bedeutete aber Transparenz und Betonung der Mitverantwortung der Gemeindeleitung für die Schulreform. Die Protokolleintragungen wurden mit Datum und Ort an 44 Tagen vorgenommen, wobei Winter manchmal an einem Tag mehrere Schulen besuchte, und daraus lässt sich die Inspektionsreise in großen Zügen rekonstruieren.
3.1.
Die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht in der Grafschaft Glatz
Schulen gab es schon lange vor Inkrafttreten des GLR/rk in Grafschafter Pfarreien,49 doch noch keine Volksbildung, denn sie wurden kaum besucht. Die Schulmeister konnten ein bisschen lesen und schreiben, aber selten rechnen. Sie erteilten Einzelunterricht, währenddessen die anderen Kinder untätig waren und Chaos herrschte. Zahlungskräftige und bildungswillige Eltern engagierten deshalb Privatlehrer. Friedrich II. glaubte nicht an den Lerneifer seines Volkes, sondern setzte auf Schulzwang, den er 1765 so eingeführte: „Wir setzen daher hierdurch fest, daß alle Kinder […] der Städte sowohl, als der Dörfer ohne Unterschied, die Eltern mögen das Schul-Geld zu bezahlen im Stande seyn oder nicht, so bald sie das 6te Jahr vollendet haben, zur Schule geschickt werden, und solche bis zu Ende ihres 13ten Jahres besuchen sollen.“ (GLR/rk, Artikel 25) Daran änderten auch Zugeständnisse an die dörflichen Verhältnisse nichts, die darin bestanden, dass im Sommer50 Kinder ab acht Jahren Hüte- und Feldarbeiten durchführen durften. Bauern und Gutsherren mussten diese dafür vom Georgi- bis zum Michaelstag sonntags für den Wiederholungsunterricht freistellen.51 Darüber wurden Listen geführt. Im Winter, in Städten ganzjährig, gab es dagegen keine Ausnahmen vom Schulbesuch. Man könnte deshalb in den Dörfern auch von einer weniger frequentierten Sommer- und einer besser besuchten Winterschule sprechen, doch Carl Winter kämpfte für einen ganzjährig guten Schulbesuch. Versucht man, seine Notizen zum Schulbesuch numerisch zu fassen, kommt man auf folgende Tabelle:
49
50 51
POHL / TAUBITZ, Geschichte des Bildungswesens, S. 13. Winter berichtet anlässlich des Schulbesuchs in Oberschwedeldorf, dass Schulmeister Tobias Adelbert Seppelt per Stiftung „im Jahr 1685 an die Schule eine Camer […] erbauet, […] dass hiekünftig alle daselbst nachbleibende Wittichen der in Loco abgelebten Schulmeisters ihre Unterkunft haben sollen […]“. Protokoll Winter, 14.10. 1770. Von Georgi (23. April) bis Martini (11. November) oder nur Michael (29. September). Ein- bis zweistündiger sonntäglicher Wiederholungsunterricht für schulentlassene Kinder (Art. 27 und 28).
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Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
Tabelle 1: Beachtung der Schulpflicht Nr. 1 2 3 4 5
Merkmal Guter Schulbesuch Mäßiger Schulbesuch Schlechter Schulbesuch Ohne Unterricht/ohne Angaben Schulstandorte
Anzahl der Schulen 26 9 37 14 86
In v. H. 30,2 10,5 43,0 16,3 100,0
Die Daten zeigen, dass auch fünf Jahre nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes von der Glatzer Bevölkerung missachtet wurden. Bestärkt wurde sie darin von manchen Grundherren und sogar dem Sekretär des Glatzer Landrats, der Bauern noch 1768 zu verstehen gegeben haben soll, sie brauchten das neue Schulgesetz so ernst nicht zu nehmen. Felbiger, dem das zu Ohren gekommen war, informierte die Kammer und die rügte den Landrat.52 Die Schulpflicht durchzusetzen, war Aufgabe der Gemeinden, so wie heute. Winter hatte oft Grund zur Kritik und viel Arbeit, Scholzen und Gerichte von der Notwendigkeit des Schulbesuchs zu überzeugen.
Beispiele aus dem Protokoll In fast allen Dörfern besteht inzwischen ein gutes Schulangebot, und in abgelegenen Siedlungen wird es unter großen Anstrengungen neu geschaffen: „Diese Schule ist eine Filial-Schule von Lewin und erst anno Cur. [1770] erigiret [errichtet] worden, um dadurch den entlegenen Dörfern die Schul-Frequentirung möglich zu machen […] da selbige nacher Lewin allzu weit haben.“ (Hallatsch, 9.10.1770) Grund zur Freude, wie in Landeck und Neuweistritz, hat Winter bei den Untersuchungen zur Beachtung der Schulpflicht trotzdem selten: „Der Magistratus Loci eyfert für das Beste der Schule, und haltet die Eltern mit äußerster Rigeur an, ihre Kinder dahin zu schicken.“ (Landeck, 30.8.1770) „Es liegt dieser Ort in Bergen. Jedennoch kommen die Kinder fast alle zur Schule […].“ (Neuweistritz, 21.10.1770) Charakteristisch für die Gesamtsituation ist eher diese Notiz: Der Lehrer „würde […] die Kinder, […] deren sehr wenig in der Schule erscheinen / nach dem ächten Schul-Muster / vollkommen Bilden, [wenn] […] Scholzen und Gerichte die Eltern […] mit der gehörigen Schärfe und Nachdruck auf ihre Pflichten verwiesen, und ein […] ununterbrochenes Schulgehen der Kinder […] einführeten, wozu sie aber sowohl durch glimpfliche Vorstellungen, als auch geschärfte Ahndungen noch nicht haben gebäuget werden können […]“. (Reichenau, 14.10.1770) Winter maßregelt die Verantwortlichen deshalb bei Missachtung der Schulpflicht, droht mit Anzeige bei der Cammer (Regierung) und weist auf vorgesehene Strafen hin. Manche Eltern werden offen der Widersetzlichkeit beschuldigt, auch Grundherrn
52
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oder deren Verwaltern wird gelegentlich mangelnder Eifer bei der Durchsetzung des regelmäßigen Schulbesuchs unterstellt: „Übrigens hat man die Scholzen und Gerichte ernstlich ermahnet, mehr die Eltern anzuhalten, damit sie die Kinder zahlreicher und ordentlicher zur Schule schicken, welches auch sämtliche versprochen, und zu leisten sich anerboten haben.“ (Gabersdorf, 17.9.1770) „[…] nur dahin hat man es bey denen Eltern Schulfähiger Kinder noch nicht Bringen können, daß selbige mit mehrerem Eyfer solche zur Schule gesendet hätten. Ich habe […] den Gerichten nachdrücklich ihre saumselige Betreibung verwiesen, auch Bedrohet […] bey allerhöchster Instance Sie als nachlässige zu melden.“ (Tuntzendorf, 22.9.1770) „Zuletzt ist dem Richter von Brzezowie nochmalen eingeschärft worden, die Kinder zur Schule zu treiben, und die Eltern […] mit Gemäßigten Zwangsmitteln […] dazu zu verleiten, weil schon ein halbes Jahr die Schule vanciret [pausiert] […].“ (10.10.1770) In einer reicheren Gemeinde, die die gebotene Bildungschance nicht ergreift, wird Winter ausnahmsweise drastisch, weil „es eine Schande ist, wenn […] eine so merkliche Anzahl Schulfähiger Kinder abgehet, [fehlt]. […] Man hoffet sichere Besserung, bis zur künftigen Schul-revision.“ (Ebersdorf/Habelschwerdt, 5.11.1770) Winter nennt auch Zahlen, wonach man geradezu von Schulverweigerung sprechen muss: „[…] hat man auch die hiesige Schule untersuchet und gefunden, daß von 109 Schulfähigen Kindern nicht mehr denn 37 [34 %] zur Schule gehen. – Als man hierüber den Scholzen und Gerichte zur Rede stellte, so haben sie den Abgang der Kinder den Aelteren zur Last geleget, bey denen alle Ermahnungen und Bedrohungen Fruchtlos gewesen sind. Indessen versichert der Herr Verwalter von Seithen des Dominii / künftighin die nöthige Assistence [Hilfe] zu leisten […].“ (Kislingswalde, 11.9.1770) Aber es kommt noch schlimmer. Man zahlt das Schulgeld – und entzieht die Kinder dennoch der Schule! Am 3. Januar 1771 versammelt Winter in Mittelwalde die Gerichte von: „Herzogswald, Schönau und Schönthal und referirte Ihnen, wie dass […] von denen Dörfern, nur 7 Kinder sämtl. zur Schule gekommen, [4,4 %] ohngeachtet von 1. [Herzogenwald] 70, 2. [Schönau] 60 [und] 3. [Schönthal] 29 [= 159] Schulfähige Kinder sind, und das fixirte Schulgeld gehörig abgeführet worden […] So habe bey denen Gerichten angetragen, falls mit guten / die Eltern nicht dahin zu bringen sind, ihre Kinder zur Schule zu senden, die in dem General–Land-SchulReglement festgesetzte Strafen an Ihnen zu vollziehen. Haubtsächlich jenen Einwohnern, welche aus notorischer Renitence ihre Kinder von den Schulen zurück halten.“ (Mittelwald, 3.1.1771) In Spätenwalde verweigert man auch noch die Schulgeldzahlung. Winter kämpft gegen Engstirnigkeit und Trotz in zeitraubender Überzeugungsarbeit: „Wobey anzuführen kommet, daß Ich auch beym RevisionsActus die widerspenstige Eltern, welche nicht zur Schule ihre Kinder senden wollten, auch das […] Fixirte Schulgeld nicht bezahlten, durch ernstliche Ermahnung dahin gebracht, daß anitzo bedes befolget werde, nach der allerhöchsten willens Meynung.“ (Spätenwalde, 21.10.1770)
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Winter nimmt auch Armut nicht als Ausrede hin: „Die Kinder haben eine Zeit hier sehr wenig Schul gemachet, wegen den […] Blattern, und äußersten Armuth der Leuthe […] Ich habe alle nöthige Verfügung an die dortige Gerichte getroffen. Es stipuliren [versprechen] auch dieselben / alles zu thun, um ihre Kinder etwas lernen zu Laßen, und wenden allemal ihre große Dürftigkeit vor, allein / man hat es als eine Excuse [Ausrede] nicht acceptiret, weilen auch Kinder der ärmsten Eltern sollen zum Schulgehen angehalten werden, vermöge der allerhöchst erlaßenen Ordre im General Landschul Reglement.“ (Steinbach, 5.1.1771) Und der Dechant kümmert sich sogar um den Schulweg, wenn er Ursache schlechten Schulbesuchs ist: „Die abgänige Kinder sollen nächstens zur Schule kommen, und der Steig, den die Kinder zur Schule pahciren müßen, soll ehestens in einen besseren Stand gebracht werden.“ (Rothwaltersdorf, 17.9.1770) Versäumnisse der Grundherren prangert Winter vorsichtiger an: „Hie haltet es etwas härter [schlechter!] mit der Schul-Frequentirung, maßen die Assistence vom Domino und Gerichten die eyfrigste nicht ist. Folglich sehr wenig Kinder zur Schule gehen […].“ (Verlohrnwasser, 22.10.1770) In Neuwaltersdorf konfrontiert der Grundherr den Dechanten mit einem Sonderantrag: „Übrigens haben Sr. Gnaden / der Herr v. Frobel / dahin angetragen [beantragt], womit die Mägdchen / die bereits im Christenthum, im Lesen und im Schreiben unterrichtet sind, auch von [vor] […] 13 Jahren / könnten aus der Schule entlassen werden. Man hat diesem Vorschlag unter dieser Bedingniß accordiret [zugestimmt], damit allen diejenige gehalten sein sollen, denen Wiederholungs-Stunden unausbleiblich beyzuwohnen.“ (12.9.1770) Das ist am Rande der Legalität, denn: „Die Dorf-Kinder, welche öfters viel Fähigkeit besitzen […] könnten zwar auch vor dem Ende des 13ten Jahres die Schule verlassen, die Eltern […] aber müssen darüber ein schriftliches Attest von dem Pfarrer […] erhalten, und dieser vor dessen Ausstellung solche Kinder gehörig geprüft haben“, heißt es in Artikel 34. Damit sind eher Einzelfälle gemeint und keine Massenentlassungen. Doch ist v. Frobel einer der wenigen adligen Befürworter der Volksbildung und des Eigennutzes weniger verdächtig. Die Beispiele belegen, wie ungeheuer schwer es war, die Grafschafter vom Segen der allgemeinen Schulpflicht und vom Wert der einfachsten Kulturtechniken zu überzeugen, und wir wissen, dass dieser zähe Kampf, in dem Strafen wenig nützten, mehr als Hundert Jahre gedauert hat, denn so strikt, wie oft behauptet, handelte das absolutistische Preußen nicht.53 Gründe der Eltern, ihre Kinder der Schule zu entziehen, waren mangelnde Einsicht in deren Sinn, schlechte Lehrer, große Armut, die Notwendigkeit der Kindermitarbeit auf den Höfen, Krankheiten oder einfach notorische Widersetzlichkeit – letzteres eher nicht aus politischer Abneigung gegen den neuen Landesherrn, den König von Preußen.
53
MEIßNER, Schul-TÜV im 19. Jahrhundert. Vgl. auch NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit.
312
3.2.
Horst-Alfons Meißner
Lehrer und Schülerleistungen, Personalprobleme
In Habelschwerdt wurden die Grafschafter Schulmeister in Crash-Kursen ins GeneralLandschul-Reglement eingewiesen, denn sie durften ihren Schulen nicht lange fernbleiben. Darüber erhielten sie ein Zeugnis. Nur sehr alte Schulmeister scheint Dechant Exner von dieser Verpflichtung befreit zu haben,54 sodass nicht im Seminar präparierte Lehrkräfte 1770 schon Ausnahmen bildeten, die Winter im Protokoll vermerkt. Die pädagogische Erstinstruktion war eine herausragende Leistung des Habelschwerdter Seminars. Zeitgenossen klagten allerdings über das mangelnde Vorwissen vieler Lehrer, die vorher oft Handwerksgesellen, meistens Schneider, waren.55 Auch wenn die Kurzausbildung im staatlichen Auftrag nur ein Anfang sein konnte, demonstrierte sie doch Lehrern und Öffentlichkeit die besondere Bedeutung des Berufes, mit der auch die notwendige Hebung des Ansehens der Lehrer einherging. Es verwundert deshalb nicht, dass Beobachtungen über die Lehrer und ihre Leistungen einen großen Raum im Protokoll einnehmen, denn schließlich war und ist es der Schulmeister oder Schulleiter, der eine Schule prägt. Über den Schulmeister von Oberlangenau hält Winter am 7.10.1770 fest: „Hie Visitirte die Schule, und fande an dem Schulmann einen wahren Schulmeister, welcher vor seinen Dienst eifert, der mit gehöriger Capacitaet verbunden ist.“ Das ist eine knappe Beurteilung, aus der Lob und Hochachtung spricht. Anders in Neurode: „Beyde Docenten sind fähig / ihrem SchulAmte vorzustehen, obschon über ihre übrige Aufführung / eines und das andere anzumerken wäre. Die Kinder haben bey angestellter Prüfung ein Genügen gethan […].“ (21.9.1770) Die Beurteilung ist nicht schmeichelhaft. Winter würdigt das Potential beider Schulmeister, das sie aber im Unterricht offensichtlich so wenig ausschöpfen, wie sie sich durch einen vorbildlichen Lebenswandel auszeichnen. Sieht man den Protokolltext auf die Bewertung von Schüler- und Unterrichtsleistungen des Lehrers durch, kommt man zu folgender Tabelle: Tabelle 2: Unterrichtsleistungen Nr. 1 2 3 4 5
54 55
Merkmal Gute Leistungen/guter Unterricht Mittelmäßige Leistungen/ m. U. Schlechte Leistungen/[…] Keine Angaben/ ohne Unterricht Schulstandorte
Anzahl 47 7 16 16 86
in v. H. 54,7 8,1 18,6 18,6 100,0
„Da der Schulmeister Anton Ullmann Alters wegen von der praeparation [Seminarkurs] weggelassen worden […]“, heißt es am 18. September 1770 in Eckersdorf. N.N., Gedanken über die schlesischen Schulen, S. 109, und NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit, S. 350.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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Immerhin bezeichnet Winter fast zwei Drittel der Unterrichts- oder Lehrerleistungen aus damaliger Perspektive als gut oder mittelmäßig, ein erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, aus welcher Misere heraus die Pionierarbeit fünf Jahre zuvor begonnen wurde. Selbst die rudimentäre Lehrerausbildung in Habelschwerdt war offensichtlich ein Erfolg, und das spricht sehr für die Arbeit des Seminardirektors Günzel, aber auch für die Bereitschaft vieler Glatzer Lehrer, neue Wege zu gehen. Oft überzeugt sich der Dechant selbst vom Leistungsstand der Kinder, wie es das Gesetz ausdrücklich fordert: „Die Kinder dieser Schule haben bey gehaltener Untersuchung alle Satisfaction [Genugtuung] geleistet, so wohl in dem, was das Christentum, als auch das, was das Lesen, Schreiben, und Rechnen betrift.“ (Kunzendorf/ Biele, 14.9.1770)
Die „neue Lehrart“ Der Revisor erwähnt im Besuchsprotokoll oft die „neue Lehrart“, die Teil der Schulgesetzgebung ist und durch die Kurzausbildungen schnell verbreitet wurde. Sie muss hier ein wenig erklärt werden. Unter neuer oder auch beliebter Lehrart, die Felbiger zugeschrieben wird, aber von Hecker stammt,56 verstand man die Zusammenfassung aller pädagogischen Maßnahmen, also die moderne Didaktik zur Zeit der Einführung der neuen Schulgesetze. Mit ihrer Hilfe wollte man erreichen, „daß nicht, wie bisher meist geschehen, bloß das Gedächtnis der Schüler angefüllet, sondern deren Verstand aufgekläret und geübet werde“. (GLRrk, Art. 4) Felbigers pädagogisches Programm war, Begriffe zu vermitteln, die Seelenkräfte, den Verstand und die Urteilskraft der Kinder zu stärken.57 - Die Kinder wurden erstmals in Klassen und Lern-Abteilungen zusammengefasst. - Anstelle des Auswendiglernens sollte der Unterrichtsstoff durch das Katechisieren erschlossen und verstanden werden, d.h. durch Einsatz von Fragen und Erläuterungen. - Die Buchstabenmethode wollte Hilfe beim Auswendiglernen und Hersagen von Texten sein. Dazu wurden die Anfangsbuchstaben aller Wörter eines Textes zur Gedächtnisstütze an die Tafel geschrieben, auf die der Lehrer beim Lernen und Aufsagen zeigte. Für obigen ersten Satz sähe das so aus: D B w H b A u H v T s! Geistig beweglichen Kindern war das Hindernis statt Unterstützung. - Als Tabellisieren bezeichnete man die übersichtliche, aber wegen der Komprimierung schwer verständliche Zusammenfassung eines Stoffes in Tabellenform. Damit wurde eine Unterrichtssequenz eingeleitet, nicht beendet, weil Felbiger in der Schule wissenschaftlich arbeiten und den Kindern zu Beginn einer Lektion eine Vorstellung des Ganzen vermitteln wollte. Beispiele folgten danach. Das unkindliche, deduktive Vorgehen lähmte die Neugier und führte in Verbindung mit der
56 57
N.N., Nachricht von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, und REIMANN, Verbesserung des niederen Schulwesens sowie VOLKMER, Felbiger, S. 42. N.N., Nachricht von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, S. 234.
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Buchstabenmethode doch wieder zum Auswendiglernen kaum verstandener Texte. Peuker bezeichnete solche Methoden 1792 als Gedächtnis-Folter.58 Die Unterstufe verbrachte viel Zeit mit nutzlosem Buchstabieren von Wörtern, deren Erlesen erst danach folgte.59 Feste Stundenpläne, Wiederholungsstunden sowie Fleiß-Kataloge, gehörten ebenfalls zur „neuen Lehrart“.
Es gab noch keine Schulpsychologie. Die öden Buchstabier-, Buchstaben- und Tabellenmethoden waren fürsorglich gemeint, standen jedoch im Gegensatz zu den erklärten erzieherischen Absichten und führten bald zu Erstarrung und grundsätzlicher Kritik. Doch stellten sie anfangs wohl einen Gewinn für die Schule dar, weil sie orientierungslosen Lehrern methodischen Halt gaben. Dass sich diese Methoden sehr lange in den Schulen halten und zur pädagogischen Zwangsjacke werden konnten, lag weniger am Gesetz als an Lehrern, die sich mangels Capacitaet und Fortbildung daran klammerten – sicher aber auch an engstirnigen Schulinspektoren und am Stand der Wissenschaft. In Winters Protokollen – der Zeit der Einführung der „neuen Lehrart“ – findet sich noch keinerlei Kritik an diesem Methodenkomplex, denn dem Dechanten fehlt das einschlägige Problembewusstsein. Ein sachkundiger Zeitgenosse empfiehlt deshalb schon 1773 allen Revisoren, einen guten Lehrer als fachlichen Berater an den Besuchen zu beteiligen, der verborgene Unterrichtsmängel aufzudecken in der Lage sei.60
Beispiele aus dem Protokoll Die folgenden Beispiele malen ein buntes Bild der Personalprobleme und Lehrerleistungen während der Einführung der Volksbildung in der Grafschaft. Sie spiegeln auch den Druck, den der Dechant auf die Lehrerschaft ausübt, denn mit dem, was er zu sehen und zu hören bekommt, ist er oft unzufrieden. Die Eintragungen Winters können knapp sein: „Der Schulmeister lehret Gründlich […]“, heißt es in Spätenwalde. (21.10.1770) Die Rosenthaler Schule bietet, was Winter verlangen darf: „Kinder, die wirklich zur Schule gehen, sind förmlich, und nach der für Schlesien, und der Souverainen Grafschaft Glatz beliebten Lehrart Unterrichtet worden.“ (7.11.1770) Erfreut hält er über eine neue Schule fest: „Die Schule in Loco ist ganz neu, und der Schulmeister erst während der Zeit, wo die verbesserte Lehrart eingeführet ist worden, placiret […] worden. Er Lehret gründlich mit vielem Fleiße.“ (Friedersdorf, 12.10.1770) „Besuchte ich mit dem Schul Seminario Güntzel diese Schule, und fande mit vieler Zufriedenheit / bey 70 Kindern zur Schule / welche im Lesen, Schreiben, und in 58 59
60
GRÜNHAGEN, Das schlesische Schulwesen, S. 29. Ein Grund dafür war, dass die Lehrer häufig Einführungskurse begannen, weil die Kinder kontinuierlich eingeschult wurden, sobald sie das sechste Lebensjahr erreicht hatten. Die Aufnahme eines ganzen Jahrgangs um Ostern geschah erst ab 1801. N.N., Gedanken über die schlesischen Schulen überhaupt, S. 115.
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der Christlichen Lehre recht wohl unterwiesen waren […] Ich belobte den Eyfer des Schulmanns.“ (Ebersdorf/ Neurode, 18.9.1770) In Rückers probiert der Lehrer offenbar Neues: „Ein Beweiß: daß es möglich sey / Kindern Dinge beyzubringen / die andere Schulmeister unter dem Vorwande der Unmöglichkeit / außer Acht gelassen haben […] Beym Rechnen braucht man die gedruckten Tabellen.“ (12.10.1770) Zuweilen kann er sich über eine gute Zusammenarbeit von Pfarrer (Lokalschulinspektor) und Schulmeister freuen: „Diese Schule ist in einem sehr guten Stande, und wird der Unterricht der Jugend mit vielen Nutzen Vortheilhaftig gemacht, denn der Schulmeister Möcke zeuget, dass die Schulhaltung sein Ambt seye, und von Seiten der dortigen Geistlichkeit / wird eine unermüdete Wachtsamkeit vor den Flor der dortigen Schule angewendet […].“ (Grafenorth, 28.9.1770) In der Regel bringt Winter Mängel unmissverständlich zur Sprache: „Es scheint der angestellte Schulhalter Joseph Paul […] seinen Unterricht […] nicht so gedaulich gemacht zu haben, als es wirklich von einer höchsten Schulverordnung vorgeschrieben ist. Zumahlen die Kinder weder im Christentum, weder in anderen Stücken / Satisfaction geleistet haben. Man hat hierüber dem Schulhalter einige nachdrückliche Ermahnungen gegeben, und verspricht sich ins künftigen von seiner Schule eine bessere Erziehung.“ (Albendorf, 24.9.1770) Winter erteilt auch schriftliche Verweise und droht mit Anzeige bei der Provinzbehörde: „Mehr Hindernißen äußert das pflichtloße Betragen des Schulmeisters, unter welchen insonderheit zu bemerken sind: a) der Mangel der Bücher, an welchem lediglich der Schulmeister Schuld hat. b) Ist der Schulmeister in Ansehung der Vorschriften / nicht nach der erlassenen Anordnung verfahren […] Ich habe […] den Schulmeister zum General-Land-SchulReglement zurück gewiesen, und über das dem Schulmeister ein nachdrückliches Promemoria behändigen laßen. Sollte auf dieses seine Beßerung nicht erfolgen, so würde es nöthig sein, hierüber bey der Königl. Cammer klagbar zu werden.“ (Schröckendorf, 27.8.1770) Schlechte Arbeit lässt er auch einem alten Schulmeister nicht durchgehen: „Nach geendigter Kirchen-Visitation / verfügte man sich in die Schule […] und stellte über die gegenwärtige Jugend eine öffentliche Untersuchung an. Ich bemerkte sogleich / wie der Unfleiß und die Unordnung des alten Schulmeisters […] über die Schule herrsche, und […] man sich von der Verwaltung seines Amtes einen sehr mäßigen Nutzen versprechen könne. Ich verwiese ihm seine anhaltende Nachläßigkeit in Gegenwart seines Hr. Pfarrers […] mit nachdrücklichsten Worten, und bedrohete ihn mit der Entlaßung von seinen Posten, im Fall nicht […] seine Verbeßerung folgen würde. Eben diese Meynung habe ich dem Hr. WirtschaftsDirector Schneider geoffenbahret […].“ (Schönfeld, 6.11.1770) In Wilhelmsthal wären die Probleme durch die Einstellung eines Hilfslehrers zu lösen: „Kein Ort in der Grafschaft hat um das Schulwesen weniger getan als Wilhelmsthal […]. [So] ist der Schulmeister des Orts nicht im Stand / der Schule vorschriftsmäßig vorzustehen, weder der Jugend einen Unterricht zu geben, der gründlich Vortheilhaft und nach dem Muster des Seminary eingerichtet wäre. Man hat darauf
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angetragen [beantragt], damit ihm ein Schulhalter61 an die Hand gegeben, werde […].“ (28.8.1770) In Altwilmsdorf schaltet Winter den Kreis-Schulen-Inspektor ein: „Visitirte die dortige Schule, wovey Ich so gleich observiren mußte, daß der Schulmeister Teutsch zum Unterricht unfähig seye, welcher zwar einen Schul-Docenten62 haltet, allein, da eben derselbe von schlechter Capacitaet ist, so hat die Schulfähige Jugend einen großen Theil Zeit verlohren, ohne etwas gründliches von der Schullehre zu profitiren, dieserwegen habe so gleich an den Herrn Kreiß Inspector Wanke […] verfüget, den Schul-Docenten zu Cassiren [wegzunehmen] […] und dem Schulmeister […] seinen Sohn […] zu berufen […].“ (8.10.1770) Manchmal arbeitet ein Schulmeister lieber im Nebenamt: „Wurde bey revidirung der dortigen Schule observiret, dass der Schulmeister sehr nachlässig in seinem Dienste seye […] und mehr dem Gemeindschreiber Dienste, denn der Schule gewiedmet ist. Ich habe Ihme nachdrücklich seine Lauigkeit verwiesen […].“ (Ebersdorf bei Habelschwerdt, 5.11.1770) Ursache für schulische Missstände kann auch Trunksucht sein: „Die anhaltende Nachläßigkeit des Schulmeisters ist eine der Haubtursachen, daß die Jugend im Unterricht nicht weiter ist gebracht worden. Es sind zu diesem Leide Vorschläge zu seiner Amotion [Entfernung] gemacht worden […] Da der Schulmeister Weber […] selber auch eingesehen hat, daß eine Amotion erfolgen würde, wegen dem außschweiffen beym brandwein Trunke, so ist er Ende Octobris weggelaufen […].“ (Gabersdorf, 17.9.1770) Die Besetzung der Lehrerstellen in armen und entlegenen Gebirgsdörfern ist wegen der Besoldung ein großes Problem, das Winter manchmal nur auf Kosten der Unterrichtsqualität lösen kann: „Zu Bielendorf [740 m ü. NN] hat man im Nothfalle einen Mann aus der Gemeinde / Franz Gottwald Namens / zum Schulhalter gewählet, der zwar nicht praepariret ist [ohne Seminarkurs], doch aber nach seinen Kräften beflißen ist, die Kinder […] im Buchstabiren und Lesen, unterrichtet, auch / wie möglich / in der Schreib-Art unterweiset […].“ (29.8.1770) Und entgegen verbreiteter Meinung, Friedrich II. habe nach dem Krieg seine Unteroffiziere in die Schulen geschickt, geschah das nach Neugebauer63 eher selten und in der Grafschaft nur einmal in Altgersdorf. Winter, nicht ohne Skepsis, lobt aber die Arbeit des noch aktiven Soldatenlehrers, der nur Dank seines Soldes in dieser bettelarmen Gebirgsgemeinde als Lehrer existieren kann, und nimmt den militärbedingten Unterrichtsausfall ohne Kritik in Kauf: „Altgersdorf, die Schule ist in einem sehr guten Flore [in Blüte], und der Schulhalter, ohngeachtet Er ein Soldat ist, eyfert rechtschaffen vor seinen Schuldienst. Jedennoch ist alldorten keine Schule zur Exercir-Zeit gehalten worden.“ (29.8.1770)64 Den Abschluss dieses Abschnitts soll der Eintrag über die Glatzer Stadtschule bilden, wo Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden. Winter beschreibt Miss61 62 63 64
Junger Hilfslehrer, den der Schulmeister zu bezahlen hatte. Hilfslehrer, s.o. NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit, S. 353-355. Die Soldatenlehrer hatten zweimal jährlich (Frühjahr und Herbst) Regimentsdienst. Ebd.
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stände in der Jungenklasse und nennt auch deren Ursache, nämlich den Vorrang der Kirchenmusik vor der Unterrichtsarbeit. Das widerspricht der Vorschrift und ist Kritik am Rektor der Jesuitenniederlassung: „Dato wurde die hiesige Stadt-Schule überraschet und jede einzelne Clahse besonders Visitiret. Die Mägdelschule fande man in einem sehr guten Lehr- und Sitten Stande, welches dem […] Fleiße […] des Schulhalters Kristeinel mit Recht zugeschrieben werden kan. Die Knaben-Schule hingegen wurde etwas unordentlich Betroffen, weil dieselben / so wohl in dem angestellten Examine keine hinlängliche Satisfaction leisteten, als auch solche ausschweifende Arten und Sitten äußerten, die der Beliebten neuen Methode […] gar nicht gemäs sind. Diese unordnung mag aus keiner andern Quelle herrühren, als […] die Docenten sich mit gar zu vieler Kirchen-Musique beschäftigen müssen, wo als denn die Kinder gar zu oft […] sich selbst überlaßen werden.“ (Glatz, 17.10.1770)
3.3.
Die Schulgebäude und Unterrichtsstätten
Die Hebung der Volksbildung war auch an die Schaffung der baulichen Voraussetzungen gebunden, und die kostete viel Geld, einmal wegen notwendiger Reparaturen oder Gebäudeerweiterungen, zum anderen deshalb, weil in der Grafschaft die Zahl der Schulen in kurzer Zeit ungefähr verdoppelt werden musste, um allen Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Die Kinder hatten laut GLR/rk, Art. 12, nämlich ein Recht auf kurze Schulwege, die im Gebirge nicht länger als zwei km sein sollten. Die erheblichen Mittel für die Baumaßnahmen oder auch die vorübergehende Anmietung von Unterrichtsräumen mussten die oft bitterarmen Gemeindemitglieder aufbringen, direkt oder auch indirekt über die Grundherren, deren Einkommen sie erwirtschafteten. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Einwohner diese Investitionen scheuten und nach Kräften hinauszögerten, manchmal sogar auf Kosten der Gesundheit der eigenen Kinder. Versucht man, die Bemerkungen Winters über die Schulgebäude ebenfalls numerisch zu fassen, ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 3: Aussagen über Schulgebäude Nr. 1 2 3 4 5 6
Zustand der Schulhäuser funktionsgerecht reparaturbedürftig erweiterungsbedürftig Neubaufällig neu zu errichten ohne Angaben Schulstandorte
Anzahl 53 3 5 17 6 2 86
in v. H. 61,6 3,5 5,8 19,8 7,0 2,3 100,0
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Demnach waren im Jahr 1770 Baumaßnahmen an mehr als einem Drittel der Schulstandorte erforderlich. Winter drängte nachdrücklich auf die Reparatur schadhafter Gebäude, auf den Bau separater Lehrerwohnungen, wenn Lehrerfamilie und Schulkinder sich in der Schule noch einen einzigen Raum teilen mussten, auf Erweiterung der Schulen bei hohen Schülerzahlen und auf den Neubau von Schulen bei Baufälligkeit oder an neuen Standorten. Auch für Reinlichkeit und eine gute Ausstattung mit Büchern und Geräten trat er ein. Der Leser bekommt einen Eindruck von der Schwierigkeit, die nötige Ausstattung und die nötigen Mittel dafür zu beschaffen. Und er muss konstatieren, dass die Erweiterung des Schulnetzes in dieser Größenordnung neben der Erstausbildung der Lehrer die zweite große und zukunftsweisende Tat der Bildungskampagne in der Grafschaft war. Die Karte der Grafschaft zeigt die im Jahr 1770 bestehenden und die sechs neu zu errichtenden Schulen sowie den Zustand der Schulgebäude. Danach sind z. B. im abgelegenen und verarmten böhmischen Winkel westlich von Hallatsch um das spätere Bad Kudowa alle Schulen neubaufällig. Neue Schulen müssen in der Gebirgsregion errichtet werden, um auch den Kindern dort den Schulbesuch zu ermöglichen.
Beispiele aus dem Protokoll: Lobend äußert sich Winter zu folgenden Gemeinden, wo gute Bauzustände schon Ergebnis seiner Arbeit sind: „Das Schulgebäude ist ganz neu erbauet worden.“ (Hauhsdorf, 20.9.1770) „Das Schulgebäude ist in Stand gesetzt, und an Geräthschaften alles vorfindig, was zu einem Vorschriftsmäßigen Schule halten vonnöthen ist.“ (Kislingswalde, 11.9.1770) Befriedigt vermerkt der Dechant auch kleine Verbesserungen seit der letzten Visitation: „Die Schul Stuben ist durch ein Fenster lichter geworden, und die ehemalige Dumpfigkeit durch einen Abzug weggebracht worden.“ (Gabersdorf, 17.9.1770) Der Wünschelburger Schule fehlt ein zweiter Klassenraum, außerdem ist er ungesund: „Die Haubthindernis dieser Schule ist eigentlich das Schulhaus […] Es gehet eine Schulstube ab, und dieses verhindert den zweyten Docent in seinem Lehramte. Die Stube, in der Schule gehalten wird, ist eben in so schlechter Verfassung, dass zu beförchten ist, denen Kindern werden die größten Krankheiten zugezogen werden.“ (23.9.1770) Auch [Bad] Reinerz braucht einen zweiten Unterrichtsraum, kann jedoch den geplanten nicht bezahlen, und so muss sich Dechant Winter einschalten: Die Schule könnte noch wirksamer arbeiten, „wenn die Clahsen könnten von samen abgesöndert [getrennt], und in besondern Schul-Stuben gelehret werden. Dieses accrochiret [bezieht] sich […] auf ein […] zur höchsten Approbation [Bewilligung] eingeschicktes Schul-Bau-Project […] Weilen nun aber sich […] aufkläret, daß so thaner Vorschlag in Ansehung der arme Contribuenten [Beitragspflichtigen] […] gar zu Kostbar ausfalle, so haben sich der zeitige Königl. Herr Decanus und Erzbischöfl. Vicarius Winter interponiret [eingeschaltet], und […] dahin angetragen, womit […] eben […] der Bau-Riß geändert, […] und der Bau-Etat um ein merkliches herabgesetzet werde […].“ (11.10.1770)
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An manchen Orten zögern die Gemeinden Reparaturen und Neubauten trotz mehrmaliger Ermahnung hinaus: „Zuletzt besichtigte man das Gebäude welches noch in dem allten Baufälligen Zustande befunden wurde, ohnerachtet die Scholz und Gerichte bey jeder ehemaliger jährlichen Schul-Visitation zum Baun angehalten worden. Sie stipulirten also aufs neue, die Reparatour ohne fernere Renitence zu befolgen […].“ (Niederhannsdorf, 15.10.1770) „Da ist noch nicht die Schule gebauet, welche schon vor einigen Jahren hat sollen gebauet werden, dennoch soll künftiges Jahr ganz sicher der Bau vor sich gehen.“ (Neundorf, 7.11.1770) In Deutschtzerbeney bemüht Winter den Grundherrn zur Fertigstellung der Schule, nachdem die Kirche schon erhebliche Mittel beigesteuert habe: „Es hat sich […] vorgefunden, daß der angefangene Schulbau […] unterbrochen wurde, weil […] kein Bau-Geld […] mehr vorhanden wäre, zum Theil auch […] die Gemeinde Zdareck, sich der schuldigen Hand- und Roß-Roboth […] [Hand- und Spanndienste] nicht unterziehen wollten. Wenn nun aber die allerhöchste Königliche und Erzbischöfl. Intention […] dahin gehet, alle Landes-Schulen, […] ohne Zeit-Verschub in vollkommenem Stande zu wissen […] auch von Einem hohen Erzbischöfl: Prager Officio nebst 30 Stämmen Bauholz […] aus dem Kirchen-Walde […] noch 100 rth. baares Geld aus dem hiesigen Kirchen-Orario zum Behuf des Schulbaues gnädigst nachgegeben [bewilligt] worden […] so wird […] [der] […] Status der […] Schule, welche schon unter dem Dache stehet und noch dieses laufende Jahr mit wenigen Kosten ausgebauet werden kann, hiemit […] einem Hochgräfl: Excellenz und Dominio v. Leslie [berichtet] […] mit höflichstem Gesuch […] solche Recherchen [Maßnahmen] gütig zu treffen, auf daß solcher [Bau] noch dieses laufende Jahr zu Ende gebracht […] [werde].“ (9.10.1770) In Lichtenwalde sind Lehrerwohnung und Unterrichtsraum noch eins und die Schulkinder werden unfreiwillige Zeugen des Lebens der Lehrerfamilie, was natürlich nicht im Sinne des Landschul-Reglements ist: „Es muß eine Neben-Stube gebauet werden, vor die Familie des Schulmeisters, um dadurch die Jugend abzusöndern.“ (Lichtenwalde, 5.11.1770) In Altwaltersdorf wird ein Machtspruch des Landrats nötig, weil man sich in der Gemeinde nicht über die Baukosten einigen kann: „Anbey besichtigte man das Schulgebäude, welches in einem sehr baufälligen Zustande betroffen wurde. Auf die / in Betracht desselben / unterbliebenen höchst nöthigen Reparatour / von des Hr. Decani Winter gemachten Anfrage / Repondirten des hochgräflichen Wallisischen Wirtschafts Directeur / Herr Franz Hopf / mit Beystimmung des Scholzen und Gerichten, dass die […] Reparatour […] unterblieben seye, […] weil unter den GemeindLeuthen noch einige Differenzien […] in Ansehung der […] Bau Kosten […] herrscheten, welche nicht anders, als durch einen gnädigen Machtspruch des zeitigen Herrn Krigs- und Landrath v. Brittwitz Hochwohlgebornen / gehoben werden könnten.“ (19.10.1770) Winter moniert auch Verwahrlosung von Schulgebäuden: „Die Schulstube soll geweißet und überhaubt das Schulhauß in bessere Ordnung gebracht werden.“ (Eckersdorf, 18.9.1770)
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Schwierig und zeitraubend ist die Gründung einer neuen Schule in einer finanzschwachen Siedlung, so z. B. in Martinsberg: „Was die neu anzulegende Schule in Martinsberg anbelangt, darüber ist […] mit dem gnädigen Dominio Mündlich Conferiret und ein Extra Protocoll dawieder geschrieben worden.“ (Neuwaltersdorf, 12.9.1770) „Nachdeme die Differenz wegen der neu zu erbauenden Schule zu Martinsberg dahinn regulieret worden, […] daß die Gemeinde Martinsberg mit Ziak-Weihswasser sich verobligiren [verpflichtet], dem neu anzustellenden Schulhalter eine eigene Wohnung [Schule] zu bauen […] Die Materialien sollen von Seiten des Hochreichsgräfl. Wallisischen Dominy gratis gegeben werden […].“ (Kuntzendorf, 14. 9. 1770) Für die Bauzeit in Martinsberg findet Winter nach einem Ortstermin eine Übergangsregelung: „[…] weilen aber das Schulhauß / Erst bis künftiges Frühjahr kan erbauet werden, so wird derselbe [Lehrer] indesenes, in dem Außdingl: Stübel [Alterssitz] bey dem […] Stukmann Joseph Gottwald, Schulhalten und zugleich wohnen, welches auch fügl: angehet, da ich in Loco selbst gewesen, und dieserhalb diese Wohnung in Augenschein genommen habe, gemäß Beylage.“ (Kuntzendorf, 14.9.1770) An manchen Orten wurde eine Schule eingerichtet, doch zu Winters Bedauern auf den Bau eines Schulhauses verzichtet: „[…] und ist nur Schade, daß bey Erigirung [Errichtung] dieser Schule man nicht dahin gedrungen hat, ein eigenes Schulhauß dem Schulmeister zu erbauen. So verhaltet es sich mit der Schule zu Schreibendorf, wo eben kein eigenes Schulhauß ist, sondern der Schulhalter in seinem Hauße dociret […].“ (Bobischau, 4.1.1771) Die Anmietung von Gebäuden für Schulzwecke wurde öfter nötig. An den erforderlichen Mitteln mangelt es auch in Wölfelsgrund: „Wurde […] wegen der in Loco zu etabulirenden neuen Schule / an den Scholzen und die Gerichte die Anfrage gethan, In wie weit der Bau […] Fourniret [versorgt] worden? Mann hat befunden, wie daß das Holz zwar bereits geschlagen […] seye – allein […] der Bau des Schulhaußes accroichiret [verhindert] sich einzig in diesem, dass die Gemeinde aus eigenen Kräften die Geldlasten nicht ertragen könne. Dieserwegen habe bey dem Inspecteur Hauck angehalten, dieser armen Gemeinde / einen Vorschuß aus Herrschaftl. Renten zu accordiren [zu bewilligen], womit nicht länger der nöthige Schulbau verschoben werde und die dortige Schulfähige Jugend ohne allen Unterricht bleibe […]. Es hat auch der Hr. Inspecteur Hauck den Gesuch acceptiret, und hoffet, die Verwittibte Frau Excellence Gräfin von Althanin / werden dahien condehcendiren [einwilligen], daß der Vorschuß aus ihren Renten / werde […] geschehen dürfen […].“ (26.8.1770)
3.4.
