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German Pages 278 [280] Year 2005
Michael Städtler (Hg.) Kants »Ethisches Gemeinwesen«
Kants »Ethisches Gemeinwesen« Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie
Herausgegeben von Michael Städtler im Auftrag des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts Hannover unter Mitarbeit von Maxi Berger und Heiko Vollmann
Akademie Verlag
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von: Elisabeth v. Stägemann (?), ca. 1790, in: Kant-Bildnisse, mit Unterstützung der Stadt Königsberg hg. v. d. Königsberger Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft, bearb. v. Dr. Karl-Heinz Clasen, Königsberg i. Pr. 1924.
Redaktion: Ralf Hellberg, Andreas Knahl, Dagmar Ladendorf, Lukasz Mazur, Helge Nickele, Francisco Gomez Rieser und Vanessa Sprengart
ISBN 3-05-004150-1 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Francisco Gomez Rieser, Hannover Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer classic, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
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Einleitung
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Übersicht über die Beiträge
25
Traditionslinien von Religion, Moral und Politik BERND LUDWIG
Zwei Konzeptionen hinsichtlich der politischen Rolle der Religion: Kant und Hobbes
35
OLIVER JELINSKI
Gewißheit und Wahrheit des gesellschaftlichen Glücks: Zur Phänomenologie des politischen Geistes
47
MOSHE ZUCKERMANN
Kants Religionsschrift Überlegungen zu Vernunft und Religion auf dem kurzen Weg mißglückter Säkularisierung
55
KERSTIN STAKEMEIER
Die Ausnahme Politische Theologie der Gemeinschaft bei Immanuel Kant und Carl Schmitt . .
63
Religion im Zusammenhang der praktischen Philosophie Kants CLAUS DIERKSMEIER
Zum Status des religiösen Symbols bei Kant
75
6
INHALT
SUMA RAJIVA
Sinnstifitung durch Verlebendigung Die Bedeutung der sichtbaren Welt in Kants moralischer Religion
87
CHRISTIAN IBER
Religion als Ideal einer wirkmächtigen Moral bei Kant
97
FRANK KÜHNE
Zum Verhältnis von Moral und Religion
111
Politische Grundbegriffe und Probleme in Kants moralischer Religionskritik TOBIAS BLANKE
Wider die Rotte des bösen Prinzips Was vom Menschen vorauszusetzen ist
123
AXEL HUTTER
Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant
135
DIRK MEYFELD
,,[W]elche Welt er wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde": Die moralische Begründung der Weltrevolution?
147
MICHAEL STÄDTLER
Die Konstitution der Freiheit
161
PETER BULTHAUP
Kants Anarchismus und die Pathologie republikanischer Freiheit
175
Politische Folgerungen und geschichtsphilosophische Aspekte MAXI BERGER
Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart
183
BETTINA STANGNETH
Die Religion als Übergang zur Weltpolitik
197
MATTHIAS LUTZ-BACHMANN
Das ,ethische gemeine Wesen' und die Idee der Weltrepublik Der Beitrag der Religionsschrift Kants zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen
207
INHALT
7
LUKASZ MAZUR
Vom Priestertrag zur Organisationsfrage Zur Funktion des historischen Modells in Kants Religionsschrift
221
Politische Modelle ADELHEID HOMANN
La cittä del sole Reich Gottes auf Erden oder „ein bloßes Fetischmachen"?
235
RICHARD MATTHEWS
Einige Vorbehalte gegenüber weltbürgerlicher Geschichte
247
LEO SESERKO
Die Auflösung der Symbiose von Religion und Metaphysik bei Kant
. . . .
257
Verzeichnis der Abkürzungen
269
Verzeichnis der Namen
271
Verzeichnis der Autoren und Herausgeber
273
Vorwort
Die Herausgabe dieses Bandes stellt eine ehrenamtliche Gemeinschaftsleistung dar, für die allen daran Beteiligten, in erster Linie der Redaktion, besonderer Dank gebührt. Das Buch ist das um einige Beiträge ergänzte Resultat eines Kongresses unter dem Titel Moral und Politik in Kants Religionsschrift, der vom 19. bis zum 21. Februar 2004 in Hannover stattfand. Veranstaltet wurde er vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover, in Verbindung mit dem Lehrgebiet für Philosophie und Rechtsdidaktik der Juristischen Fakultät sowie mit dem Philosophischen Seminar der Universität Hannover. Besonderer Dank gilt daher einerseits Günther Mensching, der als Direktor dieses Seminars das Projekt förderte und vor allem die Teilnahme der kanadischen Referenten ermöglichte, und andererseits Manfred Walther, dem Leiter jenes Lehrgebiets, der die Vorbereitungen unterstützte und auch während der Redaktion beratend zur Verfügung stand. Für hilfreiche Gespräche danken wir außerdem Andreas Arndt, Peter Bulthaup, Adelheid Homann und Moshe Zuckermann. Das finanziell nicht geforderte Projekt (inclusive Publikation) konnte nur ausgeführt werden, weil die Beteiligten Wissenschaftler es für notwendig hielten und in großzügiger Bereitschaft ihre Kosten ganz oder teilweise selbst trugen. Herrn Herbert Schmalstieg, dem Oberbürgermeister der Stadt Hannover, haben wir zu danken für den Beweis der intelligiblen Größe Hannovers in Gestalt eines Empfangs der Referenten. Das Vorhaben, Kants Religionsschrift mit einer politischen Interpretation zu konfrontieren, geht zurück auf zwei Seminare, die Peter Bulthaup im Sommer und Winter 2001 an der Universität Hannover gehalten hat, und zwar zu den Themen Das Böse und Von der „ Gründung des Reichs Gottes auf Erden " zu „ Methodisches zur Organisationsfrage ". Peter Bulthaup kann das gedruckte Resultat auch seiner Arbeit nicht mehr erfahren. Er ist vor Abschluß der Redaktion dieses Bandes im Herbst 2004 gestorben. Seine Anstrengung, gegen den Betrieb an der systematischen Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Praxis festzuhalten, ging maßgebend in das Konzept unseres Projektes ein. Die Herausgeber und Autoren dieses Buches möchten es seinem Andenken widmen.
Moral und Politik in Kants Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Zur Einleitung „Vater Aether verzehrt und strebt, wie Flammen, zur Erde, Tausendfach kommet der Gott. Unt liegt wie Rosen, der Grund Himmlischen ungeschikt, vergänglich, aber wie Flammen Wirket von oben, und prüft Leben, verzehrend, uns aus. Die aber deuten dort und da und heben die Häupter Menschen aber, gesellt, theilen das blühende Gut. Das Verzehrende. So komt Himmlisches, tiefschütternd gelangt so Aus den Schatten herab unter die Menschen sein Tag." (Hölderlin)1 „Unerbittliches Denkgesetz zwingt zur Erfüllung." (Schönberg)2
I
Moral, Politik und Religion
Über den Zusammenhang v o n Religion und Vernunft zu handeln, mußte für Kant in der ι
Zeit v o n Aufklärung und Revolution auch eine politische Unternehmung sein. 2 0 0 Jahre später werden weltpolitisch zunehmend Religion oder religiös evozierte Ressentiments zu einer Begründung v o n Politik gebraucht, 4 der es nicht einmal mehr u m eine transzendente Rationalisierung an sich irrationaler Z w e c k e geht, sondern gleich um die Mobilisierung der Kräfte zu ihrer Durchsetzung; es finden in Europa nicht nur Pogrome statt, sondern sie werden auch v o n der Innenpolitik instrumentalisiert, um restriktive Sicherheits- und Einwanderungspolitik zu betreiben. 5 In einer solchen Zeit über Religion und Vernunft zu handeln, ist ebenso politisch. Soll dieses Thema mit 1 Friedrich Hölderlin, Brod und Wein. An Heinze. , in: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Michael Kriaupp, München 1992, Bd. 1, 377. 2 Arnold Schönberg, Moses undAron, Oper in drei Akten, Mainz 1957, 1. Akt, 2. Szene. 3 „Wer am Ende des 18. Jahrhunderts über Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft schreibt, [...] betreibt nichts anderes als Gesellschaftstheorie unter einem gar nicht zu überschätzenden politischen Zugriff." Bettina Stangneth, „,Kants schädliche Schriften'. Eine Einleitung", in: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. ders., Hamburg 2003, XII. 4 Zu dieser Einschätzung vgl. Bernd Dörflinger, „Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler (Hgg.), Recht - Geschichte - Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Deutsche Zeitschrift fur Philosophie, Sonderband 9, Berlin 2004, 161. 5 So reagierten deutsche Politiker verschiedener Parteien auf die Übergriffe auf Moscheen und Islamschulen in den Niederlanden im November 2004, indem sie diese Übergriffe explizit zum Argument dafür benutzten, daß auch in Deutschland die Gefahr islamistischen Terrorrismus' bestehe. Vgl. etwa Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 15. November 2004, 1.
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MORAL UND POLITIK IN KANTS RELIGIONSSCHRIFT
selbstbewußtem Abstand behandelt werden, so genügt nicht die Beschreibung oder Kritik religiöser Muster in der erscheinenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Werden solche Erscheinungen nämlich nicht bloß als Tagesaktualität aufgefaßt, sondern als Mittel dauerhafter politischer Zwecke, ergibt sich die Notwendigkeit grundsätzlicher Erwägungen zum Verhältnis von Religion und praktischer - moralischer wie politischer- Philosophie. Die Beiträge dieses Buches, die zunächst der Erklärung der Schrift Kants über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft dienen, wenden sich deshalb der Frage zu, welche philosophische Bedeutung Begriffen der Religion in der politischen Welt nach der Aufklärung zukommen kann. Kants erklärte Absicht ist es, zu bestimmen, welcher Begriff von Religion innerhalb der Grenzen der bloßen - praktischen - Vernunft übrigbleibt. Durch moderne Kritik der Abhandlung Kants kann bestimmt werden, was ein solcher moralisch-praktischer Begriff von Religion enthält und welche moralisch-praktische Funktion er selbst haben kann. So ergeben sich Erkenntnisse über Moral, Politik und Religion, die weder der Tagesaktualität noch dem Zeitgeist verhaftet sind, aber gerade darum Mittel zur Kritik an deren Erscheinungen bereitzustellen vermögen. Über Moral, Politik und Religion ist also keineswegs leichtfertig, sondern nur im Bewußtsein auch ihrer ideologischen Verknüpfung zu handeln; nur so vermag Theorie über Ideologie aufzuklären. Die Absicht des vorliegenden Buches ist es, nicht nur einen Beitrag zur Interpretation eines späten Hauptwerkes von Immanuel Kant zu leisten, sondern den dort thematisierten Zusammenhang von Moral, Politik und Religion auch als solchen philosophisch und politisch zu kommentieren. Damit sind nicht allein Arbeiten über Moral und Politik konnotiert, sondern auch solche, die als moralische oder politische Beiträge zu verstehen sind; wenn daher in dieser Einleitung die Ausdrücke ,moralisch' oder politisch' verwendet werden, sollen sie beides bezeichnen: die moralphilosophischen und politiktheoretischen Gegenstände und den moralischen und politischen Gehalt ihrer Bearbeitung. Das aufklärerische Pathos, mit dem Hölderlin den Menschen zuspricht, ihre an den Himmel verschleuderten Schätze durch ihr kollektiv vernünftiges Handeln auf die Erde zurückzuholen, ist längst wieder unverständlich geworden. Bei Schönberg, Jahre nach der Erfahrung der .letzten Tage der Menschheit', bleibt davon die gebrochene, verzweifelte Beschwörung der Macht der Vernunft gegen das Unvernünftige. Was heute, nach der Katastrophe der Menschheit und angesichts beharrlicher Unvernunft selbst von dieser beschworenen Rationalität und deren Verhältnis zu einer religiös-transzendenten Absicherung noch bleibt, vermag der auf die Geschichte dieses Verhältnisses zurückgewandte Blick zu erfassen. Die moralische und politische Kritik der Religion ist im 20. Jahrhundert einer Renaissance der religiösen, quasi-theologischen Deutung des Politischen gewichen. Wohl lassen sich Verbindungen von Religion und Politik sowohl als ,Umbuchung' politischer
EINLEITUNG
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Begriffe auf die Religion1 in der Antike als auch als begriffs- und legitimationsgeschichtliche Entwicklung politischer Begriffe der Neuzeit aus theologischen Begriffen nachweisen. Eine Absicht bereits der Aufklärung war es jedoch gewesen, ein Bewußtsein von diesen Zusammenhängen zu vermitteln, ihre bewußtseinsbestimmende Wirksamkeit dadurch aufzuheben und so das Politische, die Organisation der menschlichen Lebensverhältnisse der Vernunft als dem dafür geeigneten Vermögen der Menschen selbst anzuvertrauen. Kants Religionsschrift, die in dem Modell des Reichs Gottes auf Erden eine philosophische Religionskritik mit der Bestimmung der Möglichkeit eines ethischen Gemeinwesens verknüpft, ist zwieschlächtig: Insofern Kant mit den Mitteln der Vernunft positive Religion auf irrationale Elemente untersucht und diese moraltheoretisch kritisiert, steht er in der Tradition der Säkularisierung von Moral und auch von Politik; insofern er aber die Kirche als Modell verwendet, überträgt er Bestimmungen von Religion auf politische Verhältnisse. So mag die Religionsschrift als Ausdruck einer Dialektik der Aufklärung zu sehen sein, die als bürgerliche Aufklärung sowohl über die bürgerliche Gesellschaft als auch innerhalb dieser aufklärt, was zum Beispiel in dem aporetischen Verhältnis von ethischem und juridischem Gemeinwesen erscheint. Die Debatte um Religion und Politik im 20. Jahrhundert hat bisweilen Züge einer Gegenaufklärung. 3 Sie ist zunächst verknüpft mit der Politischen Theologie4 Carl Schmitts, der durch einen begriffsgeschichtlichen Vergleich bestimmter theologischer und juristischer Begriffe einen schließlich nicht nur historischen, sondern sachlichen Vorrang der Theologie vor der Politik begründen wollte. Die Grundlage des Vergleichs ist als „Isomorphic" 5 der verglichenen Begriffe bezeichnet worden, und in der Tat spricht manches dafür, daß es sich um eine Ähnlichkeit ihrer Gestalt (morphä), nicht um eine substantielle Gleichheit (eidos) handelt, deren theologische Behauptung schon beispielsweise bei Paulus oder Pseudo-Dionysius Areopagita als Legitimation von Herrschaft politischen Zwecken folgte, an der Begründung einer stabilen politischen Einheit der Glaubensgemeinschaft interessiert war. Schmitt wollte nun mit dem von ihm entworfenen Instrument des Vorrangs der Theologie in den juristischen, vor allem staats-
1 Vgl. Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1995, 35f. 2 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München u.a. 1922. 3 So explizit Giovanni B. Sala, „Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als ,ethischem gemeinen Wesen'", in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004, 264. 4 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie, a.a.O. Der sachliche Vorrang der Theologie begründet die Einschätzung, daß der Begriff .Politische Theologie' „das Zentrum von Schmitts theoretischem Unternehmen" benennt. Vgl. Heinrich Meier, „Was ist politische Theologie? Einfuhrende Bemerkungen zu einem umstrittenen Begriff', in: Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, München 1992. 5 Manfred Walther, „Gott und Staat. Hans Kelsen und Carl Schmitt im Kampf um die Ent- (Re-) Mythologisierung des Staates", in: Ders. (Hg.), Religion und Politik. Zur Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, Baden-Baden 2004, 255.
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MORAL UND POLITIK IN KANTS RELIGIONSSCHRIFT
rechtlichen, Begriffen einen Verfall des Politischen in der zunehmend zur Verwaltung sich entwickelnden Rechtsordnung konstruieren. Da er die objektive Grundlage dieser Entwicklung, die tatsächliche Anpassung der Rechtsordnung an die Verwaltung der neuen ökonomischen Gesellschaftsformation, nicht erkannte, forderte er die Rückkehr zu einem teils überstaatlichen dezisionistischen Staatsprinzip. Das Modell ließ nicht auf sich warten, durch die Einsetzung eines solchen Prinzips in die durch eine in jeder Hinsicht maßlose Ökonomie strukturierte Welt trat alles, was ihr an Menschenverachtung implizit war, unbeschränkt hervor. Was folgte, war Totalitarismuskritik 1 , die Schmitts Politischer Theologie im wesentlichen nicht widersprach. Der von Eric Voegelin 1938 geprägte Begriff „Politische Religionen" 2 verwendet die gleiche Isomorphic nun zur Aufklärung über „die sozialpsychologische Dynamik politischer Bewegungen" 3 . Sowenig wie bei Schmitt ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Zwecken, die erhebliche Unterschiede in den isomorphen Begriffssystemen bewirken, die Rede. Die religionssoziologische Analyse von Politik behauptet sich bis heute in der politischen Diskussion. Eminent politische Forderungen werden aufgrund von Begriffsisomorphien mal affirmativ, mal pejorativ und mal neutral als religiös interpretiert. So bestimmt Jürgen Gebhardt den Anspruch der Menschen, ihre Lebensverhältnisse deren vernünftigem Begriff anzumessen, „als einen grundlegend religiösen Vorgang" 4 , Henning Ottmann weist den Einwand, Politische Theologie sei eine bloße Legitimation von Herrschaft, zurück; im Gegenteil: „Monotheistische Transzendenz entlastet Politik von der Zumutung, selber das Eine und Entscheidende im Leben der Menschen zu sein." Und: „Die Welt wird tendenziell frei für eine pragmatische innerweltliche Vernunft." 5 Heinrich Meier bringt es schließlich auf den Punkt: „Die Politische Theologie verneint die Möglichkeit einer rationalen Begründung der eigenen [gemeint ist wohl die der Menschen, die solche Theologie vertreten, M.St.] Lebensweise von Anfang an." 6 Was Meier ausspricht, liegt der Interpretation des Politischen als Religiöses grundsätzlich zugrunde: Die Dominanz von Religion in der politischen Diskussion beschränkt die menschliche Verantwortung für Politik auf die technisch-praktische Verwaltung des Mangelhaften, weil die Forderung nach moralisch-praktischer Überwindung des status quo - ob legitim oder illegitim - religiös fundiert sei. Kants Bemühung, 1 Zum Zusammenhang von Religion und Totalitarismusbegriff in der politiktheoretischen Diskussion des 20. Jahrhunderts vgl. Totalitarismus und politische Religionen, hg. v. Hans Maier, 3 Bde., Paderborn 1996-2003, bes. Hans Maier, „.Totalitarismus' und .Politische Religionen'. Zwei Konzepte des Diktaturenvergleichs", in Bd. 2. 2 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, München 1993. 3 Jan Assmann, Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel, a.a.O., 30f. 4 Jürgen Gebhardt, „.Politik' und ,Religion': Eine historisch-theoretische Problemskizze", in: Manfred Walther (Hg.), Religion und Politik, a.a.O., 69. 5 Henning Ottmann, „Politische Theologie als Herrschaftskritik und Herrschaftsrelativierung", in: Manfred Walther, Religion und Politik, a.a.O., 81. Mit Kant ist dies die Befreiung der Politik von der moralisch-praktischen Vernunft zugunsten universaler Herrschaft der technisch-praktischen. 6 Heinrich Meier, „Was ist Politische Theologie?", a.a.O., 18.
EINLEITUNG
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durch Religionskritik politische Gehalte religiöser Modelle in den Grenzen der Vernunft darzustellen und so als vernünftige Forderungen zu erweisen, ist umgewendet in die Absicht, solche Forderungen, wo sie überhaupt noch vorkommen, der Religiosität der Menschen zuzuordnen und damit praktische Vernunft, wie Kant sie verstand, tendenziell durchzustreichen.1 Im Gegensatz zur modernen Diskussion, die in ihren Strukturvergleichen die hinter den Isomorphien wirkenden politischen Zwecke nicht mehr in den Blick nimmt und die so auch in ihren kritischen Vertretern abstrakt bleibt, hat es Kants Verknüpfung von Religion, Moral und Politik von Anfang an mit Zwecken zu tun, und zwar mit der Frage nach der Denkbarkeit der Realisierung vernünftiger Zwecke. Schon diese Frage legt eine politisch orientierte Untersuchung der Religionsschrift nahe. Wo Ottmann diagnostiziert, die Politik sei durch die ,Absolutheitsansprüche', die aus der Theologie in sie eindrängen, ,überfordert'2, geht es für Kant um einen moralischen Anspruch an die Politik, der ihr allerdings als ein Absolutes entgegentritt: die Autonomie der praktischen Vernunft. Kant sieht darin keineswegs eine Theologisierung von Moral oder Politik, sondern den Nachweis, daß die Freiheit der Menschen und letztlich das höchste Gut mit Mitteln der Vernunft allein als Pflicht gedacht werden können und daher auch realisierbar sein müssen. Weil die Verknüpfung von Begriff und Realität aber weder allein in jenen noch allein in diese fallen kann, bedarf ihre Darstellung eines Modells. Kant verwendet hierfür die Vorstellung der Kirche; daraus ergibt sich als zentrale Frage, wieweit Kant selbst politischer Theologe ist, wieviel an Numinosem nach seiner Kritik der positiven Religion auch innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft noch bleibt, mithin ob die Religionsschrift dem politischen Aspekt auf sie, der in ihrer Rezeptionsgeschichte 200 Jahre lang wenig zur Geltung gekommen ist, überhaupt standhält. Wenn dadurch moralische und politische Gehalte in Kants Philosophie zu erschließen sind, deren Rezeption hinter religiöse oder scheinbar religiöse Interessen zurücktrat, ist dies ein Beitrag zur Aufklärung auch über die Inkonsequenz von Aufklärung in der Moderne.
II
Zu Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte
Kants Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Verwirrung ausgelöst. Sie erschien 1793, nach den Kritiken (.KrV 1781/87, KpV 1788, KU 1990) sowie den zentralen geschichts- und moraltheoretischen Schriften (Idee 1784, GzMdS 1785), aber vor den besonderen politischen und rechtsphilosophischen Werken {Frieden 1795, MdS 1997, SF 1798). Ihre 1 Eine Variante dessen findet sich jüngst bei Jürgen Habermas, „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler, Recht - Geschichte - Religion, a.a.O. 2 Vgl. Henning Ottmann, „Politische Theologie als Herrschaftskritik und Herrschaftsrelativierung", a.a.O., 74.
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MORAL UND POLITIK IN KANTS RELIGIONSSCHRIFT
Entstehung fiel in die Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. von Preußen, die unter anderem durch den Versuch geprägt war, gegen die im Zuge der Aufklärung an Bedeutung gewinnenden rationalistischen Religionsauffassungen die protestantische Lehre durchzusetzen.1 Das zu diesem Zweck erlassene Edikt, die Religionsverfassung in den preußischen Staaten betreffend (9.7.1788) rief massiven öffentlichen Protest hervor, so daß ein Erneuertes Zensuredikt (19.12.1788) nötig schien; beide blieben praktisch wirkungslos, weil offenbar weder die Mitglieder des für die Zensur zuständigen Oberkonsistoriums noch der für das Religionsedikt zuständige Minister Woellner besonderes Interesse an ihrer Durchsetzung zeigten. 1791 wurde schließlich die Immediate Examinations-Kommission gegründet, die zur Abhilfe dieser Mißstände mit königstreuen religionskonservativen Mitgliedern besetzt wurde. Alle diese Institutionen behinderten sich in der Folge wechselseitig. Das Erste Stück der Religionsschrift wurde 1792 für den Druck in der Berlinischen Monatsschrift zugelassen, das Zweite Stück wird zwei Monate später abgewiesen. Kant publizierte die Religionsschrift 1793 komplett in Buchform, wofür nicht die Examinations-Kommission, sondern die zuständige Fakultät die Erlaubnis zu erteilen hatte. Er ließ sich von der Theologischen Fakultät bescheinigen, daß es sich um ein philosophisches Werk handelte, um es dann der Philosophischen Fakultät in Jena vorzulegen, wo das Buch dann gedruckt wurde. Sehr zum Unmut Friedrich Wilhelms II. wurde es von Nicolovius in Königsberg verlegt. Dieser Unmut hatte, wohl aufgrund von Verschleppung durch Woellner zunächst keine Auswirkung, bis der König diesem 1794 schrieb, daß es mit Kants schädlichen Schriften' nunmehr ein Ende haben müsse. Über ein halbes Jahr später erhielt Kant das von Woellner im Auftrage angefertigte Schreiben, das er später, kurz nach dem Tode Friedrich Wilhelms II., nebst seiner damaligen Antwort im Streit der Fakultäten abdrucken ließ. Dort wird ihm vorgehalten, seine „Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums mißbraucht" zu haben, und zwar vor allem mittels der Religionsschrift. Sollte er solches zukünftig nicht unterlassen, habe er sich „bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen"2. Kant hatte die verschiedenen ihm gemachten Vorwürfe en detail zurückgewiesen, um schließlich „als Ew. K ö n i g l . M a j . get r e u e s t e r U n t e r t h a n , feierlichst zu erklären: daß ich mich aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte, sowohl in Vorlesungen als in Schriften gänzlich enthalten werde"3. Kant hat übrigens angemerkt, er habe damals ausdrücklich als Friedrich Wilhelms II. Untertan formuliert, um der Freiheit des Urteils nicht für immer, sondern nur für die Lebenszeit dieses Königs zu entsagen. Obwohl Kant an der selben Stelle betont hat, daß die Religionsschrift schon deshalb keine Herabwürdigung des Christentums enthalte, weil ihr Thema gar nicht das Chri1 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Bettina Stangneth, im Vorwort zu ihrer Edition der Religionsschrift, a.a.O., der die hier bloß knapp referierten historischen Angaben entnommen sind. 2 SF, VII 6. 3 SF, VII, 10.
EINLEITUNG
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stentum oder die Bibel sei, sondern reine Vernunftlehren der Religion, die moralische Bedeutung hätten und für die Verweise auf positive Religion höchstens Beispiele seien, wird die Schrift zunächst doch überwiegend als Religionsphilosophie aufgenommen.1 Das wird auch aus der historischen Hintergrundkonstellation von Religionsproblematik der Aufklärung und preußischer Religionspolitik nur teilweise verständlich, denn eben diese Religionspolitik war nicht bloß Ausdruck der religiösen Schwärmerei des Königs, der, wenn ihm nicht ohnehin gerade der Heiland erschien, Seancen veranstalten ließ, sondern sie war wesentlich eben Politik, die, um die innere Stabilität der Macht bemüht, gegen einen Bewunderer Friedrichs II. und dann der Französischen Revolution vorging, der in der Religionsschrift Prinzipien kollektiver Einheit entwarf, die sich jeder politischen Kontrolle tendenziell entzogen; was im Ersten Stück unauffällig blieb, wurde im Zweiten deutlicher und in dem schließlich veröffentlichen Gesamttext unübersehbar. Insofern ließe sich mit einiger Vorsicht sagen, daß die Zensur Friedrich Wilhelms II. eigentlich die politisch adäquate zeitgenössische Rezeption gewesen ist. Die wirkmächtige Knüpfung der Religionsschrift an das Thema ,Religion' führte aber ebenso dazu, daß das Interesse nach Kants Tod abebbte, um erst um den Beginn des 20. Jahrhunderts und wieder seit Ende von dessen sechziger Jahren erneut aufzuleben. Neben der Interpretation der Schrift als religionsphilosophische Arbeit steht vor allem die Frage nach ihrer Notwendigkeit im Mittelpunkt, ob sie nämlich nach der Kritischen Philosophie noch irgendetwas Neues bringe oder nicht eigentlich hinter sie zurückfalle. Auch hier geht die Frage besonders vom Gegenstand ,Religion' aus; welche Stellung kann diesem Thema in der kritischen Philosophie überhaupt noch zukommen? Solche Debatten über die Tagesordnung sind für sich genommen absurd, da der in Frage stehende Gegenstand mit der Debatte seiner Tauglichkeit fiir die Tagesordnung schon auf dieser steht und ein abschlägiger Bescheid, der eine Untersuchung des Gegenstandes voraussetzt, daher nicht den Gegenstand sondern die Tagesordnungsdebatte über ihn als gegenstandslos deklariert. Hinter dieser Debatte verbirgt sich jedoch die Vermengung der Frage nach der Notwendigkeit für Kant, eine solche Arbeit zu schreiben mit der nach der Notwendigkeit für uns, sie zu lesen. Die erste fragt nach der systematischen Funktion unter werkhistorischer Perspektive und ist leicht beantwortet, da Kant in der Religionsschrift, erstmals Begriffe wie ,äußeres Recht' oder ,ewiger Friede' entwickelt; die wird man jedoch übersehen, solange man bloß nach spezifisch religionsphilosophischen Novitäten sucht, und stattdessen feststellen, daß solche Gegenstände in die von Kant als Parerga bezeichneten Anmerkungen fallen. Die zweite Frage fragt nach der systematischen Bedeutung der Religionsschrift ohne historische Schranken. Sie wirft nicht allein das Problem auf, ob der Bestimmung von Religion in der kritischen Philosophie hier etwas hinzugefugt werde, nicht nur, ob die in der Religionsschrift entwickelten teils aporetischen Konzepte moralischer und politischer
1 Vgl. hierzu den Überblick über die frühen Rezensionen zur Religionsschrift, Ausgabe von Bettina Stangneth, a.a.O.
ebenfalls in der
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MORAL UND POLITIK IN KANTS RELIGIONSSCHRIFT
Gegenstände zu den moralphilosophischen Hauptwerken etwas hinzutun, sondern auch, wie sich diese Konzepte zu den späteren politischen Schriften verhalten, wie etwa das im Unterschied zum juridischen Gemeinwesen' entwickelte ,ethische Gemeinwesen' sich zur dogmatischen Bestimmung der Rechtsgemeinschaft in der Metaphysik der Sitten verhält oder der ethische Fortschrittsgedanke zum politischen im Ewigen Frieden. Nachdem die Verwirrung um die Religionsschrift sich dahingehend aufgelöst hatte, daß sie zunächst religionsphilosophisch interpretiert und für unergiebig erklärt, anschließend auf ihre moraltheoretischen Bestimmungen reduziert und ebenfalls für unergiebig erklärt worden war, gewinnt sie in der jüngeren Zeit in bemerkenswerter Weise, erneut im Kontext von Religionsphilosophie, wieder an Interesse. So erschienen in den letzten Jahren mehrere Publikationen, die sich unter anderem mit der Religionsschrift beschäftigen.1 Dabei ist es einerseits das Anliegen der meisten Autoren und Herausgeber, der zu Unrecht als unergiebig und randständig eingestuften Religionsschrift verstärkte Aufmerksamkeit zu verschaffen, andererseits die traditionell vertretene Reduktion von Kants Religionsbegriff auf Moral neu zu überprüfen, meist mit dem erklärten Ziel, Religion als Religion - mit Kant oder gegen ihn - in die Moraltheorie zurückzuführen.2 Teils soll sogar der Kritischen Philosophie insgesamt nachgewiesen werden, daß sie im Grunde Metaphysik und Religionsphilosophie sei.3 Die vertretenen Arbeiten sind gleichwohl vielfältig und bieten oft umfassende Darstellungen und Erläuterungen zu verschiedenen Aspekten der Problematik der Religionsschrift, aber kaum ein Beitrag untersucht sie auf mögliche politische Gehalte oder Konsequenzen.4 Häufig kommen moralische Momente der Religionsphilosophie oder religiöse
1 Für einen ausgewählten Überblick vgl. Georg Cavallar, „Kants Religionsphilosophie im Spiegel neuerer Arbeiten", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52. Weitere einschlägige Titel sind in den Fußnoten passim angegeben. 2 Hinsichtlich der Herausgeber vgl. z.B. Philip J. Rossi/Michael Wreen (Hgg.), Kant 's Philosophy of Religion Reconsidered, Indiana 1991; Friedo Ricken/Fran?ois Marty (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992 und Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, a.a.O. 3 Vgl. Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, a.a.O., XVIIf.: „Wem die Suche nach dem Unbedingten keine Aufgabe ist, dem fehlt der Schlüssel zum Eintritt in das Gebäude der kritischen Philosophie." Das Ziel der Aufsatzsammlung sei es demgemäß, ,,[d]ie kritische Philosophie [...] in klarem Textbezug als Metaphysik und Religionsphilosophie" zu vergegenwärtigen. 4 Zu nennen sind hier vor allem Sharon Anderson-Gold, „God and Community: An Inquiry into the Religious Implications of the Highest Good", in: Philip J. Rossi/Michael Wreen (Hgg.), Kant's Philosophy of Religion Reconsidered, a.a.O.; Hermann Baum, Kant: Moral und Religion, Sankt Augustin 1998; Jürgen Habermas, „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen", a.a.O.; Onora O'Neill, „Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", in: Friedo Ricken/Fran^ois Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O.; Stephen R. Palmquist, Kant's Critical Religion, Burlington 2000; Giovanni B. Sala, „Das Reich Gottes auf Erden", a.a.O.; Wilhelm Vossenkuhl, „Die Paradoxie in Kants Religionsschrift und die Ansprüche des moralischen Glaubens", in: Friedo Ricken/Frangois Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O.; Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990; ders., „Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler (Hgg.), Recht - Geschichte - Religion, a.a.O.; Allen W. Wood,
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Elemente der Moraltheorie zur Sprache, es wird der öffentliche oder auch der soziale Charakter des höchsten Guts diskutiert und es finden sich Reflexionen auf die erkenntnis- und willenstheoretischen Bedingungen von Moral; daß aber in Kants Religionsschrift die moralische Konzeption von Religion selbst in die Reflexion politischer Bedingungen menschlichen Lebens umschlägt, wird zumeist übergangen.1 Neuerdings gewinnt also die Religion als Religion wieder an Interesse, und es werden sowohl die These der religionsphilosophischen Unergiebigkeit der Religionsschrift als auch die These ihrer moralphilosophischen Unergiebigkeit durch die Synthese, daß Kant hier eingesehen habe, daß Moral nicht bestehen könne ohne eine numinose Zutat, die schließlich auf die Achtung vor einem prinzipiell Unbekannten hinauslaufe, zurückgewiesen; wo immerhin noch bemerkt wird, daß für Kant dies Unbekannte gar nicht unbekannt, sondern eine Idee von praktischer objektiver Realität ist, daß es sich mithin um eine Arbeit von politischer Bedeutung handelt, werden solche Ideen als der Sache nach marxistisch-leninistisch2 eingeordnet und zurückgewiesen, da sie in der Konsequenz auf Probleme führten, derer man sich durch die Neuordnung der Globalgesellschaft entledigt wähnt. Nun verspricht eine Untersuchung der Bedeutung der Religionsschrift für die Religionsphilosophie durchaus interessante Ergebnisse; durch ihre Vereinnahmung als eine religiöse Abhandlung, deren religionsinkompatible Gehalte abzuweisen seien, wird jedoch die Diskussion über ihre politischen Gehalte dogmatisch ausgeschlossen. Dies dürfte auch den Blick auf Kants Religionsbegriff verzerren. III Was spricht für eine Untersuchung der Religionsschrift auf politische Gehalte? Neben diesen historischen und anderen äußeren Hinweisen auf moralische und politische Gehalte bietet nun die Religionsschrift selbst verschiedene Anlässe, sie in diesen Hinsichten zu betrachten. Um das zu belegen, sollen an dieser Stelle einige wenige, obschon zentrale, Beispiele umrissen werden; die Ausführung obliegt den einzelnen Beiträgen. Kant's Moral Religion, Ithaca 1970; ders., Kant's Rational Theology, Ithaca 1978. Etwas älteren Datums sei noch erwähnt: Martin Schulze, Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1927. 1 Ausnahmen, die ihre Analyse der Religionsschrift auf die eine oder andere Weise in politische Zusammenhänge einordnen, sind Bernd Dörflinger, „Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler (Hgg.), Recht - Geschichte - Religion, a.a.O.; Harry van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis/Cambridge 1988; Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants ,Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft', Würzburg 2000; Burkhard Tuschling, „Rationis Societas: Remarks on Kant and Hegel", in: Philip J. Rossi/Michael Wreen (Hgg.), Kant's Philosophy of Religion Reconsidered, a.a.O. 2 Vgl. Hans Michael Baumgartner, „Das .Ethische gemeine Wesen' und die Kirche in Kants ,Religionsschrift'", in: Friedo Ricken/Franfois Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O.
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Schon in der Vorrede zur ersten Auflage ordnet Kant die Abhandlung in den Kontext praktischer Philosophie. Wie auf den ersten Blick zu sehen ist, beginnt er die thematische Definition nicht mit der Religion, sondern mit der ,Moral', genauer mit deren Eigenschaft, keineswegs der Religion zu bedürfen. Wenn es dann einige Seiten weiter heißt, Moral führe unumgänglich zur Religion, dann ist dies das Resultat von Erwägungen zur Bedeutung von Zwecken in der Moralität. Dies geschieht, obwohl die Moral keinen Zweck außer ihr zuläßt, weil Kant sieht, daß der menschliche Wille ohne Zweckvorstellung überhaupt unbestimmt bleibt und daß daher das Problem der Inkongruenz von Form der Moralität und Willensinhalt nicht bloß ein Randproblem darstellt, sondern auf die Frage nach der Möglichkeit der Verknüpfung von Moral und Glückseligkeit in statu vitae hinausläuft. Die im Begriff des höchsten Guts vorausgesetzte Affinität von Moral und Glückseligkeit, Freiheit und Natur, läßt sich nach Kant nur durch Vermittlung einer Idee denken, deren Gegenstand für beides konstitutiv sein und die so praktisch objektive Realität haben müßte, wenngleich sie selbst nur als regulative gedacht werden könnte. Eine solche Idee ist geschichtlich als die Gottes gegeben; die Erörterung jenes Problems fuhrt daher unumgänglich zur Religion. Diese religiöse Ausrichtung der Abhandlung folgt aber aus einem im Kern durch und durch politischen Problem, nämlich der Frage nach den nicht bloß individuellen sondern den öffentlichen Bedingungen richtigen Handelns, schon weil Glückseligkeit in der Welt arbeitsteiliger Gesellschaft nicht partikular zu erlangen ist. Kants aporetische Absicht, mit einem rationalen Rekurs auf Gott die Moral als Form des guten Willens zur Grundlage eines Reichs Gottes auf Erden zu erweitern, ordnet Religion moralisch ein und die moralisch verstandene Religion politisch. Die Beiträge dieses Buches stellen die Frage, ob das gelingen kann. Damit ist ein geschichtstheoretisches Problem verbunden. Wenn man wie Kant Geschichte als eine Entwicklung versteht, die mittels einer Idee als Fortschrittszusammenhang rekonstruiert werden kann, der nahelegt, die Einsichten der Moralphilosophie in diesen Fortschritt einzubauen, geht Moral in Politik über. An die Moraltheorie sind dann andere Fragen zu richten, wie zum Beispiel die nach den Voraussetzungen der Zurechnung unmoralischer, böser Handlungen; ebenso die nach der Möglichkeit, von einem bösen Willen zu einem guten zu gelangen; schließlich die nach der Begründbarkeit einer Gemeinschaft von Menschen guten Willens und ihrer Abgrenzbarkeit gegen bloß äußerliche, geheuchelte sittliche Gemeinschaft. Diese Themen, die traditionell solche der Religion beziehungsweise Theologie sind, stellen die Leitthemen der Religionsschrift dar. Die modernen bürgerlichen Rechtslehren konnten sich als säkularisierte für den moralischen Grund der Zurechnung nicht mehr interessieren, weil sie schon in ihren naturrechtlichen Anfängen positivistisch tingiert waren: Es galt die Handlungen als äußerliche zu koordinieren, nicht deren persönliche Motive. Damit wird eine Bedingung gesetzt, die Frage auch der Rechtsgeltung vom moralisch-praktischen Vermögen der Menschen abzulösen. Ebensowenig kann aber für Kant die Moraltheorie in ihrem Kern
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für die genannten Fragen zuständig sein, weil sie eben umgekehrt auf die Form der Willensbestimmung konzentriert ist und nicht auf deren Erscheinungen. Kants Rechtsverständnis fuhrt auf den Widerspruch, den Subjekten allein ihre äußerlichen Handlungen zuzurechnen, dies aber als freien Urhebern derselben, ohne daß doch diese Freiheit dem Gehalt, der Maxime nach eine Bedeutung hätte. Kant thematisiert auch dieses Problem in der Religionsschrift, und zwar im Ersten Stück: Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur sowie im Zweiten Stück: Von dem Kampfe des guten Prinzips mit dem bösen, um die Herrschaft über den Menschen, wo Kant im Verhältnis von guter Anlage und bösem Hang ein Subjekt moralischer Zurechnung zu konstruieren versucht, um so die abstrakte moralische Subjektivität der Autonomie der Kritik der praktischen Vernunft in Hinblick auf schließlich nicht bloß mögliche Inhalte zu erweitern. Die Frage drängt sich auf, inwieweit Kant in der Religionskritik der beiden ersten Stücke der Religionsschrift den Säkularisierungsprozeß dieses rechtstheoretischen Problems spekulativ verfolgt. Die geschichtstheoretisch angelegte Bestimmung des ,ethischen Gemeinwesens' im Dritten Stück: Der Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden greift den Kultur- und Fortschrittsgedanken der Kritik der Urteilskraft und der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht in moralischer Hinsicht auf. Es ergibt sich das Problem, daß das Fortschrittsprinzip, das Kant als Merkmal der Kulturgeschichte erkannt hatte, nämlich die Konkurrenz, die sittliche Entwicklung der Menschen nicht unmittelbar befördert. Für eine moralisch begründete Gemeinschaft von Menschen läßt sich deshalb aus der Kulturgeschichte kein Beispiel gewinnen. Was kein Beispiel hat, könnte nun als Utopie beschrieben oder als gestaltlose Begriffskonstruktion entwickelt werden, die beide letztlich bodenlos wären. Politisch stellt sich die Frage, inwieweit Kant in der Religionsschrift Gegenstände der Religionsgeschichte, vor allem die Kirche, als Modelle verwendet, insofern ihnen die Vorstellung einer aus innerer Überzeugung begründeten Gemeinschaft von Menschen zugrunde liegt, und inwieweit er versucht, aus der Diskrepanz dieser Vorstellung zu ihrer womöglich defizitären aber geschichtlich objektiven Vorlage den Begriff eines ,ethischen Gemeinwesens' als Bedingung der Möglichkeit solcher Gemeinwesen überhaupt zu konstruieren: Kann das absolute Reich Gottes, als Idee säkularisiert, so als transzendentale Bedingung des profanen Reichs Gottes auf Erden fungieren, daß dabei weder das absolute, noch das profane beschädigt werden? Kants Vorstellung schließlich von einem allmählichen Fortschritt auch bezüglich der Moralisierung der Gemeinschaft, zu deren Organisation ein prinzipiell als irrational zu kritisierender Verwaltungsmechanismus, dessen Modell die Kirche ist, mit Einschränkungen und vorübergehend zu tolerieren sei, erinnert eigentümlich an die Diskussionen um die Organisationsfrage der proletarischen Bewegungen um die Wende zum 20. Jahrhundert. Vor allem die Ausführungen im Vierten Stück: Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum beinhalten neben dezidierter Kritik an kirchlichen Kulten solche Überlegungen.
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Die Brisanz, die das Modell Religion für die Abhandlung moralischer und politischer Gegenstände mit sich bringt, kommt in Kants vehementer Kritik der empirischen Merkmale historischer Religionen zum Ausdruck.
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Die Religionsschrift - Ein origineller Beitrag zur praktischen Philosophie Kants?
Auf den ersten Blick kann die Religionsschrift, neben explizit religions- oder kirchentheoretischen Gehalten und Verweisen, als eine Sammlung von Überlegungen zu verschiedenen Themen der praktischen Philosophie - Moral, Politik und Recht - erscheinen, die nahezu alle auch in anderen Schriften einschlägig thematisch und adäquat entwickelt sind. So ist selbstverständlich die Frage nach der freien Bestimmung des Willens und nach deren Subjekt das Thema der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Kritik der praktischen Vernunft, letztlich schon der Dialektik der reinen Vernunft', das Problem der Zurechnung wird in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten behandelt; der Begriff der Kultur als Prozeß geschichtlicher Entwicklung der Gattungsvermögen wird in der Kritik der Urteilskraft begründet und in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht geschichtstheoretisch entwickelt, darüber hinaus als politischer Fortschrittsgedanke im Ewigen Frieden programmatisch durchgeführt; Kants Auffassung von Zensur findet sich im Streit der Fakultäten und in Was ist Aufklärung? Auch andere Begriffe - Aberglaube oder Öffentlichkeit ließen sich ebenso anfuhren wie die Bestimmung des Verhältnisses von praktischer Philosophie und Religion überhaupt - thematisiert Kant seit der Kritik der reinen Vernunft immer wieder. Aber gerade dies letzte wird mit unterschiedlichen, sich zum Teil ausschließenden Antworten bedacht. So bestimmt Kant die moralische Funktion Gottes in der Kritik der reinen Vernunft noch als Triebfeder der Willensbestimmung, begründet aber in der Grundlegung, daß die Moral keiner Triebfeder außer ihr bedarf. Die Postulate der Kritik der praktischen Vernunft sollen die praktische Funktion Gottes als Ausdruck praktischer Vernunft selbst nachweisen, um diese Diskrepanz zu schlichten; die erkenntnistheoretischen Grundlagen dessen erörtert Kant schließlich in der Kritik der UrteilskraftDiese Entwicklung ist Ausdruck eines der entscheidenden Probleme nicht nur der praktischen Philosophie, sondern der Einheit der Philosophie überhaupt. Es geht um die Möglichkeit der Verknüpfung von Erkenntnissen der reinen theoretischen Vernunft mit solchen der reinen praktischen Vernunft, von der nichts Geringeres abhängt als die Möglichkeit der Anwendung reiner praktischer Vernunfterkenntnis im Bereich möglicher Erfahrung. Dafür sei notwendig ein moralischer Welturheber anzunehmen, der ga1 Zu diesem Zusammenhang vgl. Manfred Walther, „Die Philosophie der Religion in der Architektonik der praktischen Philosophie Kants", in: Dialektik 1/2005. Dieser Beitrag wurde am 21.2.2004 als Abschlußvortrag der Tagung ,Moral und Politik in Kants Religionsschrift'' gehalten. Aus technischen Gründen konnte er leider nicht mehr in den vorliegenden Band aufgenommen werden.
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rantiere, daß Kausalität aus Freiheit unter Bedingungen der Kausalität der Natur adäquat zur Wirkung kommen kann. Diese Verbindung Gottes mit praktischer Vernunft müßte sich als synthetisches Urteil α priori erweisen lassen, soll nicht die Möglichkeit der Objektivität praktischer Vernunft selbst von einer unbegreifbaren Transzendenz erborgt sein. Die Aufgabe, die sich aus Kants praktischer Philosophie ergibt, ist also eine Rationalisierung der Funktion von Religion und diese Aufgabe soll ausgerechnet eine Schrift über Religion lösen, deren Titel allerdings, so besehen, eine deutliche Sprache spricht. Kants Kritik der Religion durch Vernunft thematisiert aber nicht mehr nur die subjektiven, sondern auch die öffentlichen Bedingungen von Moralität: Die Doppelseitigkeit der Willkürfreiheit, durch Vernunft zum Guten bestimmbar zu sein oder dem Hang zum Bösen, zur Willensbestimmung aus nicht vernünftigen Triebfedern, folgen zu können, wird von Kant nun mit Blick auf die Gemeinschaft von Willenssubjekten verhandelt. Dabei greift er einerseits der Metaphysik der Sitten mit der Bestimmung der Rechtsordnung vor, des juridisches Gemeinwesens', in dem die Menschen äußeren Gesetzen unterworfen sind, deren Einhaltung unabhängig von den Maximen der Handelnden gefordert wird. Er setzt ihm aber ein ,ethisches Gemeinwesen' entgegen, eine „Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben"1, für deren Errichtung und Ausbreitung zu sorgen sei, und zwar weil ein solches Gemeinwesen „immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen"2 sei. In diesem Merkmal sieht Kant den Unterschied zu einem politischen Gemeinwesen. Damit tritt in der Religionsschrift der kollektive moralische Fortschritt der Menschen in ein streitbares Verhältnis zur Kulturgeschichte, wie Kant sie in der Kritik der Urteilskraft oder der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht faßt, später im Ewigen Frieden politisch bestimmt und schließlich in der Metaphysik der Sitten auf eine Rechtsordnung gründet. Die äußere Freiheit des Rechts, dessen Begriff selbst mit Zwangsbefugnis verknüpft ist und mit dessen Hilfe die für die technisch-praktische Kultur der Menschen nach Kant notwendige Konkurrenz organisiert werden soll, wird konfrontiert mit einem Gemeinwesen, dessen Aufgabe die Entfaltung der moralischen Freiheit der Menschen ist, die ihrem Begriff nach weder mit Zwang noch mit der Konkurrenz um partikulare Zwecke vereinbar ist. Die Beantwortung der Frage, warum die Bestimmung der Zwecke eines Gemeinwesens durch Moral für Kant nicht in die Bestimmung des politischen Gemeinwesens fällt, nicht politisch ist und es möglicherweise gar nicht sein kann, verspricht Hinweise zur Erklärung des Phänomens, daß die moderne Vorstellung von Politik, mittlerweile in allen parteipolitischen Schattierungen, schon die Andeutung von Kritik durch moralisch-praktische Vernunft für autoritär, totalitär oder terroristisch erklärt und so zur Ununterscheidbarkeit vernünftiger und unvernünftiger politischer Zwecke beiträgt.
1 Religion, VI 94. 2 Religion, V196.
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Die Aufsätze dieses Buches sollen dagegen zur begrifflichen Unterscheidung politischer Zwecke beitragen, indem sie das Verhältnis von ethischem und juridischem Gemeinwesen bei Kant, sowie die unterschiedlichen Bedingungen und Konsequenzen dieses Verhältnisses, für dessen Darstellung Kant sich der Mühe einer umfangreichen Religionskritik unterzogen hat, behandeln. Dafür ist es erforderlich, zu klären, was Kant in der Religionsschrift unter Religion versteht, wie sich dieses Verständnis zur Religion selbst verhält und welche Konsequenzen sich daraus für moralische und politische Zusammenhänge ergeben. Die Ergebnisse, zu denen die Autoren gelangen, sind beabsichtigt kontrovers; sie sollen nicht bloß als inspirierender Beitrag zur Diskussion verstanden werden, sondern sie bieten neben der politischen Rekonstruktion der Argumentation Kants, auch in den Fällen, in denen die These, es handle sich um eine politische Schrift, begründet zurückgewiesen oder korrigiert wird, eine Präparierung ihrer tatsächlich politischen Gehalte und sie sind auch da, wo sie ein Scheitern Kants attestieren, in Abgrenzung dazu Beiträge zur politischen Philosophie. Da, so verstanden, die Beschäftigung mit Vernunft, Religion, Moral und Politik in der einen oder der anderen Hinsicht zu den ,bösen Häusern' führt, die ohnehin am Ziel konsequenter Philosophie warten, empfiehlt sich, für die Lektüre der Aufsätze des vorliegenden Bandes auf ein Kriterium zurückzugreifen, das ein früher Rezensent an die Religionsschrift selbst angelegt hatte: „nur für strenge Selbstdenker"1.
1 Zitat nach Bettina Stangneth, „Kants schädliche Schriften", a.a.O., LXIX.
Übersicht über die Beiträge
Die Erfüllung der Absicht, moralische und politische Gehalte in Kants Religionsschrift zu bestimmen und zu kommentieren - und dies vor allem mit Blick auf politische Fragen, die der Schrift und ihrem zeitlichen Kontext übergeordnet sind - schließt eine textchronologe immanente Interpretation der Vorlage aus. Vielmehr sind auch der theoriegeschichtliche Zusammenhang von Religion und Politik sowie systematische Beziehungen innerhalb des Werks Kants zu berücksichtigen. Neben der selbst an geschichtlichen Bedingungen orientierten Kommentierung zentraler Begriffe der Konzeption Kants ist eine Kritik von deren geschichtsphilosophischen Bedingungen und Konsequenzen ebenso erforderlich wie die Entwicklung politischer Modelle, um die moralischen und politischen Gehalte der vielschichtigen Religionsschrift möglichst unverkürzt herauszustellen. Dabei geht es nicht um die summarische Vollständigkeit, alle Aspekte bedacht zu haben, sondern um ein der Sache gerechtes Erfassen des Verhältnisses von Moral, Politik und Religion bei Kant, auch mit Blick auf die Folgen. Auch und gerade die adäquate Darstellung eines in sich aporetischen Verhältnisses wird selbst nicht den Anschein affirmativer Geschlossenheit erwecken können. Die Beiträge werden dieser Aufgabe durch eine kontroverse Diskussion der Religionsschrift gerecht, deren negative Einheit darin liegt, Kants Schrift als Gegenstand politischer Überlegungen ernstzunehmen, auch da wo ihr politischer Anspruch zurückgewiesen werden muß. Die folgende Übersicht kann in der Kürze keine Zusammenfassungen der Beiträge bieten, sie soll aber durch die Wiedergabe der zentral verhandelten Themen die Orientierung im Buch erleichtern. In der ersten Abteilung wird die Religionsschrift exemplarisch mit Modellen der politischen Philosophie der Neuzeit konfrontiert. So betrachtet BERND LUDWIG in seinem Beitrag Zwei Konzeptionen hinsichtlich der politischen Rolle der Religion: Kant und Hobbes. Ludwig stellt zunächst heraus, daß im Unterschied zu Hobbes der Religion bei Kant nicht die explizite Funktion einer politischen Institution zukomme, sondern eher eine auf die individuelle Moral bezogene. Der Darstellung der Gemeinsamkeiten, die sich bei Kant und Hobbes dennoch finden ließen, folgt eine Untersuchung der Dif-
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ferenzen, eingeleitet mit der ,drastischen' und sodann zu erläuternden These: „Bei Kant unterstützt die christliche Religion als Glaube die Politik im Kampf mit der Sinnlichkeit der Bürger, bei Hobbes im Kampf mit deren Vernunft." (41) Als grundlegend erweise sich ein je anderes Verständnis von Autonomie. OLIVER JELINSKI untersucht in seinem Aufsatz Gewißheit und Wahrheit des gesellschaftlichen Glücks - Zur Phänomenologie des politischen Geistes den Begriff der Glückseligkeit im Verhältnis von Neigungen und deren Befriedigung. Grundsätzlich gehe die politische Philosophie von einem Mangel der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung im Verhältnis zu den Bedürfnissen aus, so daß nur durch Verzicht eine gleichmäßige Befriedigung möglich sei. Zu deren Garantie schlage Hobbes eine ordnende Gewalt vor, Rousseau dagegen die einsichtsvolle Selbstbeschränkung. Jelinski entwickelt an Kants Religionsschrift Argumente gegen beide, stellt aber fest, daß Kant die Verknüpfung von technischer, politischer und moralischer Organisation der Bedürfnisbefriedigung nicht gelinge: „Solange Neid, Herrschsucht und Habsucht notwendig sind, kann der ,Anfang zur Gründung einer Denkungsart', aufgrund derer die Gesellschaft sich in ,ein moralisches Ganze' verwandelt, nicht gemacht werden." (53) MOSHE ZUCKERMANN formuliert Überlegungen zu Vernunft und Religion auf dem kurzen Weg mißglückter Säkularisierung. Kants Moralphilosophie kritisiere zwar die historische Erscheinung von Religion, behalte aber deren wesentliche Begriffe, vor allem den Begriff Gottes, als Bedingung von Moralität bei. Zuckermann verfolgt die auf Kant folgende Radikalisierung der Religionskritik von Feuerbach über Marx, die klassische Soziologie und Freud bis zur Frankfurter Schule und schließlich bis zu dem historischen Resultat, daß die Säkularisierung des Religiösen, die wie zweideutig auch immer in Kants Religionsschrift und wie eindeutig auch immer in der darauf folgenden Religionskritik mit der Durchsetzung der Vernunft in der Welt verbunden war, keineswegs zur Moralisierung der Menschheit gefuhrt habe. In ihrem Aufsatz Die Ausnahme - Die politische Theologie der Gemeinschaft bei Immanuel Kant und Carl Schmitt entwickelt KERSTIN STAKEMEIER die These, daß der Fetischglaube, den Kant kritisiere, „historisch in seiner Folge zur Misere des Politischen säkularisiert worden" sei, daß der Staat, als Selbstzweck der Ordnung begriffen, „in den historischen Gegensatz zur Freiheit, welchen die ,Priesterreligion' vor ihm eingenommen hat" (64) getreten sei. Stakemeier konfrontiert Schmitts Lehre vom Ausnahmefall mit Kants moralischer Entscheidungstheorie in der Religionsschrift. Die Einbettung der Entscheidung in die Lehre vom Bösen und in Religion überhaupt diene bei Kant der Begründung eines freien, auch für sein falsches Handeln verantwortlichen politischen Subjekts, während Schmitts Theologisierung des Politischen solche Verantwortung mit Blick auf eine übergeordnete Entscheidungsgewalt aufhebe. Schmitt verkläre das Politische zum Fetisch, weil er keinen Begriff von bürgerlichen Herrschaftsstrukturen habe, sondern Herrschaft immer als unmittelbar begreife. Mit Kant lasse sich zeigen, daß dies ein falscher Blick auf die Gegenwart sei.
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Die Zweite Abteilung untersucht, teils en detail, teils im größeren Zusammenhang, die Funktion von Religion in Kants praktischer Philosophie. CLAUS DlERKSMElER schreibt Zum Status des religiösen Symbols bei Kant. Seine Interpretation der Verwendung des Christus-Gedankens durch Kant geht davon aus, daß dieser Begriff bei Kant der praktischen Philosophie zuzuordnen sei. Daraus ergebe sich die Frage, „ob eine Symbolik der Transzendenz überhaupt im Rahmen einer sich kritisch-transzendental verstehenden Philosophie einen legitimen Platz behaupten kann" (76). Dierksmeier entwickelt die These, daß die Unbedingtheit der moralischen Forderung im Kontrast zur stets bedingten Erfahrung einer Symbolik des Unendlichen bedürfe um den Sinnverlust zu vermeiden; allerdings berge solche Symbolik immer die Gefahr des Priestertrugs. Die Auseinandersetzung mit Kants kritischer Religionshermeneutik fuhrt zu Einsichten über die Funktion von Symbolen ebenso wie über menschliche Religiosität überhaupt. SUMA RAJIV Α ermittelt in ihrem Beitrag Sinnstiftung durch Verlebendigung: Die Bedeutung der sichtbaren Welt in Kants moralischer Religion „Bedingungen der Möglichkeit lebendigen moralischen Handelns sowie das Feld, in welchem Moralität Gestalt annehmen kann" (90). Über die Analyse der Typik der praktischen Vernunft und der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit gelangt sie zu der These, daß die Funktion der Teleologie, die atomare natürliche Welt als ein zweckmäßiges, lebendiges Ganzes zu simulieren, analog in der Vorstellung der sichtbaren Kirche wiederkehre. Diese ermögliche es analog einem Schema, die sinnlose Mannigfaltigkeit empirischer religiöser Praktiken als eine „Geschichte des moralischen Lebens" (93) zu denken. Hierdurch könne auch der von Kant übersinnlich konzipierten Moral ein lebendiger Sinn verliehen werden. Rajiva erkennt darin eine Aufwertung der Sinnlichkeit gegenüber den früheren moralischen Schriften Kants. CHRISTIAN IBER hinterfragt Religion als Ideal einer wirkmächtigen Moral. Dafür entwickelt er zunächst einige Aporien von Kants formalem Moralbegriff, der sich, mangels Bezugnahme auf bestimmte Willensinhalte, selbst aushöhle. Die unvermittelte Kluft zwischen Moral und Interesse solle durch die praktische Idee Gottes überbrückt werden, deren Herkunft wie deren ebenfalls aporetischen Folgen Iber nachgeht: „Kant nimmt dem moralischen Idealismus durch den funktional eingesetzten Glauben seine Naivität, ohne ihn preiszugeben." (105) In diesem Sinne kritisiere die Religionsschrift nicht die Religion, sondern reformuliere sie. Die Folge sei eine ungeschichtliche Geschichtsphilosophie, weil das Problem, „daß das moralische Prinzip der Welt in der Wirklichkeit nicht gilt" (108), nicht durch eine Kritik an dessen Geltungsbedingungen behandelt werde. FRANK KÜHNE bemerkt Zum Verhältnis von Moral und Religion, daß dies bei Kant durch den Begriff des höchsten Guts vermittelt sei. Kühne zeigt, daß mit diesem Begriff Kants formales Moralkonzept um sein notwendiges Objekt ergänzt werde, ja daß dieses sich, gegen Kants Beteuerung, als Geltungsbedingung des Sittengesetzes erweise, dessen Befolgung ohne es gleichgültig würde. Seine Realisierbarkeit erfordere aber den Begriff Gottes als Grund der Verbindung von Natur und Freiheit. Kant überwinde so aber nicht deren Dualismus, sondern dieser werde „in der Definition des Postulats reproduziert und damit in die reine praktische
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Vernunft eingeschleppt" (117). Daraus ergäben sich aporetische Konsequenzen für Kants Geschichtsphilosophie, die zwischen letztem Zweck der Natur, der als Kultur geschichtswirksam werde, und moralischem Endzweck, der „außerhalb der Natur und damit auch außerhalb der Geschichte" (119) bleibe, unterscheide. Die Aufsätze der dritten Abteilung befassen sich explizit mit politischen Grundbegriffen und Problemen, die in der Religionsschrift antizipiert, stillschweigend vorausgesetzt oder offen abgehandelt werden. TOBIAS BLANKE verortet in seinem Aufsatz Wider die Rotte des bösen Prinzips - Was vom Menschen vorauszusetzen ist den politischen Gehalt der Religionsschrift im Übergang von der Moral- zur Rechtsphilosophie. Das Böse werde für Kant aus der gesellschaftlichen Erfahrung zum Problem. Der Versuch, seine Existenz zu erklären, führe über Theologiekritik zu einer aporetischen moralischen Bestimmung, nach der es mehr als nur eine privatio boni darstelle, nämlich einen natürlichen Hang in den Menschen. Aus diesem Begriff folge für die Politik, daß sie entstehe, ,,[w]eil man sich selbst und seinen anderen nicht trauen kann" (129). Die Überwindung dieses Mißtrauens gelinge Kant dann nicht politisch, sondern als Vermittlung durch den Gottesbegriff. Blankes Ausführungen gelten der Frage nach der Möglichkeit der Identifikation mit dem anderen im Verhältnis von religiös bestimmtem ethischem Gemeinwesen und dem eigentlich politischen Staat, der sie unnötig mache, „weil er auch für die bösen anderen funktioniert" (131). AXEL HUTTER mißt in seinem Aufsatz Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant eben diesem Begriff eine Schlüsselfunktion für das Verständnis der Religionsschrift zu, und zwar aufgrund der Lokalisierung des Ursprungs des Bösen und Guten zwischen Vernunft- und Sinnennatur der Menschen. Kant selbst verstehe in diesem Zusammenhang die Vernunftanlage als Gattungsvermögen und lege explizit nahe, die aus ihr folgenden moralischen Bestimmungen unter dem Aspekt von Öffentlichkeit zu betrachten. Hutter macht neben dem Begriff der rechtlich verfaßten Öffentlichkeit auf den selbst schon normativen transzendentalen aufmerksam, der Resultat der Selbstkritik der Vernunft sei, insofern diese allgemein verbindliche Erkenntnisprinzipien garantiere. In der Religionsschrift komme nun eine dritte, im Unterschied zur politischen radikal zwangsfreie Form von Öffentlichkeit in Gestalt des ethischen Gemeinwesens hinzu. Die Frage nach der Möglichkeit von dessen Verbindlichkeit führt Hutter zu der These, „daß der endliche Standpunkt der menschlichen Vernunft nicht zur letzten Instanz für das Vernünftige gemacht werden darf (136). In seinem Aufsatz „fWJelche Welt er wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde" - Die moralische Begründung der Weltrevolution? geht DIRK MEYFELD dem Verhältnis von Interesse, gesellschaftlicher Verwaltung von Interesse und allgemeiner Struktur des Sittengesetzes nach. Ihm geht es um die Betonung der nicht emanzipativen Seite in Kants aporetischem Moralbegriff. Aufgrund mangelnder Integration der Bedingungen moralischen Handelns in den kategorischen Imperativ werde dieser zu einer durch einfache Negation der als pathologisch verstandenen Sinnlichkeit gewonnenen abstrakten Formel, die keine besonderen Inhalte mehr zulasse. Emanzipative Argumente würden so zum Grund ihres Gegenteils. Dem Sittengesetz,
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das die Menschen als Individuen unterwerfe, entspreche der Staat, der als empirieunabhängige Instanz mittels Zwangsbefugnis die partikularen Interessen einem allgemeinen subsumiere, und zwar einschließlich der Subsumtion des ethischen Gemeinwesens. Kants Freiheitsbegriff entbehre der kritischen Reflexion auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und gerate so zur „Aufopferung des Einzelnen zugunsten eines bestehenden, nicht vernünftigen Allgemeinen" (148). MICHAEL STÄDTLER betrachtet in seinem Aufsatz Die Konstitution der Freiheit Kants These, eine Gemeinschaft moralischer Menschen bedürfe neben der Freiheit ihrer Willensbestimmung noch einer besonderen Verfassung. Die Frage sei: „Worin geht die Konstitution der Freiheit über deren selbst Begriff hinaus?" (161) Zunächst wird der Freiheitsbegriff anhand der Kritik der reinen Vernunft und vor allem der Kritik der praktischen Vernunft skizziert. Ein Blick auf Die Metaphysik der Sitten zeige, daß der Begriff äußerer Freiheit die Grundbestimmungen des Autonomiebegriffes verkehre, weshalb Rechtsordnungen keine Freiheits- sondern Zwangsordnungen seien. Im Unterschied zum Formalismusvorwurf gegen das Sittengesetz seit Hegel sehe Kants Religionsschrift das Mißverhältnis zwischen innerer und äußerer Freiheit in gesellschaftlichen Bedingungen. Eine ausführliche Interpretation der Passagen zur Verfassung des ethischen Gemeinwesens versucht, den säkularen politischen Gehalt dieser Kirchenverfassung ebenso herauszustellen, wie den geschichtsphilosophischen Kern der scheinbar die Menschen religiös entmündigenden Passagen. Kants inkonsequente Subordination des ethischen Gemeinwesens unter das rechtliche wird abschließend auf ihre, auch aktuellen, gesellschaftlichen Bedingungen untersucht. PETER BULTHAUP geht in seinem Beitrag Kants Anarchismus und die Pathologie republikanischer Freiheit von dem Widerspruch im Begriff der Heteronomie aus, als Gesetz allgemein und als Fremdes partikular zu sein. Autonomie sei doppelt auf Heteronomie bezogen, „sie ist Beziehung der Heteronomie als das andere der Autonomie und auf ein anderes als die Autonomie" (176). Daher könnten gesetzmäßige Handlungen entweder aus Pflicht dem Gesetz gemäß sein oder bloß pflichtgemäß durch heteronomen Zwang dem Gesetz unterworfen werden. Das beschädige die Konsistenz des Gesetzesbegriffes. Die Analyse des Begriffs des bürgerlichen Rechts zeige, daß der Vertragsbegriff der ökonomischen Realität nicht entspreche und daß es dem Sittengesetz nicht adäquat sei. Daher sei aus bürgerlichen Prinzipien der Übergang des bürgerlichen Gemeinwesens in ein ethisches nicht möglich. Wolle Kritik sich nicht formal dem Kritisierten anpassen, müsse sie schließlich auch von einer positiven Adaption von Kants ,Reich Gottes auf Erden' Abstand nehmen, ohne darum auf den mit solchen Begriffen verknüpften Anspruch zu verzichten. Die Beiträge zur vierten Abteilung befassen sich eingehender mit geschichtsphilosophischen Implikationen der politischen Gehalte der Religionsschrift, und zwar sowohl mit Bedingungen als auch Folgen in theoretischer wie in ganz praktischer politischer Hinsicht. In ihrem Aufsatz Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft - Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart geht MAXI BERGER dem Beispiel ,Religion' bei Kant nach. Dafür wird zunächst die Idee des Reichs Gottes als eine
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Funktion des Verhältnisses von Sittlichkeit und Glückseligkeit bestimmt, die zugunsten der Geltung der Moral α priori deren Geschichtlichkeit transzendiere. Hinsichtlich seiner Realisierbarkeit werde der Freiheitsbegriff inkonsistent. Die bürgerliche Gegenwart rekonstruiert Berger anhand der Akkumulationsgesetze des Kapitals bei Marx als Verhältnisse, in denen „die Verkehrung der sittlichen Ordnung zur praktischen Notwendigkeit geworden ist" (190), was ideologisch als natürliche Ordnung erscheine, aber Ausdruck geschichtlicher Willkür sei. Damit sei diese Gegenwart ein Modell für Kants Böses. Angesichts dessen erscheine der Kulturbegriff, der die transzendierte Geschichtlichkeit wenigstens zum Teil säkularisieren solle, dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen. Das moralisch Progressive lasse sich nicht aus der bürgerlichen Gegenwart, sondern nur aus deren Vergangenheit, also durch Regression entwickeln. Kants Zitat von Religion erweise sich als Ausdruck eines brüchigen bürgerlichen Selbstverständnisses. BETTINA STANGNETH betrachtet Die ,Religion' als Übergang zur Weltrepublik. Das richtige Verständnis des Bösen, des jederzeit möglichen - auch bewußten - Mißverhältnisses von Überzeugung und Tun, sei grundlegend für die Begründbarkeit einer dauerhaften Weltrepublik, weil für diese das staatsrechtliche Prinzip der Rechtsgarantie durch Zwang aufgrund ihrer Größe als Konstitutionsprinzip untauglich sei. Eine Weltgemeinschaft könne nur als Willensgemeinschaft bestehen, deren Glieder ihr stets erneut zustimmten. Daraus ergebe sich die Frage nach der das auch hier erforderliche Recht setzenden Instanz: Die Gemeinschaft solle nicht durch politische Gewalt begründet, aber doch in Übereinstimmung mit dem Rechtsstaat verfaßt sein. Eine solche Gemeinschaft sei das ethische gemeine Wesen der Religionsschrift, das aus Einsicht gegründet werde. Diese Einsicht, die eine durch Denken nicht zu ermittelnde Vereinbarkeit von Vernunft und Welt voraussetze, erweise sich als begründetes Fürwahrhalten, als ein Glauben, und zwar an „die Idee der Vernunft als verläßliche Richtschnur unseres Handelns in jeder Hinsicht" (204). Aus diesem Perspektivenwechsel im Blick der Vernunft auf sich selbst ergäben sich Konsequenzen für Kants Verständnis von Hoffnung, der sowohl Vernunft als auch das Bemühen um vernünftiges Handeln vorausgingen. Das ,ethische gemeine Wesen' und die Idee der Weltrepublik - Der Beitrag der Religionsschrift zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen lautet der Beitragstitel von MATTHIAS LUTZ-BACHMANN. Er ordnet Kant in jene philosophische Tradition seit Piaton ein, nach der Ethik nicht in einer Lehre von Gott begründet werden könne. Gleichwohl führe die Frage nach der Möglichkeit von Inhalten des moralischen Willens, schließlich des höchsten Guts zum Postulat der Existenz Gottes. An diesem Punkt setze die Religionsschrift an und erweitere die Bestimmung des höchsten Guts, indem sie es auf die gesamte Menschheit bezogen betrachte. Diesen Zusammenhang erläutert Lutz-Bachmann durch eine detaillierte Rekonstruktion des Argumentationsganges Kants vom Ersten bis zum Dritten Stück der Religionsschrift, als deren Resultat „ein neues Argument für die Debatte über die Notwendigkeit des politischen Postulats einer Weltrepublik" (216) deutlich werde. Anhand der Schrift Zum Ewigen Frieden könne gezeigt werden, daß Kant aus taktischen Gründen dort nicht
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strikt für die Errichtung einer Weltrepublik argumentiere. In der Religionsschrift dagegen vertrete er, daß deren Errichtung eine notwendige Bedingung sei, um die Pflicht der Menschheit gegen sich selbst, den moralischen Naturzustand zu verlassen, überhaupt konsistent denken zu können. In dem Aufsatz Vom Priestertrug zur Organisationsfrage. Zur Funktion des historischen Modells in Kants ,Religionsschrift' interpretiert LUKASZ MAZUR die kritische Philosophie auch als Antwort auf die religions- wie gesellschaftskritisch ungenügenden Resultate des französischen Materialismus, dessen Negation der Freiheit eine rationale Begründung von Kritik verbiete. Kants Bestimmung der Vernunft als Vermögen und Gegenstand der Kritik führe diese auf Antinomien. Auch die Religionskritik führe Kant auf eine Vernunftantinomie zurück, nämlich die des Bedingungsverhältnisses von Moralität und Erlösung. Dies versuche er, über die historische Hinordnung der empirischen Kirche auf die Vernunftreligion praktisch zu vermitteln und konstruiere dafür ein Modell der moralischen Organisation menschlicher Gesellschaft, in dem Mazur aber die gleiche Antinomie als „Paradoxie des Organisierens" (231) überhaupt identifiziert, die letztlich auch die von Georg Lukacs formulierte Organisationsfrage kennzeichne. Mit Überlegungen zum Status des Modells in der politischen Philosophie bildet dieser Aufsatz zugleich die Überleitung zur folgenden Abteilung. Die Autoren der fünften Abteilung konfrontieren verschiedene Aspekte der Religionsschrift mit politischen Modellen. Die Frage, wie sich für die Idee des höchsten Guts Kants überhaupt ein Modell konstruieren lasse, die Frage also nach der erkenntnistheoretischen Grundlage einer Vorstellung vom Reich Gottes auf Erden behandelt ADELHEID HOMANN in dem Artikel La Cittä del Sole - Reich Gottes auf Erden oder „ ein bloßes Fetischmachen "? Zunächst wird ausgehend von Kants äquivokem Naturbegriff das Verhältnis von Autonomie der Willensbestimmung und Heteronomie der Bedingungen ihrer Realisierung untersucht, mit dem Ergebnis, daß ,,[d]ie Vorstellung eines ,Reichs Gottes auf Erden' [...] Resultat der Nötigung [ist], die Form des moralischen Gesetzes in der ihm fremden Realität zu realisieren" (239). Die Folgen, die sich aus der Genese solcher Modelle für diese selbst ergäben, stellt Homann an Campanellas Staatsutopie Sonnenstadt und an deren Rezeption durch Bloch exemplarisch vor. RICHARD MATTHEWS geht in seinem Beitrag Einige Vorbehalte gegenüber weltbürgerlicher Geschichte den Aporien politischen Widerstandes nach. Kant sei zwar ein erklärter Gegner aller Gewalt- und Willkürherrschaft, formuliere aber ein unbedingtes Verbot aller Formen des Widerstandes gegen Herrschaft und Gesetze. Matthews analysiert Kants rationalen Welt- und Geschichtsbegriff und dessen theologische Fundamente als eine theoretische Grundlage jenes Verbots, und damit der darin gelegenen Affirmation menschlichen Leidens. In einer von Gott, dem vollkommenen Wesen, geschaffenen Welt müsse das Böse, wenn es denn vorkommt, einen systematischen Ort beanspruchen. Um der Lösung des moralischen Dilemmas des Widerstandsverbotes gegen ungerechte Gesetze näher zu kommen, müsse die Vorstellung einer rational geplanten göttlichen Welt- und Geschichtsordnung aufgegeben werden. Dies ermögliche eine
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notwendige „Revision der kantischen Idee einer weltbürgerlichen Geschichte" (256). LEO SESERKO untersucht Die Auflösung der Symbiose zwischen Religion und Metaphysik bei Kant. Seserko konfrontiert Kants Religionstheorie mit einer Tendenz der Gegenwart zum religiösen Obskurantismus, der auch vor der Verbrämung von Genociden nicht haltmache. Die Religionsschrift verortet er „in der Spannung zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und der Offenbarung" (258f.). Durch die ,entfremdete Parteilosigkeit' der Konstruktion des höchsten Gutes gelange Kant über die Kritik an der Offenbarung zu dieser zurück, indem er, um des Zweckbegriffs willen Moral mit religiösen Herrschaftsattributen versehe. Diese Ansiedelung der Religion zwischen Moral und Macht verfolge aber auch den subversiven Zweck, sie der Kritik zu unterziehen. Die Frage, wo in der Gegenwart noch Formen der Religiosität anzutreffen seien, die auch für Kant vernunftkonform blieben, führt Seserko auf das Beispiel von Gebeten während des Massakers von Srebrenica. Angesichts solcher Erfahrungen sei die Aktualität von Kants Religionsphilosophie in ihrem Beitrag zur Aufklärung des modernen Zusammenhangs von Religion, Moral und Macht zu sehen.
Traditionslinien von Religion, Moral und Politik
BERND LUDWIG
Zwei Konzeptionen hinsichtlich der politischen Rolle der Religion: Kant und Hobbes
ι Moral und Politik in Kants Religionsschrift? Das klingt auf den ersten Blick wenig irritierend, und das soll vermutlich auch so sein, denn die Termini ,moralisch' als auch politisch' sind in der Schrift präsent - und daß Religion etwas mit Moral und diese etwas mit Politik zu tun haben kann, wird ohnehin niemand ohne größere Not bestreiten wollen. Stellen wir aber den Titel probehalber ein wenig um, dann wird eine gewisse Irritation entstehen: „Moral und Religion in Kants politischen Schriften" klingt auf den ersten Blick möglicherweise auch nicht besonders befremdlich, aber wenn man sich genauer fragt, welche Rolle denn in specie die Religion in Kants politischen Schriften spielt, dann wird man mißtrauisch: Sie wird in den großen einschlägigen Werken allenfalls in Nebenbemerkungen erwähnt. In der Rechtslehre wird die Trennung von Kirche und Staat herausgehoben und die Legitimität der Forderung, vor Gericht religiös gestützte Eide zu fordern, bestritten. Im Anhang der zweiten Auflage wird angelegentlich der Replik auf Friedrich Bouterweks Rezension, dann die Kirche neben dem Armenhaus noch einmal unter stiftungsrechtlichen Gesichtspunkten behandelt. Der staatsrechtliche Teil der Schrift über den Gemeinspruch erwähnt weder Religion noch Kirche, und in der Schrift Zum Ewigen Frieden, dem, wenn man davon überhaupt sprechen darf, eigentlichen .politischen Manifest' Kants, wird gerade einmal die Vielfalt der Bekenntnisse neben der Unterschiedlichkeit der Sprachen als ein Instrument der Natur gelobt: Sie beide verhindern durch die Erzeugung kultureller Inhomogenitäten die Entstehung einer weltumspannenden Despotie, die ihrerseits die moralisch gebotene Republikanisierung des Erdballes vereiteln könnte. Das wäre dann auch schon alles: Sowohl bezüglich der Religion als auch der Kirche in Kants politischen Schriften gilt: im großen und ganzen Fehlanzeige. Warum, kann man nun umgekehrt fragen, irritierte uns am Thema Moral und Politik in Kants Religionsschrift zunächst nichts? Die Moral ist und bleibt - das ist selbstverständlich - in
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Kants Religionsschrift der Dreh- und Angelpunkt, denn „Religion ist (subjektiv betrachtet) die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote"1, d.h. Religion ist, wie es in der Tugendlehre heißt, „integrierender Theil"2 der philosophischen Morallehre. Religion ist (im Unterscheid zum Kirchenglauben) ohne jede theoretische Bedeutsamkeit, ausschließlich von praktischer Bedeutung und dies auch nur für den, der sich unter das moralische Gesetz gestellt weiß. Andernfalls ist ihr schales Schattenbild die bloße ,Afterreligion', Aberglaube, Götzendienst. Aber Politik in Kants Religionsschriff! Nun, das Adjektiv politisch' findet sich einige Male im Umfeld von Überlegungen zum ethischen Naturzustand, aber im Grunde wird hier nur eine „gewisse Analogie"3 bemüht, die das Verständnis des Begriffs eines religiösen Gemeinwesens als eines Gemeinwesens erleichtern soll, welches seinerseits aber definitiv als ein a-politisches konzipiert ist, denn es ist - wie Kant ausdrücklich betont, - als Gemeinschaft eher dem gleichsam vor-politischen Haus als der Polis verwandt. Es ist ferner nicht von dieser Welt, betrifft ohnehin nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, sondern die des Menschen zu sich selbst bzw. des guten Prinzips in ihm selbst zu dem Bösen, welches gleichermaßen in ihm wie in allen anderen angetroffen wird. Zu guter Letzt kann jenes Gemeinwesen überhaupt nicht als durch menschliches Handeln, d.i. durch Politik, sondern allenfalls als durch Gott selbst ins Werk zu setzen gedacht werden.4 Kurz: Die Religion bleibt in ihrer Bedeutung ganz auf das innere Sittliche der Menschen bezogen. Allenfalls der Kirchenglauben ist von politischer Bedeutung, aber auch jener wird von Kant in der fraglichen Beziehung eher stiefmütterlich behandelt. Wenn er im politischen Zusammenhang erwähnt wird, dann mit der Stoßrichtung, daß die Staatsgewalt dafür Sorge zu tragen hat, daß die unterschiedlichen Bekenntnisse im Staate einerseits nicht zu politischen Zerwürfnissen der Bürger untereinander führen mögen, und daß diese Sorge andererseits aber tunlichst nicht durch Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung zu geschehen habe, sondern nur unter der Maßgabe, daß die Religionsausübung der Bürger nicht mit den weltlichen Prinzipien des Rechts konfligiert. England ist für Kant das Beispiel einer irregeleiteten Kirchenpolitik: Es wird dem Volk von der staatsbürgerlichen Gewalt eine „Religion in der Erscheinung", d.i. ein Kirchenglaube, aufgedrängt, und die Bürger werden „wegen einer von des Hofes seiner unterschiedenen Religion von den Staatsdiensten und den Vorteilen, die ihm dadurch erwachsen, ausgeschlossen"5. Gerade dieses politische Programm hat in England bekanntlich Tradition: Leviathan. Or: the Matter, Forme, and Power of α Common- Wealth ecclasiasticall and Civill. Hier ist die Einheit von Politik und Religion in der Gestalt der Einheit von Staat und Kirche Programm, ja es steht sogar das „Ecclasiasticall commonwealth" an erster Stelle: Der 1 Religion, VI 153. MdS, VI 487. 3 Religion, VI 94. 4 Religion, VI 100. 5 MdS, VI 368. 2
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Staat ist Kirche, so die vermeintliche Botschaft, die Kirche ist Staat. Wäre das „Ecclasiasticall Commonwealth" nämlich bloß eine species des „Civill commonwealth" (neben agnostischen, jüdischen oder muslimischen Gemeinwesen), dann wäre die Abfolge von „ecclesiasticall" und „civill" im Titel des Hobbesschen Hauptwerkes befremdlich. Und daß das „Ecclasiasticall Commonwealth" eine Kirche neben dem „Civill-Commonwealth" ist, widerspricht der Tatsache, daß, nachdem im ersten und zweiten Teil die Lehre vom „Civill-Commonwealth" zunächst ganz ohne Rekurs auf Lehren einer Offenbarungsreligion entwickelt wurde, 1 im dritten Teil „Of a Christian Common-Wealth" nun ausdrücklich betont wird, daß 1) der Hobbessche Staat in specie ein christlicher zu sein hat, und daß 2) der Gehorsam gegen den Leviathan jener ist, der einem wahren, d.i. selbstredend: einem nicht von den interessierten Lehren des Bishop of Rome irregeleiteten, Christen kraft seines Bekenntnisses zusteht. Wir haben es bei Kant und Hobbes offensichtlich mit zwei unterschiedlichen Konzeptionen der Rolle der Religion bzw. der Kirche für die Politik bzw. die Moral zu tun: eine, die die Religion in erster Linie in Blick auf die Moral des Einzelnen thematisiert, eine andere, die Religion genuin als ein politisches Phänomen begreift, indem sie die Kirche als eine unentbehrliche Institution im Dienste politischer Herrschaft konzipiert. Für Kant ist die politische Funktion des Kirchenglaubens und damit jeder partikularen Kirche sicherlich nicht für das politische Gemeinwesen konstitutiv, sondern allenfalls transitorisch. In der oben bereits herangezogenen Passage über kirchliche Stiftungen in der Metaphysik der Sitten heißt es: „[...] die Kirche selbst ist ein bloß auf Glauben errichtetes Institut, und wenn die Täuschung aus dieser Meinung durch Volksaufklärung verschwunden ist, so fallt auch die darauf gegründete furchtbare Gewalt des Klerus weg, und der Staat bemächtigt sich mit vollem Rechte des angemaßten Eigenthums der Kirche. 2 Ganz in diesem Sinne stellt Kant dann in einem Brief an Fichte vom 2.2.1792 zu den Glaubensartikeln überhaupt fest, „daß ob es gleich möglich ist, wenn sie einmal da sind, auch durch die Vernunft einzusehen, ohne Offenbarung aber die Vernunft nicht von selbst darauf gekommen sein würde, diese Artikel zu introduzieren, allenfalls anfangs Wunder vonnöten gewesen sein können, die jetzt der Religion zugrunde zu legen, da sie sich mit ihren Glaubensartikeln nun schon selbst erhalten kann, nicht mehr nötig sei"3. Der auf Offenbarung ruhende Kirchenglaube ist bloße „Akkomodation für Schwache", er hat allenfalls „subjektive Wahrheit".
1 Vgl. dazu Thomas Hobbes, Leviathan, hg.v. R. Tuck, Cambridge 1991 (im folgenden Lev.) zitiert mit Kapitelnummer und Absatz; Hier XXXII, 1. 2 MdS, 369. 3 Immanuel Kant, An Johann Gottlieb Fichte (Brief 504), in: Kant's Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. XI, Berlin 1942, 321.
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II
BERND LUDWIG
Übereinstimmungen
Die Differenz zwischen Hobbes und Kant in bezug auf das Gewicht, welches der Religion in der Politik zukommt, gibt zu denken, zumal sowohl Kant als auch Hobbes zahllose Grundauffassungen bezüglich der Religion teilen, die ihrerseits in der frühen Neuzeit nicht alle durchweg selbstverständlich sind. Zum einen identifizieren beide den moralischen Kern des Christentums mit dem Grundprinzip ihrer philosophischen, ihrerseits ganz und gar ohne Rekurs auf ein göttliches Gesetz begründeten Moral. Aus dem Fundamentall Law of Nature, „seek peace and follow it", folgt bei Hobbes das zweite Naturgesetz, das der wechselseitigen Niederlegung jenes Rechts auf Alles, welches letztere den Naturzustand zum Kriegszustand macht. Und dieses zweite Naturgesetz, die Grundlage der gesamten Hobbesschen „morall philosophy", „is that Law of the Gospell; Whatsoever you require that others Should do to you, that do ye to them. And that Law of all men, Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris."1 Am Ende der Aufzählung der Naturgesetze bietet Hobbes diese Formel erneut als Zusammenfassung seiner Morallehren an. Die Alten hatten die Moral auf die Natur gegründet, die Christen auf den Willen Gottes. Für Hobbes hatten beide inhaltlich die richtigen Tugenden bestimmt, aber sie hatten nicht das Prinzip erkannt, aus dem sie sich - wie Hobbes zu zeigen beanspruchte - alle philosophisch begründen lassen: „That all men agree on this, that Peace is Good."2 Dieses Agreement ergibt sich fur Hobbes als Folge der Vernunftbegabung des Menschen und das genügt bereits, denn „[...] Morall Philosophy is nothing else but the Science of what is Good, and Evill, in the conversation, and Society of man-kind."3 Die durch menschliche Kunst eingerichtete „Society" ist die Voraussetzung für den Frieden. Die Regeln der „Morall Philosophy" lassen sich besonders leicht in der Formel der Goldenen Regel (dem oben bereits genannten „Law of the Gospell") memorieren.4 Für Kant ist das Christentum jene Religion, in der der Vernunftbegriff der natürlichen Religion selbst zur „obersten unnachlässigen Bedingung eines jeden Religionsglaubens"5 dient. Religion wiederum ist die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, und sie ist natürlich, sofern die Erkenntnis der Gebote selbst der Erkenntnis, daß es göttliche Gebote sind, vorangeht.6 Jesus Christus ist jener Lehrer, der sich als Stifter der ersten wahren Kirche zeigt, wenn nur seine Lehren mit denen der natürlichen Religion verglichen werden. Seine Religion zielt auf die Herzen der Menschen, lehrt sie, daß die Befolgung des bürgerlichen Gesetzes zwar conditio sine qua non für die Gewinnung göttlichen Wohlgefallens ist, aber dieses erst durch die reine moralische 1 2 3 4 5 6
Lev. XIV, 5. Lev. XVI, 40. l e v . XVI, 40. Vgl. Lev. XV, 35. Religion, VI 158. Vgl. Religion, VI 153f.
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Herzensgesinnung erlangt wird. Die Moral des wohlverstandenen Christentums ist die Moral der Vernunft. Zweitens stellen Hobbes wie Kant den gleichsam performativen Charakter religiöser Rede heraus: Bei Hobbes entbehrt alles das, was wir von Gott sagen können, des deskriptiven Gehalts. Zwar ist dem vernünftigen Wesen die Leugnung der Existenz Gottes nicht möglich, aber alles andere, was wir über Gott sagen, sagen wir nicht, um ihn zu beschreiben, sondern als Ausdruck unserer Verehrung. Im Traktat De Motu (auch: AntiWhite) von etwa 1640 heißt es ausdrücklich, über Gott lasse sich nichts anderes aussagen, als daß er existiere; alles andere gehöre nicht zur Philosophie, sondern diene einzig zur Illustration der Ernsthaftigkeit eigener Ehrbezeugungen.1 - Leibniz liefert die treffende Formel: „Cependant il [Hobbes] parle quelque fois comme si ce qu'on dit de Dieu n'etoit que des complimens, c'est a dire des expressions propre a l'honorer, non pas ä le connoitre."2 Hiermit radikalisiert Hobbes seine Trennung von Erster Philosophie (als einer metaphysica generalis) und Theologie dahingehend, daß die Theologie vollständig aus der Philosophie ausgeschlossen wird, und Gott folglich nicht einmal mehr Gegenstand irgendeiner metaphysica specialis sein kann: „God is no fit subject of our Philosophy."3 Daß Kants gesamtes philosophisches Unternehmen unter dem Vorzeichen steht, der Rede von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit einen semantischen Raum zu verschaffen, in dem diese nicht mit den deskriptiven Urteilen der Naturwissenschaft konfligiert, ist hier sicherlich hinreichend bekannt, so daß ich mich darauf beschränke, den suggestiven Begriff einer .praktisch-dogmatischen Metaphysik'4 aus dem dritten Entwurf zur Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik zu erwähnen. Die genannten Begriffe haben objektive praktische Realität, d.i. sie sind Begriffe von jeweils einem Gegenstand, weil sie in praktischer Absicht unentbehrlich sind. Auch hier gilt: Wer über Gott spricht, tut dies nicht in deskriptiver, sondern einzig in praktischer Absicht. Ein dritter Punkt verdient noch Erwähnung: Für Hobbes wie für Kant ist Religion ein Naturbedürfnis der Menschen qua ihrer spezifischen Vernunftbegabung. Vernunft sucht nach dem Unbedingten. Charakteristisch für den Unterschied beider Positionen ist dabei allerdings, daß beide die Suche nach dem Unbedingten in verschiedene Richtungen durchführen: Für Hobbes ist das religiöse Bedürfnis insofern eine notwendige Begleiterscheinung der menschlichen Vernunftbegabung,5 gleichsam ein Vernunftbedürfnis, als es aus der nie endenden Suche nach Ursachen hervorgeht: „For he that from any effect he seeth come to pass, should reason to the next and immediate cause thereof, and 1 Thomas Hobbes, Critique du ,De Mundo' de Thomas White edited by Jean Jacquot und Harald Whitmore Jones, Paris 1973, Kap. XXXV, 16; siehe auch l e v . XII, 7 und XXXI, 3. 2 Gottfried Wilhelm Leibniz, Essay de Theodicee, Amsterdam 1710, Anhang I, 2. 3 The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury, London 1839-1845. Bd. V, S. 43. 4 Vgl. Immanuel Kant, Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, in: Kant's Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. XX, Berlin 1942, 311. 5 Vgl. Lev. XII, 2f.
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from thence to the cause of that cause, and plunge himself profoundly in the pursuit of causes; shall at last come to this, that there must be (as even the heathen philosophers confessed) one first mover; that is, a first, and an eternal cause of all things; which is that which men mean by the name of God."1 Damit ist der Grund fur die Religion gelegt, und „[The first seeds or principles of religion] can never be so abolished out of humane nature, but that new Religions may againe be made to spring out of them, by the culture of such men, as for such purpose are in reputation."2 Auch bei Kant ist es die Besonderheit der menschlichen Vernunftnatur, die dem Gottesbegriff die geforderte - zwar nur praktische, aber gleichwohl objektive, d.i. verbindliche - Realität verschafft: Zwar gilt das Gebot der Pflichterfüllung kategorisch, d.h. es gilt ohne Rücksicht auf den Erfolg und somit auf irgendeinen Zweck, den der Mensch damit verbinden mag. Allerdings ist es eine „Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen"3, und da dieser Zweck im Falle des Pflichtgesetzes nur das höchste in der Welt mögliche Gut, d.i. die Glückseligkeit in Einstimmung mit der Glückswürdigkeit, sein kann, muß dieses höchste Gut, welches gleichsam am Ende aller praktischen Kausalketten steht, zumindest möglich sein. In der Religionsschrift heißt es, daß die Vernunft mit ihrer Idee des höchsten Gutes „unserem natürlichen Bedürfnis zu allem unserm Thun und Lassen im Ganzen genommen irgendeinen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken abhilft"4. Da aber der Mensch sich nicht als Ursache des höchsten Gutes begreifen kann, führt die Annahme von dessen möglicher Existenz als Wirkung auf den Begriff des allvermögenden, moralischen Wesens eines Weltherrschers, also zum praktischen Postulat Gottes. Wichtig für die Parallele zu Hobbes ist, daß Kant ausdrücklich darauf hinweist, daß es in der besonderen menschlichen Vernunftnatur ^natürliches Bedürfnis') begründet ist, in der Unvermeidlichkeit der Suche nach dem Unbedingten im Reich der Zwecke. Die genannten drei Aspekte können hier genügen, denn man erkennt bereits den Wesenszug, der den Religionsauffassungen Hobbes' und Kants gemeinsam ist: der vollständige Verzicht auf eine philosophische Würdigung der Dimension des Numinosen, des Tremendum und des Faszinosum der Religion (Rudolf Otto), d.i. jener Aspekte der Religion, die beanspruchen, weder im Moralischen aufzugehen, noch der psychologischen Reduktion zugänglich zu sein, sondern unmittelbarer Ausdruck göttlicher Ansprache sein wollen. Aus der Sicht des dogmatischen Theologen ist das freilich ein Mangel, denn er kann sich um den eigentlichen Gegenstand seiner Wissenschaft betrogen fühlen. Doch sowohl für Hobbes wie für Kant ist die Elimination dieser Dimension gerade Resultat der kritischen Analyse des Phänomens Religion. Kant gründet dies 1 Lev. XII, 6.
2 3 4
Lev.
XII, 23.
Religion,V17. Religion,V15.
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epistemologisch auf seine kritische Philosophie und auf eine minutiöse Analyse der Grundlagen des Offenbarungsglaubens. Hobbes greift neben letzteren auf einfache aber prägnante sprachanalytische Mittel zurück. In unnachahmlicher Prägnanz und ohne Rücksicht gegenüber frommer Sentimentalität heißt es etwa: „For to say that God hath spoken to him in the Holy Scripture, is not to say God hath spoken to him immediately, but by mediation of the Prophets, or of the Apostles, or of the Church, in such manner as he speaks to all other Christian men. To say he hath spoken to him in a Dream, is no more then to say he hath dreamt that God spake to him."1 Man hört bei Hobbes und Kant den Savoyardischen Vikar Rousseaus ausrufen: „Toujours des hommes qui me rapportent ce que d'autres hommes ont rapporte. Que d'hommes entre Dieu et moi!"2
III
Differenzen
Die Differenzen zwischen den Konzeptionen Hobbes' und Kants zeigen sich, wenn man auf die Aufgabe sieht, die die Religion in jenem systematischen Umfeld erfüllt, in das sie vom jeweiligen Autor eingebettet wird. Ich möchte das wiederum an einzelnen Punkten illustrieren, in der Hoffnung, daß diese das Bild, welches ich zeichnen möchte, bereits hinreichend deutlich machen. Das Bild ist in aller Kürze das folgende: Bei Kant unterstützt die christliche Religion als Glaube die Politik im Kampf mit der Sinnlichkeit der Bürger, bei Hobbes im Kampf mit deren Vernunft. Das klingt drastisch und bedarf der Erläuterung. Zunächst: Was ist der doktrinale Kernbestand des Christentums, der dieses als Religions-Glauben auszeichnet? Bei Hobbes wie bei Kant ist der äußere Gehorsam gegen die rechtlich-politische Ordnung zentraler Bestandteil des Normenkataloges: „Gehorchet der Obrigkeit (in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet), die Gewalt über euch hat."3 heißt es bei Kant in orthodoxer Anlehnung an Paulus, und auch Hobbes erhebt die Staatsgesetze - sofern sie nur nicht elementaren moralischen Forderungen widersprechen - zu göttlichen Geboten: „in all things not contrary to the Morall Law, (that is to say, to the Law of Nature,) all Subjects are bound to obey that for divine Law, which is declared to be so, by the Lawes of the Commonwealth"4. Der Unterschied zeigt sich in dem, was das christliche Gebot dem hinzufügt. Hobbes Hobbes vertraut nur begrenzt den positiven Bindungskräften der christlichen Religion. Er teilt im Grunde den Optimismus der frühen Neuzeit, daß nämlich das eigentliche Befriedungspotential für die menschliche Gemeinschaft vermittels der Ersetzung von 1 2 3 4
Lev. XXXII, 6. Jean-Jaques Rousseau, Emile, CEuvres completes, Paris 1969, Bd. IV 610. MdS, VI 371. Lev. XXVI, 40.
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(ungezügelten) Leidenschaften durch (rationale) Interessen geschaffen wird.1 Er diagnostiziert ein tiefer liegendes Problem, das der Bürgerkrieg deutlich vor Augen gestellt hat. Die Religion ist weniger ein Instrument der Problem/ös««g als selbst ein politisches Problem: Der religiöse Mensch steht nämlich stets im Spannungsfeld staatlicher und religiöser Verpflichtung, und zwar immer dann, wenn die Religion etwas von ihm fordert, was der weltliche Souverän verbietet. Und angesichts des unendlichen Drohpotentials,2 welches die jenseitigen Strafen im Unterschied zu den bloß endlichen Sanktionen irdischer Souveräne darstellen, ist die Autorität des Leviathan aufs höchste gefährdet, wenn Religion und Politik in Gegensatz zueinander geraten. In gut englischer Tradition wird dieser Konflikt in dem Anspruch des Papstes deutlich, der von englischen Katholiken Loyalität im Kampf gegen die anglikanische Krone fordert. Hier gibt es gemäß Hobbes nur ein Remedium: Die Ansprüche der Religion müssen in einem solchen Maße beschränkt werden, daß sie grundsätzlich nicht mit der weltlichen Macht konfligieren können. Noch drastischer: Es bedarf einer Religion im Staat, um der stets drohenden spirituellen Herausforderung durch die Religion die Spitze zu nehmen. Und genau diese Aufgabe löst paradoxerweise das Christentum. Hobbes' praktisch-religiöse Botschaft im Leviathan ist daher trotz des gewaltigen Textumfanges der Bücher III und IV kurz und prägnant: „The (Unum Necessarium) onely Article of Faith, which the Scripture maketh simply Necessary to Salvation, is this, that JESUS IS THE CHRIST."3 Wer seinen Verstand gebrauchen kann und zudem diese Botschaft in sein Herz eingeschrieben hat, wird ein treuer Bürger des Leviathan sein: Seine grundlegenden ,dispositions' sind geprägt durch die ,moral vertues', d.i. die ,articles of peace found out by reason' (welche ihm von Gott zur Sicherheit eigens noch einmal in die Tafel Moses' geritzt worden sind), und angesichts des hinzukommenden , article of faith' wird er sich in seinem Gehorsam gegenüber den Gesetzen auch und gerade von denjenigen nicht irre machen lassen, die behaupten, der irdische Staat könne oder solle ihm noch mehr bieten als den irdischen Frieden - den der Bürger schließlich hat. „God disposes men to Piety, Justice, Mercy, Truth, Faith, and all manner of Vertue, both Morall, and Intellectuall, by doctrine, example, and by severall occasions, naturall, and ordinary."4
1 Siehe: Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1984. 2 An dieser Stelle sei nur en passant darauf hingewiesen, daß Hobbes das Drohpotential des göttlichen Gesetzgebers in den ersten zwei Teilen des Leviathan praktisch nicht thematisiert. Nur im Abschnitt über den Eid wird die Angst vor „spirits invisible" erwähnt, aber sogleich als unzuverlässiges Mittel zur Stabilisierung weltlicher Ordnung dargestellt {Lev. XV, 3If.). Letztlich geht es Hobbes (ganz anders als etwa Locke) darum, der Angst vor Gott (oder Göttern) in der Rechtsphilosophie keinen bedeutsamen Raum zuzugestehen. 3 Lev. XLIII, 11. 4 Lev. XXXVI, 14.
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Die Bereitschaft, die natürlichen Gesetze zu befolgen, könnte also durchaus unter Christen angesichts der göttlichen Strafandrohung besonders ausgeprägt sein, aber Hobbes selbst scheint diesbezüglich auch seine Zweifel zu haben. Es geht ihm daher auch um etwas gänzlich anderes: Wer hier und jetzt auf Erden, also nach dem Tod des Erlösers und vor dessen Wiederkunft, im Namen Gottes gegen den Staat antritt, der kann - so der Hobbessche Kernsatz der Heiligen Schrift - kein anderer sein als der Antichrist selbst. „Jesus was the Christ" steht bei Hobbes für die einfache Wahrheit, daß man in dieser Welt aus den Armen des Leviathan nur noch in die Fänge des Bösen fliehen kann. In dieser letztgenannten, von Hobbes mehrfach benutzten Imperfekt-Formulierung kommt deutlicher als in dem - biblischen - Satz „Jesus is the Christ"1 zum Ausdruck, daß der Erlöser seine irdische Mission bereits erfüllt hat. Eine andere Formulierung ist: ,Jesus is [!] the Christ, that is to say, He hath [!] redeemed us, and shall come again to give us salvation."2 Es wird daher kein anderer mehr kommen vor dem Ende der Zeiten.3 Während also z.B. die Calvinisten mit Rom in erster Linie einen Dissens über die Art der Königsherrschaft Jesu haben, hat Hobbes mit beiden einen über den Termin des Amtsantritts:4 Er steht am Ende aller Zeiten, bzw. umgekehrt: Die Herrschaft Gottes bedeutet das imaginäre Ende der politischen Phase in der Geschichte der Menschheit, und es liegt gerade nicht an den Menschen, dieses Ende herbeizuführen. Vielmehr haben sie die Zeit bis dorthin mit der Etablierung irdischer Gerechtigkeit auszufüllen: „[...] we are not to renounce our Senses, and Experience; nor (that which is the undoubted Word of God) our naturall Reason. For they are the talents which he hath put into our hands to negotiate, till the coming again of our blessed Saviour; and therefore not to be folded up in the Napkin of an Implicite Faith, but employed in the purchase of Justice, Peace, and true Religion."5 Auf eine göttliche Ordnung der Welt sollen die Menschen zwar hoffen. Sie dürfen aber nicht mit ihr rechnen, denn wenn sie schließlich einmal kommen sollte, so würde dann doch alles anders - was schließlich jeder Christ im Text der Offenbarung nachlesen kann:6 „And he that sat upon the throne said, Behold, I make all things new."
1 etwa Joh. XX,31. 2 Lev. XLII, 13. 3 So etwa Lev. XXXVI, 20; XLII, 88; XLIII, 16; XLIV, 4. 4 Siehe Lev. XLI, 6. 5 Lev. XXXII, 2. 6 Rev. 21.5 (King James Version), vgl. dazu Lev. XXXVIII, 3; siehe ferner etwa Lev. XXXV; XXXVIII, 24 und XLIV: Gott herrschte bereits einmal als König auf dieser Welt, über das Volk Israel vom Vertragsschluß (vermittels seines Stellvertreters Mose) am Berge Sinai bis zur Wahl Sauls als irdischem König; wenn eines Tages - wie es durch die Erlösungstat Jesu verkündet wurde - Gott bzw. der Erlöser als König wiederkommt, wird er über alle Menschen herrschen, d.h. die sterblichen Götter werden weichen.
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Es bedarf im Hobbesschen Commonwealth also unausweichlich der christlichen (oder einer vergleichbaren) Religion, um diejenigen ruhig zu stellen, welche ohne sie in Versuchung geraten könnten, ihre menschliche Vernunft im Namen einer transzendenten Wahrheit zu verraten: Allein eine Religion, welche um der Gerechtigkeit willen die Herrschaft von der Sorge um das Heil befreit, 1 kann dem (oben erwähnten) unauslöschlichen spirituellen Bedürfnis der Menschen den politischen Stachel nehmen - und nur wo das gelingt, hat der Frieden eine Chance. Möglicherweise ist dies eine der tiefsten - und zugleich beunruhigendsten - Einsichten der frühen europäischen Aufklärung. Geradezu prophetisch heißt es im letzten Absatz des Haupttextes: „it is not the Romane Clergy onely, that pretends the Kingdome of God to be of this World"2. Eine Einsicht, deren zeitlose Aktualität erst am Ende des vorigen Jahrhunderts wieder ins Bewußtsein gerückt ist. Die speziell in der deutschen Hobbes-Literatur vielfach erörterte Frage nach dem möglichen Grad der ,Neutralisierung' von Bekenntnisgegensätzen in der Hobbesschen Staatstheorie3 ist damit bei einer korrekten Bestimmung der politischen Funktion des Bekenntnisses leicht zu beantworten: Der Satz ,Jesus is/was the Christ' ist grundsätzlich durch jeden anderen ,article of faith' ersetzbar, der a) dem Menschen eine Erlösungshoffnung gibt, ihm zugleich deutlich macht, daß der Erlösung nur würdig ist, wer b) hier auf Erden durch Gehorsam gegen den Souverän den Frieden befördert und c) die Errichtung des ,Kingdome of God' gefälligst Gott selbst überläßt (mit den in der Literatur bisweilen erwogenen Alternativformeln wie z.B. ,Allah ist groß' wäre aus diesem Grunde für Hobbes überhaupt nichts auszurichten). Hinzu kommt allenfalls, daß die religiösen Lehren auf solche (paganen) doktrinalen Bestandsstücke verzichten sollten, die Angst erzeugen (wie etwa Geister oder Höllenqualen) - Thomas Hobbes brauchte sich über mögliche Alternativen zum Christentum noch keine Gedanken zu machen, denn jene Parteien, die um ihn herum mit der Bibel in der Hand um die Souveränität in den einzelnen Staaten kämpften, sollten sich seiner Überzeugung nach auf den geeigneten ,article' leicht einigen können. Das Problem bestand jedoch - angesichts der modernen Probleme einer internationalen rechtlichen Ordnung möchte man hinzufügen: nur - darin, daß dieser den meisten de facto «icht genügte (daher eben die Notwendigkeit des voluminösen dritten Buchs des Leviathan). Das Reich Gottes kommt bei Hobbes am Ende aller Zeiten. Das ist ganz wörtlich zu verstehen: Es ist noch nicht gekommen und solange es nicht gekommen ist, ist menschliche Politik nötig - und weil es noch nicht gekommen ist, ist menschliche Politik über1 Vgl. Lev. XXXII, 2. 2 Lev. XLVII, 34; Herv. B.L. - Hobbes selbst versichert dem Leser übrigens ausdrücklich, daß er es nicht für erwiesen halte, daß der Papst der Antichrist sei (Lev. XLII, 87) - schließlich ist für ihn das Papsttum ja auch nichts anderes als der Geist des untergegangenen Römischen Weltreiches, welcher gekrönt auf dessen Grab sitzt (Lev. XLVII, 21). 3 Vgl. dazu etwa die Darstellung bei Klaus M. Kodalle: Thomas Hobbes - Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972, 19f.
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haupt erst möglich: Denn nur wenn das unendliche göttliche Belohnungs- und Sanktionspotential nicht in Anschlag gebracht wird, können der endliche Lohn, der dem Bürgerfleiß winkt und die endliche Strafen, mit denen der Leviathan droht, den Bürger zum Gehorsam bewegen. Damit dieses möglich ist, müssen die Menschen ihrerseits die religiöse Überzeugung haben, daß Gott selbst die Einrichtung seines Reiches in die Hand genommen hat, und für diese Gewißheit steht das Opfer jenes Jesus, der der Christus ist. Das Christentum schützt den politischen Raum vor den Ansprüchen der Religion, deren Keim unauslöschlich in der Seele des Menschen angelegt ist. Und dies ist von größter Gefahr, denn - wie bereits oben zitiert: „new Religions may againe be made to spring out of them, by the culture of such men, as for such purpose are in reputation"1. Kant Kant hingegen trennt die Ankunft des Reiches Gottes von der Geschichte. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt - das gilt ja auch bei Hobbes - doch es ist schon da, weil es zeitlos ist. Die zeitliche Abfolge wird ersetzt durch die Kluft von phänomenaler und noumenaler Tugend. Moralische Lauterkeit der Gesinnung und die Mitgliedschaft im ethischen Gemeinwesen des Reiches Gottes ist an keine Zeitbestimmung gebunden, sondern sie setzt eine Revolution der Denkart voraus, die der Einzelne gleichsam zeitlos zu vollziehen hat. Aufgabe der Religion ist die Herzensbindung der Menschen, die Festigung der je individuellen Maxime, das Gute um des Guten willen zu tun, das Pflichtmäßige aus Pflicht, ohne Blick auf die diesseitigen erstrebten oder gefürchteten Folgen des eigenen Tuns. Das Ziel der politischen Geschichte hingegen ist bei Kant eine Republik, in der auch Teufel friedlich leben könnten. Ist nur die Verfassung entsprechend eingerichtet, so lernen wir in der Schrift Zum Ewigen Frieden, dann reichen äußere Motivation und Zwangsanreize allein bereits aus, um das Leben der Bürger in den Bahnen des Gesetzes zu halten. Eine wohleingerichtete Republik von Teufeln wäre äußerlich nicht von einer Engelsrepublik zu unterscheiden (das wird jenen Fürsten ins Stammbuch geschrieben, die unter dem Vorwand der moralischen Inferiorität, d.i. der vorgeblichen Republikunfähigkeit ihrer Untertanen, sich um die Republikanisierung ihrer Staaten drücken).2 Die Gesinnungen der vom Christentum durchdrungenen Bürger wären nun aber nicht teuflisch, ja nicht einmal bloß-tierisch, d.i. von Sinnlichkeit bestimmt, sondern die von Gliedern eines universalen ethischen Gemeinwesens, die das von ihnen Geforderte allein um der Forderung der Pflicht willen tun. Sie handeln „als ein Volk Gottes, und
1 l e v . XII, 23. 2 Dazu Bernd Ludwig: „Will die Natur unwiderstehlich die Republik? Einige Reflexionen anläßlich einer rätselhaften Textpassage in Kants Friedensschrift." Kant Studien 88 (1997), 218-228 und 89 (1998), 80-83.
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BERND LUDWIG
nach Tugendgesetzen"1, nach solchen Gesetzen, die einer äußeren Gesetzgebung nicht bedürftig, ja nicht einmal fähig sind. Christliche Religion beendet die Fehde des guten Prinzips mit dem Bösen im Einzelnen, erhebt diesen aus dem ethischen Naturzustand in den eines ethischen gemeinen Wesens. Dazu bedarf es im Grunde nicht einmal einer irdischen Kirche, denn das ethische gemeine Wesen ist Ausdruck einer Beziehung des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst.2 Die Politik profitiert allenfalls indirekt, indem sie neben den moralischen Politikern3 auch noch tugendhafte Bürger vorfindet. Das virulente Problem des englischen Bürgerkriegs, in dem die Religion immer wieder zum Antagonisten der staatliche Gewalt zu werden drohte und wurde, ist aus dem Horizont der politischen Philosophie Kants entschwunden. Das Böse, das durch die Religion im Zaume gehalten werden soll, ist ein Produkt der Selbstliebe, und Kant wird nicht müde, zu betonen, daß es zwar nicht die Sinnlichkeit selbst sei, durch die der Mensch böse werde. Aber sie ist es indirekt doch insofern, als der böse Mensch die „Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht"4. Auch wenn der Terminus ,Autonomie' in der Religionsschrift nicht auftritt: Aufgabe der - christlichen - Religion bei Kant ist die Ermöglichung der Autonomie des Menschen. Bei Hobbes hat sie eine andere Aufgabe: Die Ermöglichung der Autonomie der Politik - und die unterschiedlichen Antagonisten sind jeweils Heteronomie und Theokratie.
1 Religion, 2
VI 99.
Vgl. Religion, VI 97.
3 Frieden, VIII 372. 4 Religion, VI 36.
OLIVER JELINSKI
Gewißheit und Wahrheit des gesellschaftlichen Glücks Zur Phänomenologie des politischen Geistes
ι Glückseligkeit ist nach der Kritik der reinen Vernunft „die Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive, der Dauer nach)"1. Die Befriedigung der Neigungen der Einzelnen hängt von der Natur und den jeweils anderen Menschen ab. Die Summe der gesamtgesellschaftlich vorhandenen Mittel zur Befriedigung der Neigungen bildet eine materielle Schranke, innerhalb derer die Neigung des einen die des anderen noch weiter einschränken kann. Bleibt die Summe der menschlichen Neigungen unterhalb der Summe der Mittel zu deren Befriedigung, ist Glückseligkeit für alle Menschen möglich2; ist die Summe der Neigungen relativ zu groß, gelingt ihre Befriedigung nicht für alle vollständig. Befriedigt in einer solchen Situation der eine alle seine Neigungen, macht er damit anderen die Befriedigung bestimmter Neigungen unmöglich. Die Neigungen treten in einen Gegensatz. Es droht, was Hobbes in seiner Konstruktion des Naturzustandes in der letzten Konsequenz beschreibt: Wenn „zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie doch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht [...] bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen"3. Wenn keiner der Kontrahenten zurücksteckt, so ist der Gegensatz nur durch Gewalt zu lösen. 1 KrV, Β 834. 2 Dem Verfasser ist durchaus bewußt, daß die Befriedigung von Neigungen nicht allein davon abhängt, ob genügend Material vorhanden ist. Das gilt insbesondere von solchen Neigungen, die Jacques Lacan mit dem Terminus „Verlangen" bezeichnet: „Das Verlangen [...] richtet sich an einen anderen; richtet es sich auch an ein Objekt, so ist dieses unwesentlich für es" (Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1973, 636). Dennoch ist das Material Bedingung der Möglichkeit der Befriedigung von Neigungen überhaupt. 3 Thomas Hobbes, Leviathan, Neuwied/Berlin 1966, 95. Für eine möglichst flüssige Lesbarkeit stehen fremdsprachige Zitate im Text in deutscher Übersetzung. Die notwendig sich ergebenden Sinnverschiebungen sind nach dem Ermessen des Verfassers für den Gegenstand dieses Textes nicht entscheidend.
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Unter diesen Voraussetzungen ist die Befriedigung der Neigungen keines Einzelnen garantiert, weil jeder in dem Streit unterliegen kann. Bei einem gegebenen Stand der Neigungen und einem gegebenen Mangel an Mitteln zu deren Befriedigung gibt es nur eine Möglichkeit, den Einzelnen zumindest teilweise die Befriedigung ihrer Neigungen zu garantieren und somit ihr bestmögliches Überleben zu sichern, nämlich den moralischen Imperativ, den Hobbes gegen den Naturzustand hält: „Jedermann soll [...] auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen fur notwendig hält"1, oder genauer: soweit dies notwendig ist. Daß eine solche Selbstbeschränkung bei einem gegebenen Mangel gesellschaftlich notwendig ist, ist für jeden einsehbar. Daß auch der Einzelne verzichten muß, ist durch technischpraktische Vernunft nicht einzusehen, solange die Einzelnen abstrakt als Einzelne begriffen werden, denen die anderen nur als andere gegenüberstehen.2 Wenn nur genügend Menschen sich beschränken, gelingt das Überleben aller auch, wenn Einzelne sich nicht beschränken. So kann niemand sicher sein, daß genügend andere sich an die Beschränkung halten.3 „Und wegen dieses gegenseitigen Mißtrauens gibt es fur niemanden einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie die Vorbeugung"4, das bedeutet, die Vorteile für sich selbst herauszuholen, von denen der Einzelne befurchten muß, daß sonst andere sie für sich beanspruchten. Momentanes individuelles und dauerhaftes allgemeines Interesse stehen in einem auf dieser Ebene nicht vernünftig aufzuhebenden Widerspruch. Auf dieser Grundlage kann durch technischpraktische Vernunft ein Imperativ des gegenseitigen Verzichtes auf freiwilliger Basis nicht wirklich sein. Daraus schließt Hobbes, daß es eine „sichtbare Gewalt", einen Staat geben muß, „die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge [...] zu binden vermag"5.
1 Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 100. 2 Vom Resultat dieses Textes aus betrachtet, unter der Bedingung einer gesellschaftlich geplanten Arbeitsteilung, stünden die Einzelnen sich nicht nur als Einzelne gegenüber. Die jeweils anderen wären nicht bloß andere, sondern Kooperierende in Erreichung des gesellschaftlichen Zwecks, der dem der Einzelnen nicht einfach nur entgegenstünde. Unter der Bedingung der Reflexion auf eine so gestaltete Totalität wäre die momentane Beschränkung auch für den Einzelnen einzusehen. Vgl. Macpherson: ,,[N]ur eine so unorganische Gesellschaft wie die Marktgesellschaft kann glaubhaft als ein mechanisches System sich selbst bewegender Individuen [oder eben: Einzelner als Einzelner; O.J.] beschrieben werden." (Crawford Β. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt am Main 1967, 96). 3 Vgl. Macpherson: „Die in den Markt einbezogenen Menschen können gut genug rechnen, um zu sehen, daß es von Vorteil für sie ist, wenn alle die Regeln einhalten; aber man kann nicht darauf bauen, daß sich jeder von ihnen diesen Vorteil auf lange Sicht stets vor Augen hält, wenn ihn zugleich ein kurzfristiger Vorteil lockt, wie er ihn von Zeit zu Zeit in der Verletzung der Regeln erblicken mag." (Crawford Β. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, a.a.O., 115). 4 Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 95. 5 Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 131.
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Der Gesellschaftszustand sollte Glückseligkeit versprechen. Ein jeder sollte die Möglichkeit haben, seinen Neigungen nachzugehen, beziehungsweise selbst gewählte Zwecke zu verfolgen. Ein Leben unter Furcht und Gewalt bedeutet das Gegenteil. So stellt sich im Anschluß an Hobbes für Rousseau die Frage, wie „sich eine Form des Zusammenschlusses finden [läßt], die mit aller gemeinen Kraft die Person und die Güter jedes Teilhabers verteidigt und schützt, und durch die jeder, der sich allen anderen anschließt, dennoch nur sich selber gehorcht und ebenso frei bleibt wie zuvor"1. Dieses Ziel erreicht Rousseau nur, indem er zwei unbegründete Annahmen macht: Er nimmt an, „daß die Menschen den Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand über die Kräfte siegen, die jeder Einzelne aufbringt, um sich in diesem Zustand zu erhalten"2. Damit wäre ein momentaner Sieg des Interesses am Gesellschaftszustand, nicht aber eine Aufhebung des Widerspruchs zwischen individuellem und gesellschaftlichem Interesse gesetzt. Der Rückfall in den Naturzustand drohte jederzeit. Es wäre weiterhin das Mißtrauen angebracht, das Hobbes dargestellt hat und hätte wie schon dort zur Folge, daß der Gesellschaftszustand sich vernünftigerweise nicht erhalten ließe, außer durch den Einzelnen äußerliche Gewalt. An dieser Stelle bleibt Rousseau aber nicht stehen, sondern behauptet weiter, daß der Übergang in den bürgerlichen Zustand „im Menschen einen sehr bemerkenswerten Wandel"3 bewirkt, „indem er die Gerechtigkeit anstelle des Instinkts in sein Verhalten setzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit aufprägt, die ihnen zuvor gefehlt hatte"4. Der Einzelne sieht sich im bürgerlichen Zustand nach Rousseau „gezwungen", „seine Vernunft zu befragen, bevor er auf seine Neigungen hört."5 Mit Einfuhrung der bürgerlichen Gesellschaft ergibt es sich nach Rousseau von selbst, daß der Einzelne seine individuelle Bedürftigkeit dem moralischen Imperativ unterordnet. Damit bedarf es nicht mehr des Hobbesschen Mißtrauens und die bürgerliche Gesellschaft kann sich erhalten. Kant dagegen zeigt, daß der Selbstzwang, sich durch seine Vernunft zu bestimmen, zunächst in der bürgerlichen Gesellschaft kein vernünftiger ist, sondern pragmatischer Überlegung und der Furcht vor Strafe und gesellschaftlicher Ächtung entwächst. Nicht die vernünftige Einsicht in das moralische Handeln ist der Grund, daß es der Ausfuhrung der staatlichen Gewalt nicht bedarf, sondern umgekehrt die Angst vor der staatlichen Gewalt der Grund des pflichtgemäßen Verhaltens der Staatsbürger. Eine Gesellschaft, in der die Einzelnen aus Pflicht handeln, das heißt nur sich selbst gehorchend, nicht nur aus technisch-praktischer Vernunft der Pflicht gemäß, das heißt äußerlicher Gewalt gehorchend, ist keineswegs durch die Aufhebung des juridischen Naturzustandes allein zu denken. Um über Hobbes hinauszukommen konstruiert Kant neben 1 2 3 4 5
Jean Jacques Rousseau, Jean Jacques Rousseau, Jean Jacques Rousseau, Jean Jacques Rousseau, Jean Jacques Rousseau,
Vom Gesellschaftsvertrag, Vom Gesellschaftsvertrag, Vom Gesellschaftsvertrag, Vom Gesellschaftsvertrag, Vom Gesellschaftsvertrag,
Frankfurt am Main 1996, 26. a.a.O., 25. a.a.O., 32. a.a.O., 32. a.a.O., 32.
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dem juridischen einen ethischen Naturzustand, durch dessen Überwindung allein die Handlung aus Pflicht gesellschaftliche Wirklichkeit erhalten soll; im Gegensatz zu Rousseaus Idealismus des Selbstzwangs, dessen Genese sich unproblematisch von selbst ergibt. Da nach Kant jeder Mensch das moralische Gesetz in sich hat, muß nach Bettina Stangneth etwas Äußerliches hinzutreten, um den Einzelnen davon abzuhalten, aus Pflicht zu handeln. „Damit aus dem Hang eine Neigung zum Bösen wird, bedarf es eines Auslösers"1. Kant findet den Auslöser in dem Zusammenleben der Menschen. Solange der Mensch allein ist, sind seine Bedürfnisse „nur klein, und sein Gemütszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten"2. Nach Kant leitet sich die Bedürftigkeit, die über „seine an sich genügsame Natur" 3 hinausgeht, aus einer anthropologischen Angst vor Verachtung ab, die sich aktualisiert, wenn der Einzelne mit anderen Menschen zusammentrifft. Diese Angst ist nach Kant kein Problem einer bestimmten Gesellschaft, sondern eines von Menschen überhaupt. Es ist „genug, daß sie [die anderen Menschen; O.J.] da sind, daß sie ihn [den zu Verderbenden; O.J.] umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen"4. Stangneth fuhrt die Angst vor Verachtung im Kantschen Sinne auf ein Argument im ersten Stück der Religionsschrift zurück: „Sobald der Mensch in einer Gemeinschaft lebt, beginnt er sich selbst aus der Perspektive anderer zu betrachten."5 Daher rührt die Neigung, ,jich in der Meinung Anderer einen Werth zu verschaffen"6. Der Einzelne fühlt sich arm, weil er Angst vor der Verachtung durch die anderen hat, die ihn nur anerkennen, wenn er reich ist. Als Tatsache der Beobachtung ist das kaum zu bestreiten. Wohl alle bürgerlichen Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß Fortkommen und Wohlergehen mit Status und öffentlicher Selbstdarstellung zu tun haben. Eine anthropologische Verfaßtheit des Menschen überhaupt aus solcher Empirie zu ziehen, ist nur durch Induktion und damit gar nicht möglich. Mit der Anthropologisierung der Angst vor Verachtung kehrt Kant den Kausalzusammenhang um. In einer Gesellschaft, in der die Konkurrenz die zumindest öffentlichen Umgangsformen der Menschen miteinander bestimmt, ist es für die Sicherung des materiellen Bestehens auf bestmögliche Weise objektiv notwendig, sich selbst durch bestimmte Arten der öffentlichen Selbstdarstellung gegenüber anderen hervorzutun. Diese gesellschaftliche Notwendigkeit fuhrt zu der Angst vor Verachtung. Bei Kant fuhrt umgekehrt die Angst vor Verachtung zu einer Konkurrenz in Statusangelegenheiten. 1 Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft", Würzburg 2000, 123. 2 Religion, VI 93. 3 Religion, VI 94. 4 Religion, VI 94. 5 Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, a.a.O., 124. 6 Religion, VI 27.
Ort von Kants
„Religion
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Dennoch ist in der Angst vor Verachtung eine wichtige Veränderung gegenüber Hobbes angesprochen, die die Möglichkeit birgt, das ethische gemeine Wesen zu errichten. Der Mangel kann besonders in das subjektive Empfinden rücken, wenn dem Empfindenden ein weniger mangelhafter Zustand vor Augen steht. Aus der Beobachtung, daß die Befriedigung der Neigungen des anderen auf einem höheren Niveau möglich ist, erwächst der über bloßen Instinkt hinausgehende bewußte Wunsch, daß sie auch bei ihm selbst möglich sein solle. In Vergleichung mit anderen Menschen fühlt sich der Einzelne arm. Aus dem subjektiven, gefühlten Mangel heraus entspringen Neid, Herrschsucht und Habsucht. Der objektive Mangel ist nur Mangel, wenn er subjektiver Mangel ist. An dieser Stelle kann das ethische Gemeinwesen ansetzen. Sein Zweck ist, wie wiederum Stangneth überzeugend darlegt, die Beförderung der Kultur der Zucht, die Kant in der Kritik der Urteilskraft entwickelt hat. Diese besteht in der „Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen"1. „Die Kultur der Zucht ist damit nicht wie das Sittengesetz selbst gegenüber der Sinnlichkeit bloß negativ, sondern ist ein Akt der Umgestaltung von Neigungen"2. Wenn die Neigungen des Einzelnen nicht über die ihm gegebenen Mittel zur Befriedigung derselben hinausgehen, empfindet er keinen Mangel. Er fühlt sich nicht ungleich mit jemandem, der mehr hat, denn das Mehr begehrt er nicht. Er wird dementsprechend auch nicht versuchen, sich Vorteile gegenüber dem anderen zu verschaffen und weder Neid noch Herrschsucht, noch Habsucht entwickeln. Erscheint der Mangel subjektiv nicht, gibt es keinen Anlaß, der aus dem Hang zum Bösen eine Neigung zum Bösen macht und dem Handeln aus Pflicht steht nichts mehr entgegen. Ein ethisches Gemeinwesen, das eine solche Kultur der Zucht verwirklicht3, hat den Widerspruch der Hobbesschen Lehre überwunden, daß moralisches Handeln nur durch äußere Gewalt möglich ist. Es hat auch das Rousseausche Problem gelöst, den Übergang zu einem Handeln aus Pflicht nicht begründen zu können.
II Die Gewißheit, daß Glück langfristig nur gesellschaftlich zu verwirklichen ist, impliziert sowohl die Philosophie von Hobbes als auch die von Rousseau. Bei Hobbes ist sie enthalten in „dem Ziel und der Absicht [...], für ihre [der Menschen; O.J.] Selbst-
1 KU, V 432. 2 Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, a.a.O., 40. 3 Wie die Kultur der Zucht zu verwirklichen wäre, kann hier nicht gezeigt werden. Die konkrete Realisierung einer solchen Kultur ist aber fur diesen Text auch nicht wesentlich, da sich jede solche Kultur im Folgenden als mangelhaft erweist und so nicht die Lösung darstellt, als die sie an dieser Stelle erscheint.