Bargeldmangel in der marktfernen Grafschaft
Hilfen für den Unterhalt der Schulen und die Lehrergehälter gibt es auch für bettelarme Gemeinden nur in Ausnahmefällen und für arme Familien nur dann, wenn die
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Bedürftigkeit von der Gemeinde anerkannt worden ist. Winter muss Bittgänge zu den Grundherrn machen, um seine Ziele zu erreichen. Zu bedenken ist dabei, dass Bargeld immer knapp war, denn die Landwirte der Grafschaft waren Selbstversorger und weit von Märkten entfernt. Dienstleute bei Bauern und auf Gütern wurden deshalb hauptsächlich mit Naturalien entlohnt. Die Gehälter der Lehrer bestanden aus dem festgesetzten, fixierten Schulgeld pro Kind, dem Beitrag der Eltern, ab 1768 als Beitrag von allen Einwohnern durch die Gemeinden kassiert, sowie aus Sachleistungen im weitesten Sinne, auch als Emolumente (lat. Vorteil, Nutzen) bezeichnet, die von den Gemeinden und Grundherren kamen. Bargeld erhielten die Lehrer öfter auch für den Kirchendienst, ihr zweites Amt, z. B. für die Assistenz bei Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen und das Läuten der Glocken. Der bargeldlose Gehaltsteil war vertraglich festgelegt und konnte aus folgenden Leistungen bestehen: freiem Wohnen, aus der Lieferung von Feldfrüchten (Garben, Getreide), der Nutzung von Gärten, Grünland und Äckern, der Lieferung von Brennholz, der Gestattung von Geldsammlungen an bestimmten Festen von Haus zu Haus, aus Dienstleistungen wie z. B. dem Schlagen, Anfahren und Hacken von Brennholz sowie aus Holzscheiten, die die Kinder im Winter wöchentlich zur Schule mitbrachten. Der Lehrer und seine Frau mussten auch etwas von der Landbewirtschaftung verstehen.
Beispiele aus dem Protokoll Nur in wenigen Gemeinden war das Lehrergehalt kein Problem: „Das Jährige Fixirte Salarium ist an den Schulmeister richtig bezahlet worden.“ (Kieslingswalde, 11.9.1770) „Das Fixirte Schulgeld, und Surplus / ist gehörig an seine Behörde abgeführet worden. Wovon man zum Besten der armen Kinder, Bücher, und anderer noch abgängigen Schul-Bedürfnißen besorget worden sind.“ (Ludwigsdorf, 20.9.1770) Aber in Lauterbach muss den Dorfoberen „mit Nachdruck aufgetragen [werden] künftighien beßer das Fixum Salarium und der Surplus zu bezahlen […]“. (6.11.1770) Andere Siedlungen, hier Klein Tschischeney und Kuttel im böhmischen Winkel, bitten „nach dem Beyspiel vieler andern Gemeinden in der Grafschaft das besagte Fixum wegen ihrer nothorischen Armuth“ durch Genehmigung der Königlichen Kammer herabzusetzen. (Lewin, 10.10.1770) In Niederhannsdorf hat Winter „einige Kinder ohne eigene Bücher wahrgenommen, worüber die Scholzen und Gerichte nochmalen mit Nachdruck angehalten worden, denselben Eltern, die nicht als Arme gerichtlich [d.h.: von der Gemeinde] anerkannt werden, zur promten Anschaffung des nöthigen Schulgeräths für ihre Kinder mit Schärfe und Exemplarischen Ahndungen anzusehen [anzuhalten]“. (15.10.1770) In Wölfelsdorf „aeußerte sich auch bey den wenigen Schulkindern der Mangel an Schulbüchern, so zwar: daß größtentheils ihrer zwey aus einem Buche Lesen musten. Man hat zur Hebung dieses Hindernisses der Gemeinde die Wahl gegeben: Ob die Bücher […] mit Zuziehung […] des Hr. Landrath v. Brittwitz […] sollen verabfolget
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werden, oder aber / Ob Scholzen und Gerichte / vermögende Eltern dahien anhalten wollen, ihren Kindern darmit Vorsehung zu thun.“ (22.10.1770) Die Gemeinde wählt natürlich die zweite Möglichkeit. Erstaunen ruft hervor, dass Kinder ohne Schulbücher 1770 nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind! Besonders schwer ist es für Winter, in den entlegenen und verarmten Gebirgsgemeinden Lehrergehälter dauerhaft zu sichern. Öfter muss der Dechant dort einen Gewerbetreibenden als Lehrer vorschlagen, was in Einzelfällen gem. Art. 14 GLR/rk auch erlaubt ist. In Droschkau muss der Schulmeister zwei Nebentätigkeiten zum Lebensunterhalt ausüben: „[…] da die Schule eine ganze Stunde entlegen ist, so gehet gar kein Kind zur Schule. Man hat dahero angetragen […] einen eigenen Schulhalter anzusetzen, welcher nebst seinem stillen Gewerbe / die Kinder instruiren sollte, auch das Filial Zolleinnehmer Dienst zugleich versehen könnte […] folglich recht wohl dabey bestehen würde […].“ (Droschkau, 15.9.1770) Auch wenn der Lehrer – zu Lasten der Schularbeit – nebenher ein Gewerbe betreibt, kann es für eine Gemeinde, z. B. das 700-900m hoch gelegene Wölfelsgrund, schwer sein, das Restgehalt aufzubringen. Winter erstellt in solchen Fällen Gehaltspläne, die Einblick in die Finanzkraft der Gemeinden geben. Sobald das Schulhaus fertig sei, schreibt er, „soll ein Schulhalter dahin placiret werden. Wobey es sich von selbst ergiebet, daß man einen solchen Mann wird wählen müssen, welcher nebst seinem Gewerbe / die Kinder unterrichtet, und mit Wohnung, etwas Holz, und dem Fixirten Schulgeld / contentiren [begnügen] sich muß […].“ „Da diese Gemeinde sehr arm ist, das Kirchdienst soll Ihme überlassen werden und vom Wetter Leiten“ „Jährl. zusammen an fixirten Schulgeld“ „Ihme accordiret die Gemeinde 2 Umgänge an George und Michaeli von 46 Häusern“ „Item vom Dominio 4 Klaftern Holz zu“ „Summa“
2 rth. 12 rth. 2 rth. 2 rth. 18 rth.
„Denn freye Wohnung, Item ein Kuhe zuhalten, der Trieb im Walde, an Garten Futter ist etwas beym Hauße, von diesem könnte nun wohl […] ein Mann nebst seinem Gewerbe Leben, und Schule halten.“ (26.8.1770) Ein elender Lohn, der zudem teilweise in „Umgängen“ von Haus zu Haus erbettelt werden muss und demnach nicht einmal sicher ist. Die Breslauer Kammer meint 1788, dass maximal 60 Reichs-Taler pro Jahr für einen Lehrer zu erreichen seien.65 Der Wölfelsgrunder Schulmeister kann davon nicht einmal träumen.66
65 66
Siehe auch NEUGEBAUER, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit, S. 348. GRÜNHAGEN, Das schlesische Schulwesen, S. 9-11.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
3.5.
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Das Seminar in Habelschwerdt
Abt Felbiger konnte dem Seminarstandort Habelschwerdt nichts abgewinnen, aber vier Jahre nach seiner Starthilfe ist Dechant Winter voll des Lobes über das Ausbildungszentrum. Es hat fast alle Grafschafter Lehrer in die neue Gesetzgebung eingeführt und zeigt nun in seiner Übungsschule, was tüchtige Seminarlehrer erreichen können. Die Eindrücke, die der Pfarrer und Kreisschulinspektor Wenke protokolliert hat, sollen hier nicht fehlen: „[…] so revidirte man […] das hiesige Schul Seminarium, um durch ein öffentliches Examen die Balance zu treffen, wie weit dasselbe […] im fleißig Lehren, und Lernen unter der Direction des Herrn Günzel Hochwohlehrwürden und seiner unterhabenden Docenten Franz Paul und Joseph Wagner avanciret seye? Die Kinder zeigten gleich bey dem ersten Anblicke Ordnung, Eingezogenheit [Zurückhaltung] und alle erforderliche Schulmäßige Sittsamkeit. Sie Buchstabirten Regelmäßig, und wußten alle Regeln mit der größten Fertigkeit herzusagen. Sie lasen auf die fließendeste Art sowohl das Deutsche, als auch das Lateinische, sie bewiesen das Abgelesene aus den erlernten Regeln […] so zwar: daß ein jedes einzelne Kind im Stande ist / vor jedermann öffentlich zu lesen, und den Sinn […] einer jeden Schrift durch seinen bündigen Vortrag auszudrücken. Sie schreiben Deutsch, und Latein sehr Leserlich, […] Sie Rechneten nach der neuen Methode, und legten zu letzt in einem Historischen […] Examine überzeigende Probe ab, daß [es] auch Kindern möglich seye, von Göttlich- und Menschlichen Begebenheit der Vorwelt etwas zu wissen, und erzählen zu können. Mit einem Wort: Das Seminarium empfiehlet sich selbst, und verdienet allemal ein Muster aller Land-Schulen der Grafschaft Glatz genannt zu werden, [dem man] […] nur diesen Patriotischen Wunsch hinzusetzen muß: Daß doch einmal für diese höchst nützliche Pflanz-Schule guter Christen, und brauchbarer Königl. Preußischen Unterthanen / ein hienlänglicher Fond ausgemittelt, und zu einem unsterblichen Andencken / der allermildesten Landes väterlichen Vorsorge / Sr. Königl. May. / unsers allergnädigsten und theuersten Landesherrn / in einem perpetuirlichen [dauerhaften] Stand gesetzet würden. Actum ut supra Winter, Wencke, Kreisinspector.“ (20.10.1770) Der Bericht gibt einen Einblick in die Erfolge der frühen Seminararbeit bei der Umsetzung der neuen Schulgesetzgebung, die bereits Latein und Geschichte einschließt. Er lässt nicht erkennen, ob man in Habelschwerdt die neuen Erziehungsideen eines J. J. Rousseau, die das preußische Gesellschaftsgebäude ins Wanken bringen könnten, tabuisiert oder diskutiert. Für den devoten Hilferuf um Finanzierung der Pflanzschule guter Christen war der König leider taub. Das Lehrerseminar wurde 1776 nach Glatz verlegt und arbeitete von 1808 bis 1832 in Schlegel. Danach bezogen die Lehreranwärter das Breslauer Seminar, bis wieder eines in Habelschwerdt eingerichtet wurde und deutschlandweite Berühmtheit erlangte.
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Horst-Alfons Meißner
4.
Fazit
Die Schulgesetzgebung Friedrichs II. folgte den Ideen der Aufklärung und hatte mit dem Ziel des nützlichen Untertanen bewusst gesellschaftserhaltenden Charakter. Sie geschah aber eben zu der Zeit, als umwälzende pädagogische Ideen befreiender Wirkung bekannt wurden und musste sich von ihren Kritikern zunehmend daran messen lassen. Die Landschul-Reglements beabsichtigten die Alphabetisierung aller Untertanen, sie schufen eine allgemeine Volksschule, und darin liegt ihr Verdienst. Speziell in Schlesien zielten sie auch auf die Eingliederung der Neubürger, nicht nur der katholischen, in den preußischen Staatsverband. Weitsichtige Männer wie Abt v. Felbiger, Minister v. Schlabrendorff, Weihbischof v. Strachwitz und in der Grafschaft Glatz Dechant Carl Winter, setzten sie gegen große Widerstände in der neuen Provinz durch. Das „General-Land-Schul-Reglement“ in der Sonderform „für die RömischKatholischen in Städten und Dörfern des souveränen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz“ regelte – im Wortsinn – erstmals einheitlich fürs ganze Land und speziell für die neue Provinz alle wesentlichen Fragen der Schulpraxis und wirkt damit bis in unsere Zeit. Dazu gehören die allgemeine Schulpflicht, die Lehrerausbildung und -besoldung, die Einrichtung von Schulen und deren Unterhalt, die Zusammenfassung der Kinder in Klassen, die Unterrichtszeiten und auch die Aufsicht über die Schulen. Der Staat Preußen legte Letztere in die Hände der Geistlichkeit, seinerzeit die einzige größere akademisch gebildete, volksnahe und verlässliche Gesellschaftsgruppe. Es legte aber fragwürdige Unterrichtsmethoden zu genau fest und behinderte damit deren rasche Weiterentwicklung. Die Bildungsoffensive kam nur langsam in Fahrt. Ein Zeitgenosse urteilt: „Von 1763-1768 waren die nachdrücklichsten Befehle des Königs […] nur an sehr wenigen Orten von der erhofften Wirkung […].“67 Ein anderer meint, „man habe an manchen Orten die Verbesserung nicht mit dem gehörigen Eifer betrieben […]“.68 Mangelnden Eifer hätte man Dechant Carl Winter bei der Durchsetzung des General-Land-Schul-Reglements in der Grafschaft Glatz damals nicht vorwerfen können, gibt doch das Protokoll Einblick in seinen zähen und aufreibenden Kampf um die Volksbildung in dem abgelegenen Gebirgskessel, denn die Dörfler sahen in den Bildungsanstrengungen nur Lasten. Winters Einsatz trug Früchte, wie das vorliegende Dokument beweist. In wenigen Jahren erreichte er mit seinen Helfern und unter großen finanziellen Opfern der Bewohner, also letztlich doch gemeinsam mit ihnen, Erstaunliches in der Grafschaft Glatz, nämlich: - die Grundqualifikation aller Lehrer für besseren Unterricht und deren Statusverbesserung, - die Absicherung ihres kargen Einkommens an jedem Ort, 67 68
N.N., Verbesserung der römisch-katholischen Schulen, S. 251. N.N., Gedanken über die schlesisch-katholischen Schulen überhaupt, S. 109.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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die Verdoppelung der Zahl der Schulen, die Beschulung der Kinder auch in den entlegensten Gebirgsdörfern, die Einrichtung einer funktionierenden Schulaufsicht.
Dass diese Bildungsanstrengungen leider bald ins Stocken gerieten, lag u.a. daran, dass Friedrich II. im Staatshaushalt kein Geld für die Volksbildung zur Verfügung stellte und dass das administrative Interesse an der Volksbildung nach v. Schlabrendorffs und des Königs Tod aus politischen Gründen sehr nachließ. Trotz aller berechtigten Kritik war die Volksbildungsoffensive des 18. Jahrhunderts in Schlesien eine wirkliche Pioniertat – beispielhaft nachvollziehbar an der Schulrevision von 1770 in der Grafschaft Glatz. In deren Folge hat Schlesien bis 1945 immerhin 10 Nobelpreisträger hervorgebracht, mehr als jedes andere deutsche Land!
5.
5.1.
Anhang
Ungedruckte Quellen
An die Schulmeister bey der Canonischen Visitation pro 1771. (Ankündigung der Inspektion durch Carl Winter). Copy Arcibiskupsky archiv Praha, Prihradka B 64, Cislo 4. Protocoll welches Bey der Canonischen Visitation über den Statum der sämtl. Schulen aufgenommen worden ist. Bey der Königl. Preusz. Souverainen Grafschaft Glatz Pro Anno 1770. (Grafschaft Glatzer Schulinspektion vom 19. August 1770 bis 5. Januar 1771 durch den königlichen Dechanten und erzbischöflichen Vikar Carl Winter.). Copy Arcibiskupsky archiv Praha, Prihradka B 64, Cislo 4. Die Kopien stellte freundlicherweise Dr. Dieter Pohl zur Verfügung.
5.2.
Gedruckte Quellen
Königlich Preußisches General-Land-Schul-Reglement, wie solches in allen Landen Sr. Königl. Maj. von Preußen durchgehends zu beobachten. De Dato Berlin, den 12. Aug. 1763. In: Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien und dessen incorporirten Grafschaft Glatz in Finantz-Policey-Sachen etc. etc. ergangenen und publicirten Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten etc. etc. vom 1. Januar 1761. bis ult. Decemb. 1763. 7. Band. Breslau, bei Willhelm Gottlieb Korn 1767. Nr. 176, S. 361-388. Circulare wegen der, zur Verbesserung des Catholischen Schul-Wesens, im Lande anzulegenden Seminarien. No. CXLVIIII. Breslau, den 12. und Glogau den 27. Novbr. 1764. In: Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien und der
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Horst-Alfons Meißner
demselben incorporirten Grafschaft Glatz in Finanz-Policey-Sachen etc. ergangenen und publicirten Ordnungen, Edicte, Mandate, Rescripte etc. 8. Band vom 1. Januar 1764 bis Ende December 1765. Breslau bey Wilhelm Gottlieb Korn 1780, S. 326-329. Verbesserung des schlesischen Schulwesens. 254. Immediat – Bericht des EtatMinisters Schlabrendorff. Breslau 1765 October 30. In: Lehmann, Max: Preussen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives. Vierter Theil von 1758-1775. Leipzig: Verlag von S. Hirzel 1883, S. 254f. Königlich preussisches General-Land-Schul-Reglement für die Römischcatholischen in Städten und Dörfern des souveränen Herzogthums Schlesien und der Grafschaft Glatz, Potsdam 1765, November 3. [Staatsarchiv Breslau (M.R. XIII 65) Mundum, gezeichnet vom Könige, gegengezeichnet von Schlabrendorff (s. unter 30. October) Concept, geschrieben von einem Secretär des Abtes Felbiger, von letzterem am 15. October dem Minister für Schlesien überreicht, der nur wenige, ganz unerhebliche Änderungen vornehmen ließ.] Gedruckt in der Korn’schen Sammlung 8, 780ff., und bei Felbiger, Kleine Schulschriften, 1772, 345ff. Auch in: Rönne, Ludwig, Das Unterrichts-Wesen des Preuszischen Staates; eine systematisch geordnete Sammlung aller auf dasselbe Bezug habenden gesetzlichen Bestimmungen. 1. Band. Allgemeiner Theil. Privat-Unterricht. Volksschulwesen. Berlin bei Veit u. Comp. 1855, S. 131148.
5.3.
Literatur
FELBIGER, Johann Ignatz von, Kleine Schulschriften. Nebst einer ausführlichen Nachricht von den Umständen und dem Erfolge der Verbesserung der katholischen Land- und Stadt-Trivialschulen in Schlesien und Glatz, Bamberg und Würzburg 1772 (In der Göbhardtischen Buchhandlung, 536 Seiten). GRÜNHAGEN, Colmar, Das schlesische Schulwesen unter Friedrich Wilhelm II. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 34 (1900), S. 1-32. HEISIG, Kirsten, Das Ende der Geduld, Freiburg 2010. JUNG, Franz (Hg.), Sie gehören zu uns, Münster 1989. KÖGLER, Joseph, Die Chroniken der Grafschaft Glatz, 5 Bde., neu bearbeitet und herausgegeben von Dieter POHL, Modautal 1992. MEIßNER, Horst-Alfons, Schul-TÜV im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Schulgeschichte der Grafschaft Glatz in Schlesien. In: Häämtebärnla. Jahrbuch der Grafschaft Glatz/Schlesien 63 (2011), S. 140-155. NEUGEBAUER, Wolfgang, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen, Berlin, New York 1985. N.N., Nachricht von der Verbesserung der römisch-katholischen Schulen im Herzogthum Schlesien und der Grafschaft Glatz (Auszug aus der neuesten Religionsgeschichte, Th. II, S. 215-258). In: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland, Bd. 4, 1776, S. 219-252.
Die Schulvisitation Carl Winters im Jahr 1770 in der Grafschaft Glatz
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N.N., Gedanken über die schlesisch-katholischen Schulen überhaupt. Frankfurt und Leipzig 1773 (Rezension). In: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland, Bd. 2, 1774, S. 98-116. N.N., Johann Ignatz von Felbiger, Abten und Prälaten des Fürstl. Stifts. bey unser lieben Frauen zu Sagan etc. Erzpriestern des Saganischen Craises, kleine Schulschriften, nebst einer ausführlichen Nachricht von den Umständen und dem Erfolge der Verbesserung der katholischen Land- und Stadt-Trivialschulen in Schlesien und Glatz. Bamberg und Würzburg. In der Göbhardtischen Buchhandlung 1772. (Rezension). In: Allgemeine Bibliothek für das Schul- und Erziehungswesen in Teutschland, Bd. 4, 1776, S. 90-100. POHL, Dieter / TAUBITZ, Werner, Zur Geschichte des Bildungswesens. In: Kulturelle Arbeitshefte. Die Grafschaft Glatz (Schlesien), Hg. vom Bund der Vertriebenen, 2. Aufl., Bonn 1999, S. 9-15. REIMANN, Eduard, Ueber die Verbesserung des niederen Schulwesens in Schlesien in den Jahren 1763-1769. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 17 (1883), S. 317-350. ROUSSEAU, Jean-Jacques, Emile oder über die Erziehung. Übersetzung von Hermann DENHARDT, Köln 2010. VOLKMER, (Franz), Johann Ignaz von Felbiger und seine Schulreform. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 18. Jahrhunderts, Habelschwerdt 1890.
Philip Steiner
DER STEIRISCHE STAATS- UND KIRCHENRECHTLER FRANZ XAVER VON NEUPAUER (1753-1835): EIN JURISTISCHES SPRACHROHR DER JOSEPHINISCHEN KIRCHENPOLITIK
„Schon wieder ein neuer Apostel und Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts. Ach! Daß er doch nicht früher erschienen ist! Er hätte (vorausgesetzt, daß seine Sendung ächte sey) bey den größten Höfen unendlichen Nutzen schaffen, große und landesverderbliche Kriege, und Erschütterungen ganzer Königreiche verhindern können. Man würde vielleicht fragen: Wer dieser seye? Wenn nicht sein Name und sein Rang auf dem Tittelblatte stände. Herr Franz Xaver Neupauer, öffentlicher Lehrer des geistlichen Rechts zu Graz, tritt mit einer unter den Katholiken unerhörten Lehre auf. Er läßt sich an, zu behaupten, die Ehe, wenn sie auch bereits vollbracht ist, könne, wichtiger Ursachen halber, aufgelößt, und zu einer andern geschritten werden.“1 Diese einführenden und scharf formulierten Worte aus einer 1786 veröffentlichten Schrift eines unbekannten Autors mit den vermeintlichen Initialen „W. A. Z. R.“ demonstrieren wie kaum ein anderer Quellenausschnitt2, wie sehr es der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer (1753-1835) zeitlebens vermochte, mit seinen äußerst aufsehenerregenden und anlässlich der josephinischen Kirchenreformen entstandenen Veröffentlichungen zu polarisieren.3 Der aus der Stei1
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W. A. Z. R., Vereitelter Versuch des Hrn. Franz Xaver Neupauer, der Rechte Doktors und Lehrers des Kirchenrechts und der Landgesetze am k. k. Lyceo zu Graz. Ueber die Frage: Ob ein katholischer Landesfürst das Recht habe, gültig geschlossene und vollbrachte Ehen seiner katholischen Unterthanen in gewissen Umständen auch in Ansehung des Bandes zu trennen, o. O. 1786, 3f. Vgl. ebd. Zu den josephinischen Kirchenreformen: Elisabeth BRADLER-ROTTMANN, Die Reformen Kaiser Josephs II., Göppingen 1973. – Peter HERSCHE, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977. – Georgine HOLZKNECHT, Ursprung und Herkunft der Reformideen Kaiser Josefs II. auf kirchlichem Gebiete, Innsbruck 1914. – Harm KLUETING (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darmstadt 1995. – DERS. (Hg.), Katholische Aufklärung. Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993. – DERS., Kaunitz, die Kirche und der Josephinismus. Protestantisches landesherrliches Kirchenre-
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Philip Steiner
ermark stammende Neupauer, der besonders während der Alleinregierung Kaiser Josephs II. publizistisch aktiv war, galt nicht nur als ein rigoroser Verteidiger und begeisterter Befürworter der josephinischen Kirchenpolitik, sondern ging in seinen Werken, beeinflusst von den Ideen der (katholischen) Aufklärung (Gallikanismus, Febronianismus, Jansenismus etc.) und des deutschen Naturrechts4, in gewissen Bereichen sogar noch über die josephinischen Ordnungsvorstellungen in Betreff des Kirchenwesens hinaus. 1784 setzte er sich in einer Schrift etwa mit den Fragen auseinander, ob Kaiser Joseph II. dazu berechtigt wäre, die Diözesangrenzen neu einzuteilen, die Gerichtsbarkeit der auswärtigen Bischöfe und Metropoliten zu untersagen, und dafür neue Bischöfe und Metropoliten einzusetzen.5 Ein Jahr später dozierte er in einer Schrift anlässlich der josephinischen Ehegesetzgebung darüber, ob ein katholischer Herrscher rechtmäßig geschlossene Ehen von katholischen Untertanen in bestimmten Fällen aufheben dürfte.6 1786 veröffentlichte der Gelehrte gleich zwei Bücher: In einer Publikation kritisierte er in aller Deutlichkeit die „Nichtigkeit“ der Klostergelübde7, in einer anderen Schrift erklärte er wiederum, warum „Personen, die
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giment, rationaler Territorialismus und theresianisch-josephinisches Staatskirchentum. In: Grete KLINGENSTEIN / Franz A.J. SZABO (Hg.), Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711-1794, Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung, Graz, Esztergom, Paris u.a. 1996, S. 169-196. – Elisabeth KOVÁCS (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, München 1979. – Rudolf PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche/Religion im theresianisch-josephinischen Zeitalter. In: Helmut REINALTER (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Wien, Köln, Weimar 2008, S. 17-52. – Rudolf REINHARDT, Zur Kirchenreform in Österreich unter Maria Theresia. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 77 (1966), S. 105-119. – Fritz VALJAVEC, Der Josephinismus. Zur geistigen Entwicklung Österreichs im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, 2. Auflage, München 1945. – Eduard WINTER, Der Josefinismus und seine Geschichte. Beiträge zur Geistesgeschichte Österreichs 1740-1848, Brünn, München, Wien 1943. Die überarbeitete Version: Eduard WINTER, Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 1740-1848, Berlin 1962. Für die Staatslehre und die Reformen des Josephinismus hatten vor allem die naturrechtlichen Theorien von Samuel von Pufendorf (1632-1694) eine enorme Bedeutung: Thomas HAHN, Staat und Kirche im deutschen Naturrecht. Das natürliche Kirchenrecht des 18. und 19. Jahrhunderts. (ca. 1680 bis ca. 1850), Tübingen 2012. – Dieter HÜNING (Hg.), Naturrecht und Staatstheorie bei Samuel Pufendorf. Baden-Baden 2009. – Hans VON VOLTELINI, Die naturrechtlichen Lehren und die Reformen des 18. Jahrhunderts. In: Historische Zeitschrift 105 (1910), S. 65-104. Franz Xaver NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen, die Gerichtsbarkeit der auswärtigen Bischöfe und Metropoliten aufzuheben, und neue inländische Bischöfe und Metropoliten zu machen, ohne daß diese die Bestättigung des römischen Hofes nöthig haben?, Graz 1784. Franz Xaver NEUPAUER, Versuch über die Frage: Ob ein katholischer Landesfürst das Recht habe, giltig geschlossene und vollbrachte Ehen seiner katholischen Unterthanen, in gewissen Umständen, auch in Ansehung des Bandes, zu trennen?, o. O. 1785. Franz Xaver NEUPAUER, Ueber die Nichtigkeit der sogenannten feyerlichen Klostergelübde, Wien 1786. 1791 erschien sogar eine französische Übersetzung dieses Werks: Franz Xaver NEUPAUER, De la nullité des vœux monastiques, 1791.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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in verbotenen Graden verwandt, oder verschwägert sind […]“8, bei einer landesfürstlichen Erlaubnis für eine gültige Eheschließung keine zusätzliche geistliche „Freilassung“9 benötigen würden. 1792 schilderte Neupauer als ein glühender Anhänger einer zentralistisch geprägten josephinischen Herrschaftsordnung, aus welchen Gründen seiner Meinung nach die Monarchie die beste Regierungsform wäre.10 Erwähnenswert ist noch die weitere Herausgeberschaft einer Zeitung namens „Der Weltpriester“, mit der Neupauer beabsichtigte, den Klerus zu einer aufgeklärt-josephinischen Geisteshaltung zu erziehen.11 Obwohl der aufgeklärte Staats- und Kirchenrechtler mit seinen Publikationen nicht nur in Gelehrten- und Kirchenkreisen immense zeitgenössische Aufmerksamkeit erfuhr12, für die juristische Rechtfertigung der josephinischen Reformanstrengungen in Kirchenangelegenheiten von enormer Bedeutung war und deshalb durchaus in eine Reihe mit vergleichbaren Persönlichkeiten wie Paul Joseph von Riegger (17051775)13 und Joseph Valentin Sebastian Eybel (1741-1805)14 zu stellen ist, zählt Franz Xaver von Neupauer ausgerechnet zu jenen wichtigen historischen Figuren des Josephinismus, die aus irgendwelchen Gründen in der Forschung bis auf wenige Ausnahmen keine besondere Beachtung fanden.15 Im Gegensatz zu anderen, bekannteren Rechtsgelehrten, die versuchten, die josephinischen Reformen in ihren Publikationen zu verteidigen und zu legitimieren, wird Neupauer in der Josephinismus-Forschung bisher allenfalls nur als Randnotiz behandelt, was dessen einflussreicher Rolle als wirkkräftiges juristisches Sprachrohr der josephinischen Kirchenreformen in der Habsburgermonarchie keinesfalls gerecht wird. So fehlt es noch immer an einer um8
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Franz Xaver NEUPAUER, Personen, die in verbotenen Graden verwandt, oder verschwägert sind, bedürfen, nach erhaltener Landesfürstlicher Erlaubniß zur Giltigkeit ihrer Ehe, als Vertrag und als Sakrament, keiner fernern geistlichen Freilassung, Graz 1786. Ebd. Franz Xaver VON NEUPAUER, Vorzüge der Monarchischen vor den übrigen Regierungsformen, Wien 1792. Vgl. Helmut REINALTER, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution. Zur Geschichte des Jakobinertums und der frühdemokratischen Bestrebungen in der Habsburgermonarchie, Graz 1980, S. 56. Vgl. ebd. Zur Person Rieggers ist das Buch von Eckhart Seifert nach wie vor als ein grundlegendes und unverzichtbares Standardwerk anzusehen: Eckhart SEIFERT, Paul Joseph Riegger (1705-1775). Ein Beitrag zur theoretischen Grundlegung des josephinischen Staatskirchenrechts, Berlin 1973. Einen gestrafften Überblick bietet die neuere Publikation von Matthias J. Fritsch: Vgl. Matthias J. FRITSCH, Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfessionelle Differenzen, Hamburg 2004, S. 324-347. Siehe: ebd., S. 347-358. Eine solche Ausnahme stellt beispielsweise die Habilitationsschrift des Historikers Helmut Reinalter dar, der im Zusammenhang mit seinen Jakobiner-Forschungen unter anderem auf Franz Xaver von Neupauer gestoßen ist. Ausgehend von den Werten, die Neupauer in seinen Publikationen und Handlungen vertrat, ist dieser, um dies gleich vorwegzunehmen, aber keineswegs mit „jakobinischem“ oder gar „frühdemokratischem“ Gedankengut in Verbindung zu bringen. Siehe: REINALTER, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, bes. S. 104-106, 236, 292f., 304, 311.
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fassenden und modernen wissenschaftlichen Arbeit, die das Leben und Wirken dieses praktisch „vergessenen“ steirischen Staatstheoretikers angemessen würdigt. Dieser Aufsatz setzt es sich daher in komprimierter Form zum Ziel, zumindest einen kleinen Einblick über die Biographie und das Werk Neupauers zu geben, und damit möglicherweise einen Anreiz für weiterführende und umfassendere Studien zu setzen.
1.