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erhaltung zu sorgen und ein zufriedenes Leben zu führen" 1 , dem Ziel, das seiner Konstruktion der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt. Die Gewalt, mit der Hobbes bürgerlicher Zustand einzig aufrecht zu erhalten ist, widerspricht dagegen eklatant dem selbstbestimmten Leben und reduziert die Selbstbestimmung darauf, durch Gehorsam der Exekution der Staatsgewalt zu entgehen. Die Wahrheit des Hobbesschen gesellschaftlichen Zustande ist das Gegenteil der Gewißheit, daß er ein zufriedenes Leben ermögliche. Bei Rousseau ist die Gewißheit, daß Glück gesellschaftlich zu verwirklichen ist, enthalten in der Vorstellung, die bürgerliche Gesellschaft ermögliche ein selbstbestimmtes Leben. Rousseaus Idealismus, daß die Neigung automatisch der Vernunft sich unterordne, blamiert sich aber an der Empirie der bürgerlichen Welt. Die Vorstellung des selbstbestimmten Lebens bleibt irreal und hat so keine Wahrheit. Kants ethisches gemeines Wesen dagegen, als verwirklichte Kultur der Zucht, stellt, wenn es denn gelingt, die Wahrheit der Gewißheit dar: Wenn jeder seine Neigungen mäßigt, gibt es keinen Mangel. Alle können ihren Neigungen nachgehen. Glückseligkeit, nur in der Bestimmung, daß alle Neigungen befriedigt sein sollen, wäre so verwirklicht. Glückseligkeit meint aber mehr. Der Begriff der Glückseligkeit enthält die Forderung, Neigungen zu befriedigen, nicht die Forderung, daß das, was nicht befriedigt werden kann, auch nicht als Neigung auftaucht. Während die erste Forderung mit gegebenen Neigungen umzugehen versucht, geht die zweite mit einer gegebenen Menge an Mitteln zur Befriedigung von Neigungen um. Letztere ist eine Umkehrung dessen, was Glückseligkeit bedeuten soll, nämlich daß die Welt den Menschen gemäß werde, nicht, daß die Menschen der Welt gemäß werden. Diese Implikation der Glückseligkeit taucht bei Kant auf in seiner Bestimmung von Kultur überhaupt. Kultur ist die „Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt"2. Dafür ist eine Kultur der Geschicklichkeit notwendig, die Quantität und Qualität der Mittel zur Befriedigung von Neigungen erhöht. Solange Kant aber die Frage behandelt, wie Neid, Herrschsucht und Habsucht überwunden werden können, taucht die Kultur der Geschicklichkeit nicht auf. Daß durch die Produktion der Mittel zur Befriedigung der Neigungen der Mangel überwunden werden könnte, der, wenn er empfunden wird, Neid, Herrschsucht und Habsucht erst hervorbringt, kommt ihm nicht in den Sinn. Das hat seinen Grund darin, wie die Kultur der Geschicklichkeit bei ihm bestimmt ist. Nach Kant ist es Menschen nicht möglich, selbstbewußt einen Fortschritt in der Produktion der Mittel zur Befriedigung ihrer Neigungen zu erwirken, denn „in diesem Gange der menschlichen Angelegenheiten ist ein ganzes Heer von Mühseligkeiten, die den Menschen erwarten"3. Der Fortschritt mache das Leben anstrengender und widerspräche damit den Willen der Einzelnen. Ein den Einzelnen äußerlicher Beweggrund
1 Thomas Hobbes, Leviathan, a.a.O., 131. 2 KU,\A?,\. 3 Idee, VIII 20.
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müsse die Menschen deshalb zu dem Fortschritt zwingen. Dieser äußerliche Beweggrund ist ein „Zweck der Natur", dem sich der einzelne Mensch nicht entziehen kann: „Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und unthätigen Genügsamkeit hinaus sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus der letztern heraus zu ziehen"1. Die Natur bedient sich zu diesem Zweck des Antagonism"2. Nur dadurch, daß Menschen sich gegenseitig zu übertreffen versuchen, werden sie nach Kant fleißig; hinter ihrem Rücken entsteht eine gesamtgesellschaftlich größere Quantität und Qualität an Mitteln zur Befriedigung von Neigungen wie auch ein immer hochwertigeres Arsenal von Mitteln zur Produktion von Mitteln zur Befriedigung von Neigungen. Wenn Fortschritt der Geschicklichkeit nur so zu denken ist, verwundert es nicht, daß Kant ihn außen vor lassen muß, wenn es um das ethische Gemeinwesen oder den Sieg des guten Prinzips über das böse geht. Während Neid, Herrschsucht und Habsucht als Auslöser der Aktualisierung des Hangs zum Bösen durch das ethische Gemeinwesen verhindert werden müssen, machen sie andererseits gerade das Movens des Fortschritts der Kultur der Geschicklichkeit aus. Die Kultur der Geschicklichkeit kann so keinen Anteil an der Verwirklichung eines Zustande haben, in dem kein Mangel gefühlt wird, obwohl sie Voraussetzung eines Fortschritts der Glückseligkeit bleibt. Die Einrichtung eines ethischen Gemeinwesens und der Fortschritt der Kultur der Geschicklichkeit stehen im Widerspruch. Solange Konkurrenz notwendig ist, ist das ethische Gemeinwesen nicht zu errichten, weil Neid, Herrschsucht und Habsucht noch gesellschaftlich notwendig sind. Dementsprechend muß es verschoben werden auf die Zeit, in der „alle Talente [...] entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche [...] eine pathologisch-abgedrungme Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann"3. Muß das ethische Gemeinwesen aber auf unbestimmte Zeit verschoben werden, ist nicht klar, wie schon heute die sichtbare Kirche den Sieg des guten Prinzips vorbereiten soll. Solange Neid, Herrschsucht und Habsucht notwendig sind, kann der „Anfang zur Gründung einer Denkungsart", aufgrund derer die Gesellschaft sich in „ein moralisches Ganze" verwandelt, nicht gemacht werden. Dieses Problem ist auf der Grundlage der Kantischen Argumentation nicht zu lösen.4 1 Idee, VIII 21. 2 Idee, VIII 20. 3 Idee, VIII 21. 4 Daß die Einrichtung eines ethischen Gemeinwesens und die Kultur der Geschicklichkeit in der Kantischen Konstruktion im Widerspruch zueinander stehen, wird von Stangneth übersehen. So kann sie auch - ihres Erachtens mit Kant - eine Konzeption entwickeln, die der Sache nach über Kant hinausgeht: „Es ist für ein Wesen, das sich die Frage nach dem Selbstzweck stellen kann, nicht angemessen, seine Geschicklichkeit nur dann zu entwickeln, wenn die Not oder das zweckrationale Kalkül es dazu zwingt." (Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit, a.a.O., 137) Hinter diese Konzeption fällt sie allerdings sofort wieder zurück: „Erst wenn die Kultur der Geschicklichkeit - und das heißt ebenso der Geschicklichkeit des miteinander Agierens - auch frei, also ohne sinnliche Antriebe
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Ein Fortschritt in der Gegenwart, der bewirkte, daß Neid, Herrschsucht und Habsucht genauso zu überwinden wären wie jeweilige Mängel an Mitteln zur Befriedigung der Neigungen, ist nur denkbar auf der Basis einer selbstbewußt geplanten Organisation der Produktion der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Erst wenn die Produktion zur Befriedigung der Neigungen aller Einzelnen politischer Zweck der Gesellschaft wäre, wäre erneut über aktuell gegebene Mängel nachzudenken, die auch dann nicht auszuschließen sind.1 Glückseligkeit wäre als Zweck zu denken, „zu beliebigen Zwecken überhaupt", die Einzelne jeweils aktuell verfolgen, gesellschaftlich die Mittel herzustellen. Die Befriedigung der Neigungen gesellschaftlich zu realisieren, sowohl extensive als auch intensive als auch protensive, wäre so nicht mehr wie bei Kant als regulative Idee zu denken, die nie oder nur in einer fernen Zukunft zu erreichen ist, sondern als Zweck der Menschen, die Natur als Schranke der Befriedigung von Neigungen jeweils da zu überwinden, wo sie auftritt, durch Produktion von Produktivität zur Produktion der Mittel zur Befriedigung der Neigungen. Erst dann wäre eine neue Stufe des politischen Geistes erreicht, die nicht mehr die Verteilung von Mitteln der Befriedigung der Neigungen sondern ihre Bereitstellung als politischen Zweck begreift.
betrieben wird, erreicht die Gemeinschaft einen anderen Stellenwert." (Ebd., Herv. O.J.) Wie bei Kant geht es nicht darum, die gesellschaftliche Möglichkeit der Befriedigung der Neigungen zu schaffen, sondern bloß darum, Neigungen umzugestalten. 1 Die Einrichtung einer selbstbewußt geplanten Organisation der Produktion ist nicht zu verwechseln mit dem Schlaraffenland. Sie ist aber Voraussetzung für den vernünftigen Umgang mit Problemen, die auf dieser Ebene noch einmal ganz neu zu betrachten sind. Vernünftig ist die Organisation der Produktion, wenn ihr Zweck die Bereitstellung der Mittel zur Befriedigung der Neigungen ist, nicht erst dann, wenn immer jedes Bedürfnis erfüllt wird. „Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist." (Theodor W. Adorno, „Sur l'eau", in Gesammelte Schriften Bd. 4, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1997, 178).
MOSHE ZUCKERMANN
Kants Religionsschrift Überlegungen zu Vernunft und Religion auf dem kurzen Weg mißglückter Säkularisierung
Noch heute, über zweihundert Jahre nach ihrem Erscheinen, kann man sich der Sogwirkung von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft kaum entziehen - freilich erst, wenn man sich ihrer Lektüre unterzieht, was nicht selbstverständlich zu sein scheint, denn es handelt sich um eine Schrift, die innerhalb der weltweiten, voluminösen Kant-Rezeption eine eher stiefmütterliche Behandlung erfahren hat. Der primäre Grund hierfür mag darin liegen, daß das, was von der Aufklärungsphilosophie im Hinblick auf den Stellenwert der Vernunft - als säkularisiertem Gegenentwurf zum traditionellen Deutungsprimat von Religion und Theologie - zu erwarten wäre, von Kant in seinen drei großen Kritiken ohnehin schon geleistet worden ist. Was die Vernunft dem religiösen Aberglauben entgegenzusetzen hätte, wird in diesen Monumentalwerken mit solcher Gründlichkeit positiv, mithin durch die Bestimmung der Vernunft selbst, erörtert und ausgeführt, daß die negative Absetzung der überkommenen Religion von den neuen Perspektiven der Vernunft für überflüssig erachtet werden mag. Und doch - oder gerade deshalb - darf gefragt werden, was Kant letztendlich mit seiner Religionsschrift bezweckt habe. Denn eine Sache ist es, die Religion in ihrer institutionalisierten Empirie, als ein geschichtlich Gewordenes zu hinterfragen; eine ganz andere, das Wesen des Religiösen schlechthin, den Gottesglauben als solchen, kritischer Fragestellung zu unterwerfen. Kants Religionsschrift fügt sich nahtlos in den philosophischen Logos der drei großen Kritiken ein. Dabei gilt es zunächst festzustellen, daß Kant, den in der Kritik der reinen Vernunft bestimmten Vernunftgrenzen folgend, den Gottesglauben, insofern er durch Wissen bewiesen werden soll, aus dem Bereich jeglichen Vernunftdiskurses verweist. Unmöglich ist es bei ihm geworden, etwas mit den Mitteln der theoretischen Vernunft über Freiheit, Unsterblichkeit und Gott zu sagen. Im Grunde wäre damit die Frage der Beziehung zwischen Religion und Vernunft abgehakt: Die bei Descartes, dem großen neuzeitlichen Philosophen der Vernunft, noch deutlich vorherrschende Frage nach der Möglichkeit des rationalen Gottesbeweises, erledigt sich gleichsam bei Kant durch die rigorose Ausgrenzung des Gottesglaubens aus dem Spielfeld reiner Vernunft.
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MOSHE ZUCKERMANN
Nun stellt sich aber heraus, daß Religion somit noch lange nicht aus Kants Philosophie verwiesen ist. Denn zwar können Freiheit, Unsterblichkeit und Gott nicht vernünftig bewiesen werden, aber geglaubt werden können sie - als regulative Ideen - allemal; ja, folgt man der von Kant stringent erörterten praktischen Vernunft, müssen sie sogar geglaubt werden. In dieser Diskrepanz zwischen Wissen und Glauben liegt die Sprengkraft des von Kant in seiner Religionsschrift elaborierten Anliegens. Denn zwar braucht sich der Diskurs der reinen Vernunft nicht um die Frage der Existenz Gottes zu kümmern, aber das heißt mitnichten, daß diese Frage aus dem Bereich philosophischer Erörterung entsorgt worden sei. Für Kant ist ja der Glaube an Gott praktisch schon dadurch gegeben, daß man moralisch handelt. Anders ist konsequentes moralisches Handeln gar nicht erst denkbar, wobei ihm Moral selbst eine zentrale Kategorie ist, und zwar eine, die sogar Vorrang vor der Religion beanspruchen darf, insofern Moral das Ursprüngliche, Religion hingegen lediglich ein Hinzugekommenes ist. Wenn also die menschlichen Pflichten qua Moral bereits im Sittengesetz verankert sind, so ermöglicht uns die Religion, unsere Pflichten als göttliche Gebote zu erkennen, was aber die Religion letztlich darauf reduziert, die sich aus dem Sittengesetz ableitenden Pflichten mit der Aura des Göttlichen abzusegnen. Es mag, so besehen, scheinen, als erwiese sich Religion samt des ihr wesenhaft inhärierenden Gottesglaubens für Kant als geschichtliches Epiphänomen des vorrangigen Sittengesetzes. Das mag auch insofern stimmen, als es Kant um die Dekkung von Religion und Moral zu tun ist. Es stellt sich indes heraus, daß Gott - bei aller Ausgrenzung aus der Vernunftphilosophie - letztlich doch durch die Hintertür in Kants Denken ,zurückkehrt'. Paradigmatisch manifestiert sich dies an dem, was Kant als das Problem der Glückswürdigkeit darstellt. Denn zum einen soll sich der Mensch durch höchste Tugend ultimativer Glückseligkeit würdig erweisen; zum anderen ist aber die reale Fähigkeit des Menschen, diesen Zustand in dieser Welt zu erlangen, von vornherein beschränkt - der Mensch ist eben, was zu diesem Zweck unbedingt erforderlich wäre, kein reines Vernunftwesen, sondern von Natur auch ans Sinnliche gekettet. Es ist nun diese Diskrepanz zwischen dem real möglichen Glück und der rigoros geforderten sittlichen Glückswürdigkeit, mithin dem mit sittlicher Unbedingtheit angestrebten Guten - d.h. also, die unabdingbare Forderung, daß der Mensch danach strebe, sittlich zu sein, bei gleichzeitiger Gewißheit, daß er dafür im diesseitigen Leben kaum je entlohnt' werden könne - , die Kant notwendig zur (letztlich religiösen) Vorstellung eines der sittlichen Persönlichkeit zugute kommenden gerechten Ausgleichs im jenseitigen Leben führt. Anders gesagt: Wenn Kant zum einen das Postulat der Erfüllung sittlicher Pflicht ohne Rücksicht auf irdische Glückseligkeit, mithin der Glückswürdigkeit aufstellt, zum anderen aber auch ein Verlangen der Vernunft nach ausgleichender Gerechtigkeit behauptet, dann kommt er gar nicht umhin, die Lösung des Problems ins Jenseits zu delegieren und in die Hände eines höheren Richters zu legen. Gott kann also nicht vernünftig bewiesen werden, aber er muß vorausgesetzt werden, damit ein Zentral
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anliegen der Vernunft, namentlich die ausgleichende Gerechtigkeit für das im Diesseits unentlohnte sittliche Handeln, überhaupt möglich werde. Man hat es also im Verhältnis von Vernunft und Religion bei Kant mit zweierlei möglichen Sichtweisen zu tun. Denn wenn man von der Assertion ausgeht, daß ein Gesetz dann als göttlich zu gelten hätte, wenn Vernunft und Moral (Sittlichkeit) in ihm zur vollen Deckung gelangt sind, dann kommt es darauf an, wie man diese Assertion liest: Ist es Kant darum zu tun, einen bestimmten Sinn der Heiligen Schrift mit dem, was der Vernunft heilig ist, in Einklang zu bringen? Oder ist er bestrebt, Religion lediglich als Moral auszuweisen, deren philosophische Begründung freilich mit den (säkularen) Mitteln der praktischen Vernunft vollauf geleistet werden kann? Dabei stellt sich nun die Frage: Hat man es hierbei mit einer Entgottung der Religion zu tun - und was wäre das dann für eine Religion? Oder handelt es sich darum, der Religion aufgeklärt auf die Sprünge zu helfen, indem man die in sie eingegangene Moral und das in dieser sedimentierte Sittengesetz ins Begriffsgestell der praktischen Vernunft einmünden läßt und was wäre das dann für ein Gott, der einem solchen Religionsbegriff subsumiert ist? Bei aller Brisanz der erkenntnistheoretischen Fragestellung Kants, kommt man am Ende nicht um die Einsicht herum, daß die von ihm vollführte Reduktion der Religion auf Moral bzw. das Bestreben, Religion vernünftig zu durchdringen (was letztlich aufs Gleiche hinausläuft), den Gottesbegriff zwar nicht mehr Gegenstand einer rein vernünftigen Beweisführung sein lassen können, jedoch - zumindest im Rahmen des praktischen Vernunftdiskurses - mutatis mutandis weiterhin bestehen lassen. So radikal sich Kant als Meisterdenker des autonomen, aufgeklärten Vernunftsubjekts erweist, entledigt er sich nicht des Gottes in seinem Denken, sondern beläßt ihn als eine die Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits stillende Instanz. Die Erörterung der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft läuft nicht auf eine Entgottung der Religion hinaus. Das genau war es aber, worauf die neuzeitliche Aufklärung, die die ,Entzauberung der Welt' und eine zunehmende Säkularisierung vieler Lebensbereiche mit in Gang setzte, tendenziell absah. Kant kann im Hinblick auf diese aufklärungsbeseelte Gesamttendenz als Vorläufer eines epochemachenden Umdenkens und rigoroser Neubewertung von Religion gesehen werden; die radikale Loslösung von ihr sollte indes seinen philosophischen Abkömmlingen vorbehalten bleiben. Denn eine Sache war es, die Bedürfnisse aufklärerischen Vernunftdenkens mit den herkömmlichen Glaubenssätzen der Religion in eine (wie immer kompromißgeschwängerte) ,harmonische' Synthese zu bringen; eine ganz andere, Religion in ihrer Immanenz, zugleich aber auch in ihrer zivilisatorischen Funktion radikal in Frage zu stellen. Zentral war in diesem Zusammenhang die Frage nach der Existenz Gottes. Sie konnte mit Kant, wie dargelegt, aus dem philosophischen Vernunftdiskurs exiliert bzw. kraft des ominösen Begriffs der ,Glückswürdigkeit' durch die philosophische Hintertür wieder eingeschleust werden. Sie konnte auch mit Fichte - Kants Glückswürdigkeits-Begriff samt seiner jenseitigen Implikationen konterkarierend - wieder ins diesseitige Leben transportiert werden,
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indem das Streben nach tugendhafter Vollkommenheit im Sinne des Sittengesetzes selbst als Seligkeit, mithin als Glück nach getaner Pflicht, begriffen wurde, womit sich denn auch ein Gott außerhalb der sittlichen Weltordnung erübrigte. Die lebendige und wirkende moralische Ordnung sei Gott, postulierte Fichte.1 Aber es war erst das Denken Ludwig Feuerbachs, das einen wahrhaft revolutionären Paradigmenwechsel in der Religionskritik herbeiführte, indem er die Religionskritik ihrer idealistischen Grundlage entriß, um sie auf die Basis einer materialistischen Weltsieht zu stellen. Feuerbachs Programm war eindeutig: Der Gegenstand des Menschen sei nichts anderes als sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch denke, mithin gesinnt sei, so sei auch sein Gott; Gott habe mitunter nicht mehr Wert als der Mensch, der ihn denkt. Denn das Bewußtsein Gottes sei das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes - die Selbsterkenntnis des Menschen. Feuerbach begreift also Religion als die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, wobei sein Hauptaugenmerk darauf gerichtet ist, das von der Religion für übernatürlich Ausgegebene auf seine natürlichen Fundamente zurückzuführen. Konkreter: Was die Religion als einen vom Menschen unabhängigen Gott ausgibt, ist Feuerbach zufolge in Wirklichkeit die Natur; die Eigenschaften Gottes müssen demnach als Prädikate der Natur aufgefaßt werden. Feuerbach vollzieht also den bedeutenden Schritt einer Anthropologisierung der Theologie, der zufolge der vermeintliche Gott des Menschen nichts anderes sei als des Menschen vergöttertes Selbst, womit denn der religiöse Glaube und die ihn fundierende Theologie letztlich auf eine - dem Menschen freilich nicht bewußte - Projektion hinausläuft. Der von Feuerbach beeindruckte junge Marx ging in seiner Kritik dessen Ansatzes einen Schritt weiter, indem er zwar zu würdigen wußte, daß Feuerbach das religiöse Wesen in das menschliche aufgelöst habe, im übrigen aber monierte, Feuerbach habe dabei übersehen, daß dieses menschliche Wesen kein „dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum", sondern „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse"3, in denen er lebt, sei. Was von Feuerbach vom Himmel auf die Erde bzw. in die Natur geholt wurde, begreift sich also bei Marx als ein Gesellschaftliches - als das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsform. Rigoros ist somit eine ihrem Wesen nach atheistische Position gegenüber Gott und Religion benannt, die den Menschen in aufklärerischer Absicht des Chimärenhaften seines religiösen Glaubens berauben soll, um ihn mit umso größerer sozialphilosophischer Verve auf die Wirklichkeit seines realen gesellschaftlichen Daseins, dessen er sich zu bemächtigen hätte, zu verweisen. Zugleich ist sich Marx freilich bewußt, daß die postulierte Loslösung von der - ihres illusionären Charakters überführten - Religion alles andere als leicht verlaufen könne. In der wohl berühmtesten Passage seiner Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie heißt es: „Das
1 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 1994. 2 Vgl. hierzu Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, Heidelberg 1979, 95ff. 3 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels-Werke 3, Berlin 1987, 6.
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religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks"1. Marx hebt zum einen die ideologische Dimension von Religion, das was sie zum gewichtigen Faktor des gesellschaftlichen Überbaus und zur Quelle eines transhistorisch perennierenden falschen Bewußtseins werden läßt, hervor, weiß jedoch zum anderen um die sozialen (und mutatis mutandis psychischen) Gründe solch frappanter Wirkmächtigkeit: Sie wird zwar pejorativ ihres betäubenden Charakters bezichtigt, zugleich aber auch, einigermaßen emphathisch, als „Seufzer der bedrängten Kreatur" apostrophiert. Nicht von ungefähr findet sich auch bei Freud die für die Kennzeichnung der Religion herangezogene narkotische Metapher. Er spricht vom „bittersüßen Gift", das dem Menschen von Kindheit an eingeflößt werde, ist sich mithin durchaus der Wirkung solch „süßer" kultureller Intoxikation bewußt. Gleichwohl insistiert er darauf, daß der Mensch den Trost der „religiösen Illusion", von der es heißt, er würde ohne sie kaum fähig sein, die Schwere des Lebens, die grausame Wirklichkeit zu ertragen, entbehren könne. Religion gilt Freud primär als Illusion - eine Illusion ist es aber, die sich wie eine Zivilisationsneurose mit Auswirkungen menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes ausnimmt. Ihre Wirkmächtigkeit manifestiert sich phylogenetisch in einem zwanghaft perpetuierten Kulturprozeß einer archaischen „Wiederbelebung" des von den Söhnen einer primordialen Horde ermordeten Urvaters. Zugleich speist sich dieses kollektive kulturelle Muster jedes Mal aufs neue durch die ontogenetische, individualpsychisch durchlebte Erfahrung des Ödipalkonflikts. Entsprechend hat man sich, Freud zufolge, den Menschen einer von der Religion emanzipierten Gesellschaft, in welcher er „nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge einer gütigen Vorsehung" wäre, als Kind zu denken, „welches das Vaterhaus verlassen hat, in dem es ihm so warm und behaglich war". Aber der Infantilismus, so Freud, sei dazu bestimmt, überwunden zu werden. „Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muß endlich hinaus, ins , feindliche Leben'". Um „Erziehung zur Realität" gehe es.2 Der Ideologiecharakter von Religion bei Marx und ihre Deutung als infantile Illusion bei Freud verhalten sich komplementär, haben mithin eine begriffliche Synthese von großer Relevanz für die Analyse moderner psychopolitischer Prozesse in der Theorie des „autoritären Charakters", wie sie von Denkern der Frankfurter Schule entwickelt wurde,3 erfahren. Die kodierte Einsicht in die wesenhafte Affinität der Emanzipation von religiöser wie von politischer Autorität findet sich bereits bei Heine: Spricht er von Robespierres „regizider Epilepsie", die dem französischen Königtum den Garaus gemacht habe, so gilt ihm Kants Kritik der reinen Vernunft als „das Schwert, womit der 1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW 1, Berlin 1987, 378. 2 Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt am Main 1982, 163ff. 3 Vgl. hierzu: Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1973.
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Deismus [in Deutschland] hingerichtet" worden sei. Freilich weist auch er schon darauf hin, daß Kants Unterscheidung zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft dazu gefuhrt habe, daß er „den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet" habe, durch die praktische - „wie mit einem Zauberstäbchen" wiederbelebt hätte.1 In der Tat muß das aufklärerische Pathos, von dem das Denken Marx' und Freuds deutlich durchweht ist, von Kants Aufklärungsphilosophie des hier erörterten Zusammenhangs von Vernunft und Religion unterschieden werden: Der in der praktischen Vernunft Kants wiederbelebte „Leichnam des Deismus" ist dem rigorosen Atheismus von Marx und Freud (Nietzsche sei in diesem Kontext gleich mit hinzugezählt) endgültig zum Opfer gefallen und tunlichst begraben worden. Aber hat nun die „Entzauberung der Welt" (vor allem der westlichen) - ihre sich nicht nur im philosophischen Diskurs der Moderne niederschlagende Säkularisierung zugleich auch die von ihr postulierte, mit der Loslösung vom traditionellen religiösen Weltbild einhergehende, durch Aufklärung und Revolution forcierte Emanzipation des Menschen gezeitigt? Sind die menschlichen Befreiungsverheißungen von Aufklärung und Moderne allgemeine lebenspraktische Wirklichkeit geworden? Eine eindeutige, sich allzu apodiktisch gebende Antwort hierauf verbietet sich. Denn nicht nur kann kaum bezweifelt werden, daß die Überwindung der religionsdominierten, bis in die frühe Neuzeit reichenden Welt des okzidentalen feudalen Mittelalters eine umwälzende Verbesserung der ökonomischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen des Menschen zur Folge hatte; sondern auch die mittlerweile allzu leichtfertig, ja schnöde abgewunkene Autonomisierung des Einzelmenschen, das legitimierte Hinhorchen auf authentische Individualbedürfnisse können als Kriterium für einen wie immer prekären Fortschrittsbegriff der Moderne in Anschlag gebracht werden. Man erweist kritischem Denken keinen Gefallen damit, daß man kaum bezweifelbare Errungenschaften von der Warte einer modisch-kritischen Selbstinszenierung in Abrede stellt. In einer Welt, in der jährlich Millionen von Kindern in Regionen, die noch gegenwärtig vom fundamentalen Mangel gebeutelt sind, an Hunger, Unterernährung und (heilbaren) Krankheiten sterben, kann die drastische Verminderung von Kindersterblichkeit nicht anders als fortschrittlich gewertet werden - sie ist kein Kinderspiel und gewiß kein Gegenstand ideologischer Grabenkämpfe. Zugleich können aber die Auswirkungen dessen, was Horkheimer und Adorno als Dialektik der Auflclärung apostrophiert und erörtert haben, schlechterdings nicht übersehen werden. Schon in den Anfangssätzen ihrer berühmt gewordenen Schrift erweist sich der zwiespältige Charakter der Aufklärung (und der Moderne) als eine im Zivilisationsprozeß angelegte Gesamttendenz der Verschwisterung von Emanzipation und Herrschaft, von Befreiungs- und Fortschrittspraxis und einem repressiv sich ausbildenden Dasein des Menschen: „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fort-
1 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981, 594f.
in Deutschland,
in: Sämtliche
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schreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt"1. Der auf Max Weber anspielende Begriff der Entzauberung der Welt meint zwar zum einen die Loslösung vom magisch-religiösen Weltbild, bezieht sich aber zum anderen auf die damit einhergehende Rationalisierung des Lebens, wie sie sich seit der frühen Neuzeit (vorwiegend im Westen) herausgebildet hat. Was sich indes noch als ein Moment klassischen aufklärerischen Denkens begreift - die tendenzielle Abschaffung von Gott und Religion als Konstitutivmomente praktischen menschlichen Handelns und die Einsetzung des Vernunftmenschen an ihrer statt - , erscheint hier bereits als ein Problem in sich. Denn hatte noch die Reformation die Individualisierung des Menschen innerhalb der christlichen Religion befördert, mithin einer psychisch fermentierten Anthropologisierung des Einzelmenschen Vorschub geleistet, so erwies sich gerade das Zeitalter der nach und nach sich säkularisierenden Aufklärung, in der die Ideologie des Individuums philosophische und politische Urstände feierte, als Ära einer strukturell forcierten £«rindividualisierung des Menschen: Die Zerschlagung von Absolutismus und Feudalismus und die Heraufkunft des Industriekapitalismus und der mit diesem sich kristallisierenden bürgerlichen Gesellschaftsformation gingen mit neuen Herrschafitsund Repressionsformen einher, manifestierten sich mitunter als Prozesse entfremdeter Vergesellschaftung und anonymisierender Vermassung der Menschen in der unaufhaltsam sich durchsetzenden Moderne. Die bedeutendsten Sozialdenker des 19. Jahrhundert wissen um diese Entwicklung und schauen - teils hoffnungsfroh, teils besorgt, allemal ambivalent - in die immer deutlichere Konturen annehmende Zukunft des anbrechenden neuen Zeitalters: Auguste Comtes Religion der Menschlichkeit, Marxens Entfremdungsparadigma, Dürkheims Anomiephobie samt der sich von dieser ableitenden Solidaritätsanbetung, Webers zunehmendes Mißtrauen gegenüber der Machtzunahme des „eisernen Käfigs" der Bürokratie oder etwa Ferdinand Tönnies' nicht nur analytisch gemeinte Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" - sie alle bezeugen mutatis mutandis das (latente) Unbehagen an bestimmten Entwicklungstendenzen und strukturellen Widersprüchen der angebrochenen neuen Epoche. Was dem jungen Hegel um 1795 noch als Lösung des Freiheitsproblems und der Verwirklichung der ethischen Prinzipien Kants in der neuen Gesellschaft erschien, namentlich die Konstituierung einer ,Volksreligion' als Opposition zur althergebrachten christlichen Dogmatik,2 mußte in der kapitalistischen Entwicklungslogik des nachfolgenden Jahrhunderts nach und nach verkümmern. Die Religion hatte im westlichen Diskurs der Moderne endgültig ausgespielt. Das will indes wohlverstanden sein: Damit ist mitnichten etwas über den Fortbestand religiöser Praxis in den Lebenswelten, auch nichts 1 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd.5, Frankfurt am Main 1987, 25. 2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Die Positivität der christlichen Religion", in: Theologische Jugendschriften (hg. v. Herman Nohl), Tübingen 1907, 139-148.
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über die Aufrechterhaltung ihrer Institutionen gesagt. Aber die ideologische Wirkmächtigkeit, die ihr von Marx und in gewisser Hinsicht auch von Freud zugeschrieben worden war, und die politische Dominanz, die sie zu Hegels Zeit noch beanspruchen durfte, waren ihr allemal abhanden gekommen. Die ersatzreligiöse Funktion des modernen Nationalismus, der Ideologie der Moderne par excellence, sollte sich spätestens im 20. Jahrhundert als wesentlich desaströser auswirken. In Auschwitz findet die von instrumenteller Vernunft und heteronomer Warenlogik, von verdinglichtem Bewußtsein und struktureller Entfremdung, von einer sich im industriell betriebenen und administrativ verwalteten Vernichtungsexzeß entladenden Rassenideologie und antisemitischem Wahn getragene Gesamtentwicklung ihren Kulminationspunkt. Die Entindividualisierung des Einzelmenschen bemächtigt sich selbst noch seines Allerprivatesten - des Todes. „Mit dem Mord an Millionen durch Verwaltung", heißt es bei Adorno, „ist der Tod zu etwas geworden, was so noch nie zu fürchten war. Keine Möglichkeit mehr, daß er in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Übereinstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärmsten, was ihm geblieben war. Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar, muß das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen. Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt".1 Der ,Zivilisationsbruch', als den man die weltgeschichtliche Katastrophe der Shoah bezeichnet hat - Höhepunkt einer gerade in der Moderne und in der Kultursphäre der Aufklärung radikal stattgefundenen Entmenschlichung des Menschen - bezeichnet zugleich auch die Zäsur dessen, was u.a. mit Kants Vernunftphilosophie (samt der ihr verschwisterten Religionsschrift) in Gang gesetzt worden war. Denn nicht nur hat sich in Auschwitz eine (zivilisatorische) Gesamttendenz kulminierend objektiviert, die sich der Vernunft versagt, sondern Vernunft selbst hat im besten Fall nichts gegen diese Tendenz vermocht, im erschreckenderen - als instrumenteile Vernunft in ihr Gegenteiliges umschlagend - das Unsägliche aus sich selbst hervorgebracht. 200 Jahre nach dem Tode des Philosophen ist noch immer nicht ausgemacht, ob seine in aufklärerischer Absicht vorgenommene Religionskritik eine Entgottung der Religion oder eher ihre Reduktion auf Vernunftmoral zum Ziel hatte. Der von dieser markanten philosophischen Unternehmung wehende emanzipatorische Geist jedenfalls hat späterhin, im entscheidenden Moment, versagt. Der nach Auschwitz formulierte neue kategorische Imperativ ist der ohnmächtige Seufzer der bedrängten Philosophie, das Gemüt einer zivilisierten Welt, die den Rückfall in die Barbarei vollzogen hat. Er wendet sich an den Menschen im Stande der Unfreiheit. Nur schwach noch, fahl, scheint die Verheißung der Freiheit selbst.
1 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1982, 355.
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Die Ausnahme Die politische Theologie der Gemeinschaft bei Immanuel Kant und Carl Schmitt „Daß die Welt im Argen liege, ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte"
Die ,Priesterreligion' sieht in jedem neuen Tag den je dunkelsten der Geschichte weltlicher Unglücksherrschaft. In jedem Tag nähert sich ihr die Drohung ihres wohlverdienten Endes. Kants Moral wendet die Klage zurück gegen die Kläger. Ihm ist es die Priesterreligion selbst, die die angeklagte Gegenwart in eben dem beweinenswerten Dunkel hält, das sie denunziert. Sie verlangt die Befolgung der historischen Gebote ihrer ehernen Vergangenheit, nicht ihrer möglichen Zukunft wegen. Als Abfall von der Reinheit ihrer Vergangenheit verkommt die Gegenwart zu ihrem eigenen Ende Kant heftet sein Konzept der Religion fest an diese historisch wirkliche Gegenwart und sucht ihre Realisierung in ihr und aus ihr. Die Rückkehr zum Ursprung der menschlichen Taten ist ihm die zur Naturverfallenheit, zur selbstverschuldeten Unmündigkeit. Kant weigert sich davon auszugehen, daß die Geschichte der Reinheit entsprang, daß der Mensch im Anfang unschuldig gewesen sei. Sein Interesse ist das der Freiheit, und die Reinheit der Vorgeschichte anzunehmen, setzt die Freiheit des Subjekts zum Akzidenz seiner Verfallsgeschichte herab. Die Möglichkeit einer besseren Welt wäre damit nur das Warten, das angewiesen ist auf Heilige, auf Wunder und auf Gnadentum.2 Ihre Religion ist bloßer „Fetischglauben"3 mit dem Zweck der Entlastung von der eigenen Freiheit. Die Möglichkeit der Freiheit ist jedoch für Kant durchaus kein Geheimnis, „ihre Erkenntnis [kann] jedermann mitgetheilt werden"4, was allein unerforschlich bleibt, ist ihr Grund.5 Die Erkenntnis der eigenen Freiheit, von Kant gedacht als die unendliche Annäherung an Gottes Wohlgefallen,6 besteht also weniger darin, sich den Gesetzen von Gottes Natur zu unterwerfen, als vielmehr darin, sich ihnen in der Erkenntnis zu nähern, daß unsere eigenen Vermögen ihr Teil sind. Im Gegensatz zur
1 2 3 4 5 6
Religion, VI 19. Vgl. Religion, VI 19Iff. Religion, VI 179. Religion, VI 138. Religion, VI 138. Vgl. Religion, VI 115ff.
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,Priesterreligion' kann die Religion Kants also eine weltliche Autorität lediglich als ihr Mittel annehmen, nicht aber diese zum Zweck der eigenen Handlung machen. Religion ist hier ebensowenig ,Afterdienst', wie Politik die bloße Organisierung des weltlichen Mangels, sondern beide sind Institutionen, geschaffen um auf die Verwirklichung der Freiheit hinzuführen. Der Zweck der historischen Kirche, der Zweck des weltlichen Staats ist die Abschaffung beider im Gleichklang der Freiheit. Daher ist „alles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht bloß moralisch nimmt [...] Fetischglaube"1. Dieser Fetischglaube, den Kant in seiner Gegenwart als Misere der Religion beklagt, ist historisch in seiner Folge zur Misere des Politischen säkularisiert worden. Die Übernahme der Weltenherrschaft durch die weltliche Herrschaft behielt das Prinzip der Zentralisierung der Verantwortung in einer unabhängigen Entscheidungsinstanz bei, erschuf den Staat als Funktion der Ordnung. Der Staat wurde Selbstzweck der Ordnung. Damit trat er in den historischen Gegensatz zur Freiheit, welchen die ,Priesterreligion' vor ihm eingenommen hat. Carl Schmitt, Theoretiker dieses ,absolut Politischen', bestimmt es, analog der Legitimität im Konzept der ,Priesterreligion', von seiner unüberwindbaren Gewalt her: „Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also richtigerweise nicht als Zwangs- und Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist". Diese zeigt sich Schmitt im „Ausnahmefall"2 am deutlichsten, denn „hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und [...] die Autorität beweist, daß sie, um recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht". Aus der Perspektive der Freiheit ist es hier wieder die Gnade einer außerhalb des eigenen Vermögens angesiedelten Autorität, welche über die Freiheit entscheidet. Freiheit ist somit ausgesetzt. In Schmitts Souverän sind „Voraussetzung wie Inhalt der Kompetenz [...] notwendig unbegrenzt"3, Freiheit demnach nur negativ bestimmt in der Entschei1 Religion, VI 193. 2 Carl Schmitt bestimmt in seiner Schrift Der Begriff des Politischen die Politik von ihrem Ausnahmezustand, dem Krieg, her. Indem er den Krieg als letztes Mittel des Politischen einführt, nicht als sein Ende, schafft er eine Grenze des Politischen, die nicht dort liegt, wo das Politische übergeht in die Willkür. Die Macht zur Willkür wird vielmehr im Begriff des Politischen zum einzigen Maß und zur Definition des Politischen selbst. Als Bedrohung dieses Politischen sieht Schmitt die historische Tendenz zur ,Neutralisierung', die er im 17. Jahrhundert einsetzen sieht. Die ,Neutralisierung' besteht in den historisch sich verändernden Versuchen die von Schmitt als Grundmotiv des Politischen dargestellte Gegenüberstellung von ,Freund und Feind' aufzulösen. Der so erzielte Frieden wäre nach Schmitt das Ende des Politischen selbst. „Würde die pazifistische Gegnerschaft gegen den Krieg so stark, daß sie die Pazifisten gegen die Nicht-Pazifisten in den Krieg treiben könnte, in einen „Krieg gegen den Krieg", so wäre damit bewiesen, daß sie wirklich politische Kraft hat, weil sie stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren. Ist der Wille, den Krieg zu verhindern, so stark, daß er den Krieg selbst nicht mehr scheut, so ist er eben politisches Motiv geworden, d.h. er bejaht, wenn auch nur als extreme Eventualität, den Krieg und sogar den Sinn des Krieges." (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 6. Auflage, Berlin 1996 (im folgenden: Begriff des Politischen), 36f.). 3 Carl Schmitt, Politische Theologie - Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Auflage, Berlin 1996 (im folgenden: Politische Theologie), 14.
Siebente
DIE AUSNAHME
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dungsnot, die sie dem Souverän aufdrängt. In Kants Religion ist die Freiheit der Zweck und die Religion ihr Ausdruck. In Schmitts Politischem ist dessen Herrschaft selbst der Zweck und die Gewalt über die Ausnahme sein einzig unverstellter Ausdruck. Der Ausnahmezustand, welcher Schmitts Welt regiert, befehligt eine Norm, die keiner individuellen Entscheidung zu bedürfen scheint, da die Freiheit von ihr nur dort auftaucht, wo sie der Zentralgewalt erlaubt, ihre allgemeine Gültigkeit auszusetzen. Freiheit bei Schmitt lebt in ihrer stetigen Abschaffung. Schmitts Ausnahmefall ist auch in Kants Religion allgegenwärtig, jedoch ist die Entscheidungsgewalt, die Schmitt dem Souverän allein überträgt, in Kants Religion in jede individuelle Handlung eingebettet. Jede Entscheidung, jede Verwirklichung der Gesinnung realisieren in Kants Aufruf zur Mündigkeit die Entscheidungsgewalt des Subjekts. Seine radikale Freiheit ist Möglichkeit der Emanzipation des Menschen zum Guten, wie auch seiner Entscheidung für den „natürlichen Hang zum Bösen"1. Dieser von Kant attestierte Hang bestimmt den ersten Schritt in die Freiheit negativ. Der Mensch gewinnt die Möglichkeit zum Guten und die Entscheidungsgewalt seiner Handlungen, indem er Mensch wird, indem er nichtnaturgesetzlich, sondern aus Freiheit, nicht zum Wohlgefallen Gottes, sondern gegen diesen seinen Neigungen folgt, seinen Vorteil sucht. Der Hang zum Bösen, mit dem er in die Welt tritt, bestimmt die Möglichkeit zum Guten. Seine negative Freiheit ist Versprechen ihrer positiven Potenz.2 In Schmitts Vorstellung der Gemeinschaft existiert keine Potenz, sondern nur die stetige Reaktion. Die einzig aktive Entscheidung ist die des Souveräns, die Freiheit zu brechen. Schmitts Gemeinschaft ist rein reproduktive Form, diejenige Kants lebt in der Potenz und aus ihr, daher bezeichnet der negative Hang das Vermögen zum Austritt aus dem Sein ins Sollen, zur Bewegung überhaupt. Der Hang jedoch bleibt im endlichen Kampf um sie stetig präsent, denn „die Tat, welche j e d e r z e i t (nicht überhaupt, sondern in jedem Zeitpunkt) mangelhaft ist"3, kann kein „revolutionierter" Geist in eine Gott entsprechende Tat übersetzen. Der Mangel der weltlichen Gesinnung und die stetige Erneuerung ihrer Schuld4 bleiben noch in ihrer Läuterung präsent. Die notwendige Unvollständigkeit der menschlichen Handlung bleibt in der Realisierung der Moral so im Guten wie im Schlechten enthalten. Wie das Subjekt durch seinen Ausgang aus dem bösen Hang den Weg ins absolute Gut aus eigener Kraft verstellt, kann auch der Fortgang zum Guten, den Kant hierin beobachtet, „durch keine menschliche Macht und Anstalt jemals gänzlich aufgehoben werden"5. Sein Ausspruch, der Mensch sei von Natur aus böse, setzt sich daher zusammen aus der negativen Möglichkeit des Hangs und der unumgänglichen Notwendigkeit seiner Wirklichkeit, aus der absoluten Potenz und ihrer notwendig relativen Verwirklichung. 1 2 3 4 5
Religion,V130. Vgl. Religion, VI 44ff. Religion, VI 67. Vgl. Religion, VI 38. Religion, VI 134.
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Der Schritt der Gesinnung in ihre Realisierung ist immer Akt der Freiheit wie Sündenfall zur Unfreiheit, denn die Gesinnung selbst vermittelt die Veränderung vom Guten zum Bösen.1 Soll sie eine wirkliche Veränderung sein, so muß der gute Wille ihr vorangehen und sie bestimmen. Er darf nicht als Akzidenz der Vermittlung entstehen. Der Wille setzt die moralische Freiheit der Gesinnung um und begrenzt mit dieser Entscheidung seine Unendlichkeit. Die begrenzte Unendlichkeit ist das Reich der Freiheit. Auch die historische Religion und der bürgerliche Rechtsstaat sind für Kant daher nur Hilfsmittel der guten Gesinnung, Operationalisierungen, die mit ihren weltlichen Unzulänglichkeiten und deren Folgen umgehen. Die Erkenntnis von deren Ursachen verfolgen beide nicht, denn diese läßt sich „nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen"2. Darin bleibt Kant der Realisierung in der diesseitigen Welt verpflichtet. Der historische Glaube ist notwendig zur Verwirklichung des reinen und vernünftigen, gerade darin, daß er zu seiner eigenen Auflösung strebt. Seine historische Form kommt dem menschlichen „Unvermögen in Erkenntnis sinnlicher Dinge"3 entgegen und stellt die historisch erkennbare Form des „reinen Religionsglaubens"4 dar. Wieder ist es nicht die falsche Welt, sondern der falsche Blick auf sie, welcher der Korrektur bedarf, um die Freiheit in den Blick zu rücken. Das menschliche Unvermögen liegt nach Kant nicht darin, überhaupt das Absolute, welches in der reinen Religion auftritt, zu fassen, sondern es in weltlichem Rahmen zu erfassen. Kant schreibt keine Lehre von einer anderen Welt, sondern eine der Erfüllung der gegenwärtigen aus dem Blick, der sich fest ans höchste Gut heftet. Die Idee des ,Volkes Gottes' ist daher die einer politischen Gemeinschaft, die die Welt nicht unterscheidet nach Handlungssphären, in welche ihre institutionellen Formen sie unterteilen. Diese sind vielmehr Ausdruck, Produkte ihrer Vermögen im Angesicht ihrer historischen Gegenwart. „Wir haben [...] gesehen, daß ein solches gemeines Wesen, als ein Reich Gottes, nur durch Religion von Menschen unternommen, und daß endlich, damit diese öffentlich sei (welches zu einem gemeinen Wesen erfordert wird), jenes in der sinnlichen Form einer Kirche vorgestellt werden könne, deren Anordnung also den Menschen als ein Werk, was ihnen überlassen ist, und von ihnen gefordert werden kann, zu stiften obliegt."5 „Die wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt."6 In Schmitts Blick wird Kants Perspektive der Freiheit zu der wunderbarer Verwaltung. Kants Gottesbegriff ist ihm Ausdruck eines Jahrhunderts, in welchem Gott nur noch als „Parasit der Ethik" auftaucht. Ihm richtet sich ,jedes Wort in der Wortverbindung ,Kritik der reinen Vernunft' - Kritik, rein und Vernunft - [ . . . ] polemisch gegen 1 Vgl. Religion, 2
Religion,
VI 73f.
VI 20.
3 Religion, 4 Religion,
VI 105. VI 105.
5 6
\ 1151. VI 101.
Religion, Religion,
DIE AUSNAHME
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Dogma, Metaphysik und Ontologismus"1. Der Rationalismus, den Schmitt hier versucht in Kant zu verorten, entvölkert dessen Gottesstaat zur wunderbaren Verwaltung, denn dessen Kontraststellung verliert bei ihm den Charakter einer Setzung. Schmitt verfällt in seiner säuberlichen Trennung der Kritik von ihren Folgen dem dezisionistischen Rationalismus, den er Kant unterstellt. Schmitt spaltet das Politische von der Welt, welche es regiert, und versucht es so vor seiner Ökonomisierung zu retten. Die wunderbare Verwaltung realisiert sich in Schmitts Staatsideal2, an das die politische Entscheidung von außen herantritt, nicht als sein Konstituens, sondern als seine Grenze. Kant markieren die historischen Institutionen den Stand des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit, oder, wie in der ,Priesterreligion', deren Hindernis. Schmitt ordnet das Politische nach dessen Hindernissen. Schmitts Begriff des Politischen schließt aus diesem das Ökonomische, das Technische ebenso wie die Kultur aus. Sein Begriff des Politischen verbleibt so bar jeder Realisierungsmöglichkeit und ist allein noch an seinem Ende, dem „Ausnahmezustand"3, zu bestimmen. Wo Kant Handeln als ständige Produktion von Entscheidungen erfaßt, wird diese bei Schmitt aus der Produktion genommen. Statt solcher Produktion auf jeder Ebene der Gesellschaft sieht Schmitt ,das Ökonomische' und trennt so den Zustand der Gegenwart von seinem Entstehen. Die Entscheidung bei Schmitt regiert nicht mehr den Alltag, sondern nur noch die Ausnahme, nicht mehr das Leben, sondern nur noch seine existenzielle Bedrohung. In Kants Begriffen ist Schmitts Politisches daher Wahn, eine „Täuschung, [die] die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichgeltend"4 hält. Kant hofft auf die volle Ausprägung menschlicher Vermögen. Die Institutionen weltlicher Herrschaftsorganisation und weltlicher Gewaltenteilung sollen im Streben nach dem ,höchsten Gut' in ihre eigene Abschaffung übergehen. Schmitt hingegen will die Institution der zentralen Gewalt perpetuieren, damit diese selbst den Zusammenhang, der sie hervorgebracht hat, abschaffen kann. Er zielt nicht auf die Öffentlichwerdung eines gemeinen Wesens, sondern auf die Personifizierung seiner Geschicke in der Entscheidung über den Ausnahmezustand. Das macht Schmitt zu Kants ,Abergläuber'. Er folgt den historischen Absoluta der Gesetze der Gegenwart, statt denen ihres Potentials. Schmitt verschränkt die Historie zu ihrem Ausgang, nicht zu ihrem Ende hin. Ihm bewegt sich der Fortschritt nicht.
1 Begriff des Politischen, 82. 2 „Die politische Einheit ist eben ihrem Wesen nach die maßgebende Einheit, gleichgültig aus welchen Kräften sie ihre letzten psychischen Motive zieht. Sie existiert oder sie existiert nicht. [...] Daß der Staat eine Einheit ist, und zwar die maßgebende Einheit, beruht auf seinem politischen Charakter. Eine pluralistische Theorie ist entweder die Staatstheorie eines durch den Föderalismus sozialer Verbände zur Einheit gelangenden Staates oder aber nur eine Theorie der Auflösung oder Widerlegung des Staates." {Begriff des Politischen, 43f.). 3 Begriff des Politischen, 37f. 4 Religion, VI 167 FN.
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Die Religion vermittelt bei Kant wesentlich den menschlichen Mangel, nicht gottgleich, sondern nur gottähnlich zu sein. Diesen verwaltet sie; da es aber ihr Zweck ist, Gottes Anlage jederzeit in sich aufzufinden, ist sie gleichzeitig der unentwegte Weg zur Wiederauffindung des göttlichen Funkens.1 Im Gegensatz zur ,Priesterreligion', zum , Afterdienst' an Gott, der sich passivisch durchs Leben leidet und dessen Schuldhaftigkeit so perpetuiert, speist sich Kants Religion nicht aus der Verachtung der historischen Gegenwart. Gegen die auch noch in Schmitts Schriften wiederholte Formel, der Mensch sei noch nicht reif für seine Freiheit,2 wendet Kant ein, daß „nach einer solchen Voraussetzung [...] die Freiheit nie eintreten [werde]; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können)."3 Ihm ist die Welt einzig möglicher Ausgangspunkt erkannter Freiheit. Nur aus der Welt ist die wahre Religion herauszuschälen. Kants Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft ist politisch, da sie keine Grenzen der Moral anerkennt, die Erkenntnis der Freiheit Produktion von weltlicher Gesinnung ist, von weltlicher Realisierung, aufbewahrt und verbreitet in weltlichen Institutionen. Die Moral selbst bedarf zwar keines Zwecks, aber die Vernunft, welche sie denkt, muß sich des Ausgangs ihres „Rechthandelns" versichern und das Streben nach dem „höchsten Gut"4 in ihm erkennen können. Wo bei Schmitt die Konstitution der Gegenwartdie der Gewalt besiegelt, ist ebendiese Konstitution bei Kant Verpflichtung auf das Ziel, auf die Handlungsmaxime: „mach das höchste in der Welt mögliche Gut zu deinem Endzweck"5. Die Konstitution der Gegenwart ist daher nicht an sich wichtig, sondern als Nötigung der Aufklärung der eigenen Freiheit. Der Mensch muß „wollen, daß eine Welt überhaupt existiere, weil das moralische Gesetz will, daß das höchste durch uns mögliche Gut bewirkt werde"6. Die allgemeinste Freiheit liegt im bestimmtesten Träger: dem Subjekt. In Schmitts Politischer Theologie erscheint die Form in seiner Anklage des Formalismus der Neukantianer als unterbestimmtes Vakuum. Schmitt setzt an, sie nach ihrer Funktion zu klassifizieren: Erstens, als „transzendentale ,Bedingung' juristischer Erkenntnis; zweitens als eine gleichmäßige, aus wiederholter Übung und fachmäßigem Durchdenken entstehende Regelmäßigkeit, die wegen ihrer Gleichmäßigkeit und Berechenbarkeit übergeht in die dritte, nationalistische' Form, das heißt eine aus den Notwendigkeiten des Verkehrs [...] entstehende, auf Berechenbarkeit gerichtete technische Vervollkommnung, die beherrscht ist von dem Ideal reibungslosen Funktionierens."7 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Religion, VI 112. Vgl. Begriff des Politischen, 75. Religion, VI 188 FN. Religion, VI 5. Religion, VI 7 FN. Religion, VI 6. Politische Theologie, 34.
DIE AUSNAHME
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Schmitt wiederholt hier die Form der Vermittlung des höchsten Guts mit dem geschichtlichen Versuch seiner Erlangung als Formalismus, als Vermittlung ohne Gegenstand, Selbstbeschäftigung der Ordnung. Da er Bezüge nur als Gegensätze denken kann, setzt er der Hülle der Ordnung einen „subjektiven Formbegriff' 1 entgegen, der wiederum die weltliche Herrschaft auf den Punkt ihrer absoluten Dezision zusammenzieht. In seinem subjektiven Formbegriff wird die Form von einer Struktur der Handlung zu einer Absage an ihre Allgemeinheit. Er bezeichnet das persönliche' der politischen Grundsatzentscheidung. Die Person ist bei Kant eine der drei Klassen der Anlagen zum Guten im Menschen, da sie Vernunft und Zurechenbarkeit umschließt und damit als die rechtskräftige politische Vertretung der Menschheit im Subjekt auftritt.2 „Die Idee des moralischen Gesetzes allein mit der davon unzertrennlichen Achtung kann man nicht füglich eine Anlage fur die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellectuell betrachtet)."3 Die Persönlichkeit ist somit bei Kant die Institution prospektiver Freiheit im Subjekt selbst, wo sie bei Schmitt noch als juristisch sich selbst setzende Person und theologisches Muster beurteilt wird. Konsequent kennt Kants Komplex der Moral keine passive Handlung, keine Möglichkeit, der Welt zu konstatieren, sie ginge unter, ohne hierin die eigene Vernunft zu bezweifeln. Die Welt ist das Material, an dem sich der Mensch abarbeitet, den Blick fest ans höchste Gut geheftet. Auf seinem Weg ist er Diener der Kirche, Bürger des Staates, Subjekt weltlicher Ordnung in der „ein jeder Staat [danach] strebt, so lange er einen andern neben sich hat, den er zu bezwingen hoffen darf, sich durch diese Unterwerfung zu vergrößern, und also zur Universalmonarchie, einer Verfassung, darin alle Freiheit und mit ihr (was die Folge derselben ist) Tugend, Geschmack und Wissenschaft erlöschen müßte. Allein dieses Ungeheuer (in welchem die Gesetze allmählig ihre Kraft verlieren), nachdem es alle benachbarte verschlungen hat, löset sich endlich von selbst auf und theilt sich durch Aufruhr und Zwiespalt in viele kleinere Staaten, die, anstatt zu einem Staatenverein [...] zu streben, wiederum ihrerseits jeder dasselbe Spiel von neuem anfangen" 4 . Der Hang zum Bösen, der sich in solchen Gemälden der rein selbstbezogenen Geschichte durchsetzt, kennt bei Kant keine Stabilität. Sein sich widersprechendes Wollen steht dem Fortschritt klar entgegen, denn auch wenn dieser gedacht ist als Verwirklichung aus der Historie, so wäre, Kant zufolge, ihre Verwirklichung letztlich nur in ihrer Abschaffung, nur im Ende materialer Notwendigkeit gegeben. Kant kann Freiheit negativ als die zum Bösen denken. Obwohl jedoch deren Präsenz naturvermittelt ist, kennt seine Freiheit die Vermittlung mit ihrer historischen Grenze nur im Verlauf, nicht im Ergebnis. Die innerhalb der Mangel-Welt zur Freiheit gereichende historische Materie, die im Stoffwechsel mit der Natur produzierte Welt fände in der Realisierung des ,höchsten Guts' ihr Ende. Kant sieht dessen Realisierung auf Er1 2 3 4
Politische Theologie, 35. Vgl. Religion, VI 26. Religion, V128. Religion, VI 34 FN.
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den verunmöglicht. Er denkt das Absolute nicht in seiner weltlichen Realisierung, was für ihn nicht gegen dieses spricht, sondern gegen die Welt, die seinem Absoluten nicht entsprechen kann. Er bleibt beim ans Absolute gehefteten Blick, der die Erfüllung der Freiheit in jedem Schritt verwirklicht, dadurch, daß er das Ende ihres Kampfes gegen das Böse ins Unendliche aufschiebt. Was Kant, wie oben zitiert, als Abgrund des Politischen in der Darstellung des Staatenkampfes der Unvernunft ausgibt, ist in Carl Schmitts Arbeiten der Anfang des Politischen. „Es gibt [...] auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden ,Weltstaat' geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum."1 Die Auflösung, nach der Kant trachtet, das Transzendieren der Weltlichkeit der Freiheit im Ende ihrer Institution, ist bei Schmitt erreichbar, jedoch bleibt es ihm negative Utopie, Menetekel der Herrschaft des Ökonomischen, welches das Politische hierin abschließend verdrängte. Das Ende dieser Feindeswelt ist bei Schmitt, im Gegensatz zu Kant, so keine Perspektive der Freiheit, sondern die Bedrohung des Politischen durch seine Neutralisierung im Ökonomischen. Schmitt sieht in der Entwicklung der westeuropäischen Geistesgeschichte seit Kants Zeiten einen konstanten Verlust des Politischen, der seine Gegenwart in die Herrschaft der Ökonomie stürzt.2 Was Schmitt als Schritte der ,Neutralisierung' nachzeichnet, ist das Verlassen geschichtlicher Orte des Streits. „Das bisherige Zentralgebiet [des politischen Streits, K.St.] wird dadurch neutralisiert, daß es aufhört, Zentralgebiet zu sein, und auf dem Boden des neuen Zentralgebietes hofft man das Minimum an Übereinstimmung und gemeinsamen Prämissen zu finden, das Sicherheit, Evidenz, Verständigung und Frieden ermöglicht."3 Schmitt sieht diese Abkehr von Streitigkeiten jedoch nicht als Wechsel, der von deren Gegenständen selbst ausgeht und eine Veränderung des konkreten historischen Bewußtseins ausdrückt. Die Abkehr ist schlicht Abbruch in der Suche nach Neutralität. Ein Streit kann für Schmitt nicht beendet sein. Es kann keine historische Dynamik geben, denn die Historie seines Politischen ist bestimmt von der direkten Herrschaft, vom Zentralbegriff der Souveränität. Noch den bürgerlichen Staat, mit dem er historisch konfrontiert gewesen ist, denkt Schmitt als unvermittelte Herrschaft. Wo diese wie in der kapitalistischen Organisierung der Welt die Form keines dezisionistischen Machtwortes sondern die einer organisierten Struktur annimmt, kann er sie nicht mehr erkennen. Wo keine Entscheidung als die über den Ausnahmezustand ordnend eingreift, und wo diese gleichzeitig als immer bereits getroffen erscheint, verliert Schmitt das Politische zusehends. Im Sinne Kants jedoch endet hier die Entscheidung
1 Begriff des Politischen, 54. 2 Vgl. Begriff des Politischen, 88. 3 Begriff des Politischen, 54.
DIE AUSNAHME
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nicht, denn da diese in dem einzelnen Akt, der Verantwortung des Subjekts, diese stetig zu kontextualisieren, liegt, bleibt sie unausgesetzt. Die Welt bleibt für Kant Zusammenhang getroffener Entscheidungen, bleibt zurechenbar, wo sie bei Schmitt vom Ökonomischen geleitet erscheint. Die Streitigkeiten, die er nicht mehr erkennen kann, bleiben präsent, wo in Kants Religion die Freiheit Interesse der Ordnung der Welt ist und nicht die Ordnung der Welt einziges Interesse der Freiheit. Abgespalten von den gesellschaftlichen Sphären, die sein Gegenstand sind, wird das Politische bei Schmitt zum ,Priesterstaat', zum Aberglauben an die absolute Entscheidung. Die Anklage, die Kant gegen die ,Priesterreligion' führte, säkularisierte sich mit den Angeklagten. Auch Schmitt sieht die Gegenwart der industrialisierten Zeit als Verfallsform. Jedoch beweint er die Herrschaft des Ökonomischen über das Reich der Politik.1 Eine fremde Macht scheint den Ankläger passiv festzuhalten. Die ,Priesterreligion' sah sich passiv gegenüber einer jenseitig gedachten Macht Gottes, welche erwartet und herbeigewünscht wurde. Schmitt sieht das Politische passiv gegenüber seiner ökonomischen Gegenwart, die Politikum und damit zum Schicksal geworden ist. Schmitt stellt als unwiederbringlichen Verlust des Politischen dar, was die historische Formation des Kapitalismus auszeichnet: den Vorrang der Produktion. Indem das Kapital jeden Bereich des Lebens auf sich reorganisiert hat, ist es zur Vermittlung der Menschen geworden. Gegen Schmitt verdrängt im Kapitalismus jedoch keineswegs die Ökonomie das Politische, sondern letzteres ist Konstituens von ersterer, wenn sie die Bedingungen der Produktion organisiert. Das Erdbeben von Lissabon, das 1755 eine Flut moralischer Überlegungen angestoßen hat, bliebe, so Schmitt, heute theoretisch folgenlos. Ein ökonomischer Zusammenbruch hingegen steigt zum Auslöser philosophischer Reflexion auf.2 Die Natur ist in der ,moralischen Literatur', von der Schmitt hier spricht, noch als prästabile Entität angenommen worden, geordnet, wie noch in Kants Kritiken, vom nicht unfaßbaren, aber doch von der menschlichen Vernunft unerfaßbaren Willen Gottes. Ihre Erschütterung ist daher direkte Befragung des menschlichen Vermögens. Die Natur ist in der kapitalistischen Ökonomie, in welcher Schmitt sein Politisches zu festigen sucht, zu deren Mittel, Material und darin zum Anhängsel der vom Menschen produzierten Maschinerielandschaft geworden. Das Erdbeben trifft die Produktionsstätten, die Wirtschaftskrise jedoch ihren Zusammenhang. Die Produktion des negativen Zusammenhangs, den Kant als Hang zum Bösen in der Gemeinschaft der Menschen ausgemacht hat, hat in Schmitts Formulierung des Politischen gegenüber Kants Zeit eine neue Qualität gewonnen, denn in ihr wird die negative Vermittlung der Subjekte als Zweck der Produktion zementiert. Kants ,Hang zum Bösen' registrierte eine individuelle Tendenz zu einem überindividuellen Hang. Die Entscheidung zum Ausgangspunkt im Bösen bleibt im Hang zwar unausweichlich, aber unausweichlich
1 Vgl. Begriff des Politischen, 88. 2 Vgl. Begriff des Politischen, 85.
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bleibt sie Entscheidung. „Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik."1 Diese Kruste aus ,Afterdienst' ist, mit Kant, nicht der beklagenswerte Zustand der Gegenwart, sondern der falsche Blick auf sie, der seine eigene Freiheit zur Entscheidung abgibt an die übergeordnete Autorität. Kant denkt die allgemeine Freiheit als stetige Entscheidung. Die Radikalität des von ihm gedachten Potentials liegt darin, daß es seinen Anspruch an die Welt und deren Subjekt stellt. „Die Scheidung der Guten von den Bösen, die während der Fortschritte der Kirche zu ihrer Vollkommenheit diesem Zwecke nicht zuträglich gewesen sein würde (indem die Vermischung beider untereinander gerade dazu nöthig war, theils um den erstem zum Wetzstein der Tugend zu dienen, theils um die andern durch ihr Beispiel vom Bösen abzuziehen), wird nach vollendeter Errichtung des göttlichen Staats als die letzte Folge derselben vorgestellt; wo noch der letzte Beweis seiner Festigkeit, als Macht betrachtet, sein Sieg über alle äußere Feinde, die eben sowohl auch als in einem Staate (dem Höllenstaat) betrachtet werden, hinzugefügt wird, womit dann alles Erdenleben ein Ende hat, indem „der letzte Feind (der guten Menschen), der Tod, aufgehoben wird", und an beiden Theilen, dem einen zum Heil, dem andern zum Verderben, Unsterblichkeit anhebt, die Form einer Kirche selbst aufgelöset wird, der Statthalter auf Erden mit den zu ihm als Himmelsbürger erhobenen Menschen in eine Klasse tritt, und so Gott alles in allem ist."2 Der Zweck in Schmitts Politik des Aberglaubens ist es, diese Feinde zu suchen, sein Politisches besteht aus dem Kampf mit ihnen.3 Wo Schmitt den Feind bekämpft wissen will, gilt Kants Kritik dem Feindschaftsverhältnis. Seine Freiheit ist nicht die Unfreiheit des Anderen, sondern dessen Antizipation.
1 Politische Theologie, 21. 2 Religion, VI 134. 3 Vgl. Begriff des Politischen, 73.
Religion im Zusammenhang der praktischen Philosophie Kants
CLAUS DIERKSMEIER
Zum Status des religiösen Symbols bei Kant
Ob der Kantischen Religionstheorie eine Relevanz für heutiges Denken zukommt, hängt wesentlich davon ab, inwiefern die zentralen Inhalte jener Theorie geltungsfähig rekonstruiert werden können. Diese Geltungsfähigkeit ihrerseits steht in direktem Zusammenhang mit der Frage, welchen epistemischen Status religiöse Symbole fur Kant besitzen. Wie vertragen sich die in der Religionsschrift gebrauchten transzendenten Sprachfiguren mit Kants transzendentalem Programm? Widersprechen sie ihm, sind sie für es gleichgültig oder ergänzen sie es sinnvoll? Nur im letzteren Fall, so ist zu vermuten, macht es Sinn, von Kants Theorie religiöser Symbole einen Beitrag mit gegenwärtiger systematischer Relevanz zu erwarten. Um diese Fragestellung konzentriert zu bearbeiten, werde ich auf eine Thematisierung des Gottesbegriffs in Kants Philosophie verzichten, indem ich sehr deutlich die Trennungslinie zwischen philosophischer Theologie einerseits und Philosophie der Religion andererseits betone;1 und das obschon Kant zum Thema des theoretischen Gottesbegriffs durchaus einiges zu sagen hat.2 Um aber meine Ausführungen, welche allein der Religionsphilosophie gewidmet und mithin von fundamentalmetaphysischen Fragen ganz abgekoppelt sein sollen,3 nicht mit derartigen Themen zu belasten, orientiere ich mich zentral am Kantischen Gebrauch des Christus-Gedankens. Denn die Art und Weise, wie Kant die christologische Zwei-Naturenlehre, also das Theologumenon von Christus als wahrem Mensch und wahrem Gott (vere homo/vere deus) referiert, macht, meine ich, unstrittig deutlich, daß Kant hierbei ganz sicher keine theoretisch-
1 Zu dem hierbei verfolgten Programm ausführlicher: Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/New York 1998. 2 Vgl. Maria H. Chang, Die Einheit der Wirklichkeit. Kants Gotteslehre in metaphysischer Perspektive, Frankfurt am Main 1996·, Gordon E. Michaelson Jr., Kant and the problem of God, Oxford, 1999. 3 Zusammengezogen werden diese Aspekte indes bei Georg Picht, Kants These über das Sein, Frankfurt am Main 1963, 14.
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philosophischen Aussagen machen will.1 Mit anderen Worten: Es ist von vornherein entschieden, daß die Überlegungen betreffs Jesus Christus - anders als jene bezüglich des Gottesbegriffs selbst - allein im Medium der praktischen Philosophie und der Kritik der Urteilskraft ihren systematischen Ort zu finden haben. Und das wiederum ermöglicht es, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Religion und ihrer Symbole abgelöst von der Frage nach der epistemischen Wahrheit des theistischen Gottesbegriffs zu stellen.2 Darum also sogleich mitten in die praktische Philosophie: Gemeinhin wird ja Kants Postulatenlehre als das entscheidende Scharnier zwischen seiner Moral- und Religionsphilosophie angesehen.3 Dabei interpretiert man diese zumeist strategisch; jene, denen es um eine Behauptung des Religiösen im Kantischen Denken zu tun ist, verteidigen die Postulatenlehre - wenngleich zumeist in modifizierter Form;4 jene, denen es um die Eliminierung des Transzendenten aus dem Kantischen Werk geht, bekämpfen sie.5 Ich vertrete, daß die Postulatenlehre recht eigentlich einen Atavismus darstellt, d.h. einen verkümmerten Fortbestand einer auf der Höhe des entfalteten Kantischen Systems nicht mehr erforderlichen Theoriekonstruktion, deren Sinn und Zweck sich allein daraus ergibt, daß zum Zeitpunkt der Niederschrift jenes Theorems, also 1787, das System Kants eben noch nicht vollständig entfaltet war und jener Hilfskonstruktion noch bedurfte. Ich wenigstens kann in der Postulatenlehre allenfalls das als produktiv erkennen, daß sie bereits im Rahmen der praktischen Philosophie in uneigentlicher Rede jene Kommensurabilität von Natur und Freiheit thematisiert, die eigentlich erst Gegenstand der dritten Kritik ist.6 Wenden wir uns von daher unmittelbar der Religionsphilosophie zu: Die für unser Thema zentrale Frage an das Kantische System lautet, ob eine Symbolik der Transzendenz überhaupt im Rahmen einer sich kritisch-transzendental verstehenden Philosophie einen legitimen Platz behaupten kann - Postulatenlehre hin oder her. Läßt sich diese Frage bejahen, so muß man die Topoi jener symbolischen Rede dann nicht mehr eigens über den epistemisch uneigentlichen Status des Postulates rechtfertigen.7 Kann die Frage nur verneint werden, bleiben die Postulate lediglich als fragwürdiges 1 Vgl. Giovanni B. Sala: „Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift", in: Friedo Ricken/Francois Marty, Kant über Religion, Köln 1992, 143-155. 2 Hierzu vgl. Bernhard Reardon, Kant as Philosophical Theologian, Basingstoke u.a. 1988, 62-65, sowie John O'Leary-Hawthorne/Daniel Howard-Snyder, Are believes about God theoretical beliefs? Reflections on Aquinas and Kant, Cambridge 1996. 3 Vgl. exempl. Reiner Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990. 4 Vgl. exempl. Rudolf Langthaler, Kants Ethik als „ System der Zwecke " - Perspektiven einer modifizierten Idee der „moralischen Teleologie" undEthikotheologie, Berlin u.a. 1991, 355ff. 5 Vgl. exempl. Wolfgang Bartuschat, „Was ist kritische Metaphysik?", in: Schlaglichter der Forschung, Hamburg 1994, 144. 6 Dazu ausführlicher: Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion, a.a.O., 29-39. 7 Vgl. Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik - Nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Berlin 1910, 363.
ZUM STATUS DES RELIGIÖSEN SYMBOLS BEI KANT
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Wunschdenken erhalten;1 und dann scheint es konsequent, derlei - Kant mit Kant kritisierend - zurückzuweisen, wie es seinerzeit ja bereits Friedrich Forberg, damit den Jenaer Atheismusstreit anstiftend, getan hat. Um nun zu ermitteln, ob denn die Religion einen systematischen Ort und eine systematische Funktion im Denken Kants hat, ist zu untersuchen, inwiefern die menschliche Vernunft unvollständig aufgefaßt wäre, wenn man es unterließe, das religiöse Denken samt seiner transzendenten Symbolik im Rahmen der zweiten und dritten Vernunftkritik zu thematisieren. Lesen wir dazu Kant von der entfalteten Systematik der Kritik der Urteilskraft her, so finden wir zur Beantwortung dieser Frage ein dichtes Begriffsnetz vor, das sich um die Terme „Symbol" versus „Schema" und „Ideal" versus „Idee" bzw. „Idol" arrangiert. Dem transzendentalen Schema der Erkenntniskritik läßt sich bekanntlich ja kein direktes Äquivalent im Praktischen zuordnen, denn andernfalls müßten wir das Sittliche ja nicht mehr handelnd hervorbringen, sondern es lediglich erkennend aufnehmen und gelten lassen - was nur in eingeschränkter Weise, nämlich als Subsumtion bestimmender Urteilskraft unter dazu eigens spezifizierte „Kategorien der Freiheit" im Rahmen der Rechtsphilosophie Kants stattfindet.3 Sofern das Sittliche aber durch moralische Willensanstrengung erst erzeugt werden muß, hat den kategorischen Richtlinien der praktischen Vernunft vielmehr die reflektierende Urteilskraft mit einem imaginativen Entwurf dessen zur Hand zu gehen, was wir da konkret und plastisch allererst herausbilden sollen. Kant sucht von daher die Gebote des kategorischen Imperativs so zu veranschaulichen, daß er uns etwa veranlaßt, eine Natur vorzustellen, die den Typus des Sittlichen durchgängig als ihr bestimmendes Gesetz darstellt. Dies ist das gemeinsame Motiv, welches die Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegungsschrift mit den Überlegungen zur „Typik der praktischen Urteilskraft" in der Kritik der praktischen Vernunft verbindet. Indes kommen wir so nur auf das objektive Zweckbild des Sittlichen, als einer Natur, die von sich her ganz dem sittlichen Gesetz gehorcht und sich insofern wie ein „Reich der Zwecke" entfaltet oder, religiös gesprochen, als ein Bild vom „Reiche Gottes auf Erden" darbietet.4 Kant hat aber bald herausgefunden, daß dem auch etwas Subjektives beigeordnet werden muß: die Orientierung des Einzelnen an einem sittlich-veredelten Individuum nämlich, genauer: an der zum „Ideal"5 verbildlichten Idee moralischer Vollkommenheit
1 So die Lesart Wolfgang Kerstings, Wohlgeordnete Freiheit - Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt am Main 1993, 86f. 2 Vgl. Claus Dierksmeier, „Kant-Forberg-Fichte", in: Fichtes Entlassung - Der Jenaer Atheismusstreit vor 200 Jahren, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Würzburg 1999, 81-100. 3 Vgl. Monika Sänger, Die kategoriale Systematik in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre", Berlin 1992. 4 Vgl. Yirmiahu Yovel, „The Highest Good and History in Kant's Thought", in: Archiv für Geschichte der Philosophie 54, 1972, 238-283. 5 Religion, VI 61.
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in einer Person. Von jenen Überlegungen der Grundlegungsschrift, die über die Denkbarkeit gewisser Maximenverallgemeinerungen hinaus noch deren Wollbarkeit thematisieren, über Momente der Gesinnungsprüfung in der zweiten Kritik bis hin zum Topos des „Herzenskündigers" im Rahmen der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten spannt sich ein Bogen von Anmerkungen zur ethisch-internen Selbstkommunikation, dessen Abschluß bekanntlich dasjenige religiöse Symbol bildet, an welchem Kant den subjektiven Aspekt der praktisch-unbedingten Selbstbestimmung schließlich dingfest macht: Jesus Christus. Obschon es Kant ersichtlich darauf ankam, seine Philosophie nicht parteilich zugunsten einer bestimmten Religion auszugestalten - wie weit ihm dies gelungen ist, dazu weiter unten - , werden hier doch sehr augenfällig anhand ganz bestimmter christlicher Symbole Themen erörtert, die noch ins Medium der Transzendentalphilosophie gehören. Falls nämlich der innere Zusammenschluß der praktischen Vernunft mit sich selbst nicht zum Abschluß kommt, ohne daß gewisse religiöse Symbole den Handlungs- und Selbstentwurf des Individuums vervollständigen, so muß die philosophische Analyse des Handelns sich auch auf jene Symbole nolens volens einlassen. Die Schwierigkeit jeder Symboltheorie ist, daß sie als Theorie des Symbols schlechthin stets zu allgemein bleibt, um eine erschließende Deutung dieses oder jenes einzelnen Symbols zu leisten. Da jedoch unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Symbole haben, empfiehlt es sich aber auch nicht, die Philosophie allgemein auf bestimmte Symbole und deren Deutungen festzulegen. Umgekehrt aber wird man nicht verstehen, wie - um auf den vorliegenden Fall zu kommen - sich im Menschen schlechthin das ethische Bewußtsein mit inneren und äußeren Widerständen in symbolischer Kommunikation auseinandersetzt, wenn man nicht versteht, wie einen ganz bestimmten Menschen ein ganz bestimmtes religiöses Symbol zur gesteigerten Selbstgewahrwerdung führt.1 Kant macht es nun unübersehbar zur entscheidenden Funktion des religiösen Symbols zu verhindern, daß es zu einem Sinnverlust hinsichtlich der Unbedingtheit in der moralischen Forderung kommt. Man hat Kant mißverstanden insofern man glaubte, an dieser Stelle eine glückseligkeitsorientierte Religionstheorie vorzufinden, die den Sehnsüchten der irdischen Menschen mit himmlischen Paradiesprojektionen begegnet, weil ihnen irdisches Glück ob der Strenge des kategorischen Imperativs leider versagt bleibe.2 Wenngleich Kant bis zuletzt auch manche unglückliche Formulierung gebraucht, die derartigen Deutungen zupaß kommt, und wenngleich sogar derlei Projektionen mit einigen seiner privaten Überzeugungen harmonieren mögen, so zwingt jedoch die Systematik seiner Gedanken weder die Interpretation sittlich-notwendiger 1 Vgl. Paul Tillich, „Recht und Bedeutung religiöser Symbole", in: Die Frage nach dem Unbedingten, Gesammelte Werke Bd. V, Stuttgart 1964,243f. 2 Aufgestuft findet sich diese Lesart bei Emmanuel Hirsch, der sogar annimmt, dies sei nicht ein bedauerlicher Nebeneffekt, sondern vielmehr der insgeheime, den Menschen ihre überirdische Erlösungsbedürftigkeit vor Augen führende, secundum usus des Sittengesetzes bei Kant; vgl. ders., „Luthers Rechtfertigungslehre bei Kant", in: Jahrbuch der Luther-Gesellschaft 1922, 47ff.
ZUM STATUS DES RELIGIÖSEN SYMBOLS BEI KANT
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Glückseligkeitsversagung im Diesseits, noch die Projektion eines Jenseits auf.1 Wohl aber stellt sich ein anderes Problem: Der Begriff des „höchsten Gutes" enthält laut Kritik der praktischen Vernunft in sich die Forderung nach einer mit der Glückswürdigkeit zusammenstimmenden Glückseligkeit der Individuen. In weniger terminologischer Sprache: Es ist nicht nur individuell wünschenswert, sondern sittlich geboten, daß es dem Guten gut gehe bzw. daß jener, der der Glückseligkeit würdig ist, ihr auch teilhaftig werde; mithin macht es eine Teilforderung des kategorischen Imperativs aus, genau darauf hinzuwirken. Situationen, in denen ein Subjekt nun absehen zu können meint, daß just dieser Teilaspekt des Guten sich nicht realisieren lasse, nehmen vielfach die Gestalt ethischer Asymmetrien an.3 Wenn ein Subjekt annehmen muß, daß just die Sittlichkeit der eigenen Motivation es um den moralisch verdienten (!) Seelenfrieden bringt bzw. daß just die Sittlichkeit der eigenen Handlung deren weltliche Vereitlung bewirken werde, so scheint hiermit die klassische rechtfertigende Begründung fur eine Ausnahme von der Anwendung des Gesetzes geliefert zu sein: Es kann doch unmöglich gerecht und gefordert sein, ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben durchzufuhren bzw. einen guten Menschen ins absehbare Unglück zu stürzen! Und gleiches muß doch auch dann gelten, wenn der Handelnde, für den hier gesprochen wird, man selbst ist!? Kant meint demgegenüber, daß hier das Subjekt, indem es die Unbedingtheit des sittlichen Gesetzes und der in ihm angemahnten Symmetrie aus Ethos und Glück in die Logik seiner endlichen Bedingtheiten übersetzt, einer unvermeidlichen und gefährlichen optischen Täuschung unterliegt: Das Unsichtbare, aber Wesentliche des Guten im Selbst und in der Welt schrumpft in der endlichkeitsorientierten Linse des Subjekts gegenüber allem Sichtbaren und Meßbaren zusammen. Das Individuum verliert das Noumenale gegenüber dem Phänomenalen aus dem Blick, es sieht den sittlichen Wald vor lauter sinnlichen Bäumen nicht mehr. Gäbe es im Einzelnen keinerlei authentische Kräfte ethisch-unbedingter Bestandswahrung - und diese gibt es natürlich sehr wohl - , so wäre, was nun von Kant präsentiert wird, in der Tat nichts als ein fauler Trick zur wohlanständigen Selbsttäuschung. Er rät nämlich dazu an, in solchen Fällen die religiöse Brille aufzusetzen und damit die Perspektive von Noumenalität und Phänomenalität wieder zurechtzurücken. Wohlgemerkt: Auch durch die religiöse Brille, eben weil sie eine Brille ist, d.h. eben weil die durch sie zustande kommende Versinnbildlichung eine Übertragung des Noumenalen ins Phänomenale darstellt, kann das Noumenale nicht als solches gesehen werden. Wörtlich genommen ist das religiöse Bild insofern immer Betrug, denn es zeigt etwas, was es so in der Dingwelt nicht gibt; es präsentiert eine Sinnenwelt, die an 1 Andere Ansicht: Ian Hunter, Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modem Germany, Cambridge 2001. 2 Vgl. Paul Guyer, „From a Practical Point of View: Kant's Conception of a Postulate of Pure Practical Reaons", in: ders., Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge 2000, 333-371. 3 Vgl. Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion, a.a.O., 56-61.
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keinem Ort und zu keiner Zeit existiert. Jedoch bedeutet das religiöse Symbol letztlich etwas ganz anderes als das, was es zeichnet. Es deutet, recht verstanden, über sich hinaus.1 In Kants Worten: Der „Herzenskündiger" - christlich gesprochen: Jesus - belehrt uns, daß unser wahres Ich von uns will, daß wir an der reinen Gesinnung auch dann festhalten, wenn sie uns als widersinnig und unverständig erscheint. Nur dann realisieren wir unser wahres, noumenales Ich-an-sich als ein konkretes Ich-fur-uns.2 Und ebenso steht das Bild von der Garantenstellung eines allmächtigen Gottes gegenüber seiner Schöpfung dafür ein, daß die sittliche Handlung - auch entgegen allen vorhersehbaren Widrigkeiten - ihr Ziel erreichen kann und in jedem Falle einen sinnvollen Beitrag zur Errichtung der von ihr beabsichtigten Wirklichkeit sittlicher Freiheit leistet. Beide Male geht es darum, daß die phänomenale Artikulation innerer noumenaler Wahrheit nicht unterbleiben darf, wie vergeblich dieselbe auch dem Betroffenen erscheine. Beide Symbole bestätigen m.a.W. die Sinnhaftigkeit der unbedingten Selbstorientierung gegenüber allen endlichkeitslogischen Kalkülen. Wie gesagt, ohne ein dem zugrundeliegendes authentisches Verlangen des Subjekts nach genau diesem Unbedingten wären die hierbei in Dienst genommenen religiösen Vorstellungen nichts als Priesterbetrug, der die Subjekte um ihre sinnlichen Interesse brächte. Da es aber für Kant das zentrale Faktum des Bewußtseins darstellt, daß die menschliche Freiheit sich selbst ihr unbedingtes Gesetz erteilt, daß sie also ihre sittlichradikale Bindung fernab aller Logeleien und hypothetischen Kalküle tatsächlich will,3 darum können jene religiösen Bildersprachen eben auch anders gedeutet werden; wir können sie als Versinnbildlichungen verstehen, die uns indirekt vor Augen bringen, was uns direkt nie vor Augen ist, da wir gewöhnlich allein das betrachten, was wir vor unseren leiblichen Augen haben. Sie zeigen auf eine Wahrheit in uns selbst hin, welche seltsamerweise erst, indem sie durch symbolische Aneignung zu etwas fir uns wird, uns als an sich bestehend aufgeht. Das bringt uns der Antwort auf die Frage nach dem Status der religiösen Symbole näher. Ein Symbol, das so eminente Indikationsleistungen für die praktische Synthesis des Subjekts mit sich und seiner Welt erbringt, kann einerseits doch wohl kein beliebiges Aposteriori der praktischen Erfahrung darstellen; andererseits aber unterliefe Kant seinen kritischen Ansatz, wenn er bestimmte religiöse Symbole - z.B. die von GottSohn und Gott-Vater - unbeachtlich ihrer historisch-genetischen Kontingenz in den Status eines systemischen Aprioris erhöbe. Was geschieht hier also? Es wird von Kant angesichts konkreter historischer Phänomene etwas über das Noumenon der Religion 1 Vgl. Stephen R. Palmquist, „Kant's critical hermeneutics of prayer" in: The Journal of Religion 10/1997, 584-601. 2 Vgl. Walter Spam, „Kant's Doctrine of Atonement as a Theory of Subjectivity", in: Kant's Philosophy of Religion Reconsidered, hg. v. P. J. Rossi/M. Wreen, Indianapolis, 103-112. 3 Vgl. Philip L. Quinn, „Christian Atonement and Kantian Justification", in: Faith and Philosophy 3 (1986), 440-462.
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mitgeteilt; spezifische religiöse Phänomene interpretierend erschließt sich der Religionsphilosophie der generelle Sinn religiöser Symbolik. Mit einer kleinen Anleihe bei Schelling läßt sich für diesen Vorgang der Term „per posterius"1 in Anschlag bringen: Die apriorisch-allgemeine moralische Idee - subjektiv: der Vollkommenheit der Gesinnung, und objektiv: der Vollkommenheit sittlichen Wirkens in der Welt - konkretisiert sich nur vermittels eines konkreten Ideals {per posterius) zu einer sinnhaften Wirklichkeit des jeweiligen Subjekts. Nur über konkrete symbolische Auseinandersetzung mit sich selbst verwandelt das Individuum das abstrakt-unbedingte An-Sich der moralischen Forderung in ein sinnstiftendes Für-Mich. Daß jenes Ideal es unternimmt, die Unbedingtheit, die der sittlichen Forderung immanent ist, plastisch zu veranschaulichen, bringt natürlich gewisse Schwierigkeiten mit sich. Denn streng genommen überschreitet jene Unbedingtheit alle Möglichkeiten bildlicher Darstellung. Es ist ja allein das Bedingte, das wir durch die Schematik unserer Einbildungskraft zu begreifen wissen. Die sinnliche Darstellung des sittlichen Ideals muß also zwangsläufig im eigentlichen Sinne mißlingen bzw. eine uneigentliche werden; sie hat mit Mitteln der Sinnlichkeit darzustellen, was der Sache und dem Sinn nach nichts Sinnliches ist. Die einzige sinnliche Schablone nun, die überhaupt - wenngleich nur via negationis - über das Endlich-Bedingte hinausweist, ist das Unendliche; das Unendliche wird von daher bevorzugt zum uneigentlichen Bild des Unbedingten, das an sich selbst sinnlich undarstellbar ist.2 Im Beispiel: Das „Reich der Zwecke", visualisiert als ein „Reich Gottes auf Erden", harmonisiert unendliche Handlungsvollzüge miteinander; es stellt eine in Raum und Zeit ohne jede Beschränkung sich entfaltende sittliche Welt vor. Ebenso führt das Bild einer moralisch vollkommenen Person - wie am Christusbeispiel besonders gut deutlich wird - ein nie versagendes moralisches Vermögen vor Augen, eine unendliche Sittlichkeit, eine Moralität, die jedweder Versuchung und gar noch der Selbstaufhebung im Tode trotzt. In transzendenten Bildern liegt, das ist klar, die Gefahr, mißinterpretiert zu werden. Um deutlich zu machen, was ein rechter Umgang mit ihnen sei, unterscheidet Kant in eigenwilliger Termwahl zwischen quantitativer und qualitativer Analogiebildung.3 In der „quantitativen Analogie", die in den Naturwissenschaften beheimatet ist, wird aus dem Analogon direkt auf das gesuchte Eigentliche geschlossen. Wendeten wir ein solches Verhältnis auf die religiösen Symbole an, so würden wir zu Unrecht die in ihnen nur darstellungsweise gebrauchte Unendlichkeit verdinglichen und als Forderung
1 Schelling verwendet denselben in seiner Philosophie der Offenbarung, (in Schelling Werke Bd. XIII, Frankfurt am Main 1997, 129); vgl. Hartmut Rosenau: Die Differenz im christologischen Denken Schellings, Frankfurt am Main 1985, 113. 2 Vgl. Claus Dierksmeier: „Zum Begriff des religiösen Gefühls im Anschluß an Kant", in: Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, 8/2001; Heft 2, 201-218. 3 Vgl. Annemarie Pieper, „Kant und die Methode der Analogie", in: Schönrich, Gerhardt/Kato, Yasushi, Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt am Main 1996, 92-112.
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an uns selbst ausbuchstabieren, unendlich sittlich zu sein, d.h. ganz so wie Jesus bzw. in genau jener Weise sittlich potent zu sein wie ein allmächtiger Gott. Das aber können wir nicht; unbedingte endliche Sittlichkeit ist uns möglich, unendliche nicht. Ein quantitativ-analogischer Gebrauch des Ideals verformt dieses also zu einem gefährlichen Idol, an dem man sich nicht autonom orientiert, sondern vielmehr heteronom zugrunde richtet. Statt dessen veranlaßt uns eine Hermeneutik im Sinne dessen, was Kant „qualitative Analogie" nennt, zu einer kreativen Nachbildung der im Analogon ausgedrückten internen Relationen - in unserem Falle: von Unbedingtheit und Sinnlichkeit. Es geht hierbei also nicht darum, ein Bild abzukopieren, sondern es als Zeichen für etwas zu verstehen, das aus dem Betrachter selbst erzeugt werden muß. Es geht z.B. darum, jenes in Jesus exemplarisch gewordene Verhältnis einer Harmonie von Moralität und Sinnlichkeit als Hinweis auf die sinnliche Vermittlungsbedürftigkeit der eigenen sittlichen Unbedingtheit zu erfassen.1 Nicht das, was Jesus tut, ist zu wiederholen, sondern die Art und Weise, wie er das Sittliche im Sinnlichen bewahrt - im Spannungsfeld von Versuchung und Widerstand, Tod und Leben, Schuld und Vergebung - , ist zu übertragen auf die eigene, je individuelle sinnlich-endliche Existenz.2 Ob dies zutreffend geschieht, darüber belehrt uns als beständiges Regulativ die moralische Idee. Wenn wir uns nämlich berufen glauben, im Auftrag einer Transzendenz das moralische Gesetz in uns zu überschreiten, dann reicht ein Blick auf den kategorischen Imperativ hin, um uns die Verfehltheit solchen Handelns bekanntzugeben - und in eins damit die Quelle jenes vermeintlichen Auftrags zu disqualifizieren. Kant stellt dies am Beispiel Abrahams dar, der glaubt, Gott verlange von ihm, seinen unschuldigen Sohn „wie ein Schaf zu schlachten"3; ein solches Gebot kann keine Unbedingtheit beanspruchen; die Quelle, aus der es stammt, diskreditiert sich damit selbst als nicht-unbedingt; sie repräsentiert mithin kein Ideal, sondern ein Idol. Wer derlei Folge leistet, ehrt nicht Gott, sondern huldigt einem Götzen. Ausdruck wahrer Religiosität ist es daher, einem solchen Gebot nicht zu folgen, sondern es zu verwerfen. - Gleiches läßt sich natürlich hinsichtlich jeglicher Form von vermeintlich transzendent gerechtfertigtem Rechtsbruch bzw. heiligem Krieg sagen. Jenes eigentümliche Verhältnis, daß der verbindliche Inhalt des moralischen Ideals allein die moralische Idee ist, ohne deren stete Kritik das Ideal zum Idol verkommt, während umgekehrt diese Idee wiederum nicht anders individuell angeeignet und gelebt werden kann als anhand eines je spezifisch symbolisierten Ideals, weist den religiösen Symbolen ihren Status sui generis zu. Und dieser Status macht den entscheidenden Unterschied: So läßt sich mit Kant natürlich keine spekulative Christologie betreiben, 1 Daß Kants Religionsphilosophie diese Wendung nimmt und damit die theologische Reflexion gezielt,erdet' bzw. an die diesseitige Lebenswirklichkeit zurückbindet, wird - von Heinrich Heine bis heute - von aller materialistisch ausgerichteten Kantkritik übersehen. 2 Vgl. dazu ausführlich Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion, a.a.O., 85-96. 3 Religion, VI 187.
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die - etwa dem Paulinischen Denken folgend - das Christusgeschehen, namentlich die Auferstehung, zum Apriori aller Philosophie kürte.1 Das macht Kant aber nicht schon umgekehrt zu einem Vertreter bloß allegorischer Religionsdeutungen im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Eine Christologie, die das Christusgeschehen als bloßes Aposteriori einer zuvor schon gänzlich erschlossenen religiösen Vernunft verstände, vermöchte ja in Jesus etwa nichts als eine beliebige Erzählung zu begreifen, deren Botschaft ebenso gut auch durch andere Figuren ausgedrückt werden könnte.2 Eine solche Theoο
riefigur verfehlt indes den Impetus des Kantischen Gedankens. Denn daß es im allgemeinen kontingent ist, welches religiöse Symbol die Funktionen religiöser Symbolik übernimmt, macht die interne Symbolkommunikation des Einzelnen damit noch lange nicht beliebig. Für den, der Unbedingtes im Symbol erfaßt, werden die symbolische Erfahrung und das entsprechende Symbol ebenfalls unbedingt sein. Dies hat Kant durch die eigentümliche Stellung des religiösen Symbols per posterius betont und so die Extreme einer Vergleichgültigung sowie einer Verabsolutierung des religiösen Bildes zugleich vermieden. Die symbolische Religionsphilosophie Kants fuhrt demgegenüber vor, daß sich Religionshermeneutik und Religionskritik aus ein- und derselben Quelle speisen, so daß der Gläubige sein religiöses Symbol nicht anders universalisieren kann als über eine Ausbuchstabierung von dessen normativ-ideellem Gehalt, welcher seinerseits wiederum das notwendige Korrektiv zu den ihn transportierenden religiösen Bildern liefert. Kant reduziert nicht die Religion auf Moralität, indem er den Rekurs auf die moralische Idee zum beständigen Regulativ der Religionspraxis erklärt, bindet sie aber zu ihrem eigenen Wohle an das Sittengesetz zurück.4 Denn so richtet Kant die religiöse Reflexion auf einen Fluchtpunkt aus, den nicht nur jedermann unbeschadet seines jeweiligen kulturellen, historischen und theoretischen Selbstverständnisses teilen kann, sondern der es überdies dem religiösen Menschen ermöglicht, den intendierten Wesenskern seiner Religion trennscharf von dessen kontingenten Einkleidungen zu unterscheiden - eine Konsequenz der Kantischen Religionsphilosophie, die vor allem fur den Dialog der Religionen untereinander sowie mit ihrer sozialen Umwelt, insbesondere dem Staat, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.5 Das Reflektieren auf die 1 Vgl. Johannes Bauer, „Philosophie im Ausgriff auf konkrete Religion. Kants Umgang mit dem Topos ,Orthodoxie'", Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 39 (2), 191-203. Siehe demgegenüber aber Stephen Palmquist, der Kant in Richtung auf einen „critical mysticism" interpretiert; Stephen Palmquist, Kant's Critical Religion, Ashgate 2000, 350ff. 2 Vgl. hierzu das Büchlein von Elizabeth Galbraith, Kant and theology: Was Kant α closet theologian?, San Francisco 1996. 3 Vgl. Vincent McCarthy, „Christus as Chrestus in Rousseau and Kant", in: Kant-Studien 73, 1982, 191-207. 4 Vgl. Stephen Palmquist: „Does Kant reduce religion to morality?", in: Kant-Studien 84, 1992, 129-148. 5 Vgl. Claus Dierksmeier, „Bundesrepublikanisches Staatskirchenrecht aus kantischer Perspektive", in: Rechtstheorie - Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommuni-
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Jeweiligkeit des Je-Meinen und damit auf die Berechtigung der Andersartigkeit der Anderen wird von Kant somit nämlich im Internum der Religion verankert. Genau dann, wenn Religion sich allgemein machen will und begrifflich wird, kann sie nicht umhin zu lernen, daß der Wege zur religiösen Wahrheit so viele sind wie Menschen. Die den Religionen von der Moderne abverlangte wechselseitige Toleranz stellt mithin keine liberale Intoleranz gegenüber der Religion dar,1 sondern kann von Kant her als eine wahrer Religiosität selbst entspringende Forderung aufgewiesen werden. Sie läßt sich darum auch von einzelnen Religionsgemeinschaften nicht konsistent als eine ihrem Glauben äußerliche Beschränkung zurückweisen. Wenn wir unter einem reifen religiösen Menschen jenen verstehen, der zwar entschieden sich dorthin begibt, wohin er sich berufen glaubt, aber daraus dennoch kein höheres Recht gegen andere ableitet, einem anderen Selbstverständnis zu folgen,2 dann läßt sich sagen, daß die kantische Philosophie zu dieser Form mündiger Religiosität, welche sich von religiösem Fundamentalismus wie Indifferentismus gleichermaßen zu unterscheiden weiß, die philosophische Rekonstruktion liefert. Daß Kant die Erörterung der religiösen Symbolik von seiner eigenen, christlichen Warte aus vornimmt, ist in diesem Kontext nicht nur verständlich und verzeihlich, sondern aufgrund der Struktur per posterius religiöser Symbolkommunikation heraus schlicht notwendig. Sinnverstehend kann der Theoretiker nur über Symbole reden, die er sich, als Individuum, das ihrer zur eigenen Selbsterfassung bedurfte, bereits selbst erschlossen hat. Das rechtfertigt indes nicht, daß Kant alle ihm bekannten Religionsgemeinschaften über einen einheitlichen Leisten bricht, an dessen oberstem Maßstrich ein Christentum ganz nach seinem persönlichen Geschmack abgetragen ist.3 Denn der Standpunkt, welcher bezogen sein muß, um zu jenen Urteilen vorzudringen, ist durchaus nicht mehr der Hochsitz der Transzendentalphilosophie, sondern nurmehr das ebenerdige Gesichtsfeld der Lebenswelt des Immanuel Kant. Mit der von Subjekt zu Subjekt einhergehenden Veränderung eben jenes Gesichtsfeldes, so sagt es ja seine eigene Religionstheorie voraus, werden sich zwangsläufig alle daraus resultierenden Perspektiven verändern. Mithin enthält Kants hierarchisierende Systematisierung der Offenbarungsreligionen nicht mehr und nicht weniger als genau dies: religionstypologische Ansichten eines preußischen Literaten im ausgehenden 18. Jahrhundert - ideengeschichtlich sicher interessant, aber nicht zentral für den, der wissen will, was ihm die Religionsphilosophie Kants systematisch zu sagen habe.
kationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts, 30. Band, Heft 1/1999, 110-122. 1 Vgl. James Judd Owen, Religion and the Demise of Liberal Rationalism. The Foundational Crisis of the Separation of Church and State, Chicago/London 2001, 167-169. 2 Vgl. Thomas Rentsch, „Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Hermeneutik", in: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, hg. v. Hans-Joachim Höhn, Frankfurt 1996, 235-264. 3 Vgl. Giovanni B. Sala, „Die Lehre von Jesus Christus", a.a.O., 143.
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Jene übergeordnete Botschaft will in Kants Religionsschrift indes bisweilen untergehen in all den langatmigen Ausführungen über diese oder jene Besonderheit der von Kant behandelten Religionsgemeinschaften. Darum sei noch einmal betont: Sie liegt in der zentralen Einsicht, daß jeder, der seine eigene praktische Unbedingtheit in Augenschein nimmt, dies durch die Brille gewisser Symbole tut, welche ohne individuelle existentielle Betroffenheit leer, ohne regulative moralische Leitideen aber blind und irreführend sind. Der Status des religiösen Symbols per posterius klärt dabei die eigentümliche Spannung auf, die daraus entsteht, daß die menschliche Religiosität ein- und diesselbe in all ihren verschiedenen und einander oft bekämpfenden Formen darstellt. Den Streit der religiösen Phänomene kann daher nachhaltig nur der beharrliche Blick auf das Noumenon der Religion beilegen.1 Eine entsprechende Selbstaufklärung der religiös-symbolischen Kommunikation macht mithin einen wesentlichen Teil der sich ihrer Unbedingtheit vergewissernden kritischen Vernunft aus; eine kritisch betriebene Betrachtung der dabei kommunizierten Symbole gehört also zu jedem ernst betriebenen Versuch, sich am Denken zu orientieren, hinzu.
1 Vgl. Claus Dierksmeier, Das Noumenon Religion, a.a.O., 195ff.
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Sinnstiftung durch Verlebendigung Die Bedeutung der sichtbaren Welt in Kants moralischer Religion1
Emil Fackenheim zufolge machte Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft einen erschreckenden Eindruck auf Kants Sympathisanten der Aufklärung, Schiller und Goethe, wegen seiner Lehre vom radikalen Bösen2. Eine solche Lehre schien uneins mit der Denkungsart der Aufklärung über die prinzipielle Güte der Menschheit und die Möglichkeit ihrer steten Verbesserung, sowie mit Kants eigenen, jetzt kanonischen Schriften zur Moralität Was ist Auflclärung, der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft. In diesen Schriften liegt die Betonung nicht sowohl auf der Freiheit als auf dem ihr inhärenten Guten. In der Religionsschrift hingegen, besonders in deren erstem Teil, verweist Kant nachdrücklich darauf, daß die Freiheit ebensowohl Prinzip des Bösen sei. Fackenheim und eine Reihe Kommentatoren3 haben vor kurzem erklärt, dies sei für Kant nicht etwa eine Abkehr von Maximen der Aufklärung, sondern eine Auflösung des Problems moralischer Zurechenbarkeit und damit zugleich eine Erklärung, wie wir uns aktiv für falsches Handeln entscheiden können. Besonders
1 Ich danke Dr. David Graham, dem Dekan der philosophischen Fakultät der Memorial University Newfoundland, sowie Prof. Günther Mensching, dem Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Hannover für die finanzielle Unterstützung, die mir diesen Vortrag in Hannover ermöglichte. Ich danke Dipl. Sozialwiss. Heiko Vollmann fur die Übersetzung dieses Aufsatzes ins Deutsche. 2 Emil Fackenheim, „Kant and Radical Evil" in Immanuel Kant: Critical Assessments, Vol. III, ed. Ruth Chadwick, London and New York 1992, 259-260. 3 Außer Fackenheim vgl. auch Gordon Michaelson, Fallen Freedom, Cambridge 1990 und Bernard Reardon, Kant as Philosophical Theologian, Totowa, NJ 1988. - Michaelson weist daraufhin, daß es sich bei dieser Wendung zum Kontingenten, Möglichen hier um den Versuch Kants handele, das Moment des moralisch Möglichen mit dem Moment des vom Sittengesetz gebotenen moralisch Notwendigen zu vermitteln. Reardon verweist in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung der Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft. Sogar Michel Despland, der häufig die Unterschiede der Religionsschrift zu den großen Kritiken betont, besonders weil sie die Begeisterung dämpfe, die durch die Schönheit der organischen Welt der Kritik der Urteilskraft hervorgerufen werde, betrachtet die Religionsschrift doch als Fortführung der Hauptgedanken der kritischen Philosophie. Michel Despland, Kant on History and Religion, Montreal and London 1973.
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Fackenheim argumentiert, daß dadurch entscheidende Spannungen und Probleme in den Begriffen der Pflicht und der Zurechenbarkeit gelöst werden, und somit das Konzept des radikalen Bösen eine notwendige Begriffsentwicklung in der Kantschen Moralphilosophie darstellt. Für die Zwecke dieses Aufsatzes werden die Resultate der Religionsschrift in einem anderen Licht gedeutet werden, das ebenfalls ein Gegenbild eröffnet zu dem der Belastung der Freiheit durch das radikale Böse. Wenn die Religionsschrift einerseits die Freiheit weniger strahlend gut erscheinen läßt als zuvor, insbesondere hinsichtlich der Doktrinen des Willens und der Willkür in der Metaphysik der Sitten, so erfüllt sie noch eine andere, damit zusammenhängende Aufgabe. In den früheren kritischen Arbeiten erschien die Freiheit (zumindest auf den ersten Blick) als reine praktische Vernunft selbst und folglich als die Quelle alles Guten. Dem gegenüber erschien die Sinnlichkeit als Quelle des meisten, wenn nicht allen Fehlhandelns, welche die Reinheit der praktischen Vernunft verdarb. Diesem Konzept zufolge, wie Fackenheim hervorhebt, folgt das moralisch Falsche der Unreinheit, das moralisch Gute der Reinheit des Willens. Das Gute ist gleichsam engelhaft, und das Böse ist das Animalische, die Hingabe an sinnliche Neigungen. Jedoch zwischen der Kritik der praktischen Vernunft und der späteren Diskussion über die Religion hatte Kant die Kritik der Urteilskraft geschrieben, eine Arbeit, in der er ein Konzept der Freiheit entwickelte, das mehr auf die Entscheidung des einzelnen Menschen hin orientiert war als auf die reine praktische Vernunft. In dieser Arbeit entwickelt er auch ein Konzept von Sinnlichkeit, das dieser eine humane Rolle in ästhetischer und teleologischer Hinsicht zuweist, und nicht nur eine rein animalische, im unteren Begehrungsvermögen. Folglich finden wir beim Übergang zur Religionsschrift, kaum überraschend, die Freiheit als menschliche Fähigkeit zu entscheiden, als Willkür bestimmt, und dem entsprechend ist die Sinnlichkeit hier nicht als Quelle moralischen Vergehens bestimmt. Es ist nicht unsere Zugehörigkeit zum Reich des Sinnlichen, die (der Möglichkeit nach) zum moralisch Falschen führt, sondern in der Tat unser Vermögen der Freiheit der Willkür. Allerdings ist noch mehr an den Sinnen als dies negative Resultat, daß sie nicht die Quelle des Bösen seien. Die Kritik der Urteilskraft wertete die Bedeutung der Sinnlichkeit innerhalb der Kantschen Architektonik auf, indem sie sie als Vermögen bestimmte, das eine autonome Rolle in Verbindung mit der reflektierenden Urteilskraft zu spielen in der Lage war. In der reflektierenden Urteilskraft erlauben uns die Erfahrungen des Schönen und des Erhabenen einen analogischen, reflektorischen und symbolischen Übergang von der reinen praktischen Vernunft zu sinnlicher Erfahrung. Der Unmittelbarkeit des Gefallens, die das Schöne auslöst, wegen; der Allgemeinheit seines, obzwar bloß subjektiven, Prinzips der Beurteilung wegen; vor allem aber der Übereinstimmung von Freiheit (der Einbildungskraft) und Gesetzmäßigkeit (der angeschauten Objekte) wegen, sowie auf Grund der Interesselosigkeit (des Wohlgefallens) in der Beurteilung ihres Gegenstandes ähnelt die Beurteilung des Schönen für uns derjenigen des Sitt-
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liehen, und daher ist das Schöne ein adäquates Symbol des Sittlichen.1 Der bestirnte Himmel über mir führt mich, auf symbolische Weise, zum moralischen Gesetz in mir. Diese aufgewertete Bedeutung sinnlicher Erfahrung in der Darstellung von Moralität wird fortgeführt in der Religionsschrift. Ich werde im folgenden spezifisch darlegen, daß die vergegenständlichte und sichtbare Moralität der Religionsschrift teleologische und ästhetische Gedankengänge Kants weiterführt, insbesondere in der Diskussion der ,sichtbaren Kirche'. Die sichtbare Kirche nimmt die Welt der Sinne neu in Besitz, würdigt sie, verlebendigt sie, indem sie das ethische Gemeinwesen verkörpert.
I
Ein Versuch, reiner praktischer Vernunft einen ,Sinn' zu geben: Die Typik der reinen praktischen Vernunft
In der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt Kant zuerst die Prinzipien einer übersinnlichen Moralität, um sich dann der Frage nach dem Objekt einer solchen Moralität zuzuwenden. Er fragt, wie die Moralität, welche selbst übersinnlich bestimmt ist und reiner praktischer Vernunft entstammt, praktisch wirken könne in der sinnlichen Welt, welche per definitionem nicht die Bühne sein kann, auf der, weder in unseren Taten noch Absichten, irgend etwas ,rein' vorginge. Das Problem ist also, wie eine übersinnliche Moralität im Reiche des Sinnlichen Gestalt annehmen kann, und es stellt sich in der Typik der reinen praktischen Vernunft. In der ersten Kritik war die Zeit die Quelle der Schemata, die zugleich sinnlich und rein waren und folglich als Mittel zur Darstellung der reinen Verstandesbegriffe in einer alles anderen als reinen Welt dienen konnten. Hier jedoch, in Rücksicht auf die praktische Vernunft, gibt es keine solche Quelle, keinen solchen Schematismus, und so müssen wir uns nach etwas umschauen, was dieselbe Funktion verrichten könnte. Wir benutzen die Form des Verstandes selbst als Quasi-Schema, mit dem das moralische Gesetz zu begreifen ist. Die Form des Verstandes ist selbstverständlich die des Verstandes als Gesetzgeber der Natur (besser bekannt aus der Grundlegung als allgemeine Form der Naturgesetze), und es ist diese Form, die das moralische Gesetz annimmt, um sinnlicher Darstellung fähig zu werden. Demnach bedeutet unbedingt moralisches Handeln in der sinnlichen Welt, unsere Maximen zu betrachten, als seien sie universelle Naturgesetze, Gesetze des Verstandes.
1 Vgl. KU, V 353f.
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II Unsere vernünftigen Tätigkeiten verlebendigen': der Bratenwender, der Automat und das Marionettenspiel der Kritik der praktischen Vernunft Die drei Bilder, die in der zweiten Kritik hervorstechen, sind die des Bratenwenders und des Automaten in der Analytik sowie des Marionettenspiels in der Dialektik. Das Marionettenspiel insbesondere zeigt die entscheidende Rolle einer Art Leben in unserer moralischen Tätigkeit. Dort, in der Dialektik, zeigt Kant die Grenzen unserer Erkenntnis von Gott und der Ewigkeit auf, und fugt dann hinzu, diese Grenzen seien zudem notwendig, um die Autonomie unseres Handelns zu retten. Man nehme an, so argumentiert er, wir könnten tatsächlich, in irgend einer Weise, Gott in seiner ,furchtbaren Majestät' erkennen und seien uns seiner in jedem Augenblick unseres Handelns gewiß. Was daraus folgte, wäre die Reduktion allen moralischen Handelns auf die Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz, und die Bestimmungsgründe unseres Willens hätten nicht länger auch nur den Anschein von Autonomie: „Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das Gebotene getan; weil aber die G e s i n n u n g , aus welcher Handlungen geschehen sollen, durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, der Stachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand, und ä u ß e r l i c h ist, (...) so würden die mehresten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein der Werth der Person und selbst der der Welt in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren. Das Verhalten der Menschen, so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe, würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles g u t g e s t i c u l i r e n , aber in den Figuren doch k e i n L e b e n anzutreffen sein würde."1 So sind die Grenzen der Sinne, obwohl beschränkend für unsere Erkenntnis, zugleich Bedingungen der Möglichkeit lebendigen moralischen Handelns sowie das Feld, in welchem Moralität Gestalt annehmen kann.
III
Schönheit als Symbol der Sittlichkeit: Die wirkliche Verlebendigung der reinen praktischen Vernunft
Der Nachdruck auf die Rolle der Sinnlichkeit im moralischen Leben wird in der Kritik der Urteilskraft explizit, wenn die Moralität hier schließlich nicht bloß eine vernünftige Form empfangt, wie im Typus und seiner verständigen Symbolisierung, sondern in der Schönheit ein tatsächlich sinnliches Symbol erhält:
1 KU, V 147.
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„Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich, indem er die Einbildungskraft sich in ihrer Freiheit als zweckmäßig fur den Verstand bestimmbar vorstellt und sogar an Gegenständen der Sinne auch ohne Sinnenreiz ein freies Wohlgefallen zu finden lehrt."1
Kants Bestimmung der Teleologie vervollständigt dann, in umgekehrter Denkbewegung, dieses Symbol durch die Art und Weise, wie er mittels der Ideen der Gestaltung und der Zweckmäßigkeit die sinnliche Welt beschreibt und organisiert. Indem die Welt und insbesondere die organischen Körper, der regulativen Idee nach, gemäß einer rationalen, gestaltenden Zweckmäßigkeit angeordnet werden, haucht die Teleologie der natürlichen und sinnlichen Welt gleichsam Leben ein. Die Welt, teleologisch beurteilt, hat einen Sinn, und folglich erscheint sie nicht bloß als eine Hintereinanderschaltung von Atomen sondern als ein zweckmäßiges Ganzes, und simuliert so ein lebendiges Ganzes. Freilich ist dies nur eine regulative Idee. Die Erscheinungen der Sinnenwelt, sofern sie gemäß der Idee einer alles durchwaltenden Teleologie betrachtet werden, stellen so zunächst einen symbolischen Zugangsweg zur übersinnlichen Moralität dar - in der analogischen Reflexion auf unsere ästhetische und moralische Erfahrung nämlich. Durch das Postulat des Daseins Gottes als eines moralischen Weltherrschers, welcher die Welt zweckmäßig so eingerichtet habe, daß moralisches Handeln und die kollektive Befriedigung der menschlichen Selbstliebe zugleich möglich seien, verwandelt Kant diese bloß regulative Idee der Zweckmäßigkeit der Natur in eine konstitutive} Aus dieser Perspektive erscheinen dann die schönen Naturgestalten als lebendige Ausdrücke des Intelligiblen, und der bestirnte Himmel über mir gerät zur analogen Manifestation göttlicher Güte wie das moralische Gesetz in mir. Was für die theoretische Erkenntnis nur einen Leitfaden zur gedanklichen Organisation des Materials darstellte, verwandelt sich im Felde des Praktischen in ein reales constituens. In ähnlicher Weise ist die sichtbare Kirche in der Religionsschrift zum einen ein symbolischer Zugangsweg zur Bildung der Idee einer unsichtbaren Kirche - dem ethischen Gemeinwesen in der Idee - und daher zur wahren Religion; zum anderen ist sie der Möglichkeit nach in ihrer historischen Gestalt eine ihrer erscheinenden Gestalten; der Möglichkeit nach, denn dies hängt davon ab, wie wir als Glaubende und moralisch Handelnde diesen connex zwischen der sichtbaren und intelligiblen Welt herstellen, indem wir unsere moralischen Vorstellungen konstitutiv werden lassen in unserer historischen Praxis.
1 KU, Υ 354. 2 Vgl. KpV, V 124ff.
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IV
SUMA RAJIVA
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft: Sinnstiftung durch die sichtbare Kirche
Die lebendige, sinnvolle Zweckmäßigkeit der Teleologie wird in der Idee der sichtbaren Kirche als Ausdruck der moralischen Religion reproduziert. Für Kant ist die wahrhafte Religion die universelle moralische Religion; unterschiedliche Glauben sind lediglich erscheinende Gestalten dieser moralischen Religion, ganz so wie die unterschiedlichen empirischen Kirchen. Die sichtbare Kirche als solche ist das ästhetische Ideal einer erscheinenden Kirche oder eines solchen Glaubens, insofern sie den Punkt symbolisiert, an dem die Mannigfaltigkeit kultischer Rituale und statutarischer Regeln zum Ausdrucksmittel der moralischen Religion wird. Die Glaubensverrichtungen werden dann Gestalten, in denen die Vernunftreligion sinnlich wird, zumindest in der symbolischen und analogischen Weise, in der dies im Typus der reinen praktischen Vernunft und in der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit intendiert war. In diesem Sinne ist die sichtbare Kirche „eine continuirliche Annäherung zu derjenigen alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche [...], die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reiches Gottes auf Erden ausmacht."1
V
Verlebendigung des sinnlichen Handelns: Das radikale Böse und die sichtbare Kirche
In seiner Diskussion des radikalen Bösen stellt Kant klar, daß das Böse nicht in irgendeiner gegebenen Handlung als solcher liegt, sondern, wie zu erwarten, im Verhältnis der Maximen der Handlungen des Einzelnen. Ferner folgt das Böse nicht dem Vorhandensein sinnlicher Antriebe als solcher. Kant unterstreicht daher: „Um also einen Grund des Moralisch-Bösen im Menschen anzugeben, enthält die Sinnlichkeit zu wenig; denn sie macht den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß Thierischen"2 und daher zu einem nicht-moralischen Wesen, einem Wesen, das außerhalb des moralischen Gesetzes ist, nicht gegen es: „Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der U n t e r o r d n u n g (der Form derselben) liegen: w e l c h e v o n b e i d e n er z u r B e d i n g u n g d e r a n d e r n m a c h t . Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eins neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eins dem andern, als
1 £l/,V131f. 2 Religion, VI 35.
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seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht [...]."'
Durch die Umkehrung in der Rangfolge der Triebfedern ordnet der Urheber der Handlung das moralische Gesetz der Selbstliebe unter. Die äußeren Handlungen mögen dem moralischen Gesetz dann noch gemäß sein, jedoch lediglich in der Weise eines Automaten oder einer Marionette, „da dann der empirische Charakter gut, der intelligibele aber immer noch böse ist."2 Freie Wahl wählt folglich falsch, wenn sie alles, sogar die rechte Sache, jedoch aus den falschen Gründen tut; wenn sie, in ihren Maximen, bewußt das moralische Gesetz dem Nützlichen oder Angenehmen unterstellt. Die rechte Tat wird dann bloßes ,Gestikulieren', das Marionettenspiel der zweiten Kritik, denn sie folgt allein technisch-praktischen Imperativen. Wenn ich die Wahrheit sage, um einen Gegenstand zu erwerben, verdeckt meine an den Tag gelegte Wahrheitstreue lediglich die wirkliche Absicht, die des Erwerbs. Nur wenn, soweit ich kann, ich die Wahrheit um ihrer selbst willen sage, wird die Handlung des Wahrsprechens zur Objektivierung meiner inneren Intention, meiner inneren Welt noumenaler Güte. Zwischen beiden Welten, der innerlichen und der äußerlichen, liegt eine fundamentale Reziprozität, welche, gemäß der Kritik der teleologischen Urteilskraft, das Kennzeichen des Lebens ist im Gegensatz zum bloß Artifiziellen. Das Problem des radikalen Bösen scheint darin zu liegen, einen maskenhaften, leblosen empirischen Charakter hervorzubringen, der das Gute lediglich simuliert, und so sollte jedes Konzept, das empirische Handlungen und Rituale verlebendigt, auch das Problem des radikalen Bösen im Kern treffen. Die sichtbare Kirche verwandelt die empirische Geschichte des Glaubens und der kultischen Rituale aus einer Geschichte sinnloser Praktiken in eine Geschichte des moralischen Lebens. Ein bemerkenswertes Beispiel, wie das Schema der sichtbaren Kirche uns erlaubt, tote Erfahrung in lebendige Geschichte zu verwandeln, ist die Interpretation heiliger Schriften und anderer Aspekte des empirischen Glaubens, wie des kultischen Rituals. Kant hält uns dazu an, die heiligen Schriften symbolisch zu interpretieren, um den in ihnen verborgenen wahren moralischen Gehalt zu reflektieren, wie er in einer umfangreichen Fußnote unterstreicht: „[...] nehme man den Psalm LIX, V. 11-16, w o ein Gebet um Rache, die bis zum Entsetzen weit geht, angetroffen wird. Michaelis [...] billigt dieses Gebet und setzt hinzu: »Die Psalmen sind inspirirt; wird in diesen um Strafe gebeten, so kann es nicht unrecht sein, und wir sollen keine heiligere Moral haben als die Bibel«. Ich halte mich hier an den letzteren Ausdrucke und frage, ob die Moral nach der Bibel, oder die Bibel vielmehr nach der Moral ausgelegt werden müsse. [...] werde ich versuchen, sie entweder meinen für sich bestehenden sittlichen Grundsätzen anzupassen (daß etwa hier nicht leibliche, sondern, unter dem Symbol derselben, die uns weit verderblicheren unsichtbaren Feinde, nämlich böse Neigungen, verstanden werden, die wir wünschen müssen völlig unter den Fuß zu bringen), oder will dieses nicht angehen, so
1 Religion, VI 36. 2 Religion, VI 37.
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SUMA RAJIVA werde ich lieber annehmen: daß diese Stelle gar nicht im moralischen Sinn, sondern nach dem Verhältniß, in welchem sich die Juden zu Gott als ihrem politischen Regenten betrachteten, zu verstehen sei [...] als moralische Warnung vor Selbstrache [...]."'
Das heißt, entweder richtet sich die Interpretation nach der noumenalen Moral, oder wir betrachten die Schriften in theoretischer Hinsicht, als Teil der empirischen Religionsund Politikgeschichte. Was wir nicht tun, ist, dem Aufruf zur Rache im Psalm den Status eines göttlichen Befehls einzuräumen. Solches wäre Fanatismus. Kant unterstreicht im gleichen Abschnitt: „Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Texts (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muß sie, wenn es nur möglich ist, daß dieser sie annimmt, einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt."2
Gezwungen oder nicht, dies sei, bemerkt Kant, was alle historischen Glauben, alt wie neu, besser wie schlechter, immer getan haben. Noch die mythischsten und poetischsten Überlieferungen würden von vernünftigen Interpreten solange gedeutet und geglättet, bis sie in Übereinstimmung mit den allgemeinen moralischen Grundsätzen gebracht worden seien und so ihre geistige Bedeutung herausgearbeitet sei. Man würde von Kant erwarten, daß er auf solch sinnliche Ausdrucksweisen der moralischen Religion verächtlich herabsähe, und in gewissem Maße tut er das auch, wenn er dem strengen und schmucklosen Protestantismus seiner eigenen Epoche gegenüber allen anderen religiösen Gestalten den Vorzug gibt. Dennoch, der Focus seiner Betrachtungen liegt darauf, daß diese sinnlichen Ausdrucksweisen, auch wenn sie vielfach allzu sinnlich und ungeistig daherkommen, in der Tat erfüllt sind mit dem Leben der moralischen Religion und daß dieses sich erschließt durch die Deutung der erscheinenden Rituale und Schriften, wie unreligiös, im Sinne der Moralreligion, sie auch zunächst sich darstellen mögen. Da sich die Interpretation dabei immer auf die „Anlage zur moralischen Religion in der menschlichen Vernunft" gründet, müssen wir ferner annehmen, so Kant, daß selbst die ersten Autoren der sogenannten Offenbarungen, wie unbewusst auch immer, diese vor allem als Sammlung moralischer Lehren zur Besserung des Volkes veranlaßt hätten: „Denn selbst das Lesen dieser heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es halten kann, wie man will."3 Dieses klingt selbstverständlich, als sei die empirische und historische Seite des Glaubens an sich nichtig und als sei die sichtbare Seite des Glaubens irgendwie der Gnade ausgeliefert, als Ausdruck moralischer Religion gedeutet zu werden. Tatsächlich, würde ich argumentieren, meint Kant, daß die
1 Religion, VI 110, FN. 2 Religion, VI 110. 3 Religion, VI 111.
SINNSTIFTUNG DURCH VERLEBENDIGUNG
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historischen und sensiblen Aspekte des Glaubens unterbestimmt seien, solange sie als geoffenbart genommen werden; daß man vielmehr frei sei, aus ihnen zu machen, was man will - und was man will, abgesehen von anderen, theoretischen Erwägungen, und im Geiste tiefer moralischer Endabsicht, kann nur sein, die Schrift dem .Charakter ihres übersinnlichen Ursprungs' gemäß zu lesen. Ohne eine solche moralische Lesart ist alles historische Schrifttum entweder bloß fanatischer Ausdruck eines Glaubens, der seine Grenzen überschritten hat (etwas, wovor uns die Typik warnt, in bezug auf religiöse Symbole), oder es sinkt zum toten empirischen Objekt herab, einer Tatsache von nur akademischem oder historischem Interesse. Fanatismus ist offensichtlich nicht wünschenswert, doch ein leerer und toter empirischer Gegenstand, der dem Glauben angehören soll, ist kaum minder schlecht. Kant weist zuvor darauf hin, es sei unratsam, den Volksglauben zu zerstören, der gerade an den empirischen Einzelteilen hängt, die dem eigentlichen Vernunftglauben äußerlich sind, denn auf diese Weise könne man den Atheismus befördern und in eine politische und religiöse Sackgasse geraten. Es kommt daher darauf an, den Geschichtsglauben, der ,todt an ihm selber' sei, lebendig zu machen und als Ausdruck des Geistes ,Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet' zu betrachten: „Dieser aber ist deijenige, der, indem er uns belehrt, auch zugleich mit Grundsätzen zu Handlungen belebt, und er bezieht alles, was die Schrift für den historischen Glauben noch enthalten mag, gänzlich auf die Regeln und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens, der allein in jedem Kirchenglauben dasjenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist. Alles Forschen und Auslegen der Schrift muß von dem Prinzip ausgehen, diesen Geist darin zu suchen, und man kann das ewige Leben darin nur finden, sofern sie von diesem Princip zeuget."1
Während so Offenbarung, Glauben und Schrift symbolische Ausdrücke der moralischen Religion werden und diese so versinnlichen, erfüllt die moralische Religion die gleiche Funktion in Bezug auf das historische und empirische Schrifttum wie es die teleologische Erklärung für die natürliche Welt tut. Die Teleologie verwandelt die natürlichen sinnlichen Wesen in organische Wesen und erweitert dann diese Transformation auf das Ganze der Natur, läßt sie als gestaltet und, in einem gewissen Sinne, lebendig erscheinen. Die moralische Religion verwandelt empirische historische Schriften in symbolische Ausdrücke moralischen Lebens; ohne dies geraten die Schriften bestenfalls zu unerklärlichen Sammlungen empirischer Gebote, deren Befolgung zum Gottesdienst keine tiefere Bedeutung hätte, schlimmstenfalls aber (im Falle des Fanatismus) zu schändlichen Übertretungen des universellen moralischen Gesetzes führte; also im besten Fall leer, im schlimmsten böse wäre - und in der Tat ist die Leere oder Unlebendigkeit, als Geistlosigkeit, der radikale Hang zum Bösen.
1 Religion, VI 112.
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VI
SUMA RAJIVA
Schluß
So ist die Rolle der sichtbaren Welt in der Religionsschrift, trotz des Vorhandenseins des radikalen Bösen in der Menschheit als solcher, grundlegend positiv. In der Tat wirkt die sichtbare Kirche, als ästhetische Idee, zu der alle tatsächlichen Kirchen streben, als Schema zwischen der tatsächlichen Erfahrung des Glaubens und der moralischen Religion, welche der Glaube darstellen soll. Indem sie dies tut, gibt die sichtbare Kirche nicht nur der übersinnlichen Moralität eine Bedeutung, einen ,Sinn', sie macht auch den empirischen Glauben erst lebendig. In dieser Verlebendigung unseres historischen und vergegenständlichten Selbsts gibt Kant einen Ausblick auf den enger werdenden Zusammenhang zwischen dem Sinnlichen und dem Moralisch-Intelligiblen, den er in seinen Betrachtungen Zum ewigen Frieden entwickelt.1
1 Ich bin Jason Breen, Memorial University St. John's, dankbar für die Erinnerung an das „zum" in Zum Ewigen Frieden, das die Bewegung des .kontinuierlichen Fortschreitens' und der .kontinuierlichen Annäherung' bildhaft ausdrückt und darin symbolisch dieselbe Perspektive einnimmt, wie sie Kant in der Religionsschrift in bezug auf das schöne Ideal des ,ethischen gemeinen Wesens' bezieht; wenn auch das telos des Fortschritts in der Friedensschrift von einem reinen ethischen Ideal auf relevante Weise unterschieden ist.
CHRISTIAN IBER
Religion als Ideal einer wirkmächtigen Moral bei Kant
„Der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein".1
Das Verhältnis von Moral und Religion bei Kant wird im folgenden in drei Schritten untersucht. Zunächst wird ein Stück weit Kants Konzeption einer Autonomiemoral, die als solche keiner Religion bedarf, nachgegangen. In einem zweiten Schritt wird Kants Gottesbeweis aus praktischer Vernunft in Augenschein genommen und seine These beleuchtet, daß Moral unumgänglich zur Religion fuhrt. In einem dritten Schritt werden Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Moral in der Religionsschrift angestellt, die um die Frage zentriert sind, warum bei Kant die Religion als Ideal einer erfolgreichen Moral auftritt.