Biographisches
Franz Xaver von Neupauer, geboren am 20. November 1753 im steirischen Marburg an der Drau16, besuchte zunächst Schulen in seiner Geburtsstadt, ehe er sich am Lyzeum in Graz mit rechtswissenschaftlichen und philosophischen Studien auseinandersetzte.17 Sein Fleiß und seine Begabung machten sich am Lyzeum schnell bemerkbar, sodass er per Hofverordnung vom 31. Jänner 1780 zum außerordentlichen Lehrer des deutschen Staatsrechtes bestellt wurde.18 Zwei Jahre nach dem Erwerb des Doktors der Rechte (1782) ernannte man den bürgerlichen Emporkömmling 1784 schließlich zum ordentlichen Professor für Kirchenrecht und der Landesgesetze, wobei der mit recht stattlichen 800 Gulden besoldete Neupauer19 eine große Zuhörer- und Anhängerschaft20 um sich scharen konnte. Sowohl seine Professorentätigkeit in Graz als auch seine zahlreichen Schriften spiegelten seine tiefgehende josephinische Gesinnung wider, weshalb der Staats- und Kirchenrechtler die Aufmerksamkeit des Wiener 16 17 18
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Vgl. Joseph DESPUT, Neupauer Franz Xaver von. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 7 (1976), S. 101. Vgl. Anton SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886), S. 550. Vgl. Franz VON KRONES, Geschichte der Karl Franzens-Universität in Graz. Festgabe zur Feier ihres Dreihundertjährigen Bestandes, Graz 1886, S. 104. Neupauer wurde ursprünglich deshalb angestellt, um den amtierenden Rechtsprofessor Dr. Caspar Winckler wegen dessen fortgeschrittenen Alters etwas zu entlasten. Schon damals war von Seiten der Wiener Regierung vorgesehen, dass Neupauer den betagten Dr. Winckler eines Tages als Professor beerben sollte. Vgl. ebd., S. 451. Vgl. ebd., S. 110. Franz Xaver von Neupauer war übrigens nicht der einzige steirische Professor am Grazer Lyzeum, der josephinisches Gedankengut verfocht. Zu nennen ist auch der ab 1787 als Professor für Kirchengeschichte wirkende Franz Xaver Gmeiner (1752-1822), der sich in seinen Werken für die Oberaufsicht des Staates über die Kirche aussprach. Siehe: Johann Friedrich von SCHULTE, Gmeiner: Franz Xaver G. In: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879), S. 264. Neupauer und Gmeiner waren durch und durch Josephiner, die während des josephinischen Jahrzehnts von allen Professoren des Grazer Lyzeums literarisch am aktivsten waren. Durch die wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeiten der beiden Professoren wurde das Lyzeum in Graz zu einem regelrechten geistig-kulturellen Zentrum des josephinischen Staatskirchenwesens. Siehe: KRONES, Geschichte der Karl Franzens-Universität in Graz, S. 469. Andreas Posch bietet mit seiner älteren Studie einen recht hilfreichen Überblick über die kirchliche Aufklärung in Graz und an der dortigen Hochschule: Andreas POSCH, Die kirchliche Aufklärung in Graz und an der Grazer Hochschule. Festschrift der Universität Graz 1937, Graz 1937.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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Hofes erregte und nicht zufällig im Jahr 1789 unter Kaiser Joseph II.21 als Professor für Kirchenrecht und der Landesgesetze an die Universität Wien berufen wurde.22 Auch in Wien konnte Neupauer anfangs Erfolge verzeichnen. Mit mehreren Auszeichnungen geehrt, wurde er von Kaiser Leopold II.23 wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen sogar in den Adelsstand erhoben.24 Trotz seines rasanten Aufstiegs vergaß Neupauer allerdings niemals seine bürgerlichen Wurzeln. Als Leopold II. eine Debatte um die Wiederherstellung der ständischen Verfassungen in den einzelnen Provinzen der Habsburgermonarchie initiierte, um die angesichts einiger josephinischer Reformen aufgebrachten Landstände zu beruhigen, ließ er es sich nicht nehmen, dem steirischen Bürgerstand, der seit 1790 in Konfrontation mit den adeligen und geistlichen Landständen weitreichende Forderungen nach einer erweiterten politischen Partizipation in der Steiermark stellte25, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.26 Auf dem Höhepunkt seines Ansehens und Erfolgs verstarb Kaiser Leopold II. plötzlich, was für Neupauers Karriere eine dramatische Zäsur bedeutete. Nach dem Ableben des Herrschers gerieten Neupauers Werke immer mehr in die Kritik27, wes21
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Siehe: Derek BEALES, Joseph II. Against the World 1780-1790, Bd. 2, Cambridge 2009. – DERS., Joseph II. In the Shadow of Maria Theresia 1741-1780, Bd. 1, Cambridge, London, New York u.a. 1987. – T.C.W. BLANNING, Joseph II, London, New York 1994. – Karl GUTKAS, Kaiser Joseph II. Eine Biographie, Wien, Darmstadt 1989. – Helmut REINALTER, Joseph II.: Reformer auf dem Kaiserthron, München 2011. Vgl. DESPUT, Neupauer Franz Xaver von, S. 101. Vgl. Lorenz MIKOLETZKY, Leopold II. 1790-1792. In: Anton SCHINDLING / Walter ZIEGLER (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, S. 277-287. – Adam WANDRUSZKA, Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, Bd. 1: 17471780, Wien, München 1963. – DERS., Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser, Bd. 2: 1780-1792, Wien, München 1965. Vgl. SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von, S. 550. Über die Forderungen des steirischen Bürgerstandes und die damit zusammenhängenden Kontroversen gehe ich ausführlich in meiner im Entstehen begriffenen Dissertation mit dem voraussichtlichen Titel „Die Landstände in Steiermark, Kärnten, Krain und die josephinischen Reformen. Bedrohungskommunikation angesichts konkurrierender Ordnungsvorstellungen. (17891792)“ ein. Ansonsten ist der Aufsatz von Gerda Stacher sehr zu empfehlen: Gerda STACHER, Kaiser Leopold II. und die Umgestaltung der ständischen Verfassung. Bestrebungen der Bürger, Bauern und „Volksfreunde“ unter den Beamten am Beispiel der Steiermark. In: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich 2 (1985), S. 43-72. Ein älterer Aufsatz über die Debatten um die Gestaltung der steirischen Landesverfassung: Hermann Ignaz BIDERMANN, Die Verfassungs-Krisis in Steiermark zur Zeit der ersten französischen Revolution. In: Mitteilungen des Historischen Vereines für Steiermark 21 (1873), S. 15-105. Franz Xaver von Neupauer setzte sich daneben aber ebenso für die Belange und eine generelle Besserstellung des Bauernstandes in der Steiermark und darüber hinaus ein. Siehe: REINALTER, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, S. 104-106. So zählte Neupauer, der ein Mitglied der Grazer Freimaurerloge „Zu den vereinigten Herzen“ war, bezeichnenderweise zu jenen Personen, die anlässlich der 1794 aufgedeckten sogenannten Wiener Jakobinerverschwörung verhört wurden. Siehe: Ebd., S. 211. Der Jurist kam auch deshalb in Verdacht der Behörden, weil er in intellektuellen Zirkeln verkehrte, die man mit der „Ja-
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wegen er sich alsbald ins Privatleben zurückzog und dann 1810 beschloss, Wien zu verlassen, und sich wieder nach Graz zu begeben.28 Aktiver trat der Rechtsgelehrte erst wieder in Erscheinung, als er 1832/33 das Rektorat der wiederhergestellten Universität Graz übernahm. Für Aufregung sorgte unter anderem sein Vorschlag, den Rektor als Vertreter der Universität Graz in den steirischen Landtag zu entsenden.29 Die Ära Neupauers als Rektor der Grazer Universität währte aber nur kurz, da dieser bereits am 24. Februar 1835 starb. Franz Xaver von Neupauer hinterließ der Nachwelt jedoch eine bemerkenswerte Ansammlung von Publikationen, die die josephinische Staatskirchenpolitik aus der Sicht eines aufgeklärten Staats- und Kirchenrechtlers rechtfertigten und nicht nur deshalb einen für die heutige Forschung höchst wertvollen Einblick in das Denken eines zutiefst überzeugten Josephiners gewähren. Umso bedauerlicher ist es, dass das Schaffen des steirischen Intellektuellen bis dato kaum Interesse in der Forschung geweckt hat. In diesem Sinne soll daher im Folgenden exemplarisch ein wichtiges Werk Neupauers aus dem Jahr 1784 über die Rechtmäßigkeit der josephinischen Diözesanregulierung, der Beseitigung der Gerichtsbarkeit von auswärtigen Bischöfen und Metropoliten und der von Kaiser Joseph II. durchgeführten Ernennung von neuen Bischöfen und Metropoliten inhaltlich kurz vorgestellt werden, um die unzweifelhaft große Bedeutung des steirischen Rechtsgelehrten für die juristische Legitimation und Ausbildung des josephinischen Staatskirchenwesens zumindest andeutungsweise zu veranschaulichen.30
28 29 30
kobinerverschwörung“ in Verbindung brachte. Der Verdacht löste sich allerdings recht schnell in Luft auf, da Neupauer einem potenziellen Umsturz der politischen und sozialen Ordnung in der Habsburgermonarchie nach französischem Muster völlig fernstand. Wie seine Publikationen unter Beweis stellen, war er stattdessen ein strikter Anhänger einer monarchischen Regierungsform nach aufgeklärt-josephinischem Muster, welche dem Monarchen zum Wohl des Staates weitgehende Machtbefugnisse zugestand. Vgl. ebd., S. 236, 292f., 304, 311. Weitere Literatur zu den „Jakobinern“ in der Habsburgermonarchie: Helmut REINALTER (Hg.), Jakobiner in Mitteleuropa, Innsbruck 1977. – Denis SILAGI, Jakobiner in der Habsburger-Monarchie. Ein Beitrag zur Geschichte des aufgeklärten Absolutismus in Österreich, Wiener Historische Studien 6, Wien, München 1962. Vgl. SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von, S. 550. Vgl. DESPUT, Neupauer Franz Xaver von, S. 101. Vgl. SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von, S. 550.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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„Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen, die Gerichtsbarkeit der auswärtigen Bischöfe und Metropoliten aufzuheben, und neue inländische Bischöfe und Metropoliten zu machen, ohne daß diese die Bestättigung des römischen Hofes nöthig haben?“, von Franz Xaver von Neupauer (1784)
Wie der lange Titel dieser Schrift von Franz Xaver von Neupauer aus dem Jahr 1784 schon verrät, erörterte der Grazer Professor für Kirchenrecht und der Landesgesetze in seiner Publikation die Fragen, ob Kaiser Joseph II. das Recht dazu hätte, in seinen Ländern die Diözesangrenzen neu zu regulieren, die Gerichtsbarkeit von auswärtigen Bischöfen und Metropoliten zu beenden und selbstständig neue Bischöfe und Metropoliten einzusetzen, ohne vorher dafür den Papst konsultieren zu müssen. Der Titelzusatz „Mit Ja beantwortet von Franz Xavier Neupauer […]“31 gab des Weiteren unverhohlen preis, dass es sich hierbei um nichts anderes als um eine Verteidigungsschrift für die thematisierten josephinischen Kirchenreformen handelte.32 Dieses Werk Neupauers ist vor allem im Kontext der seit dem Regierungsantritt Josephs II. vorhandenen Diskussionen über eine mögliche Neueinteilung der Diözesangrenzen zu sehen.33 Das Ziel von Joseph II., seinen zuständigen Beamten und dem progressiven josephinischen „Reformklerus“ war es, durch eine Neugestaltung der Diözesangrenzen eine Vereinfachung der Kirchenverwaltung herbeizuführen, den Einfluss von für den Staat kaum kontrollierbaren ausländischen geistlichen Obrigkeiten zu unterbinden und somit in der Folge die Etablierung einer verbesserten Seelsorge ganz im josephinischen und staatlich-utilitaristischen Sinne34 zu ermöglichen. Zu diesem Zweck sollten mit der Erlaubnis des Papstes die Bistumsgrenzen den Landesgrenzen angeglichen und die ausländischen Bischöfe dazu gebracht werden, auf ihre österreichischen Gebiete und die damit inkludierten Rechte (Gerichtsbarkeit etc.) zu verzichten. Schon im Jahr 1784 musste Passau seine oberösterreichischen Territorien an das neu konstituierte Bistum Linz abtreten. 1786, also erst zwei Jahre nach der Publikation Neupauers, übergab der Erzbischof von Salzburg jene Teile seiner Diözese, die sich in der Steiermark und in Kärnten befanden, an die Bistümer Gurk, Seckau, Lavant und Leoben, wobei dieser, wenn auch in seinem Einfluss fortan stark einge31 32 33
34
NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen. Vgl. ebd. Vgl. Christoph GNANT, „Jede Diöces ist nichts anders als ein Teil des Landes…“. Ausgewählte Fragen der josephinischen Diözesanregulierung und ihrer Auswirkungen auf Reich und Reichskirche. In: Helmut REINALTER / Harm KLUETING (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, Wien, Köln, Weimar 2002, S. 245. Parallel zur Diözesaneinteilung wurden daher auch seit 1782 die Pfarrgrenzen neu definiert, um die Voraussetzungen für eine flächendeckende und bessere Seelsorge zum Wohl des josephinischen Staates und seiner Untertanen zu schaffen. Vgl. PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche/Religion, 38.
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schränkt, für diese Sprengel weiterhin seine Metropolitenfunktion offiziell beibehielt. Entscheidend ist, dass im Zuge dieser Diözesanregulierung mit St. Pölten, Linz, Leoben, Laibach, Königgrätz und Budweis zahlreiche neue Bistümer entstanden, die zu einer effizienteren, übersichtlicheren und für den Staat gewinnbringenderen Kirchenverwaltung beitragen sollten.35 Es braucht wohl kaum hervorgehoben werden, dass Kaiser Joseph II. besonders mit seinem Vorhaben, die Jurisdiktion der auswärtigen Bischöfe bzw. Erzbischöfe in den entsprechenden Bistümern zu beseitigen, bei den Betroffenen enormen Widerstand hervorrief. An der Spitze dieser mit der Zeit immer breiter werdenden Opposition standen vor allem die ausländischen Bischöfe der Reichskirche, die von konservativen Kirchenmännern, reformskeptischen Gelehrten, aber auch selbst von einigen Geistlichen, die den josephinischen Reformen ansonsten eigentlich aufgeschlossen gegenüberstanden, unterstützt wurden.36 Der massive Gegenwind begann sich im Großen und Ganzen schon vor den wichtigsten Maßnahmen zur Regulierung der Diözesangrenzen zu formieren, weshalb sich Neupauer dazu entschloss, im Jahr 1784 eine Verteidigungsschrift zu veröffentlichen, die die beabsichtigte Neueinteilung der Diözesen und die damit verbundenen weiteren Reformen mit natur-, kirchen- und staatsrechtlichen Argumenten rechtfertigen sollte. Seine Publikation, die er seinem Landsmann Joseph von Rosenbüchel, einem „[…] rechtschaffenen Patrioten, Gönner der Künste und Wissenschaften […]“37 widmete, begann Neupauer jedenfalls mit einem Vorwort an die Leser, in dem er betonte, dass es nicht seine Absicht wäre, „[…] die wesentlichen Rechte des römischen Stuhls, noch weniger die verehrungswürdige Person des heiligen Vaters zu kränken […]“.38 Neupauer wollte stattdessen nach eigenen Angaben nur „[…] die Gränzen der weltlich = und geistlichen Macht über diesen Gegenstand mit unpartheyischer Genauigkeit bestimmen […]“ und seine Ergebnisse „[…] für unser deutsches Publikum kennbar machen“.39 Der Rechtsgelehrte war sich selbstverständlich darüber im Klaren, dass seine Überlegungen in gewissen Kreisen für Empörung sorgen würden. Deshalb war es ihm ein besonderes Anliegen gewesen, möglichen Unmut schon im Vorhinein zu entgegnen und gleich zu Beginn seiner Publikation zu unterstreichen, mit seinen Ausführungen „[…] die wesentlichen Rechte des römischen Stuhls […]“ 35
36 37 38 39
Vgl. BRADLER-ROTTMANN, Reformen Kaiser Josephs II., S. 158. Mehr zur Diözesanregulierung unter Kaiser Joseph II.: GNANT, „Jede Diöces ist nichts anders als ein Teil des Landes…“, S. 245-262. – Elisabeth KOVÁCS, Die Diözesanregulierung unter Joseph II. 1782-1789. In: Österreich zur Zeit Kaiser Josephs II. Mitregent Kaiserin Maria Theresias, Kaiser und Landesfürst, Niederösterreichische Landesausstellung, Stift Melk 29. März – 2. November 1980, Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums Neue Folge 95, 3. Auflage, Wien 1980, S. 176-180. – Jakob R. KUŠEJ, Joseph II. und die äußere Kirchenverfassung Innerösterreichs (Bistums-, Pfarrund Kloster-Regulierung). Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Staatskirchenrechtes, Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1908, Amsterdam 1965. Vgl. PRANZL, Das Verhältnis von Staat und Kirche/Religion, S. 37. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen. Ebd., passim. Ebd.
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nicht in Frage zu stellen und die Person des Papstes keinesfalls kränken zu wollen.40 Dennoch versuchte Neupauer in seiner in mehreren Paragraphen gegliederten Schrift zu begründen, warum aus seiner Perspektive der Kaiser sehr wohl das Recht dazu hätte, die Diözesangrenzen zu modifizieren, diesbezüglich den auswärtigen Bischöfen und Metropoliten die Gerichtsbarkeit zu entziehen und eigenständig neue inländische Bischöfe und Metropoliten zu ernennen. In den ersten beiden Paragraphen skizzierte der gläubige Jurist, dass sowohl die Religion als auch der Staat mit seinem Oberhaupt von Gott stammen würden. Demnach würde die Religion aus „[…] der wahren Erkenntniß Gottes, und in der Art ihn zu verehren, anzubeten, und dadurch unser Seelenheil zu wirken […]“, bestehen.41 Gleichzeitig hob Neupauer hervor, dass auch der Staat von Gott herrühre. Den Staat definierte der Staatsrechtler „[…] als eine Gesellschaft freyer Leute, die sich der Sicherheit wegen unter ein gemeinschaftliches Oberhaupt begeben […]“ würden.42 Diese freien Leute hätten sich deshalb einem gemeinschaftlichen Oberhaupt unterworfen, weil die Familienoberhäupter aufgrund der zunehmenden Bevölkerungsanzahl nicht mehr in der Lage dazu gewesen wären, der immer größer werdenden Gefahren Herr zu werden. Hauptausschlaggebend für diesen für freigeborene Menschen „sauren Schritte“43 wäre somit das Gesetz der Natur gewesen. Da die Unterwerfung unter einem gemeinsamen Oberhaupt erst den Staat gebildet hätte, stellte diese Entwicklung nach der Auffassung des hier klassisch naturrechtlich argumentierenden Neupauers nichts anderes als eine unausweichliche Folge des ebenso von Gott entspringenden Naturgesetzes dar. Mit diesen „Vernunftschlüssen“ würden auch die Bibel und die Kirchenväter übereinstimmen, denn schließlich wäre auch die von Gott gestiftete Kirche aus ähnlich Gründen wie der Staat entstanden.44 So kennzeichnete Neupauer die Kirche als „[…] eine Versammlung oder Gesellschaft aller Gläubigen […]“, die mit dem Papst als Oberhaupt „[…] ihren gemeinschaftlichen Endzweck auf gleiche Art und durch die nämlichen Mittel zu erlangen trachten […]“ würde.45 Franz Xaver von Neupauer führte noch dazu im fünften Paragraphen einige Zitate aus der Bibel und von Kirchenvätern an, die eine Abstammung des Staates von Gott belegen sollten. Unter anderem zog er eine Stelle aus einem Brief des Apostels Paulus an die Römer heran, wonach jeder „den Vorstehern unterhänig seyn“ müsste, da jede Obrigkeit von Gott käme und dieser sie der Menschheit „verordnet“ hätte.46 Wer nun angesichts dieser göttlichen Legitimation des Staates sein Vaterland nicht lieben, gegenüber dem Monarchen nicht Ehrfurcht hegen und anfangen würde, ein Patriot zu werden, müsste sich nach Neupauer sogar kurzerhand im Spiegel ansehen und „sich schämen“.47
40 41 42 43 44 45 46 47
Vgl. ebd. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 7f. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 9f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12.
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Weil die Kirche und der Staat von Gott entstammen würden, betrachtete Neupauer das Verhältnis zwischen diesen Parametern als eine untrennbare Symbiose. Der Kirchenrechtler bezeichnete die Kirche und den Staat als Schwestern, „[…] welche mit schwesterlicher Eintracht Hand in Hand den Pfad des Lebens durchwandeln […]“ würden.48 Für Neupauer überschreite die Kirche aber dann die Grenzen ihrer eigentlichen Macht, wenn sie „[…] ihre Gewalt zum Nachtheil des Staates ausdehnen […]“ und den Staat „[…] an den zu Beförderung seiner Wohlfahrt nöthigen Mitteln hindern […]“ würde.49 Ein charakteristischer Wesenszug der Kirche wäre es jedoch, dass sie dem Staat nie Schaden zufügen sowie „[…] durch stetes Bestreben nach Weisheit und Tugend ihre Mitglieder zu guten Bürgern […]“ machen würde, was letztlich dem „wesentlichen Wohl“ des Staates zu Gute komme.50 Franz Xaver von Neupauer offenbarte mit diesen Äußerungen ein zutiefst josephinisches Kirchenverständnis: Die Kirche war aus seiner Sicht vor allem dazu da, fromme und nützliche Bürger zum Wohle des Staates heranzuziehen. In dieser Hinsicht sollte also auch die Kirche vorwiegend als eine dem Wohle des Gemeinwesens untergeordnete und gesellschaftsstabilisierende Ordnungsinstanz fungieren. Auch wenn Kirche und Staat in einem schwesterlichen Verhältnis stünden, hätte die Kirche daher dem Staat zumindest in diesem Fall unweigerlich zu Diensten zu sein.51 Die Hauptverantwortung der Landesfürsten wäre es demgegenüber, die Wohlfahrt ihrer Staaten und die Glückseligkeit ihrer Untertanen zu befördern, und dazu gehörte es für Neupauer auch, die Kirche dem Staat dienbar zu machen. Wie die vorangegangenen Passagen veranschaulichen, leitete der Staats- und Kirchenrechtler das Recht eines Herrschers, in bestimmten Bereichen die Kirchenverwaltung seines Landes selbst in die Hand nehmen zu dürfen, insgesamt von der göttlich-naturrechtlichen Herkunft des Staates und seines Vorstehers sowie von der schwesterlichen Verbindung zwischen dem Staat und der Kirche ab.52 Daher ist es nicht überraschend, dass Neupauer im zehnten Paragraphen „das Bedürfnis des Staates“ als alleinigen „Maßstab der landesfürstlichen Majestäts Rechte“ festlegte.53 Um diese Aufgabe überhaupt erfüllen zu können, müsste den Landesfürsten im Gegenzug alle dafür notwendige Macht anvertraut werden: „Die Landesfürsten sind einmal unter schwerester Verantwortung verbunden, die Wohlfahrt ihrer Staaten immer mehr und mehr zu befördern, und ihre anvertrauten Unterthanen so glüklich zu machen, als es möglich ist. Dazu sind sie von Gott gesetzt, den sie auch nach der Lehre des h. Paulus an die Ebräer am 13. v. 17. hierüber die strengste Rechenschaft werden geben müssen. Also müssen sie auch alle jene Macht in Händen haben, welche ihnen zur Vollziehung ihrer Pflicht nothwendig ist; denn zum Unmöglichen giebt es keine Verbindlichkeit, und wer zum Endzwecke verpflich-
48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 8-12. Ebd., S. 20.
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tet ist, hat nothwendiger Weise das Recht auf alle Mittel, ohne welchen sein vorgesetzter Endzweck nicht kann erreichet werden.“54 Zu dieser den Landesfürsten zu übermittelnden Macht zählte Franz Xaver von Neupauer aber auch all jene kirchlichen Angelegenheiten, die mehr oder weniger die Entwicklung des Staates beeinflussten. Ein Landesfürst wäre nach dem Rechtsgelehrten gerade dazu verpflichtet, über derartige Religionsgeschäfte für das Wohlergehen seines Herrschaftsgebiets zu bestimmen. Unter diesen Religionsgeschäften verstand der Grazer Professor eben „[…] jene Einrichtungen, welche blos zur äußerlichen Kirchenzucht gehören […]“55 würden. Die „innere Kirchenzucht“ (Sakramente, Glaubenslehre etc.) sollte jedoch im Gegensatz dazu interne Sache der Kirche bleiben. Zugleich war Neupauer ein Apologet von jener Staatsrechtstheorie, die sich dafür stark machte, den Monarchen mit umfassenden Rechten auszustatten. Diese „absolutistisch“ anmutende Staatstheorie wurde beispielsweise auch in den Werken des für den Josephinismus so bedeutsamen deutschen Naturrechtlers Samuel von Pufendorf und des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679)56 vertreten. Neupauer, der sichtlich darum bemüht war, das josephinische Staatskirchentum und die „aufgeklärt-absolutistische“ Stoßrichtung der habsburgischen Regierungsweise juristisch zu legitimieren, billigte dem Monarchen dementsprechend das Recht auf eine uneingeschränkte Herrschaft mit umfassenden Machtbefugnissen zu, die letzten Endes bloß von Gott abhängen würde. In kirchlichen „Disziplinarsachen“ wäre der Landesfürst dadurch weder den Bischöfen, den Kardinalen oder dem Papst, sondern nur Gott allein Rechenschaft schuldig: „Nun aber giebt es sehr viele kirchliche Einrichtungen, oder sogenannte Disziplinarsachen, […] die auf das Wohl oder Wehe des Staates oft nur gar zu grossen Einfluss haben. Es ist folglich sonnenklar, daß der Landesfürst berechtiget, ja sogar verpflichtet sey, derlei zufällige Religionsgeschäfte nach den Regeln der wahren Staatskunst jederzeit so zu bestimmen, wie es das wahre Beste seiner unterstehenden Länder erheischet. Und da der Monarch in Beherrschung seines Staates vollkommener, unumschränkter Herr ist, der in Staatsgeschäften von niemand als Gott allein abhängt, so ergiebt sichs, daß er bei Bestimmung derlei Disziplinarsachen so wie in allen andern politischen Gegenständen niemand als Gott allein Rechenschaft zu geben schuldig sey.“57 Weil überdies die Rechte des Staates und der Kirche „ewig und unveränderlich“ seien, hätten nach Neupauer logischerweise „[…] die heutigen Vorsteher derselben
54 55 56 57
Ebd., S. 20f. Ebd., S. 21. Vgl. Martin FUHRMANN / Diethelm KLIPPEL, Der Staat und die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus. In: REINALTER (Hg.), Absolutismus im europäischen Vergleich, S. 223-244. Vgl. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen, S. 21f.
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nicht wenigere – aber auch nicht mehrere Rechte […]“, als ihre Vorgänger.58 Daraus folgerte der Staatsrechtler, dass Kaiser Joseph II. über die gleichen Eingriffsrechte in kirchlichen Disziplinarsachen verfügen müsste wie sie schon einst Konstantin, Theodosius, Justinian und selbst Karl der Große besessen hätten. Deswegen sprach Neupauer Papst Pius VI. und den Bischöfen sogar kategorisch das Recht ab, sich den kirchlichen „Disziplinargesetzen“59 Josephs II. widersetzen zu dürfen. Der Rechtsgelehrte nahm den habsburgischen Monarchen auch gegen jene Vorwürfe in Schutz, wonach dieser mit seinen Reformen die Kirchengesetze verletzen und sich dabei vom katholischen Glauben entfernen würde: „Was also ein Konstantin – ein Theodosius – ein Justinian, ein Karl in kirchlichen Disziplinarsachen verordnen konnte, das nämliche oder ein gleiches kann auch Joseph itzt thun, und so wenig sich die Päpste und Bischöfe der damaligen Zeiten den heilsamen Disziplinarverordnungen obbenannter Kaiser widersetzen, so wenig sie über Verletzung der Kirchenrechte dabei schrien, eben so wenig kann sich der itzige H. Vater Pius und die betreffende Bischöfe den Disziplinargesetzen Josephs widersetzen – eben so wenig über verletzte Kirchenrechte klagen – noch weniger seine Orthodoxie in Zweifel ziehen.“60 Franz Xaver von Neupauer kam deswegen zum Ergebnis, dass Kaiser Joseph II. keinesfalls diejenige Gewalt abgesprochen werden könnte, welche ein König von Frankreich oder andere Herrscher ebenso ausüben würden. Infolgedessen wäre Joseph II. für den Staatsrechtler sehr wohl dazu berechtigt, die Diözesangrenzen zu verändern, die Gerichtsbarkeit auswärtiger Bischöfe und Metropoliten abzuschaffen und stattdessen ohne die vorgehende Befragung des Papstes neue inländische Bischöfe und Metropoliten einzusetzen.61 Die Bekämpfung der Gerichtsbarkeit von auswärtigen Bischöfen und Metropoliten befürwortete Neupauer in seinem Werk von 1784 besonders deswegen, da die Bischöfe die einzigen Kanäle in der Verfassung wären, „[…] durch welche die landesfürstlichen Verordnungen den gesammten Klerus, und durch diesem weiter dem Volk kundgemacht werden […]“62 würden. Demgemäß klassifizierte der Jurist die Bischöfe auch als „kaiserliche Oberbeamte“, über die ein großer Teil der Majestätsrechte ausgeübt werden würde. Aufgrund dieser staatlich-utilitaristischen Funktion der Bischöfe im Rahmen der josephinischen Herrschaftsordnung sah es der Grazer Professor als legitim und unerlässlich an, die Gerichtsbarkeit ausländischer Bischöfe und Metropoliten, die andernfalls als feindlich gesinnte Untertanen oder als Gegner der Habsburgermonarchie für das Staatswohl höchst gefährlich werden könnten, konsequent zu unterbinden.63 58 59 60 61 62 63
Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd. Vgl. ebd., S. 24f. Ebd., S. 26f. Vgl. ebd., S. 26-31.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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Diese Erläuterungen Neupauers bezogen sich abermals auf die josephinische Vorstellung, wonach die einheimische Geistlichkeit vornehmlich als ein staatshöriges Kommunikations- und Erfüllungsorgan fungieren sollte. Erst 1783 waren in der Habsburgermonarchie dreizehn Generalseminare nach dem Vorbild des 1778 entstandenen Brünner Priesterseminars eingeführt worden, die die Nachwuchsausbildung des Weltund Ordensklerus buchstäblich „verstaatlichten“. In diesen Generalseminaren sollten die Zöglinge des Welt- und Ordensklerus zu staatstreuen und josephinischen Geistlichen ausgebildet werden, die in der Seelsorge reformkatholisches, aufgeklärtes und josephinisches Gedankengut vertreten, Aberglauben bekämpfen und für eine Umsetzung der kaiserlichen Anordnungen beitragen sollten. Besonders der niedere Klerus, der der gläubigen Bevölkerung im Rahmen des Gottesdienstes, der Seelsorge und der restlichen religiösen Praktiken verständlicherweise sehr nahestand, besaß somit für die josephinische Ordnung eine zentrale kommunikative Schlüsselfunktion.64 Franz Xaver von Neupauer war sich deshalb nur ein Jahr nach der Etablierung der Generalseminare darüber im Klaren, dass dem „Staatsklerus“ in der josephinischen Verfassung als Verkünder der landesfürstlichen Verordnungen eine entscheidende Rolle zukam.65 Nicht zuletzt erachtete es Neupauer in seinem Werk auch als eine im Evangelium verbriefte Pflicht der Bischöfe, regelmäßig ihre Diözesen zu besuchen und den Kontakt mit den dortigen Gläubigen zu suchen.66 Dieser Pflicht würden aber die auswärtigen Bischöfe und Metropoliten wie etwa der Salzburger Erzbischof nicht nachkommen, was Neupauer für ein weiteres stichhaltiges Argument für die Abschaffung von deren Gerichtsbarkeitskompetenzen empfand: „Wann sah man einen Erzbischof von Salzburg, dessen Sprengel sich von den Gränzen Tyrols und Bayerns bis nach Fridau und Luttenberg in das tiefeste Untersteyer erstrecket; wann sah man ihn hier bei uns sein apostolisches Oberamt ausüben? Wann haben unsere braven Landsleute, unsere Grätzer – unsere Windische seine väterliche Hirtenstimme gehört?“67 Der Professor für Kirchenrecht und der Landesgesetze plädierte übrigens auch dafür, den Einfluss Roms auf die Kirchenangelegenheiten der Habsburgermonarchie generell auf ein Minimum zu beschränken, da bei Bischofswahlen und Thronbesteigungen immer die Vereinbarung von neuen Rezessen, Verträgen und Konkordaten 64
65 66 67
Vgl. BRADLER-ROTTMANN, Reformen Kaiser Josephs II., S. 156f. Zu den Funktionen des niederen Klerus im Josephinismus: Christine SCHNEIDER, Der niedere Klerus im josephinischen Wien. Zwischen staatlicher Funktion und seelsorgerischer Aufgabe, Wien 1999. – Peter G. TROPPER, „Hirt, Lehrer, Führer, Arzt und Vater“. Der Josephinismus und die neue Rolle des niederen Klerus. In: Harald KRAHWINKLER (Hg.), Staat – Land – Nation – Region. Gesellschaftliches Bewußtsein in den österreichischen Ländern Kärnten, Krain, Steiermark und Küstenland 1740 bis 1918, Klagenfurt, Ljubljana, Wien 2002, S. 67-101. Vgl. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen, S. 26f. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 34.
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notwendig gewesen wäre, woran „oft die besten Projekte gescheitert“68 seien. Neupauer warf aus diesem Grund im 18. Paragraphen die Frage in den Raum, wie glücklich Österreich sein würde, „[…] wenn Joseph nach Ausschließung aller auswärtigen Triebfedern die Räder seiner grossen Staatsmaschine alle selbst […]“ betätigen würde und dann sagen könnte: „Ich allein bin der Herr, und Vater meiner Unterthanen.“69 Eine semantische Auffälligkeit ist hierbei, dass der aufgeklärte Jurist die in der Staatslehre des Josephinismus sehr geläufige Maschinenmetapher anwandte70, um seine Idealvorstellung eines „absolutistischen“ Monarchen bildhaft zu illustrieren. Bekanntlich hatte Joseph schon als junger Kronprinz in seinen im Frühjahr 1763 erstellten berühmten „Rêveries“ festgestellt, dass es seines Erachtens für einen Monarchen ohne das Vorhandensein einer absoluten Machtfülle schlichtweg nicht möglich wäre, Großes zu bewerkstelligen. Dazu verglich Joseph den idealen Staat mit einer großen Maschine, die nur ein „einziger Kopf“ lenken sollte.71 Eine josephinische Diözesanregulierung und eine kaiserliche Ernennung von neuen Bischöfen und Metropoliten rechtfertigte Franz Xaver von Neupauer in seiner Schrift in Form einer Widerrede an einen fiktiven kritischen Kirchenvertreter, indem er darauf hinwies, dass einheimische Bischöfe dank der kleineren Diözesen und ihrer örtlichen Präsenz besser dazu in der Lage wären, ihren Amtspflichten nachzukommen. Hinzu käme, dass die Einteilung der Diözesen und die Einsetzung von Bischöfen und Metropoliten eine Disziplinarsache wäre, die der Monarch „ex natura imperii“72 in vollkommener Macht ausüben dürfe: „Aber Joseph gehet zu weit – Er hebt nicht nur allein die Gerichtsbarkeit ausländischer Bischöfe und Metropoliten auf, sondern macht auch eigenmächtig eine neue Diözeseneintheilung, ernennet eigenmächtig andere inländische Bischöfe, erhebet eigenmächtig Grätz zum Erzbistume! und dies alles eigenmächtig!!! ist das nicht ein offenbarer Eingrif in die Gerechtsame des römischen Papstes und der Kirche? Sachte – mein engbrüstiger Herr Curialist! was Joseph thut, geschieht, wie wir es erwiesen haben, zum Nutzen des Staates und der Kirche, fürchten sie also nichts mein Herr! der allgemeine kristliche Glaube, das katholische Dogma, die Kirchenzucht verlieren bei Josephs neuen Einrichtungen nichts – werden nur dabei gewinnen, indem die neuen Bischöfe in dem Mittelpunkte ihrer kleineren Diözesen im Stande seyn werden, ihre bischöflichen Pflichten viel genauer zu erfüllen, als es bishero die auswärtigen bei so 68 69 70
71 72
Ebd., S. 31. Ebd. Wie Barbara Stollberg-Rilinger in ihrer Dissertation aufzeigte, war die Beschreibung des Staates als eine Maschine generell ein elementarer Bestandteil der politischen Metaphorik des frühneuzeitlichen „absoluten“ Fürstenstaates: Barbara STOLLBERG-RILINGER, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaates, Berlin 1986. Zitiert nach KLUETING, Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, S. 78. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen, S. 44.
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ungeheuren Sprengeln – bei so grossen Zerstreuungen mit ihrer eigenen Landesregierung – bei so oftmaligen Collisionen mit unserm Hofe thun könnten. Zudem ist ja eine neue Diözeseneintheilung, die Ernennung der Bischöfe und Metropoliten eine blosse zur äusserlichen Kirchenzucht gehörige sogenannte Disziplinarsache, von welcher wir schon oben sattsam erwiesen haben, daß jeder Monarch ex natura imperii die vollkommene Macht habe, selbe nach dem Bedürfnisse seines Staates abzuändern.“73 Die Auswahl der Bischöfe und Metropoliten durch Joseph II. hielt Neupauer auch insofern für angemessen, weil schon die Karolinger, Ottonen, „[…] Frideriche, und Heinriche bis auf Heinrich den 4ten diese Rechte ohne Widerspruch ausgeübet […]“ hätten.74 Neben diesem „alten Herkommen“ spräche für eine eigenständige Wahl der Bischöfe und der Metropoliten ebenfalls, dass der Kaiser als Monarch und Christ die „[…] Bedürfnisse seines Staates, und seiner unterthänigen Partikularkirchen […]“ besser kennen würde „[…] als jeder auswärtiger Collator“.75 Neupauer argumentierte in dieser Frage sowohl mit dem Naturrecht als auch mit dem göttlichen Recht, indem er die Bischofs- und Metropolitenwahl durch den Kaiser als eine „[…] edle – gottgefällige Handlung von der Natur und Evangelio […]“ deklarierte.76 Die abschließenden Worte seiner Publikation nahmen schließlich Bezug auf die Gespräche zwischen Papst Pius VI. und Kaiser Joseph II. im Jahr 1783 in Rom, deren Resultate damals anscheinend noch für Neupauer im Dunkeln lagen. Nichtsdestotrotz ging der Staatsrechtler selbstbewusst und aus voller Überzeugung davon aus, dass der Papst früher oder später die Notwendigkeit der von Joseph II. beanspruchten landesfürstlichen Kompetenzen in Kirchenangelegenheiten wegen den von ihm in seiner Schrift vorgelegten staats-, kirchen- und naturrechtlich legitimierten Gründen schon noch anerkennen würde: „Doch genug – Pius und Joseph haben sich in Rom besprochen, die Sache ist entschieden – Zwar bedecket noch in undurchforschlicher Fürhang das geheime Resultat ihrer Unterredungen; Aber hoffen dürfen wir von Joseph und Pius alles – Und daß die Sache nicht anders als glücklich für unsern Staat und die Kirche ausfallen kann. Wie – soll der sanfte Pius so überzeugenden Beweisen aus Josephs Kaisermunde widerstehen können? Nein er weiß – er erkennet es selbst so gut als wir, daß Joseph a. seine landesherrliche Gewalt von Gott habe, b. daß der einzig richtige Maßstab seiner Majestäts Rechte das Bedürfnis seiner Staaten seye, c. daß das Wohl des Staats und der Kirche die Aufhebung fremder Gerichtsbarkeit und eine neue Diözeseneintheilung fordere, d. daß neue Diözeseneintheilungen, Ernennungen der Bischöfe und Metropoliten blose Disziplinarsachen sind, e. daß Justinian, Karl der Große, und viele andere Kaiser und Könige derlei Dinge wirklich ohne Widerspruch der damaligen Kirchenvorsteher eigenmächtig ausgeübet, daß folglich auch unser Kaiser Joseph das unlaugbare Recht habe in seinen Ländern eigenmächtig eine neue 73 74 75 76
Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54.
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Diözeseneintheilung vorzunehmen, die Gerichtsbarkeit der auswärtigen Bischöfe mit Metropoliten aufzuheben, und neue inländische Bischöfe und Metropoliten zu ernennen, ohne daß diese die Bestättigung des römischen Hofes wesentlich vonnöthen haben. – Und hiermit meine lieben Leser A Dieu.“77 Neupauer konnte offensichtlich zum Zeitpunkt seiner Niederschrift noch nicht wissen, dass nach den langjährigen Verhandlungen zwischen dem Vatikan und der Habsburgermonarchie Papst Pius VI. Kaiser Joseph II. anlässlich dessen Romaufenthalts von 1783 im Jahr 1784 das Recht zur Verleihung von Benefizien zusprechen würde. Trotz dieser Konzession mussten die von Joseph II. ernannten Bischöfe aber der Vereinbarung gemäß nachträglich von Rom bestätigt werden. Dennoch schuf dieses päpstliche Zugeständnis die Voraussetzung für die daraufhin in der Habsburgermonarchie vollzogene Diözesanregulierung und die Einsetzung von vordergründig staatstreuen Kirchenmännern.78 Die Schrift des steirischen Rechtsgelehrten von 1784 wurde durch diese Entwicklungen verständlicherweise aktueller denn je und bot somit aus der Perspektive der Josephiner für die betreffenden josephinischen Kirchenreformen eine höchst willkommene staats- und kirchenrechtliche Legitimationsgrundlage. Obwohl Neupauer damit automatisch ins Fadenkreuz der Reformkritiker geriet, zögerte der Intellektuelle keineswegs, seine publizistische Tätigkeit im Sinne der josephinischen Staatskirchenpolitik in den folgenden Jahren noch mehr zu intensivieren, sodass er unbestreitbar zu einem der wichtigsten, prägendsten und bemerkenswertesten josephinischen Staats- und Kirchenrechtler in der Habsburgermonarchie avancierte.79
3.