I
Autonomiemoral versus Religion
Die Ethik tritt bei Kant im Übergang zur Moderne das Erbe der Religion an. Traditionell basiert Moral auf Geboten, die durch Gott, eine über den menschlichen Willen erhabene Instanz, gegeben sind. Kant trennt die moralische Verpflichtung vom Willen Gottes und deutet sie als immanentes Gesetz des menschlichen Willens. Der verpflichtende Charakter moralischer Normen wird der Autorität Gottes entrissen, hängt nunmehr nur davon ab, daß der Mensch sie anerkennt. Indem Gott mit der praktischen, sich selbst gesetzgebenden Vernunft konvergiert, ist er keine selbständige Substanz mehr, sondern eine moralische Vorstellung in mir. Während für Kant vor diesem Hintergrund eine theologische Moral ein Ding der Unmöglichkeit ist, ist für ihn eine moralphilosophische Theologie nicht unmöglich. Aber die Autorität Gottes gilt nur, insofern ein menschliches Subjekt sie anerkennt, dessen Wille allein zählt. Daher ist die „Auton o m i e des Willens das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen
1 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie 4 Bände, Frankfurt am Main 1968, 132.
in Deutschland
Bd. 4, in: Werke,
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gemäßen Pflichten"1. Autonomie, Selbstgesetzgebung ist das Prinzip der Moral, zu dem es der Religion keineswegs bedarf.2 Kants Stellung zur Moralbegründung ist zweideutig. Einerseits glaubt er, daß Moral weder einer Begründung fähig noch bedürftig sei. Die Kritik der praktischen Vernunft spricht vom Sittengesetz als einem unbegründbaren „Faktum der reinen Vernunft" 3 . Andererseits hat Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Moral im freien Willen zu fundieren versucht,4 als dessen Güte er sie deutet. Alle früheren Versuche der Moralbegründung hält Kant fur gescheitert, weil in ihnen Freiheit und Gesetz auseinanderfallen, und hält ihnen den Gedanken der Autonomie, der Selbstgesetzgebung als Einheit von Freiheit und Gesetz entgegen. Der Gedanke der Autonomie besagt, daß sich das Subjekt durch ein Gesetz, das es sich selbst gibt, zum freien Wollen bestimmt. Indes ist dieser Gedanke paradox. In Gestalt des Gesetzes tritt der Wille sich selbst beschränkend entgegen. Autonomie ist der widersprüchliche Gedanke einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz aus eigener Einsicht. Widersprüchlich ist dieser Gedanke deshalb, weil Gesetzeszwang und freie Einsicht einander ausschließen. Kant denkt das moralische Gesetz als Gesetz des Willens gegen sich.5 Das moralische Sollen soll dem Wollen entspringen. Doch ein Sollen, das gewollt wird, erübrigt sich. Als Sollen aber wird es nicht gewollt. Der Wille soll wollen, was er explizit - sonst wäre es kein Gebot - von sich aus nicht will.6 Kant, der an Freiheit nur als Möglichkeit und Voraussetzung des Moralgesetzes interessiert ist, erschließt sie zirkulär aus dem moralischen Empfinden.7 Der Gedanke, daß Freiheit nicht in der Fähigkeit zum Verzicht aufgeht, spricht jedoch dafür, Freiheit nicht aus dem Sittengesetz, sondern vormoralisch als Vollzugssinn des seine Inhalte wissenden Willens zu verstehen. Das Scheitern der Moralbegründungsversuche Kants macht deutlich, daß er die behauptete Kongruenz von selbsttätiger Subjektivität und Selbstgesetzgebung, von Selbstbestimmung des Willens und moralischer Autonomie nicht wirklich nachweisen kann. Wer den Gedanken der Selbstverpflichtung als Zwang
1 KpV,Μ 33. 2 „Sie [die Moral] bedarf also zum Behuf ihrer selbst [...] keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug." (Religion, VI 3). 3 KpV, V 46f. 4 Vgl. GzMdS, IV 446ff. 5 Bereits der Kantianer Reinhold kommt zu dem Befund, daß die Lehre von der Autonomie „nicht weniger unverständlich als unbegreiflich [...] sey, als der viereckige Zirkel denkbar ist" (Carl Leonhard Reinhold, „Ueber die Autonomie als Prinzip der praktischen Philosophie der Kantischen und der gesammten Philosophie der Fichtisch-schellingschen Schule", in: Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts, hg. v. Carl Leonhard Reinhold. 2. Heft, Hamburg 1801, 109). 6 Eine kritische systematische Darstellung der Aporien der Begründung der Autonomieethik Kants gibt Andreas Dorschel, Die idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel, Hamburg 1992, 1-114. 7 Vgl. KpV, V 4.
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gegen sich selbst verwirft, muß nicht den Gedanken einer allgemeinen Verbindlichkeit des Willens preisgeben. Wenn moralisch vernünftig das ist, was sich der Wille selbst vorschreibt, die moralische Vorschrift also das enthält, was der Wille von sich aus will, dann erübrigt sich die Obligation. Die Freiheit, auf die Kant Moralität zurückfuhrt, wäre unabhängig von der Gestalt zu beglaubigen, die sie erst als moralisch sich verpflichtende annimmt.1 Kant hat die Aporie der Selbstgesetzgebung mit seiner Zweiweltenlehre, mit dem Dualismus zwischen intelligiblem und empirischem Ich, zwischen Sinnen- und Verstandeswelt aufzulösen versucht: Als Noumenon ist der Mensch Gesetzgeber, als Sinnenwesen ist er dem Gesetz unterworfen.2 In diesem Dualismus ist erstens Kants Absicht auf Beschränkung des Wissens der theoretischen Vernunft in bezug auf die intelligible Welt und zweitens der immanente Bezug der praktischen Philosophie auf den Glauben begründet. Beides dient dazu, gegen den Determinismus der Erscheinungswelt die Freiheit in der intelligiblen Sphäre zu erweisen, und manifestiert sich in dem Diktum Kants, er habe das Wissen aufheben müssen, „um zum G l a u b e n Platz zu bekommen"3, nämlich dem moralspezifischen Glauben an Freiheit, Gott und Unsterblichkeit. Doch der Dualismus ist keine Lösung, denn das sensible Ich ist zum Empfanger moralischer Vorschriften nicht geeignet, weil es als solches nur kausaler Einwirkung zugänglich ist.4 Der Gedanke, daß das moralische Gesetz in der intelligiblen Verstandeswelt als Ursache der Sinnenwelt angesiedelt sei, fuhrt Kant zu einem metaphysischen Letztbegründungsversuch der Moral.5 Behauptet wird sie als das wahre intelligible Wesen der Welt, derart, daß sie zugleich das Bestimmende der Erscheinungswelt ist. Doch diese Feststellung enthält den Widerspruch, daß sich die Welt nicht nach ihrem eigenen Wesensgesetz richtet. Die metaphysische Letztbegründung erreicht ihr Beweisziel nicht. Aber auch Kants Versuche, Moral ohne Metaphysik zu begründen, kommen nicht an ihr Ziel. Kant zufolge verdankt sich die moralische Verbindlichkeit nicht der Beziehung von Subjekten zueinander, sondern der Selbstverpflichtung. Das Prinzip der Autonomie besagt, daß keiner einen anderen verpflichten kann als durch dessen eigenen Willen. Wird nun nicht die faktische, sondern die mögliche, d.h. rationale Zustimmung zum
1 Gerold Prauss hebt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Autonomielehre Kants auf eine Selbstbeziehung des vernünftigen Willens ab, die er als eine im vormoralischen Sinne freie, basale Selbstbeziehung intentionaler Subjektivität versteht. Vgl. Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt am Main 1983, §§ 14-16. 2 Vgl. KpV,\ 87. 3 KrV, Β XXX. 4 Insofern Kant folgerichtig auch das intelligible Ich als Adressat des Sittengesetzes behauptet (vgl. MdS, VI 438; GzMdS, IV 447f., 449), reproduziert sich die Paradoxie der Autonomie innerhalb des Noumenon, weil dann das intelligible Ich als Gesetzgeber und zugleich als dem Gesetz Unterworfener auftritt. 5 Dieser Begründungsversuch findet sich im Abschnitt Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft (vgl. Kp V, V 42 ff.).
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Kriterium des praktisch Vernünftigen erhoben,1 so gerät diese Bestimmung zirkulär. Als Kriterium taugt sie nicht, weil sie selbst eines Kriteriums bedarf. Die allgemeine Verbindlichkeit des Sittengesetzes wird von der rationalen Zustimmung und Einsicht abhängig gemacht. Andererseits muß die allgemeine Verbindlichkeit des Moralgesetzes schon vorher da sein, weil sie allein der Grund der Richtigkeit der Zustimmung und der Einsicht sein kann. Die Lehre von der Vernunftautonomie des freien Willens setzt Freiheit mit Pflichterfüllung gleich. Daher muß Kant der moralisch bösen, pflichtverletzenden Handlung die Qualität der Freiheit absprechen und sie in ein Naturgeschehen verwandeln.2 Damit ist jedoch die behauptete Identität von Freiheit und Pflichterfüllung ebenfalls negiert. Wenn beides aber frei ist, sind Freiheit und Pflichterfüllung nicht identisch. Diese Konsequenz veranlaßt Kant, in der Religionsschrift einen „Vernunftursprung"3 der bösen Handlung anzunehmen, was einem Versuch gleichkommt, die Moralität und ihr Gegenbild auf eine prämoralische Freiheit zurückzufuhren, die als „intelligible That"4 bezeichnet wird, ein „Actus der Freiheit"5, in den die Natur des Menschen zurückgegründet wird.6 Ein dritter Versuch der Begründung moralischer Freiheit läuft über Kants Kritik des empirischen Willens. Jeder auf Inhalte oder Gegenstände bezogene Wille sei heteronom, unfrei, weil er dem „Naturgesetz der Begierden und Neigungen"7 unterliege. Da jeder Willensinhalt die Freiheit widerlegt, aber Wollen immer heißt, etwas wollen, zielt Kant auf eine von allem Inhalt getrennte Selbstbestimmung des Willens ab, die in sich problematisch ist. Moralische Selbstbestimmung ist eine aller Inhalte enthobene, reine Form des Wollens. Autonom und frei ist der Wille, der „unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens"8 durch die bloße allgemein gesetzgebende Form seiner selbst bestimmt wird.9 1 „Nur sofern sie [die Sittengesetze] als α priori gegründet und notwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze" (MdS, VI 215). 2 Vgl. KpV, V 33. 3 Religion, VI 41. 4 Religion, V131. 5 Religion, VI 21. 6 Im Ausgang von und im Gegenzug zu Kant haben Reinhold und Schelling die sich zum moralisch Guten oder Bösen bestimmende Willensfreiheit prämoralisch gefaßt (vgl. Carl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie (1790/92), 2. Bde., hg.v. Raymund Schmidt, Leipzig 1923, Band 2, 502; Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und damit zusammenhängende Gegenstände, in: Sämtliche Werke Bd. VII, hg.v. Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart 1854-1861, 385). 7 GzMdS, IV 453. 8 GzMdS, IV 440. 9 In seiner Kritik des empirischen Willens folgt Kant der deterministischen Psychologie der LeibnizWolffschen Schule, für die Willensfreiheit im Sinne von Entscheidungs- oder Willkürfreiheit eigentlich ein Illusion ist. Das Fragwürdige an dieser Theorie ist, daß hier die Willensinhalte vom Willen selbst abgetrennt und als ihm gegenüberstehende und ihn determinierende Mächte - Triebe, Motive,
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Ziel der Kritik des empirischen Willens ist, die Möglichkeit eines freien Willens als Inbegriff der Moral zu ermitteln, der die Abstraktion von jeglichem Inhalt ist.1 Die prinzipielle Trennung des moralischen Willens von allem Inhalt macht es jedoch unmöglich, eine freie, praktische Betätigung moralischer Subjektivität in der Welt zu denken. Eine Theorie des Handelns, auch des moralischen, die nicht Bezug nimmt auf bestimmte Inhalte des Wollens, unterminiert sich selbst. Von einer von allen Inhalten abstrahierenden Form des Willens begreift man nicht, wie es zu bestimmten Handlungen kommen sollte. Die Vernunft ist daher nach Kant unvermögend, sich begreiflich zu machen, wie das Sittengesetz unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein kann. Begreiflich sei lediglich die „ U n b e g r e i f l i c h k e i t " 2 der Notwendigkeit des kategorischen Imperativs. Aus diesen Eigentümlichkeiten der Autonomiemoral ergibt sich auch der Formalismus des Moralprinzips. Der kategorische Imperativ, der die Pflicht um der Pflicht willen fordert, abstrahiert an entscheidenden Punkten von den Bedingungen seiner Verwirklichung. Kants Diktum über den kategorischen Imperativ, daß keineswegs sicher
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sei, daß ihm jemand jemals rein aus Pflicht gefolgt sei, doch folgen müsse man ihm, macht deutlich, daß er eine kontrafaktisch geltende Norm ist, die von faktischer Normbefolgung abstrahiert. Die aus ihm antizipierte, allgemeine Normerfullung ist nicht nur hypothetisch, sondern ausdrücklich gegen die sich verändernden Anwendungsbedingungen invariant. Die durch das Moralprinzip geforderte, verallgemeinerbare Maxime soll in allen Situationen in gleicher Weise angewandt werden.4 Die Universalisierung der Maximen dient dazu, die Standpunkte von ihrer Partikularität zu reinigen. Resultat ist eine Allgemeinheit der besonderen Standpunkte, die nicht ihre Allgemeinheit ist, sondern die, die von ihrer Besonderheit abstrahiert. Der logische Selbstwiderspruch pflichtwidriger Handlungen als Universalisierungstest („ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sei"5) tritt daher nur auf in bezug auf Maximen, in denen sich jemand eine Ausnahme von der Regel gestattet, die er zugleich als geltend, anerkennenswert voraussetzt. Oder die Ausnahme wird selbst zur neuen Regel erNeigungen etc. - vorgestellt werden. Der Determinismus unterschlägt die kognitive Dimension des Willens. Gerade im Wissen um seine Inhalte tritt der Wille in Distanz zu ihnen und kann ihnen gegenüber als Entscheidungsinstanz fungieren. 1 Die Kritik der praktischen Vernunft ist Kritik der empirisch bedingten praktischen Vernunft. Moralität ist dagegen reine praktische Vernunft. Sie „bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält" (KpV, V 16). 2 GzMdS, IV 463. Kant bringt diese Problematik auf den Punkt, wenn er sagt: „ w i e r e i n e V e r n u n f t p r a k t i s c h s e i n k ö n n e , das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend" ( G z M d S , IV 461). 3 Vgl. GzMdS, IV 408. 4 Die Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs - „ h a n d l e s o , a l s o b d i e M a x i m e deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden s o l l t e " {GzMdS, V 421) - macht dies besonders deutlich. 5 GzMdS, IV 403.
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hoben, wodurch der Ausnahmecharakter der Ausnahme negiert und die Maxime selbst aufgehoben wird. In beiden Fällen ist der moralische Standpunkt, der erwiesen werden soll, bereits vorausgesetzt.1 Zwar enthält der kategorische Imperativ einen Vorschlag, wie Interessengegensätze, Konflikte sich ausschließender Handlungszwecke vernünftigerweise gelöst werden könnten, nämlich so, daß dabei die Menschen nicht nur zu Mitteln von Zwecken werden, die ihre eigenen Zwecksetzungen durchkreuzen, sondern dabei zugleich jederzeit als Selbstzweckwesen anerkannt werden.2 Damit sind aber gerade die bestimmten Zwecke und die Gründe der sich ausschließenden Zielsetzungen nicht im Blick.3 Indem das Moralprinzip Rücksicht und gerechte Berücksichtigung im Interessenkonflikt fordert, ist es zugleich gleichgültig gegen die Gründe des Konflikts und bringt es allenfalls zu einem gewissen Ausgleich konfligierender Interessen. Die Moral, die einerseits die Einschränkung der Freiheit eines jeden fordert und andererseits zugleich die Respektierung eines verbleibenden Freiheitsspielraums für jeden jedermann zur Pflicht macht, kann diesen Respekt zugleich nicht garantieren. Garantiert wäre dieser Respekt allein da, wo er erzwingbar wäre, im Recht und nicht in der Moral. Die Autonomiemoral als realisierte, d.h. als allgemein befolgte Maxime unterstellte gerade, daß die Interessen und Zwecke aller einzelnen miteinander vereinbar gemacht seien. Doch kann sie sich darum explizit nicht kümmern, weil sie von den Bedingungen ihrer Anwendung abstrahiert. Die Herstellung von Bedingungen, unter denen die freie Verwirklichung von Zwecken nicht auf Kosten der materiellen Lebensinteressen anderer ginge, wäre eine gesellschaftspolitische Aufgabe. 4 Der Versuch, auf diese Weise Moral und Interesse zusammenzudenken, führte indes zur Preisgabe der Essenz der Kantischen Moralkonzeption, in der es bei einem prinzipiellen Gegensatz von moralischer Vernunft und Interesse bleibt.5 1 Zu Hegels Kritik am Formalismus des Kantischen Moralprinzips vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie III, in: Werke in zwanzig Bänden Bd. 20, Frankfurt am Main 1969ff., 367f. 2 „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (GzMdS, IV 429). 3 Das Reich der Zwecke konstituiert sich, indem explizit „von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt" (GzMdS, IV 433) wird. 4 Uwe Justus Wenzel hat im Hinblick auf die Einheit von Prinzip und Anwendung den diskussionswürdigen Vorschlag gemacht, den kategorischen Imperativ auf ein Moralprinzip für Zweifels- und Ausnahmesituationen zu reduzieren, damit die Zuständigkeit der Autonomiemoral insgesamt zu beschneiden und weiterreichende Fragen der kritischen Sozialphilosophie zu überantworten. Vgl. Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie, Berlin 1992, 236ff. 5 Nietzsche, der den von den Fesseln der Moral befreiten Willen zur Macht zum Ideal der Freiheit erhebt, schlägt sich auf die andere Seite des fragwürdigen Gegensatzes von Vernunftmoral und Interesse, dessen freie Verfolgung er sich nur auf Kosten anderer vorstellen kann, plädiert also für Selbstbehauptung ohne Rücksicht: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwingung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mindestens, Ausbeutung" (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse § 259, in: Zur
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Gottesbeweis aus praktischer Vernunft
Der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie bei Kant wird deutlich, wenn man im Blick hat, daß Kant die Metaphysik im ganzen als praktische entwirft. In der transzendentalen Dialektik kritisiert er alle Gottesbeweise aus theoretischer Vernunft, will aber doch auf einen Gottesbeweis hinaus.1 Kritik übt Kant am ontologischen Gottesbeweis, der aus dem alle Realität umfassenden Begriff Gottes seine Realität ableitet, ebenso am physikotheologischen Gottesbeweis, der aus der Zweckmäßigkeit der Weltordnung die Existenz des Schöpfers, und schließlich am kosmologischen Gottesbeweis, der aus dem Dasein des Bedingten das Unbedingte herleitet.2 Kant befaßt sich weniger mit dem Inhalt der Fehlschlüsse dieser Beweise, sondern wendet methodisch ein, daß Gott kein Erfahrungsgegenstand sei, seine Existenz daher von der theoretischen Vernunft weder bewiesen werden kann noch bewiesen zu werden braucht, aber auch nicht bestritten werden darf. Nicht die metaphysische Transzendenz selbst ist kritikabel, sondern der Versuch, sie zu erkennen. Dazu ist „unser Verstand gar nicht ausgerüstet"3. Gerade in Fragen des Glaubens darf der Verstand seine Kompetenzen nicht überschreiten. Obgleich Kant die traditionellen metaphysischen Gottesbeweise aus theoretischer Vernunft kritisiert, ist seine gesamte kritische Vernunfttheorie der Welt als ein Gottesbeweis angelegt. Die systematische Erkenntnis der Welt gewährleistet dem Verstand und der Urteilskraft die von der Vernunft notwendig entworfene Idee Gottes, die als nicht erkennbarer Grund die geheimnisvolle Übereinstimmung zwischen Welt und Mensch garantiert. In der Kritik der Urteilskraft erweist sich die Vernunftidee Gottes, die weder Gegenstand eines religiösen Offenbarungsglaubens noch Gegenstand der theoretischen Forschung oder gar der Erfahrung ist, als die letzte Möglichkeit für die Urteilskraft, die Kluft zwischen Welt und Mensch und damit zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu überbrücken. Sie ist die letzte Leistung der reflektierenden Urteilskraft und der Schlußstein der kritischen Philosophie Kants.4 Kant wiederholt und verbessert den Gottesbeweis der theoretischen Philosophie in der praktischen. War Gott in der theoretischen Philosophie für die größtmögliche Einheit und Erweiterung der Erfahrungserkenntnis eine notwendige heuristische Hypothese, so wird Gott in der praktischen Philosophie notwendige Realität zugestanden.5 In Funktion des historischen Modells in Kants Religionsschrift Sämtliche Werke Bd. 5. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München und Berlin/New York 1980, 207). 1 Vgl. KrV, Β 620-670. 2 Vgl. dazu auch KrV, Transzendentale Dialektik. Einleitung Β 349-367. 3 KrV, Β 664. 4 Vgl. KU, V 436fiF. 5 Vgl. KpV, V 4f.: „Hier erklärt sich auch allererst das Räthsel der Kritik, wie man dem übersinnlichen G e b r a u c h e der K a t e g o r i e n . i n der Spekulation objective R e a l i t ä t a b s p r e c h e n und ihnen doch in Ansehung der Objecte der reinen Vernunft diese R e a l i t ä t z u g e s t e h e n könne".
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der praktischen Vernunft wird, in Ansehung des moralisch guten Willens zum Handeln, die subjektive Annahme der Existenz Gottes objektiv. Das Dasein Gottes wird zu einem notwendigen Postulat der praktischen Vernunft.1 Auch die moralische Absicht ist als Absicht auf Verwirklichung aus. Der moralische Wille, der, vom kategorischen Imperativ angeleitet, von allen Neigungen, Inhalten und Zwecken Abstand nimmt, also ohne Objekt ist, bedarf als diese inhaltsleere Form des Willens, damit er etwas wollen kann, eines Zwecks, der ihn aber nicht bestimmen darf, sonst wäre er kein moralisch vernünftiger. Der Zweck des moralisch freien Willens darf kein Nutzen oder Vorteil sein. Das eigentümliche Glück moralischer Subjektivität ist so etwas wie ein höheres Lohnen, das Kant unter dem Titel intellektuelle „Zufriedenheit" 2 abhandelt; diese versteht er als das wahre Glück des Menschen. Aus dem Problem der von allem Inhalt abstrahierenden Form des moralischen Willens entspringt eine unvermeidliche Dialektik der praktischen Vernunft zwischen Tugend und Glück.3 Sie macht zunächst deutlich, daß Kant eine ambivalente Stellung zum Glück hat. Einerseits verteidigt er es im Begriff der Glückswürdigkeit der Tugend, andererseits verwirft er es als heteronom, denn es kann auch aus unmoralischen Gründen verfolgt werden. Der Begriff der Glückswürdigkeit der Tugend besagt, daß Tugend, die auf Nutzen verzichtet, sich doch lohnen muß. Das Moralische am Glück als Lohn der Tugend ist, daß die Verknüpfung von Tugend und Glück nicht in der Hand des moralisch handelnden Subjekts liegt. Das moralische Subjekt kann sich den verdienten Lohn nicht selbst erwerben. Die moralische Subjektivität impliziert Glückswürdigkeit, aber führt das Glück nicht herbei. Doch muß die Aussicht auf Glück als ergänzende Motivation erhalten bleiben, denn sonst wäre es unvernünftig, moralisch zu sein. Das höchste Gut, die notwendige Verbindung von Tugend und Glück, die die praktische Vernunft zu verwirklichen nicht in der Lage ist, liegt nun nach Kant in der Hand Gottes. Allein in der Macht Gottes steht es, die Einheit von Tugend und Glück wirklich zu machen. Während auf Seiten des Menschen Tugend und Glück immer auseinanderfallen, kommt Gott die Aufgabe zu, Glück aus Tugend folgen zu lassen. Gott ist für Kant das notwendige Ideal einer erfolgreichen Moral aus dem Grunde der Moral, ein notwendiges Postulat der praktischen Vernunft, damit die Moral kein leerer Wahn bleibt. Daher phantasiert Kant in der Lehre vom höchsten Gut, die er in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt, in einem Jenseits der wirklichen Welt eine Tugend, die garantiert zum Erfolg fuhrt, eine „moralische Welt", d.h. ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit" oder ein „System der sich
1 Den Grundgedanken dieses Beweises übernimmt Kant aus Rousseaus „Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars", in: Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1976, 545ff. 2 KpV, V 118. 3 Vgl. KrV, Β 832ff. und KpV, V 1 lOff.
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selbst lohnenden Moralität"1, das höchste Gut als Einheit von lohnender Tugend und verdientem Glück. Die praktische Vernunft kann sich auf ihre Macht nicht verlassen, wenn es um die Herstellung der Verbindung von Tugend und Erfolg geht, auf die die moralische Handlung gleichwohl aus ist. Die moralische Subjektivität ist darin widersprüchlich, daß ihr Erfolg nur dann ein solcher ist, wenn er ausbleiben kann. Deshalb muß sie diese Verknüpfung dem Hoffen oder dem Glauben überlassen. Nur Gott höchstpersönlich kann die Menschen zu einer erfolgreichen Vemunftmoral bringen, während diese der Selbsttäuschung überantwortet werden, den Beweggrund zum moralischen Handeln von der zu erreichenden Absicht zu trennen. Der Apriorismus der Vernunftmoral, der vom Problem ihrer Verwirklichung absieht, hofft auf anderer, ideeller Ebene auf die Wirkmächtigkeit der Moral, darauf, daß Gott für die prästabilierte Harmonie von Tugend und Glück Sorge tragen werde, um derentwillen der Tugendhafte nur moralisch sein mag. Dies ist die kritische Selbstbeschränkung, die Kant der praktischen Vernunft in Anbetracht ihrer Dialektik abverlangt, um den moralischen Apriorismus unangreifbar zu machen und zu retten. Er entzieht ihn der Kritik durch die ausdrückliche Zurücknahme seiner Wirkmächtigkeit in ein Ideal. Kant nimmt dem moralischen Idealismus durch den funktional eingesetzten Glauben seine Naivität, ohne ihn preiszugeben. In der Kritik der praktischen Vernunft hat Kant seine moraltheologische Konzeption radikalisiert. Die Hoffnung auf Glück tritt hier nicht mehr ergänzend zur moralischen Motivation hinzu. Die Idee des höchsten Gutes ist vielmehr direkt auf den moralischen Willen bezogen. Sie ist der Inbegriff des Ideals einer wirkmächtigen Moral als solcher. Damit verändert sich auch die Beziehung des Gottesbegriffs auf die Moralität. Es entfallt die Notwendigkeit eines persönlichen Gottes, der die Macht hat, moralisches Verdienst und Glück jedem einzelnen proportional zukommen zu lassen. Nicht aber entfällt der Glaube an eine moralische Weltordnung als Inbegriff des Ideals einer erfolgreichen Moral. Diese zweite Version der Moraltheologie läßt sich als ein Schritt zu ihrer Enttheologisierung verstehen, an die der frühe Fichte und der junge Schelling in ihrer Kritik der kantianisierenden Theologen Stor, Flatt und Süßkind anknüpfen konnten.2
1 KrV, Β 836f. 2 Die beiden Versionen der Kantischen Moraltheologie und ihr Weg zum Absoluten erörtert Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Deutschen Idealismus. Tübingen - Jena 1790-1794, Frankfurt am Main 2004,1468ff.
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III
CHRISTIAN IBER
Zum Verhältnis von Religion und Moral in der Religionsschrift
Eine Art von Gottesbeweis weist Kant in der Religionsschrift als keiner Kritik würdig strikt zurück, den Gottesbeweis durch Wunder.1 Echter Glaube ist nur ein Glaube, der sich nicht erst mit Wundern einstellt, die Naturgesetze durchbrechen. Kant hat an Wundern nicht auszusetzen, daß sie den Verstand außer Kraft setzen, daß ihnen Beweiskraft zuzusprechen also eine Zumutung für verständig denkende Menschen darstellt. Ihn stört, daß Wunder durch den Verstand mit Recht bestritten werden können, was zu allerlei „Bedenklichkeiten" und „Streitigkeiten" bezüglich ihrer „Wahrheit" und ihres „Sinnes"2 fuhrt, von denen er den Glauben nicht abhängig gemacht wissen will. Das Defizit der Wunder ist, daß sie die Wirksamkeit Gottes in einem Feld präsentieren, in welchem dem Verstand nicht jede Zuständigkeit abgesprochen werden kann. Wunder verletzen den Verstand nur punktuell und partiell und lassen ihn als Einspruchsinstanz gegen sie bestehen, was den Wunderglauben in einen unaufgelösten Konflikt mit dem Verstand bringt. Die kleinen, profanen Wunder sind allerdings nichts gegen das große Wunder, das nach Kant der Vernunftglaube hervorbringt, nämlich das kontrafaktisch geltende Moralprinzip so zu behandeln, als wären die Bedingungen seiner allgemeinen Anwendung vorhanden. Kants Anliegen ist eine spezifische Verträglichkeit seiner kritischen Vernunftphilosophie mit dem christlichen Glauben. Die tradierten religiösen Vorstellungen von Gott als Schöpfer, dem Sieg des Guten über das Böse, der Belohnung der Guten in einem ewigen Leben, der Unsterblichkeit der Seele, der Auferstehung des Fleisches und der Verheißung Gottes sind nicht für sich genommen etwas wert. Ebensowenig werden sie zum Gegenstand religionskritischer Überlegungen. Kant kritisiert mit dem Maßstab des Selbstdenkens, daß diese Produkte traditionellen moralischen Denkens in äußeren Ritualen beglaubigt und gepredigt werden und nicht ihre Grundlage in einem moralischen Vernunftglauben haben. Er hat sie im Verdacht, im Dienste einer christlichen Opfermoral zu stehen, die auf durch Gott selbst gegebene Gebote zurückgeht. Am „ P f a f f e n t h u m " moniert Kant, er sei „ F e t i s c h d i e n s t " , welcher „allemal da anzutreffen ist, wo nicht Principien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben [der Religion] ausmachen"3. Die religiösen Vorstellungen dürfen Kant zufolge nicht abgekoppelt werden von der moralischen Gesinnung. Religiöser Gottesglaube darf kein „bloßer Geschichtsglaube" sein, dem „die Bestrebung zum guten Lebenswandel"4 nachgesetzt wird. Wahre Religion soll vielmehr im Dienst der Vernunftmoral stehen, in der sie auch ihre Wurzeln hat. Es gilt der Grundsatz: „alles, was a u ß e r dem g u t e n L e b e n s w a n d e l der M e n s c h noch thun zu k ö n n e n v e r m e i n t , um Gott 1 2 3 4
Vgl. Religion, VI 180-185, 193f. Religion, VI 181. Religion, VI 179. Religion, VI 178.
RELIGION ALS IDEAL EINER WIRKMÄCHTIGEN M O R A L
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w o h l g e f ä l l i g zu w e r d e n , ist b l o ß e r R e l i g i o n s w a h n und A f t e r d i e n s t Gottes" 1 . Im Geiste des Protestantismus kritisiert Kant alle Kirchenreligion so wie die Lutheraner den Katholizismus, ohne sich jedoch konfessionell festzulegen. Äußerliche Rituale, fromme Observanzen, wörtlich genommene Wundergeschichten Jesu aus der Bibel machen den Glauben nur bedingt akzeptabel. Die Äußerlichkeiten in der praktizierten Religion bewegen die moralische Innerlichkeit der Gläubigen zu wenig. Je mehr sich die Religiosität von solchen Äußerlichkeiten befreit, desto mehr echter, nämlich in Moralität fundierter Glaube kann sich entfalten. Nach dem Grundsatz des Selbstdenkens wird die Religion keineswegs einer Kritik unterzogen, sondern gleichsam als „Religion des guten Lebenswandels"2 reformuliert und in den Dienst der Moral gestellt. Kant hält es keineswegs für verwerflich, daß sich der Mensch nach moralischen Begriffen einen Gott macht, an den er glauben kann.3 Dieser Gedanke hat nur scheinbar eine Verwandtschaft mit Feuerbachs und Marx' Religionskritik. Sich selbst einen Gott machen heißt für Kant nämlich sich selbst an Gott glauben machen und ehrt den Menschen, der dies fertigbringt, zeichnet ihn moralisch aus. Kant läßt das naturwüchsige Glaubensbedürfnis nicht gelten, er will es auch nicht bedienen. Ihm geht es um einen moralisch fundierten Glauben. Gott und Religion sind die Ideale einer wirkmächtigen Vernunftmoral. Das ,Sich selbst an Gott glauben Machen' hat einen doppelten Ursprung: Es gründet erstens in der Annahme der Vernünftigkeit und Güte der Moral und zweitens in der Erfahrung, daß sie in der Wirklichkeit weder befolgt wird noch ihr Versprechen einlöst. In der wirklichen Welt wird beständig gegen ihre Prinzipien verstoßen. Eigennutz steht vor Gemeinnutz. Allgemein herrscht der Verdacht, daß Tugend und Pflicht nur vorgetäuscht werden, in Wahrheit gehe jeder seinen egoistischen Sonderinteressen nach. In der Wirklichkeit entpuppt sich Moral als Heuchelei. Interesse und moralische Tugend werden ineinander reflektiert und zugleich voneinander getrennt. Was Kant in seinen theoretischen Ethikabhandlungen nicht als Einwand gegen die apriorische Reinheit des Moralprinzips gelten lassen wollte, daß es nämlich nicht sicher sei, ob jemals aus moralischen Gründen gehandelt wird, das entdeckt er gleichsam als das moralphilosophische Zentralproblem in der Religionsschrift, den ,,natürliche[n] Hang des Menschen zum Bösen"4, der zugleich aus Freiheit entspringt und „durch menschliche Kräfte nicht zu v e r t i l g e n " 5 ist. In diesem Sinne ist diese Schrift tatsächlich eine Untersuchung der Tiefengrammatik des alltäglichen Moralbewußtseins. Die Erfahrung, daß das moralische Prinzip der Welt in der Wirklichkeit nicht gilt, bewegt Kant dazu, die eigentliche Geltung der moralischen Gleichung von lohnender 1 Religion,
VI 170.
2
Religion,
VI 175.
3
Vgl. Religion,
4
Religion, VI 29.
5
Religion,
VI 168, Anm. f .
VI 37.
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Tugend und verdientem Glück gegen die schlechte Wirklichkeit zu erhalten. Dafür mobilisiert er den Glauben an die Macht des Guten und die Herrschaft des gerechten Gottes, der in die Herzen der Menschen blickt, die moralische Tugend belohnt, das Böse bestraft, insgesamt den Menschen ihre Sündhaftigkeit, ihren notwendigen Hang zum Bösen vergibt und ihnen heilsgeschichtlich in Aussicht stellt, daß sie dereinst in eine andere Welt eingehen werden, in der wirklich die Moralität herrscht. Kants moralbegründeter Glaube besteht in nichts anderem als in dieser Dialektik von Depotenzierung der Moral in der wirklichen Welt und göttlicher Ermächtigung der Moral in einer zukünftigen anderen Welt, der er eine geschichtsphilosophische Wendung gibt. Kant entwirft die Idee einer „unsichtbaren Kirche", zu deren Realisierung alle moralisch guten Menschen aufgefordert sind, sich in einer „allgemeinen sichtbaren Kirche"1 zu vereinigen. In der Bereitschaft, an die zukünftige Herrschaft des gerechten Gottes zu glauben, erhalten sich die Menschen ihr moralisches Freiheitsbewußtsein trotz der erfahrenen moralischen Negativität. Gleichwohl darf solcher Glaube keine bloße Einbildung sein, obwohl sich die Menschen als Urheber dieses Glaubens wissen. Gott lebt nur wirklich im Glauben einer Gemeinde. Hier ist er nicht nur ein leeres Jenseits. Die Idee einer sichtbaren „ m o r a l i s c h e n G e m e i n s c h a f t " 2 der Menschen als Gotteskinder, die aus der Erfahrung der Differenz zwischen Moralprinzip und faktischer Normnichtbefolgung erwächst, soll dafür einstehen, daß Gott keine unwirkliche Idee bleibt. Doch sind Zweifel angebracht an Kants Behauptung, daß der moralische Zustand der Welt, der „in unendlicher Weite von uns entfernt liegt", zwar nicht durch eine „Revolution", aber wenigstens „durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird"3. Denn die Autonomiemoral Kants, die so gründlich wie nur irgend möglich von den empirischen Bedingungen ihrer Anwendung abstrahiert, wird kaum zu einer praktikablen Lebensform in der Moderne werden können. Sie enthält in sich selbst den Grund dafür, nie allgemein akzeptiert zu werden. Folgerichtig gerät Kant die geschichtsphilosophische Vermittlung von Moral und Geschichte sehr ungeschichtlich. Denn die Autonomiemoral fordert nicht etwa, daß die Bedingungen ihrer Verwirklichung hergestellt werden, sondern sie verlangt von den Menschen, so zu tun, als wäre das Ideal bereits wirklich. Die geschichtsphilosophische Konzeption der Religionsschrift ist gleichsam eine Konsequenz der Aporie der Autonomiemoral, deren Anwendungsbedingungen nicht gegeben sind, und die andererseits nur funktionieren würde, wenn sie allgemein angewandt, ihr also allgemein Folge geleistet würde. Nicht als Wirklichkeit, sondern nur als Möglichkeit wird die moralische Sehnsucht nach einer wirkmächtigen Moral gerettet, indem sie von der wirklichen Welt abgetrennt und in ein kommendes ,,(moralische[s]) Reich Gottes auf Erden" 4 verlegt wird. 1 2 3 4
Religion, Religion, Religion, Religion,
VI VI VI VI
157f.; vgl. auch lOlff. und 152f. 199f. 122. 101.
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Kants Gottesbeweis aus praktischer Vernunft ist ein funktionaler. Gott wird als Bedingung der Möglichkeit einer wirkmächtigen Moral bewiesen. Nur so kann der moralische Purist mit seiner Selbsttäuschung zurechtkommen, es würde aus rein moralischer Gesinnung gehandelt, der reine moralische Wille sei gegebene Realität. Ohne letzten Grund und Zweck der Möglichkeit einer erfolgreichen Moral müßte er sich in seiner falschen guten Meinung von sich halt- und bodenlos vorkommen. Darin hat der Nihilismusvorwurf Jacobis seine Berechtigung, daß die Abstraktion von der empirischen Welt gewissermaßen auf die moralische Subjektivität zurückschlägt.1
1 Vgl. die zweite Hälfte des Briefes Jacobi an Fichte, in dem sich Jacobi nicht mehr direkt mit Fichte, sondern mit dem kategorischen Imperativ und der praktischen Philosophie Kants auseinandersetzt, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke Bd. III, hg. v. Friedrich Koppen und Friedrich Roth, Leipzig 1812-1825, Nachdruck Darmstadt 1968ff., 32ff.
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Zum Verhältnis von Moral und Religion
„Entweder, alle Philosophie muß aufgegeben, oder die absolute Autonomie der Vernunft muß zugestanden werden. Nur unter dieser Voraussetzung ist der Begriff einer Philosophie vernünftig."1
In der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift charakterisiert Kant das Verhältnis von Moral und Religion. Die Moral bedürfe „zum Behuf ihrer selbst [...] keinesweges der Religion", führe aber „unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll"2. Kant rekapituliert damit zu Beginn der Religionsschrift ein Resultat der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft. Danach „fuhrt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur R e l i g i o n , d.i. zur E r k e n n t n i ß aller P f l i c h t e n als g ö t t l i c h e r G e b o t e [,..]" 3 . Führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts zur Religion, dann ist zum Verständnis des Verhältnisses von Moral und Religion das des Zusammenhangs von moralischem Gesetz und höchstem Gut zentral. Das moralische Gesetz wird in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft aufgewiesen als unbedingte Bedingung aller moralisch möglichen Maximen und Zwecksetzungen, die selbst keine bestimmten Maximen oder Zwecksetzungen vorschreibt, sondern nur die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, die diese erfüllen müssen. Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist ein Faktum der Vernunft, vermittels dessen wir uns unserer Freiheit (Autonomie) bewußt sind. Das höchste Gut ist thematisch in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft. Kant fuhrt den Begriff ein, indem er eine Parallele zwischen praktischem und theoretischem Vernunftgebrauch herstellt und zugleich die Unbedingtheit des höchsten Guts von der des moralischen Gesetzes unter-
1 Johann Gottlieb Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, hg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky, Stuttgart 1977, 69. 2 Religion, VI 3 u. 6. 3 KpV, V 129.
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scheidet: „Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem speculativen oder praktischen Gebrauche betrachten; denn sie verlangt die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten [...] [D]er Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche geht es um nichts besser [als in ihrem theoretischen Gebrauche, F.K.]. Sie sucht als reine praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des G e g e n s t a n d e s der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts."1 Das Unbedingte als Bestimmungsgrund des Willens, das moralische Gesetz, sei in der Analytik ,gegeben worden'. Das Unbedingte als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft zu ,suchen' sei Aufgabe der reinen praktischen Vernunft, die dadurch dialektisch werde. Kant fuhrt im folgenden nicht aus, worin die Dialektik der reinen praktischen Vernunft näher besteht, sondern behauptet, wieder in Parallele zur ersten Kritik, eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft in der Bestimmung des höchsten Guts. Der Begriff des höchsten Guts enthalte die Bestimmungen der Sittlichkeit (Tugend) und Glückseligkeit, welche als moralische und nicht-moralische Begriffe des Guten nicht analytisch, sondern nur synthetisch, und, weil sie ein praktisches Gut beträfen, nur als Ursache und Wirkung verknüpft sein könnten. Demnach müsse „entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein"2. Entgegen Kants Behauptung liegt hier keine Antinomie vor, denn einmal ist von der „Begierde nach Glückseligkeit" als Ursache, dann aber von „der Glückseligkeit" als Wirkung die Rede. Mithin wird hier nicht dasselbe Element des höchsten Guts als Ursache und Wirkung gesetzt. Wenn Kant den Begriff des höchsten Guts einfuhrt, indem er eine Parallelität von praktischem und theoretischem Vernunftgebrauch behauptet, wenn er nach dem Vorbild der theoretischen Vernunft von einer Dialektik spricht, ohne diese näher zu bestimmen, und von einer Antinomie, die aber keine ist, dann erweckt er den Verdacht, die Lehre vom höchsten Gut und mit ihr die ganze Dialektik sei nicht sachlich begründet, sondern durch das Interesse am symmetrischen Aufbau von erster und zweiter Kritik motiviert. Die Parallele dennoch ernst genommen, müßte die Dialektik der reinen praktischen Vernunft einen Schein thematisieren und kritisch auflösen. Ein solcher Schein und seine Kritik widerspräche aber Kants Feststellung aus der Vorrede, wonach reine praktische Vernunft „ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That"3 beweise, weswegen nicht sie, wohl aber die praktische Vernunft als ganze kritisiert werden müsse.4
1 KpV, V 107f. 2 KpV, V 113. 3 KpV,VI. 4 Das hindert Kant nicht zu behaupten, daß reine praktische Vernunft sich in Widersprüche mit sich selbst verstricke, welche zur Kritik „ihres eigenen Vermögens nöthigen" {KpV, V 109).
Z U M VERHÄLTNIS VON M O R A L U N D RELIGION
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Nun führt Kant neben dem formalen Verweis auf die vermeintlich parallele Struktur beider Arten des Vernunftgebrauchs noch ein ganz anderes Argument fur die Thematisierung des höchsten Guts an. Danach kann Tugend nicht das ganze Gut oder die Totalität des Gegenstandes des vernünftig bestimmten Willens endlicher Wesen sein, vielmehr „wird auch G l ü c k s e l i g k e i t dazu erfordert und zwar nicht blos in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urtheile einer unparteiischen Vernunft, die jene [Person, F.K.] überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet"1. In den unparteiischen Augen' der reinen praktischen Vernunft wäre es unvernünftig, wenn das der Glückseligkeit bedürftige, aufgrund seiner moralischen Bestimmung des Willens auch würdige, endliche Wesen der Glückseligkeit nicht teilhaftig werden könnte. Zwar hat die Analytik gezeigt, daß die Moral nicht auf materialen praktischen Grundsätzen des bedürftigen Wesens gründen kann, doch wäre es nach der Dialektik unvernünftig, sie auf die vollständige Negation der bedürftigen Seite des endlichen Wesens zu gründen. Mit dem Begriff der Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft kehrt deshalb unter dem Titel der Glückseligkeit wieder in die Moral zurück, was die Analytik aus ihr entfernt hatte: die Materie des Willens, das Objekt des Wollens. Das notwendige Objekt des moralisch bestimmten Willens des endlichen Wesens sei „die Bewirkung oder Beförderung" 2 des höchsten Guts „in der Welt"3. Der reine Wille sei dadurch nicht heteronom, denn in der synthetischen Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit sei jene Grund, diese aber Folge. „ G l ü c k s e l i g k e i t ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz, alles nach W u n s c h und W i l l e n g e h t , und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens."4 Der , ganze Zweck' des vernünftigen Wesen ist das höchste Gut. Das höchste Gut zu befördern sei Pflicht - es müsse „also doch möglich sein [...]" 5 . Soll das höchste Gut durch Handeln bewirkt werden können, dürfen die Natur als der Inbegriff der empirischen Bedingungen seiner Realisierbarkeit und das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Willens des handelnden Subjekts nicht,völlig' heterogen sein. ,,[A]us bloßer unparteiischer Vernunft" 6 wird daher der moralische Gottesbeweis geführt und „das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten Natur, welche den Grund [...] der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postulirt" 7 . Der moralisch bestimmte Wille des endlichen Wesens könne zwar nicht unmittelbar Ur-
1 2
3 4 5 6 7
KpV,\ KpV, V KpV,Ν KpV, V KpV, V KpV,\ KpV, V
110. 109.
126. 124. 125. 124. 125.
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sache der Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit sein, wohl aber könne er es mittelbar, nämlich vermittels Gottes als des intelligiblen Grundes, in dem moralisch bestimmter Wille und Natur aufeinander bezogen seien.1 Gott sei „moralisch notwendig"2 zu denken als Urheber der unter Naturkausalität stehenden empirischen Realität, der als handelndes Wesen selbst eine Kausalität habe, die der der moralischen Gesinnung des endlichen Wesens gemäß sei.3 Kant zufolge trifft die Lehre vom höchsten Gut und dem Dasein Gottes als seiner notwendigen Bedingung den vernünftigen Kern der christlichen Morallehre. Deren Begriff des Reiches Gottes sei vereinbar mit dem des höchsten Guts der reinen praktischen Vernunft. Überhaupt sei die christliche Lehre insoweit vernünftig, als ihr Prinzip die „Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst" sei und sie die Triebfeder zur Befolgung der moralischen Gesetze „nicht in den gewünschten Folgen [...] derselben, sondern in der Vorstellung der Pflicht allein setzt"4. Religion, sofern sie vernünftig sei, sei die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, aber nicht als „ V e r o r d n u n g e n [...] eines f r e m d e n W i l l e n s , sondern als wesentlicher G e s e t z e eines jeden freien Willens für sich selbst"5, weswegen die Autonomie gewahrt bleibe. Die Hereinnahme der Glückseligkeit in die Moral mache diese deshalb nicht zu einer „Lehre, wie wir uns glücklich m a c h e n , sondern wie wir der Glückseligkeit w ü r d i g werden sollen"6. Das Postulat vom Dasein Gottes sei, wie alle Postulate der reinen praktischen Vernunft, ein theoretischer Satz, der einem α priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhänge, als theoretischer Satz aber nicht erweislich sei.7 Theoretisch sei das Postulat, weil es auf ein Sein und nicht wie praktische Sätze auf ein Sollen gehe. Nicht erweislich sei es, weil dieses Sein nicht in der Anschauung gegeben sei. Allein das „Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft", das geforderte höchste Gut als möglich denken zu können, lasse auf das Dasein Gottes als Bedingung seiner Möglichkeit schließen. Weil der theoretische Satz vom Dasein Gottes in einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft gründe, werde durch ihn nicht erkannt, daß und was Gott an ihm selbst sei, sondern an seine objektive Realität lediglich geglaubt.8 Das höchste Gut zu befördern sei Pflicht, an das Dasein Gottes zu glauben sei nicht Pflicht, aber moralisch notwendig.9 „Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen; daher muß es doch auch möglich sein; mithin ist es für jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Vgl. KpV, V KpV, V 125. Vgl. KpV,\ KpV, V 129. KpV, V 129. KpV,V 130. Vgl. KpV, V Vgl. KpV, V Vgl. KpV,W
114f. 125.
122. 126. 125.
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dessen objectiver Möglichkeit nothwendig ist. Die Voraussetzung ist so nothwendig als das moralische Gesetz, in Beziehung auf welches sie auch nur gültig ist."1 Ist das Postulat vom Dasein Gottes ein theoretischer Satz, der in einem Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft gründet, welches seinerseits auf der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, gründet, welche ihrerseits im moralischen Gesetz gründet, dann bedarf die Moral ,zum Behuf ihrer selbst' nur dann nicht der Religion, wenn die verpflichtende Kraft des moralischen Gesetzes unabhängig ist von der Möglichkeit des höchsten Guts. Daß dem so sei, wird Kant nicht müde zu behaupten. Tatsächlich aber ist diese Behauptung unvereinbar mit seiner Argumentation in der Dialektik. Ist es nämlich Pflicht, das höchste Gut zu befördern, dann muß dieser Endzweck moralischen Handelns auch möglich sein, und das heißt Kant zufolge: Seinen notwendigen Bedingungen muß moralisch notwendig objektive Realität zugesprochen werden. Ohne den Glauben an das Dasein Gottes entfiele für das endliche Vernunftwesen die Möglichkeit des höchsten Guts. Sein moralisches Handeln wäre zwecklos, damit aber auch sinnlos. Weil es gleichgültig wäre, ob moralisch oder nicht moralisch gehandelt würde, hätte das Gesetz keine verpflichtende Kraft. 3 Es wäre nicht mehr als kategorischer Imperativ, sondern nur noch als theoretisches Gesetz zu denken, dem reine Intelligenzen, sollten sie existieren, notwendig unterlägen. In diesem Sinne ist Kants, vor dem Hintergrund seiner sonstigen Argumentation allerdings irritierende, Bemerkung von der wechselseitigen Abhängigkeit von moralischem Gesetz und höchstem Gut zu lesen: „Da nun die Beförderung des höchsten Guts [...] ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befordern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein."4 Kant will diese Bemerkung freilich gerade nicht in dem Sinne verstanden wissen, daß mit der Unmöglichkeit des höchsten Guts die verpflichtende Kraft des moralischen Gesetzes entfiele. Er hält vielmehr um den Preis des Widerspruchs an der Unabhängigkeit der verpflichtenden Kraft des moralischen Gesetzes von der Möglichkeit des Endzwecks moralischen Handelns fest. Die Vernunft bedürfe des höchsten Guts, und sie müsse eine oberste Intelligenz als dessen notwendige Bedingung annehmen, aber „nicht um davon das verbindende Ansehen der moralischen Gesetze [...] abzuleiten (denn sie würden keinen moralischen Werth haben, wenn ihr Bewegungsgrund von etwas anderem, als von dem Gesetz allein, das für sich apodiktisch gewiß ist, abgeleitet würde); sondern nur [!] um dem Begriffe vom höch-
1 KpV, V 144 Anm. 2 Vg[.KpV,V 142f. 3 So zu Recht Giovanni B. Sala, Kants „Kritik der praktischen Darmstadt 2004, 262. 4 KpV, V 114.
Vernunft", ein
Kommentar,
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sten Gut objective Realität zu geben, d.i. zu verhindern, daß es zusammt der ganzen Sittlichkeit [!] nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgend existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich [!] begleitet."1 Lewis White Beck hat aus den Ungereimtheiten der Dialektik den Schluß gezogen, daß es eine Pflicht, das höchste Gut zu befördern, nicht geben könne. Der Begriff des höchsten Guts sei „in Wahrheit kein praktischer Begriff, sondern ein dialektisches Ideal der Vernunft. [...] Eine Rolle spielt es nur für die Architektonik der Vernunft, die die zweifache Gesetzgebung der Vernunft, die theoretische und die praktische, in einer Idee zu vereinigen sucht."2 Beck scheint sich damit vieler Schwierigkeiten, die dem Verständnis der Dialektik und ihres Verhältnisses zur Analytik entgegenstehen, entledigen zu können, ohne der Moral Eintrag zu tun. „Denn angenommen, ich tue alles, was in meinen Kräften steht [...], um das höchste Gut zu befördern, was wird da von mir verlangt? Nichts anderes als aus Achtung vor dem Gesetz zu handeln, und dies kannte ich bereits."3 Beck übersieht aber, daß auch der moralisch bestimmte Wille etwas wollen muß, wenn er wirklicher Wille sein, und nicht als reiner Wille, also reine praktische Vernunft, 4 bloßes Vermögen der Moralität bleiben soll. Kant hat in der Analytik betont, daß „alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse"5 und durch die Typik der reinen praktischen Vernunft die „Anwendung" des moralischen Gesetzes „IN CONCRETO"6 zu begründen versucht. Doch die Typik liefert mit der Universalisierbarkeit einer Maxime nur ein negatives Kriterium für ihre Kompatibilität mit dem moralischen Gesetz, und sie setzt dafür Maximen des Handelns voraus, die der Heteronomie entnommen sind. Der Versuch, „dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft [...] Gebrauch in der Anwendung [zu, F.K] verschaffen [...]" 7 , verstrickt das Gesetz und den Begriff des sittlich Guten in die Heteronomie.8 Insofern trägt die Lehre 1 Immanuel Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Kant's Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1902ff„ Bd. VIII, 139. 2 Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft", ein Kommentar, München 1995, 227. Becks ursprünglich 1960 erschienener Kommentar hat insbesondere im englischen Sprachraum eine umfangreiche Debatte ausgelöst. Dazu Michael Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim, New York 1978. Vgl. ferner Giovanni B. Sala, Kants „Kritik der praktischen Vernunft", ein Kommentar, a.a.O., der wie Albrecht und im Unterschied zu Beck darauf verzichtet, „die eine Position Kants" „zu konstruieren" (12). Gibt man zu, daß unter der einen Position nicht die der Person Kants gemeint sein muß, sondern auch die Einheit der Theorie gemeint sein kann, so hat Beck in diesem Sinne eine solche Konstruktion immerhin versucht. 3 Lewis White Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft", ein Kommentar, a.a.O., 227. 4 Kant identifiziert beide; vgl. KpV, V 55. 5 KpV, VIA. 6 KpV, V 69. 7 KpV,V 70. 8 Vgl. aber Dieter Henrich, „Ethik der Autonomie", in: ders., Selbstverhältnisse, Stuttgart 1993, 22f. Nach Henrich hat man „den kategorischen Imperativ bisher stets für ein Auswahlprinzip unter schon gegebenen Maximen gehalten". Das sei falsch. „Das Verhältnis des Gewollten zum guten Willen in Kants Ethik ist vergleichbar mit dem von Gegenstand und Verstand in seiner Theorie der Erkenntnis.
ZUM VERHÄLTNIS VON MORAL UND RELIGION
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vom höchsten Gut als dem α priori notwendigen Objekt des reinen Willens einem Mangel der Analytik Rechnung. Die Gründe dafür, daß sie nicht befriedigend ausfällt, liegen in der dualistisch angelegten kritischen Philosophie. Die Lehre vom höchsten Gut und dem Dasein Gottes als seiner notwendigen Bedingung ist der Versuch, den vorausgesetzten Dualismus von praktischer und theoretischer Philosophie, Freiheits- und Naturbegriff, innerhalb der praktischen Philosophie zu überwinden. Der moralisch bestimmte Wille werde durch das Postulat der reinen praktischen Vernunft vom Dasein Gottes mit den empirischen Bedingungen seiner Realisierbarkeit, welche der Naturkausalität unterliegen, vermittelt. Statt den Dualismus zu überwinden, wird er in der Definition des Postulats reproduziert und damit in die reine praktische Vernunft eingeschleppt. Das Postulat sei ein theoretischer Satz, der aber in praktischer Absicht formuliert werde, weshalb er nur in praktischer, nicht in theoretischer Hinsicht relevant sei. Der Versuch Kants, die Konsequenzen für das Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie aufzuzeigen, kulminiert in der Entscheidung der Frage: „Wie eine E r w e i t e r u n g der r e i n e n V e r n u n f t in p r a k t i s c h e r A b s i c h t , ohne damit ihr E r k e n n t n i ß als s p e c u l a t i v z u g l e i c h zu erw e i t e r n , zu d e n k e n m ö g l i c h sei?" 1 Unsere Erkenntnis werde durch reine praktische Vernunft zwar erweitert, aber nicht in theoretischer, sondern „nur in p r a k t i scher Absicht" 2 . Der Idee Gottes werde „vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische [...] objective Realität"3 verschafft. Die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft erhalte so „allerdings einen Zuwachs"4, aber nicht an theoretischer Erkenntnis. Vielmehr erkenne sie, daß dem theoretisch bloß denkbaren Begriff Gottes in praktischer Hinsicht objektive Realität korrespondiere, weil reine praktische Vernunft dieser zur Möglichkeit In beiden ist der Inhalt eines Wissens (vom Gegebenen oder vom Guten) abzuleiten aus einer Funktion (der synthetischen Einheit des Bewußtseins oder der Allgemeinheit der Vernunft). In beiden ist dieser Inhalt aber nicht unabhängig von jeder Beziehung auf Gegebenheit, sondern nur eine bestimmte Weise, sie aufzufassen. Auch das Gute, das der gute Wille will, gewinnt seinen Sinn jeweils nur aus einer Verallgemeinerung der Materie des empirisch bedingten Willens. [...] Für [Kant, F.K.] kann ,Gut' [...] nur den einer bestimmten Form zugehörigen Inhalt meinen, der nicht aus der Form allein, sondern dadurch gewonnen wird, daß man einen vorgegebenen Inhalt dieser Form entsprechend faßt. Sittliche Maximen sind deshalb weder sanktionierte natürliche noch solche, die sich auf einen von aller Natur verschiedenen Gegenstand richten. Sie sind Einschränkungen des natürlichen Strebens und damit zugleich Erweiterungen dessen, auf das es geht." Henrich ist zwar darin zuzustimmen, daß der kategorische Imperativ kein bloßes Auswahlprinzip ist. Die Analogie zur Theorie der Erkenntnis muß allerdings befremden, denn dort gelingt die Vermittlung von unbedingter, apriorischer Form und empirisch Gegebenem gerade nicht, so daß es entweder bei der leeren Form bleibt oder die Transzendentalphilosophie in den Empirismus abgleitet. Der Nachweis wäre durch die Kritik des „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" und der „Grundsätze des reinen Verstandes" zu führen, muß hier aber unterbleiben. 1 2 3 4
KpV, V KpV,V KpV, V KpV, V
134. 133. 132; vgl. 134f. 134.
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ihres notwendigen Objekts, des höchsten Guts, bedürfe. Kant ist nicht aufgefallen, daß die reine theoretische Vernunft, die diese Erkenntnis hat, nicht die Vernunft im theoretischen Gebrauch sein kann, welche auf ein Sein geht, sondern die Reflexion ist, die er in der ersten Kritik ,transzendental' nennt. Die transzendentale Reflexion hat es nicht mit den Gegenständen der Erkenntnis zu tun, sondern mit den Bedingungen, unter denen wir zu Begriffen von Gegenständen gelangen können, sie fuhrt deshalb nicht zu gegenständlicher Erkenntnis, sondern zu einer Erkenntnis über die Art unserer Erkenntnis.1 Das Verhältnis von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch fallt unter der Voraussetzung ihrer dualistischen Entgegensetzung weder in den theoretischen noch in den praktischen Vernunftgebrauch, sondern in ein Drittes, die transzendentale Reflexion. Ohne darin eine Kritik am Dialektik-Teil der Kritik der praktischen Vernunft zu sehen, hat Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft herausgestellt, daß die Forderung der reinen praktischen Vernunft nach der Denkbarkeit eines ,Überganges' von der noumenalen Freiheit zur sinnlichen Natur durch die reine praktische Vernunft selbst nicht zu erfüllen sei. Die Überwindung der ,,unübersehbare[n] Kluft" 2 zwischen Freiheit und Natur sei nur durch ein drittes Vermögen, das der reflektierenden Urteilskraft, und durch ein drittes Prinzip, das der Zweckmäßigkeit der Natur fur unsere Erkenntnis, zu denken, und dies auch nur in der Weise des ,als ob'. Der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen ermögliche die teleologische Vorstellung des Naturganzen. Dabei führe die Betrachtung des Zwecks der Existenz von Naturdingen in einen unendlichen Regreß von einander bedingenden Zwecken und zu der Einsicht, daß ein unbedingter Zweck „ganz außerhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt"3 und allein in die moralisch-teleologische falle. Der unbedingte Zweck aller bedingten Naturzwecke kann weder bloß immanenter Bestandteil des Zusammenhangs der Naturzwecke sein, noch kann er diesen transzendent sein. Im ersten Fall wäre er nicht unbedingt, im zweiten wäre er für den Zusammenhang der bedingten Naturzwecke irrelevant. Kant entgeht der Antinomie, wonach der unbedingte Zweck dem Zusammenhang aller bedingten Naturzwecke sowohl immanent wie auch transzendent sein muß, indem er zwischen ,letztem Zweck' und ,Endzweck' unterscheidet. Jener falle in den Naturzusammenhang, dieser sei ihm transzendent, beide Bestimmungen aber könnten nur ,im' Menschen angetroffen werden, der als einziger unter allen Naturzwecken „sich einen Begriff von Zwecken machen [...] kann"4, und beide Bestimmungen seien nicht unabhängig voneinander. Endzweck sei der Mensch allein als Subjekt der Moralität, letzter Zweck der Natur sei nur dasjenige an ihm, was ihn „vorbereitet"5, Endzweck
1 Vgl. die Definition der transzendentalen Reflexion in KrV, Β 316.
2
KU,WIS.
3 KU, V 378. 4 KU,V 427. 5 Vgl. Αϊ/, V 4 3 1 .
ZUM VERHÄLTNIS VON MORAL UND RELIGION
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sein zu können. Der letzte Zweck der Natur liege in der Kultur, in der Entwicklung aller natürlichen Anlagen der Gattung Mensch. Kultur ist so gesehen der - historische - Prozeß der Befreiung des Menschen von der Befangenheit in Naturzwängen. Sie kann nach Kant aber nur so beurteilt werden, wenn sie als Vorbereitung auf den der Natur transzendenten, moralischen Endzweck begriffen wird. Die Realisierung des Endzwecks gerät dadurch, wie schon in der zweiten Kritik, zur unendlichen Aufgabe, und Geschichte kann zwar als Prozeß der Kultivierung, nicht aber als Prozeß der Moralisierung des Menschen gefaßt werden. Der Endzweck bleibt außerhalb der Natur und damit auch außerhalb der Geschichte. Auch diese Argumentation Kants ist im Detail und im Ganzen angreifbar. Gleichwohl wird jeder Versuch, über Kant hinauszugehen, ohne ihn dabei einfach zu ignorieren, sein Argument erwägen müssen, daß nur in bezug auf den der Natur transzendenten, moralischen Zweck Kultur mehr sei als die durch technisch-praktische Vernunft vermittelte Selbsterhaltung der Gattung. „Denn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinct verrichtet; sie wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen."1 Erst im Lichte des Unterschieds von letztem Zweck und Endzweck, von Kultur und Moral kann demnach die Welt fur den Menschen als sinnvoll erscheinen. „Denn [...] wären [...] auch vernünftige Wesen, deren Vernunft aber den Werth des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre: so wären zwar (relative) Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen doch immer zwecklos sein würde."2 Gesetzt, irgendwann einmal wären „alle Verhältnisse [...], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"3, umgeworfen, dann wäre die Kantische Unterscheidung von letztem Zweck und Endzweck möglicherweise nur noch von historischem Interesse. Bis dahin steht sie und mit ihr Kants praktische Philosophie im Zentrum des systematischen Interesses.
1 KpV,V 61f. 2 KU, V 448f. 3 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1956, 385.
Politische Grundbegriffe und Probleme in Kants moralischer Religionskritik
TOBIAS BLANKE
Wider die Rotte des bösen Prinzips Was vom Menschen vorauszusetzen ist
Politik kann dort thematisch werden, wo der Titel eine Abhandlung zur Religion erwarten läßt. Für viele der modernen politischen Philosophen ist das selbstverständlich, denn ihnen ist die Sache der Religion eine Frage der politischen Motivation von Menschen. Auch Kant beschränkt seine Religionstheorie nicht auf eine philosophische Darstellung der Religion. Seine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist 1793 nach den moralischen Grundlegungsschriften und vier Jahre vor der Metaphysik der Sitten erschienen. Zeitlich gesehen ist sie damit ein Übergang von der Moral- in die Rechtsphilosophie bei Kant. Kants Religionsschrift handelt von der Hoffnung, was im Besten aus „unserm Rechthandeln"1 herauskommt. Sie kann als Teil seiner praktischen Philosophie bestimmt werden. In ihrer Darstellung geht es um die Durchsetzung des guten Prinzips im Zusammenwirken der Menschen. Kants Thema in der Religionsschrift ist unter anderem die Verwirklichung der Freiheit der Menschen, wenn er eine Kirche entwickelt, die ein gutes Zusammenleben ihrer Mitglieder verwirklicht. Der Kampf des bösen Prinzips mit dem guten, der das Thema aller Abhandlungen der Kantischen Religionsphilosophie ist, läuft innerhalb des moralisch-praktischen Raums ab, auch in dessen religiös handelnden Personen. Die Religion wird bei Kant dem Bereich des Moralischen zugeschlagen, und des Menschen Verantwortung fur die Welt rückt in ihr Zentrum. Es wird nicht dargestellt, wie das gute Leben des Christus der Bergpredigt ausgesehen hat. Es geht nicht darum, die Kernaussage der christlichen Religion zu beweisen, daß Christus der Messias gewesen sei. Es wird vielmehr präsentiert, welche Rolle die Religion bei der Durchsetzung des guten Prinzips nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden hat. Das gute Prinzip muß sich bei Kant gegen das Böse durchsetzen. Die Bestimmung des Bösen ist Thema des ersten Stückes der Religionslehre Kants. Dieses wird entwickelt als Faktum des Menschen für alle anderen Menschen, das die Verantwortung an 1 Für Kant geht „aus der Moral [...] doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme;" (Religion, VI 5, Hervorhebung von T.B.).