Fazit
Die Person des steirischen Staats- und Kirchenrechtlers Franz Xaver von Neupauer (1753-1835) stellt ungeachtet seiner geistig-kulturellen Bedeutung für die Ausformung des josephinischen Staatskirchentums bis heute weitgehend ein Forschungsdesiderat dar. Wenngleich er in einigen wenigen Monographien und Aufsätzen bestenfalls nebenbei erwähnt wird80, fehlt es doch nach wie vor an einer modernen und detaillierten Einzelstudie, die das Leben und das Wirken dieses außergewöhnlichen josephinischen Gelehrten in umfangreichem Maße aufarbeitet und untersucht. Dabei ist Neupauer mit Sicherheit genauso wie der ungleich bekanntere Paul Joseph von Riegger81 zu den wichtigsten und einflussreichsten habsburgischen Staats- und Kir77 78 79 80 81
Ebd., S. 63f. Vgl. Rudolf SCHLÖGL, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750-1850, Frankfurt am Main 2013, S. 96. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen. Vgl. REINALTER, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, S. 104-106, 236, 292f., 304, 311. Siehe: SEIFERT, Paul Joseph Riegger.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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chenrechtlern des Josephinismus zu zählen, der mit seinen zahlreichen Publikationen zentrale Kirchenreformen Kaiser Josephs II. in Schutz nahm und danach strebte, den betreffenden Reformanstrengungen anhand von historischen, theologischen, staats-, kirchen- und naturrechtlichen Argumenten Legitimation zu verleihen. Dies tat er auch in einem 1784 veröffentlichten Werk, in dem er die von Joseph II. und seinen Anhängern anvisierte josephinische Diözesanregulierung, die Abschaffung der Gerichtsbarkeit der auswärtigen Bischöfe und Metropoliten und die Bestellung von neuen Bischöfen und Metropoliten substantiierte.82 Eine Neueinteilung der Diözesangrenzen begründete Neupauer mit dem Hinweis, dass sich die freien Menschen als Folge des von Gott herrührenden Naturgesetzes einem gemeinsamen Oberhaupt unterworfen und sich so zu einem Staat zusammengeschlossen hätten. Auch die ebenso von Gott stammende Kirche, die nach dem Rechtsprofessor mit dem Staat eine schwesterliche Symbiose bilden würde83, wäre aus ähnlichen Gründen entstanden. Aus der göttlichnaturrechtlichen Abstammung des Staates und seines von Gott eingesetzten Vorstehers leitete Neupauer das Recht eines Monarchen ab, die „äußere Kirchenzucht“84 zum Wohle des Gemeinwesens verwalten zu dürfen, wobei dieser auf einige Bibelzitate als Beleg zurückgriff.85 In Fragen dieser „äußeren Kirchenzucht“ musste der Monarch somit nicht den geistlichen Obrigkeiten, sondern nur Gott Rechenschaft ablegen.86 Das schwesterliche und symbiotische Verhältnis zwischen dem Staat und der Kirche war außerdem nach dem Dafürhalten des Steirers für den Staat kein Hindernis, sondern nur noch ein weiteres Argument, die Kirche zum Wohle seiner eigenen Entwicklung, der Untertanen aber auch der Kirche selbst ohne etwaige Bedenken „nutzen“ zu können.87 Weil Neupauer die Rechte des Staates und der Kirche für immerwährend und unveränderlich erachtete, müsste seiner Meinung nach Joseph II. „ex natura imperii“88 über die gleichen Rechte in Betreff des Kirchenwesens verfügen wie schon seine „Vorgänger“ Konstantin, Theodosius, Justinian und Karl der Große, weshalb der Papst und die Bischöfe dem Kaiser die Behandlung der kirchlichen „Disziplinargesetze“, worunter die Neudefinierung der Diözesangrenzen, die geistliche Gerichtsbarkeit und die Einsetzung von Bischöfen und Metropoliten fielen, nicht absprechen dürften.89 Eine von Rom unabhängige Ernennung von Bischöfen und Metropoliten durch Kaiser Joseph II. sah der Staats- und Kirchenrechtler für die josephinische Herrschaftsordnung allgemein als unumgänglich an, da er sich deren dezisiven Rolle als Kommunikatoren des landesfürstlichen Willens mehr als nur bewusst war. Um eine aufgeklärt-josephinische Gesinnung zu verbreiten und die Unter82 83 84 85 86 87 88 89
Vgl. NEUPAUER, Frage: Ob der Kaiser das Recht habe, in seinen Erbländern aus eigener Macht eine neue Diözeseneintheilung vorzunehmen. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 9-12. Vgl. ebd., S. 21f. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 24f.
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Philip Steiner
tanen zur Befolgung der kaiserlichen Anordnungen zu ermahnen, wären nun einmal einheimische, vor Ort präsente, verlässliche und staatstreue Bischöfe bzw. Metropoliten vonnöten, die quasi als „kaiserliche Oberbeamte“ die Speerspitze eines bis hinein ins kleinste Dorf wirkenden „Staatsklerus“ formieren sollten.90 Neupauer erinnerte zusätzlich daran, dass auch schon vorangegangene Herrscher seit dem Mittelalter Kirchenmänner selbstständig eingesetzt hätten. Zudem wüsste ein Monarch über die Erfordernisse seines Staates besser Bescheid als eine auswärtige Obrigkeit, wobei der aufgeklärte Gelehrte die von ihm ins Feld geführte Rechtmäßigkeit einer kaiserlichen Bischofs- und Metropolitenwahl naturrechtlich und theologisch legitimierte, in dem er eine solche als eine „[…] edle – gottgefällige Handlung von der Natur und Evangelio […]“ charakterisierte.91 Sowohl seine 1789 stattfindende Berufung als Professor für Kirchenrecht und der Landesgesetze an die angesehene Universität Wien92 als auch seine darauffolgende Erhebung in den Adelsstand unter Kaiser Leopold II. zur Honorierung seiner wissenschaftlichen Verdienste demonstrieren93, wie angesehen Franz Xaver von Neupauer in der Wiener Regierung und in Gelehrtenkreisen gewesen sein musste. In aufgeklärten adeligen und bürgerlichen Intellektuellenzirkeln verkehrend, kam er später besonders unter Kaiser Franz II./I. zu Unrecht in Verdacht, mit revolutionärem Gedankengut zu sympathisieren.94 Dabei war der steirische Staats- und Kirchenrechtler, wie seine einzelnen Publikationen inhaltlich widerspiegeln, stets ein rigoroser Verfechter einer zentralistisch orientierten Monarchie josephinischer Prägung, die dem Monarchen eine umfangreiche und fast uneingeschränkte Machtbefugnis konzedierte. Selbst wenn der radikale Josephiner aus seiner aufgeklärten Geisteshaltung heraus seit 1790 den steirischen Bürgerstand und die Bauern in ihren Bestrebungen nach einer politischen wie auch sozialen Besserstellung unterstützte und beriet, verkörperte ein völliger Umsturz der Herrschaftsordnung à la Frankreich im Grunde genommen genau das Gegenteil, für das er in seinen Werken immer wieder in aller Klarheit einstand. Der Einsatz Neupauers für die nach einer erweiterten politischen Partizipation trachtenden landesfürstlichen Städte und Märkte der Steiermark bezweckte einzig und allein, die Repräsentanz des steirischen Bürgerstandes in der Landesverwaltung zu stärken, ohne dabei jedoch die bestehende monarchische Ordnung in irgendeiner Art und Weise gefährden zu wollen. Zwar war er als typischer Josephiner davon beseelt, die von dem landständischen Adel dominierten intermediären Gewalten zu Gunsten des habsburgischen Zentralismus noch mehr zu schwächen und die politisch-soziale Situation der nichtadeligen Stände allgemein zu verbessern, doch von einer rabiaten „revolutionären“ Adelsfeindlichkeit kann bei Neupauer, der selbst sehr gerne in aufgeklärten adeligen Intellektuellenkreisen reüssierte95, insgesamt keine Rede sein. In Betreff der 90 91 92 93 94 95
Vgl. ebd., S. 26-32. Vgl. ebd., S. 51-54. Vgl. DESPUT, Neupauer Franz Xaver von, S. 101. Vgl. SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von, S. 550. Vgl. REINALTER, Aufgeklärter Absolutismus und Revolution, S. 236, 292f., 304, 311. Ebd.
Der steirische Staats- und Kirchenrechtler Franz Xaver von Neupauer
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Bauern entsprach Neupauer vorwiegend dem allgegenwärtigen und permanenten josephinischen Bestreben, die soziale Lage der grundherrschaftlichen Untertanen zu verbessern und diese in ihren Rechten gegenüber ihren adeligen bzw. geistlichen Grundobrigkeiten zu protegieren.96 Sein früher Rückzug ins Privatleben, der nach dem Ableben Leopolds II. aufgrund der zunehmenden Kritik an seinen Veröffentlichungen erfolgte, seine Rückkehr nach Graz im Jahr 1810 und seine nachlassende Publikationstätigkeit schmälerten jedenfalls, um ein Fazit zu ziehen, die einflussreiche, jedoch in der Forschung bislang völlig unterschätzte Rolle Neupauers für die Genese des josephinischen Staatskirchenwesens nicht im Geringsten.97
96 97
Ebd., 104-106. Vgl. SCHLOSSAR, Neupauer, Franz Xaver Edler von, S. 550.
Franz Leander Fillafer
SECHS JOSEPHINER FRANZ SZÉCHÉNYI – GYÖRGY FEJÉR – MAKSIMILIAN VRHOVAC – GREGOR BERZEVICZY – CARL KÜBECK – LEO THUN
Zurzeit arbeite ich an einem Buch über das Erbe der Aufklärung in der Habsburgermonarchie zwischen den 1790er Jahren und der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Aufsatz möchte ich nur einen kurzen Auszug, gewissermaßen einen Prospekt bieten, in dem ich einige neue strukturanalytische Interpretamente zur Denkgeschichte der Monarchie vorstelle. Mein Beitrag geht von folgender Frage aus: Was geschah mit der Aufklärung in den habsburgischen Ländern um und nach 1800? Ein Raster pauschaler Feststellungen über „die“ Aufklärung ist dabei wenig erkenntnisträchtig. Vielmehr möchte ich anhand von konkreten Varianten der Aufklärung das Rekalibrieren und Reformulieren aufgeklärter Argumente und Redeweisen aufzeigen. So lassen sich Kontinuitäten und Veränderungen von Denkfiguren feiner lokalisieren. Dies wiederum ermöglicht Ergebnisse, die für die aktuelle Debatte über die Einheit oder Vielfalt der Aufklärung ertragreich sind.1 Der Versuch diese Debatte über Aufklärungen im Plural, die bislang fast ausschließlich auf der Grundlage westeuropäischer und italienischer Quellen geführt wurde2, um zentral- und osteuropäische Gesichtspunkte zu ergänzen3, wirkt
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Vgl. John G.A. POCOCK, Clergy and Commerce: The Conservative Enlightenment in England. In: L’Eta dei Lumi: Studi storici sul Settecento europeo in onore di Franco Venturi. Hg. v. Raffaele AJELLO u.a., 2 Bde., Neapel 1985, Bd. 1, S. 532-562. – John ROBERTSON, The Case for the Enlightenment: Scotland and Naples 1680-1760, Cambridge 2005. – Giuseppe RICUPERATI, Conservative e Radical Enlightenment: Storia e critica de due concetti di periodizzazione del Settecento. In: Rivista storica italiana 121 (2009), S. 229-270. – Balázs TRENCSÉNYI, Eszmetörténeti program és módszertani adaptáció [Ein Programm der Ideengeschichte und methodischen Aneignung]. In: DERS., A Politika Nyelvei: Eszmetörténeti Tanulmányok, Budapest 2007, S. 13-58. Jüngst Dan EDELSTEIN, The Enlightenment. A Genealogy, Chicago 2010, der die Aufklärung auf ein aus der „Querelle des Anciens et des Modernes“ resultierendes Argumentationsmodell gelehrter Selbstvergewisserung zurückführt, das dann von der französischen Geisteswelt auf ganz
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Franz Leander Fillafer
befruchtend und führt einige neue Parameter in die Diskussion ein, die das Gesamtbild der Aufklärung in Europa verändern. Einen Anstoß in diese Richtung möchte ich im vorliegenden Beitrag geben. Dieses Anliegen wird hier mit einer spezifischen Perspektive verknüpft: Die folgenden Seiten versuchen zu zeigen, wie die Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert zu einem Erbe wurde, dessen man sich vergewisserte oder zu entledigen suchte. Dieser Zugang ermöglicht zwei Arten von Relationsbestimmung. Er gestattet es zum einen, besser und aussagekräftiger als bisher die Verbindungen zwischen den Varianten der Aufklärung und den großen ideengeschichtlichen Phänomenen des 19. Jahrhunderts, Liberalismus, Konservatismus und Romantik, zu orten. Zugleich wird so präziser erfassbar, wie die Verläufe verschiedener Spielarten der Aufklärung mit den sich im frühen 19. Jahrhundert ausbildenden, rivalisierenden Konzepten der Aufklärung als Epochensignatur zusammenhängen, also wie die Aufklärung vom Geschehen zur Geschichte wurde. Daher versuche ich auf den folgenden Seiten die Veränderungen von Denkfiguren und Idiomen stets im Wechselspiel mit der Kaskade sich polemisch auf das 18. Jahrhundert beziehender selektiver Anamnesen und verabsolutierender Rückübertragungen zu untersuchen.4 Die Begriffsgeschichte kann hier wertvolle Impulse geben, liefert aber für sich genommen keine aussagekräftigen Daten. Das liegt daran, dass die Semantik der Selbstverortung als „aufgeklärt“ auf der Ebene sprachlich-kognitiver Registraturkorrelate und die in das 19. Jahrhundert fortgeführten aufklärerischen Denk- und Redeweisen verschiedenen Veränderungsrhythmen unterliegen. Das ist ein bemerkenswerter Befund, der auf die Entkoppelung von politischer Semantik und Theoriemotorik verweist, und zugleich auf die Ablösung der Überlieferungsdynamik gelehrter Verfahren vom Sprechen über eine historisch gewordene Aufklärung. Das heißt: Einige der Protagonisten meiner Studie lehnten „die Aufklärung“ ausdrücklich ab, tradierten aber dennoch spezifisch aufklärerische Denkweisen und Argumentationsmodelle. Ebenso präsent ist der Typus des Autors, der sich auf die „wahre Aufklärung“ beruft, aber aufgeklärte Idiome und Argumentationsweisen schon lange hinter sich gelassen hat.5
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Europa ausgestrahlt habe, dazu die kritischen Bemerkungen von James SCHMIDT, Mediation, Genealogy, and (the) Enlightenments. In: Eighteenth-Century Studies 45 (2011), S. 127-139. Richard BUTTERWICK, Simon DAVIES und Gabriel SÁNCHEZ ESPINOSA (Hg.), Peripheries of the Enlightenment, Oxford 2008. – Alexander KRAUS und Andreas RENNER (Hg.), Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren, Frankfurt am Main 2008. – Éva RING, Újabb adatok az 1797-re tervezett lengyel-magyar Habsburg-ellenes felkelés kérdéséhez [Jüngste Daten zur Frage des polnisch-ungarischen antihabsburgischen Aufstandes im Jahr 1797]. In: Századok 113 (1979), S. 827-850. Vgl. vorerst Franz Leander FILLAFER, Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe. Ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für historische Forschung 40/1 (2013), S. 35-97. – DERS., Escaping the Enlightenment. Liberal Thought and the Legacies of the Eighteenth Century in the Habsburg Monarchy 1790-1848. Phil. Diss., Universität Konstanz 2012. Vgl. Willibald STEINMETZS vorzügliche Skizze, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art. In: Heidrun KÄMPER / Ludwig M. EICHINGER (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur: Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 174-197, und Hei-
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Um dem skizzierten Programm Farbe und Anschaulichkeit zu verleihen, erprobt mein Beitrag aus gesamtmonarchischer Perspektive Anwendungsmöglichkeiten dieser Agenda anhand von sechs biographischen Porträts: Behandelt werden Maksimilian Vrhovac (1752-1827), Gergely Berzeviczy (1763-1822), Franz Széchényi (17541820), György Fejér (1766-1851), Carl von Kübeck (1780-1855) und Leo Thun (1811-1888). Eingebettet in den dargestellten methodischen Rahmen werde ich mich am Beispiel dieser Lebensläufe mit drei eng verknüpften Annahmen beschäftigen, die alle Biographien betreffen: Erstens mit dem vertrauten Bild der Habsburgermonarchie von den frühen 1790er Jahren bis zur Revolution von 1848 als Hort der Reaktion, zweitens mit dem linearen Zusammenhang von Aufklärung und „nationalem Erwachen“ in den habsburgischen Ländern und drittens mit der zumeist vorausgesetzten Kontinuität zwischen Aufklärung und Liberalismus. Gegen alle drei Auffassungen werde ich Einwände formulieren. Auf diese Weise möchte ich dazu beitragen, das Profil des viel diskutierten, aber wenig definierten „Josephinismus“ in der Habsburgermonarchie zu schärfen. Abschließend werden drei „Stufen“ josephinischer Sinnbildung herauspräpariert.
1.
Einleitung
Die Kausalitätsanmutungen, die Aufklärung, Liberalismus und das nationale Erwachen verbinden, werden von einer fest gefügten Epochenstruktur untermauert, die weniger als Sortiermuster denn als Ersatzheuristik fungiert. Die rigide Periodisierung nach Jahrhundertwenden, die flüssige Epochenbegriffe ausschließt, stellt einen Rückschritt hinter ein gesamthistorisches, sozusagen der „Einheit der Geschichte“ verpflichtetes Reflexionsniveau dar. Für mein Thema ist insbesondere die Zeitschwelle des Jahres 1800 von Belang, man hat was die Einschärfung dieses Epochenbruchs angeht, zu Recht von einer „Zäsurideologie“ gesprochen.6 Dass diese Sicht auf die
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ner SCHULTZ, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte. In: Reinhart KOSELLECK (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 43-74, hier S. 65: „Was immer die ,Konvergenz von Begriff und Geschichte’ (Reinhart KOSELLECK, Einleitung. In: Otto BRUNNER, Werner CONZE, Reinhart KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, XIII-XXVII, XXIII) genau heißen mag, sie kann jedenfalls nicht darin bestehen, daß einem Wandel des Sachverhalts auch ein (sofortiger) Wandel des Begriffs folgen muß. Vielmehr ist es gut vorstellbar, daß bestimmte Benutzer auf einem Begriff beharren, entweder weil sie eine von heutigen Rekonstruktionen des Sachverhalts her relevante Veränderung nicht bemerkt haben (was auch erklärungsbedürftig sein kann), oder obwohl sie sie bemerkt haben, aus bestimmten […] zu explizierenden Gründen nicht bemerken wollten oder andere in dem Glauben lassen wollten, sie hätten sie nicht bemerkt usw.“ Zur Auffächerung von Epochenzäsuren anregend Paul NOLTE, Gibt es noch eine Einheit der Neueren Geschichte? In: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 377-399. – Winfried SCHULZE, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, S. 22. – Stanley STEIN / Barbara STEIN, The Colonial Heritage of Latin America: Essays on Economic Independence in
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„Zeitenwende“ auch ein abruptes Ende der Aufklärung impliziert und nicht zuletzt ein spezifisch liberales Geschichtsbild fortschreibt, werde ich abschließend näher erläutern. Gegen diese Verengung ist ein Kraut gewachsen. Die Wechselabhängigkeiten und überraschenden Filiationen zwischen der Aufklärung und den „Strömungen“ des 19. Jahrhunderts, Liberalismus, Konservatismus und Romantik, die diskursrelationale Auffächerung und die Plausibilitätseinbußen von „Aufklärung“ können mit sorgfältigen Recherchen präziser geortet und in einer neuen Deutung zusammengefasst werden. Beginnen wir mit dem ersten neuralgischen Problem, der österreichischen „schwarzen Legende“7 über die Monarchie vor der Revolution. Bei eingehender Betrachtung wird klar, dass sich dieser Topos um 1848 verfestigte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts stellten sich die plötzlich zur Vorgeschichte, im damaligen Sprachgebrauch zur „Genesis“ der Revolution gewordenen Jahrzehnte mitnichten eindeutig dar, ja es fällt eine ebenso paradoxer wie fundamentaler Widerspruch auf: Manchen galt die Monarchie als Bollwerk der Rückständigkeit und Reaktion, von anderen wurde die Nachgiebigkeit des Regimes vor 1848 angeprangert. Diese Diskrepanz der Deutungen wurde entscheidend für die sich herauskristallisierenden politischen Richtungen. Liberalen Autoren galt die Abkehr von der Aufklärung als Grund für den Untergang des vormärzlichen Regimes, für Konservative war gerade ein Übermaß an Aufklärung die Ursache des Scheiterns. „Für die eine Richtung war die Ursache des Tadels das „Reaktionäre“, während für die andere die gleichen Vorgänge mit der Zensur aufgeklärt-liberaler Staatskirchlichkeit“ und irregeleiteter staatlicher Bevormundung versehen wurden.8 Diese Einschätzungen beruhten auch auf diametralen Zeitlogiken. Die liberale Lesart datiert das Einsetzen einer reaktionären Wende spätestens mit dem Tod Leopold II. Der Liberalismus enthob sich damit jeder Verstrickung in den vormärzlichen Staat und erschien als deus ex machina, der in den 1830er Jahren auftrat, aber von der angeblich durch die Reaktion unterdrückten josephinischen Aufklärung mittels actio in distans maßgeblich vorgeprägt und als ihr legitimer Nachfolger ausgewiesen wurde. Aus konservativer Sicht wurde im Gegenteil die Fortführung emanzipativer Postulate und Phrasen von Kanzeln und Kathedern bis in den Vormärz beklagt, die Duldsamkeit gegen rationalistisch-naturrechtliche Lehren von Staat und Gesellschaft, welche die Monarchie an den Rand des Unterganges führten. Der Selbstherleitung liberaler Autoren vom 18. Jahrhundert pflichtete man konservativerseits gerne bei. Nur war es eben für konservative Stimmen keine „spontane Mutation“ bürgerlich-
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Perspective, New York 1970, S. 159-160. – Walter DEMEL, „Fließende Epochengrenzen“: Ein Plädoyer für eine neue Periodisierungsweise historischer Zeiträume. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 590-598. Vgl. Helmut J. MEZLER-ANDELBERG, Österreichs „schwarze Legende“: Zur Kritik an der Habsburgermonarchie durch österreichische Zeitgenossen Erzherzog Johanns. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 16 (1963), S. 216-249. Fritz VALJAVEC, Die josephinischen Wurzeln des österreichischen Konservativismus. In: Südostforschungen 14 (1960), S. 166-175, hier S. 167.
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selbsttätigen Gemeinsinns, der die Revolution auslöste, sondern die Kulmination veralteter und subversiver Lehren des 18. Jahrhunderts. Das verweist übrigens darauf, dass die Polaritäten von Modernismus und Rückwärtsgewandtheit in den Jahren um 1848 nicht so deutlich verteilt sind, wie uns das Selbstmerchandising der liberalen „Männer des Fortschritts“ glauben machen könnte.9 Die Thunschen Reformen sind ganz von der Zielvorgabe durchdrungen, diesem vermeintlichen, seit einem halben Jahrhundert diskreditierten Fortschritt eine Alternative entgegenzusetzen.10 Nach 1848 gelang es der konservativen „Hochtory-Hofpartei“11, die zentralistische und föderale Anschauungen zeitweilig zusammenhielt, der Aufklärung drei Revolutionen anzukreiden, jene von 1789, 1830 und 1848. Die Witwe des Grafen Carl ClamMartiniz notierte 1849 in ihr Tagebuch – nebenbei ein verstecktes Zitat Friedrich Gentzens über die große Französische Revolution –, die Revolution sei „die Frucht der größten Nachgibigkeit und der größten Liberalität der Gesinnungen, die, solange es Thronen gibt, auf einem Throne gewaltet haben“.12 Mit diesen Deutungen wurden auf dem Feld der Geschichtspolitik die Alternativen angebahnt, die späterhin zu historiographischen Schneisen ausgebaut wurden. Dass sich so um 1848 eine Neuausrichtung intellektueller Koordinatensysteme und Autobiographien vollzog, die unser Verständnis der Geschichte der Monarchie bis heute prägt, sei hier festgehalten, darauf gehe ich im letzten Abschnitt dieses Beitrags noch ein. Zunächst komme ich aber zum zweiten Teil meiner Ausführungen, den sechs biographischen Porträts. Von dieser Perspektive aus möchte die beiden anderen Probleme aus der Rubrik der drei Themenfelder, die ich eingangs erwähnt habe, aufzeigen, die Stringenzillusion, die Aufklärung und nationales Erwachen verbindet und die 9
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Carl FEYERFEIL, Wie steht es mit der Aufklärung unserer Zeit, Wien 1848. – Jan Valerián JIRSÍK, [Rezension von] Aloys LINDENBAUER, Uiber die gegenwärtige Stellung der katholischen Kirche zu den von ihr getrennten Confessionen. Oder die Frage: ist eine Vereinigung oder die Gemeinschaft mit den von uns getrennten Confessionen möglich? Augsburg 1844. In: Časopis pro katolické duchowenstwo 2 (1845), S. 390-393. Diese differenzierte Sicht auf die „Modernität“ liberaler Lösungsansätze darf man eben nicht mit um 1848 ebenfalls noch bemühten Konspirations- und Drahtziehertheoremen verwechseln, vgl. Wolfgang ALBRECHT, Illuminatismus redivivus? Revolutionsfeindliche Publizistik im Bann überkommener Verschwörungsphantasmen. In: Erich DONNERT (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit: Festschrift für Günther Muhlpfordt zum 75. Geburtstag, 5 Bde., Köln, Weimar 1999, hier Bd. 5, S. 91-97. Hans LENTZE, Graf Thun und die deutsche Rechtsgeschichte. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 63 (1955), S. 500-521. – Alphons LHOTSKY, Das Ende des Josephinismus: Epilegomena zu Hans Lentzes Werk über die Reformen des Ministers Grafen Thun. In: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 15 (1962), S. 527-549. – Franz Leander FILLAFER, Rivalisierende Aufklärungen: Die Kontinuität und Historisierung des josephinischen Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie. In: Wolfgang HARDTWIG (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen 2010, S. 123-169. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Nachlaß Joseph von Lasser, 2, 11. 4. 1849. Tagebuch Maria Anna Gräfin Clam-Martinic, Privatbesitz, Brünn, ebenda: „Auch der Konstitutionalismus schützt nicht vor der Revolution.“ Vgl. Friedrich GENTZ, Ausgewählte Schriften. Hg. v. Wilderich WEICK, 5 Bde., Stuttgart, Leipzig 1836-1838, hier Bd. 5, S. 210. Ganz ähnlich bei Erzherzog Johann vgl. Steiermärkisches Landesarchiv, Graz, Archiv Meran, Eintrag v. 7. März 1848.
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Linearität, die Aufklärung und Liberalismus verknüpft. Die Auswahl der „orfani giuseppisti“13, die ich hier vornehme, soll übrigens der häufigen Beschränkung auf den deutschen Sprachraum entgegenwirken, man könnte ebenso gut Joseph Hormayr, den Wiener Ästhetiker Ignaz Jeitteles (Julius Seidlitz) oder Josef Alexander Helferts Vater, den Staatskirchenrechtler in Prag, heranziehen.14 In seinem Klassiker „Weltbürgertum und Nationalstaat“ hat Friedrich Meinecke davon gesprochen, dass die „Geradlinigkeit“ der Wege über die Zeitschwelle von 1800, der Wege aus der Aufklärung im Großen, sich im Detail in „ein wunderliches und krauses Zickzack“15 auflöst. Das heißt: Im Folgenden interessieren die Abkürzungen, Pannenstreifen, Einbahnstraßen und Schikanen, um dann die Frage zu stellen auf welchen Umwegen man überhaupt von der Aufklärung zu den Endstationen „Liberalismus“ oder „nationales Erwachen“ gelangte. Oftmals war das, wie zu zeigen bleibt, nicht möglich, es führte, um in der Metaphorik der Pfade zu bleiben, dorthin keine Trasse. Anhand der ausgewählten Biographien lässt sich deutlich zeigen, welch grundstürzende Veränderungen die Regierungszeit Josephs II., sein „grande progetto“ (Franco Venturi16) eines auf verbindlichen Rechtsnormen basierenden Einheitsstaats in Zentraleuropa auslöste. Zugleich wird klar, wie wenig Aufklärung und Josephinismus aufeinander reduzibel waren und wie wenig diese notwendige Differenzierung bisher von der Historiographie geleistet wurde. Mit der Auswahl der Biographien für diesen Beitrag und dem Versuchsaufbau, in dem das Material arrangiert wird, möchte ich eine Anregung aufgreifen, die Leslie Bodi in einer ausgezeichneten Skizze über das Erbe der Aufklärung in den habsburgischen Ländern gegeben hat. Bodi wies darauf hin, dass das josephinische Trauma „entscheidende Folgen für die Habsburgermonarchie und ihre Nachfolgestaaten, für ganz Mittel- und Osteuropa“ hatte und hielt fest: „Es ist nicht mit Kategorien wie Aufklärung und Romantik, Fortschritt oder Reaktion, ,links’ oder ,rechts’ erfaßbar, sondern es geht um die Konfrontation verschiedener soziohistorischer Ebenen, um verschiedene kulturpsychologische Dimensionen. Dieser Antagonismus kann auch innerhalb desselben Sprachgebietes zum Mittel der Identifikation und Selbstidentifikation sehr verschiedener Gesellschaftssysteme werden.“17 Wie eine notwendig selekti13 14
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Walter MARKOV, I Giacobini dei paesi absburgici. In: Studi Storici 3 (1962), S. 493-525. Vgl. Maria Paulina PRINS, Joseph Freiherr von Hormayr. Van apostel der Oostenrijksnationale gedachte tot pionier der Duitse eenheid, Assen 1938. Vgl. auch die wichtige Studie von Helmut SLAPNICKA, Der Prager Lehrstuhl des Kirchenrechtes im Vormärz – Josef Helfert und sein Lehrbuch. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung 120 (2003), S. 619-630. Zu Jeitteles vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 12 (2005), S. 132-133. Friedrich MEINECKE, Weltbürgertum und Nationalstaat [1907], München 41928, S. 60. Vgl. die Besprechung von Rudolf VIERHAUS. In: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 650-652. Derek BEALES, Franco Venturi and Joseph II’s grande progetto. In: Rivista storica italiana 108 (1996), S. 742-750. Leslie BODI, Widersprüche der Aufklärung. das Sprachpatent von 1784 und die Folgen. In: DERS., Literatur, Politik, Identität – Literature, Politics, Cultural Identity, St. Ingbert 2002, S. 328-338, hier S. 334. Vgl. DERS., System und Bewegung: Funktion und Folgen des Josephinischen Tauwetters. In: DERS., Literatur, Politik, Identität (wie ebd.), S. 271: „Der von
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ve und stichprobenhafte, aber doch aussagekräftige Anwendung dieser Beobachtung Bodis aussehen kann, zeigen die folgenden Seiten. Für fünf der sechs Protagonisten gilt, dass sie alle zunächst glühende Josephiner und überzeugte Aufklärer waren – und sie sind teilweise beides, teilweise aber auch nur eines von beidem geblieben. Aus den Lebensläufen ergibt sich freilich noch kein Erklärungsmodell. Das Gesamtbild, die Einordnung der sechs Biographien in ein generelles Verlaufsschema, folgt im letzten Abschnitt des Aufsatzes.
2.
Franz Széchényi (1754-1820), enttäuschter Josephiner zwischen Aufklärung und Romantik
Romantische Entwürfe von Staat, Gesellschaft und Religion entwickelten für enttäuschte Josephiner seit den 1790er Jahren beträchtliche Attraktivität. Diese Anziehungskraft rührte – das ist gegen den Tenor der älteren Forschung festzuhalten, die von der „Überwindung“ einer rationalistischen und mechanistischen Aufklärung ausging18 – weniger von einer gemeinsamen entschiedenen Ablehnung der Aufklärung her, sondern von ähnlich gelagerten Distanzierungsbedürfnissen bei Josephinern und Romantikern. Denkanstöße für das Remodellieren des postjosephinischen Selbst wurden begierig aufgegriffen.19 Einige ehemalige Parteigänger Josephs, darunter frühere Freimaurer, gerieten in den Dunstkreis des Redemptoristenpaters Klemens Maria Hofbauer und seiner katholischen Erneuerung, so auch Graf Franz Széchényi.
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Joseph II. geschaffene, zentralisierte, übernationale absolutistische Staat ist die Grundlage des Metternichschen Systems; aber dieses erbt auch all die Probleme, mit denen die Reformaufklärung nicht fertig werden konnte: das Nationalitätenproblem, das Weiterleben vorabsolutistischer korporativer Institutionen, die trotz aller systematischen Polizeiüberwachung Sammelpunkte für freiheitliche Bestrebungen werden können, sowie das im josephinischen Tauwetter entstandene literarische Leben und eine potentiell höchst mobile Intellegentsia, die sich nostalgisch an die Schreib- und Lesefreiheit der achtziger Jahre erinnert.“ Daniela GRETZ, Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München 2007. – Gábor VADERNA, Biedermeier és szellemtörténet. Zolnai Béla és a magyar biedermeier [Biedermeier und Geistesgeschichte. Béla Zolnai und das ungarische Biedermeier]. In: Szabolcs OLÁH / Attila SIMON / Péter SZIRÁK (Hg.), Szerep és közeg. Identitás és kánon a romantikában és a modernségben, Budapest 2006, S. 130-148. – Zdeněk KALISTA, Úvod do politické ideologie českého baroka [Einführung in die politische Ideologie des tschechischen Barock]. Brno 1934. Vgl. zur Kontextualisierung der Historiografie der Zwischenkriegszeit FILLAFER, Die Aufklärung in der Habsburgermonarchie und ihr Erbe (wie Anm. 4). Am neuen Regierungsstil der 1790er Jahre stachen aus der Sicht der enttäuschten Josephiner zwei Merkmale hervor: Eine unausgegorene und zaghafte, zu wenig weitreichende Wiederherstellung des status quo vor Josephs Regierung und die Beibehaltung der spätaufklärerischen Lehrbücher an den Universitäten, Lyzeen und Priesterseminaren. Beide Charakteristika entfremdeten die desillusionierten Josephiner, die sich selbst eben am neuralgischen Punkt „Aufklärung“ abarbeiteten, zusätzlich von dem neuen Regime. In ihren Augen ergab sich so eine ernüchternde Kontinuität zwischen der Regierung Josephs und jener Franz II./I.
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Franz Széchényi20 studierte am Theresianum, der von Maria Theresia geschaffenen Ausbildungsstätte für den Adel der gesamten Monarchie, die als Ersatz für die verschiedenen landständischen Ritterakademien fungieren sollte.21 Dort hörte er bei seinem späteren Freund und Korrespondenzpartner, dem Wiener Erzbischof Sigismund von Hohenwart. Nach Abschluss der Studien diente Széchényi als Assessor an der Distriktualtafel in Güns/Kőszeg, später wurde er „locumentes Bani“ (1783), also Stellvertreter des Banus von Kroatien in Zagreb/Agram, ab 1784 Josephs königlicher Kommissär für den Regierungsbezirk Pécs/Fünfkirchen, als der er die in bisheriger althergebrachter Weise eingesetzten Würdenträger des Komitats, Obergespan und Vizegespan, ablöste. Széchényi wurde damit voll in Josephs große Reform eingebunden, durch die in der ungarischen Verwaltung und Verfassung kein Stein auf dem anderen bleiben sollte: Die Komitate sollten zu zehn Distrikten mit vom König ernannten Kommissären verschmelzen, die adelige Selbstverwaltung wurde mit einem Federstrich abgeschafft.22 20
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Als Standarddarstellung ist immer noch Vilmos FRÁKNOI, Széchényi Ferenc 1754-1820, Budapest 1902 heranzuziehen, sowie Katalin GILLEMONT, Gróf Széchényi Ferenc és becsi köre [Graf Franz Széchényi und sein Wiener Kreis]. Budapest 1933, S. 14-73. Zuverlässig-quellennahe und gänzlich apologetische Darstellung zum Hofbauerkreis M. Baptista SCHWEITZER, Kirchliche Romantik: Die Einwirkung des hl. Clemens Maria Hofbauer auf das Geistesleben in Wien. In: Historisches Jahrbuch 48 (1928), S. 389-460. Olga KHAVANOVA, Hazafiság a lojalitás jegyében. A Theresianum magyar növendékei és a bécsi udvar [Im Geiste des Patriotismus und der Loyalität. Die ungarischen Studenten des Theresianum und der Wiener Hof]. In: Századok 140 (2006), S. 1503-1518. – Moritz CSÁKY, Faludi und die geistigen Strömungen seiner Zeit. In: Burgenländische Heimatblätter 14 (1979), S. 149-156. Vgl. Josephs Äußerung gegenüber der ungarischen Hofkanzlei: „Keine Constitution kann wider die Grundlage des Natürlichen, und Gesellschaftlichen Rechts bestehen, und wann sie auch bestanden, so ist es nur Gewalt, oder Unverstand, die sie darinnen eine Zeit hat fortschleppen können.“ Zitiert nach Lajos HAJDÚ, II. József igazgatási reformjai Magyarországon [Die Verwaltungsreformen Josephs II. in Ungarn]. Budapest 1982, S. 173. Weiters: „Ich unterscheide alßo die Formen von den Grundgesetzen, und behaupte, daß der Gebietendenn Macht, welche in einer Monarchischen Regierung der Monarch ist, die Veränderung der Form, der Benamsungen, der Untertheilungen, kurz die Art der Auslegung und Ausübung der Fundamental Gesetze einzig, und allein zustehet, und auch durch alle Landtäge dem König die Ausübende Macht eingeraumet worden ist.“ Zitiert nach Antal SZÁNTAY, Regionalpolitik im alten Europa: Die Verwaltungsreformen Josephs II. in Ungarn, in der Lombardei und in den österreichischen Niederlanden 1785-1790, Budapest 2005, S. 79, Anm. 252. Zur Reformfähigkeit der ungarischen Verfassung: „Wo aber eine bessere Form durch Theorie, und Praktik schlecht und verderblich bewiesen werden kann, da ist es auch nicht unrecht, wann auch nur jenes, so durch theoretische Sätze, da man den praktischen Beweis noch nicht voraushaben kann, als besser bewießen, eingeführt und angenommen wird.“ Magyar Országos Levéltár, Budapest, I-30, 2. csomó, fol. 451v. Vgl. weiters: Hermann CONRAD (Hg.), Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias: Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht, Opladen 1964, S. 151-153, 158, 164, 192f., 196, 244f. – Anna Hedwig BENNA, Der Kronprinzenunterricht Josefs II. in der inneren Verfassung der Erbländer und die Wiener Zentralstellen. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 20 (1967), S. 115-179. – DIES., Zur Situation von Religion und Kirche in Österreich in den Fünfzigerjahren des 18. Jahrhunderts – eine Denkschrift Bartensteins zum Kronprinzenunterricht Jo-
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1786 trat Széchényi aus Gesundheitsgründen zurück. Später revidierte er seine Biographie, indem er die Verstrickung in das unverfassungsmäßige Regime Josephs leugnete, den Aufstieg zum Würdenträger in die Regierungszeit der Mutter des Kaisers vordatierte und seine standhafte Ablehnung des angetragenen Kommissärspostens erfand. In Széchényis Reinschrift des Lebens nimmt sich die autobiographische Neutaktung mit imaginierter Ämterrochade dann so aus: „1785 den 11. Februar erhielt ich ein Schreiben des Canzlers [Franz Eszterházy], […] in welchem er mir […] berichtet, dass ich zum Commissar des Agramer Districts bestimmt sei. Das gesetzwidrige und gefährliche dieses Amtes […] bestimmte mich selbes zu deprecieren. Skerlecz ward also anstatt meiner ernannt und ich verlor die Statthalterwürde, die ich unter Maria Theresia erhielt.“23 Fast zeitgleich mit dem Umschreiben seiner ego-histoire exzerpiert Széchényi aus Adam Müllers „Zwölf Reden über Beredsamkeit“24, wo er das Konzept der „Protestation gegen sich selbst“ und den metaventriloquistischen „Tausch des Herzens“25 ansprechend findet, die Müller als Qualität des neuen Rhetors hervorhebt. Das, wie Széchényi bemerkt, „Ersprießen“ der Öffentlichkeit in einem nachabsolutistischen Staatsgefüge soll nicht mehr auf Überredungskünsten – den „lenient arts“ des „falschen Erhabenen“, von denen sein Freund und ehemaliger Lehrer, der Wiener Erzbischof Sigismund Hohenwart in Anspielung auf Edmund Burkes Enquiry26 spricht –
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sefs II. In: Jakob WEINBACHER, Sacerdos et pastor semper ubique. Festschrift Franz Loidl, Wien 1972, S. 193-224. Országos Széchényi Könyvtár Kézirattár, Budapest, Quart. Germ. 257. József Hajnóczy, Széchényis Sekretär, bald Vizegespan von Szerém/Syrmien, rechtfertigt in einem Brief an den Kritiker Josephs Miklós Forgach, Obergespan auf einer säkularisierten Stelle in Nyitra/Neutra, der 1785 vom Kaiser seiner Pflichten entbunden wurde (Zoltán Fallenbüchl, Magyarország főispánjai, 1526-1848, Budapest 1994, 89), den Entschluss Széchényis, als Regierungskommissär mit Joseph zusammenzuarbeiten. Hajnóczy führt aus, dass „die Natur der ungarischen Staatsverfassung es mit sich bringe, dass sie nicht anders als durch Machtsprüche verändert werden könne, […] dass eine Versammlung der Stände nie gutwillig sich eines Rechts begeben wird, welches sie mit Gewalt erlangt hat und mit Gewalt behalten thut“. Hajnóczy an Miklos Forgach [1785]. In: Kálmán BENDA (Hg.), A magyar jakobinusok iratai, 3 Bde., Budapest 19521957, hier Bd. 1, S. 47f. Adam MÜLLER, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland [1812]. Hg. v. Jürgen WILKE, Stuttgart 1983, v. a. S. 38. Ebd., S. 28, 45. Sigismund von HOHENWART, Undatierter Briefentwurf, Archivio Diocesale, Trieste, fol. 2487b. Die relevanten Belegstellen bei Edmund Burke an Sir Hercules Langrishe. In: Alfred COBBAN / Robert A. SMITH (Hg.), Correspondence of Edmund Burke, 10 Bde., Cambridge 1958-1970, hier Bd. 8, S. 255 und James T. BOULTON, Editor’s Introduction. In: Edmund BURKE, A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful. Oxford 1987. – Cölestin WOLFSGRUBER, Sigismund Anton Graf Hohenwart, Fürsterzbischof von Wien. Wien 1912, ist materialreich aber nicht durchgehend zuverlässig (Hohenwart, lesen wir, stand „fern von jener nüchternen Verstandesanschauung, die damals die Geister beherrschte“, er war „der leuchtende Mittelpunkt jenes Kreises von Hochgemuten, denen eine solche Denkrichtung und Weltanschauung nicht genügte.“, VII) vgl. auch Michael DENIS, Commentarius de vita sua. In: DERS., Literarischer Nachlaß, 2 Bde. Hg. v. Joseph RETZER, Bd. 1, Wien 1801-1802, S. 1-55.
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beruhen. An die Stelle von „Überredung“ und „Eigennutz“ sollte das Ergreifen des Bürgers durch „Passion“, „Reiz“ und „Rührung“27 treten. Zugleich beginnt der Typus des anderssprachigen oder anderskonfessionellen, anationalen „josephinischen“ Renegaten, der den nunmehr angeprangerten Entwicklungen angeblich Vorschub geleistet habe, eine prominente Rolle zu spielen. Es ist sicher keine Übertreibung, dieses Motiv in den Kontext der Schuldabwälzung der zuvor eben ihrer eigenen „josephinischen“ Verirrung wegen angefeindeten Protagonisten zu stellen. Was Széchényi und andere in seinem Kreis an Müllers Schriften wie den „Elementen der Staatskunst“ faszinierte, war die Kritik am aufgeklärtpanoptischen „Okularismus“, der das „Berührtwerden“ des Staatsvolkes vereitelt, und es nur als Attrappe, als, wie Müller bemerkt, „Schatten“ (imago oder umbra) des despotischen Herrscherwillens ansieht.28 Hier fiel auch Friedrich Schlegels Beobachtung des engen Zusammenhangs zwischen Absolutismus und Revolution auf fruchtbaren Boden29, als Pendant zu Schlegels Aufsatz „Signatur des Zeitalters“ hinterließ Széchényi ein umfangreiches Manuskript „Vom Zeitgeist“, in dem er eine Bilanz der josephinischen Neuerungen vorlegte.30 Wie wenig sich das Denken der „Restauration“ aber in die Schablone einer Verklärung des Mittelalters mit seiner Zunft- und Ständeordnung zwängen lässt, zeigt Széchényis Plädoyer für die freie Marktwirtschaft und private Kapitalbildung in seinem Traktat „Vom Zeitgeist“.31 Sein berühmter Sohn István Szechényi (1791-1860) sollte diese Gedanken im Vormärz aufgreifen, ihm war der Nachlass seines Vaters, besonders auch das Tagebuch der Reise in die Niederlande und nach England bekannt.32 Die Aufklärung war nicht so einfach auszutreiben und wurde nicht abrupt von einer diffusen „Romantik“ oder einer gegenaufklärerischen „Restauration“ ersetzt.33 Die Restauration zerfiel in verschiedene Zirkel und Gruppen. Die Ablehnung des 27 28 29 30 31 32 33
Undatierter Brief von Franz SZÉCHÉNYI an Sigismund von HOHENWART, Archivio Diocesale, Trieste, fol. 2487c. Adam MÜLLER, Die Elemente der Staatskunst. 3 Bde., Berlin 1809, hier Bd. 1, 24-25. Vgl. jüngst Alexandra AIDLER, Demokratie und das Göttliche: Das Phänomen der politischen Romantik, Würzburg 2012. „Vom Zeitgeist“, Magyar Országos Levéltár, Budapest, P 626 Szechényi csálad, Fasc. 93, 1, S. 9-21, 96-110, Moritz Csáky danke ich für den Hinweis auf dieses Manuskript Széchényis. „Vom Zeitgeist“ (wie Anm. 30), S. 62-64, 162-163. Magyar Országos Levéltár, Budapest, P 623 12. Szám, 9., „Descriptio itineris per Germaniam, Angliam et Scotiam [1787-1788]“. Vgl. Moritz CSÁKY, Franz Széchényis und Friedrich Schlegels Schriften über den Zeitgeist. Ein Beitrag zur Ideologie des Konservativismus und zu den österreichisch-russischen Beziehungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Anna Maria DRABEK / Walter LEITSCH / Richard G. PLASCHKA (Hg.), Rußland und Österreich zur Zeit der Napoleonischen Kriege, Wien 1989, S. 163-180, und Brigitte Mazohls wichtigen Hinweis auf die Parallelen zwischen Bernard Bolzanos und Jakob Frints Konzeptionen der Ständeordnung: Brigitte MAZOHL-WALLNIG, Der Einfluß Bolzanos und der Bolzanisten auf die österreichische Hochschulreform 1848/49. In: Helmut RUMPLER (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik: Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration, Wien 2000, S. 221-246.
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Jansenismus war für sie ebenso bestimmend wie die Bekämpfung der Aufklärung.34 Dass man beide Phänomene in der Diagnose des Zeitalters verband, erleichterte die Revision des eigenen Denkstils. Diese Verknüpfung konnte sogar als eine Art Historisierungs-Prophylaxe fungieren, die das Beibehalten aufklärerischer Elemente erleichterte. So gelang es etwa, die spätaufklärerische und empfindsame optimistische Konzeption der menschlichen Natur fortzuführen. Man könnte hier auf verschiedene parallele Akzentverschiebungen hinweisen: so wurde etwa die bürgerliche Zeitkritik an der Kommerzialisierung von „Meinungen“ im publizistischen Marktwettbewerb als Analyseinstrument eingesetzt, um die Politisierung der „opinion publique“ im 18. Jahrhundert zu deuten und die Zuspitzung dieser Entwicklung in der Revolution aufzuzeigen.35 Was für die auffällige Persistenz eines aufgeklärten Idioms bei Széchényi spricht36 – als semasiologisch nachweisbarer kognitiver Raster, als „outillage mental“ oder „Denkstil“ auch bei der Modifikation von Denkinhalten37 – sind der ungebrochene Fokus auf „nützliche“, breitenwirksame Bildung und die Tektonik der intellektuellen Bezüge des „postjosephinischen Selbst“. „Romantik“ fungierte bei diesen enttäuschten Josephinern als Chiffre unter der verschiedene Merkmalsausprägungen aufkläreri34 35
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Ernst Karl WINTER, P. Nikolaus Joseph Albert von Dießbach, S. J. In: Schweizerische Zeitschrift für Kirchengeschichte 18 (1924), S. 22-41, 282-304. Silvester LECHNER, Zwischen bürgerlichem Anspruch und absoluter Herrschaft. Matthäus von Collins Rezensionen in den Wiener „Jahrbüchern der Literatur“ (1818 bis 1824). In: Herbert ZEMAN (Hg.), Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung: Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750-1830), 2 Bde., Graz 1979, hier Bd. 1, S. 257-288. – Simone ZURBUCHEN, Les philosophes et la révolution: L’analyse de Jacques Henri Meister. In: Carrefour 24 (2002), S. 85-98. Vgl. auch als Skizze zum Problemkomplex, Franz Leander FILLAFER, Das Josephinische Trauma und die Sprache der österreichischen Aufklärung. In: Johannes FEICHTINGER u.a. (Hg.), Schauplatz Kultur Zentraleuropa: Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck 2006, S. 249-258. Lucien FEBVRE, Le Problème de l’incroyance au XV siècle: la religion de Rabelais, Paris 1942, S. 328. Auf das Problem der Multivariablen von „Übergangsphänomenen“ weist Ulrich Raulffs Einwand gegen die scharfkantige Epochenzäsuren hin, die der Begriff der „outillage“ mit sich bringt. Raulff sieht zurecht Parallelen zwischen Febvres Zugriff und der Alleingültigkeit der klassischen épistème Foucaults in „Les mots et les choses“ („die konsequent historisch rekonstruierte Epoche […] die nun in faszinierender Absolutheit dastand, wies keine erkennbaren Übergänge zur nächsten Epoche mehr auf. An die Stelle relativ bequemer Evolutionsschemata traten theoretisch heikle Diskontinuitäten.“) Ulrich RAULFF, Der streitbare Prälat. Lucien Febvre 1878-1956. In: Lucien FEBVRE, Das Gewissen des Historikers. Hg. u. übers. v. Ulrich RAULFF, Berlin 1988, S. 248-249. Zum Denkstilbegriff Karl MANNHEIM, Konservatismus: Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens [1925]. Hg. v. David KETTLER / Volker MEJA / Nico STEHR, Frankfurt am Main 1984, S. 56, 57, 59. Mannheim entwickelte den Begriff auch im Briefwechsel mit Ernst Cassirer (Mannheim Károly levelezése 1911-1946 [Karl Mannheims Briefwechsel]. Hg. v. Éva GÁBOR, Budapest 1996, S. 134) und in der unveröffentlichten Korrespondenz mit dem ebenfalls im Warburg-Kreis aktiven Romanisten Leonardo Olschki (für diesen Hinweis danke ich Claus Zittel). Zur Vorgängigkeit des Erfahrungswandels, der sich dann in Begriffsablagerungen niederschlägt bzw. zur gegenläufigen Apriorifunktion sprachlichen Wandels für neue Denkweisen und Wahrnehmungsmodi wieder Heiner SCHULTZ, Begriffsgeschichte und Argumentationsgeschichte (wie Anm. 5).
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scher Denkfiguren gegeneinander ausgespielt werden. Für die Abgrenzung von einer Aufklärung, die nun auf die Epochensignaturen Rationalismus, Despotie und Revolution festgelegt wurde, sind diese Bezugnahmen sehr aufschlussreich. Die enttäuschten Josephiner beriefen sich mit Vorliebe auf die sensualistische Ästhetik des 18. Jahrhunderts, auf Shaftesbury, Addison und Mendelssohn, auf die enthusiasmierende Einbildungskraft, die helfen soll, sich eine abwesende Referenzgröße – Széchényi argumentiert: die erst zu kreierende „Nation“ – intensiv vorzustellen.38 In ihrer Kritik bestärkt fanden sich diese Denker durch die zeitgenössische Polemik gegen die Aufklärung als Feigenblatt der Despotie, die sich angesichts der napoleonischen Neuordnung Europas entwickelte.39 Für die Selbstbilder, die sich diese Autoren und Beamten von ihrer eigenen intellektuellen Entwicklung machten, hatte das massive Folgen. Nun konnte die Aufklärung getreu dem in Spanien ausgebildeten Topos des afrancesado als geistige Vorbereitung der napoleonischen Expansion und Unterdrückung gedeutet werden.40 Hierin lag ein wichtiger Ansporn für das Revidieren und konzeptuelle Überbauen aufgeklärter Dispositionen. Über seinen Vater Franz hat István Szechényi, der große Reformkonservative des ungarischen Vormärz, im Tagebuch die folgenden Zeilen notiert: „Meinen guten althen Vater, sah Papa Vitzay, als Atheisten, als brennenden Patrioten, als wüthenden Royalisten, als Bet[h]bruder usw. So trugen ihn die Wellen. Wie werden sie mich tragen? Nur nicht wankelmüthig sage ich mir oft genug; wer weiss ob es helfen wird?”41
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Országos Széchényi Könyvtár Kézirattár, Budapest, Quart. Germ. 258. Überfällig wäre eine komparative Aufarbeitung des Problems der Diskreditierung und Selbstbehauptung der Aufklärung in der Debatte um die drohende „napoleonische Universalmonarchie“, v.a. im östlichen Europa, die auch die Beschäftigung mit Friedrich Schlegels Konzepten berücksichtigen müsste. Vgl. die ausgezeichnete Fallstudie von Andrej Zorin über Sergej Uvarov, den liberalen Publizisten und späteren Bildungsminister unter Nikolaus I.: Andrej ZORIN, Sergej Uvarovs Verbindungen zu Deutschland. In: Dagmar HERRMANN / Alexander L. OSPOVAT / KarlHeinz KORN (Hg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zu den Reformen Alexanders II., München 1998, S. 156-180. Immer noch lesenswert Jean SARRAILH, L’Espagne éclairée de la seconde moitié du XVIIIe siècle. Paris 1954. Vgl. aber Joaquín Varela SUANCES, La teoría del Estado en los orígenes del constitucionalismo hispano, Madrid 1983. Diese Konstellation lohnte eine möglichst auf europäische Dimensionen angelegte vergleichende Studie, für Ungarn einstweilen Domokos KOSÁRY, Napoléon et la Hongrie, Budapest 1979. Gyula VISZOTA (Hg.), Gróf Széchenyi István Naplói, Élete és működése 1820-1825 [Graf István Széchenyis Tagebücher, Leben und Wirken, 1820-1825]. Bd. 2, Budapest 1926, S. 85, 21. November 1820.
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György Fejér (1766-1851) – Jansenist, Josephiner, Nationalliberaler
Der Fall von Fejér42 führt uns – ich entschuldige mich für die zahlreichen Ismen – zu den Scharnieren zwischen Josephinismus, Jansenismus und Frühliberalismus. Der Jansenismus zeichnete sich durch eine strikte moraltheologische Erbsündenlehre aus. Die Jansenisten traten gegen die von den Jesuiten vertretene optimistische Gnadentheologie (Molinismus, Neopelagianismus) auf, die besagte, dass das menschliche Streben nach dem Guten keines vorgängigen göttlichen Gnadenbeweises bedürfe. Ergänzend zur anijesuitischen Ausrichtung verband sich die jansenistische „compressio affectorum“, die Zähmung der Affekte, gut mit dem Ideal des josephinischen Staatsdieners, dem „amour propre“ und „Eigendünkel“ in glühender Aufopferung für das allgemeine Beste fremd sein sollten, wie Joseph in seiner berühmten „Erinnerung an meine Staatsbeamten“ forderte.43 Zusätzlich bestanden in vielen Bereichen wie der Liturgiereform, der regulierten, schlichten Andacht und im Streben nach einer vom Papst unabhängigen, dem Landesfürsten nahe stehenden Nationalkirche Konvergenzen zwischen den Anliegen Josephs II. und jenen jansenistischer Publizisten wie Marc-Anton Wittola oder Joseph Valentin Eybel.44 György Fejér, der uns kurz beschäftigen soll, studierte an dem von Joseph eingerichteten Generalseminar in Pressburg, einem Ort der ungarischen und slawischen Sprachkultivierung.45 Er kam dort mit dem Jansenismus in Berührung, eines seiner ersten Werke war ein Nachruf auf den von Kardinal Migazzi und Primas József Batthyány des Amtes enthobenen jansenistischen Spiritualis Franz Ostermayer, ein anderes ein Lobgedicht auf Joseph II.46 Fejér entwickelte einen starken Synodalismus 42 43
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János ZSIDI, Fejér György, Budapest 1936. Beste Darstellung bei Peter HERSCHE, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977. – Béla ZOLNAI, Magyar Janzenistak [Ungarische Jansenisten]. In: Minerva 3 (1924), S. 66-97, 4 (1925), S. 10-40 u. 129-164. – Heinrich ZSCHOKKE, Die theologischen Studien und Anstalten der katholischen Kirche in Österreich, Wien u. Leipzig 1894, S. 382-431, 957-966. – František CINEK, K narodnímu probuzení moravského dorostu kněžského 1770-1870 [Das nationale Erwachen des mährischen Priesternachwuchses]. Olomouc 1934, S. 78, 128. Manfred BRANDL, Marx Anton Wittola: Seine Bedeutung für den Jansenismus in den deutschen Landen, Steyr 1974. – über Eybel jetzt David SORKIN, The religious Enlightenment: Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Princeton 2008, S. 215-260. B[éla] ZOLNAI, Die geistige Bedeutung des Preßburger Generalseminars von Preßburg (Bratislava) für Ungarn und die slawischen Völker. In: Zeitschrift für Slawistik 1/3 (1956), S. 103-108. György FEJÉR, Ostermayer Ferencz nevenapjára köszönet a pozsonyi nevendékpapság nevében […] [Dankesworte des jungen Pressburger Klerus aus Anlass des Namenstages Franz Ostermayers […]]. Pesthini 1789. – Josephs-Eloge eingebaut in DERS., Ode in diem onomasticum ill. dni Antonii Vörös de Farad sup. studiorum directoris, Pestini 1784. – vgl. weiters DERS., Visszaemlékezés a posoni közonséges papnevelő házra [Erinnerungen an das Pressburger Priesterseminar]. In: Religio és Nevelés (1846), S. 316-317 (Nachweis nach József SZINNYEI, Magyar írók: élete és munkái, Bd. 3, Budapest 1894, S. 257-258), über Frankophilie und „illuminatizmus“ am Seminar, Lobeshymne auf die Einförmigkeit der Generalseminarausbildung, S. 315. Über den Kreis der magyarisch Sprachbegeisterten (József Trumpacher, István Kultsár, Ferenc Kresznerics und – obligat – des siebzehnjährigen Sándor Kisfaludy) auch S. Egyed HERMANN /
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und wurde erst nach dem Tod Josephs zu einem Kritiker der Eingriffe Josephs in die ungarische Ständeverfassung, ohne aber der Beibehaltung adeliger Vorrechte wie der Steuerbefreiung das Wort zu reden. Fejérs Schriften verlängerten eine bemerkenswerte semantische Kontinuitätslinie: Im ungarischen intransingenten und ultramontanen Lager war schon länger die Idee der „commembra“ der heiligen ungarischen Stephanskrone mit einer durch die Unteilbarkeit des „regium“ ausgezeichneten „respublica spiritualis“ verschränkt worden. Aufgrund der Struktur und politischen Rolle des Episkopats – bischöfliche Erbobergespanschaften, Prälatenanteil an der Oberen Tafel des Landtages – ist das nicht überraschend. In der josephinischen Zeit gewann diese Denkfigur eine neue Facette: Der aggressiv antiprotestantische Bekehrungseifer, der sich gegen Häretiker wandte (wie in etwa noch bei Bischof Padányi Biró in den 1760er Jahren47) wird nun auf ein anderes Ziel gerichtet und neu akzentuiert. Die neuen „impii“, Frevler, sind jetzt die Kontraktualisten und Regalisten, Naturrechtler wie Ádám F. Kollár und Balthasar Adam Krčelić, die Maria Theresias Eingriffe in die ungarische Ständeverfassung legitimierten48 (der Konflikt weist, dies nur in Parenthese, die historisch-rechtliche Fundierung
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Edgár ARTNER, A hittudományi kar története, 1635-1935 [Geschichte der Theologischen Fakultät, 1635-1936]. Budapest 1938, S. 245, sowie Mária VYVÍJALOVÁ, Alexander Rudnay v kontexte slovenského národnoobrodenského hnutia [Alexander Rudnay im Kontext der Bewegung des slowakischen nationalen Erwachens]. Bratislava 1998, S. 45. Márton Padány Biró, Bischof von Veszprém, veröffentlichte als BIRONUS: Enchiridion […] De Fide, Haeresiarchicis, ad eorum asseclis, contra Dissipatores Catholicae Ecclesiae editis […]. Jaurini 1750. Zu Kollár und seinem 1764 in Wien, rechtzeitig zum Landtag erschienenen De Originibus et Usu perpetuo potestatis Legislatoriae circa sacra Apostolicorum Regum Ungariae vgl. Andor CSIZMADIA, Adam Franz Kollár und die ungarische Rechtsgeschichte, Wien 1982. – zu Krčelić, Agramer Domherr, der historisch für die Loslösung der Diözese Agram aus dem ungarischen Primatialverband argumentierte, und das kirchlich-politische illyrische Programm Pavel von Vitezovićs von 1700 in aufgeklärter Manier fortführte, Nada KLAIĆ, Baltazar A. Krčelić (17151778) autor tzv. Odlomka ljetopisa iz 11. Stoljeća [B. A. Krčelić, Autor des sogenannten Fragments einer Chronik aus dem 11. Jahrhundert]. In: Croatia Christiana Periodica 9/16 (1985), S. 1-46, und Teodora Shek BRNARDIĆ, Svijet Baltazara Adama Krčelića: Obrazovanje na razmeđu tridentskoga katolicizma i katoličkoga prosvjetiteljstva [Die Welt B. A. Krčelićs: Ausbildung zwischen tridentinischem Katholizismus und katholischer Aufklärung]. Zagreb 2009. Zur semantischen Kontinuität Joachim BAHLCKE, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie: Von der Partnerschaft zur Konfrontation 1686-1790, Stuttgart 2005, S. 323-348. Spätestens seit der Konfrontation auf dem Landtag von 1763 erhielt das „programme érudit“ der Kirchengeschichtsschreibung im Zuge der Konfrontation des Episkopats mit der kirchenrechtlich abgefederten Staatsexpansion (die Streitfälle reichten von Patronats- und Ernennungsrechten über Gelübde und Dispensen bis hin zu Bischofseiden u. Priestererziehung) einen eminent politischen Charakter. Die unter Migazzis Ägide in Vác herausgegebene Sammlung kirchlicher Statthaltereimandate von 1775 stellte hier ein wichtiges Argumentationsarsenal bereit, Mandata ragia per excelsum consilium locumentiale regium. Bd. 1-4, Vacii 1775; der protestantische Statistiker Martin Schwartner bemerkt 1809: „Gewiß war aber liberale Erweiterung der ungrischen Statistik nicht Hauptabsicht des Herausgebers einiger Mandata Regia […].“ Statistik des Königreichs Ungern. Hg. v. DEMS., Ofen ²1809, I, S. 14. Der Wiener Nuntius Giuseppe Garampi nahm im Sinne der Stärkung der Opposition des ungarischen Episkopats gegen die josephinischen
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aufgeklärter Argumente in vielen Debatten in den habsburgischen Ländern hin, die mit naturrechtlichen Argumenten in verschiedene Konfliktkonstellationen treten konnten49). Hier liegt eine starke begriffliche Kontinuität bei Neuakzentuierung der Stoßrichtung vor. Hohe Kleriker vermochten den katholischen Diskurs über die Unverletzlichkeit der „rechtgläubigen Kirche“ mit der Unversehrtheit und Integrität des „regnum“ erfolgreich zu verzahnen. Offenbar hat dieses Modell der sakralisierten natio in den späten 1780er und frühen 1790er-Jahren auch auf lutheranische und reformierte aufgeklärte Josephiner gewirkt. So konnte eine Bresche in die Front der Reformbefürworter geschlagen werden. György Fejér nun führt diese Denkfigur weiter und verquickt sie mit dem Argument für die Abschaffung adeliger Privilegien. So kann er die Betonung der Souveränität Ungarns mit einer deutlichen Parteinahme für die Reform der Gesetzgebung über die Grunduntertänigkeit verbinden.50 Von der jansenistischen Moraltheologie löst Fejér sich zusehends, wenn er 1809 über die Freiheit und Selbstbestimmtheit der menschlichen Seele schreibt51, behält aber das Ideal der devozione regolata bei.52 Als er später Bibliothekar und supplierender Professor für Dogmatik an der Universität Pest wird, tritt er in seiner Zeitschrift „Tudományos Gyűjtemény“ für eine teilweise
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Eingriffe durch die Erlaubnis des Zutritts zu den Vatikanischen Archiven und Hilfe bei der Quellenerschließung lebhaften Anteil, vgl. László TÓTH, XVIII. századi olasz és magyar theologusok harca a felvilágosodás ellen [Der Kampf italienischer und ungarischer Theologen des 18. Jahrhunderts gegen die Aufklärung]. In: Katholikus Szemle 46 (1932), S. 180-195, der Garampis Wirken freilich einseitig interpretiert, überzeugend Dries VAYNSACKER, Cardinal Giuseppe Garampi, 1725-1792. An Enlightened Ultramontane, Rom 1995. Ich verweise unter diesem Aspekt dieser spezifischen Theorienmotorik auf Andreas von Stifft (1819-1877) und Ernst von Violand (1818-1875), beide Schüler Joseph von Kudlers an der Wiener Universität und Juristen am Niederösterreichischen Landrecht. Prägnant zu verschiedenen „species of Enlightenment“ John G.A. POCOCK, Barbarism and Religion. Bd. 1: The Enlightenments of Edward Gibbon 1737-1764, Cambridge 1999, S. 6-7. Fejér bestellte zwanzig Exemplare von Gergely Berzeviczys 1806 erschienenem De conditione et indole rusticorum in Hungaria über die Bauernentlastung (Magyar Országos Levélétar, Budapest, P 53 Berzeviczy család, 126. cs. 38), das der Pester aufgeklärt-josephinische Ästhetiker Ludwig Schedius in einem Brief an seinen Freund, den Dichter und Hofmeister János Ferenczy (?-1833) in den höchsten Tönen preist (János FERENCZY, Napi jegyzések, Országos Széchényi Könyvtár Kézirattár, Budapest, Quart Hung. 463, vgl. Ambrus MISKOLCZY, Egy történészvita anatómiája. 1790-1830/1848: folytonosság vagy megszakítottság? [Anatomie eines Historikerstreits. 1790-1830/1848: Kontinuität oder Bruch?]. In: Aetas 20 (2005), S. 160-212. MISKOLCZY, Egy történészvita anatómiája (wie Anm. 50), S. 167 (Fejérs Predigt zur Pester Fahnenweihe, Pest szabad királyi városa felfegyverkezett polgáraihoz tartatott beszéd a’ polgári hívségről ’s hivatalbéli engedelmességről. Pest 1809). Er lobt noch 1846 das pastoraltheologische Lehrbuch Mihály Horváths (1728-1810) (nicht zu verwechseln mit dem liberalen Historiker gleichen Namens), von 1781/82, besonders dessen Aufbau auf Muratori, Visszaemlékezés a posoni közonséges papnevelő házra (wie Anm. 46), S. 316, tadelt aber sanft das freimütige Zugestehen weltlicher Zerstreuungen, welches im Erscheinungsjahr das Lob des Expastors und Schriftstellers Johann K. A. Musäus’ gefunden hatte (das Buch Horváths, schrieb Musäus, unterscheide sich vorteilhaft von „unseren protestantischen Kasuisten.“ Allgemeine Deutsche Bibliothek 52 (1782), S. 60-65, 62).
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Besteuerung des Adels und die bürgerliche Repräsentation auf dem Landtag jenseits der freistädtischen Kuriatstimme ein. Er verteidigt den Stellenwert des josephinischen Staatskirchenrechts im Lehrplan. 1822 ist er einer der Initiatoren der ersten ungarischen katholischen Synode seit 1682.53 Seine Abhandlung über den Beitrag der Städte zur Verfeinerung der Nation von 1837 betont die Perspektiven wirtschaftlichen Aufschwungs durch Liquidität, Wertschöpfung und Kreditwürdigkeit des urbanen Handelsbürgertums. Hier zeigt er sich von der ökonomischen Theorie der schottischen Nationalökonomen und „moderate literati“ des späten 18. Jahrhunderts geprägt. Als Greis erlebt Fejér 1848 die Katastrophe in Ungarn mit und sieht ernüchtert eine Spiegelsymmetrie zwischen der josephinischen Regierungszeit und dem dräuenden Neoabsolutismus.54
4.
Bischof Maximilian Vrhovac (1752-1827), aufgeklärter Josephiner, Landespatriot, skeptischer Beobachter des Liberalismus
Anhand von Maximilian Vrhovacs Biographie55 lassen sich mehrere Weggabelungen und -etappen rekonstruieren. Es lässt sich einerseits aufzeigen, wie das Wasser des Josephinismus dank der Selbstbehauptung der kroatischen regna tripartita auf die 53
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Egyed HERMANN / Edgár ARTNER, A hittudományi kar története, 1635-1935 [Die Geschichte der Theologischen Fakultät, 1635-1935]. Budapest 1938, S. 351f. (Lehre). – Antal MESZLÉNYI, A Jozefinizmus kora Magyarországon 1780-1848 [Die Zeit des Josephinismus in Ungarn, 17891848]. Budapest 1934, S. 250-276 (Synode). Fejér sammelte in Pest Dokumente zu einem zweiundvierzigbändigen Codex diplomaticus Hungariae ecclesiasticus ac Civilis, Pest 18291844. György FEJÉR, Honi városainknak nemzetünk kifejtülésére s csinosbulásukra befolyássok [Der Einfluß unserer Städte auf die Veredelung und den Aufschwung unserer Nation]. Pest 1837, S. 11, 27. Überblicksartig Richard SHER, Church and University in the Scottish Enlightenment: The Moderate Literati of Edinburgh, Edinburgh 1985 und Donald WINCH, Scottish political economy. In: Mark GOLDIE und Robert WOKLER (Hg.), The Cambridge History of Eighteenth-century Political Thought, Cambridge 2006, S. 443-464. Interessanterweise thematisiert Fejér hier nicht die Frage nach dem überwiegend deutschsprachigen Bürgertum der ungarischen Städte. Zum Problem der Liberalen mit den Ursprüngen der von ihnen geschätzten historischen Stadtrechte und der „deutschen Kolonisation“: Franz Leander FILLAFER, Jenseits des Historismus: Gelehrte Verfahren, politische Tendenzen und konfessionelle Muster in der Geschichtsschreibung des österreichischen Vormärz. In: Christine OTTNER / Klaus RIES (Hg.), Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert: Ideen – Akteure – Institutionen. Stuttgart 2014, S. 79-191. [György FEJÉR], A politikai forradalmak okai néhány észrevételekkel [Einige Bemerkungen über die Gründe für politische Revolutionen]. Buda 1850, S. 33. Velimir DEŽELIĆ, Maksimilijan Vrhovac, Zagreb 1904. – Dragutin PAVLIČEVIĆ, Maksimilijan Vrhovac. Život i djelo [Maksimilijan Vrhovac: Leben und Werk]. In: Maksimilijan VRHOVAC, Dnevnik/Diarium 1801-1809. Hg. v. Metod HRG und Josip KOLANOVIC, Bd. I, Zagreb 1987, LII-LXXXIII.