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den Menschen stellt, es gemeinsam zu überwinden. Das böse Handeln muß die allgemeine Freiheit brechen. Robinson kann schlecht böse handeln. Das Böse wirkt sich bei Kant kollektiv aus.1 Es ist Teil der gesellschaftlichen Existenz des Menschen. In der Religionsschrift kommt Kant auf die Spur des Bösen im Menschen über die Erscheinung, die der Mensch im Zusammenleben mit anderen Menschen immer wieder gibt. Er erspart sich den „förmlichen Beweis" für das Böse angesichts „schreiender Beispiele"2 in der Erfahrung im Umgang der Menschen miteinander. Das Böse ist bei Kant dasjenige, das die Menschen von anderen voraussetzen können, wenn sie sich untereinander in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit begegnen. Die erste Vorraussetzung des Bösen bei Kant ist die ursprüngliche Anlage zum Guten, die gegen jede Erscheinung beim Menschen anzunehmen ist. Die Darstellung des Bösen in der Religionsschrift beginnt daher in diesem Text mit der moral- und religionstheoretischen Bedeutung des Bösen bei Kant, indem das wechselseitige Begründungsverhältnis von Gut und Böse in der Kantischen Moral untersucht wird. Im weiteren wird mit der Kantischen Kirche die gesellschaftliche Institution abgehandelt, in der sich die Anlage zum Guten im Menschen zu einem freien Zusammenleben auswirken kann. Am Schluß wird dargelegt, wie die Politik bei Kant mit der Erscheinung des Bösen umgeht und dabei Gefahr läuft, Politik in einen „Geist der Chikane"3 zu pervertieren. Dies geschieht, wenn beim anderen allein dessen Erscheinung als böser vorausgesetzt wird und dessen Anlage zum Guten vergessen wird. Für diese politische Auswirkung des Bösen ist auf eine weitere Schrift Kants zurückzugreifen. Im Anhang zu seiner Friedensschrift, nur ein Jahr nach der Religionsschrift erschienen, präsentiert Kant die Perversion der Politik angesichts des Bösen.
Warum die Kantische Moral nicht ohne das Böse auskommt Der Kampf gegen das Böse und nicht die Anweisung zu einem guten Lebenswandel organisiert den Aufbau der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In seinen religionsphilosophischen Schriften kommt Kant zu der Auffassung, daß der Mensch von Natur aus böse ist. „Der M e n s c h ist von N a t u r b ö s e . Vitiis nemo sine nascitur,"4 Eine „anthropologische Nachforschung" führt Kant auf einen „Hang zum Bösen in der menschlichen Natur" 5 . Mit ihr meint er, „befugt" zu sein, die „ganze 1 Sharon Anderson-Gold hat die gesellschaftliche Präsenz des Bösen dargestellt. Sie versucht den Sieg über das Böse als „social process" herauszuarbeiten. Vgl. Sharon Anderson-Gold, Unnecessary Evil - History and moral progress in the philosophy of Immanuel Kant, N e w York 2001, 26. 2 „Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen." (Religion, VI 32f.). 3 Frieden, VIII 374. 4 Religion, VI 32. 5 Religion, VI 29.
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Gattung" Mensch als radikal verdorben anzunehmen, weil sie zeigt, daß kein Grund besteht, „einen Menschen davon auszunehmen"1. Daß Kant das Böse in der menschlichen Natur verwurzelt gesehen hat, hat einige seiner Zeitgenossen dazu verleitet, ihm einen Rückfall hinter die eigene Aufklärung vorzuwerfen. Am bekanntesten ist sicherlich Goethes Empörung über den sich ,beschlabbernden' Kant. Laut Goethe hat Kant „seinen philosophischen Mantel [...] freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit auch die Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen"2. Die Christen sind nicht vorbeigekommen, um den Saum zu küssen. Kant mußte sich vielmehr bekanntermaßen für seine Religionsschrift vor der Zensur verantworten. Mißfallen hat der Zensur an der Schrift vor allem die tendenzielle Negation der Offenbarung in der Kantischen Unterscheidung von Offenbarungs- und Vernunftglauben. Weil Kant eine radikal auf Vernunft gegründete Religion gewollt hat, ist das Böse bei ihm ein anderes, als Goethe vermutet hat. Jede moralisch böse Handlung betrachtet Kant so, als ob sie aus dem Stand der Unschuld entsprungen sei.3 Nichts kann zur Erklärung des Bösen in uns herangezogen werden, schon gar nicht die Vertreibung aus dem Paradies. Bei Kant wird in der Religionsschrift das Böse als rein moralisches entwickelt, als die Abweichung von den moralischen Triebfedern. Der Mensch, „auch der Beste", ist bei Kant „nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt". Er macht „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes"4. Die Achtung vor dem Sittengesetz wird durch die Selbstliebe verdrängt. Zu dieser Umkehrung der Triebfedern liegt laut Kant ein natürlicher Hang im Menschen. Daher stattet Kant diesen mit einem „natürlichen"5 Hang zum Bösen aus, der das Böse bei ihm mehr als eine privatio boni sein läßt. Kant zieht damit die Konsequenz aus seinen moralischen Grundlegungen, wie nun dargestellt werden soll. In Kants moralischen Grundlegungsschriften wird das Böse als formaler Konterpart zum Guten entwickelt. Der Böse spielt bei Kant keine Rolle mehr, der neuzeitlichen
1 Religion,V125. 2 Johann Wolfgang Goethe, Brief an das Ehepaar Herder, 7.6.1793. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abteilung: Goethes Briefe, 50 Bde., Weimar 1887-1912, Bd. 10, 74-76. 3 „Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden." (Religion, VI 41). 4 Religion, Wi6. 5 Religion, V136.
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Entteufelung des Bösen folgend.1 Er hält das Böse in den Grenzen seiner formal begründeten Moral. Auch zum Bösen gibt es wie zum Guten keine privilegierte Stellung mehr. Jeder kann es sein, denn nach Kant sind solche Maximen böse, die sich nicht widerspruchsfrei verallgemeinern lassen. Das ergibt sich aus der der Bestimmung des „nicht bösen" Willens in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. „Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann."2 Das Böse der christlichen Erbsünde spielt bei Kant keine Rolle mehr. Für Kants Grundlegung der Moral ist das Böse interessant als Objekt des moralischen Urteils, das in diesem Urteil die , Verabscheuung' ausdrückt. Das Gute formuliert hingegen, was das moralische Urteil wollen kann.3 Die vollständige Alternative zwischen Gut und Böse ergibt sich laut Kant aus der Konstruktion von moralischen Urteilen überhaupt.4 Weil Kant das Gute als Objekt des moralischen Urteils bestimmen möchte, braucht er ein Böses. Damit die Alternative zwischen Gut und Böse eine vollständige wird, muß dieses Böse aus derselben Quelle stammen wie das Gute. Es muß seinen Ursprung nicht in der Erbsünde und der Versuchung durch Luzifer haben, sondern aus der praktischen Vernunft kommen. Es hat einen „Vernunftursprung"5. Wichtig ist das Böse in der Kantischen Grundlegung der Moral, weil es ihm um das Gute geht. Wer wissen will, was das Gute oder sein Gott ist, muß es auch vom Bösen, seinem Gegenteil, unterscheiden lernen. Gut und Böse sind Reflexionsbegriffe. Die Tugend ist nicht ohne Kampf, stellt die Anmerkung 1 zum ,Widerspruch' in der Hegelschen ,Logik' fest. Tugend bedarf der Laster, um sich zu vergleichen. Daher kann, um der Tugend willen, das Laster nicht einfach ein Mangel der Tugend sein oder eine Frage 1 Kittsteiner hat diesen Verlauf nachgezeichnet und beschreibt ihn so: „Aus dem personalen Teufel wird ,das Böse', ein psychologisch-philosophisches Prinzip nicht außerhalb, sondern innerhalb des Menschen." Heinz Dieter Kittsteiner, „Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert - Ein kulturhistorisches Ereignis und seine Folgen", in: Die andere Kraft: Zur Renaissance des Bösen, hg.v. Alexander Schuller u. Wolfert von Rahden, Berlin 1993, 73. 2 GzMdS, IV 437. 3 „Gut" und „Böse" sind laut der Kritik der praktischen Vernunft „die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft" ( K p V , V 58). Mit diesen Objekten verfolgt Kant, ob „wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin muß die moralische Möglichkeit der Handlung vorangehen" (ebd.). Mit dem Objekt ist der Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft gekennzeichnet, nach dem beurteilt wird, ob, wenn wir etwas könnten, wir es auch wollen dürften. Das Gute ist „notwendiger Gegenstand eines Begehrensvermögens", das Böse „eines Verabscheuungsvermögens" (ebd.) und negiert das Begehren (nach Begriffen). Gut und Böse machen zusammen den ganzen Umfang des Urteils über das mögliche Wollen einer durch sich selbst praktischen Vernunft aus. Das moralische Subjekt kann sich zu nicht mehr entscheiden, als entweder absolut Einzelnes oder absolut Allgemeines zu sein. 4 Da die Moral nach Kant das Gute erstrebt, ist sie prinzipiell ein „Verfahren" gegen dessen Negation, das Böse. „Die Begreiflichkeit des einen [Sittlich-Guten, T.B.] ist ohne die des andern [Sittlich-Bösen, T.B.] gar nicht denkbar." (Religion, VI 59FN.) 5 Religion, VI 41.
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des Blickwinkels, von dem aus man die Tugend betrachtet. Es muß dieser vielmehr laut Hegel absolut entgegengesetzt sein. „Das Böse besteht im Beruhen auf sich, gegen das Gute; es ist die positive Negativität."1 Im Gegensatz von Gut und Böse kommt für Hegel die „wichtigste Erkenntnis" über die „Natur der betrachteten Reflexionsbestimmungen" zum Ausdruck, daß beide „ihre Wahrheit nur in ihrer Beziehung aufeinander haben"2. „Ohne diese Erkenntnis läßt sich eigentlich kein Schritt in der Philosophie tun."3 Das Vertrauen in die Güte des anderen ist nicht möglich ohne gleichzeitiges Mißtrauen gegen dessen Böses. Für Kant ist es die Erscheinung des Menschen in der Welt, die Schlimmes vermuten läßt. Er wird auf die Spur des Bösen im Menschen durch die ,schreienden Beispiele' gebracht, die ihm für solches Handeln in der Welt begegnen. Äußerlich begegnen sich die Menschen bei Kant mit Mißtrauen. In seiner Religionsschrift klärt Kant über die Voraussetzungen auf, die dieses immer wieder auftauchende äußerliche Fehlverhalten hat. Daß das Böse gegen das Gute behauptet wird, komplettiert bei Kant das moralische Urteil. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Für den Moraltheoretiker Kant ist es deswegen geboten, daß das Böse nicht bloß privatio boni sein kann, denn es und das Gute wären ansonsten verharmlost. Wenn in der Religionssphilosophie von Kant das Böse als eigene Entität ausgeführt wird, wird nicht ein neuer Begriff des Bösen entwickelt, sondern die Konsequenz aus den moralischen Grundlegungen gezogen. Gegen Goethes Empörung führt Kant seine eigene Aufklärung der Grundlagen der Moral in der Religionsschrift fort. Der natürliche Hang zum Bösen holt als eigene negative Weltgröße die „Anlage"4 zum Guten immer wieder ein, denn nur beide zusammen machen das moralische Urteil möglich. Weil das Böse jedoch bei Kant als Triebfederkonflikt bestimmt ist, kann es diese Anlage zum Gute nie ganz hinter sich lassen, denn das bedeutete das bewußte Herbeiführen der Abwesenheit des moralischen Gesetzes, wenn „nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe" die „Triebfedern der Sinnlichkeit [...] für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür"5 würden. Das unbegleitete Böse kann keinen Menschen erfüllen. Das Böse ist bei Kant eine eigene Entität nicht als Hegeische ,positive Negativität', sondern als Perversion. Dagegen: „Das Böse als B ö s e s zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen", wäre „teuflisch". „So viel wir einsehen, ist ein dergleichen Verbrechen einer förmlichen (ganz nutzlosen) Bosheit zu begehen Menschen unmöglich [...]."6 Das Wollen wird für Kant böse, wenn das Erstrangige für die Freiheit, das Gute, zweitrangig wird. Die
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die objektive Logik (1812/13), in: Gesammelte Werke Bd. 11, hg. v. Friedrich Hogemann und Walter Jäschke, Hamburg 1978, 284. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die objektive Logik (1812/13), a.a.O., 285. 3 Ebda. 4 „Die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut" (Religion, VI 44). 5 Religion, VI 36. 6 MdS, VI 322FN.
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„Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens"1 besteht darin, daß die Reihenfolge der Ordnung der Triebfedern verkehrt wird. Die Umkehrung einer Ordnung ist jedoch nie von dem gleichen Rang wie diese Ordnung selbst. Indem die Selbstliebe als oberste Maxime aufgenommen wird, werden bedingte Zwecke zur Bedingung des unbedingten Zweckes des Guten gemacht. Das Sittliche wird pervertiert, nicht negiert. Dies geschieht allerdings so gründlich in der Religionsschrift, daß Kant gegen jeden Anschein der Treue zum Guten einen „Charakter" vermutet, der „intelligibele immer noch böse"2 im Hintergrund bleibt gegen jede empirische Erscheinung. Wissen, ob der intelligibele Charakter gerade gut oder böse ist, kann bei Kant Gott allein. Die ,schreiende Beispiele' lassen im Umgang der Menschen miteinander böse Charaktere vermuten. Gottes Wissen über die Menschen hingegen ist nicht auf die äußerliche Erscheinung reduziert. In dessen Kirche lebt es sich gut zusammen gegen jede Erscheinung des Bösen in der Welt.
Wie die Menschen gut zusammenleben können Die Identifikation mit dem anderen kann gelingen, wenn Gott als eine Art moralischer Übervater hilft, als der er in der Religionsschrift entwickelt wird. Sie kann gelingen, weil man gegen die Erscheinung, die der andere vielleicht bietet, einen guten Menschen voraussetzen kann. Gott kennt im Gegensatz zu den Menschen den Charakter der Menschen und kann entscheiden, ob der Mensch ein guter oder ein böser ist. Gottes Aufgabe bei Kant ist es, die Unmoralischen nicht mit ihrem Handeln durchkommen zu lassen. In seiner Kirche wird daher eine Gemeinschaft aufgebaut, in der mit dem guten oder bösen Anderen umgegangen werden kann. Man lebt moralisch zusammen. In dieser Gemeinschaft wird das Böse „frei" 3 überwunden, wenn jedes von deren Mitgliedern zu einem neuen ethischen Selbstverhältnis gelangt. Da das Böse bei Kant das Zusammenleben der Menschen durchdringt, ist auch das Überwinden des eigenen individuellen Bösen als Teil der gesellschaftlichen Tat anzusehen, die zur freien Gemeinschaft fuhrt. Unter den moralischen Bedingungen einer kirchlichen Zusammenkunft wird der Einzelne durch ihn selbst und den Zwang, den er sich in seinen Tugenden selbst gibt, in eine „ethisch-bürgerliche"4 Gesellschaft eingebunden. Gerade die Idee der Tugend sagt für Kant aus, daß die moralische Güte nicht eine Sache der „Gemütlichkeit" ist, sondern sich im Kampf gegen das Böse zu bewähren hat. In der Voraussetzung eines Feindes, den es zu erkennen gilt, ist laut Kant der „Name Tugend ein herrlicher Name"5, der übersetzt „Muth" und „Tapferkeit" bedeutet. So be1 2 3 4 5
Religion, VI 30. Vgl. Religion, VI 37. Vgl. Religion, VI 102. Vgl. Religion, VI 94f. Religion, VI 57.
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ginnt das zweite Stück der Religionslehre Kants: „Von dem Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über den Menschen". Das Vermögen, dem „starken, aber ungerechten" inneren Feind „Widerstand zu thun, [ist] die Tapferkeit (fortitudo) und in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns Tugend {virtus, fortitudo moralis)"'. Es ist der Hang zum Bösen, der die Ordnung der tugendhaften Sittlichkeit umkehrt. Das Böse ist bei Kant nicht allein Grund der Freiheit, sondern auch Gradmesser von deren Standhaftigkeit. Bewährt sich diese, schließt sich gegen das negative Ideal des Teuflischen im Menschen und die „Rotte des bösen Princips"2 ein „ethischer Staat" zusammen, der im festen moralischen Zusammenhalt ein wahres „Volk Gottes" aufbaut. Ein „Freistaat"3 der „unsichtbaren Kirche" entsteht. In dieser sind die Mitglieder gemeinsam dem göttlichen Vater verpflichtet, der Symbol einer nicht unmoralisch affizierten Wirklichkeit ist. Dieser Freistaat steht am Ende der Hoffnung der Kantischen Religionsphilosophie, als Antwort auf die Frage, „was [...] aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme"4. In ihm setzt sich die Tugend seiner Mitglieder durch. Die Tugend bekämpft den ethischen Naturzustand, in dem nicht frei zusammengelebt werden kann, weil man noch nicht in die unsichtbare Kirche der Moral eingetreten ist. Daß aus dem ethischen Naturzustand schnell auszutreten ist, weil hier genau wie im rechtlichen jeder tut, was ihm recht und billig erscheint, verdeutlicht Kant durch einen unter den Philosophen seiner Zeit beliebten Hinweis auf Zustände unter ,Wilden'. Das gemeinsame Bild, das Kant fur beide Naturzustände wählt, ist das von wilden „Mordszenen auf Tofoa"5. Hier ist man laut Kant schlecht zueinander. Mindestens ist jedoch nicht auszuschließen, daß die anderen ihrem natürlichen Hang zum Bösen entsprechen, weil sie eben die anderen sind, in die man im Gegensatz zum göttlichen Vater keinen Einblick bis ins Innerste hat. Weil der Mensch nicht Gott ist, muß er sichergehen und seinen anderen als böse voraussetzen. Wie der rechtliche Naturzustand für Kant festlegt, daß man ohne Recht und Staat nicht zusammenleben kann, so stellt der ethische Naturzustand fest, daß man ohne Moral nicht zusammenleben kann. Weil man sich selbst und seinen anderen nicht trauen kann, entstehen Tugend und Politik und nicht, weil man längst vergangene Wilde nicht sich selbst überlassen will. In der Kirche wird dieses moralische Zusammenleben bei Kant organisiert. Bevor man nicht in die Kirche Gottes eingetreten ist, läßt sich für Kant nicht freistaatlich zusammenleben. Der andere bleibt charakterlich undurchsichtig. Laut Kant wird die Rotte der undurchsichtigen anderen in der Religion überwunden, schließt man sich zum Freistaat zusammen. Dieser ist bei Kant als Demokratie bestimmt. In der Poli-
1 MdS, VI 380. 2 Religion, VI 100. 3 Religion, VI 102. 4 Religion,V15. 5 Religion,V133.
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tik wird bei Kant „republikanisch"1 geherrscht, d.h. mit geteilter Gewalt. Im „Freistaat"2 wird hingegen demokratisch zusammengelebt. Geht es in der Friedensschrift um die Politik, äußert sich Kant sehr negativ über die politische Formation der Demokratie ohne Repräsentation: Sie sei als Herrschaft von allen über alle ein „Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich" und somit „notwendig ein Despotism"3. Angesichts solch harscher Worte über die Demokratie muß es verwundern, daß Kant diese als Anschauung zitiert, geht es darum, wie sich die Mitglieder des Freistaats unter dem Prinzip der Freiheit aufeinander beziehen. Hier ist die Demokratie ungefährlich, da sie nicht als politisches Prinzip auftritt - ganz herrschaftsfrei. In der inneren Gemeinschaft der Kirche unter dem göttlichen Vater ist laut Kant „durch besondere Eingebung"4 der Gegensatz der Interessen ausgeschlossen. Jeder ist besonders für sich, ohne daß dies zu einem Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst fuhren muß. In ihr zählen bei Kant lediglich die ,moralischen Triebfedern', die den Staat von Rechts wegen nichts angehen. Die Identifikation mit dem anderen ist möglich. Die wahre Kirche ist fur Kant jenseits der Politik und diesseits der Moral in ihrer Konstitution „unveränderlich"5. Sie benötigt Administration des immergleichen freien Zusammenseins und ist damit Metapolitik. Politik in der Kirche heißt , Verwaltung der Sachen' und trotz Demokratie keine Freiheit für den demos.6 Die „innere Eingebung", die sich über die bösen Erscheinungen beim anderen hinwegsetzen kann, wird gestützt durch die göttliche Einsicht in den Charakter der Menschen, die die Bösen nicht davonkommen läßt. So betrachtet scheint man im Freistaat „frei" als Verwalter zu sein. Folgerichtig ist der Freistaat bei Kant mehr nach der Art der Hegeischen „unmittelbaren Sittlichkeit"7 eine Familienangelegenheit. Diese familiäre Hauswirtschaft, zusammengehalten durch Gott als moralischen Vater der Familie, folgt dem Herzen und ist innerlich, damit gewollt unpolitisch bei Kant, denn die Politik Kants folgt dem Recht in die Äußerlichkeit. Die perfekte freie Welt, in der man moralisch zusammenleben kann, muß für Kant unpolitisch sein, weil sie auf
1 Vgl. Frieden, VIII 352. 2 Vgl. Religion, VI 102. 3 Frieden, VIII 352. 4 Religion, VI 102. 5 Religion, VI 102. 6 Die Modalität der „unsichtbare Kirche" bei Kant ist „die Unveränderlichkeit ihrer Constitution nach, doch mit dem Vorbehalt der nach Zeit und Umständen abzuändernden, bloß die Administration derselben betreffenden zufälligen Anordnungen, wozu sie doch auch die sichern Grundsätze schon in sich selbst (in der Idee ihres Zwecks) α priori enthalten muß (also unter ursprünglichen, einmal gleich als durch ein Gesetzbuch öffentlich zur Vorschrift gemachten Gesetzen, nicht willkürlichen Symbolen, die, weil ihnen die Authenticität mangelt, zufallig, dem Widerspruche ausgesetzt und veränderlich sind)" {Religion, VI 102). 7 Am Ende ist diese kirchliche Gemeinschaft bei Kant nicht demokratisch, sondern am besten mit einer „einer Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater" (Religion, VI 102) zu vergleichen.
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einer innerlichen, für Menschen unsichtbaren Gemeinschaft fußt. Bildet die Moral die Agenda, kann die Identifikation mit dem anderen gelingen. Wo die moralischen Triebfedern im Kontakt mit dem anderen nicht hinreichen, beginnt für Kant das Recht. Durch das Recht kann jemand gezwungen werden. Die Moral kennt als legitimen Zwang nur den Selbstzwang. Ethik und Politik unterscheiden sich bei Kant darin, daß letztere nicht nur die Möglichkeit des Zwanges begründet, sondern wirklich mit diesem umgeht.1 Äußerer Zwang in der inneren Gemeinschaft der Moral ist für Kant illegitim. Es kann daher keiner gezwungen werden, in die Kirche als ethisches Gemeinwesen einzutreten. Man kann auch nicht-tugendhaft bleiben wollen und im ethischen Naturzustand verbleiben wollen, muß sich allerdings am Kantischen ,Ende der Dinge' auf die Quittung des moralischen Übervaters Gott gefaßt machen. Die innere Identifikation mit dem anderen ist für die Politik Kants ausgeschlossen und auch nicht unbedingt erstrebenswert. Politik muß auch unter nicht-moralischen Bedingungen existieren und übt bei Kant Recht aus, nicht Moral. Sie ist in der Friedensschrift als „ausübende Rechtslehre"2 bestimmt. Der andere wird hier so behandelt, wie er jenseits seiner ursprünglichen Anlage zum Guten erscheint. Weil der Mensch im Gegensatz zu Gott keinen Einblick bis in den inneren Charakter des Menschen hat, kann er zumindest nicht ausschließen, daß er es mit einem bösen Exemplar zu tun hat. Daß dies nicht auszuschließen ist, führt Kant dazu, einen Staat zu fordern, der nach bekannter Kantischer Wendung auch einem „Volk von Teufeln" 3 mit Verstand widerstehen kann. Keinesfalls jedoch soll ein Staat seine Menschen wie Teufel behandeln. Dann, so Kant, entsteht eine Despotie im Geist der Schikane.
Wie die Menschen auch als nicht gute zusammenleben können Bei Kant benötigen die Menschen einen Staat, der die Identifikation mit dem anderen unnötig macht, weil er auch für die bösen anderen funktioniert. Politik hat nach einer berühmten Empörung Machiavellis über Politiker, die nicht in der Lage sind, im Zweifels-, d.h. Kriegsfall einen Meuchelmord zu begehen, die Fähigkeit, über die ethische Dimension des Selbst hinauszugehen, indem man Zwang einsetzen kann. Dies
1 Vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin/New York 1984, 127. 2 Dies darf nicht so verstanden werden, als ob die Politik bei Kant lediglich das exekutierte, was ihr vom Recht befohlen ist. Sie muß sich gleichwohl an diesem orientieren und von ihm ,belehren' lassen, d.h. vor allem darf sie nicht den Prinzipien des Rechts als Inbegriff einer wechselseitigen Freiheit unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit widersprechen. Vgl. Volker Gerhardt, „Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik", in: Kant in der Diskussion der Moderne, hg.v. Gerhard Schönrich u. Yasushi Kato, Frankfurt am Main 1996,478f. 3 Vgl. Frieden, VIII 366.
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macht sie besonders gegenüber der Moral. Auch bei Kant ist das so, denn für ihn gehören Recht und die Befugnis zu zwingen unmittelbar zusammen.1 In einer Fußnote der Friedensschrift verneint Kant, daß die „in der menschlichen Natur gewurzelte Bösartigkeit von Menschen" im Staat bloß auf einen „rohen"2 Mangel in deren Kultur zurückzuführen ist. Kant spielt hier Hobbes.3 Er meint, daß im „Inneren des Staates" die „Bösartigkeit von Menschen" verdeckt wird durch die noch „größere Gewalt" der Regierung. Im Verhältnis der Staaten untereinander zeigt sich dann die brutale Wolfsnatur des Menschen - „unverdeckt" und „unwidersprechlich"4. Von Hobbes unterscheidet sich Kant allerdings darin, daß das für die Zukunft nicht alles gewesen sein kann. Die Furcht vor dem anderen und dessen Macht ist nicht durchgehende Bedingung des Rechts. Die Macht des Rechts setzt diese Furcht aus. Mit der Regierung im Rücken kann man bei Kant moralisch sein, ohne die anderen fürchten zu müssen. Als Ziel der Politik wird bestimmt, eine „Gleichheit" der Sicherung von allen gegen alle zu schaffen, denn im Staat herrscht laut Kant das wechselseitige Urteil, „daß sie alle, was das Faktum betrifft, wenig taugen"5. Mit dieser Erscheinung geht der Staat um. Kant wird als Gefahr dieses Umgangs entwickeln, daß die ursprüngliche Anlage zum Guten im Menschen übergangen wird, die er in seinen moralischen Grundlegungsschriften und der Religionsschrift als Bedingung noch der bösen Erscheinung des Menschen entwickelt hat. Gegen Hobbes darf sich keine staatliche Souveränität über die Anlage zum Guten im Menschen hinwegsetzen. Im Anhang zur Friedensschrift geht es Kant darum zu widerlegen, daß Moral und Politik notwendig ,mißhellig' sein müssen. Dafür ist zu zeigen, daß der Zwang, den die Politik mit dem Recht ausübt, nicht notwendig in den moralischen Untergang führen muß. Man kann für Kant die Freiheit mit Zwang brechen, ohne unmoralisch zu werden. Auch das Auslassen der Identifikation mit dem anderen muß nicht Unmoral bedeuten. Im politischen Alltag beobachtet Kant oft anderes. Das „Böse", was „im Wege" 6 des politischen und moralischen Fortschreitens ist, wird politisch ausgenutzt, um nicht „moralischer Politiker" zu sein, sondern „politischer Moralist"7. Letzterer schmiedet sich die Moral für sein Machtbegehren zurecht und fugt so dem rechtlichen Gemeinwesen schweren Schaden zu.8 Es geht im Anhang um den scheinbaren Gegensatz von Macht und Moral. Falsch ist es zu glauben, daß Kant Machtpolitik ausschließen möchte.
1 Vgl. MdS, VI 231. 2 Frieden, VIII 274FN. 3 Vgl. Gordon Michaelson, Fallen Freedom: Kant on radical evil and moral regeneration, Cambridge 1990,27. 4 Vgl. Frieden, VIII 274FN. 5 Frieden, VIII274FN. 6 Vgl. Frieden, VIII 376. 7 Moralische Politiker nehmen „die Principien der Staatsklugheit so", „daß sie mit der Moral zusammen bestehen können" (Frieden, VIII372). 8 Frieden, VIII 372.
WIDER DIE ROTTE DES BÖSEN PRINZIPS
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Er glaubt an die ,Bösartigkeit' im Menschen, welche auch mit Macht zu bekämpfen ist. Es geht ihm vielmehr im Anhang zur Friedensschrift darum zu zeigen, daß kein Gegensatz besteht zwischen der Moral und einer politischen Effektivität der Macht. Politiker können sich bei ihm im Gegensatz zu Hobbes und Machiavelli Moral erlauben. Ohne „moralisches Gesetz" sind für Kant gar die Politik und ihr Welterfolg „sachleere Gedanken"1. Mit moralischer Politik weicht man den „Übeln nicht", sondern tritt ihnen „beherzter entgegen", wenn man nicht das „böse Princip in uns selbst"2 dazu nutzt, den äußersten Grundsatz der Politik zu unterlaufen und Lüge und Unwahrheit zu verbreiten. Den obersten Grundsatz der Politik zu unterlaufen und die Öffentlichkeit durch Lügen zu täuschen, kennzeichnet bei Kant die politischen Moralisten.3 Haben diese überhaupt einen Grund, sich gegen den moralischen Politiker durchzusetzen, ist es ihre Überheblichkeit, überall um das gut verborgene aber einzig wahrhaft seiende Böse zu wissen. Der politische Moralist ist für Kant der schlechte Leser der Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, der in der äußeren Beobachtung stehenbleibt. Das Vorurteil ist, „die Menschen zu kennen"4. Diese politischen Moralisten kennen jedoch laut Kant nicht „den Menschen"5. Ihnen entgeht in ihrem Streben, ihre eigene Interessen durchzusetzen, daß jeder Mensch als freies Wesen eine Anlage zum Guten hat, die in jeder Handlung zu achten ist. Daß sich die Menschen faktisch als Bösewichter begegnen, ist wie gezeigt für Kant lediglich möglich, weil sie alle eine ,Anlage zum Guten' besitzen. Das Böse ist der Beweis für das Gute und umgekehrt. Die , Anlage zum Guten' in der Menschheit ist von keinem Hang zum Bösen im Menschen einzuholen. Vor der Gewaltwut der Politik rettet bei Kant den Menschen, daß er Teil der Menschheit ist. Die „despotierenden Moralisten"6 schließen aus, daß die menschliche Natur zum Guten fähig ist und verunmöglichen so das „Besserwerden"7. Die „Rechtsverletzung" wird „verewigt"8. Es setzt sich laut Kant der „Geist der Chicane"9 gegen alles Andere durch. Wegen seines Vorurteils gegenüber dem Menschsein wird der politische Moralist zum Opponenten gegen den Staat von Innen her, der noch in der besten iustitia distributiva das Böse wittert und diese eigenmächtig verändern will. Aufgabe des Staates der reinen Macht ohne Moral wird es, das Böse und dessen Folge, das Unrecht, in immer 1 Frieden, VIII 372. 2 Vgl. Frieden, VIII 385f. 3 Die moralisierenden Politiker „verewigen die Rechtsverletzung" „durch Beschönigung rechtswidriger Staatsprincipien unter dem Vorwande einer des Guten nach der Idee, wie sie die Vernunft vorschreibt, nicht fähigen menschlichen Natur" (Frieden, VIII 373). 4 Frieden, VIII 374. 5 Frieden, VIII 374. 6 Frieden, VIII 373. 7 Frieden, VIII 373. 8 Frieden, VIII 373. 9 Frieden, VIII 374.
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neuen Verwinklungen aufzuspüren. Nichts darf vor der staatlichen Sicherheit mehr sicher sein. Der politische Moralist ist der Kasuistiker. Seine Kasuistik ist Konsequenz eines Feindes, der nicht zu riechen, zu schmecken oder zu sehen ist, denn noch im höchsten Glückszustand der Menschen verbirgt sich fur den politischen Moralisten Böses. Mit der Kasuistik wird die Ordnung des Rechts nach Prinzipien unterhöhlt. Ist die Kasuistik zur ganzen Ordnung erklärt, weil dem radikal bösen Menschen nicht mehr zu trauen sei, bedeutet dies das Auflösen der Vernunft selbst. Der Staat wird vom Ermöglicher menschlicher Freiheit zum Misanthropen. Die strukturelle Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen, die die Politik als nicht-moralische Gewalt auszeichnet, schlägt in Feindseligkeit um. Dies ist für Kant unbedingt zu verhindern. Der andere muß laut Kant von Rechts und Politik wegen dem Menschen charakterlich fremd bleiben, weil hier äußerlich gehandelt wird. Von Moral und Religion aus gesehen mag die Identifikation mit ihm gelingen - unter der besonderen Bedingung der ,inneren Eingebung', die mit Hilfe des moralischen Vaters Gott gelingen kann. Die Politik kann auf diese Eingebung bei Kant nicht warten. Sie handelt bei Kant schon, wenn für Religion und Moral die Überlegung einsetzt, ob sich dahinter wohl ein schlechter Charakter verbergen möge: bei dem Faktum, daß Menschen nichts taugen. Diese Voraussetzung der Politik über die Menschen kann fur Kant zumindest nicht ausgeschlossen werden, was für Recht und dessen Politik schon ausreicht. Während in der Kirche bei Kant frei zusammengelebt werden kann, weil man mit Gott auf die Anlage zum Guten vertrauen kann, muß die Politik für ihn mit der Erscheinung des Bösen im menschlichen Zusammenleben umgehen. Ihr Versprechen ist bei Kant Ordnung und Standhalten noch gegen das „Volk von Teufeln (wenn sie Verstand haben)"1. Teufel mit Verstand wissen die Macht zu gebrauchen, wissen jedoch auch um die Grenze dieser Macht in dem ursprünglichen Guten des anderen. Der Staat soll zwar bei Kant ein Volk von Teufeln aushalten können, seine Untertanen jedoch niemals so behandeln, als ob sie Teufel wären. Die Politik geht bei Kant nicht mit Teufeln um, sondern mit Menschen, die immer auch eine Anlage zum Guten haben und daher nicht bloß als böse andere behandelt werden können. Im äußeren Umgang der Menschen miteinander nicht auf den Freistaat setzen zu können, darf laut Kant nicht bedeuten, die Moral der Macht zu opfern, indem man im Verweis auf das Böse im Menschen deren Anlage zum Guten übergeht.
1 Vgl. Frieden, VIII 366.
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Zum Begriff der Öffentlichkeit bei Kant
ι Das allgemeine Thema von Kants Spätschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist - wie der Titel anzeigt - das systematische Verhältnis von Vernunft und Religion. Die grundlegende Vermittlung zwischen Vernunft und Religion bildet dabei die Frage nach der Begründung allgemein-verbindlicher Normen, die in der Tradition häufig unter Hinweis auf religiöse Vorstellungen unternommen wurde, die aber für Kant nur im Rahmen einer transzendentalen Vernunftkritik zu leisten ist. In diesem Sinne eröffnet Kant seine Religionsschrift mit der grundlegenden Feststellung: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten."1 Ein moralisches Gesetz kann demnach genau dann als vernünftig und damit allgemein-verbindlich begriffen werden, wenn es sich weder auf göttliche Autorität noch auf natürliche Antriebe stützt, sondern allein aus der Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft entspringt. Kants Vernunftphilosophie stellt sich damit auf einen Standpunkt, „der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an etwas gehängt"2 ist. Die Begründung moralischer Prinzipien darf sich deshalb konsequenterweise ausschließlich auf die Autonomie der menschlichen Vernunft berufen. Vor diesem Hintergrund ist es auf den ersten Blick verständlich, warum sich Kants Religionsschrift davon überzeugt zeigt, daß „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, [...] es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten"3 wird. Nicht ebenso leicht verständlich ist freilich das sachliche Motiv, das Kants Vernunftphilosophie gleichwohl dazu bewegt, der Religion „innerhalb der Grenzen der bloßen 1 Religion, VI 3. 2 GzMdS, IV 425. 3 Religion, VI 10.
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Vernunft" eine eigenständige Bedeutung zuzubilligen, die sich nicht einfach auf die transzendentalen Prinzipien der Kantischen Rechts- und Moralphilosophie zurückfuhren läßt. In einem sehr spezifischen Sinn, der in den folgenden Überlegungen näher bestimmt werden soll, gilt nämlich für Kant auch der umgekehrte Satz: Keine Vernunft, die der Religion unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie aushalten.1 Kants Religionsschrift fragt somit nach einem transzendentalphilosophisch begründbaren Wahrheitsgehalt der traditionellen Religion, der zur moralischen und rechtlichpolitischen Dimension der reinen Vernunft eine neue Dimension hinzufugt. Der hier verfolgte Gedankengang versucht, diese neue Vernunftdimension in mehreren Schritten möglichst präzise zu bestimmen. Den Ausgangspunkt wird dabei die eigentümliche und komplexe Beziehung bilden, die Kant zwischen dem Vernunftbegriff und der B e stimmung des Menschen' herstellt. Von hier aus wird sich dann ein Weg eröffnen, der auf einen normativen Begriff der Öffentlichkeit fuhrt, der das transzendentale Wesen der Vernunft nicht nur von Grund auf bestimmt, sondern sie aus immanenten Gründen am Ende auch zu der Einsicht fuhrt, daß der endliche Standpunkt der menschlichen Vernunft nicht zur letzten Instanz für das Vernünftige gemacht werden darf.
II Für Kant lassen sich alle genuinen Vernunftfragen in die eine Frage zusammenfassen: „Was ist der Mensch?" 2 . Auf diese Frage gibt die Religionsschrift gleich am Anfang, im ersten Abschnitt des ersten Hauptstücks, eine überaus vielschichtige Antwort, die das systematische Fundament für alles Folgende bildet. An der angegebenen Stelle unterscheidet Kant nämlich drei „Elemente" oder „Anlagen" in der „Bestimmung des Menschen": 1. die ,Anlage für die T h i e r h e i t des Menschen, als eines l e b e n d e n " ; 2. die Anlage für „die M e n s c h h e i t desselben, als eines lebenden und zugleich v e r n ü n f t i g e n " ; 3. die Anlage fur „seine P e r s ö n l i c h k e i t , als eines vernünftigen und zugleich der Z u r e c h n u n g f ä h i g e n Wesens" 3 . 1 Bei Hegel findet sich eine ganz ähnliche Überlegung. In der neun Jahre nach Kants Religionsschrift erschienenen Abhandlung über Glauben und Wissen heißt es: „Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegengesetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen kein anderer, als daß weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch daß sie, die gesiegt hat, Vernunft blieb und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphierend als das gemeinschaftliche, beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, ebensowenig von Vernunft als echtem Glauben an sich hat." Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen, Theorie-Werkausgabe, Frankfurt am Main 1970ff„ Bd. 2, 288. 2 Immanuel Kant, Logik, in: Kant's Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe) Band IX, Berlin, 1923, 25. 3 Religion, VI 26.
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Der Schlüssel zu dieser auf den ersten Blick kaum verständlichen Passage liegt in den beiden ,Zugleichs', mit denen Kant die drei Teilaspekte der ,Bestimmung des Menschen' zu einer komplexen Struktur vereinigt. Zum einen ist der Mensch ein lebendes und zugleich vernünftiges Wesen; er ist zum anderen aber auch ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges, d.h. persönliches Wesen. Beide ,Zugleichs' markieren also jeweils eine Spannung zwischen zwei klar unterschiedenen und doch aufeinander bezogenen Aspekten der menschlichen ,Bestimmung. Die eigentliche Pointe des Kantischen Gedankens besteht aber darin, daß die Vernunft an beiden Spannungsbögen mitwirkt und so den Übergang vom einen zum anderen bildet. Wenn also Kant die drei,Elemente' in der Bestimmung der Menschen des näheren als drei Momente in der „ u r s p r ü n g l i c h e n A n l a g e zum G u t e n in der m e n s c h l i c h e n N a t u r " 1 versteht, dann läßt sich dieser Ansatz der „Religionsschrift" auch so ausdrücken, daß die ursprüngliche Anlage des Menschen zum Guten in einem ganz eigentümlichen Zwischensein der menschlichen Vernunft begründet ist: Die Vernunft steht zwischen dem Natur- und dem Personsein des Menschen und vermittelt dergestalt die beiden Aspekte des menschlichen Selbstverständnisses zu einer in sich differenzierten Einheit.2 Die „Anlage zum Guten" wird bei Kant freilich sehr genau vom der faktischen Wirklichkeit des Guten unterschieden. Denn ein „der Anlage nach gutefr] Baum ist es", so Kant, „noch nicht der That nach; denn wäre er es, so könnte er [...] nicht arge Früchte bringen"3. Daher ist die am Anfang der „Religionsschrift" exponierte „Bestimmung des Menschen" nicht nur als Anlage zum Guten, sondern genauer als Anlage zum Guten und Bösen zu verstehen.4 Da diese Anlage aber des näheren als Vernunft zu verstehen ist, kann die konkrete Wirklichkeit des Guten wie des Bösen bei Kant allein aus dem spezifischen Wesen der menschlichen Vernunft heraus verstanden werden. Die philosophische Betrachtung „der moralischen Beschaffenheit des Menschen" hat sich deshalb dem „Grund des G e b r a u c h s der Freiheit" zuzuwenden, der Kant zufolge „lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß"5. Aus diesem konsequent vernunftphilosophischen Ansatz ergibt sich bereits eine wichtige Schlußfolgerung: Der Grund des Bösen, so Kant, kann „nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der S i n n l i c h k e i t des Menschen und den daraus ent-
1 Religion, VI 26. 2 Vgl. hierzu Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2003. 3 Religion, VI 45 Anm. 1. 4 Nach der Exposition der drei „Anlagen" des Menschen fuhrt Kant deshalb sofort die „Laster" an, die auf die jeweilige Anlage „gepfropft" werden können, auch wenn sie aus der „Anlage, als Wurzel [nicht] von selbst entsprießen" {Religion, VI 26). Es ist für Kants Vernunftphilosophie überaus kennzeichnend, daß sie allein die beiden ersten Anlagen für korrumpierbar hält, nicht aber die Anlage zur „Persönlichkeit", auf die „schlechterdings nichts Böses gepfropft werden kann" (Religion, VI 27). 5 Religion, VI 40.
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springenden natürlichen Neigungen gesetzt werden"1. Wenn nämlich die moralische Beschaffenheit des Menschen einzig und allein von ,Vernunftvorstellungen' abhängt, dann können die menschliche Sinnlichkeit' und die aus ihr entspringenden Naturbedürfnisse für sich genommen weder gut noch böse sein. Umgekehrt kann aber auch der moralische Maßstab, die reine praktische Vernunft, für sich genommen nicht böse sein, so daß der Grund des Bösen ebensowenig „in einer Verderbniß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft" zu suchen ist, „als ob diese das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen könne"2. Als Erklärung für den „Grund des Moralisch-Bösen im Menschen" enthält deshalb „die S i n n l i c h k e i t zu wenig", weil sie „den Menschen, indem sie die Triebfedern, die aus der Freiheit entspringen können, wegnimmt, zu einem bloß T h i e r i s c h e n " macht. Eine „vom moralischen Gesetze aber freisprechende, gleichsam b o s h a f t e V e r n u n f t (ein schlechthin böser Wille) enthält dagegen zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder [...] erhoben und so das Subjekt zu einem t e u f l i s c h e n Wesen gemacht werden würde. - Keines von beiden aber ist auf den Menschen anwendbar."3 Das Böse läßt sich also für Kant weder aus reiner Natur noch aus reiner Vernunft verstehen. Damit ist aber der systematische Ansatz und die Leitfrage von Kants Religionsschrift umrissen: Wie ist der ,Grund des Moralisch-Bösen' als ein (falscher) Vernunftgebrauch der Freiheit zu verstehen, ohne daß dadurch die reine Vernunft selbst zu einer boshaften' Vernunft verfälscht wird? Oder anders gewendet: Wie ist die eigentümliche Zwischenstellung einer menschlichen Vernunft genauer zu verstehen, die in sich die Anlage zur ,Tierheit' mit der Anlage zur Persönlichkeit' zu einer fragilen Einheit zu verbinden hat?
III
Zur Klärung dieser Leitfrage reflektiert Kant in normativer Absicht auf das je unterschiedliche Interesse, das den Menschen zum einen dazu anleitet, sich als natürliches Wesen, zum anderen aber, sich als vernünftiges Wesen zu betrachten. In diesem Sinne heißt es bei ihm in der Kritik der praktischen Vernunft: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern". Gleichwohl ist der Mensch für Kant „doch nicht so ganz Thier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein und diese
1 Religion, VI 34. 2 Religion, V135. 3 Religion,V135.
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bloß zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen."1 Das natürliche Selbstverständnis des Menschen ist demnach der Standpunkt einer instrumenteil verstandenen Vernunft. Hier folgt der Mensch einem ,nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit', den Kant an anderer Stelle auch als die erste, „wenn gleich nicht vornehmste" Pflicht des Menschen gegen sich selbst „in der Qualität seiner Thierheit" bezeichnet; eine Pflicht, die des näheren in der „ S e l b s t e r h a l t u n g " des Menschen „in seiner animalischen Natur"2 besteht. Dieser Standpunkt der natürlichen Selbsterhaltung oder „Selbstliebe"3 ist Kant zufolge durchaus der primäre Standpunkt des Menschen. Kant bestreitet allerdings, daß der primäre Standpunkt auch der einzige Standpunkt des Menschen ist, da er „doch nicht so ganz Thier" ist, um gegen den Autonomieanspruch der Vernunft „gleichgültig zu sein"4. Das genuin vernünftige oder autonome Selbstverständnis des Menschen ist deshalb der Standpunkt einer nicht länger bloß instrumenteil verstandenen Vernunft. Hier folgt der Mensch dem, „was Vernunft fur sich selbst sagt"5, indem er sich darauf besinnt, daß er den primären Standpunkt der natürlichen Selbsterhaltung zugunsten einer ganz anderen Selbsterhaltung verlassen kann, die Kant sehr prägnant als „moralische S e l b s t e r h a l t u n g " 6 bestimmt. Diesen Standpunkt nimmt der Mensch aber ein, wenn er nicht dem sinnlich bestimmten Interesse der natürlichen Selbsterhaltung folgt, sondern dem genuinen Vernunftinteresse einer moralischen Selbsterhaltung, die Kant deshalb auch geradezu als „ S e l b s t e r h a l t u n g der Vernunft" 7 bezeichnen kann. Diese Einsicht in das doppelte Grundinteresse des Menschen wird nun in Kants Religionsschrift für ein philosophisches Verständnis des Bösen und Guten fruchtbar gemacht. Dabei kann es aus den oben angeführten Gründen nicht darum gehen, das isolierte Natur- oder Vernunftinteresse einer moralischen Wertung zu unterziehen, weil beide .Triebfedern' im Menschen stets zugleich wirksam sind. Deshalb bezieht sich Kants zentrale Bestimmung des Guten und Bösen allein auf das Verhältnis zwischen der natürlichen und vernünftigen Selbsterhaltung, d.h. auf die Frage, „welche von b e i d e n " der Mensch „zur B e d i n g u n g der a n d e r n macht" 8 . Das Böse läßt sich dergestalt als Verkehrung des seinsollenden Verhältnisses zwischen den beiden Grundinteressen des Menschen begreifen. Der böse Mensch macht also „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen
1 KpV,\ 61. 2 MdS, VI 421. 3 Religion, VI 36. 4 KpV,V 61. 5 KpV, V 61. 6 MdS, VI 419. 7 Immanuel Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren?, (Akademie-Ausgabe), Berlin 1902ff„ Bd. VIII, 147 Anm. 8 Religion, V136.
in: Kant's Gesammelte Schriften
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Gesetzes", obwohl „das letztere vielmehr als die o b e r s t e B e d i n g u n g der Befriedigung der ersteren"1 anerkannt werden soll.
IV
Die Überlegungen der Religionsschrift zum Vernunftursprung des Bösen und Guten erhalten eine weitere und entscheidende Dimension, wenn Kants Gedankengang zu der Einsicht fortgeht, daß die Vernunft im Sinne einer Anlage der ,Menschheit' nicht nur dem Menschen als Einzelwesen, sondern ebensosehr und mehr noch dem Menschen als Gattungswesen zuzuschreiben ist. Die gleichsam ,private' Perspektive auf die menschliche Vernunft öffnet sich dergestalt zu einer genuin , sozialen' Perspektive, in der die Vernunft und ihr , Gebrauch der Freiheit' als Form der Vergesellschaftung begriffen werden kann. Durch diese erweiterte und veränderte Perspektive gewinnt aber auch die Leitfrage der Religionsschrift, die Frage nach dem Bösen und Guten, eine ganz neue Dimension. So heißt es am Anfang des dritten Hauptstücks der Religionsschrift: Wenn der Mensch „sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr [des Bösen] zuziehen und darin erhalten, so kann er sich leicht überzeugen, daß sie ihm nicht sowohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältniß oder Verbindung steht"2. Die den Menschen ausmachende, fragile Einheit von Natur und Persönlichkeit ist also für Kant gar nicht primär dann durch das Böse gefährdet, wenn der Mensch abgesondert' für sich ist, sondern wenn er mit anderen Menschen ,in Verhältnis oder Verbindung steht'. Die moralische Gefährdung des Menschen, die in der Religionsschrift vorrangig thematisiert wird, ist demnach jene, die dem Menschen aus seinem gesellschaftlichen Wesen erwächst. Denn der Mensch wird Kant zufolge nicht durch natürliche ,Anreize' in die falsche Unendlichkeit des Bösen gelockt, sondern durch die Komplexität sozialer Bezüge. Der Mensch fühlt sich nämlich in der Regel nur arm, „sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen" also nur dann „seine an sich genügsame Natur, w e n n er u n t e r M e n s c h e n ist" 3 . Die melancholische Pointe dieser Reflexion besteht aber darin, daß die moralische Gefährdung hier nicht vom einzelnen Menschen, sondern von der menschlichen, d.h. stets bedingten und endlichen Form der Vergesellschaftung als solcher ausgeht. Deshalb ist es für Kant durchaus nicht „nöthig", daß die Mitmenschen „als im Bösen versunken und als
1 Religion,V136. 2 Religion, VI 93. 3 Religion, VI 93 f.
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verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind [...] und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen"1. Die neue und entscheidende Dimension, die Kants Religionsschrift mit dem Übergang zu einem sozialen oder vergesellschafteten Vernunftbegriff gewinnt, ist damit schon hinreichend deutlich geworden. Denn die Vernunftanlage der ,Menschheit', die nicht länger als Vernunft eines Einzelwesens begriffen wird, und das konkrete Böse, das nicht länger aus dem inneren Zusammenhang eines bloßen ,Privatbewußtseins' heraus verstanden wird, fuhren von sich aus auf die abschließende Frage, wie von hier das konkrete Gute als Gegenbegriff zum soeben exponierten Bösen einer endlichen und unzureichenden Vergesellschaftung des Menschen zu denken ist.
V Die letzte, durch den bisherigen Gedankengang eröffnete Frage lenkt nun die Aufmerksamkeit auf den bemerkenswerten, bislang aber zu wenig beachteten Umstand, daß Kant in seiner Religionsschrift zum ersten Mal das Attribut öffentlich' in dem mehr als beiläufigen Sinne einer positiven Vernunftnorm gebraucht.2 Es wird daher genauer zu untersuchen sein, inwiefern Kants Begriff der Öffentlichkeit' einen Schlüssel zum näheren Verständnis der Religionsschrift und ihrer Stellung im Gesamtzusammenhang der transzendentalen Vernunftkritik bietet. Dabei ist von vornherein zu beachten, daß bei Kant der Sache nach schon früh ein normativer Begriff der Öffentlichkeit zu finden ist, der dergestalt - wenn auch lange Zeit nur implizit - das gesamte Projekt einer transzendentalen Vernunftkritik durchzieht. So sagt Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von seiner eigenen historischen Epoche: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und G e s e t z g e b u n g durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können."3 Die im Vernunftbegriff immer schon implizierte Vermittlung zur freien, öffentlichen Rechtfertigung wird somit bei Kant am Anfang seiner Vernunftkritik und vor dem politischen Hintergrund seines Zeitalters einmal ausdrücklich auf den Begriff gebracht, um fortan den geheimen systematischen Leitfaden seiner Vernunftphilosophie zu bilden. 1 Religion, VI 93f. 2 Ein pointierter Gebrauch des Attributes .öffentlich' findet sich dann auch in den auf die Religionsschrift (1793, 2. Aufl. 1794) folgenden Texten: Zum ewigen Frieden (1795), Metaphysik der Sitten (1797, 2. Aufl. 1798) und Streit der Fakultäten (1798). 3 KrV, A XI Anm.
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Die leitende Idee der Vernunftphilosophie kann vor diesem Hintergrund mit der Einsicht Kants verbunden werden, daß die Vernunft nur dann als höchste Instanz der kritischen Rechtfertigung gerechtfertigt ist, wenn sie sich selbst kritisiert hat. „Die Vernunft muß sich" deshalb Kant zufolge „in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen." Denn auf „dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto, ohne Zurückhalten muß äußern können."1 Diese grundlegende Einsicht fuhrt zu dem großen Unternehmen einer kritischen Vernunftphilosophie, bei dem die Vernunft „das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis", auf sich nimmt, um „einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei gerechten Ansprüchen sichere" . Diese von Kant anvisierte Einsetzung eines Gerichtshofs der Vernunft rückt das kritische Geschäft der transzendentalen Vernunftphilosophie ganz bewußt in eine rechtliche Perspektive. Denn mit Bezug auf die politische Philosophie von Hobbes bezeichnet Kant jeden sich stets mit innerer Notwendigkeit erneuernden Streit als einen Naturzustand, der allein durch die Etablierung eines Rechtszustands bleibend überwunden und dergestalt befriedet werden kann.3 Kants Rede vom „Kampfplatz" 4 der Metaphysik ist also durchaus ernst zu nehmen. Der bittere Ernst der Diagnose eines persistierenden Naturzustands der Vernunft, die sich stets von neuem in einen dialektischen Widerstreit mit sich selbst verwickelt, bildet den beständigen Hintergrund für Kants Versuch, die Vernunft kritisch über sich selbst aufzuklären. Der Rechtszustand, der durch den Gerichtshof der Vernunft gesichert wird, läßt sich deshalb als eine transzendentale Öffentlichkeit begreifen, die verhindert, daß jeder Einzelne sich in metaphysischen Fragen eine bloße Privatmeinung bildet, die dann notwendigerweise im Dauerstreit mit allen anderen Privatmeinungen stehen muß.5 Kants Begriff der Öffentlichkeit ist also in sich differenziert: Neben den geläufigen Begriff einer politischen Öffentlichkeit des Rechts tritt der neue Begriff einer transzendentalen Öffentlichkeit der reinen Vernunft. Allerdings vollendet sich der normative Begriff von Öffentlichkeit bei Kant erst mit einem dritten, gleichsam utopischen Begriff, durch den der politischen Gemeinschaft unter zwangsbewehrten Rechtsgesetzen eine ganz anders verfaßte, ethische Gemeinschaft unter zwangsfreien Moralgesetzen gegenüber gestellt wird, die Kant zum ersten Mal in seiner Religionsschrift thematisiert. 1 KrV, B 766f. 2 KrV, A XI. 3 Vgl. Religion, VI 96, KrV, Β 780. 4 KrV, A VIII. 5 Der so verstandene Begriff der Öffentlichkeit ist bei Kant nicht nur eine positive Norm, sondern in einem sehr genauen Sinn die Vernunftnorm schlechthin, welche die Normativität jeder anderen Norm überhaupt erst begründet.
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VI Die zentrale Differenz zwischen einer rechtlich und einer ethisch verfaßten Gemeinschaft entwickelt Kant des näheren von einem gemeinsamen Ausgangspunkt aus. Beide Formen der Öffentlichkeit sind nämlich einem nichtseinsollenden Naturzustand entgegengesetzt, in dem die jeweils seinsollende Öffentlichkeitsform noch nicht etabliert ist, weil - wie Kant sagt - im juridischen' wie im ,ethischen' Naturzustand „ein jeder sich selbst das Gesetz" gibt. In beiden Naturzuständen ist also „ein jeder sein eigner Richter, und es ist keine ö f f e n t l i c h e machthabende Autorität da, die nach Gesetzen, was in vorkommenden Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme"1. Der Naturzustand wird demnach von Kant in beiden Fällen durch das Fehlen einer .öffentlichen machthabenden Autorität' bestimmt. Wo aber eine institutionalisierte öffentliche Macht fehlt, da herrscht der ewige Streit bloßer Privatansprüche, über die ,ein jeder sein eigner Richter' ist. Die Vernunft, angeleitet durch die ihr eigene, transzendentale Idee von Öffentlichkeit, dringt nun darauf, den Kampfplatz des Naturzustandes in den Frieden eines Rechtszustandes zu überfuhren, indem eine öffentliche, durch die Vernunft gerechtfertigte Autorität etabliert wird. Genau an dieser Stelle wird jedoch fur Kant die zentrale Differenz zwischen einer rechtlich und einer ethisch verfaßten Gemeinschaft wichtig. Denn es wird sich zeigen, daß nur die Errichtung einer rechtlichen Öffentlichkeit in der Macht des Menschen steht, die Verwirklichung einer ethischen Öffentlichkeit hingegen nicht. Eine rechtlich verfaßte Gemeinschaft oder ein „ r e c h t l i c h - b ü r g e r l i c h e r (politischer) Z u s t a n d " wird nämlich von Kant konkret als „das Verhältnis der Menschen untereinander" bestimmt, „so fern sie gemeinschaftlich unter ö f f e n t l i c h e n R e c h t s g e s e t z e n (die insgesammt Zwangsgesetze sind) stehen"2. Der entscheidende Gedanke ist hier, daß alle Rechtgesetze insgesamt Zwangsgesetze sind'. Denn die Endlichkeit der menschlichen Vernunft kommt genau darin zum Ausdruck, daß die menschlichen Gesetze, die eine rechtlich verfaßte Öffentlichkeit konstituieren, niemals vollkommen sein können. Es wird also stets eine bleibende Differenz zwischen dem zu beobachten sein, was (juridisch) recht ist, und dem, was (ethisch) gerecht wäre. Diese zwar im besten Fall stetig zu verkleinernde, aber niemals ganz zu tilgende Differenz hat aber zur Folge, daß jedem rechtlich-bürgerlichen Zustand ein notwendiges Zwangsmoment innewohnt, das ihn auch dort äußerlich (im Sinne der Legalität) durchsetzt, wo ihm eine innere Entsprechung (im Sinne der Moralität) fehlen mag.3 Aus der Endlichkeit der menschlichen Vernunft folgt demnach für Kant mit Notwendigkeit, daß die rechtlich verfaßte Öffentlichkeit, die den rechtlichen Naturzustand 1 Religion, VI 95. 2 Religion, VI 95. 3 Kant kann deshalb die immanente Grenze einer endlichen Vernunft auch so beschreiben, daß sie an die Differenz zwischen Außen und Innen gebunden bleibt, „weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann" (Religion, VI 95).
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überwindet, nicht zugleich auch den ethischen Naturzustand überwinden kann. Denn in einem rechtlich verfaßten Gemeinwesen „befinden sich alle politische Bürger als solche doch im e t h i s c h e n N a t u r z u s t a n d e und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adjecto), weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich fuhrt" 1 . Paradoxerweise ist es also gerade die historisch erfolgreiche Durchsetzung des bürgerlichen Rechtszustandes, die den prinzipiellen Unterschied zu einer anderen, radikal ,zwangsfreien' Form von Öffentlichkeit besonders eindringlich erfahrbar werden läßt, weil im juridischen Rechtszustand der ethische Naturzustand fortbesteht und fortbestehen muß, da er mit juridischen Zwangsmitteln nicht zu überwinden ist.
VII
Am Ende entspringt aber das tiefe Unbehagen, das vom unvermeidlichen Zwangsmoment in jedem juridischen Rechtszustand hervorgerufen wird, aus eben derselben Vernunft, auf die sich auch die nüchterne Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Zwangsmomentes beruft. Wird hier auf die Endlichkeit und Unvollkommenheit der menschlichen Vernunft verwiesen, so dort auf das Unbedingte, das der menschlichen Vernunft als Vernunft wesentlich ist. Im Widerstreit zwischen den beiden Formen der Öffentlichkeit kommt also abermals der bedingt-unbedingte Doppelcharakter der menschlichen Vernunft zum Vorschein, den Kants Transzendentalphilosophie in immer neuen Anläufen kritisch reflektiert, um die Gefahr zu bannen, daß die über sich selbst unaufgeklärte Vernunft einem dialektischen Schein verfällt, der notwendig entstehen muß, wenn sie ausschließlich ihrem bedingten oder unbedingten Charakter zu folgen versucht. Besonders eindringlich warnt Kant in der Religionsschrift vor der gefährlichen Illusion, daß die Erfahrung einer unbedingten Vernunftforderung den Menschen dazu berechtigt, das Unbedingte mit bedingten Mitteln erzwingen zu wollen: „Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegentheil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen."2 Eine unaufgeklärte, die Grenzen der menschlichen Vernunft überspringende Politik des Unbedingten kann also nicht nur die eigenen Ziele nicht erreichen, sondern droht darüber hinaus den juridischen Rechtszustand zu zerstören, dessen Bedingtheit sie schwärmerisch zu überwinden verspricht. Diese Dialektik der politischen Vernunft läßt sich Kant zufolge nur dann überwinden, wenn es gelingt, den eigentümlich bedingt-unbedingten Charakter der Vernunft1 Religion, VI 95. 2 Religion, VI 96.
ZUM BEGRIFF DER ÖFFENTLICHKEIT BEI KANT
145
forderung präzise zu bestimmen, die den Menschen dazu anleitet, über die bloß juridisch verfaßte Öffentlichkeit hinauszustreben. Die aus reiner Vernunft entspringende Pflicht, sich „zu einem ethischen gemeinen Wesen [...] zu vereinigen", ist nämlich Kant zufolge „eine Pflicht von besonderer Art (officium sui generis)", die sich von jeder moralischen „Privatpflicht"1 prinzipiell unterscheidet. Denn bei den moralischen Pflichten, die sich stets an den Einzelnen richten, gilt der Grundsatz, daß niemand zu etwas verpflichtet ist, was er nicht leisten kann, und folglich der Umkehrschluß, daß das, wozu reine Vernunft den Menschen moralisch verpflichtet, von ihm auch geleistet werden kann.2 Im Unterschied hierzu ist die verpflichtende Vernunftidee einer ethisch verfaßten Öffentlichkeit, d.h. die Idee „einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen", eine „von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee", weil wir bei ihr „nicht wissen können", ob ihre Verwirklichung „auch in unserer Gewalt stehe"3. Die Vernunftidee einer ethisch verfaßten Öffentlichkeit impliziert demnach eine Verpflichtung, die „der Art und dem Prinzip nach von allen andern unterschieden"4 ist. Diese Einsicht fuhrt aber Kant zufolge sehr genau auf den spezifischen Vernunft- und Wahrheitsgehalt der Religion, der sich nicht auf die transzendentalen Prinzipien der Rechts- und Moralphilosophie zurückfuhren läßt. Denn „als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens" kann für Kant nur ein solcher „gedacht werden, in Ansehung dessen alle w a h r e n P f l i c h t e n , mithin auch die ethischen, z u g l e i c h als seine Gebote vorgestellt werden müssen [...]. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d.i. als ein V o l k G o t t e s , und zwar nach T u g e n d g e s e t z e n , zu denken möglich."5 Kants genuin metaphysischer Begriff einer ethisch verfaßten, d.h. radikal zwangsfreien Öffentlichkeit besitzt demnach am Ende einen Vernunft- und Wahrheitsgehalt, der durch keine bloß politisch-rechtliche Deutung , säkularisiert' werden kann.6 Gerade diese über die Grenzen der Rechts- und Moralphilosophie hinausweisenden Momente vollenden aber erst den Kantischen Begriff der Öffentlichkeit zu einem Ganzen, das dem bedingt-unbedingten Doppelcharakter der menschlichen Vernunft gerecht wird. 1 Religion, VI 151. 2 Kant formuliert diesen Grundsatz der moralischen Verpflichtung bündig in Latein: „ultra posse nemo obligatur" (Frieden, VIII 370). 3 Religion, V198. 4 Religion, VI 98. 5 Religion, VI 99. 6 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Habermas sein eigenes Projekt einer Theorie des kommunikativen Handelns im Rückblick skeptisch beurteilt, weil es die fortschreitende .Banalisierung' einer .politischen Kommunikation' nicht verhindern kann, die jeden Bezug zu einer sie selbst überschreitenden Idee verloren hat: „Keine noch so geschickt geschneiderte Zivilreligion könnte dieser Entropie des Sinns vorbeugen" (Jürgen Habermas, „Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit", in: Merkur 484 [1989], 477).
DIRK MEYFELD
,,[W]elche Welt er wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde" Die moralische Begründung der Weltrevolution?