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Mühlen des sozialethisch-pädagogischen Landespatriotismus geleitet wurde. Andererseits wird klar, wie sich nach Josephs Tod Alternativen greifbar wurden, die sich aus dem Reformimpuls des Kaisers ergaben. Zwischen Gelehrtenpatriotismus und etatistischer Staatsintegration begann sich eine Kluft abzuzeichnen, die unter den Parteigängern des verstorbenen Kaisers zu Zielkonflikten und Zerwürfnissen führen konnte56 und so manche Freundschaft auf eine harte Probe stellte. Zudem zeigt sich an Vrhovacs Lebenslauf, wie staatskirchenrechtlich und moraltheologisch linientreue Josephiner auf den Liberalismus reagierten. Dass diese Josephiner eine zusehends als Ballast empfundene Aufklärung einfach über Bord geworfen hätten – so suggeriert es die scharfe Polarisierung zwischen Vernunft und Religion aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – darf man dabei nicht vorschnell voraussetzen.57 Daneben bietet Vrhovacs Vita schließlich ein anschauliches Beispiel für die ostentative Vereinnahmung des Gelehrtenpatriotismus der älteren Generation durch die Wortführer des nationalen Erwachens. Diese Wortführer des Erwachens reklamierten die Errungenschaften der Gelehrtenpatrioten als Nachlass zu Lebzeiten für sich. Vrhovac, aus einer gebildeten Familie, über der im Sinne des katholisch-konfessionalistischen Selbstverständnis des Illyrismus in den blumigen Worten seines Biographen „Mitra und Schwert“ als Leitbilder leuchteten58, besuchte zunächst das Illyrische Seminar in Bologna.59 Nach einer Position als Inhaber der Dogmatikkanzel und des Vizerektorats des Zagreber bischöflichen Seminars wurde er Rektor des von Joseph geschaffenen Pester Generalseminars.60 Dass Vrhovac auch Freimaurer war, darf als erwiesen gelten61, 1787 wird er – gegen den Kandidaten des ungarischen Primas 56
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Flora KLEINSCHNITZOVÁ, Jos. Dobrovského řeč‚ Über die Ergebenheit und Anhänglichkeit der slawischen Völker an das Erzhaus Österreich z. r. 1791’ [Josef Dobrovskýs Rede ,Über die Ergebenheit und Anhänglichkeit der slawischen Völker an das Erzhaus Österreich im Jahre 1791]. In: Listy filologické 45 (1918), S. 96-104. – Alinka AJKAY, Kazinczy Ferenc Tübingai pályaműve és irodalmi, politikai előzményei [Ferenc Kazinczys Tübinger Preisschrift und ihre literarischen sowie politischen Hintergründe]. Phil. Diss., Budapest 2008. Franjo ŠANJEK, Kršćanstvo na hrvatskom prostoru [Das Christentum in der kroatischen Geschichte]. Zagreb ²1996, S. 394. – Franjo CVETAN, Constitutiones Maximiliani Vrhovac episcopi Zagrebiensis et josephinismus, Zagreb 1942, S. 87, bemüht Vrhovac von jeder Sympathie für Joseph reinzuwaschen, leugnet seine Zugehörigkeit zur Freimaurerei, S. 37. – Juraj KOLARIĆ, Prosvjetiteljstvo i jozefinizam u Zagrebačkoj biskupiji [Aufklärung und Josephinismus in der Diözese Zagreb]. In: Antun ŠKVORČEVIĆ (Hg.), Zagrebačka biskupija i Zagreb 1094-1994. Zbornik u čast kardinala Franje Kuharića, Zagreb 1995, S. 313, biegt die „josephinische“ Komponente der Reformen auf das Tridentinum zurück. DEŽELIĆ (wie Anm. 55), S. 9. Vgl. jetzt die vorzügliche Studie von Teodora Shek BRNADRIĆ, Svijet Baltazara Adama Krčelića, S. 107-128 (wie Anm. 48). Joseph II. lobt ihn als „eifrige[n] und einsichtsvolle[n] Mann“, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Staatsrat, 3361/1786, zit. n. Tiburtius GÉCZY, Beiträge zur Lebensgeschichte des Agramer Bischofs Maximilian Verhovacz. Theol. Diss., Wien 1938, S. 13. Josip KOLANOVIĆ, Jedna sporna epizoda iz života Maksimilijana Vrhovca [Eine umstrittene Episide aus dem Leben Maksimilijan Vrhovacs]. In: Croatica Christiana Periodica, 5/7 (1981), S. 1-28. – Strahinja KOSTIĆ, Serbische Freimaurer am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre wis-
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József Batthyány und auf Betreiben des Vorsitzenden der Geistlichen Hofkommission, Franz Karl Kressel von Qualtenberg – zum Zagreber Bischof ernannt.62 Als Bischof wirkt Vrhovac für eine Umsetzung der Gottesdienstreformen63 und des Ehepatents, für die Intensivierung der Seelsorge, die ordnungsgemäße Bedienung des Religionsfonds, die von Joseph oktroyierte Vereinheitlichung des Ritus (eine von der Forschung vernachlässigte Komponente der Staatstintegration), und die Erweiterung bischöflicher Befugnisse. All das machte Vrhovac dem Zagreber Domkapitel suspekt. Das Domkapitel zitierte Vrhovac, nach Josephs Tod von der für innerkirchliche Materien wiederhergestellten Sonderjurisdiktion beflügelt, vor das Metropolitangericht von Kalocsa.64 1794 wird Vrhovac in den Strudel der Denunziationen des Ignaz von Martinovics, des Drahtziehers der beiden „jakobinischen“ Pester Assoziationen, gezogen. Ihm wird vorgeworfen, Werke Raynals, Volneys und Paines an ehemalige Zöglinge des Generalseminars verteilt und in seiner Druckerei revolutionsfreundliche Schriften verlegt zu haben. Vrhovac hätte „demokratische“ Gesinnungen gepflogen, und – ein Mimikry für Martinovics’ eigene Methode, die Aufklärung zu Ende zu denken, für das intellektuelle Abdriften nach der zerstörten Illusion des Bündnisses mit dem wohltätigen Monarchen – über die Regierung der Kaiser Josef und Leopold „nur Lobenswertes zu sagen“ zu sagen gehabt. Mit der Regierung Franzs sei er „vollständig unzufrieden“.65 senschaftliche und literarische Tätigkeit. In: H. BALÁZS / Ludwig HAMMERMAYER / Hans WAG/ Jerzy WOJTOWICZ / Heinz ISCHREYT (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa: Freimaurer, Gesellschaften, Klubs, Berlin 1979, S. 147-152. – Ivan von BOJNIĆIČ, Die Freimaurerloge „Ljubav bližnjega“, Zagreb 1917. – Ludwig ABAFI, Geschichte der Freimaurerei in Österreich-Ungarn, 5 Bde., 1890-1899, hier Bd. 3, S. 372. Zuletzt Josipa DRAGIČEVIĆ, Maksimilijan Vrhovac i slobodno zidarstvo u 18. stoljeću [Maksimilijan Vrhovac und die Freimaurerei des 18. Jahrhunderts]. In: Croatica Christiana Periodica 66 (2011), S. 49-60. Die alchemistischen und nekromantischen Aktivitäten der Freimaurer darf man dabei nicht übersehen. Ignaz von Martinovics, der 1795 hingerichtete Organisator der ungarischen Jakobiner, gab an, er habe ein Gegenelixier gegen die jesuitische Geheimtinktur erfunden, die es gestattete, Menschen „aufzulösen“, A magyar jakobinusok iratai. Hg. v. Kálmán BENDA (wie Anm. 23), I, S. 478. Neuerdings auch Derek BEALES, Joseph II: Against the World 1780-1790. Bd. 2, Cambridge 2009, S. 526-553. Joachim BAHLCKE, Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie (wie Anm. 48), S. 343. Hans HOLLERWEGER, Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich, Regensburg 1976. Hrvatski državni arhiv, Zagreb, Depozit Nadbiskupski i kaptolski arhiv, Acta Cap. Eccl. Zagr., Saec. XVIII, fasc. 73, hr. 98, 1794 klagt das Domkapitel – eine beliebte postjosephinische argumentative Volte – es habe nur auf Befehl des Herrschers diesen Reformen zugestimmt, es habe sich also um ein nicht rechtmäßiges, erpresstes Plazet gehandelt. Als „Josephiner“ war Vrhovac anscheinend auch Segmenten des Zagreber Bürgertums suspekt, wobei es die Angehörigen des Domkapitels wohl nicht unterließen, Gerüchte über seine Frankophilie auszustreuen. So berichtet es der Pfarrer von Sisak. ‒ Franz SCHLOISNIG, Memoari [Erinnerungen]. Zagreb 1807, S. 52. Magyar Országos Levéltár, Budapest, Magyar kancelláriai levéltár, 947/1794, Prozessakten Martinovics’. Über den 1794 aufgestellten Zagreber Freiheitsbaum Albert COMPLOYER, Der französische Freiheitsbaum in einer Rede über das Evangelium vom Senfkörnlein am 25. SonnNER
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In Karl von Zinzendorfs Staatsratsvotum zur Anklage gegen Vrhovac zieht Zinzendorf den Bischof klug aus der Affäre. Zinzendorf war damals schon seit Jahrzehnten im Staatsdienst tätig und saß als Leiter des Rechungsdepartements an der Schaltstelle der Finanzpolitik der Monarchie. In seinem Votum benennt Zinzendorf die zwischen rückwirkender Vergeltung und damnatio memoriae schwankende Verleumdung der josephinischen Regierungszeit. Zinzendorf überträgt diesen „Radikalismus“ aber elegant auf die Haltung des ungarischen Adels nach Josephs Tod. Hier bleibt natürlich auch der überwiegend antiregalistische Episkopat nicht ungeschoren. Passte sich Vrhovac hier, könnte man zwischen den Zeilen lesen, etwa nur äußerlich an? Vrhovacs „größter Fehler“, betont Zinzendorf, bestand darin, „dass er noch von Josef II. zum Bischof ernannt worden war. Das war in den Augen vieler zumindest eine große politische Sünde, wenn nicht ein Verbrechen. Es sollte uns überhaupt nicht wundern, dass Vrhovac nach dem Tode Josefs weiter so manche politische Ideen, oft sogar noch sehr extreme, verfolgt hatte. Das aber war nicht allein seine Schuld, sondern war der damaligen allgemeinen Einstellung der ungarischen Aristokratie zuzuschreiben.“66 Und weiter: „Wie überhaupt ein Bischof und zwar ein ungarischer Bischof mit großen Einkünften Demokrat sein kann? Dies ist schwer zu begreifen und im höchsten Grad unwahrscheinlich.“67 Die Erhebungen verliefen im Sande. In ausführlichen Bistumsvisitationen arbeitete Vrhovac für die pastorale Reorganisation auf der Grundlage schlichter Sittlichkeit und – dies erlaubt wieder Schlussfolgerungen auf der gesamtmonarchische Analyseebene des vorliegenden Aufsatzes – eröffnete damit eine Alternative katholischer Erneuerung, die parallel zum gefühlsbetonten, reiz- und rührungsbasierten „renouveau“ Hofbauers lag. Wie schon erwähnt wurde Vrhovacs’ Wirken bereits in dessen letzten Lebensjahren als Initialzündung des illyrischen Erwachens vereinnahmt und der Bischof als resoluter Gegner der „Germanisierung“ über den Klee gelobt.68 Damit wurden einige Bruchstellen zwischen spätaufklärerischer und protonationaler Argumentation überformt. In der Tat bemühte sich Vrhovac 1798 um den urkundlichen Nachweis, dass Teile Dalmatiens der ungarischen Krone unterstehen müssten. Zu einem Gutteil entsprang dies dem Bestreben, Begehrlichkeiten abzuwehren, die auf die Einführung der ungarischen Amtssprache zielten: Dieses Projekt musste als Erschwernis der erwünschten Reinkorporation Dalmatiens erscheinen.69 Das verweist auf eine der causes célèbres,
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tag nach Pfingsten von öffentlicher Kanzel vorgetragen und zur heilsamen Belehrung des deutschen Bürgers herausgegeben, Agram 1795, und über eine Guillotinenattrappe als Karnevalsattraktion mit der Aufschrift „darin besteht die französische Gleichheit und Freyheit“ schreibt Vrhovac: „[…] imprudentia summa fuit ad locum publicae exhilerationis exemplum infamis crudelitatis praeferre.“ Vrhovac (an Nikola Škrlec?), 19. März 1794, Hrvatski državni arhiv, Zagreb, Depozit Nadbiskupski i kaptolski arhiv, Acta Cap. Eccl. Zagr., Saec. XVIII, br. 37. GÉCZY, Verhovacz (wie Anm. 61), S. 106. GÉCZY, Verhovacz (wie Anm. 61), S. 107, Als „Belesener“, so Zinzendorf, müsse Vrhovac um das Schicksal des französischen Episkopats wissen. Jaroslav ŠIDAK, Hrvatske zemlje u Vrhovčevo doba [Die kroatischen Länder zur Zeit Vrhovacs]. In: VRHOVAC, Dnevnik/Diarium (wie Anm. 55), Bd. 1, IX-LI. Stjepan ANTOLJAK, Jedan nepoznati akt o nacionalnom radu biskupa Maksimilijana Vrhovca [Eine unbekannte Quelle über das nationale Wirken von Bischof Maksimilijan Vrhovac]. In:
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Vrhovacs 1805 an der Magnatentafel des ungarischen Landtages vorgetragene Drohung, die „lingua illyrica“ im öffentlichen Leben der drei Königreiche Kroatien, Dalmatien und Slawonien einzuführen. Dieser Impuls darf eben nicht als „nationalromantisch“ (den „romantischen Nationalismus“ in den habsburgischen Ländern des frühen 19. Jahrhunderts hat Eduard Winter in seinen Studien über Gebühr betont70) interpretiert werden, sondern als althergebrachtes Argument für die staatsrechtliche Integrität der drei Königreiche.71 Vrhovacs 1813 im Stil des gesamtstaatlichen Patriotismus der „Befreiungskriege“ veröffentlichter Aufruf wurde schon zwei Jahrzehnte später von Ludovit Gaj in seiner „Danica“ „illyristisch“ ins rechte Licht gerückt.72 Gegenläufig zur illyristischen Lesart von Vrhovacs Werk kann man anhand seiner späten Aufzeichnungen – als Spiegelbild des „nationalen“ Erbe-Mythologems – sehr schön illustrieren, wie der desillusionierte alte Josephiner die Inkubationsfunktion der Reformen Josephs für den omnipräsenten „Liberalismus“ bedauernd registrierte.73 Den jungen nationalliberalen Klerus, der auf der Grundlage von Vrhovacs Seminarlehrplänen erzogen wurde, betrachtete er mit Sorge.74
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Croatia sacra 7 (1937), S. 119-123. 1831 beauftragt der Hof Graf Mailáth mit Recherchen, die Argumente gegen die Forderung der Wiederangliederung Dalmatiens liefern sollten, István KOLOS, Gróf Mailáth János [Graf Johann Mailáth]. In: A budapesti király magyar Pázmány Péter tudományegyetem német intézetének irodalomtudományi évkönyve 5 (1939), S. 251-455, 271. Zu Vrhovac als Beispiel für den „romantischen Nationalismus“ vgl. Eduard WINTER, Frühliberalismus in der Donaumonarchie 1790-1868, Berlin 1968, S. 46. Zaključci hrvatskog sabora [Beschlüsse des kroatischen Landtags], IX, 237. – Josip PLIVERIĆ, Beiträge zum kroatisch-ungarischen Bundesrecht, Agram 1886, S. 69, wie es bereits 1790 in der Verzahnung von Vertragstheorie und historischer Rechtsbehauptung der Stände in der „Declaratio […] quoad inducendam Hungarian linguam“ dargelegt worden war. Vgl. Josef DEÉR, Die Anfänge der kroatisch-ungarischen Rechtsgemeinschaft, Budapest 1936, S. 8. Maksimilijan VRHOVAC, Poziv na sve duhovne pastire svoje episkopie [Aufruf an alle Seelsorger seiner Diözese] [1813]. In: Danica 3 (1837), S. 93-97. – DEŽELIĆ, Vrhovac (wie Anm. 55), S. 215. Franjo Emmanuel HOŠKO, Biskup Vrhovac između baroka i liberalizma [Bischof Vrhovac zwischen Aufklärung und Liberalismus]. Zagreb 2007, S. 162. Ivan ŠKREBLIN, Odgoj i nastava u zagrebačkom sjemeništu 1758-1900 [Erziehung und Unterricht am Zagreber Seminar, 1758-1900]. In: Dragutin KNIEWALD (Hg.), Kulturno poviestni zbornik Zagrebačke nadbiskupije u spomen 850. godišnjice osnutka, Bd. 1, Zagreb 1944, S. 689 und 695. Unter der Prämisse der Eintracht zwischen illyristischer Intelligenz und niederem Klerus stand Vrhovacs positive Rolle fest, zumal im Kontrast zu seinem Nachfolger Bischof Alagović, vgl. weiters Svetozar RITIG, Restauracija katolicizma u vrijeme narodnog preporoda [Die katholische Restauration in der Zeit des nationalen Erwachens]. In: Bogoslovska smotra 21 (1933), S. 97-110, 22 (1934), S. 105-123.
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5. Gregor von Berzeviczy (1763-1822), Aufgeklärter Landespatriot, liberaler Ökonom, Kritiker des Nationalismus Gregor von Berzeviczy75 steht im Gruppenbild, das dieser Beitrag bietet, für die Gruppe protestantisch-kleinadeligen Josephiner in Ungarn. Das Toleranzpatent eröffnete ihnen erstmals Aufstiegschancen in der Komitatsverwaltung wie in den zentralen Dikasterialbehörden (Statthaltereirat, Kammer, ungarische Hofkanzlei), an der Universität, im Schulinspektorat und in den aufgewerteten Superintendentenämtern. Berzeviczy selbst hatte 1784 in Göttingen bei August Ludwig Schlözer und dem Ökonomen Johann Beckmann studiert76 und wurde bald nach seiner Rückkehr nach Ungarn in der Kommerzsektion des Budaer Statthaltereirats angestellt. Es ist für eine Studie der Spielarten der Aufklärung in den habsburgischen Ländern sehr ergiebig, die verschiedenen rechtlichen Voraussetzungen zu untersuchen, auf die Josephs Toleranzvorschriften in den habsburgischen Ländern trafen. In den böhmisch-österreichischen Ländern wurden die Toleranzverordnungen von der aufgeklärten Intelligenz begrüßt.77 In Ungarn wiederum fiel der Vergleich der neuen Vorschriften mit den älteren, 1606 und 1645 in den Friedensschlüssen von Linz und Wien garantierten Rechten, die Leopold I. und Karl VI. beschnitten hatten, nicht immer zum Vorteil der josephinischen Toleranz aus. Besonders die von Joseph angegriffene Schulautonomie wurde zum protestantischen Identitätsymbol78, die elterliche Reversleistung für eine katholische Erziehung der Kinder aus Mischehen wurde ebenfalls beanstandet. Josephs merkantilistische Außenhandelspolitik, die Ausfuhrverbote und Erschwernisse des Kapitalabflusses vorsah, und das Zwischenzollsystem, das die ungarischen Länder vom Rest der Monarchie trennte, schienen dem nationalökonomisch geschulten Denker Berzeviczy absurd und für beide Teile der österreichischen Staaten schädlich. Eifrig diskutiert wurde Josephs Bedingung für die Aufhebung der asym75
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Éva H. BALÁZS, Berzeviczy Gergely a reformpolitikus 1763-1795 [Gregor Berzeviczy, der Reformpolitiker]. Budapest 1967. – Jüngst Ambrus MISKOLOCZY, Berzeviczy Gergely szinéváltozásai: Adalékok az állam, a társadalom, a hadsereg reformterveihez és reformelképzeléseihez [Die Verwandlungen des Gregor Berzeviczy: Bemerkungen zu den Reformideen, die den Staat, die Gesellschaft und die Armee betreffen]. In: Századok 143 (2009), S. 515-563. István FUTÁKY, Selige Tage im Musensitz Göttingen. Stadt und Universität in ungarischen Berichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1991, S. 27. Vgl. etwa Zdeněk R. NEŠPOR, Čeští nekatolíci v 18. století mezi pronásledováním a náboženskou tolerancí [Die böhmischen Akatholiken im 18. Jahrhundert zwischen Verfolgung und religiöser Toleranz]. Ústí nad Labem 2007. – František BEDNÁŘ, Toleranční patent, jeho vznik a význam [Das Toleranzpatent, seine Ursprünge und Bedeutung]. Praha 1931. – Ilja BURIAN / Jiří MELMUK / Eva MELMUKOVÁ-ŠAŠECÍ (Hg.) Evangelíci v rané toleranční době [Evangelische in der frühen Toleranzzeit]. 8 Bde., Praha 1995-1996. Elemér MÁYLUSZ (Hg.), Iratok a türelmi rendelet történetéhez [Aktenstücke zur Geschichte des Toleranpatents]. Budapest 1940, S. 76, 81, 192. – Eva KOWALSKÁ, Kontroverzná tolerancia: protestanti a školské reformy osvietenského obdobia [Umstrittene Toleranz: Die Protestanten und die Schulreform in der Epoche der Aufklärung]. In: Historické štúdie 34 (1993), S. 55-76.
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metrischen Zollbarriere, die Ungarn als Absatzgebiet öffnete, die Ausfuhr ungarischer Erzeugnisse in die deutschen Erbländer aber enorm erschwerte und das Preisniveau drückte: Joseph II. hatte die Abschaffung der Binnenzoll-Linie von der Besteuerung des ungarischen Adels abhängig gemacht. Berzeviczy blieb in seinen Schriften über den nordischen und asiatischen Welthandel, wie auch in seinen auf Ungarn bezogenen Traktaten ein Befürworter des freien Handels und eines „öffentlichen Fonds“. Beide sollten auf die „liberale Nationalactivität“79 belebend wirken. Josephs Verordnung über die Einführung der deutschen Amts- und Unterrichtssprache im Jahr 1784, die das bisher praktizierte Lateinische ablösen sollte, rief sowohl Verteidiger der bisherigen Ordnung als auch Fürsprecher des Ungarischen auf den Plan. Die großangelegte Verwaltungsreform Josephs, an der Széchényi mitwirkte, wurde von vielen der Parteigänger des Kaisers begrüßt. Der dritte Faktor, der neben den bitteren Pillen der Toleranz und der Wirtschaftspolitik zu einer Loyalitätskrise unter den Aufklärern führte, war Josephs als despotisch geltendes Freimaurerpatent. Es nahm eine obrigkeitlich angeordnete Fusion und staatliche Überwachung der Logen vor und schockierte die Sympathisanten des Kaisers in Ungarn.80 Einige Protagonisten aus der Gruppe protestantischer Aufklärer, der Berzeviczy angehörte, trugen 1790 die ungarische Krone dem Herzog von Sachsen, Goethes Carl August, an81, sie sympathisieren mit den Martinovics-Zirkeln. Aber die viel geschmähte Regierungszeit Josephs82 – teilweise auch von ehemaligen Parteigängern
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Carl Georg RUMY, Über die Beförderung des ungarischen Commerzes. Ein gedrängter deutscher Auszug aus der ungedruckten, lateinischen, im November 1809 geschriebenen Abhandlung des Herrn Gregor von Berzeviczy. In: Ungarische Miscellen 1 (1817), S. 72. Zitiert nach Moritz CSÁKY, Von der Aufklärung zum Liberalismus. Studien zum Frühliberalismus in Ungarn, Wien 1981, S. 164. Elemér JANCSÓ, A magyar szabadkőművesség irodalmi és művelődéstörténeti szerepe a XVIIIik században. Irodalomtörténeti tanulmány [Die literarische und kulturgeschichtliche Rolle der ungarischen Freimaurerei im 18. Jahrhundert. Eine literarhistorische Studie]. Koloszvar/Cluj 1936, S. 124-146, 198-235. – Ándrás FORGO, Koppi Károly szerepe a 18. század végi nemesiértelmiségi reformmozgalomban [Die Rolle Károly Koppis in der adelig-intellektuellen Reformbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts]. In: DERS. (Hg.), A piarista rend Magyarországon, Budapest 2010, S. 127-149. Berzeviczy plädierte übrigens 1790 für die Wahl eines Throninhabers aus englischem Haus: „Quis autem ex principibus extraneis eligendus esset? Nolo nominare principes Borussicos, quos nimis despoticis imbuti videantur principiis, nec minores principes Italiae, vel Germaniae, quemquam invenirentur nonnulli magnis animi dotibus praediti; inter Galliae et Angliae principes videretur faciendus esse selectus, ac praeplaceret quidem ultimum: nam praeferendam crederem hoc rerum statu leges a tanto tempore dictans libera et falix Anglia prae imbecili propriis magnis revolutionibus luctante Gallia. Securitatem libera nostra constitutio haberet maximam, utpote foedere naturali cum natione acque libera iisdem principiis gubernata, suffulta.“ Gregor von BERZEVICZY, De Dominio Austriae in Hungaria. In: Kálmán BENDA (Hg.), A magyar jakobinusok iratai. (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 103f. „Ungarn ist ein freies Land, welches die Regierung seinem König unter gewissen Bedingungen übertragen hat; erfüllt er diese Bedingungen nicht, so vernichtet er den Vertrag, und entledigt die Nation des Gehorsams.“ Gregor von BERZEVICZY, Über Österreichs Grundsätze in der Regierung Ungarns [Herbst 1789] zit. n. Éva BALÁZS, Berzeviczy Gergely a reformpolitikus (wie
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angesichts der brutal antijosephinischen Stimmung im Land verleugnet – erschien schon nach dem Landtag von 1790/91 wieder in besserem Licht. Nachdem sich der Landtag mit Ausnahme des erfolgreich verabschiedeten Toleranzartikels 26 als eine Enttäuschung erwiesen hatte und das Land auf eine Widerherstellung der alten Privilegiengesellschaft zusteuerte, konnte man auf Josephs Regierung sachlicher und unvoreingenommener zurückblicken. Berzeviczy schreibt 1806 eine Broschüre über die Lage der plebs contribuens, die eine Wiederaufnahme des Programms der Grundablöse fordert. Sein Leben lang wirbt er für die Einhaltung der Toleranzgesetzgebung, zuletzt in einer noch 1822, im Jahr seines Todes in Leipzig erschienenen Schrift über die missliche Lage der Protestanten in Ungarn, die eine heftige Debatte über Berzeviczys Einschätzung der Situation auslöst.83 1809 lässt Berzeviczy Napoleon einen Verfassungsentwurf für Ungarn zugehen, in dem er mit einer Reformdiktatur liebäugelt.84
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Anm. 75), S. 317-326, hier S. 325, vgl. Sándor ECKHARDT, A francia forradalom eszméi Magyarországon [Die Ideen der Französischen Revolution in Ungarn]. Budapest 1924, S. 35. Gregor von BERZEVICZY, Nachrichten über den jetzigen Zustand der Evangelischen in Ungarn, Leipzig 1822, S. 55-60. Vgl. etwa die anonyme Rezension in: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst 16 (1825), S. 470-474. Vgl. Éva H. BALÁZS, Notes sur l’histoire du Bonapartisme en Hongrie. In: Nouvelles Études Hongroises 4-5 (1969-1970), S. 186-207. – „Diese Verbesserung, Reformazion, Regenerazion, oder wie man sie immer sonst nennen mag, kann in Ungarn nicht anders ausgeführt werden, als durch eine Diktatur von oben. Weil Ungarn zu sehr zerrissen ist, durch die Verschiedenheit, und die Antagonisme, der Nazionen, der Religionen, der Stände; weil diese partiellen Interessen, immer entgegenarbeiten dem allgemeinen Gemeinschaftlichen Staats Wohl; weil die Ganze Geschichte es bezeigt, daß Ungarn immer zerrissen war, durch Partey Geist, Faczionen, Mißtrauen, Einseitigkeit, und sich nie erheben konnte zur Höhe des reinen Patriotismus, dessen erste Eigenschafft ist, seinen eigenen Vortheil aufzuopfern dem allgemeinen Wohl des Vaterlandes.“ Zitiert nach János POÓR, Berzeviczy Gergely Magyarországról, Ausztriáról és Napóleonról [Gregor Berzeviczy über Ungarn, Österreich und Napoleon]. In: Béla HÁDA (Hg.), Eszmék, forradalmak, háborúk. Vadász Sándor 80 éves, Budapest 2010, S. 473-486, hier S. 485, Anm. 14. In seinem Traktat „Über Österreichs Grundsätze in der Regierung Ungarns“ hatte Berzeviczy zwanzig Jahre zuvor noch geschrieben: „Jezt kam Joseph II. zur Regierung – für Ungarn eine zu wichtige Epoche, als daß ich mich darüber nicht umständlicher auslassen sollte […] Sehnsuchtsvoll erwartete man seine Regierung, welche Freude beym Antritt derselben. Hätte Joseph mit Aufrichtigkeit auf einen Landtag den Ständen die vielfachen Mängel der ungarischen Staats Verfassung, die sein scharfsinniger Blick längst bemerckt hat, entdeckt – hätte er ihnen seinen Plan sie zu verbessern, Ungarn Population, Fabriken, Handel, Industrie, Reichthum zu verschaffen, mitgetheilt; und die Liebe und das Zutrauen zu benuzen gewusst: mit welcher froher Mitwirkung hätten die Stände des Reichs die festgesetzten Verbesserungen befördert – welch glücklichen rapiden Gang hätte seine Reformation genommen. Denn nur alsdann gelingt Reformation, wenn Volck und König durch die nemlichen Grundsätze beseelt, auf einen Zweck gemeinschaftlich hinwürcken.“ „Über Österreichs Grundsätze in der Regierung Ungarns“ [Herbst 1789]. Zitiert nach Éva BALÁZS, Berzeviczy Gergely a reformpolitikus (wie Anm. 75), S. 317-326, hier S. 320, ebenda, S. 318: „In der ungrischen Staat Verfassung sind Fehler gewesen, welche gehindert haben, daß Ungarn nicht das glückliche Land werden konnte, wozu es von Natur aus bestimmt ist. Der Druck in welchem der Land Mann lebt – die Ausnahme des Adels von allen Staats Abgaben, – die übermäßige Ungleichheit der Stände, sind sehr wesentliche Fehler der Verfassung – die Unbefangenen der Nation sehen diese Mängel lebhaft ein.“
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Berzeviczys Konzept der Gesellschaft ging weit über den bevormundenden Anstaltsstaat Josephs II. hinaus. Im Staat, den Berzeviczy als kontraktvoluntaristisches Willensintegral entwarf, ist die Vertragsszene nicht mehr eine bloße Staffage ständischer Rechtsbeharrung. Berzeviczy schwebt eine Staatsbürgergesellschaft vor. Die ungarischen Landtage nach 1800 kritisierte er wegen ihrer Konzentration auf die Frage der Landessprache, sie ließen kaum Raum für eine ernsthafte Befassung mit einer Reform der Verfassung und machten stereotyp den Wiener Hof für die Misere Ungarns verantwortlich. Auch der seit den 1790er Jahren häufig bemühte Vergleich zwischen den Verfassungen Ungarns und Englands, der die Parallelen der beschränkten Rolle des Monarchen und die parlamentarischen Grundlagen betonte und zum Topos der liberalen Literatur ungarischer Selbstbehauptung in der Reformzeit werden sollte, überzeugte Berzeviczy nicht: Bei ihm fiel diese Gegenüberstellung äußerst unbefriedigend aus85, Berzeviczy betont den staatsbürgerlichen Status aller Briten, die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der gewählten Richter, die Großbritannien von Ungarn fundamental unterschieden. Als Protagonist eines nicht ethnolinguistisch definierten Landespatriotismus verwahrte sich Berzeviczy sehr scharf gegen Tendenzen der magyarisierenden Assimilation. Berzeviczy kritisierte die Verklärung der alten Verfassungstradition. Sie wurde zum Schutzamulett der ungarischen Reformbewegung, die um 1820 eine Ausweitung der adeligen Privilegien eben an die Verbürgerlichung als Magyarisierung knüpfte.86 Hier wäre es aufschlussreich einen Aspekt zu untersuchen der in der Forschung bislang nicht behandelt wurde, die Frage nämlich inwiefern diese Tendenzen im Sinne einer asymmetrischen Zivilisierungsmission als Wiederholungen von Josephs Uniformitätspolitik auf ungarischem Terrain gesehen wurden. Der schwelende Konflikt, den Berzeviczys Kritik der Magyarisierung auslöste, eskalierte 1817. Damals veröffentlichte Berzeviczy in der Zeitschrift des Historikers Joseph Hormayr, dem „Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst“ einen Beitrag der den Spracherneuerern den Fehdehandschuh hinwarf. „Mir scheint“, schrieb Berzeviczy, dass „je tiefer man in die Universalgeschichte eindringt“, sich desto mehr „das Schwankende, Unbestimmte, Zufällige der Nationalität“ zeige. Der Redakteur Hormayr glossierte hier nur „(??)“. „Dem unpartheyischen Forscher“, fuhr 85
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„Die Ungrische Constituzion hat viele Aehnlichkeiten mit der englischen, aber gerade in dem heilsamsten Theil giebt es Verschiedenheiten. 1. Das Volk in England ist Staatsbürgerlich. 2. Der Englische Adel ist so wie das Volk den Staatslasten unterworfen, aber keine Last ist Gesetzmäßig, als die sich die ganze Nazion selbst durch das Parlament auferlegt. 3. In England ist Pressfreyheit. 4. In England werden die Gesetze pünctlich beobachtet. 5. Selbst gewählte Richter, richten öffentlich.“ Aus einem Manuskript Berzeviczys „Geschichte von Grossbritannien“ [wohl nach 1816], Magyar Országos Levéltár, P 53, Fsz. 130, zit. nach Moritz CSÁKY, Von der Aufklärung zum Liberalismus (wie Anm. 79), S. 84, Fn. 81. Vgl. Kossuths Variation über eine Äußerung Montesquieus, die englischen Adeligen hätten einander darin zu übertrumpfen gesucht, Gleichheit mit dem Volk anzustreben, während die Mitglieder der ungarischen Aristokratie darin wetteiferten, einander zu gleichen, Pesti Hírlap, 1841, Nr. 98, der steuerbefreite Adel als Drohne im Bienenstock der Nation, Pesti Hírlap, 1842, Nr. 132 und 133. Vgl. Domokos KOSÁRY, A Pesti Hírlap nazionalizmusa 1841-1844 [Der Nationalismus des Pesti Hírlap 1841-1844]. In: Századok 77 (1943), S. 371-414.
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Berzeviczy fort, „mag am Ende nichts davon übrig bleiben, als der Begriff eines abgesonderten Staates, der auch eigentlich der staatsrechtliche ist.“ Die Bilanz: „In Europa blieb keine Nation ursprünglich rein, und es gibt ihrer solche, in denen kein einziger echter männlicher Descendent seyn mag, jener ursprünglichen Stammältern, von denen die Nation den Namen führt; es sind fremde aufgepropfte Zweige, die wenn sie das Vorurtheil der Stammesursprünglichkeit vermissen, dafür den Ruhm der Veredelung sich billig anmaßen können. Ursprüngliche Nationalität mag es nirgends mehr geben, als in China, im Inneren von Afrika […] und in den Eisländern beider Pole. Sind diese um ihre Nationalität zu beneyden?“87 Seinen ungarischen Landsleuten stellte Berzeviczy die Rute ins Fenster, wenn er am Beispiel Polens ausführt, wohin die Überhöhung des sprachlich definierten Nationalismus bei gleichzeitiger politischer Reformunfähigkeit führt: „Pohlen, merkwürdig durch seinen Umfang, konnte wegen Aristokratismus zu keiner Festigkeit kommen, und hat deswegen seine Selbständigkeit verloren, ob es gleich seine Sprache behält.“88 Berzeviczys Überlegungen gipfelten im Resümee: „Wohin leiten diese Beobachtungen den unparteyischen Forscher? Dahin, daß es in Europa keine ursprünglichen Nationen mehr gibt; daß die Sprache kein Beweis der Nationalität ist; daß der Begriff der Nationalität jetzt nicht im Stamm, Ursprung, auch nicht in der Sprache, sondern eigentlich staatsrechtlich im Staate zu suchen sey. — Einheit der Regierung, der Verwaltung führt zur Gleichheit der Gebräuche, Gesetze und Denkart; und dieß macht verschiedene Völker, wenn sie auch verschiedene Sprachen reden, zu einer Staatsnation; und mit dieser Nationalität mag man sich begnügen, da man die ursprüngliche verloren hat.“89 Berzeviczy erscheint sowohl den aristokratischen Landespatrioten wie den Publizisten um den Literaturhistoriker Ferenc Toldy (Franz Schedel), die eine romantische Ästhetik der Nation entwarfen, als ein Überbleibsel aus dem 18. Jahrhundert. Einer von Hormayrs eifrigsten ungarischen Mitarbeitern, Baron Alajos von Mednyánszky diagnostizierte fünf Jahre nach dem Erscheinen von Berzeviczys Beitrag die „gefrorene Zeit“, die seine Auffassungen umschloss: Berzeviczy, schrieb Mednyánszky, ging so weit, „[…] alle Nationalität einem haltungslosen Cosmopolitism aufzuopfern“, er gleiche also „einer Uhr, die mit dem Schluss der josephinischen Epoche stehen geblieben war“.90
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Gregor von BERZEVICZY, Etwas über Nationen und Sprachen. In: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 8 (1817), S. 287-289, 287. Ebd., S. 288. Ebd. Alois von MEDNYÁNSZKY, Bemerkungen über den Aufsatz: Magyarisierung der Slawen in Ungarn in Zschokkes Überlieferungen, December 1821. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst 14 (1823), S. 85-88, hier S. 85.
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Carl Freiherr von Kübeck (1780-1855), aufgeklärter Josephiner und gouvernementaler Konservativer
Carl von Kübeck ist der fünfte Protagonist in dieser Porträtfolge. Seine Tagebücher, die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen, gehören zu den wichtigsten Quellen für die Geschichte des österreichischen Vormärz. Wie viele Dienstadelige der administrativen Funktionselite die unter Franz I. nobilitiert wurde stammte er aus ärmlichen Verhältnissen. Der in Iglau als Sohn eines Schneidermeisters geborene Kübeck erinnert sich in seinen Tagebüchern wie ihn als Knabe ein aufgeklärter Geistlicher von schwärmerischen Allüren kurierte.91 Kübeck studierte in Wien Rechts- und Staatswissenschaft. Im dichten Schneegestöber stapfte er aus seinem Quartier im Tiefen Graben hinauf zu Maria am Gestade, um dort in die Kirchenbank gekauert vor Vorlesungsbeginn Gellert zu lesen („Nächst Gott ist Gellert jetzt mein einziger Freund und Führer.“92). Derlei Erbauungslektüre im Kirchenschiff war nicht nach dem Geschmack des Mannes, dem bald darauf die Kirche als Sitz seiner Kongregation übergeben wurde: dem Redemptoristenseelsorger Klemens Maria Hofbauer. Während seiner Studienjahre bildete sich der junge Kübeck an Christian Garves Übersetzung von Ciceros „De Officiis“93 und las mit Heißhunger, was ihm an Schrif-
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„Außer diesem Unterrichte ergieng sich der edle Mann [Kübecks Lehrer Demmeler, FLF] täglich mit mir in den Religionslehren, die er so anziehend für den sich entwickelnden Geist des lernbegierigen Knaben, so erbauend für das Gemüth, so rührend für das offene, lebhafte Gefühl darzustellen wusste, daß ich gewöhnlich in eine Art Entzückung gerieth, deren Seligkeit ich nicht beschreiben kann […] Ich ministrierte täglich schon um 6 Uhr Früh in der Messe des Paters Demmeler, hörte dann mit großer Andacht wieder die Schulmesse und brachte manche freie Stunde im Gebete zu. Als Pater Demmeler diese etwas überspannte Richtung in mir wahrnahm, wirkte er mäßigend, mehr die praktische Religionsübung durch das Vorbild des Lebens unseres Erlösers fördernd ein, und suchte mich durch die Mathematik von Überspannungen zu heilen.“ Carl Friedrich KÜBECK VON KÜBAU, Tagebücher. Hg. v. Max KÜBECK, 2 Bde., Wien 1909, I/1, S. 4. Ebd., S. 15. „Ich studiere sie mit Garve’s Uebersetzung, und seinen Anmerkungen, die mich ebenso erbauen als rühren. Sie sind nicht so gefühlvoll, aber tiefer als Gellerts moralische Vorlesungen.“ Ebd., S. 22. Vgl. auch Johan VAN DER ZANDE, The Microscope of Experience: Christian Garve’s Translation of Cicero’s De Officiis. In: Journal of the History of Ideas 59 (1998), S. 75-94, und Norbert WASZEK, Übersetzungspraxis und Popularphilosophie am Beispiel Christian Garves. In: Das achtzehnte Jahrhundert 31/1 (2007), S. 42-64. Garve war wie die anderen Popularphilosophen mit dem Problem befasst, wie man den Menschen vom Erkennen des moralisch Guten zum willentlichen Erstreben dieses Ziels bewegen könne. Kants Definition des moralisch Guten als autotelische Sittlichkeit und kategorische Pflicht, die der Anreize der ästhetischempfindsamen Gratifikation, der Erfahrung des Schönen und der Glückseligkeit entbehrte, überzeugte Garve nicht. In seinem De-Officiis-Kommentar verband er das Gute eng mit dem Nützlichen und dem Ehrenhaften. Garve entwarf in seinem ausführlichen Kommentar eine Typologie der Gesellschaft, die durch ein Netz der „Sympathie“ verbunden war, und für eine abgestufte Ordnung von Ständen verschiedene moralische Kodices vorsah, durchaus ähnlich der Auffächerung „verhältnismäßiger Aufklärung“. Vgl. VAN DER ZANDE, The Microscope of Experience (wie Anm. 93), S. 88-92. Kübecks verwahrloster Jugendfreund Olympius K….l, der peripateti-
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ten über die Französische Revolution in die Hände fiel. Mit einem Émigré, bei dem er in Wien Sprachunterricht nahm, lieferte sich Kübeck Wortgefechte über Verlauf und Wendepunkte der Revolution.94 Kübeck trat mit glühender Überzeugung für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und für die lauteren Absichten der Gironde ein. Mit seinem Jugendfreund Sobeck diskutierte er brieflich über Locke, Hobbes95 und Rousseau. Kübeck plädierte für die Gewaltenteilung, die Aufhebung der Grunduntertänigkeit – hier bedauert er besonders, dass Josephs Reformen unvollendet blieben96 – und die Pressefreiheit. Der Rechtsstaat mache eine Verfassungsurkunde überflüssig. Schon als Zwanzigjähriger hob Kübeck die starke Stellung des Monarchen hervor, die er sich, wie er an seinen Freund Sobeck schrieb, nicht „wegdisputieren“ ließ.97
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sche Kant-Leser und Pythagoräer galt dem Studenten in den Sommerferien schon als abschreckendes Beispiel. KÜBECK, Tagebücher (wie Anm. 91), I/1, S. 17. „Doch hatten wir am 20. [März 1798] eine ziemlich lange Unterredung. Ich äußerte mich, für einige Ideen der französischen Revolution, die er haßt, und für eine wahre Satansfrucht hält, günstig, fast enthusiastisch. Die Freiheit, noch mehr aber die Gleichheit, belebt, ich kann es nicht läugnen, jede Fiber meines Leibes, und begeistert, mein ganzes Ich. Er fuhr mich, etwas heftig an, mit den Worten: Quel nonsens abominable! Freiheit! Gleichheit! Verstehen Sie auch den Sinn dieser Worte? Ces mères de la Guillotine, du sang, du meurtre, de la barbarie&c.! Schüchtern antworte ich, daß ich mir wohl kein Urtheil anmassen könne; ich wisse übrigens recht gut, daß Freiheit, nicht sinnliche und moralische Ungebundenheit, sondern nur Befreiung von willkührlicher Herrschaft, von dem, was die alten Griechen, unter tyrannis und unter Despotia verstanden, und im positiven Sinn, die Herrschaft des Gesetzes bedeute. Ebenso, meinte ich, sei es mir klar, daß Gleichheit, nur in Beziehung auf das Gesetz, gelte, und insbesondere die Vorrechte der Geburt, deren Gerechtigkeit ich nicht begreife, und deren Wirkungen ich, nur zu schwer, fühle, ausschließe.“ Dagegen die Replik des Émigré: „Was soll Ihre Herrschaft des Gesetzes? Glauben Sie, der Mensch, gehorcht einer Abstraktion […] die Menschen achten nur denjenigen den sie fürchten. Den sie lieben, halten sie, für ein, ihnen geweihtes Opfer, und mißtrauen ihm. Darum, fiel der unglückliche, edle Louis XVI. Er wollte geliebt seyn. Er erreichte seinen Zweck. Die Tier lieben ihre Beute indem sie das Blut derselben trinken.“ Ebd., S. 31f., März 1798. Vgl. Kübecks Kommentare zu Thomas Hobbes’ „De cive“: „Auf diesem Princip beruhend, ist der Staat eine Sicherheits-Anstalt von Rechten, die stets sich zu erweitern streben, von der obersten Gewalt, der Regierung, aber in ihren Gränzen erhalten werden. Dieser Zustand ist auch ein Stand des Krieges Aller gegen Alle, vorzüglich der Regierten gegen die Regierung, aber ein Krieg, der nicht zum offenen Ausbruche kömmt, weil die Furcht vor der unwiderstehlichen Macht der Regierung die Leidenschaften zähmt.“ Dagegen stünde aber das „Prinzip der Liebe“: „Darin, daß Hobbes diese Gegensätze und ihre Wirkung verkennt, und auch Religion und Kirche auf das Prinzip des juridischen Staates zurückführt, und beide in die Regierungsgewalt verschmolzen haben will, darin hat er nach meine Ueberzeugung groß Unrecht. Sein Staat ist dann ein Reich des gewaltigen Despotismus, aus dem das Prinzip der Liebe, gleich der Astraea entflohen, sich zu den Göttern geflüchtet hat.“ Ebd., S. 107, (12. Februar 1803). Ebd., S. 93f. (November 1802), weiters S. 140f., 252f. „Der Monarch aber, den ich mir nicht wegdisputieren lasse, ist mir unentbehrlich. Er vermittelt alle Gewalten, indem er sie in sich vereinigt […] der Monarch“ ist der „bindende Vereinigungs=Punkt, die Seele des kollektiven Menschen […] Die Seele ist zwar nun an die Organe gebunden, aber sie muß sie Alle beherrschen. Mein Monarch muß daher kräftig gestellt werden, und ich möchte ihm lieber zu viel als zu wenig Macht gewähren.“ Ebd., S. 140f. (1805).