Wenn den Aporien der praktischen Philosophie Kants nachgegangen wird, dann gelangt man zu dem Resultat, daß Freiheit nur zu verwirklichen ist unter gesellschaftlichen Bedingungen, die dem nicht entgegenstehen. Insofern ist die Forderung von Marx: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch [...] ein geknechtetes [...] Wesen ist",1 die vorrangige Konsequenz aus Kants kategorischem Imperativ. Statt Kants Aufforderung ans einzelne Subjekt: „Handle so, daß",2 wird die Befreiung der Gesellschaft verlangt. Nur in einer befreiten Gesellschaft könnten moralische Forderungen und Handlungsanweisungen an einzelne Subjekte die Verwirklichung der Freiheit befördern. Anderenfalls dienen sie lediglich der Befestigung der jeweils bestehenden Unfreiheit. Bei Kant selbst sind dagegen nicht die Verhältnisse unmoralisch, sondern der Mensch in seinem Naturzustand ist böse. Seiner Natur nach sei der Mensch durch Eigennutz und Selbstliebe pathologisch affiziert; das angeborene radikale Böse, d.h. der in der Natur des Menschen angelegte Hang zum Bösen, müsse erst durch die bürgerlichen Zwangsgesetze sowie durch ein ethisches gemeines Wesen (die Kirche) domestiziert werden.3 Auf widersprüchliche Weise stehen die gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse in manchen Passagen bei Kant einerseits der Freiheit entgegen, andererseits seien sie die Bedingung für die Verwirklichung der Freiheit.4 Eine vernünftige Allgemeinheit gäbe es nur in einer befreiten Gesellschaft. Ihr würde der Einzelne sich unterordnen, weil sie die Verwirklichungsbedingung seiner eigenen ebenso wie jedes anderen Freiheit wäre. Das Allgemeine Kants ist dagegen kein vernünftiges Allgemeines, sondern, ebenso wie das heute weltweit bestehende Allgemeine, ein System größtenteils ökonomisch bedingter Antagonismen, das gegen die indivi1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1976ff., 385. 2 KpV, V 30 sowie GzMdS, IV 421 und 429. 3 Der Schwerpunkt in diesem Beitrag liegt darauf, durch eine Reihe von Zitaten die repressiven Konsequenzen, die Kant zieht, darzulegen. 4 Vgl. hierzu auch: Hans-Georg Deggau, Die Aporien der Rechtslehre Kants, Stuttgart 1983.
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DirkMeyfeld
duellen Freiheiten durchgesetzt wird und diese einschränkt. Einer Aufopferung des Einzelnen zugunsten eines bestehenden, nicht vernünftigen Allgemeinen soll nun in Hinsicht auf Kant weiter nachgegangen werden.
I
Das Prinzip wird zum Subjekt und unterwirft die Menschen
Kant fuhrt das Argument, daß zu dem Begriff der Freiheit nicht zu gelangen wäre, wenn dieser allein von den je partikularen Vorstellungen, welche sich einzelne Menschen von der Freiheit machen, abgeleitet würde. Statt dessen muß der Begriff der Freiheit α priori gebildet werden. Er ist als Autonomie negativ bestimmt gegen heteronome Determination. Die Beziehung auf mögliche heteronome Determination ist als negative der Freiheit damit zugleich immanent - zwar nicht bei Kant, aber der Sache nach: Die gesellschaftlichen Bedingungen und die empirischen Bestimmtheiten bilden die veränderbare Grenze für die Verwirklichung der Freiheit. Ihre Vermittlung als Momente erfolgt bei Kant indessen nicht. Entgegen Hegels Rechtslehre stehen sich bei Kant die Freiheit α priori und die besonderen Bestimmungen als Allgemeinheit und Besonderheit unvermittelt gegenüber. Meist erhält das Allgemeine den Vorrang. Die Art und Weise, in der ihre Beziehung bei Kant jeweils gefaßt wird, ist grundlegend für die prinzipiellen Aporien seiner praktischen Philosophie in ihren verschiedenen Konzeptionen. Die Schriften: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Zum Ewigen Frieden, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Kritik der Urteilskraft sowie die moralphilosophischen Hauptwerke Kants enthalten solche Widersprüche. Da Kant die empirischen Bestimmtheiten nicht als anderes Moment des Freiheitsbegriffs integriert, bleibt sein Freiheitsbegriff den besondern Bestimmungen gegenüber einfach-negativ; die Besonderheit, die besonderen Zwecke und die Selbstliebe der Einzelnen verbleiben das Andere zur Freiheit. Der Sache nach sind die Freiheit α priori und die empirischen Bestimmtheiten durch ihr negatives Verhältnis zwar auch bei Kant bereits notwendig aufeinander bezogen, ihre Vermittlung müßte jedoch dialektisch erfolgen. Die Reihe von Vermittlungsversuchen, die es bei Kant gibt, belassen, da keine dialektische Vermittlung stattfindet, die empirischen Bestimmtheiten und die Freiheit gleichwohl in ihrem negativen Verhältnis als Einfach-Negative. Die Entgegengesetzten werden nicht als Momente begriffen, sie bleiben unvermittelt, bzw. haben sie keine Vermittlung außer der Negation. Auch das höchste Gut ist nicht der dialektische Reflexionsbegriff, welcher die getrennten Momente vermittelt, sondern ein gescheiterter Vermittlungsversuch. Sein Resultat ist ein jenseitiges: „Aber diese U n t e r s c h e i d u n g des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort E n t g e g e n s e t z u n g beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit a u f g e b e n , sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
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n i c h t R ü c k s i c h t nehmen."1 Eine Unterscheidung, bei der die Relata einander nicht negativ entgegengesetzt sind, läßt sich, entgegen Kant, auf vernünftige Weise nicht denken. Ebenso folgt aus dem Zitat, entgegen Kants Behauptung, sehr wohl das Aufgeben der Glückseligkeit; denn würde man statt ihrer auf die Pflicht keine Rücksicht nehmen, folgte in Kants Sinn die Unmoral, was für ihn nie sein dürfte. Ohne Aufgabe der Moral bleibt, nach dem Zitat, die Rücksichtnahme auf die Glückseligkeit eine leere Möglichkeit bzw. ein unmöglicher Fall. Zu dieser Konstruktion gehört ebenfalls, daß Kants Begriff der Freiheit den selbstgesetzten Zwecken der Menschen gegenüber einfach-negativ bleibt, weil die empirischen Bestimmtheiten ein Moment der selbstgesetzten Zwecke sind. Einzelne Menschen sind empirisch, und so muß auch etwas Empirisches als Moment in ihren Zwecken sein. Insofern wird Kants Freiheit den menschlichen Zwecken und Begriffen gegenüber transzendent. Sie bleibt getrennt von den Menschen und hat dergestalt - entgegen Kant - nichts mehr mit einer transzendentalen Freiheit gemein. Die transzendentale Freiheit müßte dagegen als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Denkens und Handelns erklärt werden. Konsequenter Weise tut Kant dies später nicht mehr, sondern nennt den kategorischen Imperativ statt dessen ein Faktum. So ist das moralische Gesetz von den Menschen und von einer Begründung durch die Menschen getrennt. Die Menschen können sich in das moralische Gesetz nicht einschreiben. Als Negatives der menschlichen Begriffe und der selbstgesetzten Zwecke ist Kants Freiheit soweit ein heteronomes Allgemeines. Die Vermittlung von Allgemeinheit und Besonderheit, wie bei Hegel als Einzelnheit des an und für sich freien Willens, erfolgt ebensowenig wie die Integration der Selbstliebe (als Moment und Motiv für die Verwirklichung selbstgesetzter Zwecke).2 Die Freiheit ist derart bloß eine subjektfremde, d.h. eine heteronome Allgemeinheit - , ihr Ursprung und Grund ist nicht die Freiheit des Willens, insbesondere nicht die Freiheit des Willens der Einzelnen.3 Da die Freiheit und die besonderen Subjekte neben ihrem Unterschied nicht auch identisch miteinander werden, bleiben sie Fremde gegeneinander. Durch das einfach-negative Verhältnis sind die Subjekte weder Ursprung noch Bestimmungsgrund des Begriffs der Freiheit. So kann ihnen gegenüber die Freiheit nur heteronom bleiben. Anstelle von gleichberechtigten Momenten wird das Verhältnis von Besonderheit und Allgemeinheit von Kant als Limitation und Unterordnung bestimmt. Entsprechend fordert Kant, daß die Besonderheit und die Selbstliebe der Einzelnen unterworfen und eingeschränkt gehören. Die Subordinierung der Subjekte sei nun - statt der Freiheit des Willens der Einzelnen - die Bedingung der Freiheit. Bestimmt würden die Menschen 1 KpV,V 93. 2 Diese Perspektive wird hier für die Kritik der Aporien der praktischen Philosophie Kants verwendet. Vgl. auch Georg-Wilhelm-Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1986, dort insbesondere § 7, 54f. 3 In der Kritik der praktischen Vernunft wird der kategorische Imperativ von Kant ein Faktum genannt, weil dessen Erklärungsgrund ausdrücklich nicht die Freiheit des Willens sei. Vgl. KpV, V 31 f.
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DirkMeyfeld
durch Gott, Natur und Gesellschaft. Der einzelne Mensch müsse den Zwecken seines säkularen Staatsoberhaupts, den Endzwecken der Natur sowie Gott als Weltbeherrscher folgen. Die Unterwerfung sei die Bedingung der Freiheit; und so kehrt sich Kants Begriff der Freiheit um in die Forderung der Unterordnung unter heteronome Determination. Die Freiheit als Autonomie bzw. als Selbstbestimmung wird dazu, daß der Einzelne sich der Heteronomie unterwerfe. Die Unterwerfung durch die politische Macht ist eine analoge gesellschaftliche Bedingung zu der Unterordnung und Determination der Subjekte durch Gott und die Natur. Darin allerdings, daß mit Gott nicht die religiöse Vorstellung und mit der Natur nicht die Naturkausalität gemeint sind, besteht ein rationaler Kern dieser Konzeption. Als Prinzipien sind es Totalitätsvorstellungen bzw. Reflexionsbegriffe, deren Charakter Kant jedoch nicht hinreichend erkennt. Die Freiheit ist ein Reflexionsbegriff. Kant bestimmt sie α priori als Autonomie: „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen."1 Soweit kann die Bestimmtheit der Freiheit nicht allein von den Menschen, wie sie in einer bestimmten Gesellschaft sind, sowie von den weiteren Gegebenheiten in solch einer Gesellschaft abgezogen werden. Sonst wäre der Begriff der Freiheit bloß empirisch und damit gar nicht. Ohne diese Bestimmung ist Gesellschaftskritik nicht möglich. Sie wird bei Kant jedoch nicht durchgehalten. Das prinzipiell emanzipative Argument, daß die Empirie nach der Freiheit und nicht die Freiheit nach der Empirie gestaltet werden müsse,2 wird bei Kant gleichsam zum
1 KpV, V 33. 2 Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft in der dritten Antinomie der reinen Vernunft dem Anspruch nach die Möglichkeit der Freiheit erwiesen: Einer völligen Determination durch (empirisch bedingte) Naturkausalität muß die Möglichkeit der Freiheit, als die einer absoluten Spontaneität, entgegengestellt werden (Vgl. KrV, V Β 472ff.). Dies ist Kants Bestimmung der transzendentalen Freiheit. Analog zu der empirismuskritischen Argumentation in der theoretischen Philosophie, bestimmt Kant die Freiheit in der praktischen Philosophie als Autonomie zum Prinzip α priori. Auch sie ist negativ bestimmt gegen empirisch bedingte, heteronome Determination; in dieser Weise ist sie das „alleinige Prinzip" der praktischen Philosophie Kants (Vgl. erneut KpV, V 33). Aus der Perspektive dieser Argumente steht die Welt mit ihren Bestimmtheiten den Menschen nicht bloß gegenüber, sondern die Welt ist in ihren Bestimmtheiten auch nach den Vorstellungen der Menschen zu gestalten. Daß die Welt sich nach den Vorstellungen der Menschen α priori richten und gestaltet werden müsse, und nicht umgekehrt, ist die kopernikanische Wende Kants. Kant bestimmt die Vorstellungen α priori (Kategorien und Freiheit) als Bedingungen dafür, die Welt denken und in ihr handeln zu können: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie α priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten" (KrV, Β XVI).
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
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Grund der Verkehrung: W e i l die e i n z e l n e n M e n s c h e n nicht unabhängig v o n ihren empirischen Bestimmtheiten sind, k ö n n e n sie für Kant nicht der primäre Grund für die Verwirklichung der Freiheit sein. A u s d i e s e m Grund verschwindet die Selbstbestimmung der M e n s c h e n ; und an die Stelle des Subjekts tritt anstatt des M e n s c h e n das j e w e i l i g e Prinzip. D i e M e n s c h e n w e r d e n nun nicht mehr durch sich selbst, sondern durch das Prinzip determiniert. D a das Prinzip bei Kant bloß das M o m e n t der A l l g e m e i n h e i t und Reflexivität enthält, dies j e d o c h auch nur als v ö l l i g leeres, i n d e m e s lediglich Resultat der N e g a t i o n und der Abstraktion v o n den B e s t i m m u n g e n der M e n s c h e n ist, bleibt das Prinzip h e t e r o n o m g e g e n ü b e r den M e n s c h e n und ihren Begriffen. D i e s Prinzip g e braucht nun die Mittel, u m die M e n s c h e n z u bearbeiten und sie sich z u unterwerfen: „Der erniedrigende Unterschied zwischen L a i e η und K l e r i k e r n hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem [...] Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war. - Das alles ist nicht von einer äußeren Revolution zu erwarten, die stürmisch und gewaltsam ihre von Glücksumständen sehr abhängige Wirkung thut, in welcher, was bei der Gründung einer neuen Verfassung einmal versehen worden, Jahrhunderte hindurch mit Bedauern beibehalten wird, weil es nicht mehr, wenigstens nicht anders, als durch eine neue (jederzeit gefahrliche) Revolution abzuändern ist. - In dem Princip der reinen Vernunftreligion, als einer an alle Menschen beständig geschehenden göttlichen [...] Offenbarung, muß der Grund zu jenem Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher, einmal aus reifer Überlegung gefaßt, durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird, so fern sie ein menschliches Werk sein soll; denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben sie der Vorsehung überlassen und lassen sich nicht planmäßig der Freiheit unbeschadet einleiten. [...] Die Hemmungen durch politische bürgerliche Ursachen, die seiner Ausbreitung von Zeit zu Zeit zustoßen mögen, dienen eher dazu, die Vereinigung der Gemüther zum Guten [...] noch desto inniglicher zu machen.
In diesen Zusammenhang gehört auch Kants Argumentation zu der Frage, „welche Welt [ein Mensch; D.M.] wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, e r s c h a f f e n würde" (Religion, VI 5). In ihr finden sich die drei Bestimmungen, daß es erstens als anderes Moment zur reinen Vernunft auch eine Welt empirischer Bestimmtheiten geben muß - „er würde auch wollen, daß eine Welt überhaupt existire" (ebd.) - , daß diese Welt zweitens aber auch nach menschlichen Vorstellungen gestaltbar ist und daß drittens das moralische Gesetz selbst von menschlichen Konstruktionen - davon, daß sich die Menschen in das moralische Gesetz einschreiben können - abhängt. Anstelle des transzendenten Charakters und Ursprungs des moralischen Gesetzes als Faktum der Vernunft bei Kant insistiert Derrida darauf, daß das Gesetz von der Narration durch die Menschen abhängt. Gegen Kant weist er nach, daß die Fiktion: die Bestimmungen der Naturgesetze und des moralischen Gesetzes selbst erfinden zu können, konstitutiv ist für folgende Bestimmung des kategorischen Imperativs: „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte" (GzMdS, IV 421; vgl. Jacques Derrida, Prejuges, Vor dem Gesetz, Wien 1999, 43f.). - Daß es erstens eine Welt gibt, daß diese zweitens nicht vollständig determiniert ist und daß drittens das moralische Gesetz nicht gänzlich transzendent und fur die Menschen unveränderbar ist, sind die Bedingungen dafür, daß die subjektiven Freiheiten verwirklicht werden können.
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Dirk Meyfeld
Das ist also die menschlichen Augen unbemerkte, aber beständig fortgehende Bearbeitung des guten Principe, sich im menschlichen Geschlecht als einem gemeinen Wesen nach Tugendgesetzen eine Macht und ein Reich zu errichten, welches den Sieg über das Böse behauptet und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert."1 In der Religion
innerhalb
das gute Prinzip
der Grenzen der bloßen
im menschlichen
Geschlecht
Vernunft wird diese Bearbeitung,
die
leistet, unterstützt durch Gott, der den
Menschen bei dem Teil hilft, den sie selbst nicht kennen und selbst nicht vermögen. Dazu müssen sie sich jedoch erst durch ihr Wohltun würdig erweisen. 2 In der Schrift Zum Ewigen gerlicher
Frieden
und in der zur Idee einer allgemeinen
Geschichte
in
weltbür-
Absicht ist das analoge Prinzip, welches die Menschen bearbeitet, die Natur.
Auch wenn die Prinzipien gutes Prinzip,
Gott und Natur heißen, kann in einer philo-
sophischen Analyse Kant nicht vorgeworfen werden, daß er die Menschen durch Religion oder Naturgesetze determiniert sehen möchte. Denn abgesehen von den Namen tragen diese Prinzipien allesamt kaum andere Bestimmungen als die des Reflexionsbegriffs der Freiheit, insofern dieser nicht a posteriori sein soll. Daß jedoch der Subjektcharakter den Menschen als Individuen abgesprochen und ihre Unterwerfung unter ein heteronomes Allgemeines gefordert wird, ist dagegen unhaltbar und geht ohne Widerspruch mit einem vernünftigen Begriff der Freiheit nicht zusammen. Dies geschieht bei Kant indessen, und das heteronome Prinzip wird anstelle des Menschen zum Subjekt. Kants Prinzipien {Gott, Natur und gutes Prinzip)
sind den Menschen nicht deshalb hete-
ronom, weil sie Bestimmungen der Religion oder der Natur enthalten, denn solche ent-
1 Religion, VI 122f. 2 Kant gelangt zu einer ,,merkwürdige[n] Antinomie der menschlichen Vernunft" (Religion, VI 116). Sie besteht darin, ob der gute Lebenswandel der Vergebung oder die Vergebung dem besseren Lebenswandel vorhergehen müsse. Die Antinomie enthält damit auch die Frage, wie ein von Natur aus verderbter Mensch je gut werden könne: „Wenn aber der Mensch von Natur verderbt ist, wie kann er glauben, aus sich, er mag sich auch bestreben, wie er wolle, einen neuen, Gott wohlgefälligen Menschen zu machen, wenn er - sich der Vergehungen, deren er sich bisher schuldig gemacht hat, bewußt - noch unter der Macht des bösen Princips steht und in sich kein hinreichendes Vermögen antrifft, es künftighin besser zu machen?" (Religion, VI 117). Kant beantwortet die Frage ausdrücklich nicht und behauptet statt dessen, daß sie auch nicht zu beantworten sei, „denn diese Frage übersteigt das ganze Spekulationsvermögen unserer Vernunft" (Religion, VI 117f.). Er fährt dann jedoch fort: „Aber fürs Praktische, wo nämlich [...] gefragt wird [...], was moralisch für den Gebrauch unserer freien Willkür das erste sei, wovon wir nämlich den Anfang machen sollen, ob vom Glauben an das, was Gott unsertwegen gethan hat, oder von dem, was wir thun sollen, um dessen (es mag auch bestehen, worin es wolle) würdig zu werden, ist kein Bedenken, für das Letztere zu entscheiden." (Religion, VI 118) Dies ist Kants Aufklärung vermengt mit ihrem religiös-utilitaristischen Gegenteil: Was Gott für uns tut, können wir nicht wissen, aber wir müssen alles tun, um ihm wohlgefällig zu sein, damit er uns hilft. Wohlgefällig sind wir gegenüber Gott als gesetzestreue Staatsbürger, die ihre Selbstliebe innerlich und äußerlich unterdrücken. Gott, dessen Reflexionsbegriff eine analoge Unbedingtheit enthält wie der der Autonomie, behält das religiöse Dogma der Unerkennbarkeit (wenn auch Kantisch modifiziert); und zudem wird er zweitrangig gegenüber der gesetzestreuen Pflichterfüllung, obwohl diese ein Nur-Bedingtes ist, abhängig von empirischen Staaten.
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
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halten sie nicht, sondern weil sie die Selbstbestimmung der Menschen aufheben, indem sie die Menschen determinieren. Das Bestimmtwerden der Menschen durch ein Prinzip, welches nicht die Selbstbestimmung (durch selbstgesetzte Zwecke) ist, ist den Menschen heteronom. In dieser Widersprüchlichkeit formuliert Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden·. „Jetzt ist die Frage, die das Wesentliche der Absicht auf den ewigen Frieden betrifft: Was die Natur in dieser Absicht beziehungsweise auf den Zweck [der Begünstigung der m o r a l i s c h e n A b s i c h t des Menschen; D.M.] thue. [...] Wenn ich von der Natur sage: sie will, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir mögen wollen oder nicht".1 In der Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist ebenfalls nicht der Mensch das Subjekt, sondern auch dort ist es die Natur. Sie bediene sich des „Antagonism" als Mittel, und letzterer werde am Ende die Ursache der gesetzmäßigen Ordnung der Gesellschaft?
II
Der Gesellschaftszustand, der nach Kant errichtet werden müsse, verwirklicht sich durch ein den Menschen heteronomes Prinzip, welches die Menschen unterwirft
Gegen den sogenannten Naturzustand sowie gegen die bestehenden Gemeinwesen setzt Kant die Vorstellung eines zu erreichenden anderen Zustandes. Dieser Zustand vereint als Totalitätsvorstellung über Staatsgrenzen hinweg alle Menschen und soll den ewigen Frieden möglich machen. Dies sei jedoch allein durch die Tat der Menschen nicht zu erreichen - und vor allem nicht durch Revolutionen. Neben der enthaltenen Kritik an den bestehenden Gemeinwesen und an dem, was Kant Naturzustand nennt, ist seine Konstruktion des zu erreichenden Zustandes, der hier unter anderem als ewiger Frieden benannt ist, insofern nicht emanzipativ, als daß dieser Zustand nicht durch die autonome Tat der Menschen, sondern durch die Tätigkeit der heteronomen Prinzipien in der Welt wirklich werden soll. Die Konsequenz, daß der Einzelne sich (abgesehen von dem öffentlichen Gebrauch seiner Vernunft) in das Gegebene zu fügen habe, geht zusammen mit einer verqueren Apologie von Tyrannenherrschaft und Staatsräson sowie ebensolcher Bedürfnis- und Demokratiekritik. Der Grund hierfür liegt ebenfalls darin, daß Kant problematische Folgerungen aus dem notwendigen Moment der Entgegensetzung von Einzelinteresse und Freiheitsbegriff zieht. Da Kant die Entgegensetzung von Einzelinteresse und Freiheitsbegriff ausschließlich als einfach-negative auffaßt, können freie Gesellschaftsverhältnisse, wie die des ewigen Friedens, bei ihm niemals durch die Men1 Frieden, VIII 365. 2 „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der A η t a g ο η i s m derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird." (Idee, VIII20).
154
DIRK MEYFELD
sehen selbst zustande kommen. Desgleichen kann es aus dem selben Grund für Kant auch keine Übereinstimmung von gesellschaftlichem und individuellem Interesse geben. Das gesellschaftliche Interesse muß deshalb jederzeit durch Zwang gegen die Einzelinteressen durchgesetzt werden. Die Menschen müssen sich dabei rechtlich den Zwecken des Staatsoberhauptes sowie moralisch Gott als Weltherrscher und Weltenrichter subordinieren. Die Widersprüche finden sich vor allem in der Verkehrung natürlicher und gesellschaftlicher Gründe: Weil die Natur den Zweck verfolgt, die Naturanlage zur Moral zu entwickeln und die gesetzmäßige Ordnung der Gesellschaft zu erreichen, benutzt sie das Mittel des „Antagonism".1 Dadurch verhalten sich die Menschen feindlich zueinander, sind habsüchtig und versuchen einander zu übertreffen. Dies sei nun in der von der Natur errichteten Gesellschaft stärker ausgeprägt als bei vereinzelten Menschen.2 Dennoch entspringe die Habsucht, die wir aus der Erfahrung kennen, nicht dem gesellschaftlichen Verhältnis, sondern aus dem natürlichen, angeborenen Hang des Menschen zum Bösen, den wir jedoch jederzeit selbst verschuldet haben.3 Entsprechend macht bei Kant die Bösartigkeit der menschlichen Natur den Zwang notwendig,4 statt daß umgekehrt der Zwang der Moralität entgegensteht.5 Kants Kritik an einer Revolution oder auch an der Demokratie sowie seine Verteidigung von repräsentativer Herrschaft, Staatsräson und Tyrannenherrschaft entspringen dergestalt ebenfalls aus der Abwertung der Individuen und dem Mißtrauen ihnen gegenüber. Kant setzt die Staatsräson vor das Eigeninteresse. Weil der Mensch von Natur aus verderbt sei, müsse das Interesse der Einzelnen durch eine Staatsmacht unterworfen werden. Die Staatsmacht verkörpere das allgemeine Interesse, welches dem einzelnen entgegenstehe und welches aus dem einzelnen Interesse nicht abzuleiten sei. Aus diesen Gründen müsse die Staatsmacht ein Unabhängiges und Selbständiges gegen die Einzelinteressen sein; so sei sie ein vernünftiges Allgemeines, dem der Einzelne sich zu unterwerfen habe und dem sich zu widersetzen unmoralisch sei. Aus der für sich richtigen Bestimmung, daß die Totalitätsvorstellung der Verwirklichung eines freien Willens überhaupt6 negativ bestimmt sein muß gegen partikulare Willensinhalte und diesen insofern entgegensteht, zieht Kant die falsche Folgerung, daß 1 Idee, VIII 20. 2 Vgl. Religion, VI 93f. 3 Vgl. Religion, VI 32. 4 Vgl. Frieden, VIII 381. 5 Ich führe hier und im Folgenden die Darstellung Kants lediglich zusammen, ihre Inkonsistenz wird von mir zwar zum Teil erklärt, bleibt sonst dabei jedoch erhalten. 6 Durch den Begriff der befreiten Gesellschaft würde die Gesamtheit ihrer Gesellschaftsglieder als Totalitätsvorstellung gedacht, welche zugleich der Reflexionsbegriff verwirklichter Freiheit wäre. Aus dieser Perspektive ist der Reflexionsbegriff verwirklichter Freiheit, wie er sowohl von Kant als auch von Hegel als verwirklichte Autonomie nicht eines einzelnen, sondern eines Willens überhaupt gefaßt wurde, der Ausgangspunkt. Insofern meint der Ausdruck Wille überhaupt einen Reflexionsbegriff ebenso wie ein gesellschaftliches Verhältnis.
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
155
das allgemeine Interesse mit den Einzelinteressen niemals zusammenstimmen könne. Nach Kants Demokratiekritik dürfe die Staatsmacht deshalb auch nicht demokratisch verfaßt sein. In der Demokratie regierten sich die Einzelnen mit ihren Interessen selbst, das heiße, daß das Einzelinteresse regiere. Da das nicht sein dürfe, müsse ein einzelner Herrscher als Repräsentant der Staatsmacht den Individuen entgegentreten. Eine Demokratie sei deshalb immer despotisch; einzig dann, wenn das Staatsoberhaupt als Repräsentant das allgemeine Interesse gegen die Einzelinteressen durchsetze, sei die Herrschaft nicht despotisch, sondern republikanisch} Der erste Definitivartikel zum ewigen Frieden lautet: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein."2
III
Staatsräson vor Eigennutz
Bezeichnend sind Kants Ausführungen gegen den Sturz von Tyrannen. Die Prämisse, von der aus Kant die Ungerechtigkeit des Tyrannensturzes zu beweisen versucht, lautet, daß „eine Maxime, die ich nicht darf l a u t w e r d e n lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die [...] Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben [kann; D.M.], womit sie jedermann bedroht".3 Obwohl Kant sofort erklärt, daß es der Tyrann ist, der alle mit der Ungerechtigkeit bedroht, sei ein Aufruhr dennoch im höchsten Grade Unrecht. Kant bleibt bei seiner Prämisse, und da ein vorher öffentlich erklärter Aufruhr scheitern dürfte, folgt, daß er ungerecht ist. Die öffentlich erklärte Maxime eines Tyrannen, alle Aufrührer im Volke mit dem Tode zu bestrafen, dürfte dann wohl sehr viel glücklicher gelingen. Nicht zuletzt müßte, nach Kants Art des Schlusses, die Machtfulle des Tyrannen irgendwie von der Gerechtigkeit herrühren.4 Kant sieht in der unwiderstehlichen Obergewalt des Tyrannen vor allem die Analogie zu der unwiderstehlichen Obergewalt, welche „auch in jeder bürgerlichen Verfassung so angenommen werden muß, weil der, welcher nicht Macht genug hat, einen jeden im Volk gegen den anderen zu schützen, auch nicht das Recht hat, ihm zu befehlen".5 Diese Gewalt müsse es geben, weil jeder im Volke den anderen durch Herrschsucht und Habsucht gefährde. Nur dadurch, daß das Staatsoberhaupt mit Gewalt diese Neigungen in ihre Grenzen setzt, sei jedem die Verwirklichung der jeweiligen Willkür zu garantieren. Die Neigungen seien unbeschränkt, und ohne ihre staatliche Begrenzung sei durch sie die Freiheit jedes Einzelnen bedroht. Der Antagonismus mache die Obergewalt notwendig. Entgegen der Empirismuskritik seinem
1 Zu den demokratiefeindlichen Passagen aus der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft und aus der Schrift Zum ewigen Frieden vgl. Religion, VI 102, sowie Frieden, VIII 35Iff. 2 Frieden, VIII 349. 3 Frieden, VIII 381. 4 Vgl. Frieden, VIII 38Iff. 5 Frieden, VIII 382f.
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Dirk Meyfeld
Begriff der Freiheit geht Kant nun doch von gegebenen Gesellschaften aus. In ihnen sind die Antagonismen vorfindlich, von denen er zur Staatsgewalt gelangt, die der feindseligen Gewalt der Gesellschaftsglieder entgegentreten müsse. Die Beschränkung vorfindlicher Gewalt durch Gewalt wird zur Freiheit; die Freiheit besteht nunmehr in nichts weiter als in einer begrenzten Verwirklichung der Willkür Einzelner unter den Bedingungen der Zwangsgesetze einer bürgerlichen Verfassung. Die Rationalität dieses Gedankens hängt an der Notwendigkeit der Prämisse des antagonistischen Verhältnisses aller Menschen zueinander. Durch die Konfrontation mit den Passagen bei Kant, in denen der Antagonismus verbunden ist mit bestimmten, und damit empirischen, gesellschaftlichen Umständen, wird diese Konzeption widersprüchlich. Gegen das empirisch Zufällige des Antagonismus bemüht sich Kant jedoch, ihm Notwendigkeit zu verschaffen. Er erklärt ihn zum Mittel zur Erreichung der Naturzwecke; die Natur verwende den „Antagonism" zum Zweck der Entwicklung der Naturanlagen des Menschen: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, fur die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht."1 Dagegen würden ,,[o]hne jene an sich zwar nicht eben liebenswürdige[n] Eigenschaften [...] in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihrem Keime verbogen bleiben".2 Wenn es den „Antagonism" im arkadischen Schäferleben nach Kants Aussage nicht gibt, so ist er auch nicht in allen Gesellschaftsformationen zwingend. Nach Kant ist er gleichwohl wünschenswert. Dieses Argument soll nicht Kants Vorstellung menschlicher Vergesellschaftung blamieren an anderen Vergesellschaftungen, die empirisch gleichzeitig bestehen oder dereinst bestanden haben mögen, sondern an dem Begriff einer nicht-antagonistischen Gesellschaft. Die Frage ist, ob Freiheit unter der Bedingung des Antagonismus, des Krieges aller gegen alle, verwirklichbar ist, und, wenn dies nicht so scheint, ob dann eine nicht-antagonistische Gesellschaft vorstellbar ist - und sei es vorerst bloß fiktiv bzw. α priori. Daß es für die Verwirklichung der Freiheit ebenso konstitutiv ist, daß Subjekte α priori Fiktionen und Konstruktion bilden, um nach ihnen die Empirie zu gestalten, ist hier bereits (zum Teil mit Argumenten Kants und Derridas) angedeutet worden. Der kritisierte Mangel der Darstellung Kants ist, daß er das fiktive arkadische Schäferleben gerade nicht zum Ausgangspunkt einer Überlegung α priori nimmt. Statt dessen ist Kants Erläuterung, daß die Natur den „Antagonism" als Mittel verwende, um die Naturanlagen des Menschen zu entfalten, Zwangsgesellschaften einzurichten und auf diese Weise die Freiheit wirklich werden zu lassen, eine problematische Reflexion
1 Idee, VIII 21. 2 Idee, VIII 21.
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
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empirisch vorfindlicher Gesellschaftsformationen und ihrer Antagonismen. Α priori kann die Vorstellung einer widerspruchsfreien, nicht-antagonistischen und freiheitlichen Gesellschaft das Resultat einer Überlegung sein, welche mit dem arkadischen Schäferleben anhebt, mit ihm ihr Resultat jedoch freilich noch nicht erreicht hat. Auch in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist das Böse an zwei Stellen auf ähnliche Weise mit der sich entwickelnden Gesellschaft verknüpft. In der eingangs bereits zitierten Passage benennt Kant, daß der Ausbreitung des ethischen gemeinen Wesens von Zeit zu Zeit Hemmungen durch politische bürgerliche Ursachen zustoßen könnten. Diese Entgegensetzung fuhrt bei ihm jedoch lediglich „dazu, die Vereinigung der Gemüther zum Guten [...] noch desto inniglicher zu machen". An einer weiteren Stelle kommt - ebenfalls scheinbar im Gegensatz zu der sonstigen Konstruktion - die Ursache für die Gefahr der Anfechtung des Menschen durch das böse Prinzip nicht aus der rohen Natur, sofern der Mensch abgesondert da ist, sondern von anderen Menschen, mit denen er in Verhältnis oder Verbindung steht. „Nicht durch die Anreize der [rohen Natur; D.M.] werden die eigentlich so zu benennenden L e i d e n s c h a f t e n in ihm rege, welche so große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten. [...] Er ist nur arm [...], sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten [...]. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, w e n n e r u n t e r M e n s c h e n i s t " . 1 Nur scheinbar wird die bürgerliche Vergesellschaftung als Ursache der feindseligen Neigungen von Neid, Herrschsucht und Habsucht erkannt; nur dem Anschein nach wird sie zum Argument für die Forderung, der rechtlich bürgerlichen Gesellschaft eine ethisch bürgerliche Gesellschaft entgegenzusetzen.2 Die weitere Entwicklung bei Kant zeigt, daß er hier vielmehr bei seiner Bestimmung bleibt, es reiche, daß die Menschen „Menschen sind, um einander wechselseitig in ihre[n] moralischen Anlage[n] zu verderben und sich einander böse zu machen".3 Die Menschen bleiben radikal böse, d.h. ,,[d]ieses Böse ist r a d i c a l , weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu v e r t i l g e n " 4 ist. Deshalb müsse sich das ethische gemeine Wesen der politischen Macht unterordnen, statt daß es umgekehrt die bürgerliche Vergesellschaftung samt ihren Antagonismen und Zwangsgesetzen aufhebt. Die politische Macht setzt die Begrenzung und die Unterordnung der Selbstliebe rechtlich und damit äußerlich durch. Das ethische gemeine Wesen Kants besteht darin, diese Unterordnung gemeinschaftlich auch zu einer innerlichen zu machen. Nur dann ist die Verbindung von echter Art: „Der Bürger des politischen gemeinen Wesens bleibt also, was die gesetzgebende Befugniß des letzteren betrifft, völlig frei: ob er mit anderen Mitbürgern überdem auch in eine ethische Vereinigung treten, oder lieber im 1 2 3 4
Religion, VI 93 f. Vgl. Religion, VI 93ff. Religion, VI 94. Religion, VI 37.
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DIRK MEYFELD
Naturzustande dieser Art bleiben wolle. Nur so fern ein ethisches gemeines Wesen doch auf ö f f e n t l i c h e n Gesetzen beruhen und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als S t a a t s b ü r g e r widerstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung ächter Art ist, das letztere ohnedem nicht zu besorgen ist."1
IV
Die kollektive Unterwerfung der Selbstliebe
Eine befreite Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie den Zweck verfolgt, daß alle ihre Glieder eine Vorstellung der Freiheit α priori bilden und diese zu verwirklichen suchen. Ihr Begriff gerät jedoch zu sich selbst in Widerspruch, wenn er, wie bei Kant, einfachnegativ bestimmt bleibt gegen Eigennutz und Selbstliebe. Wenn die Menschen aus Selbstliebe und Eigennutz handeln, verfolgen sie ihre eigenen Zwecke und handeln soweit selbstbestimmt; gerade im anderen Fall folgen sie heteronomen Zwecken und sind insofern fremdbestimmt. In dieser Hinsicht enthält gerade auch die eigennützige Handlung das Moment der Autonomie: Die Subjekte richten sich nicht nach fremden Begriffen oder Zwecken (sie folgen keinem transzendenten moralischen Gesetz oder Endzweck der Natur), sondern - sich selbst bestimmend - verwirklichen sie auf der Grundlage ihrer eigenen Begriffe aus Selbstliebe Zwecke, die sie sich selbst gesetzt haben. Diesem folgend, muß die vernünftige Allgemeinheit der befreiten Gesellschaft darüber hinaus auch die Ausweitung der Befriedigung der empirischen Bedürfnisse zum Ziel haben; sie darf ihr theoretisch wie praktisch nicht bloß einfach-negativ entgegengesetzt bleiben. Jede Kritik von Selbstliebe und Eigennutz, die nicht aus dieser Perspektive erfolgt, ist ideologisch und fordert, daß individuelle Ziele geopfert werden für eine heteronome Allgemeinheit. Wie in der Ideologie der Volksgemeinschaft wird eine Opferbereitschaft für die Allgemeinheit erwartet. Dem stehen radikaler Individualismus, Selbstliebe und Eigennutz entgegen. Wird die staatliche Einheit und ihre Selbstständigkeit, unter Absehung von den gesellschaftlich-ökonomischen Antagonismen, über das Einzelinteresse gesetzt, und wird die Verinnerlichung dieser Verhältnisse angestrebt, so geschieht die Formierung zur Volksgemeinschaft. (Dagegen wäre eine vernünftige Allgemeinheit den Einzelinteressen nicht übergeordnet, bzw. stünde ihnen nicht einfach entgegen, sondern ihr Zweck wäre selbst die Förderung der Einzelinteressen.) Überdies ideologisiert die Volksgemeinschaft den Untertantendienst gegenüber dem Staat als Einordnung in den Volkskörper, den sie als organischen bzw. als rassischen halluziniert.
1 Religion, VI 96.
DIE MORALISCHE BEGRÜNDUNG DER WELTREVOLUTION?
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Zu Kants Zeit war die Ideologie der Volksgemeinschaft noch nicht bedeutend; als sie einflußreich wurde, galt Kant bereits als bürgerlicher Aufklärer. Die Volksgemeinschaftsideologie wendet sich auf der einen Seite gegen den Bolschewismus und auf der anderen gegen die Rationalität, die Liberalität und den Individualismus der bürgerlichen Aufklärung. Den Verfechtern der Volksgemeinschaft dient Kant insofern als Feind und nicht als Verbündeter. Obwohl Kant somit nicht in die Nähe der Volksgemeinschaftsideologie gehört, finden sich bei ihm die meisten ihrer Elemente: Statt die Antagonismen samt Habsucht und Herrschsucht als gesellschaftlich bedingte zu erkennen, wird ihr Grund verklärt und in die Natur des Menschen verlagert. Die derart erreichte Bösartigkeit der menschlichen Natur macht dann den Zwang notwendigDie Demokratie sowie Revolutionen werden abgelehnt; statt dessen habe sich der Mensch in den Lauf der Welt zu fugen. Allgemeines und individuelles Interesse seien unvereinbar, und sonach wird dem allgemeinen Interesse der Vorrang eingeräumt. Die Staatsmacht ist selbständig gegen die Interessen der Einzelnen und unterwirft deren Selbstliebe. Staatsräson geht vor Eigennutz. Während dies Verhältnis als bürgerlich rechtliches weiterhin ein äußerliches bliebe, welches es nach wie vor ermöglicht, daß sich die Bürger darauf nur insoweit beziehen als es ihren Eigeninteressen nützt, fordert Kant auch das ethische gemeine Wesen. Die Selbstliebe einer heteronomen Allgemeinheit unterzuordnen, so wie es rechtlich allzumal durchgesetzt ist, müsse jederzeit auch innerlich erfolgen. Indem an Tradition und Religion angeschlossen wird, ist es die Funktion des ethischen gemeinen Wesens die Unterordnung der Selbstliebe allgemein innerlich zu machen. Dies geschieht, indem sich die Glieder des ethischen gemeinen Wesens, welches der Erfüllung der Pflichten gegenüber dem Staat niemals entgegensteht, gemeinschaftlich darin üben, Eigennutz und Selbstliebe einzugrenzen und zu zügeln. Diese benannten Aspekte von Kants ethischem gemeinen Wesen taugen dazu, die Bevölkerung eines Staates zur Volksgemeinschaft zu formieren. Entgegen den emanzipativen Konsequenzen, die sich aus Kants apriorischem Begriff der Freiheit ziehen lassen, enthält solch eine aus praktischer Vernunft erschaffene Welt das genaue Gegenteil der moralischen Begründung der Weltrevolution.
1 Vgl. Frieden, VIII 381.
MICHAEL STÄDTLER
Die Konstitution der Freiheit
„Das Ziel Lag in großer Ferne Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich Kaum zu erreichen." (Brecht)1
Freiheit, moralische Selbstbestimmung, sieht Kant prinzipiell bedroht durch das böse Prinzip, die Möglichkeit der Unterordnung des Sittengesetzes unter andere, etwa sinnliche, Triebfedern bei der Willensbestimmung. Dieser Gefahr seien Menschen besonders in Gesellschaft ständig ausgesetzt. Es gelte daher, die Gemeinschaft von Menschen moralischer Gesinnung als ethisches Gemeinwesen zu konstituieren, in dem wechselseitige Anfeindungen unterblieben. Ein solches Gemeinwesen setzte voraus, daß „alle Einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können"2. Es sei erforderlich, Gott als moralischen Gesetzgeber vorzustellen, obwohl ,,[i]n Ansehung der letzteren [der rein moralischen Gesetze] [...] ein jeder aus sich selbst durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der seiner Religion zum Grunde liegt, erkennen"3 könne. Der Begriff des göttlichen Willens als Gegenstand reiner Vernunftreligion ist inhaltlich von der praktischen Vernunft nicht unterschieden. Wenn nun die Bestimmung des Willens aus praktischer Vernunft jedem möglich und geboten ist, was fugt die Idee Gottes oder der Begriff reiner Religion der Moralität hinzu? Worin geht die Konstitution der Freiheit über deren Begriff selbst hinaus? Freiheit ergibt sich als Begriff reiner Vernunft aus deren Dritter Antinomie, wonach sowohl der Ausschluß als auch die Zulassung einer nicht naturgesetzlichen Kausalität den Begriff von Kausalität aufhöbe. Insofern aber ein Mensch ein intelligibles Wesen ist, steht er nicht unter Bedingungen der Sinnlichkeit und kann daher spontan seinen Willen bestimmen, wenngleich eine daraus erfolgende Handlung desselben Menschen als Sinnenwesens unter die Naturkausalität fallt, so daß „Freiheit und Natur jedes in seiner vollständigen Bedeutung, bei eben denselben Handlungen, nachdem man sie mit
1 Bertold Brecht, „An die Nachgeborenen", in: Die Gedichte von Bertold Brecht in einem Band, Frankfurt am Main 1986, 724. 2 Religion, VI 98. 3 Religion, VI 104.
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MICHAEL STÄDTLER
ihrer intelligiblen oder sensiblen Ursache vergleicht, zugleich und ohne allen Widerstreit angetroffen werden"1. Dieser transzendentale Freiheitsbegriff ist als regulatives Prinzip Bedingung von Kausalität und damit der Einheit der Erfahrung. Er ist zunächst negativ bestimmt als Vermögen des Subjekts, unabhängig von äußeren Bedingungen Kausalität zu entfalten. In der Bestimmung dieser Unabhängigkeit weist der transzendentale Freiheitsbegriff aber praktisch über sich hinaus auf Autonomie, in der negative Freiheit als Unabhängigkeit der Willkür und positive als Selbstbestimmung des Willens aufeinander verweisen.2 Kant vollführt den Übergang von theoretischem zu praktischem Vernunftgebrauch aber nicht innerhalb der theoretischen reinen Vernunft. Dort bleibt der Freiheitsbegriff regulativ und dient zu keiner weiteren Erkenntnis, auch nicht über ihn selbst. Er indiziert aber das praktische Vermögen reiner Vernunft, in dessen Bereich es sich nicht mehr um Gegenstände, die der Erkenntnis gegeben sind, handelt, sondern um Gegenstände, auf deren Hervorbringung sich die Vernunft erst richtet. Es gilt nun zu zeigen, daß die Vernunft als praktische ebenso zu notwendig-allgemeinen Resultaten gelangt wie als theoretische. Die praktische Realität von Freiheit nennt Kant ein „Factum der Vernunft" 3 , das aus der Wirklichkeit von Moralbewußtsein zu erkennen ist, weil Freiheit Existenzgrund von Moralität ist. Freiheit als nicht äußerlich bestimmte Kausalität wird ihrem Begriff gerecht als vernunftbestimmte. So kann sie nur als notwendig und allgemein sowie ohne inhaltliche Bestimmung gedacht werden, weil sonst außervernünftige Bestimmungsgründe wirkten. Die Freiheit des Willens und die bloße Form des Gesetzes als gesetzgebendes Prinzip verweisen wechselseitig aufeinander.4 Der Begriff eines unbedingten Gesetzes ist damit „blos das Selbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit [...]".5 Dessen Bestimmung ist daher: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."6 Der Formalismus des Sittengesetzes, die widerspruchsfreie Subsumtion der Maximen unter Gesetzesform, ergibt sich bei Kant als einzige Möglichkeit, Freiheit nicht bloß als Willkürfreiheit oder Freizügigkeit, sondern grundsätzlich zu denken. Freiheit des Subjekts kann nur darin bestehen, daß es seinem Willen aus eigener Vernunft selbst das Gesetz gibt. Das kann die Vernunft als
1 KrV, Β 569. 2 Vgl. KpV, V 33. Zur Entwicklung von Kants Freiheitsbegriff vgl. die präzise Darstellung bei Maximilian Forschner, „Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft. Transzendentale und praktische Freiheit", in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004. 3 KpV,\ 31. 4 Vgl. KpV, V 27ff. (§§ 4-6). 5 KpV, V 29. 6 KpV, V 30.
DIE KONSTITUTION DER FREIHEIT
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praktisch notwendig einsehen, auch wenn die theoretische Grundlage problematisch bleibt, damit aber immerhin nicht unmöglich ist. So ist das Sittengesetz keine aus theoretischen Sätzen abgeleitete Handlungsnorm, sondern es ist die Form freier Willensbestimmung.1 Dem entspricht der Begriff der Freiheit als Autonomie des Willens, in der sich Vernunft als gesetzgebend auf sich selbst bezieht. Der Gegenstand der praktischen Vernunft, dessen sie zu ihrer Bestimmung durchaus bedarf, besteht in der Vorstellung eines Objektes als Wirkung der Freiheit, aber ohne Ansehung der Möglichkeit von deren äußerer Realisierung, weil sonst dies äußere Dasein den Willen heteronom bestimmte. Das Objekt der praktischen Vernunft, das Gute, ist kein empirischer Gegenstand des Willens, sondern die moralische Bestimmung des Willens selbst.2 Der Wille ist gut, wenn er seine eigene moralische Bestimmung will und darin besteht sein einziges genuines Objekt. Er kann und muß auch dies oder jenes als Inhalt wollen, aber diese Inhalte der Maximen dürfen nicht Bedingungen des Gesetzes sein, sondern dies muß die Form der Maximen bestimmen; moralisch ist der Wille nur, wenn das ihn bestimmende Objekt seine eigene Gesetzmäßigkeit ist. Freiheit, moralische Bestimmung des Willens, ergibt sich damit als praktischer Ausdruck der Reflexivität reiner Vernunft. Sie kann sich nicht nur selbst erkennen, sondern auch sich selbst bestimmen. Die positive Selbstbestimmung ist aber ebenso Selbständigkeit gegen anderes, wodurch Freiheit ihr negatives Moment erhält. Die formelle Freiheit gründet in der Reflexivität α priori der Vernunft und hebt die ausgeschlossenen empirischen Bestimmungsgründe nur insofern auf, als sie sich auf diese in der Form der Negation der Negation bezieht und sie so formal ihrer Reflexivität gemäß macht. Darin liegt die Möglichkeit der Verbindung von Vernunft und Praxis, aber nicht ihre Notwendigkeit, denn Kant denkt das Selbstbewußtsein praktischer Vernunft als positiv durch sich selbst und negativ als gegen, und so nicht durch anderes bestimmt. Das andere gilt nicht wie bei Hegel als mittels der negativen Beziehung der Vernunft assimiliert. Deshalb bleibt auch die Typik, das Analogon des Schematismus, als Verbindung von Erfahrung und Begriff eine problematische Konstruktion innerhalb der Reflexion reiner Vernunft. Sie besteht in der Vorstellung einer intelligiblen Welt, die nach der zu prüfenden Maxime wie eine Naturordnung bestimmt wird. Die Frage, ob man in jener Welt freiwillig würde leben wollen, soll sich aber bloß auf den Begriff, nicht auf die Realität einer solchen Welt erstrecken. Eine anschauliche Vorstellung eines durch Freiheit bestimmten Zustandes, wie etwa des Reichs Gottes, kann kein Schema für die Moral sein, weil der Wille dann schon durch die vorgestellte Annehmlichkeit heteronom bestimmt 1 Reiner Wimmer, „Kann Religion vernünftig sein? Zur Metakritik an Kants kritischer Religionsphilosophie", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler (Hgg.), Recht - Geschichte - Religion. Die Bedeutung Kants fiir die Gegenwart, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 9, Berlin 2004, 176, vertritt die Auffassung, das Sittengesetz sei nicht formal und beziehe seine Allgemeinheit nicht aus der Form der Gesetzmäßigkeit; damit begibt er sich wesentlicher Momente des Freiheitsbegriffs. 2 Vgl. KpV, 60f.
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wäre.1 Freiheit ist eine bloß durchs Gesetz bestimmbare Kausalität.2 Empirisch, etwa durch Affekte, Sinnlichkeit, Interessen oder Eigenliebe bestimmte Handlungen sind zwar auch vom Subjekt initiierte Akte, die ihm daher zuzurechnen sind, aber sie sind nur vermittels etwas initiiert, dessen Ursprung nicht das Subjekt selbst ist. Diese Fremdbestimmung jedoch ist nur zu denken als Entschließung des Subjekts, äußeren Antrieben nachzugeben, denen es aufgrund des negativen Freiheitsmoments nicht ausgeliefert ist. Die unfreie Willensbestimmung ist daher negativer Ausdruck der Freiheit im positiven Verstände, das Subjekt ist auch in seinen unfreien Äußerungen immer als freies zu betrachten, weil es sich das Gesetz selbst geben kann.3 Durch die Verschränkung des positiven mit dem negativen Moment der Freiheit sind unmoralische Willensbestimmungen moralisch zurechenbar. Kant gelingt hier durch die Entdeckung des Prinzips der Zurückweisung aller äußeren Bestimmungsgründe ein Begriff moralischpraktischer Handlungsfähigkeit, der eben nicht bloß bei sich bleibt, sondern durch den allein den Subjekten Verantwortung für das, was sie tun, mit Grund zugewiesen werden kann. In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten heißt es nun: ,,[D]er Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung f ä h i g ist. Nur die W i l l k ü r also kann f r e i genannt werden."4 Die Reflexivität reiner Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft, Grundlage von Autonomie, gilt hier als indifferent gegen Freiheit. Umgekehrt gilt die Bestimmbarkeit der Willkür durch diesen oder jenen Zweck, Indifferenz gegen Autonomie, als Freiheit. Das hängt zusammen mit Kants Rechtsbegriff, der durch drei Momente bestimmt ist: Erstens ist Recht die äußere praktische Relation von Personen. Aufgrunddessen gelten die Personen zweitens nur als Vertreter äußerer Willkürbereiche. Diese müssen drittens nicht inhaltlich, aber formal verträglich sein. Die einzige Gestalt von Liberalität, die durch eine Rechtsordnung bestimmbar ist, besteht daher in der kollisionsfreien Koordination partikularer Willkürsphären durch allseitig verbindliche Einschränkung der Freizügigkeit, die garantiert, daß niemand seiner Freizügigkeit durch die Ausdehnung der eines anderen ganz benommen wird. „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen 1 Vgl. KpV, V 67ff. 2 Vgl. KpV, V 78. 3 Vgl. auch Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", Würzburg 2000, 81. 4 MdS, VI 226.
Ort von
Kants
DIE KONSTITUTION DER FREIHEIT
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selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von anderen auch tätlich eingeschränkt werden dürfe [...]."' Diesem Rechtsbegriff entsprechend ist in der Rechtslehre der Freiheitsbegriff auf sein negatives Moment reduziert. Dadurch bezieht sich die juridische Zurechnungsfähigkeit des Subjekts nur auf das Verhältnis von Handlungen zu Gesetzen, die dem Subjekt äußerlich bleiben. Der Begriff der äußeren Rechtsordnung ist Kants Vernunftanspruch zum Trotz an sich schon der einer positivistischen. Das allgemeine Rechtsgesetz ist demgemäß nur äußerlich an das Sittengesetz angelehnt; beide sind wesentlich unterschieden. Das Rechtsgesetz bleibt auf der Stufe komparativer Allgemeinheit, weil der Grundbegriff des Rechts, das äußere Mein und Dein, kein Gegenstand α priori ist. Auch der intelligible Besitz bleibt als Ausschluß anderer vom Gebrauch einer Sache an empirische Bedingungen geknüpft. Seine Allgemeinheit folgt nicht aus dem Rechtsbegriff, sondern setzt logisch das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft 2 (Unmöglichkeit der res nullius) und sachlich die Verrechtlichung der ursprünglichen Aneignung von Grund und Boden voraus,3 die als den allseitigen Ausschluß vom Gebrauch der Sache durchsetzende Gewalt per se nicht intelligibel ist.4 Da allein die Reflexivität moralischer Selbstbestimmung α priori strenge praktische Allgemeinheit gewährt, können Rechtsgesetze keine Anwendungen des Sittengesetzes auf Handlungen sein, ihre Triebfedern, deren sie wie alle praktischen Gesetze bedürfen, um ihre objektive Geltung subjektiv durchzusetzen, sind daher ebenfalls äußerlich: Rechtsgesetze sind in ihrem Begriff notwendig mit einer empirischen Zwangsbefugnis verknüpft, mit der sie den Naturzustand, aus dem sie hergeleitet werden, beerben. Die Rechtsordnung ist also keine Freiheitsordnung, sondern eine Zwangsordnung5, und zwar eine solche, der die ihr Unterworfenen bloß als pathologische Objekte gelten, deren Schein von Subjektivität in ihrer Funktionalität innerhalb eines äußerlichen Ver1 MdS, VI 231. 2 Vgl. MdS, VI 246f. (§ 2). 3 Die Bearbeitung des Problems, aus dem empirischen Verhältnis von Menschen zu Sachen ein intelligibles von Personen zu machen, das Gegenstand eines synthetischen Rechtssatzes α priori sein müßte, offenbart den Kern der Aporetik von Kants Versuch, auf dem Eigentumsbegriff eine freiheitskompatible Rechtsordnung aufzubauen. Eine andere Beurteilung der Bedeutung dieser Passagen findet sich bei Bernd Ludwig, „Einleitung", in: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg 1986, XIII-XL, bes. XXVIIIff. 4 Der gewaltsame Ausschluß aller anderen vom Gebrauch einer Sache durch den Besitzer ist nach Kant nicht eine akzidentelle Folge der ursprünglichen Erwerbung, sondern explizit das den Besitz konstituierende Verhältnis von Personen (MdS, VI 249ff., § 6). Zwar will Kant die erste Besitznehmung, die einen Gegenstand okkupiert, der noch in niemandes Besitz ist, als einseitig konstruieren (vgl. MdS, VI 263, § 14). So, als bloßes Verhältnis eines Subjekts zu einer Sache, wäre der Akt der Besitznehmung aber vom Gebrauch nicht unterschieden. Indem dieser Akt als Bemächtigung über den bloßen Gebrauch aber den alleinigen Gebrauch intendiert, ist er seinem Begriff nach nicht einseitig und setzt den gewaltsamen Ausschluß aller andern vom Gebrauch. 5 Dies hat Kelsen aufgenommen und deutlich ausgesprochen: Vgl. Hans Kelsen, Reine 1. Aufl., Aalen 1985 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig/Wien 1934), 117.
Rechtslehre,
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hältnisses von Willkürsphären besteht, deren Kollisionspotential einzuschränken, aber nicht aufzuheben ist. Allerdings will Kant mittels der naturrechtsanalogen Konstruktion der Rechtsordnung aus dem Vernunftbegriff des Rechts in einer der Sache nach schon positivistischen Rechtsbestimmung sicherstellen, daß die bürgerliche Rechtsordnung äußerlich mit Moral kompatibel bleibt: „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet."1 Dieser Konsequenz nur mehr formeller Koordination von Recht und Moral hat Hegel entgegengehalten, daß aus dem Begriff der Moral prinzipiell kein Begriff des äußeren Rechts zu entwickeln sei, der nicht hinter Moralität zurückfiele; umgekehrt sei Moral der reflektierte Begriff des abstrakten Rechts. Dieser vom Recht schon durchdrungene Moralbegriff gehe aus sich selbst zu dem der Sittlichkeit, äußerlich realer Moralität, über und terminiere im Staat, in dem noch der Mangel der Zufälligkeit des Äußerlichen dadurch aufgehoben sei, das jeder Einzelne Repräsentant des Allgemeinen sei. Kant benennt als Grund der mangelnden Realisierung von Moral dagegen nicht deren Formalität, sondern die in gesellschaftlichen Beziehungen hervortretenden Beschränkungen von Freiheit: „Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine [des Menschen] an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen."2 Das subjektive böse Prinzip, die Möglichkeit, sich gegen das Sittengesetz zu entscheiden, hatte Kant zunächst neben diesem als zweites Moment moralischer aber nicht heiliger Subjektivität entwickelt und so die Verschränkung von negativem und positivem Moment zur Grundlage des Freiheitsbegriffs der Religionsschrift gemacht.3 Nun erhält das böse Prinzip und mit ihm die abstrakt freie Willkür aber eine zusätzliche, gesellschaftliche, Bestimmung: Menschen machen ,sich einander böse'. Dem analog ist die unbedingte Geltung des Sittengesetzes zu ergänzen „durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben"4. Diese ,Gesellschaft' soll als ethisch verfaßtes Gemeinwesen erstens den moralischen Mangel der Rechtsordnung, deren Gesetze „insgesammt Zwangsgesetze"5 sind, aufheben und zweitens den Mangel der Moral in Hinblick auf reale Sittlichkeit6 überwinden. 1 MdS, VI 220. 2 Religion, VI 94. 3 Vgl. Religion, VI, II. Stück. 4 Religion, VI 94. 5 Religion, VI 95. 6 Die Verwendung der Ausdrücke ,Moralität' und .Sittlichkeit' folgt der größeren Klarheit wegen der Terminologie Hegels.
D I E KONSTITUTION DER FREIHEIT
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Das Verfassungsprinzip des ethischen Gemeinwesens muß daher das Sittengesetz sein, kann aber nicht darauf beschränkt bleiben, denn „das höchste sittliche Gut [kann] durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt werden"1. Moralische Subjekte stehen als Einzelne nicht in einem moralisch bestimmten Verhältnis zueinander und dadurch ist auch ihre individuelle Moralität ständig bedroht. Zwar gründet die Bestimmung der Moralität notwendig in der Subjektivität, da Freiheit nur als Reflexivität der praktischen Vernunft gedacht werden kann, aber die geforderte Realisierung dieser Reflexivität auf gesellschaftlichem Maßstab ist mehr als die Summe aller partikularen Realisierungen durch Individuen, schon deswegen, weil niemand die Selbstbestimmung eines anderen verbinden kann. Gegen die partikularisierende Wirkung des bösen Prinzips bedarf es neben dem Sittengesetz eines die Menschen „vereinigenden Principe" , das eine „von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe"3. Dieses Prinzip muß die praktische Vernunft denken können, um die Objektivität von Freiheit überhaupt denken zu können, deren Begriff sonst instabil bliebe. Weil Freiheit ein Faktum ist, hat die Idee ethischer Kollektivität „in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete objective Realität"4 und bezeichnet eine „Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst"5. Weil das Sittengesetz den Einzelnen aber nur hinsichtlich seiner selbst unbedingt verbinden kann, wird man „schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die fur sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden"6. Ein ethisches Gemeinwesen ist nur mittels einer zusätzlichen Vernunftidee zu denken, die der Selbstbestimmung der Einzelnen den Begriff koordinierter Kollektivität hinzufugt. Diese Idee geht aus der Vernunft hervor, aber ihre Geltung kann nicht innerhalb der je einzelnen moralischen Subjekte begründet werden, weil sie alle in ihrem Verhältnis zueinander moralisch verbindet. Da der logische Ort dieser Idee die praktische Vernunft ist, konstruiert Kant den Begriff einer hypostasierten Vernunft als Geltungsgrund: Das ist die Idee jenes ,höheren moralischen Wesens', deren Inhalt die Vereinigung der unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung durch allgemeine Veranstaltung ist. So ist sie der Begriff rationaler Kooperation zur Verwirklichung des mora-
1 2 3 4 5 6
Religion, Religion, Religion, Religion, Religion, Religion,
VI VI VI VI VI VI
97. 97. 98. 95. 91. 98.
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MICHAEL STÄDTLER
lischen menschlichen Gattungsvermögens1, dessen Modell kooperativ arbeitsteilige Reproduktionsprozesse sind, in denen seit langem ,die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden'. Im Begriff vernünftiger Koordination menschlicher Handlungen nach dem Modell von Kooperation und Arbeitsteilung ist eine Verfassung der Menschen antizipiert, die durchaus als ein nach Moralgesetzen, d.h. vernünftig und aus Einsicht organisiertes Kollektiv bezeichnet werden kann. Die freie Assoziation und vernünftige Konstitution unterscheiden dieses Kollektiv von einem ,Not- und Verstandesstaat' 2 und weisen über die Analogie von ethisch-bürgerlicher und rechtlich-bürgerlicher Gesellschaft hinaus auf den von Kant ausdrücklich benannten „Gegensatz"3 beider. Weil zudem der Begriff moralischer Zusammenstimmung der Menschen diese als Gattungswesen betrifft, ist „der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines ganzen aller Menschen bezogen"4 und jedes partikulare ethische Kollektiv bleibt deshalb ebenso im ethischen Naturzustand wie diejenigen, die keinem solchen Gemeinwesen beitreten, denn die Realisierung der Sittlichkeit innerhalb eines partikularen Kollektivs bleibt ständig bedroht, solange es in irgendeiner Weise auf gesellschaftliche Kontakte, etwa ökonomischer Art, zu anderen Gemeinwesen angewiesen ist. Da diese Kontakte selbst nicht moralisch bestimmt sind, bedrohen partikulare ethische Kollektive auch wechselseitig ihre Sittlichkeit. Während nun die subjektive Anerkennung der objektiven Geltung einer Rechtsverfassung deren eigenem Begriff nach äußerlich erzwungen wird, ist eine solche Geltungsgarantie der ethischen Verfassung unmöglich, denn kein Mensch vermag die Moralität eines anderen zu kontrollieren. Da ein Gesetzgeber aber die Einhaltung seiner Gesetze garantieren können muß, „kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle w a h r e n P f l i c h t e n , mithin auch die ethischen, z u g l e i c h als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher."5 Der Begriff Gottes, die Vorstellung von Geboten, der Gedanke von einem Gesetzgeber begründen die Konsistenz des Begriffs der ethischen Verfassung. Das sittliche Subjekt ist in sich differenziert, es reflektiert als das Gesetz bestimmende Subjekt auf sich als durch das Gesetz bestimm-
1 Zum Gattungsvermögen als spezifischer Wirkung von Kooperation vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1986, 11. Kapitel, bes. 348f. 2 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1995, § 1 8 3 die Zurückweisung der zumeist mit Hobbes verbundenen Linie der Staatstheorie, in der Kants Rechtstheorie durchaus steht. 3 Religion, VI 94. 4 Religion, VI 96. 5 Religion, VI 99.