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Kübecks Bemerkungen über die Trennung von Kirche und Staat setzten seine Kritik an Hobbes’ „gewaltigem Despotismus“ fort: „Ich finde“, schrieb Kübeck 1805 in sein Tagebuch, „man hat von jeher, daß religiöse Prinzip mit jenem der positiven Gesetzgebung der Regierungen verwechselt, und dadurch dem einen, wie dem andern, in seiner Entwicklung geschadet.“98 Kübecks private Frömmigkeit blieb an seine Sicht auf die Kirche als „determinatus deum coelendi modus“, als seelsorgerische Staatsagentur mit spirituellem Nahversorgungsnetz geknüpft. Kübecks Auffassung des Gesellschaftsvertrags als Verzichtskontrakt, durch den die iura connata preisgegeben wurden, um die Erfüllung der officia erga alios besser zu ermöglichen, transformierte die im Gemeinwesen gewährleistbaren Rechte in Emanation der Gattungsperson Staat. Kübecks Konzeption der Kirche galt den Kritikern des Vormärz, so auch den liberalen Katholiken, als typisch josephinisches Substitutionsargument: Die Kirche wurde verstaatlicht und der Staat vergöttlicht, statt ersterer zu ermöglichen, frei in der Gesellschaft zu wirken. Zügellose Profitgier, Pauperismus, und Konjunkturrittertum folgten auf dem Fuße. Kübecks Eintritt in die Verwaltung versetzte dem Idealismus des jungen Juristen einen Dämpfer: Wie Kübeck in seinem Tagebuch festhielt, herrschten anstatt des Willens, für das Gemeinwohl zu wirken99, Eitelkeit und Furcht. Kübeck stieg dennoch schnell im Staatsdienst auf. Auf Stellen in der mährischen Kreisverwaltung und beim mährischen Gubernium entwickelte sich Kübeck zum Finanzexperten. Er stieg bis zur Präsidentschaft der Hofkammer auf, damals dem Finanzministerium der Monarchie, diese Position hatte Kübeck bis 1848 inne. Nach dem Ausbruch der Revolution von 1848, die Kübeck in eine psychische und körperliche Krise stürzte, wurde er schnell zum Vertrauensmann des jungen Monarchen Franz Joseph und zum Präsidenten des erweiterten Reichsrats.100 Der Finanzfachmann Kübeck galt als idealer Gewährsmann für die Doktrin selektiver Modernisierung, die den Bürgern wirtschaftliche Freiheiten gewährte, dafür aber politische Abstinenz forderte. Manche Historiker fanden es unerklärlich, wie Kübeck sich 1848 vom vormärzlichen Liberalen zum engstirnigen Absolutisten wandeln konnte.101 Diese Irritation beruht aber auf einer question mal posée: Vergleicht man Kübecks Aufzeichnungen aus der ersten Jahrhunderthälfte mit seinem Handeln während des Neoabsolutismus, zeigt sich dass er weiterhin zielstrebig an der Realisierung seiner Ziele102 arbeitete: Was Kübeck vorschwebte war eine einheitliche Monarchie, die 98 99 100
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Ebd., S. 153 (1805). Fundstelle in den Tagebüchern. Wilhelm BRAUNEDER, Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848 bis 1918. In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, Teil 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften. Hg. v. Helmut RUMPLER und Peter URBANITSCH, Wien 2000, S. 69-237, 129. – Harm-Hinrich BRANDT, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848-1860. 2 Bde., Göttingen 1978, I, S. 260. Friedrich WALTER, Karl Kübeck Freiherr von Kübau und die Aufrichtung des franziskojosephinischen Neoabsolutismus. In: Südostforschungen 19 (1960), S. 193-214. Vgl. die ausgezeichnete Darstellung von Ronald E. COONS, Kübeck and the Pre-Revolutionary Origins of Austrian Neoabsolutism. In: Ferenc GLATZ / Ralph MELVILLE (Hg.), Gesellschaft, Politik und Verwaltung in der Habsburgermonarchie, 1830-1918, Stuttgart 1987, S. 55-86.
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Prosperität und Eigeninitiative förderte, und jedem Bürger ohne Ansehen der Geburt den Aufstieg im Staatsdienst ermöglichte; über die „pomadetriefenden, zierlich gekräuselten Satrapen“103, die nur ihres Stammbaums wegen die höchsten Ämter bekleiden, finden sich in den Tagebüchern zahllose Glossen. Zugleich sollte diese Monarchie auf einem benevolenzdirigistischen Modell obrigkeitlicher Reform beruhen. Deshalb musste die Regierung das Heft in der Hand behalten. Mit diesem Ziel, nämlich die Initiative für Reformen von oben zurückzugewinnen, schreckte Kübeck auch nicht vor einer Militärdiktatur zurück um die Revolution zu beenden.104 Inwiefern war Kübeck ein „Josephiner“? Ein Blick auf seine Wirtschaftspolitik ermöglicht eine differenziertere Sicht: Schon im Vormärz hatte Kübeck, als das Problem der Kapitelnachfrage, des ausgeschöpften Anleihenmarkts und der Renditenfluktuationen in Ungarn diskutiert wurde, stets betont, dass Ungarn ein integraler Bestandteil des Kaisertums sei. Ungerechtfertigt waren für Kübeck die Beschwerden des ungarischen Statthaltereirats, der sich über die Fremdbestimmung der Entwicklung durch die Emissionspolitik der Wiener Nationalbank und durch die Einschränkung des Kreditrahmens in den 1840er Jahren beklagte. Damals löste die Bank ihre Einlagen bei einigen Privatbanken auf, was zum Bankrott mehrerer Wiener Häuser und zu einer Konkurswelle der über Kredite und Wechselgeschäfte von diesen Instituten abhängigen ungarischen Unternehmen führte. Schon das Devaluationspatent von 1811, das eine Abwertung der Währung verordnete, um den Staatsbankrott abzuwenden, war ohne Zustimmung für Ungarn erlassen worden. Zugleich formulierte Kübeck aber Vorschläge für die Beseitigung der Zwischenzollgrenze gegenüber Ungarn, die er in Verbindung mit dem Entwurf einer großangelegten Reform vorlegte. Dieser Entwurf hätte zur erheblichen Erleichterung der Einfuhr von Roherzeugnissen und Industrieprodukten in die gesamte Monarchie geführt. Kübeck schwächte die Vorbehalte Josephs II. ab. Auf die Aufhebung der Steuerbefreiung des Adels und die Abschaffung des Erbsystems der Avitizität, der Unveräußerlichkeit adeligen Landbesitzes, durch den ungarischen Landtag hoffte Kübeck nicht, den liberalen Nationalismus lehnte er scharf ab. Dennoch schätzte Kübeck die Gefahr des Preiskampfes und der Drückung des Lohnniveaus als gering ein, weil er sich von der Deregulierung des Handels große Vorzüge versprach.105 Wie wenig der „Josephinismus“ als Erklärungsszenario taugt, das verschiedene Politikbereiche überspannt, zeigt sich gerade an der Wirtschaftspolitik. Josephs Handelspolitik war ein Reibebaum für Kübeck, die unter Joseph verordneten Lehrbücher lehnte Kübeck schon als Student ab. Kübeck gehörte früh zum Kreis Ignaz von Chorinskys, Kielmannseggs und Philipp von Stahls, der für die Lehren Adam Smiths eintrat. Im Tagebuch protokollierte Kübeck den Wortwechsel mit seinem Professor Watteroth, der ihn im Räuberzivil – légerer Schlafrock und Meerschaumpfeife – vor 103 104 105
KÜBECK, Tagebücher (wie Anm. 92), I/1, S. 73 (14. Oktober 1801). Stefan LIPPERT, Felix Fürst zu Schwarzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1997, S. 165. Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Finanz- und Hofkammerarchiv, Präsidialakten 679/1847, „Gutachten zur Staatsanleihe von 1841“, FA, PA 4008/1841, „Gutachten zur Bodenkreditanstalt für Ungarn“, FA, PA 4328/1845.
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dem Gartenpavillon seines Landstraßer Hauses prüfte. Schnell reizte der Prüfling den Professor durch Hinweise auf die Widersprüche zwischen dem Unterrichtsstoff und dem vorgeschriebenen merkantilistischen Sonnenfelsschen Lehrbuch zur Weißglut, Kübecks Bekenntnis zur Rede- und Pressefreiheit106 tat ein Übriges. Kübecks Notizen geben ein plastisches Bild der Konfrontation zwischen verschiedenen „politischen Sprachen“; zudem liefert diese bisher kaum beachtete Quelle einen wichtigen Anhaltspunkt gegen das so häufig wiedergegebene Klischee der strikten Befolgung der verordneten Lehrbücher, das für die angebliche Sterilität des Geisteslebens im Vormärz verantwortlich gemacht wird. Die merkantilistische Kontrolle der Preisparität, ein zentrales Element von Sonnenfels’ Lehre, hielt Kübeck für grundfalsch. Aus seiner Prager Zeit erinnerte sich Kübeck an den Oberstburggrafen Grafen Wallis, der als zweiter Harun al Rashid mehlbestäubt mit Schöpflöffel und Waage in die Bäckereien Prags eindrang, um Stückpreis und ordnungsgemäße Portionierung des Brots zu überprüfen.107 Während seiner Laufbahn bekämpfte Kübeck das merkantilistische System der Absatzquartiere und Gewerbebeschränkungen, wie überhaupt Sonnenfels’ Doktrinen über Geldumlauf, Inflation, Einlagensicherung und Außenzölle.108 Von seiner liberalen ökonomischen Haltung ist Kübeck nie abgewichen. Im letzten Jahrzehnt seiner Laufbahn, während des Neoabsolutismus verteidigte Kübeck das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch gegen die in seinen Augen skandalöse Rede des Unterrichtsministers Leo Thun, der Kübeck ohnedies – wie der Wendehals Innenminister Alexander Bach – als Nebenbuhler um die Gunst Franz Josephs missfiel. Thun hatte sich erdreistet, in einer öffentlich im Festsaal der Universität gehaltenen Rede bei einer Sub auspiciis-Promotion der österreichischen Rechtswissenschaft vorzuwerfen, sie sei in der „Anbetung des Götzen“ ABGB groß geworden. In dieser Rede griff Thun das Vernunftrecht als Quelle der Revolution an. Kübeck, der selbst noch bei Franz von Zeiller, dem Redakteur des ABGB, gehört hatte, wies
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„Sagen Sie mir einmal, was halten Sie von Zensur und Preßfreiheit? Ich antwortete: Herr Professor, diese Frage ist in dem Werke des Herrn von Sonnenfels und in Ihren Schriften verschieden von meiner Ueberzeugung gelöst. Ich habe ein Mahl, ich weiß nicht mehr wo, gelesen, die Engel unterschieden sich von den Menschen nur, weil sie laut denken, und darum allein leben sie in Seligkeit. Wenn also auch die Menschen laut denken würden und dürften, so würden sie Engel werden. Was die Censur betrifft, so sagt man, daß die Kinder die am Führband gehen lernen, meist bucklicht werden.“ KÜBECK, Tagebücher (wie Anm. 91), I/1, S. 71 (14. September 1801). Ebd., S. 141 und S. 213-217. Österreichisches Staatsarchiv, Wien, Finanz- und Hofkammerarchiv, Kommerz rote Nr. 179 (ex 1810), Finanz- und Hofkammerarchiv, Sonderbestände Sammlungen und Selekte, verschiedene Vorschläge D 25, hier Kübecks „Auszüge und Bemerkungen die ‚Staatsfinanzwissenschaft’ von L. H. von Jakob betreffend“ [1821] (D.b.19). – Eduard von WERTHEIMER, Geschichte Österreichs und Ungarns im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts aus ungedruckten Quellen. 2 Bde., Leipzig 1884-1890, Bd. 2, S. 429. – KÜBECK, Tagebücher (wie Anm. 91), I/1, S. 141-143, 147-154 (1805). – FILLAFER, Escaping the Enlightenment (wie Anm. 4), S. 296-323.
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diese Verleumdung empört zurück.109 Kübecks Widersacher Thun ist das letzte Porträt dieser Serie gewidmet.
7.
Leo Thun, aufgeklärter Konservativer und feudaler Reformer (1811-1888)
Nun möchte ich zur sechsten und letzten biographischen Skizze übergehen, die Graf Leo Thun zum Gegenstand hat. Thun verkörperte eine andere Variante des aufgeklärten Konservatismus als Kübeck. In seiner Studie „Leo Thun und der böhmische Vormärz“ hat Christoph ThienenAdlerflycht gefordert, die „gleichsam fatalistische liberale Lehre“ zu hinterfragen, der zufolge „der zentralistische Verfassungsstaat der zweiten Jahrhunderthälfte [des 19. Jahrhunderts, Anm.] die einzige geschichtslogische Fortsetzung des Josephinismus in Österreich gewesen sei“.110 Dieser Aufruf blieb eine einsame, aber äußerst bedenkenswerte Mahnung. Thuns sozialethisch-freisinniger Konservatismus rückte die individuelle Grundentlastung, Bedürftigendarlehen und die Fürsorge der Schutzbefohlenen in den Mittelpunkt. Er propagierte auf reformkatholischer Basis eine holistische Lebenspraxis im Dienste des Gemeinwohls nach dem Vorbild Bernard Bolzanos. Diese Variante des sozialethischen Konservatismus war eine Frucht des aufgeklärten Landespatriotismus. Sehr plastisch lässt sich diese Einstellungen an den sarkastische Notizen Thuns über die Werke Franz von Baaders, Adam Müllers und anderer katholischer Romantiker ablesen.111 Die integrative Position feudaler Reform war attraktiv für die von Josephs radikaler Einebnung aller ständischen Vorrechte verschreckten fortschrittlichen Adeligen. Thuns Protestantenpatent und seine Volksschulpolitik legen von diesen Anschauungen Zeugnis ab. Der von den Bolzano-Schülern Franz Schneider und Johann Rohrweck erzogene Thun wurde früh reformkatholisch geprägt.112 Sein Versuch, als Unterrichtsminister während der 1850er Jahre auf dem Wege universitärer Berufungspolitik das historisch-positive Wissen gegenüber der „naturrechtlichen“ Spekulation zu rehabilitieren, erwies sich freilich als Einfallstor für jenen Liberalismus, den Thun so sehr verachtete. Gründlich missglückt war die Versöhnung von Glaube und Wissen, die Thun als
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Aus dem Nachlaß des Freiherrn C. F. Kübeck von Kübau, Graz 1960, S. 94. Christoph THIENEN-ADLERFLYCHT, Graf Leo Thun und der böhmische Vormärz: Grundlagen des böhmischen Konservatismus im Kaisertum Österreich, Graz, Wien, Köln 1967, S. 25. Státni Oblastní Archiv Litoměřice, Zs. Děčín, Rodinný archiv Thun, Fond 3, XXI, Bestand J, fol. 23, S. 34. Marcela OUBRECHTOVÁ, Duchovní orientace děčínských Thun-Hohensteinů v době předbřeznové [Die religiöse Orientierung der Thun-Hohensteins von Tetschen während des Vormärz]. In: Zdeněk R. NEŠPOR / Kristina KAISEROVÁ (Hg.), Variety české religiozity v „dlouhém“ 19. století (1780-1918), Ústí nad Labem 2010, S. 254-269.
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gut bolzanistisches Kongruenzideal vorschwebte.113 Es war eine Vision, der viele junge Liberale um 1848 nichts mehr abgewinnen konnten. Darauf gilt es eigens hinzuweisen, weil sich das Schema einer reibungslosen Entwicklung von der Aufklärung, die über den Mittelsmann Bolzano im Liberalismus des Jahres 1848 gegipfelt sei, immer noch hartnäckig in Überblicksdarstellungen und Spezialstudien hält. Drei Aspekte möchte ich hier noch anschneiden: 1. In der auf Thuns Geheiß verfassten Denkschrift „Die Universitätsfrage in Österreich“ wird in einer schönen Formulierung mit dem „verseichtigten Kantianismus von Amtswegen“114, der die Universitäten der Monarchie bislang geprägt habe, abgerechnet. Das bezeichnet sehr präzise Thuns eigenes Dilemma. Thun war ein eifriger Leser Justus Mösers, der gegen die Abstraktionen einer – karikierten – französischen Aufklärung die „Localvernunft“ ins Treffen führte.115 Thun stand lange Jahre in Korrespondenz mit Tocqueville116, der die „freien Institutionen“ gegen den Individualismus zu stärken wünschte.117 Daraus ergab sich Thuns Plädoyer für das lebendige „Selfgovernment“ der Bezirksgemeinde. Als Gubernialpräsident in Böhmen im Jahr 1848 hintertrieb Thun freilich selbst die Realisierung dieses Projekts, für das auch sein unmittelbarer Amtsvorgänger Rudolf Stadion eingetreten war, weil er in der Situation die Stärkung der Revolutionäre
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Die meist undifferenziert wiederholte Annahme des bolzanistischen Grundrisses der Bildungsreform nach 1848 (ausgeprägt etwa bei William M. JOHNSTON, The Austrian Mind: An Intellectual and Social History 1848-1938, Berkeley 1972, S. 279. – Salomon FRANKFURTER, Graf Leo Thun-Hohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz: Beiträge zur Geschichte der österreichischen Unterrichtsreform, Wien 1893, S. 26, 73, 92) wurde durch eine hagiographische und dekontextualisierende Überzeichnung der Alleinverantwortlichkeit Thuns und die einseitige Sicht auf Exner als treuer „Jünger“ Bolzanos vertieft. Nuancierte Skizze bei Brigitte MAZOHLWALLNIG, Der Einfluss Bolzanos und der Bolzanisten auf die österreichische Universitätsreform der Jahre 1848/49. In: Helmut RUMPLER (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik: Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration, Wien 2000, S. 221-246. [Anonym, Joseph UNGER?]: Die Universitätsfrage in Österreich: Beleuchtet vom Standpunkte der Lehr- und Lernfreiheit, Wien 1853, S. 22. Thun nennt Möser den „[…] edelsten und begabtesten Vertreter ächt konservativer Gesinnung“. Leo Thun, Tagebucheintrag, 12. Dezember 1840, Státni Oblastní Archiv Litoměřice, Zs. Děčín, Rodinný archiv Thun, Fond 3, xxi, C16. Vgl. auch Justus MÖSER, Sämtliche Werke, neu geordnet und aus dem Nachlasse herausgegeben von Bernhard Rudolf ABEKEN, Berlin 1842-43, 10 Bde., Bd. IV, S. 250, Bd. V, S. 22-24, Bd. VII, S. 259. – Richard SAAGE, Absolutismus und Aufklärung in Deutschland. In: DERS., Vertragsdenken und Utopie, Frankfurt 1989, S. 93-141. Vgl. die neue vollständige Edition des Briefwechsels: Lev Thun – Alexis de Tocqueville, korespondence 1835-1856 [Leo Thun – Alexis de Tocqueville, Briefwechsel 1835-1856]. Hg. v. Doubravka OLŠÁKOVÁ / Hana FOŘTOVÁ, Praha 2011. Es wäre lohnenswert, das Denken der Korrespondenzpartner Tocquevilles in den habsburgischen Ländern vergleichend zu untersuchen, vgl. etwa auch den Briefwechsel mit József Eötvös, dazu Győző CONCHA, Báró Eötvös József állambölcselete és a külföldi kritika [Die Staatsphilosophie von József Eötvös und die ausländische Kritik]. Budapest 1908 und István FENYŐ, Eötvös és Tocqueville [Eötvös und Tocqueville]. In: Aetas 22 (2007), S. 127-134.
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und Radikalen befürchtete.118 Zugleich trat Thun für die Beibehaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit ein, da er den Adel als wichtigste Macht unter den Montesquieuschen „pouvoirs intermédiaires“ sah, jener gesellschaftlichen Kräfte also, die Zentralismus und absoluter Herrschergewalt entgegenwirkten. Den tschechischen Liberalen galt ihr früherer Hoffnungsträger Thun119 nun als „Reaktionär“, der mit Zähnen und Klauen die Stellung der Aristokratie im Gemeinwesen verteidigte.120 Die Revolution von 1848 erzwang ein Auswetzen der Scharten der Aufklärung bei den Konservativen. Hans Lentze hat in seinem großen Buch über die Universitätsreform von einem veritablen „Josephinismuskomplex“121 gesprochen, unter dem Thun gelitten habe. Thun machte den Josephinismus dafür verantwortlich, dass das Bürgertum sich dem Liberalismus zuwandte. Zugleich schlug Thun wie Tocqueville den Bogen vom Absolutismus zur Revolution, im Josephinismus sah er die österreichische Variante dieser Entwicklung, die in der Revolution von 1848 gipfelte. Abgrenzungsbedürfnisse dieser Art führten zu einer Sichtung rekursiver, in das 18. Jahrhundert zurückweisender Denkfiguren, zu einer Verwischung von Zusammenhängen im Dienste der Konstruktion eines postrevolutionären Selbst. Die damit einhergehende Dekontextualisierung und Entdifferenzierung führte zu einer Reduktion der Aufklärung auf ein isoliertes und verabsolutiertes Segment, die Spätaufklärung à la Nicolai. Diese selektive Anamnese aufklärerischer Argumentationsrepertoires hat die Denkwege die ich hier besprochen habe verschüttet. 2. Noch 1875, im Zuge der Formierungsversuche eines gesamtmonarchischen konservativen Blocks notierte Franz Graf Coudenhove auf Ronsperg maliziös über 118
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Vgl. Ralph MELVILLE, Adel und Revolution in Böhmen: Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998, bes. die Anhänge, Leo Thuns „Die Ereignisse in Galizien und das Patrimonialverhältnis in Österreich, April 1846“, S. 285-293 sowie DERS., „Zur Revision der Verfassung von 1849. Eigenhändige Notizen für die Beratungen im Kabinett, November 1851“, S. 359-362. Thuns Vorschläge für die Ausscheidung des adeligen Gutsbesitzes aus der Landgemeinde und für ehrenamtliche adelige Honoratiorenkollegien als Bezirkskörperschaften der Länder wurden freilich mit dem Silvesterpatent vom 31. Dezember 1851 obsolet, das die Verfassung und die Grundrechte aufhob und den Adel der bürgerlichen oder bäuerlichen Gemeindeverwaltung unterstellte, vgl. Hannes STEKL, Zwischen Machtverlust und Selbstbehauptung. Österreichs Hocharistokratie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. In: DERS., Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie, 18. bis 20. Jahrhundert, Wien 2004, S. 14-34, 27-28. Zdeněk ŠAMBERGER, Český zemský patriotismus (Úvahy o jeho úloze a projevu v prvé polovině 19. století [Der böhmische Landespatriotismus (Überlegungen über seine Rolle und Äußerungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts]. In: Literární archiv 21-22 (1985/1986), S. 71-110. – Jiří RAK, Politische Aspekte der Sprachenfrage in Vormärzböhmen. Beilage: Leo Graf v. Thun: Niederschrift für die böhmische Sprache von 1831. In: Germanoslavica 1/6 (1994), S. 23-59. František PALACKÝ, Eine verunglückte Erklärung [1848]. In: DERS., Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren: als Beitrag zur Zeitgeschichte, Prag 1874, S. 147-148, Ralph MELVILLE, Účast české šlechty na první pražské měšťanské petici z 15. března 1848 [Der Anteil des böhmischen Adels an der ersten Prager Bürgerpetititon vom 15. März 1848]. In: Český Časopis Historický 101 (2003), S. 582-620. Hans LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 81.
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den religiös-reformkatholischen Impetus von Thuns Ideen: „Daß aber die böhmischen Herren an die Unzertrennlichkeit des böhmischen Staatsrechts von der katholischen Religion glauben, das bezweifle ich. Thun allein ist fähig, sich in diese Idee verrannt zu haben.“122 3. Auf ähnliches Unverständnis stieß bei Thuns konservativen Gesinnungsgenossen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seine Laissez-faire-Wirtschaftsanschauung. Sie meinten in den böhmischen Herren „reine Individualisten, mithin Liberale, ohne es zu wissen“ zu entdecken und unter ihnen „die stärksten Vorkämpfer der agrarischen Manchestertheorie“123 zu finden. Hier könnte man auch Thuns Kritik an den Physiokraten analysieren. Thun beanstandete nicht das liberalisierende und deregulatorische ökonomische Modell der modernen Erwerbsgesellschaft, sondern die daraus abgeleiteten zentralistischen Schlussfolgerungen und plädierte für die Selbstverwaltung von Verbänden der Gewerbetreibenden. Bevor ich nun die Ergebnisse des Kapitels zusammenfasse, möchte ich noch kurz die Nahtstelle der großen Erzählungen politischer Traditionsstiftung im Jahr 1848 behandeln und auf die liberale Konstruktion des Vermächtnisses der Aufklärung und die konservative Abgrenzung von diesem Erbe eingehen.
8.
Liberale Geschichtsbilder und das Erbe der Aufklärung
Dass die liberale Sicht auf das achtzehnte Jahrhundert eine Reihe revisionsbedürftiger Deutungen hervorgebracht hat, gilt nicht nur für die Habsburgermonarchie. Die Historiographie der Risorgimento-Zeit, beispielsweise die Geschichte Savoyens und Toskanas, würde eine eigene Studie lohnen.124 Ein Deutungsansatz, der die nicht122
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Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Schloßarchiv Walpersdorf, Nachlaß Julius Graf Falkenhayn (Korrespondenz), Coudenhove an Falkenhayn, 12. August 1875. Die Partei blieb freilich noch eine Wunschprojektion, vgl. Viktor Weiß von STARKENFELS in seiner Grundentlastungsrhapsodie: Kleiner politischer Katechismus der österreichischen Rechtspartei, III, Wien 1873, S. 29. „Einig sind wir höchstens, indem wir die Hände in den Schooß legen.“ Starkenfels an Falkenhayn, Nachlaß Falkenhayn, 3. Februar 1872. Georg Lobkowicz beschied Thun am 18. Oktober 1877: „Das Anstreben einer rein katholischen Partei scheint mir eine Utopie. In: Paul MOLISCH (Hg.), Briefe zur deutschen Politik in Österreich 1848 bis 1918, Wien 1934, S. 146f. – Lothar HÖBELT, Die Konservativen Alt-Österreichs 1848-1918: Parteien und Politik. In: Robert RILL / Ulrich E. ZELLENBERG (Hg.), Konservativismus in Österreich: Strömungen, Ideen, Personen und Vereinigungen von den Anfängen bis heute, Graz 2003, S. 109-152. Gustav Graf Blome an Friedrich Revertera, 10. März 1894, Schlossarchiv Helfenberg, Nachlaß Friedrich Graf Revertera, Schachtel 56, DiPaulis Bemerkung von 1896 bei Norbert MIKO, Die Vereinigung der christlichsozialen Reichspartei und des katholisch-konservativen Zentrums, Diss., Wien 1949, S. 226, zit. nach HÖBELT (wie Anm. 123). Vgl. die gedankenreiche Skizze von Taras von BORODAJKEWYCZ, Gewerbefreiheit und konservativer Geist. In: Josef LOB u.a. (Hg.), Festschrift Walter Heinrich. Ein Beitrag zur Ganzheitsforschung, Graz 1963, S. 371-387. Giuseppe RICUPERATI, L’image de Victor Amédée III et de son temps dans l’historiographie: attentes, velléités, réformes et crise de l’Ancien Régime. In: Barbara BERTINI CASADIO / Danielle CASTRONOVO NEGREL (Hg.), Bâtir une ville au siècle des lumières: Carouge, Carouge 1986,
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deutschsprachigen Historiographien der Monarchie und in der Folge jene der Nachfolgestaaten kennzeichnete, war die nationale Verengung des Blicks auf das 18. Jahrhundert. Das Betonen der „Verspätung“ der eigenen Nationsgenese gegenüber der Geschichte Westeuropas prägte die Erklärungsmodelle. Dieses Modell der Verspätung erleichterte die zeitliche Kontraktion und Raffung: in der Geschichte der zentraleuropäischen Region wurden Erscheinungen, die anderswo aufeinander folgten, gleichgesetzt: In den regionalen Darstellungen der Geschichte der Monarchie verschmolzen auf diese Weise allzu häufig Spätaufklärung und Frühliberalismus. Die Schuld für die Verspätung der Nationsbildung wurde entweder der Dynastie, der katholischen Kirche oder beiden, bzw. verräterischen, meist „josephinischen“ Renegaten zugeschrieben, die dem Niedergang der Nation Vorschub geleistet hätten. Der Zusammenhang von Aufklärung und Josephinismus wurde so zum neuralgischen Problem. Im Umgang mit diesem Problem zeigt sich ein beträchtlicher Unterschied der Plots, denen die Geschichtserzählungen deutschsprachiger Liberaler auf der einen und ungarisch- bzw. tschechischsprachiger Liberaler auf der anderen Seite folgten. Für die Liberalen aus den deutschsprachigen Erbländern waren die josephinischen Reformen und die Aufklärung aus einem Guss. Die deutschliberalen Zentralisten hatten die ausgeprägte Vorliebe, alle Reformbestrebungen in der Geschichte der Monarchie mit dem schmückenden Beiwort „josephinisch“ zu versehen. Aus ihrer Sicht auf die Geschichte des „Staatenstaats“125 (so Hermann Ignaz Bidermanns bedenkenswerte Begriffsbildung), die mit der Idee einer fortwährenden Verdichtung des Gesamtstaats verknüpft ist, mutet das durchaus folgerichtig an. Die Kirchenmänner, die seit dem späten 19. Jahrhundert die Geschichte des Staatskirchentums schrieben, akzeptierten diese Deutung unter umgekehrten Vorzeichen.126 So verbreiteten die Bewunderer und Verächter dieses „Josephinismus“ eine strukturell analoge Deutung, die mit entgegengesetzten intentionalen Voraussetzungen vertreten wurde. Beide Lager trugen so zu einer Verengung des Blicks bei. Der deutschliberale Dünkel, der die imperiale Zivilisierungsmission des 19. Jahrhunderts als Vollendung des Josephinismus sah und die kirchliche Kampagne gegen Relativismus und Liberalismus, die unter dem Sammelbegriff des „Modernismus“ zusammengefasst wurden, verstärkten einander paradoxerweise in einer Situierungsgeste: in der Gleichsetzung von „Jose-
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S. 15-33. Carlo Calcaterra minimierte – es ging ja um Sardinien-Piemont, die Keimzelle des Risorgimento – den französischen Einfluss auf die Aufklärung in den savoyischen Ländern, vgl. CALCATERRA, Il nostro imminente Risorgimento, Torino 1935, DERS., Le adunanze della „Patria Società Letteraria“, Torino 1943. Zu Toskana Zeffiro CIUFFOLETTI, I moderati toscani e la tradizione leopoldina. In: DERS. / Leonardo ROMBAI (Hg.), La Toscana dei Lorena: Riforme, territorio, società, Firenze 1989, S. 121-138. Georg JELLINEK, Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 227. Ferdinand MAAß, Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich, 1760-1850: Amtliche Dokumente aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien sowie dem Archivio Segreto Vaticano in Rom, 5 Bde., Wien 1951-1961. – DERS., Der Josephinismus und die Nationalitäten Österreichs. In: Theodor VEITER (Hg.), Volkstum zwischen Moldau, Etsch und Donau: Festschrift Hieronymus Riedl, Wien 1971, S. 47-62. – Anton ELLEMUNTER, Antonio Eugenio Visconti und die Anfänge des Josephinismus, Graz 1963.
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phinismus“ und Aufklärung. Diese Gleichsetzung hat in der Historiographie einen langen Nachhall. Blickt man auf die ungarischen und tschechischen Geschichtskulturen, dann stellt sich der Zusammenhang zwischen Josephinismus und Aufklärung anders dar. Er bezeichnet den blinden Fleck in den Erbeerzählungen der ungarischen und tschechischen Liberalen. Der josephinische Impuls der Aufklärung war für die dem nationalen Paradigma verpflichtete Geschichtsschreibung ein Ärgernis. Um die jeweiligen Spätaufklärer als löbliche Vorreiter der nationalen Wiedergeburt des frühen 19. Jahrhunderts vereinnahmen zu können, musste man auf Millimeterpapier Psychogramme der Abkehr dieser Figuren von Josephs Reformagenda zeichnen und, daran anschließend, die Unvereinbarkeit ihrer Postulate und Ziele mit der nach dem Tod Josephs II. einsetzenden Epoche der „Reaktion“ beweisen. Oft wurde dann der jeweilige Protagonist zu einem Vorkämpfer der Nation malgré lui stilisiert. Bei jenen Aufklärern, die Joseph ohnedies wenig Sympathie entgegenbrachten (wie etwa František M. Pelcl) ging das Kalkül einfacher auf, da eine antijosephinische Einstellung und die Befürwortung eines frühliberalen Projekts als deckungsgleich eingestuft und zu einer Option zusammengezogen wurden. Die Alternative eines spätaufklärerischen Gelehrten- und Landespatriotismus wurde zusehends aus dem Geschichtsbild getilgt. Für die spätaufklärerischen Protagonisten des „nationalen Erwachens“ wurden einschlägige Wegbereiterrollen entworfen. Ignác Jan Hanuš etwa bemerkte 1867 über Dobrovský, der als Kritiker der Handschriftenfälschungen Václav Hankas aufgetreten war: „Obwohl er kein Patriot und Eiferer im modernen Sinne war, weil er der falschen Auffassung war, die tschechische Nation schlafe nach der Zeit Josefs hinsichtlich einer sich lebhaft entwickelnden Kultur bereits einen ewigen Schlaf, unterstützte [er] nicht unmittelbar die Auferstehung der tschechischen Nation, war aber dennoch mehr wahrer Tscheche, als er selbst vermutete.“127 Wo stand hier der freisinnige, aufgeklärt-konservative Adel, wie ihn Thun repräsentierte? Die liberale Überlieferung seit der Mitte des 19. Jahrhundert konstruierte ein einheitliches Erbe. Rivalisierende Nachfolger der Aufklärung wie Thun figurierten hier nur als „seltsam organisierte Köpfe“ (Heinrich Friedjungs Formulierung128) im Negativabdruck ihrer Gegner. Alternative Modelle der Staatseinheit wie jene eines 127
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Ignác Jan HANUŠ, Literárni působení Josefa Dobrovského co příspěvek k dějinám literatury české [Joseph Dobrovskýs literarische Tätigkeit als Beitrag zur Geschichte der tschechischen Literatur]. Praha 1867, S. 10. Vgl. weiters Catherine SERVANT, Joseph Dobrvoský et le criticisme tchèque de la fin du XIXe siècle. In: Revue des études slaves 74 (2002), S. 411-418. Ähnlich bei Milorad ŽIVANČEVIĆ / Ivo FRANGEŠ, Ilirizam, realizam [Illyrismus, Realismus]. Zagreb 1975, S. 4. – Boris PATERNU, Problem literarnostilne diferenciacije v slovenski književnosti razsvetljenstva [Das Problem der Differenzierung literarischer Stile in der slowenischen Literatur der Aufklärung]. In: DERS (Hg.), Obdobje razsvetljenstva v slovenskem jeziku, književnosti in Kulturi, Ljubljana 1979, S. 37-56. Heinrich FRIEDJUNG, Österreich von 1848 bis 1860. 2 Bde., Stuttgart ²1908-1912, hier Bd. 1, S. 329. Als Advokat der „Rückbildung“ des theresianisch-josephinischen Staatsbildungsprozesses erscheint Thun bei Joseph REDLICH, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. 2 Bde., Leipzig 1926, hier Bd. 1, S. 649-51.
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vereinigten Landtages auf ständisch-konföderativer Basis fielen so aus dem deutschösterreichischen Geschichtsbild. Das Pendant zur Wiener Reichsgeschichte Arnold Luschin-Ebengreuths waren – darauf weisen die Forschungen tschechischer Historiker, etwa Kamil Kroftas129 hin – die seit den 1870er Jahren in Prag und Budapest erscheinenden Editionen von Landtagsakten.130 Dieses Material bot tschechischen und ungarischen Liberalen wertvollen Stoff für ihre Argumentation gegen den „Absolutismus“131, einen Begriff der damals bereits aus der junghegelianischen Theoriebildung eines Eduard Gans in die Historiographie übergegangen war. In Österreich konnte die Geschichte der Zentralverwaltung unter der Federführung Friedrich Walters132 an die „Reichsgeschichte“ anknüpfen: Auch hier werden die Stände, übrigens in merkwürdiger Übereinstimmung mit den nationalkommunistischen Historiographien auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs133, als reaktionäre Verteidiger adeliger Privilegien dargestellt.
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Kamil KROFTA, Snahy o společny sněm domu rakouského v letech 1526 až 1848 [Bemühungen um einen gemeinsamen Landtag des Hauses Österreich, 1526 bis 1848]. In: DERS., Byly jsme za Rakouska […] Úvahy historické a politické, Praha 1936, S. 142-245. Anton GINDELY u. a. (Hg.), Sněmy české od léta 1526 [Böhmische Landtage vom Jahr 1526 bis auf unsere Zeit]. 11 Bde. und ein Ergänzungsbd., Praha 1877-1910. – Vilmos FRAKNÓI und Árpád KÁROLYI (Hg.), Magyar országgyűlési emlékek – Monumenta comitalia regni Hungariae 1526-1606, 12 Bde., Budapest 1874-1914. Reinhard BLÄNKNER, „Der Absolutismus war ein Glück, der doch nicht zu den Absolutisten gehört.“ Eduard Gans und die hegelianischen Ursprünge der Absolutismusforschung in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 31-66. Arnold LUSCHIN VON EBENGREUTH, Österreichische Reichsgeschichte, Bamberg 1896. – Thomas FELLNER / Heinrich KRETSCHMAYR / Friedrich WALTER u. a., Die österreichische Zentralverwaltung. I. Abteilung, 3 Bde., Wien 1907. Gute Problemskizze bei Robert John W. EVANS, Historians and the State in the Habsburg Lands. In: Wim BLOCKMANS und Jean-Philippe GENET (Hg.), Visions sur le développement des états européens: theories et historiographies de l’état moderne, Rom 1993, S. 203-218, vgl. weiters Kurt EBERT, Zu den der Einführung des Prüfungsfaches ‚Österreichische Reichsgeschichte’ im Herrenhaus und im Abgeordnetenhaus vorhergehenden Debatten. In: Hans Christian FAUßNER / Gernot KOCHER / Helfried VALENTINITSCH (Hg.), Die österreichische Reichsgeschichte. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, Graz 1991, S. 49-73. – Ivo CERMAN, Opposition oder Kooperation? Der Staat und die Stände in Böhmen, 1749-1789. In: Gerhard AMMERER / William D. GODSEY Jr. / Martin SCHEUTZ / Peter URBANITSCH / Alfred Stefan WEIß (Hg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie, München 2007, S. 374-393. – Petr MAŤA / Thomas WINKELBAUER, Einleitung. Das Absolutismuskonzept, die Neubewertung der frühneuzeitlichen Monarchie und der zusammengesetzte Staat der österreichischen Habsburger im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: DIES (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1620-1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas, Stuttgart 2006, S. 7-42. Vgl. etwa Erszébet ANDICS, A nagybirtokos arisztokrácia ellenforradalmi szerepe 1848-49-ben: Tanulmányok, iratok: 1844. Julius 4. – 1848. március 12. keégeszitő iratok a II és III kötethez [Die gegenrevolutionäre Rolle der adeligen Großgrundbesitzer in den Jahren 1848-1849]. Budapest 1981. – DIES., Metternich és Magyarország, Budapest 1975, dagegen prägnant und gehaltvoll Julius [Gyula] MISKOLCZY, Metternich und die ungarischen Stände. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 12 (1959), S. 240-256. Eine Biographie über Erzsébet Andics bleibt ein Desiderat.
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Aus welchen Quellen speiste sich der deutschösterreichische Liberalismus und welche Quellen machten seine Protagonisten selbst namhaft? Und: wie unterschieden sich diese Quellen vom „gesamtösterreichischen“ Liberalismus, der, wie etwa bei Palacký, nicht auf einer verklausulierten Förderung deutscher Kultur beruhte, die sich als Universalkultur präsentierte?134 Nach 1848 eignete sich die Verehrung Josephs hervorragend, um die Widersprüche zwischen Bürokratie, „Staatsomnipotenz“ und geselliger „bürgerlicher Selbsttätigkeit“ im Vormärz zu überblenden. Die Bewunderung Josephs fungierte als konzeptuelles Scharnier: Sie erlaubte es den Bürokraten, die, wie Joseph von Kalchberg in seinen „Denkwürdigkeiten“ schrieb, „ihren aufgeklärten Absolutismus“135 hervorkramten, und den liberalen Exrevolutionären, die für die neoabsolutistische Modernisierungsdiktatur eintraten, sich ihres guten Einvernehmens zu versichern. Zudem erschien Joseph als Galionsfigur für die zumindest allerhöchst gutgeheißene germanisierende Politik, wie sie etwa Carl von Czoernigs Bilanz der deutschen „Culturidee“ in seiner offiziösen Schrift über Oesterreichs Neugestaltung136 propagierte. Die Berufung auf Joseph II. ermöglichte es auch, über die Revolution hinwegzukommen: Liberale „Deutschtümler“ des Vormärz und der Revolution konnten, als Beamte kooptiert, ihren frühen Aktivismus staatstragend-veredelnd sublimieren. Was sie an Josephs Regierung seit jeher beispielhaft gefunden hatten, retteten sie in den Neoabsolutismus hinüber. Die neoabsolutistische Neuordnung gewann so gegenüber der zaghaft-widersprüchlichen Politik des Vormärz einen zusätzlichen Identifikationsanreiz. Viele gingen durch dieses Nadelöhr zum diensteifrigen „Gutgesinnten“.137 Zugleich entsprach die Bewunderung für Joseph II. dem Sendungsbewusstsein der zentralstaatlichen Bürokratie. Sie wirkte als Garant der Einheit der Monarchie und desavouierte andere Modelle der Gesamtstaatsgenese „von unten, von den Gliedern
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Vgl. Franz PALACKÝ, Österreichs Staatsidee, Prag 1866 und Valentin URFUS, K vzájemnému poměru českého státoprávního programu a předbřeznové stavovské opozice v Čechách [Zum wechselseitigen Verhältnis des böhmischen Staatsrechtsprogramms und der vormärzlichen Ständeopposition in Böhmen]. In: Právněhistorické studie 13 (1967), S. 85-103. Joseph von KALCHBERG, Mein politisches Glaubensbekenntnis in Gedenkblättern, Leipzig 1881, S. 186-187. Carl von CZOERNIG, Oesterreichs Neugestaltung 1848-1858, Stuttgart, Augsburg 1858, S. 602. – Bosiljka FUX, Carl Freiherr Czoernig von Czernhausen: ein Lebensbild. Phil. Diss., Wien 1960. – Jiří KOŘALKA, Palacký und Czoernig. Eine tschechisch-deutsche Zusammenarbeit im Geist des böhmischen Landespatriotismus. In: Catherine HOREL (Hg.), Nations, cultures et sociétés d’Europe centrale au XIX e et XXe siècles. Mélanges offerts au Professeur Bernard Michel, Paris 2006, S. 139-155. Den alternative Pfad der Ächtung des Gesamtstaats bei deutschgesinnt liberalen Altachtundvierzigern zeigt Anton SPRINGER, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden, 2 Bde., Leipzig 1863-1865. Vgl. weiters Jan HEIDLER, Antonín Springer a česka politika v letech 1848-1850 [Anton Springer und die tschechische Politik in den Jahren 1848-1850]. Praha 1914, S. 174.
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her“138 (Hans Sturmberger) – denken wir hier wieder an den spätaufklärerischen adeligen Landespatriotismus.139 Der immer latent schwelende, mitunter offen hervorbrechende Meinungsstreit über die Bahn, die der „verjüngten Staat“140 (Ministerpräsident Felix Schwarzenberg) einschlagen sollte, konnte so über die Beschäftigung mit dem josephinischen Erbe ausgetragen werden. Was es nämlich bedeutete, dass die an Joseph orientierte Symbolpolitik den Umfang und die Ziele der Modernisierungsdiktatur – ich erinnere nur an die Anstrengungen zur Katholisierung und Germanisierung Ungarns141 – nicht ortungsscharf abbildete, wäre eingehender zu prüfen. Ausgehend von dieser Diskrepanz ließen sich auch neue Akzente für die Einschätzung der Gemengelage nach der Niederlage von Solferino gewinnen, die den Prestigeknick des zentralistischen Modells herbeiführte und Franz Josephs Empfänglichkeit für neue Konzeptionen der Staatsorganisation förderte.142 138 139
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142
Hans STURMBERGER, Land ob der Enns und Österreich: Aufsätze und Vorträge, Wien 1979, S. 257. Wie hier die Rolle erbländisch-ständischer Geschichtsbilder und ständeeigener Historiographie gelagert war, auch in Verbindung mit den tschechischen und ungarischen nationalliberalen Ständebildern des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, bedürfte einer eigenen Studie. Bezogen auf die Frühphase der „Monarchia Austriaca“, aber darüber hinaus anregend Arno STROHMEYER, „Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte!“ Die Geschichtskultur der österreichischen Stände im Werden der Habsburgermonarchie (1660-1650). In: Anzeiger der philosophischhistorischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 137 (2002), S. 147-165. So etwa Ministerpräsident Fürst Felix SCHWARZENBERG in seiner Rede vor dem Reichstag von Kremsier/Kroměříž am 27. November 1848, Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme, 5 Bde., Wien 1848-1849. Bd. IV, Sitzung 54, S. 12-14, hier S. 14. Christoph BERGER-WALDENEGG, Eine Lebensfrage für die Zukunft Österreichs: Das Projekt einer „Kolonisierung“ Ungarns in der Epoche des Neoabsolutismus. In: Südostforschungen 51/52 (2002/2003), S. 91-139. Vgl. das „Laxenburger Manifest“, Walter GOLDINGER, Von Solferino bis zum Oktoberidiplom. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 3 (1950), S. 106-126. Es wäre gesondert zu untersuchen, welche Streuungseffekte die Rhetorik des „Praktischen“ und „Praktikablen“, die ostentative Theoriefeindlichkeit der „Hochtory-Hofpartei“ in der politischen Praxis hatte, vgl. schon Metternichs Lobeshymmne auf Karl Kübeck anläßlich von dessen Ernennung zum Präsidenten des Reichsrats 1850, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien, Nachlaß Kübeck, Unveröffentlichte Tagebücher, Paket I, 10. Dezember 1850, „[…] zu diesen Gaben gesellt sich eine vollständige Sicherheit der Grundsätze und der gründlichen Kenntnisse nebst einer Abneigung gegen schale Theorien.“ Zu Kübecks Sicht auf Schwarzenberg als Vehikel der „Legalisierung der Revolution“ Joseph REDLICH, Das österreichische Staats- und Reichsproblem (wie Anm. 130) Bd. 1, S. 402. Vgl. auch Kübecks Schreiben an Metternich über Schwarzenbergs Überrumpelung in Vorbereitung der oktroyierten Verfassung vom März 1849: „Mein Urtheil über F. Schw. ist ein milderes als jenes seines heldenmüthigen Schwagers [Generalfeldmarschall Alfred Fürst Windischgrätz, FLF], aber darum doch wie ich glaube, ein gerechtes. F. Schwarz. hatte den edlen Entschluß gefaßt, mit jeder Art Selbstaufopferung die Rettung der Dynastie und der Monarchie zu bewirken, und die Ereigniße zur Stärkung und Kräftigung derselben zu benützen. In diesem Zwecke war er auch stäts gleichen Sinnes mit seinem Schwager. Aber es fehlte ihm an richtiger Erkenntnis der Zustände, und an tiefer Forschungsgabe so wie an Übung in gehöriger Geschäftsbehandlung. Er mußte diese Mängel fühlen, so wie er fühlte, daß sein Schwager sie
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Drei Stufen josephinischer Sinnbildung
Nun bin ich Ihnen ein Resümee schuldig: Ich möchte abschließend versuchen, die drei Stufen josephinischer Sinnbildung herauszuarbeiten, die sich aus den dargestellten Lebensbildern ergeben. Zusammenfassend lässt sich der Prozess, durch den Aufklärung und Josephinismus in der Habsburgermonarchie zu dem wurden als das sie uns heute erscheinen, folgendermaßen gliedern: Die Redistribution von Erbansprüchen und die geschichtspolitische Neujustierung führte zu Schichten der Stilisierung, die es abzutragen gilt, wenn man zu einer fundierten Einschätzung der Reformen und ihres Erbes gelangen will. Drei Stufen möchte ich hier zusammenfassend unterscheiden: 1. Auf der ersten Stufe ist das Wegretuschieren der machtstaatlichen Substanz der josephinischen Reformen durch die deutschsprachigen aufgeklärten Gefolgsleute Josephs II. angesiedelt.143 Der Datenkranz obrigkeitlicher Ressourcenmobilisierung wurde auf den aufgeklärten Beglückungsvorsatz des „gekrönten Menschenfreundes“ zurückgeführt. Die frühneuzeitlichen Determinanten der Herrschaftsverdichtung und Staatsdurchdringung wurden übergangen, der Kaiser zum freisinnigen Philosophenkönig bar jeder drakonischen Züge stilisiert. Diese Entwicklung kulminiert im josephinischen Mythos. Er wird in den 1830er und 1840er Jahren von der Leipziger und Hamburger Pamphletliteratur des „Jungen Österreich“ aufgegriffen und schon vor 1848 zum Hausschatz der deutschösterreichischen Liberalen.144 2. Als zweite Stufe kann das Ausklammern der projosephinischen Sympathien gelten, welche die später zu Wegbereitern des „nationalen Erwachsens“ stilisierten Aufklärer hegten. Hier vollzog sich ein Reinigungsprozess, eine nationalliberale Repristinisierung von legitimen Vorläufern, die sich ebenfalls im Vormärz entfaltet. 3. Die dritte Stufe bildet schließlich das Vergessenmachen der Ablehnung, welche viele überzeugte Spätaufklärer den nationalliberalen Aktivisten entgegenbrachten.
143 144
nicht ergänzen konnte. Er suchte daher Hülfsarbeiter. Aus den vorhandenen älteren Organen vermied er zu wählen, weil er – eben aus Mangel an Erkenntniß – diesen den Sturz und Verfall der Monarchie zuschrieb, und sie alle in Pausch und Bogen für Schwachköpfe und Feiglinge ansah. So fiel er in die Schlingen eines radotierenden wahren Schwachkopfs, des Gr. Stadion, der seinerseits ganz in den Händen bekannter, in das Ministerium berufener Schwindler lag. Diese Herren waren ganz einfach Lehrlinge der französischen Revoluzion, und eigentlich des französischen Konstituzionalismus, den sie nun für Österreich in’s Werk zu setzen suchten. F. Schw. hatte darüber keine Art fester Meinung und ließ sich von seinenm neuen Kollegen und dem Dunst dessen, was man die öffentliche Meinung nennt, forttragen, in dem man ihn glauben machte, daß es [eine] seinem Kopf entsprungene Minerva sey, welche von seinen Gehülfen nur gegliedert und geputzt wird.“ Carl von KÜBECK an Clemens Wenzel Fürst METTERNICH, Kübeck an Metternich, Státní ústředni archiv, Praha, odd. IV, Roddiný Archiv Metternichů, Acta Clementina č 8, dilčí inventář č. 3, inventární čislo 41, zit. n. Ronald E. COONS, Kübeck and the Prerevolutionary Origins of Austrian Neoabsolutism (wie Anm. 103), S. 59. Zur Idealisierung und Kritik, die Joseph II. durch die Aufklärer der 1780er Jahre erfuhr, Leslie BODI, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung, 1781-1795, Wien 1995². Vgl. Peter KURANDA, Großdeutschland und Großösterreich bei den Hauptvertretern der deutschösterreichischen Literatur 1830-1848, Wien 1928.
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Die Kritik an der Herausbildung dieser „josephinischen Legende“145 blieb nicht aus. Schon Metternich schrieb spöttisch über das selige Einvernehmen unter der Ägide Josephs II. Über Joseph notierte er: „Freisinnig in seinen Worten, war er es nicht in seinen Thaten, und gewiss nicht im Sinne des heutigen Liberalismus.“146 Grillparzer griff das Thema auf, als er in seinem Gedicht „Kaiser Joseph“, auf die nachrevolutionäre Situation anspielt und den Völkerfrühling als Maskerade der liberalen Selbstlegitimierung deutet. Diese abschließenden Verse legt Grillparzer Joseph in den Mund: „Was nun seitdem geschah, will ich nicht schelten,/ Es sucht ein jeder anderswo das Glück,/ Nur soll es als das meine nimmer gelten,/ Gebt meinen Namen mir vorerst zurück,/ Tauscht Furcht und Übermut nach dem Bedarfe,/ Seit geistig Knecht, damit die Willkür frei,/ Vor allem aber gebt zurück die Larve,/ Die Völkerfastnacht ist ja doch vorbei.“147
145
146 147
Vgl. Franz Leander FILLAFER, Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene. Überlegungen zu einer Geschichte des josephinischen Erbes in der Habsburgermonarchie. In: Christian EHALT / Jean MONDOT (Hg.), Was blieb vom Josephinismus, Innsbruck 2010, S. 27-56. – Eduard BEUTNER, Joseph II. Die Geschichte seiner Mythisierung und Entmythisierung in der Literatur (17811848). Die Grundlagen und Bausteine der josephinischen Legende. Habil. Universität Salzburg 1992. Fürst Richard METTERNICH-WINNEBURG / Alfons von KLINKOWSTRÖM (Hg.), Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren, 8 Bde., Wien 1880-1884, hier Bd. 1, S. 272. Franz GRILLPARZER, Kaiser Joseph [1855]. In: DERS., Sämtliche Werke. Hg. v. Peter FRANK und Karl PÖRNBACHER, 4 Bde., München 1969, hier Bd. 1, S. 356-357.
VERZEICHNIS DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER
Dr. Dániel Bárth, Eötvös Loránd Tudományegyetem Néprajzi Intézet, Múzeum krt. 68. fszt. 25, H-1088 Budapest Dr. Ondřej Bastl, Archiv hl. mesta Prahy, Archivni 6, CZ-49 000 Praha 4. Prof. Dr. theol. habil. Dr. phil. Rainer Bendel, Bangertweg 7, 72070 Tübingen Prof. Dr. Lydia Bendel-Maidl, Bangertweg 7, 72070 Tübingen MMag. Franz Leander Fillafer, Universität Konstanz, 78457 Konstanz Dr. Zoltán Gözsy, Historisches Institut der Universität Pécs, Rókus u. 2, H-7624 Pécs Dr. András Hegedüs, Mindszenty tér 2, H-2500 Esztergom Prof. Dr. György Janka, Bóbita 35, H-4405 Nyíregyháza H.H. Dr. Norbert Jung, Erzbischöfliches Ordinariat Bamberg, Domplatz 5, 96049 Bamberg Dr. Horst Josef Miekisch, Steinert-Str. 20, 96047 Bamberg Robert Pech M.A., Wittenberger Straße 34, 04129 Leipzig Prof. Dr. Werner Simon, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, KatholischTheologische Fakultät – Seminar für Religionspädagogik, 55099 Mainz Dr. Peter Šoltés, Historicky ustav SAV, Klemensova 19, Sk-81364 Bratislava PD Dr. Norbert Spannenberger, Erich-Zeigner-Allee 30, 04229 Leipzig Philip Steiner M.A., Keplerstraße 2, 72074 Tübingen Prof. Dr. Edith Szegedi, Universität Cluj, RO-400084 Cluj-Napoca
PERSONENREGISTER
Addison, Joseph ............................ 360 Albani, Giovanni Francesco ...... ...125, 127, 129f. Amort, Eusebius .............................. 49 Aner, Karl........................................ 30 Antoni, József................................ 112 Aretin, Karl Otmar von ................... 41 Aurelius Augustinus……...187f., 190, 192-194 Baader, Franz von ......................... 379 Bach, Alexander ............................ 378 Badenhaupt, E. F. .......................... 218 Bahrdt, Carl Friedrich ................... 219 Bajza, József Ignác .............. 174, 262f. Bálint, Sándor.................................. 83 Barabás, Miklós ............................ 265 Bärenkopf, Ignác ......................... 145f. Barthel, Johann Kaspar ................... 38 Basedow, Johann Bernhard ........... 292 Báthory, István .............................. 103 Batthyány, József……….95, 105-108, 111f., 114, 361, 366 Baur, Ludwig ............................ 31, 39 Beckmann, Johann ........................ 369 Bedekovics, Gábor ........................ 137 Bendel, Josef ................................... 74 Bendel, Rainer............................... 293 Benedikt XIV. ............... 119, 130, 168 Bertieri, Joseph.............................. 186 Bertony, Florián ............................ 108 Berzeviczy, Gregor von……257, 351, 369-373 Bidermann, Hermann Ignaz .......... 383 Bílek, Tomáš Václav ....................... 72
Birkenstock, Johann Melchior von ...........................217f. Biró, Padányi ................................. 362 Bodi, Leslie.................................... 354 Boghici, Ioan ................................. 154 Böhm, Peter .................................207f. Bolzano, Bernard ..................... 57, 379 Bonaparte, Napoleon ..... 254, 256, 371 Bönike, Johann Michael ................ 173 Born, Ignaz von ............................... 66 Borovský, Karel Havlíček ............... 75 Borový, Klement ............................. 71 Bossuet, Jaques-Bénigne ............... 281 Božickovic, Vasilije....................... 128 Bradács, János ....................... 125, 127 Breidbach-Bürresheim, Emmerich Joseph von ................. 219, 225, 228 Brück, Heinrich ............................... 39 Brunsvik-Majtényi, Marianne ....... 262 Buquoy, Johann Nepomuk von ....... 61 Burson, Jeffrey D............................. 45 Butterwick, Richard ......................... 47 Calmet, Augustin ........................... 286 Canisius, Petrus ............................. 282 Capistrano, Johannes ..................... 253 Carl August von Sachsen............... 370 Carl, Horst ....................................... 51 Cassirer, Ernst................................ 359 Christ, Günther ................................ 48 Ciappara, Frans ................................ 47 Clam-Martiniz, Carl....................... 353 Clemens VIII. ................................ 133 Clemens XIII. 119, 123, 124, 126, 127
392
Personenregister
Clemens XIV. …….18, 125, 127, 130, 133, 169 Coquelinus, Aloysius .................... 126 Cordier, Philipp ..................... 229, 231 Csáky, Miklós ............................... 139 Czigány, Gábor ............................. 137 Czoernig, Carl von ........................ 386 Dalberg, Karl Theodor von...159, 218, 229f. di Cilia, Gelasio............................... 99 Dobner, Gelasius ............................. 66 Dobó, Stefan.................................. 264 Dobrovský, Josef ............... 58, 69, 384 Drágossy, Moise............................ 128 Ducreaux, Marie-Elisabeth ........... 183 Erhard, Thomas ............................. 286 Erthal, Franz Ludwig von ....... …...49, 158-165, 230 Erthal, Friedrich Karl von….219, 232, 247 Erthal, Karl Joseph von ................. 160 Esterházy, Pál László .................... 142 Eszterházy, Ferenc ................ 128, 357 Eszterházy, Károly ................. 123-126 Exner, Christoph Joseph……303, 305, 312 Eybel, Joseph Valentin Sebastian ........... 111, 173, 331, 361 Fándly, Juraj .................................. 174 Farkas, Ignatius ............................. 144 Fauken, Johann Peter Xaver .......... 165 Fejér, György .............. 351, 361, 363f. Felbiger, Johann Ignaz von…...11, 14, 20, 69, 267-270, 275f., 279-282, 290, 303 Fénelon, François .......................... 293 Ferenczy, János ............................. 363 Flasch, Kurt ..................................... 26 Fleury, Claude ....... 110, 111, 281, 290 Forgach, Joseph Miklós ................ 357 Francke, August Hermann .... 275, 301 Frank, Georg ......................... 108, 113
Frankenberg, Johann Heinrich Graf von ...................................112f. Franz II./I.……20, 182, 257, 264, 355, 374 Franz Joseph I. ....... 182, 376, 378, 387 Franz, Adolph ............................ 76, 99 Franz, Lothar ........................... 76, 157 Franz, Ludwig.................................. 19 Friedrich II. ……20, 109, 201f., 267, 272, 298-300, 303, 305, 308, 316, 324f. Fulda, Daniel ............................. 24, 30 Gaj, Ludovit ................................... 368 Gall, Joseph Anton ................ 230, 236 Gans, Eduard ................................. 385 Garampi, Giuseppe ..............130f., 362 Gárdonyi, Géza .............................. 264 Garve, Christian ............................. 374 Gassner, Johann Joseph . 18, 91, 97, 99 Gazzaniga, Petrus Maria. .......185-191, 193-195 Gellert, Christian Fürchtegott…. .. 205, 374 Gentz, Friedrich von ...................... 255 Gerbert, Martin ........................ 49, 291 Gertz, Johannes…..217-219, 224, 229231, 237 Gmeiner, Franz Xaver ................... 332 Göbhardt, Tobias ........................... 280 Goethe, Johann Wolfgang von ..... 252, 263, 265, 306 Goldhagen, Hermann ..................... 234 Gottsched, Johann Christoph ......... 293 Götz, David.................................... 158 Gőzsy, Zoltán .......................... 18, 250 Greschat, Martin .............................. 31 Grillparzer, Franz..........255, 257, 260, 264, 389 Gulitz, Dominikus Michael ....... 12, 13 Günzel, Franz ...... 303f., 307, 313, 323 Gusbeth, Eduard ............................ 149 Hafner, Marie Anna ....................... 251
Personenregister
Hähn, Johann Friedrich ......... 276, 292 Haimerl, Franz Xaver ...................... 43 Hajnóczy, Joseph .......................... 357 Hammer(-Purgstall), Joseph von ... 257 Hanuš, Ignác Jan ........................... 384 Hecker, Johann Julius…274-276, 292, 299, 301, 313 Hegenbart, Jakob ........................... 271 Heinrich II. .................................... 157 Heisig, Kirsten .............................. 297 Helfert, Joseph .............................. 179 Herder, Johann Gottfried ................. 68 Herrmann, G.M.G. ........................ 154 Hersche, Peter ........................... 36, 41 Heß, Ignaz Mathes von ................. 224 Hild, Josef ..................................... 261 Hillebrandt, Franz Anton .............. 107 Hillesheim, Franz Karl Joseph von ................................. 230 Hobbes, Thomas.................. 339, 375f. Hofbauer, Klemens Maria….113, 355, 374 Hohenwart, Sigismund von ........... 356 Holzknecht, Georgine ..................... 56 Hontheim, Nikolaus von (= Justinus Febronius)…….33, 229, 231, 234f. Hopf, Franz ................................... 319 Hormayr, Joseph ................... 354, 372 Horváth, Mihály .................... 108, 363 Huber, Kurt A. ........................ 75, 206 Hubert, Ferenc ............................... 108 Hübner, Johann ............................. 290 Humboldt, Alexander von ............. 265 Hunyady, Johann ........................... 253 Innozenz III. .................................. 133 Isenbiehl, Johann Lorenz…20, 35, 40, 159, 215, 217-233, 235-237, 239, 241, 244f. Jacobi, Johann Georg ...................... 10 Jaksch, Peter Karl ............................ 60 Jakusics, György ........................... 122
393
Jansen, Cornelius ............................. 57 Jeck, Udo Reinhold ......................... 26 Jeitteles, Ignaz ............................... 354 Joó, Johann .................................... 261 Joseph I. ................................. 157, 158 Joseph II. ….7, 18f., 21, 38, 46, 53-55, 57, 59-68, 70-72, 75f., 84, 92, 103106, 108f., 111-114, 135, 139, 141143, 151f., 159f., 164f., 167, 172f., 176-178, 181f., 186, 204, 222, 232, 273, 330, 333, 335, 340, 342-345, 354, 357, 361, 365, 369, 371f., 377, 384, 386-389 Kalchberg, Joseph von................... 386 Kamur, Ignaz ................................. 271 Kant, Immanuel ....... 29, 164, 300, 375 Karl II. ........................................... 253 Karl VI. ........................103, 157f., 369 Karl, Friedrich .............................157f. Kaszaniczky, Ádám ....................... 108 Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton von .................... 56, 120, 217 Kauschke, Joseph .......................... 275 Kazinczy, Franz ...................253, 262f. Kennedy, Ildephons ....................... 291 Kerens, Heinrich Johann von......... 106 Kerschner, Henrik............................ 96 Kisfaludy, Karl .............................. 262 Kisfaludy, Sándor .......................... 361 Klimó, György ........................139-142 Klobusiczky, Ferenc ...................... 139 Klueting, Harm .................... 41, 43, 46 Klüpfel, Engelbert ..........186, 191-195 Knapp, Albert ................................ 265 Knapp, Éva .................................... 250 Kollar, Franz Adam ............... 119, 362 Kollár, Ján...................................... 260 Körner, Carl Theodor ..................255f. Krammer, Ferenc ........................... 108 Kratoquilla, Mihály ....................... 108 Krčelić, Balthasar Adam................ 362 Kresznerics, Ferenc ....................... 361 Krofta, Kamil ................................. 385
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Personenregister
Kropatschek, Joseph........................ 60 Kryštůfek, František Xaver ............. 71 Kübeck, Carl von...351, 374, 376-379, 387 Kudler, Joseph von ........................ 363 Kultsár, István ............................... 361 Langer, Eduard ................................ 73 Latifau, Pierre-François................. 293 Lauhen, Johann Christoph............. 278 Lehner, Ulrich L. ....................... 45, 47 Leibniz, Gottfried Wilhelm ....... 26, 68 Lentze, Hans.................................. 381 Leo X. ................................... 126, 133 Leopold II. ............. 182, 333, 346, 352 Levi, Giovanni ................................ 98 Limburg-Styrum, Damian August von ........................ 230, 234 Lippay, György ............................. 104 Lobkowicz, Georg ......................... 382 Loisy, Alfred ................................... 40 Luby, Johannes.............................. 280 Ludwig, Philipp ............................. 203 Luschin-Ebengreuth, Arnold ......... 385 Lypussy, György ........................... 112 Maaß, Ferdinand ............................. 76 Machovec, Milan ............................ 75 Majláth, Johann Nepomuk ............ 258 Mannheim, Karl ............................ 359 Maria Theresia…...19, 53-57, 61f., 67, 76, 104, 118-120, 122, 124-126, 129, 132f., 139, 142, 159, 168, 177, 186, 222, 267, 272, 298, 303, 356f., 362 Markus, Friedrich .................. 164, 165 Martinelli, Giuseppe Antonio........ 234 Martini, Karl Anton....... 222, 224, 241 Martinovics, Ignaz von.................. 366 Mathias Corvinus (Mathias Hunyady) ................... 253 Matich, Anna................................... 88 Matich, Antal .................................. 87 Mayer, Anton .................................. 49
Mayer, Johann Georg .................... 250 Mednyánzsky, Alajos von ............. 373 Meinecke, Friedrich ....................... 354 Mendelssohn, Moses ..................... 360 Menges, Franz ................................. 48 Menghi, Girolamo ..................... 89, 99 Menzel, Franz Beda .....215f., 222, 227 Menzel, Wolfgang ......................... 265 Merker, Nicolao ............................... 16 Merkle, Sebastian .................. 9, 39, 42 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von ......................... 256, 263 Michaelis, Johann David…. ..217-219, 221, 224-226, 228, 231, 237, 239, 242, 244 Midelfort, Eric ................................. 91 Migazzi, Christoph Anton .....105-107, 111, 232, 245, 361 Mitrofanov, Paul von ................. 56, 63 Möhler, Johann Adam ................... 265 Montanus, Benito Arias ................. 286 Müller, Adam ........................ 357, 379 Muratori, Lodovico Antonio............ 49 Musäus, Johann K. A..................... 363 Nagy, Ignác.................................... 111 Neugebauer-Wölk, Monika ............. 24 Neupauer, Franz Xaver (von)… ..... 20, 329-333, 335f., 338-346 Niemetschek, Franz Xaver ........... 64f. Oberthür, Franz............ 158f., 229-231 Oláh, Miklós .................................. 104 Olsavszky, Emmanuel ................... 123 Olschki, Leonardo ......................... 359 Ostermayer, Franz ......................... 361 Österreich, Johann von .................. 255 Österreich, Max Franz von .............. 36 Österreich-Teschen, Karl von ......255f. Otruba, Gustav................................. 56 Palacký, František............................ 71 Pallavicini, Lazzaro Opizio ....129-131 Paul, Franz ..................................... 323
Personenregister
Paul, Joseph................................... 315 Pázmány, Péter .............................. 104 Pelcl, František Martin…..58, 64, 66f., 69f., 384 Perczel, Imre ................................. 108 Philipp, Johann .............................. 157 Piderit, Johann Rudolf Anton ...... 207f. Piesport, Karl von ................. 231, 243 Pius IV. ................................. 123, 133 Pius VI. …..129f., 132, 133, 160, 340, 343f. Pius IX. ........................................... 38 Pius XI. ......................................... 212 Pleiner, Tádé ......................... 108, 110 Plongeron, Bernard ................. 81, 147 Popovitsch, Sophronius ................. 122 Pörnbacher, Johann ......................... 44 Pouget, François-Aimé .......... 281, 290 Pranzl, Rudolf ........................... 55, 57 Prillmayr, Joseph............................. 13 Printy, Michael .............................. 45f. Prittwitz und Gaffron, Carl Wenzel von ............................... 305 Przemysl, Ottokar.......................... 256 Przichowitz, Anton Peter Graf Przichowsky von ....... 233, 246 Pufendorf, Samuel von .... 55, 330, 339 Pütz, Peter ....................................... 31 Pyrker, Johann Ladislaus........20, 249251, 253-265 Qualtenberg, Franz Karl Kressel von ................................ 366 Raab, Heribert ..................... 38, 43, 47 Ranke, Leopold von ........................ 48 Rathsmann, Anton ......................... 305 Raulff, Ulrich ................................ 359 Rautenstrauch, Franz Stephan...20, 35, 40, 57f., 105, 110f., 113, 186, 191, 200, 207f., 215, 218, 220-223, 225, 227f., 230-232, 234, 236, 243 Reinalter, Helmut .......................... 331 Reuß, Maternus ............................. 163
395
Richter, Joseph .............................. 173 Riegger, Paul Joseph von....... 331, 344 Ritzinger, György .......................... 108 Rochow, Friedrich Eberhard von... 292 Rohrweck, Johann ......................... 379 Ronsperg, Franz Coudenhove auf ......................... 381 Rosa, Mario ..................................... 46 Rösch, Adolf .................................... 40 Rosenbüchel, Joseph von............... 336 Rousseau, Jean Jacques…….300, 302, 323, 375 Rudolf I. von Habsburg ................. 157 Rumy, Karl Georg ......................... 263 Sägmüller, Johann Baptist ............... 40 Sailer, Johann Michael ................. 48f. Sales Souza, Evergton ..................... 47 Salzmann, Christian Gotthilf ......... 292 Sannig, Bernard ............................... 99 Sardik, Graczián ............................ 112 Schäfer, Philipp ......................... 32, 44 Schanza, Wenzel............................ 111 Schaser, Angelika .......................... 150 Schedius, Ludwig .......................... 363 Schindling, Anton ............................ 41 Schlabrendorff, Ernst Wilhelm von ...................... 272, 326 Schlözer, August Ludwig .............. 369 Schmidt, Michael Ignaz……158, 236, 280, 291 Schnabel, Franz ............................... 40 Schneider, Bernhard ...................41-44 Schneider, Franz ............................ 379 Scholder, Klaus................................ 42 Schönborn, Lothar Franz von ........ 159 Schöpe, Johann .......................200-203 Schröckh, Matthias ..............110f., 113 Schulstein, Ferdinand Kindermann von .......................... 69 Schürge, Gottfried ......................... 155 Schwaiger, Georg ...................... 14, 41 Schwarz, Ildephons........................ 236 Schwarzenberg, Felix .................... 387
396
Personenregister
Seckler, Max ................................... 32 Sedlnitzki, Leopold von……200, 204, 209-213 Seelmann, Andreas......... 229-232, 234 Seibt, Karl Heinrich .................. 57, 66 Seiderer, Georg ............................... 44 Seiler, Georg Friedrich .................. 176 Seinsheim, Adam Friedrich von ... 158160 Seyfert, Joseph .............................. 113 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper of ...................... 360 Siebold, Carl Caspar ..................... 164 Smidt, Andrea J. .............................. 47 Sobiech, Simon ...................... 195-197 Spehr, Christopher .............. 199, 204f. Speth, Volker .................................. 55 Špirko, Jozef.................................... 63 Stadion, Johann Philipp Karl Joseph von ......................... 254, 388 Stadion, Rudolf ............................. 380 Stahl, Philipp von .......................... 377 Stauber, Reinhard ............................ 60 Stifft, Andreas von ........................ 363 Stockhorst, Stephanie ...................... 23 Stollberg-Rilinger, Barbara ........... 342 Strachwitz, Johann Moritz von ..... 280 Strauch, Benedikt….10f., 13, 20, 267275, 278, 280, 283-291, 293f. Struncz, Franciscus ....................... 111 Sturmberger, Hans ........................ 387 Sucher, Joseph............................... 280 Süßmilch, Johann Peter ................. 302 Szabó, András ................ 104, 107-113 Széchényi, Franz…104, 351, 355-360, 370 Széchényi, István .................. 358, 360 Szmendrovich, Rochus……87, 89, 92, 95, 97, 99 Taaffe, Eduard................................. 73 Thauszy, Ferenc ............................ 139 Thienen-Adlerflycht, Christoph .... 379
Thomas von Aquin…..185, 187f., 190, 193-196 Thomasius, Christian ................. 26, 55 Thun, Leo ....... 351, 353, 378-382, 384 Toldy, Ferenc .......................262f., 373 Tompa, László ............................... 108 Töpsl, Franz ................................... 291 Treitschke, Heinrich von ................. 48 Troeltsch, Ernst................................ 31 Trumpacher, József........................ 361 Tüskés, Gábor ................................ 250 Urban VIII. .................................... 129 Urban, Otto ...................................... 77 Ürményi, József ............................. 128 Valjavec, Fritz .........................41, 75f. Vavák, František Jan.............64-66, 70 Végh, István ................................... 112 Venturi, Franco .............................. 354 Verseghy, Franz ............................. 258 Violand, Ernst von ......................... 363 Virág, Benedikt.............................. 253 Viser, Ádám................................... 108 Voigt, Nikolaus Adaukt ................... 66 Volckmer, Christoph ..................... 307 Volkra, Ottó ................................... 138 Vörösmarty, Mihály .............. 261, 263 Vrhovac, Maximilian ......351, 364-367 Wagner, Joseph.............................. 323 Walch, Christian Wilhelm Franz ... 226 Walter, Josef .................................... 72 Wangermann, Ernst ......................... 66 Wenke, Anton ........................ 307, 323 Wicki, Horst .................................... 30 Wieland, Christoph Martin ...... 30, 252 Winckler, Caspar ........................... 332 Winter, Carl….20, 298, 303, 305-316, 31-325 Winter, Eduard ......................75f., 368 Witte, Johann Michael ................... 293 Wittola, Marx Anton.............. 207, 361
Personenregister
Wolfenbüttel, Elisabeth Christine von ............................. 157 Wolff, Christian ........................ 26, 28 Wolfsgruber, Cölestin ................... 105 Würdtwein, Stephan Alexander .... 291
397
Zeiller, Franz von .......................... 378 Zinzendorf, Karl von ..................... 367 Zrinski Šubić, Nikola..................... 256
FORSCHUNGEN UND QUELLEN ZUR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE OSTDEUTSCHL ANDS IM AUF TRAG DES INSTITUTS FÜR OSTDEUTSCHE KIRCHENUND KULTURGESCHICHTE E. V. HERAUSGEGEBEN VON PAUL MAI
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