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bares. So begründet die denkende Vernunft selbst aus sich die praktische Objektivität der Ideenkonstellation von Sittengesetz und Einheit aller Menschen. Der Begriff, der ,Gott' genannt wird, ist aber keine willkürliche Erfindung zur Rettung eines inkonsistenten Gedankenspiels, sondern eine von der Vernunft erforderte Idee, unter der allein die faktisch unstrittige Objektivität von Freiheit gedacht werden kann.1 Wäre Sittlichkeit äußerlich verfaßt, wäre sie nicht das Dasein von Autonomie. Das Faktum der Vernunft kann nur durch Begriffe reiner praktischer Vernunft adäquat begriffen werden. Ohne solches Begreifen wäre die umfassende Realisierung von Autonomie nicht mit Grund zu fordern.2 Mit Blick auf die nicht zwangsläufig moralisch bestimmten Willen vernunftbegabter Sinnenwesen schreibt Kant nun: „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann."3 Die Realisierung des ethischen Internationalismus, also die Einsicht aller Menschen in die Vernunftideen der Sittlichkeit, die durch Aufklärung zu bewirken wäre, kann weder von einem einzelnen Menschen noch von einem partikularen Kollektiv zuverlässig bewirkt werden, weil der Erfolg von Aufklärung nicht garantiert ist. Nun muß die Erfüllbarkeit jeder Pflicht aber im Vermögen des verpflichteten Subjekts liegen. Diese Schranke stellt Aufklärung aber nicht dem bloßen Zufall anheim, sondern sie entspricht dem Moment von Geschichte, das in der Realisierung von Vernunft liegt, weil sie nur in der Zeit geschehen kann. Dieses historische Moment bestimmt aber weder hinreichend die Realisierung von Vernunft noch wäre es selbst durch die Vernunft hinreichend zu bestimmen. Der Pflicht, ein universelles ethisches Kollektiv zu gründen, kann ein Mensch daher nur genügen, wenn er so verfährt, „als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen"4. Kants Analogie zur christlichen Gnadenlehre umgeht deren Problem, daß weder ein guter noch ein böser Lebenswandel den Ratschluß der göttlichen Allmacht beeinflussen kann, dadurch daß die Ungewißheit der Vollendung moralischer Bemühungen nicht als abstrakte Ungewißheit des Zufalls oder Willkür einer höheren Macht, sondern als Ungewißheit der Geschichte verstanden wird, deren Subjekte aber die Menschen sind. Dadurch wird die Pflicht zur Sittlichkeit erst begrifflich konsistent, denn die geforderte Moral steht so in
1 Jürgen Habermas, „Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie", in: Herta Nagl-Docekal/Rudolf Langthaler, Recht - Geschichte - Religion, a.a.O., versteht ,Vernunftglauben' als religiöse Aufladung der Moral, nicht als rationale Kritik des Religiösen, die er teils als .philosophische Besserwisserei' bezeichnet (vgl. 158), teils als „atheistische Aneignung religiöser Gehalte" (153). 2 Zu Kants kritischem Begriff von Religion vgl. z.B. die Bezeichnung Gottes als „inneres moralisches Verhältnis" aus dem Opus Postumum (zit. nach Rudolf Eisler, Kant-Lexikon, Hildesheim 1972,223). 3 Religion, VI 100. 4 Religion, VI 101.
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einem bestimmbaren Verhältnis zum Ziel der Sittlichkeit. Beruhte die Verbindung des Handelns zum Ziel auf der Gnade Gottes oder auf Zufall, könnte jede Handlung genauso gut unterlassen wie ausgeführt werden. Wird die Ungewißheit des Ausgangs geschichtlich verstanden, kann die Moralisierung der Menschen als Pflicht begriffen werden. Nur unter der Voraussetzung dieser Pflicht ist die Frage nach dem Erfolg überhaupt sinnvoll. Würde die Pflicht vom Erfolg abhängen, wäre sie unmöglich, denn der geschichtliche Verlauf ist nicht durch bloße Vernunft zu erzwingen. Die ,höhere Weisheit' am Ziel der Geschichte ist so nicht als höhere Macht zu denken, sondern als jene Vernunfteinsicht, die nicht von den Menschen zu kontrollieren ist, die aber, weil sie Weisheit, also vernünftig ist, der Vernunft der Menschen auch nicht äußerlich ist. Es wäre die geschichtlich reale moralische Einsicht aller Menschen, das ethische Ganze. Am Modell der Religion entfaltet Kant den sonst vorläufig gegenstandslosen Begriff vernünftiger Kollektivität, in dem als Resultat alle irrationalen Beschränkungen des Modells aufgehoben sind.1 Durch die Ergänzung des Kategorischen Imperativs um die Idee der kooperativen Einheit aller Menschen und deren geschichtliche Objektivität erweitert Kant den Begriff der Moralität zu dem der Sittlichkeit, ohne wie Hegel diese aus jener abzuleiten. Diese für Hegel unbefriedigende Konstellation von Begriffen ist ebenso unbefriedigend wie die Wirklichkeit; sie enthält kein auf die Erlösung in der höheren Weisheit der Idee angelegtes Moment, das die Menschen von ihrer Geschichte weitgehend entlastet, sondern im Gegenteil die unbequeme Forderung, daß die Menschen unangesehen der Zeitläufe ihre Befreiung in vollem Umfang und jeder Hinsicht selbst zu besorgen haben.2 Aus dieser radikal aufklärerischen Position folgen für eine praktische Philosophie, die noch nicht über einen adäquaten Begriff der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft verfügen kann, Widersprüche hinsichtlich der äußerlich bestimmten Koordination von ethischem und juridischem Gemeinwesen. Ihr Verhältnis soll frei sein, indem es weder eine Staatskirche noch einen Kirchenstaat gibt, das ethische Gemeinwesen eigenständig innerhalb des juridischen besteht und seine Bürger auch zugleich
1 Daß die Vernunftreligion sowohl als transzendentales Kriterium der sichtbaren Kirche als auch als geschichtliche Überwindung derselben verstanden wird, ist kein „Kategorienfehler", wie Hans Michael Baumgartner, „Das „Ethische gemeine Wesen" und die Kirche in Kants ,Religionsschrift'", in: Friedo Ricken/Franfois Marty (Hgg.), Kant über Religion, Stuttgart 1992, 162, meint. Die Kirche ist ein historisches Modell, das als Modell verstanden über seine historische Beschränkung, damit aber auch über sich selbst hinausweist. 2 Sala schließt dagegen: „Es ist nicht einzusehen, was das ethische Gemeinwesen bzw. die Kirche (als Kirche des Vernunftglaubens bzw. als Reich Gottes auf Erden) dem Begriff des Reiches der Zwecke sachlich hinzufugen kann und soll." (Giovanni B. Sala, „Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als ,ethischem gemeinen Wesen'", in: Norbert Fischer (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, a.a.O., 253. Was der theoretischen Bedingung praktischer Vernunft hier hinzugefugt wird, ist die politische Dimension der Moral, die Sala in seiner detaillierten Analyse des Dritten Stücks, neben der Feststellung, daß der Begriff des Bösen hier ein soziologischer sei (z.B. 247), nicht zur Sprache bringt.
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dessen Bürger sind. Das sei nicht bloß konfliktfrei möglich, sondern das bürgerliche Gemeinwesen sei notwendige Bedingung des ethischen.1 Das ist richtig, soweit Zivilisation und Kultivierung technisch-praktische Bedingungen von Moralisierung sind. Die Koordination der Gemeinwesen bestimmt Kant näher so: „Nur sofern ein ethisches gemeines Wesen doch auf öffentlichen Gesetzen beruhen und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als Staatsbürger widerstreite."2 Diese Konstruktion eines freien Verhältnisses beider Gemeinwesen folgt dem juridischen Begriff äußerer Freiheit, dem so als Ordnungskriterium die moralische Freiheit grundsätzlich untergeordnet wird, weil diese immer nach dem Maßstab juridischer Verträglichkeit mit der Rechtsordnung zu beurteilen ist. Dem liegt der Gedanke an die materiellen Bedingungen jedes Gemeinwesens zugrunde, den Kant in der Bestimmung des ethischen Kollektivs vernachlässigt. Zwar ist nach der Kritik der praktischen Vernunft im höchsten Gut Moralität mit Glückseligkeit verknüpft, aber deren technisch-praktische Herstellung kann nicht Gegenstand einer moralisch-praktischen Verfassung sein, ohne den Begriff der Autonomie durch Knüpfung an heteronome Bedingungen aufzulösen. Kant übersieht jedoch, daß die technisch-praktische Organisation materieller Reproduktion in ihrer Zwecksetzung ein moralisch-praktisches Moment hat. Die Zwecke sind keine Naturzwecke, sondern von Menschen an andere Menschen übertragene Zwecke, die diese sich bewußt zu eigen machen müssen. Die Triebfeder der Ökonomie war schon zu Kants Zeit längst nicht mehr die Versorgung von Menschen, sondern die Realisierung von Profiten. Der Zweck von Wucher- und Handelskapital, sich zu vergrößern, erhält seine systematische Grundlage in einer Produktionsweise, die durch Produktion von Produktivität ihre eigenen Voraussetzungen in wachsendem Maße reproduziert. Eine auf sich selbst abzweckende Ökonomie integriert die Versorgung der Produzenten nur mehr als notwendige Kost, die so gering wie möglich zu halten ist. Die Akkumulation des Kapitals, der Reichtum der Gesellschaft ist durch ökonomische Zwänge der Verfugung der Einzelnen, der vernünftigen Organisation überhaupt entzogen. Einen maßgeblichen dieser Zwänge, die
1 Vgl. Religion, VI 94. Dennoch bleiben beide in ihren Verfassungen prinzipiell unterschieden, denn der politische Verfassungsbegriff ist mit Herrschaft verknüpft, in ein ethisches Kollektiv sollen die Menschen aber als „in eine freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung" eintreten, deren Verfassung „noch am besten mit der einer Hausgenossenschaft (Familie)" (Religion, VI 102) zu vergleichen sei. Kant greift hier nicht auf die despotische familia des Römischen Rechts oder deren Erben zurück, sondern spielt auf ein Prinzip politischer Aufklärung und Emanzipation an, das in der Bestimmung bürgerlicher Verhältnisse rasch und gründlich vernachlässigt wurde: Brüderlichkeit. 2 Religion, VI 96. Den politischen Konflikt des Verhältnisses von ethischem und juridischem Gemeinwesen ignoriert Palmquist. Vgl Stephen R. Palmquist, Kant's Critical Religion, Burlington 2000, 167: „Religion and politics, then, should not be intermixed, but the laws they enforce should be compartible."
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Konkurrenz, hat Kant mit dem liberalistischen Euphemismus „ungesellige Geselligkeit"1 zutreffend beschrieben. Dem Begriff nach ist das mit den Grundsätzen eines ethischen Kollektivs als rationaler Kooperation aller Menschen unvereinbar, denn in der ,ungeselligen Geselligkeit' sind Arbeitsteilung und Kooperation nicht durch Vernunft mit dem Zweck optimaler Versorgung organisiert, sondern durch Konkurrenz um die Mittel der materiellen Reproduktion unter dem Zweck der Kapitalverwertung, so daß der Mehrwert, den Α realisiert, von Β nicht akkumuliert werden kann oder der Arbeitsplatz, den C bekommt, den D nicht ernährt. Das potenziert zwar die Gesamtleistung, wenngleich bloß gegenüber technisch obsolet gewordenen Produktionsweisen, und dies nur durch potentielle wechselseitige Vernichtung, so daß die Selbsterhaltung der Einzelnen zum bloßen Mittel einer nur formell allgemeinen gesellschaftlichen Reproduktion wird. So ist im Zuge der jüngst rasanten Angleichung des Weltmarkts an seinen ökonomischen Begriff zu beobachten, daß die Menschen sich aus nackter Angst um ihr ökonomisches oder auch physisches Überleben mit der Abschaffung alles dessen einverstanden erklären, was die Arbeiterbewegung mühevoll dem Kapital abgetrotzt hatte. Eine Rechtsordnung, die das verwaltet, ist mit einer ethischen Ordnung unvereinbar.2 Der von Kant bemerkte ,Gegensatz' beider ist ein Antagonismus: Die Objektivität jener Rechtsordnung, die bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise, ist das adäquate geschichtliche Modell für Kants böses Prinzip, das zwar eine anthropologische Grundlage haben mag, aber in der von Kant geschilderten Zwangsläufigkeit nur in der bürgerlichen Gesellschaft historische Objektivität hat. Ein Modell des ethischen Gemeinwesens dagegen gibt es nirgends. Das ist nicht deshalb so, weil die Kirchen im gesellschaftlichen Gefuge aufgegangen sind, denn aus ihnen ein Modell des Ortes der Aufklärung zu gewinnen, gelang schon Kant nur durch ihre Intelligibilisierung bis zur Unkenntlichkeit.3 Es ist auch nicht nur deshalb so, weil jedes Modell des ethischen Kollektivs als partikulares im ethischen Naturzustand verbleibt, sondern weil die moralische Willensbestimmung selbst in einer nach ihr kontradiktorischen Prinzipien organisierten Welt nicht praktikabel ist: Gerade wo sie rein gelänge, würde sie zum
1 Idee, VIII 20. 2 Vgl. die beeindruckende Arbeit von Hany van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis/Cambridge 1988, die einen der wenigen Beiträge darstellt, in denen das politische Verhältnis von ethischem und juridischem Gemeinwesen thematisiert wird (161ff.): „[SJupport for capitalism is incompatible with his own [Kants] republican idea." (197) „More affirmatively, the moral ideal of the realm of ends seems to imply the demand that our present economic institutions be transformed so that they aim directly at promoting universal happiness." (163) Diese gar nicht affirmative Einsicht führt van der Linden allerdings inkonsequent auf den Versuch, aus den Aporien des Sittengesetzes ein positives Recht auf Widerstand und Revolution zu entwickeln (187). Die Absicht, Moral oder Widerstand analog positivem Recht zu fassen, nagt, wenngleich unbeabsichtigt, an ihrem Fundament. 3 Dies wird in der Religionsphilosophie von ganz verschiedenen Autoren bis heute bemerkt: Vgl. Gionanni B. Sala, „Die Lehre von Jesus Christus in Kants Religionsschrift", in: Friedo Ricken/Fran^ois Marty (Hgg.), Kant über Religion, a.a.O., oder Hans Michael Baumgartner, „Das „Ethische gemeine Wesen" und die Kirche in Kants ,Religionsschrift'", a.a.O.
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Spott auf jene, die ihrer nur fähig wären durch Preisgabe ihrer Existenz. Partikulare Realisierungen von Freiheit in der Kunst, im selbständigen Denken oder anderen technisch-praktisch nutzlosen Tätigkeiten gewähren eine ferne, durch die Gegenwart deformierte Ahnung dessen, was Freiheit sein könnte. Ihre nach Kant nur universell mögliche Realisierung ist lediglich als Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaftskonstitution durch eine moralische zu denken.1 Das historische Subjekt, das zu dieser Aufhebung in der Lage wäre, müßte ein Modell der Konstitution der Freiheit sein. Brechts bittere Einsicht, daß jene, die „den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit [...] selber nicht freundlich sein"2 konnten, bezeichnet die mit diesem Gedanken verbundene Unwegsamkeit. Möglich ist es aber jederzeit, jenes Modell überall dort zu antizipieren, wo Menschen das Denken erlernen, das jeglichem eigen und nach dem Maß der Vernunft allen gemeinsam ist und so die Grundlage freier und selbstbewußter Kollektivität darstellt. Vernünftiges Denken, im Unterschied zur abstrakten Adaption technisch-praktischer Verstandesregeln, ist aber einzig anzuregen durch die konsequente Vorführung vernünftiger Gedanken. Freiheit im Denken endlich ist nur im Beharren auf der strikten Geltung des Vernünftigen zu haben, weil diese allein die Lernenden in die Lage setzt, das Gelernte weiterzudenken und wenn nötig auch gegen die Autorität der Lehrenden deren etwaige Inkonsequenzen mit solchen Gründen zu kritisieren, die auch die ihren sein können müssen. Der Begriff der Freiheit ist dem autonomen Denken nur in seiner Negativität faßbar, die sich in der Differenz zwischen Begriff und Wirklichkeit immerhin als Forderung erhalten läßt, die, gerade im Bewußtsein wachsender Hoffnungslosigkeit angesichts der Brutalität des Unvernünftigen, nur aus vernünftiger Einsicht ihre Renitenz begründen kann. Solche renitent sich behauptende Philosophie zeigt daher eine formale Strenge und sachliche Ernsthaftigkeit, die gegen die unbedrohte und darum oft heitere Rationalisierung des Heteronomen als unversöhnliche Härte, bisweilen als Affront erscheint; fur die Vernunft ist sie der einzige Halt im Unvernünftigen. Die Antizipation der Konstitution der Freiheit im an sich allen Einzelnen gemeinsamen richtigen Gedanken bleibt so unter allen Umständen die mindeste Bedingung, denn Autonomie ist von empirischen Charakteren, die bis in ihr intelligibles Mark sich der Heteronomie zu beugen lernten, auch mit großem Optimismus kaum zu erwarten.
1 Solche Konsequenzen erkennend stellt Hans Michael Baumgartner, „Das .Ethische gemeine Wesen' und die Kirche in Kants .Religionsschrift'", a.a.O., Kant in die „marxistisch-leninistische" Tradition und argwöhnt, daß bereits die Bestimmung von Geschichte aus Vernunftideen „verkehrt ist und nicht erst die ungenügende Realisation" (164). 2 Bertold Brecht, „An die Nachgeborenen", a.a.O., 725.
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Kants Anarchismus und die Pathologie republikanischer Freiheit „Ausser frühern Versuchen blieb es unsern Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schäze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigenthum der Menschen wenigstens in der Theorie zu vindicieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen, und sich in den Besiz zu sezen?" (Hegel)'
Kants Begriff der Heteronomie ist in sich widersprüchlich, denn als nomos, als Gesetz des Anderen steht er unter der Form der Gesetzmäßigkeit und damit unter der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins, als fremdes Gesetz des Anderen ist es mit dem empirischen Selbstbewußtsein nicht verträglich und demnach auch nicht mit der allgemeinen Form dieses Selbstbewußtseins. Der objektive Idealismus löst den Widerspruch mit dem Argument, die Erkenntnis des Widerspruchs sei schon die Einheit seiner Momente, nach der allgemeinen Form des Selbstbewußtseins auf. „Die a b s t r a c te N o t h w e n d i g k e i t gilt also für die nur negative, unbegriffene M a c h t der Allg e m e i n h e i t , an welcher die Individualität zerschmettert wird. Bis hieher geht die Erscheinung dieser Gestalt des Selbstbewußtseyns; das letzte Moment ihrer Existenz ist der Gedanke ihres Verlusts in der Nothwendigkeit, oder der Gedanke ihrer selbst als eines sich absolut f r e m d e n Wesens."2 Die Paradoxie, daß das Selbstbewußtsein den Subjekten dieses Selbstbewußtseins als absolut fremd, prinzipiell heteronom erscheint, findet in der Kantschen Kritik der praktischen Vernunft ihre Erklärung. „Die A u t o n o m i e des Willens ist das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten: alle H e t e r o n o m i e der Willkür [die auf ein empirisches Objekt sich richtet, P.B.] gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Princip derselben und der Sittlichkeit des [vernünftig bestimmten, P.B.] Willens entgegen. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Princip der Sittlichkeit. Jene U n a b h ä n g i g k e i t aber ist Freiheit im n e g a t i v e n , diese e i g e n e G e s e t z g e b u n g aber der reinen und als solche praktischen Vernunft ist Freiheit im p o s i t i v e n Verstände. Also drückt das moralische Gesetz 1 Georg Hamburg 2 Georg Hamburg
Wilhelm Friedrich Hegel, Studien, Text 34, Jedes Volk..., Gesammelte Werke, Bd. 1, 1989, 372. Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 9, 1980, 201.
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nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die formale Bedingung aller Maximen, unter der sie allein mit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstimmen können. Wenn daher die Materie des Wollens, welche nichts anderes als das Object einer Begierde sein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das praktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus die Heteronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Form in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem Princip einer reinen praktischen Vernunft, hiemit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig sein sollte."1 Die scheinbar beiläufige Konzession, daß es Handlungen gebe, die dem moralischen Gesetz entsprechen, ohne daß der Wille, der in ihnen sich manifestiert, selbst durch das moralische Gesetz bestimmt sei, ist notwendig, denn ohne solche Konzession bliebe der Wille ohne jedes andere Objekt, wäre er nur Wille, der allein sich selbst will, und so bliebe einzig die Freiheit im negativen Verstände. Bei Kant wird die Beziehung der Autonomie auf das, was nicht sie selbst ist, doppelt bestimmt, sie ist Beziehung auf die Heteronomie als das andere der Autonomie und auf ein anderes als die Autonomie. Die Beziehung der Autonomie auf das andere ihrer selbst begründet die Notwendigkeit der Entäußerung des Willens, ihre Beziehung auf ein anderes als die Autonomie bestimmt diese Beziehung als selbst der Autonomie heteronom. Die Wirklichkeit der Beziehung des Sittengesetzes auf anderes erscheint darum doppelt, als eine Handlung aus Pflicht und als pflichtgemäßes Handeln. Der Sache nach können Handlungen aus Pflicht, d.h. aus der vernünftigen Bestimmung des Willens, und Handlungen, die durch heteronomen Zwang, durch Androhung von Gewalt bestimmt sind, derselben Maxime genügen. So sind bei Kant Anarchie, „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt", und Republik, „Gewalt mit Freiheit und Gesetz"2, nicht nach den Bestimmungen Freiheit und Gesetz unterschieden, sondern nur dadurch, daß Freiheit und Gesetz entweder per se übereinstimmen oder aber ihre Übereinstimmung durch die Androhung von Gewalt erzwungen ist. Gewalt ist immer physisch, empirisch, die Androhung von Gewalt ist theoretisch nicht beschränkt, sie ist aber wirksam nur, wenn sie als Gewalt wirksam zu werden vermag; so ist sie notwendig partikular, die Herrschaft von wenigen über viele. Kant bestimmt die Macht der Herrschaft als „Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism)"3. Damit wird despotischer Herrschaft unterstellt, sie sei nicht partikular, sondern dem Gesetz konform, wie in der Republik die Gewalt als dem Gesetz konform behauptet wird. Ist erstens die des-
1 KpV, V 33. 2 Anthropologie, VII 330f. 3 Anthropologie, VII 330f.
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potische Herrschaft dem Gesetz konform und zweitens die Gewalt eine notwendige Bestimmung der dem Gesetz konformen republikanischen Freiheit, dann zerreißen diese Bestimmungen die logische Konsistenz des Begriffs des Gesetzes, das sein Urbild im Sittengesetz hat, und bestimmen es als eine den Subjekten fremde Macht. „Sämtliche Begriffe, welche in der Kritik der praktischen Vernunft, zu Ehren von Freiheit, die Kluft zwischen dem Imperativ und den Menschen ausfüllen sollen, sind repressiv: Gesetz, Nötigung, Achtung, Pflicht. Kausalität aus Freiheit korrumpiert diese in Gehorsam."1 Der Grund solcher Verkehrung der Freiheit liegt in den Prinzipien des bürgerlichen Rechts, in dem Kant zufolge das Sittengesetz sich manifestieren soll. Das Prinzip, das dem Sittengesetz entspräche, wäre die freie Übereinstimmung freier Willen. Dies Prinzip wird von Kant nicht ohne Grund zu dem des Vertrages modifiziert. „Der Act der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des Einen auf den Anderen übergeht, ist der Vertrag." 2 Solche Verträge haben das Ihrige der Personen, deren Eigentum, zur Voraussetzung, so daß dies Eigentum zum vorrangigen Prinzip des bürgerlichen Rechts wird. Das Eigentum, das bei Kant intelligibler Besitz heißt, hat seinen Grund in der occupatio, die alle Anderen einseitig verbindet, sich des Gebrauchs des Okkupierten ohne Zustimmung des Okkupanten zu enthalten.3 Diese Okkupation ist ein Gewaltakt. „Es ist die Frage: wie weit erstreckt sich die Befugniß der Besitznehmung des Bodens? So weit, als das Vermögen, ihn in seiner Gewalt zu haben, d.i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn [als seinen Besitz, P.B.] vertheidigen kann."4 Solch eine Okkupation bleibt provisorisch, weil sie von fremder Gewalt jederzeit angefochten werden kann, und wird erst peremptorisch „in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffentlich-gesetzgebenden Gewalt, d.i. im bürgerlichen Zustande."5 In diesem kann das Okkupierte, das Eigentum, nicht mehr mit privater Gewalt sondern allein mit der allgemeinen öffentlich-gesetzgebenden angefochten werden. Es bedarf dann der monopolisierten öffentlich-rechtlichen Gewalt, um ein Recht, das „mit der Befugniß zu zwingen verbunden" 6 ist, durchzusetzen. Dadurch, daß er die Okkupation des Bodens zum Grund des Eigentums erklärt, läßt Kant keinen Zweifel daran, daß dieser Begriff des Eigentums in nuce der Begriff des Eigentums an Produktionsmitteln ist. „Ferner: ist die Bearbeitung des Bodens (Bebauung, Beackerung, Entwässerung u. dergl.) zur Erwerbung desselben nothwendig? Nein! denn da diese Formen (der Specificirung) nur Accidenzen sind, so machen sie kein Object eines unmittelbaren Besitzes aus und können zu dem des Subjects nur gehören, so fern die Substanz vorher als das Seine desselben anerkannt ist. Die Bearbeitung ist [...] nichts weiter als ein äußeres Zeichen der
1 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt am Main 1973, 231. 2 MdS, VI 271. 3 Vgl. MdS, VI 263. 4 MdS, VI 265. 5 MdS, VI 255. 6 MdS, VI 231.
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Besitznehmung, welches man durch viele andere, die weniger Mühe kosten, ersetzen kann."1 Marx hat notiert, daß „aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschaftsund Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben."2 Die Gewalt, die die Begründung des Eigentums an Produktionsmitteln bewirkt, bleibt als im Staat monopolisierte erhalten, wenn das Resultat der Okkupierung und der daraus folgenden Appropriation in die Rechtsform überführt wird. Diese Rechtsform ist als die des politischen Gemeinwesens, das ebenso wie die Rechtsform auf Gewalt gegründet ist, mit der vernünftigen Übereinstimmung aller freien Willen, dem Prinzip des Sittengesetzes, nicht zu vereinbaren. Dessen in sich verkehrte Realität im Begriff des politischen Gemeinwesens schließt als Erkenntnis dieser Verkehrung die Differenz des politischen Gemeinwesens zu dessen reinem Begriff, dem des ethischen Gemeinwesens, ein. „Ein r e c h t l i c h b ü r g e r l i c h e r (politischer) Z u s t a n d ist das Verhältniß der Menschen untereinander, so fern sie gemeinschaftlich unter ö f f e n t l i c h e n R e c h t s g e s e t z e n (die insgesammt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein e t h i s c h - b ü r g e r l i c h e r Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d.i. bloßen T u g e n d g e s e t z e n vereinigt sind."3 „In einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen befinden sich alle politische Bürger als solche doch im e t h i s c h e n N a t u r z u s t a n d e und sind berechtigt, auch darin zu bleiben; denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch {in adjecto), weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt." 4 Nach seinem eigenen Prinzip vermag das politische Gemeinwesen nicht in den ethischen Zustand überzugehen, wofür der Genösse Sachzwang in Gestalt seiner Figuren Schröder, Clement, Schmidt und Müntefering das historische Beispiel liefert. Dem anthropologischen Argument, der menschliche Hang zum Bösen nötige dazu, einer wie auch immer ermäßigten Realisierung des Sittengesetzes zuzustimmen, weil die einzige Alternative zum politischen Gemeinwesen die Barbarei, „Gewalt ohne Freiheit und Gesetz"5, sei, begegnet Kant mit einer subtilen Analyse des Bösen, denn dies sei keine Abwesenheit von Maximen der Handlung, sondern die Verkehrung ihrer Rangfolge. Das moralische Gesetz, die Bestimmung ihrer Willen, dränge sich den Menschen ebenso als Maxime ihres Handelns auf wie die Selbstliebe. „Wenn er diese aber, als f ü r sich allein h i n r e i c h e n d zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich ans moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren, so würde er moralisch böse sein. Da er nun natürlicherweise beide [das moralische Gesetz und die Selbstliebe, P.B.] in dieselbe [die 1 2 3 4 5
MdS, VI 265. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, Religion, VI 95. Religion, VI 95. Anthropologie, VII 331.
in: Marx-Engels-Werke 19, Berlin 1987, 15.
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Maxime, P.B.] aufnimmt, da er auch jede für sich, wenn sie allein wäre, zur Willensbestimmung hinreichend finden würde: so würde er, wenn der Unterschied der Maximen blos auf dem Unterschied der Triebfedern (der Materie der Maximen), nämlich ob das Gesetz, oder der Sinnenantrieb eine solche abgeben, ankäme, moralisch gut oder böse zugleich sein; welches sich [...] widerspricht. Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der U n t e r o r d n u n g (der Form derselben) liegen: w e l c h e von b e i d e n er zur B e d i n g u n g der a n d e r e n macht." 1 Der Vorrang der Allgemeinheit des Sittengesetzes vor der Einzelnheit der Selbstliebe scheint die Rigidität des Sittengesetzes zu begründen, doch Kant ist überzeugt, daß bei vernünftiger Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Zwang von selbst entfiele. „Eine Verfassung von der g r ö ß t e n m e n s c h l i c h e n Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß j e d e s F r e i h e i t mit der a n d e r n ihrer z u s a m m e n b e s t e h e n k a n n , (nicht von der größten Glückseligkeit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine nothwendige Idee, die man [...] auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß, [...], die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der ächten Ideen bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existiren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden."2 Die Rigidität der Moral wird so zum Indikator realer Unfreiheit und der Unvernunft gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese Unvernunft schlägt zurück auf die ecclesia, die Gemeinde vernünftiger Sinnenwesen. Wo die Perspektive der „allmähligen Gründung der Herrschaft des guten Principe auf Erden"3 verschlossen ist, regrediert das vernünftige Bewußtsein auf das Bewußtsein des besseren Bewußtseins, das an keinen bestimmten Inhalt mehr gebunden ist, und das sich in statutarischen Gesetzen manifestiert. Wenn diese, „die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung als Frohndienst, nicht aber die freie Huldigung auferleg[en], die dem moralischen Gesetze zu oberst geleistet werden soll: so mögen der auferlegten Observanzen noch so wenig sein; genug, wenn sie [z.B. als Fraktionsdisziplin, P.B.] für unbedingt nothwendig erklärt werden, so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch den Gehorsam unter eine Kirche [...] ihrer moralischen Freiheit beraubt wird. Die Verfassung derselben (Hierarchie) mag monarchisch oder aristokratisch oder demokratisch sein: das betrifft nur die Organisation; die Constitution derselben ist und bleibt doch unter allen diesen Formen immer despotisch."4 Der Opposition gegen Unvernunft werden deren Regeln aufgezwungen, will sie denn gegen diese Unvernunft bestehen. So widersinnig es ist, ausgerechnet die 1
Religion,V136. KrV, Β 373. 3 Religion, VI 124. 4 Religion, VI 180. 2
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Kritik der politischen Ökonomie, deren theoretische Befunde sich täglich bestätigen, zur Ersatzreligion zu erklären, so problematisch ist es, sie zu einem Prospekt eines Vereins freier Menschen, der von Kants ,Reich Gottes auf Erden' nicht zu unterscheiden ist, umzudichten, wenngleich letzteres in der Perspektive der Kantschen Kritik angesiedelt war. „Eben deswegen ist die Metaphysik auch die Vollendung aller C u l t u r
der
menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluß als Wissenschaft auf gewisse bestimmte Zwecke beiseite setzt. Denn sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der M ö g l i c h k e i t einiger Wissenschaften, und dem Gebrauche aller, zum Grunde liegen müssen. Daß sie, als bloße Speculation mehr dazu dient, Irrthümer abzuhalten, als Erkenntniß zu erweitern, thut ihrem Werthe keinen Abbruch, sondern giebt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Censoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen muthige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen." 1 Daß der Ausblick auf das ethische Gemeinwesen, der in der Perspektive des Übergangs von der Utopie zur Wissenschaft gelegen hat, heute verhängt ist, zeigt nur, wie weit die Menschheit inzwischen von ihrem Kantschen Begriff sich entfernt hat. Gegen alle historische Erfahrung an diesem Begriff festzuhalten bestimmt das Denken, „das solidarisch [ist] mit Metaphysik im Augenblicke ihres Sturzes".
1 KrV, Β 878f.
Politische Folgerungen und geschichtsphilosophische Aspekte
MAXI BERGER
Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart
„Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chok, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, w o er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit." 1
Die Sinnenwesen, die die Zeit durchleben, müssen die Erfahrung machen, daß die Natur, die ihnen als Mittel der Reproduktion dient, und die Menschen, mit denen sie um den Reproduktionsfonds konkurrieren, zur unmittelbaren Bedrohung für ihre Existenz werden können. Dieser Erfahrung der Endlichkeit des Lebens steht eine Bewegung des Gedankens gegenüber, die unerbittlich gegen das Leid der Sinnenwesen, die sie denken, ins Unendliche fortgeht. Das ist nach den Bestimmungen Kants darin angelegt, daß nur Gegenstand der Erfahrung werden kann, was bereits den Formen des Denkens und der Anschauung unterworfen ist, so daß die Gegenwart dem Denken immer schon ein sinnlicher Eindruck ist und die Vergangenheit als eine durch die produktive Einbildungskraft und den Verstand strukturierte erscheint. Der Ästhetisierung der Gewalt durch die Vorstellung denkend Einhalt zu gebieten, ist moralisch notwendig, aber freilich auch eine Aufgabe, die der Vernunft das Opfer ihres Absolutheitsanspruchs abverlangt. Tatsächlich manifestiert sich die in die Geschichte eingegangene Gewalt negativ gegen den Absolutheitsanspruch der Vernunft als Fragmentierung der Bewegung des Gedankens, und die Erfahrung dieses Bruchs provoziert einen Schock, der an die Bedrohung der historischen Subjekte mahnt. Indem es in der Religionsschrift Kants um die religiöse Gestalt der Realisierung des moralischen Zwecks zu tun ist, ist ihr ein Antagonismus immanent, der diesen Schock revoziert: Sie eröffnet einerseits die progressive Tendenz
1 Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen", in: Illuminationen,
1961,278.
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einer noch zu erfüllenden moralischen Forderung, die andererseits ihr Modell an den historischen Religionen und deren weltlichen Institutionen hat, die von Kant überall dort kritisch angegangen werden, wo sie entweder als schwärmerische, mythologische Gestalten oder als statutarisch gebietende der aufgeklärten Moral entgegenstehen. Diese Kritik an den historischen Gestalten der Sittlichkeit ist regressiv gewandt, so daß sie schief gegen die progressive Tendenz der moralischen Forderung steht. Dieser „philosophische Chiliasm"1 schockiert deshalb, weil er sich in der Konstellation von Moral und bürgerlicher Gegenwart als historisch adäquate philosophische Darstellung des Problems des Reichs Gottes auf Erden erweist.
I
Die Idee des Reichs Gottes
In der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant den Gegenstand des moralischen Willens mit dem Begriff des höchsten Guts, des Reichs Gottes2, bestimmt. Zunächst ist der autonom bestimmte Wille nur unabhängig von jeder materialen Affizierung zu denken als die Form der Gesetzgebung einer Handlung: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."3 Wenn die moralische Bestimmung des Willens frei sein soll, dann kann sie nur auf die Beziehung der praktischen Vernunft zum Begehrungsvermögen unabhängig von jeder Maxime gehen, weil die bereits einen heteronomen Zweck intendierte. Der moralische Wille ist sich also nur selbst Gegenstand seines Wollens und Wirkens und darin gleichgültig gegen die Bestimmung durch das untere Begehrungsvermögen. Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ist deshalb ein Faktum der Autonomie, das durch nichts anderes zu begründen ist. Es ist aber für sich nicht nur leer, sondern soll der Maßstab der Beurteilung von Handlungen solcher Wesen sein, die sich unter der Bedingung der Naturkausalität reproduzieren müssen, um überhaupt Träger der praktischen Vernunft sein zu können.4 Während also Bestimmungsgrund und Form des moralischen Willens im Sittengesetz zusammenfallen, kann das Ziel, die Realisierung des Sittengesetzes, nicht bloß formal sein, sondern ist auch auf die Verwirklichung der Glückseligkeit der Sinnenwesen mit den Mitteln der Natur verwiesen. Die Bestimmung des Willens ist so notwendig ambivalent, denn der pathologisch affizierte Wille muß im Gegensatz zum reinen Willen die Glückseligkeit wollen und ist damit auf die Auseinandersetzung mit der ihm heterogenen Natur unmittelbar verwiesen. Ihren Bestimmungsgründen nach ist die Sittlichkeit der Glückseligkeit äußerlich. Das kann aber nicht die ganze Wahrheit sein, denn die Freiheit als bloß formgebendes Vermögen schafft sich ihr Material nicht selbst. Umgekehrt setzt auch die Realisierung praktischer Zwecke ein Moment der Frei1 2 3 4
Religion, VI 34. Vgl. KpV, V 128. KpV,W 30. Vgl KpV, V 11 Of.
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heit gegenüber dem Naturzusammenhang voraus und ist deshalb als Willensbestimmung prinzipiell von Instinkthandlungen unterschieden. Beides sind Indizien dafür, daß Sittlichkeit und Glückseligkeit wenn auch nicht dasselbe, so doch ebensowenig gänzlich unvereinbar sind. Die Sittlichkeit ist auf die materialen Bedingungen ihrer Realisierung zunächst logisch verwiesen. So ist die Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit im höchsten Gut eine Idee, die den technisch-praktischen Zwecken der Glückseligkeit transzendent ist. Die Bedingung der Möglichkeit der Umsetzung dieser Idee ist, daß beide Relata trotz ihrer Heterogenität als Grund und Folge notwendig α priori synthetisierbar sind: Nur wenn die Freiheit als wirkende Ursache das höchste Gut als Idee widerspruchsfrei vor aller Erfahrung hervorbringen kann, ist die Möglichkeit bewiesen, daß sie aus sich selbst auch α posteriori praktisch werden kann. Nun ist die Natur durch die lückenlose Verknüpfung der Erscheinungen nach den Kategorien der Kausalität und Wechselwirkung konstituiert, so daß es als ausgeschlossen erscheint, daß der Wille als Naturursache aus Freiheit in der Welt der Erscheinungen wirken könnte. Obgleich also die Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität der Natur der Form nach kongruiert - beide gelten notwendig allgemein - müssen ihre Bestimmungsgründe auch logisch als gegeneinander selbständige gedacht werden. Der Natur kann dieselbe Ursache nicht in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen. Die Selbständigkeit der Natur als Bestimmungsgrund des unteren Begehrungsvermögens schlägt sich begrifflich darin nieder, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Natur als irreflexive Synthesis in der Zeit zu denken ist, während die Kausalität aus Freiheit zwar auf die Synthesis in der Zeit als ihre notwendige Bedingung angewiesen ist, sich aber wesentlich selbst der Zweck ihres Wollens und Wirkens ist. Über die Bedingungen ihrer Realisierung vermittelt ist die Kausalität aus Freiheit deshalb reflexiv. Soll die Freiheit trotz der Spannung, in der die Reflexivität der Vernunft zur Irreflexivität der Naturkausalität steht, praktisch werden können, sind nach Kant zwei Postulate erfordert. Zum einen bedarf es der Garantie der Affinität der Naturkausalität für die Zwecke der Vernunft. Die sei dann gegeben, wenn die Natur als durch ein Wesen gestiftet gedacht werde, das eine der Moral adäquate Gesinnung hat. Die eine Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts erfordert daher das Postulat der Existenz Gottes als Urheber der Natur.1 Auf der Seite des moralischen Subjekts sei darüber hinaus das Postulat der Unsterblichkeit der Seele gefordert. Weil die Gesinnung des endlichen Subjekts nicht ausschließlich moralisch ist, kann sie der geforderten Heiligkeit des Willens nur in einem unendlichen Prozeß der Annäherung der irreflexiven Kausalität des Verstandes an die reflexive Kausalität der Freiheit adäquat werden. Die Endlichkeit des Subjekts, die der unendlichen Annäherung Abbruch tut, wird daher in die Vorstellung einer unendlichen Seele transponiert. Damit werden - paradox - die Affinität der Naturkausalität wie die Gesinnung der vernünftigen Sinnenwesen für die Zwecke der Freiheit zum Gegenstand der Ver1 Vgl. KpV, V 124f.
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nunftspekulation, welcher die objektiven Bestimmungsgründe, das endliche Subjekt und die Natur, jenseitig bleiben. Für die Sinnenwesen ist die Seligkeit in der ihnen verbleibenden beschränkten Lebenszeit nicht erreichbar, so daß für sie von der Idee des Reichs Gottes nach Auskunft Kants nur die Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Glückseligkeit bleibt.1 Diese Hoffnung geht über die historischen Verhältnisse hinweg, ohne sie überhaupt zur Kenntnis genommen zu haben und damit ins Leere. Die Kantische Konstruktion der Idee des Reichs Gottes ist insofern das Modell für die Benjaminsche Bewegung des Gedankens, die gegen das Leid der Zeitgenossen gleichgültig ist. Die konsistente theoretische Begründung des positiven Begriffs der Freiheit gelingt Kant nur in der gegen die Bedingungen der Geschichte sich verschließenden Spekulation, der aber umgekehrt das Geschichtliche in der Faktizität der Spontaneität, aus der sie entspringt und die sich der systematischen Determination entzieht, ebenso unwiderruflich auch anhaftet. Innerhalb der Theorie, die selbst spekulativ ist, kann sich die Geschichtlichkeit der Vernunft nur als Widerspruch in den Vernunftprinzipien selbst geltend machen, der dort eklatant wird, wo die Verwiesenheit der Moralität auf die heteronomen Bedingungen implizit oder explizit thematisch wird. Mit dem Bösen bestimmt Kant in der Religionsschrift den Begriff dessen, was dem Endzweck der Vernunft, der Realisierung des höchsten Guts in der Welt, entgegensteht. Dabei versucht er, von der empirischen Erfahrung des Bösen auf dessen a priorischen Grund zu schließen. Im Scheitern der konsistenten Begründung des Inkonsistenten scheint der Widerspruch von Geschichtlichkeit und Apriorität der Vernunft in der Religionsschrift unfreiwillig durch. Die Gesetze der Natur sind gegen die moralische Pflicht gleichgültig, während umgekehrt die Sittlichkeit auf die Naturgesetze als deren notwendige Bedingung verwiesen ist - so die Bestimmungen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft. In diesem Hiatus ist die Möglichkeit angelegt, Maximen dem moralischen Gesetz zuwider zu bestimmen. Im Menschen gibt es keine Bestimmungsgründe außer der Glückseligkeit und der Moral; diese ist an sich gut, das Bedürfnis nach Glückseligkeit ist unverschuldet, so daß beide nicht der Grund des Bösen sein können. Dennoch zeige die Erfahrung, daß es im Menschen einen Hang zum Bösen gebe. Unter einem Hange sei der subjektive Grund der Möglichkeit einer Neigung zu verstehen, sofern er für die Menschheit überhaupt zufallig ist. Er könne daher zwar angeboren sein, dürfe aber nicht als solcher vorgestellt werden, sondern nur als das Resultat der Sozialisation eines Subjektes.2 Demnach wäre das Böse nur eine zufällige, α posteriori belegbare Abweichung vom Zwecke der Vernunft. Dennoch ist Kant versucht, ihm ein Prinzip α priori anzuschaffen. 3 Das Böse liege in der „Verkehrtheit des menschlichen Herzens",
1 Vgl. KpV, V 127ff. 2 Vgl. Religion, VI 28f. 3 Vgl. Religion, VI 35.
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weil darin „die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür"1 umgekehrt, also die Bedingung der Unbedingtheit zum Bedingten gemacht werde. Anstatt die formale Begründung dieser Verkehrung, deren prinzipieller Charakter nur durch die Angabe eines transzendentalen Prinzips fundiert wäre, weiter zu verfolgen, bezeichnet Kant den Hang zum Bösen aber im folgenden unvermittelt als angeboren. Damit macht er ihn gegen seine eigene Bestimmung doch zu einem natürlichen und gleichzeitig selbstverschuldeten Prinzip der menschlichen Existenz. Der Grund des Kantischen Bedürfnisses, dem Bösen gegen diesen Widerspruch ein Prinzip zu unterstellen, scheint in der Anekdote von Robert Walpole durch, dem Mitglied des englischen Parlaments, der behauptet hatte, daß jeder Mensch für eine bestimmte Summe käuflich sei. „Wenn dieses wahr ist [...], wenn es überall keine Tugend giebt, für die nicht ein Grad der Versuchung gefunden werden kann, der vermögend ist, sie zu stürzen, wenn, ob der böse oder gute Geist uns fur seine Partei gewinne, es nur darauf ankommt, wer das Meiste bietet und die prompteste Zahlung leistet: so möchte wohl vom Mensch allgemein wahr sein, was der Apostel sagt: ,Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder, - es ist Keiner, der Gutes thue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer'." 3 Kants Ekel vor dem Zeitgeist und der Unglaube, daß die moralische Korruption bereits allgemein um sich gegriffen habe, sind zwar intuitiv, entsprechen aber der Diskrepanz des Moralbegriffs zu den Verhältnissen der Gegenwart. Gegenüber der emphatischen Vorstellung einer sich progressiv verbessernden Lebenssituation der Menschen im höchsten Gut stellen diese Verhältnisse sich ideologisch verkehrt dar.4
1 Vgl. Religion, VI 30. 2 Vgl. Religion, VI 50. 3 Religion,Wim. 4 In der Religionsschrift reflektiert Kant nicht auf die historische Stellung der Religion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Die Inkompatibilität von Rechts- und Moralphilosophie wird von ihm nur systematisch bestimmt mit dem Argument, daß das Sittengesetz von den Zwecken des technisch-praktisch intendierten Willens unabhängig gedacht werden muß. Kant erschien die Kirche deshalb als der Ort innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, wo Moral wirklich werden kann. Darin schlägt sich der Zeitgeist der Aufklärung ebenso nieder, wie die politischen Auseinandersetzungen um die Stellung der Religion zum Staat, vor deren historischen Kontext Kant die Religionsschrift verfaßt hatte und deren Opfer er anläßlich der Religionsschrift selbst wurde (Vgl. auch Bettina Stangneth, „Einleitung zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", in: Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg 2003). Kant schreibt im Bewußtsein des gesellschaftlichen Wandels vom Absolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft, nicht im Bewußtsein der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft. Wenn also in diesem Aufsatz darüber hinaus die historische Dimension der Religionsschrift aufgezeigt werden soll, aus der die Unvereinbarkeit von Moral und bürgerlicher Gesellschaft folgt, dann sprengt das den Horizont Kants. Dennoch ist diese Art der Kritik möglich, weil Kants mangelnde Reflexion ihn nicht vor den Brüchen innerhalb seiner Argumentation bewahrt, in denen sich die Antagonismen der gesellschaftlichen Moderne bereits ankündigen. Das liegt daran, daß Kant mit den Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft bereits
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Zur Konstruktion bürgerlicher Gegenwart „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt. Der Historismus stellt das ,ewige' Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es andern, bei der Hure ,Es war einmal' im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen."'
Am Ende des ersten Bandes des Kapitals, im Abschnitt Zur geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation, wagt Marx eine Prognose, die angesichts der Verhältnisse hilflos erscheint. Er postuliert das mit der „Notwendigkeit eines Naturprozesses"2 sich erzeugende Ende der bürgerlichen Gesellschaft, was offensichtlich im Widerspruch zum Freiheitsbegriff Kants steht. Der hatte die Fähigkeit der praktischen Vernunft, aus sich selbst heraus praktisch werden zu können, als Bedingung der Möglichkeit des Reichs Gottes auf Erden bestimmt. Die moralische Resignation vor den Verhältnissen, die Marx am Ende des ersten Bandes unterläuft und in der sich der Unglaube Kants aus der Religionsschrift wiederfindet, ist der Reflex auf die geschichtsdeterministische Erscheinung dieser Verhältnisse, deren ideologischen Charakter und realen Grund Marx zuvor gegen die Resignation im Kapital erklärt hatte. Der gesellschaftliche Zusammenhang der unter dem Kapital gegeneinander konkurrierenden Subjekte wird in der kapitalistischen Gesellschaft nicht autonom bestimmt, sondern durch den Zweck und die Gesetze kapitalistischer Akkumulation. Deren unabdingbare Voraussetzung ist die Etablierung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die gewährleisten, daß die Individuen in der gesamtgesellschaftlich arbeitsteilig organisierten Produktion nur über die Befolgung der Gesetze des Marktes der Mittel ihrer Reproduktion habhaft werden können. Darin sind alle Bürger gleich. Was so als Grundsatz der Freiheit und Gleichheit in die juristische Verfassung bürgerlicher Gesellschaften eingeht, ist zugleich die Bedingung materieller Ungleichheit. Während die Produktionsmitteleigner durch den Verkauf ihrer Waren das Geld für den Ersatz ihrer Lebens- und Produktionsmittel in den Händen halten, müssen diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen, ihre Arbeitskraft zu Markte tragen. Die Arbeitskraft ist eine besondere Ware, deren Gebrauchswert darin besteht, einen Überschuß herzustellen, dessen Maß der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Wertausdruck der Lebensmittel ist. Mit dem Verkauf der Arbeitsleistung muß der Arbeiter auf den Eigentumstitel am Produkt seiner Arbeit verzichten, so daß der Produktionsmitteleigner am Ende nicht nur die Mittel zur Reproduktion in den Händen hält, sondern darüber hinaus auch konfrontiert ist, auch wenn diese nicht im gesellschaftlichen Maßstab realisiert und daher systematisch faßbar sind. Vgl. auch Religion, VI 123f. 1 Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen", a.a.O., 277. 2 Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, in: MEW 23, Berlin 1993,791.
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Eigentümer des vom Arbeiter produzierten Mehrwerts ist. Letzterem steht juristisch nur das zum Leben notwendige Äquivalent seiner Arbeitskraft zu, dessen Konsumtion ihn erneut auf den Arbeitsmarkt treibt. Was sich auf der Seite des Arbeiters als Zwang zur individuellen Reproduktion darstellt, entspricht auf der Seite des Kapitalisten dem Zwang zur Akkumulation, dem er sich nicht entziehen kann, wenn er in der Konkurrenz bestehen will. Während der Arbeiter im Rahmen jedes neuen Arbeitsvertrags die ihn beherrschende Macht, das Kapital, produziert, erhalten die Eigentumsgesetze ihn umgekehrt als Lohnarbeiter. Sobald also die ökonomischen Gesetzte einmal etabliert sind, schaffen sie sich nicht mehr selber ab, sondern werden im Gegenteil zu einem automatischen Subjekt, das nicht nur stets von neuem seine eigenen Bedingungen hervorbringt, sondern diese umgekehrt auch voraussetzt: Während Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird, setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, diese aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Einzelkapitalisten voraus. Bedingung und Bedingtes verhalten sich scheinbar zirkulär zueinander. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit dieses Zirkels ist die Frage nach der sogenannten ursprünglichen Akkumulation: Der Ursprung bürgerlicher Gesellschaft liegt in der Geschichte der Etablierung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, in der die Arbeiter vom Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen ihrer Arbeit, den Produktionsmitteln, gewaltsam getrennt worden sind. Mit dem Zwang zur Akkumulation geht auch der Zwang zur Produktivkraftsteigerung einher, der sich für den Einzelkapitalisten als Konkurrenzvorteil darstellt, gesamtgesellschaftlich aber die Arbeitskraft entwertet und damit die durchschnittliche Mehrwertrate erhöht. Die progressive Entwicklung von Kooperation, Arbeitsteilung und großer Industrie ist daher nicht zufällig ein Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft, sondern entspringt aus dem Sachzwang, die gesamtgesellschaftliche Akkumulation möglichst effektiv zu gestalten.1 Dieser Zwang macht auch vor den Wissenschaften nicht halt, aus denen die technischen Innovationen, welche eine Produktivkraftsteigerung ermöglichen, überhaupt erst hervorgehen. Die wissenschaftlichen Resultate fugen sich dem Zwang zur Verwertung nicht bruchlos, denn als notwendig allgemeine, unabhängig von den Bedingungen in Raum und Zeit geltende Erkenntnisse lassen sie sich weder dem gesellschaftlichen Wertmaß, der Durchschnittsarbeitszeit, noch dem Privateigentum umstandslos subsumieren. Der zeitlich effiziente, kostengünstige Betrieb der Wissenschaften gelingt daher nur durch ihre umfangreiche staatliche Zurichtung auf den Wissenschaftsbetrieb. So ist das Bestreben der Bundesländer und Universitäten zu erklären, vom Studium bis zu den wissenschaftlichen Resultaten möglichst alles als Dienstleistung zu verkaufen. Den an sich vernünftigen Individuen steht mit dem kapitalistischen Markt ein gesellschaftlicher Zusammenhang gegenüber, der sich dem Zugriff ihres subjektiven Willens 1 Vgl. Karl Marx, Das Kapital Bd. 1, a.a.O., 652f.
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entzieht. Arbeitsteilung bedingt unter der Voraussetzung des Privateigentums, daß die Subjekte ausschließlich über den Kauf und Verkauf von Waren in den Besitz der zur Reproduktion nötigen Mittel gelangen können. In der Analyse der sogenannten ursprünglichen Akkumulation erweist sich die bürgerliche Gesellschaft als das Produkt individuell zweckgerichteter Tätigkeit, deren Zweck damit weder vernünftig, noch auf das gesamtgesellschaftliche Ziel der Konstituierung der Arbeiterklasse ausgerichtet war. Dennoch wird mit der Inkarnation des einmal gewaltsam installierten kapitalistischen Gesamtzusammenhanges in den Waren das gesellschaftliche Verhältnis praktisch determinierend. Die lebenswichtigen Handlungen der Menschen werden über die in den Waren vergegenständlichten Wertgesetze bestimmt; das Wissen, daß die Vergegenständlichung des Werts das Resultat gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit ist, tut dem praktischen Zwang keinen Abbruch. Die Verdinglichung des gesellschaftlichen Zusammenhangs läßt diesen zudem in verkehrter Weise erscheinen, nicht als historisch geworden, sondern als die einzige Möglichkeit, den scheinbar angeborenen Hang der Menschen zur Konkurrenz durch das staatlich garantierte Vertragsverhältnis zu mäßigen. Die Erkenntnis, daß die allseitige Konkurrenz, also das, was Hobbes als Naturzustand bezeichnete, mit dem bürgerlichen Staat überhaupt erst gesamtgesellschaftlich etabliert wird, erschließt sich nur rekursiv aus der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit kapitalistischer Produktion. Die Realisierung der Moral innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Überwindung der gesellschaftlichen Entfremdung der Subjekte voraussetzte, wird so real verhindert und theoretisch erschwert. Sittlichkeit ist dem Bürger im besten Falle noch subjektiver, aber nicht mehr objektiver Zweck, so daß die Freiheit als Selbstzweck gegenwärtig keinen Ort mehr hat. Die Resistance ist damit in das Exil des Intellekts verbannt. Sie kann sich nur jenseits des praktischen Zwangs theoretisch schadlos halten; die ständige Reflexion auf die systematischen und historischen Bedingungen der Moral ist die Voraussetzung dafür, wenigstens denkend der moralischen Korruption, die Kant bereits erahnte, zu entkommen. Und doch bleibt diese Reflexion nicht frei von Schuld oder Resignation, ist sie doch ebenso sehr auf die historischen Bedingungen angewiesen, denen sie denkend zu entkommen sucht. Moralität verlangt nach ihrer Realisierung, so daß der Rückzug auf die Theorie auch unmoralisch ist. Darin, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Verkehrung der sittlichen Ordnung zur praktischen Notwendigkeit geworden ist, der sich gesamtgesellschaftlich niemand entziehen kann, und die gegen den ideologischen Schein nicht das Resultat teleologischer Determination, sondern geschichtlicher Willkür ist, ist die Gegenwart das adäquate Modell des Begriffs des Bösen bei Kant.
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Zwischen Religionskritik und aufgeklärter Gesellschaft „Die Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum."1
Freiheit ist zunächst eine Idee und damit der Gegenstand einer subjektiven, intellektuellen Erfahrung, der die Erfahrung der Mühseligkeit des Lebens fremd ist. Um der Natur als Macht standhalten zu können, muß die Freiheit über die intellektuelle Erfahrung hinaus selbst objektiv, selbst zur Macht werden. Diese Objektivierung mißlingt, wenn die Bedingungen der Idee des Reichs Gottes auf Erden wie in der Kritik der praktischen Vernunft erneut ins religiöse Jenseits verlegt werden. Es bedarf daher der Spekulation auf die säkularisierte Bedingung der Möglichkeit der Affinität des Endlichen zu den Zwecken der Vernunft. Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist ein Begriff der Urteilskraft, der die Realisierbarkeit der Freiheit in der Natur begründen soll, indem er auf die dem Zweck der Moralität gemäße Einrichtung der Natur spekuliert. Damit entsteht die Paradoxie, daß der Zweck des Prinzips der Urteilskraft in der Realisierung der Freiheit liegt, die der Urteilskraft damit logisch vorgeordnet ist. Weil aber die Freiheit als gegen die Erscheinungen auch gleichgültig gedacht werden muß, kann sie das Prinzip ihrer Realisierbarkeit nicht selbst hervorbringen, sondern ist dabei auf die Spekulation des zeitlich vorrangigen Prinzips der reflektierenden Urteilskraft verwiesen. In der Natur finden sich Dinge, deren Organisation z.B. als belebter Wesen nicht in den Verstandesbegriffen aufgeht und die daher Anlaß geben, auf ein System der zweckmäßigen Verfassung der Natur zu schließen. Die Einheit eines solchen Systems ist durch den Endzweck der Vernunft bestimmt. Das teleologische Prinzip der Urteilskraft steht in der Erklärung eines Gegenstandes aber im Widerspruch zum kausalen des Verstandes, zumindest wenn beide gleichermaßen konstitutive Geltung für die Möglichkeit der Objekte haben. Kant unterscheidet daher diese beiden Prinzipien nach ihrem ontologischen Rang: Logisch sei die Kausalität aus Freiheit und mit ihr das Prinzip der Urteilskraft vorrangig, denn ohne sie könne die Natur nicht als Einheit gedacht werden. Umgekehrt beinhaltet die im Endzweck der Vernunft gedachte Verwirklichung der Vernunft, daß sie trotz ihrer Regulati-
1 Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen", a.a.O., 268f.
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vität nicht für sich bleiben kann, sondern der kategorial verfaßten Natur als Mittel ihrer Realisierung bedarf. Die Natur kann aber, wenn sie objektiv sein soll, nicht nur eine regulative Vernunftidee sein, sondern muß gegen diese auch selbständig sein. Deren kategoriale Bestimmung ist daher notwendig, aber der teleologischen logisch nachgeordnet. Die Vermittlung der ontologischen Rangordnung beider Kausalitäten verweist auf den Begriff des historisch-dialektischen Prozesses, in dem sich die Fähigkeit entwickelt hat und entwickeln wird, sich der Natur als Mittel zu bedienen. Kant nennt den Prozeß „der Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) [...] die Cultur" 1 . Der Begriff der Kultur ersetzt also einerseits die Postulate der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele durch die säkularisierte Vorstellung einer mit den Zwecken der Vernunft übereinstimmenden Natur. Er ist aber anders als die Kategorien des Verstandes nicht tatsächlich konstitutiv für die Natur, sondern nur der Möglichkeit nach: „D.i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff α priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheilskraft seinen Ursprung hat. Denn den Naturproducten kann man so etwas als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflectiren."2 Kant muß daher zusätzlich auf den heteronomen Ort der praktischen Verschränkung von Natur- und Freiheitsbegriffen verweisen: die Kultur als historisch-dialektische Tat. Sie ist deshalb nicht nur der Begriff zweckmäßigen Handelns, sondern auch historisches Faktum, das beweist, daß Freiheit als Vermögen praktisch geworden ist. Diesem Faktum gegenüber verhält sich nach Kant die Idee des höchsten Guts als Begriff des Zwecks, der der kulturellen Entwicklung zugrunde liegt und dessen Verwirklichung aus dem historisch-dialektischen Prozeß erst resultieren soll. In diesem Resultat wären die α priorischen Bedingungen α posteriori verwirklicht, die reflexive Form des Sittengesetzes mit der irreflexiven Form der Naturkausalität verschränkt.3 Diesem Verhältnis von Teleologie und Geschichte bleibt das Vermögen der Freiheit ebenso jenseitig wie es als Invarianz in jedem Moment die kritische Distanz und praktische Selbständigkeit des Menschen gegenüber der Natur begründet. Der Widerspruch ist notwendig zu denken. Einerseits vermag ein Vermögen, welches gemäß der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft nur als Negation dessen zu erschließen ist, worin es sich realisieren soll, nicht unmittelbar historisch praktisch zu werden. Die Realisierung der Freiheit ist deshalb nur als Zweckrelation denkbar. Als realisierte Sittlichkeit wäre aber die Freiheit ihrem Begriff nicht nur adäquat, sondern in ihrer praktischen
1 Vgl KU, V431. 2 KU, V XXVIII. 3 Vgl. oben unter I,
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Umsetzung auch aus den Erfahrungen der Geschichte abgezogen und deshalb vom Willkürlichen durchwirkt. Wollte man diesen Widerspruch nun dadurch lösen, daß man die Freiheit auf ihren durch die Zeit tingierten positiven Zweckbegriff reduzierte, würde damit die Begründbarkeit ihrer Selbständigkeit gegenüber der Welt der Erscheinungen eingebüßt. Umgekehrt kann aber auf den zeitlich tingierten Begriff der Freiheit auch nicht verzichtet werden, weil sonst jede moralische Forderung leer bliebe. Der Begriff der Erlösung ist deshalb zwar absolut zu denken, erscheint aber gemäß Benjamin nicht absolut, sondern relativ in der lebendig durchwirkten Diskrepanz des Kulturbegriffs zu seinem empirischen Pendant. Nur in dieser Konstellation, der .endlichen Stillstellung des unendlichen Gedankens', ist letztlich die moralische Forderung an die Gegenwart zu formulieren.1 In dem ungeheuren technischen Apparat kapitalistischer Ökonomie und dessen kooperativer, arbeitsteiliger Organisation liegt die Potenz einer menschenwürdigen Existenz. Aber in einer Gegenwart, in der sich die Sittlichkeit nicht mehr durch den Willen Einzelner realisieren läßt, kann das Verhältnis, in dem die kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften zum Ideal der Sittlichkeit stehen, nur noch negativ als Kritik an der herrschaftlichen Form gedacht werden, in der Kooperation und Arbeitsteilung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen.2 Die Idee der Realisierung des Reichs Gottes auf Erden liegt deshalb nicht länger in der spekulativen Antizipation zukünftiger Verhältnisse, sondern im Rückgriff auf eine Zeit, in der Philosophie noch nicht zur entpolitisierten Serviceleistung degradiert worden ist und Moralität daher noch Gegenstand praktischer Erfahrung war. Deshalb ist der Religionsbegriff Kants dem gegenwärtigen Denken ein adäquates Modell der Sittlichkeit. Er intendiert im Unterschied zur ökonomischen Realität eine emphatische moralische Forderung, die aber wiederum im Unterschied zur Idee des höchsten Gutes auch historische Realität hat. Religion umfaßt
1 Die spekulative Unterscheidung von negativem und positivem Freiheitsbegriff, die in der praktischen Philosophie Kants in der Gestalt des Arguments erscheint, manifestiert sich objektiv in dem Verhältnis dieser geistesgeschichtlichen Gestalt zu ihrer logischen Voraussetzung und wird so objektiv reflexiv: Das nur negativ zu denkende Vermögen zur Spontaneität bleibt gegenüber seinen traditionellen Gestalten immer auch selbständig; es ist der sich gleich bleibende Begriff im Wechsel seiner Bestimmungen. Daß aber umgekehrt die traditionellen Gestalten dieses Begriffs auch Ausdrücke des jeweiligen Zeitgeistes sind, läßt sich daran verdeutlichen, daß der im moralischen Ideal zu sich selbst gekommene Begriff der Freiheit und das Bewußtsein seiner Zweckmäßigkeit nicht schon immer selbstverständlich waren, sondern erst vergleichsweise späte Produkte der Geistesgeschichte sind. 2 Die Gegenläufigkeit von Sittlichkeit und technischem Fortschritt wäre nicht nur rein begrifflich aufzuzeigen, sondern auch an den gegenwärtigen Produktionsbedingungen selbst. „Wo die Geschichtsphilosophie noch den Gedanken an einen dunklen, aber selbständig und eigenmächtig wirkenden Sinn der Geschichte enthält, den man in Schematen, logischen Konstruktionen und Systemen nachzuzeichnen versucht, ist ihr entgegenzuhalten, daß es gerade soviel Sinn und Vernunft auf der Welt gibt, als die Menschen in ihr verwirklichen." (Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, 268; vgl. auch Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, Lüneburg 1996).
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sowohl die blutige Geschichte ihrer weltlichen Organisationen, als auch die ideelle ihrer Lehren. Das Verhältnis der Geschichte zur christlichen Hermeneutik findet in den Riten und Symbolen zudem einen kulturell gebildeten Ausdruck. Während die religiöse Idee des Reichs Gottes auf Erden gegenüber den gegenwärtigen Zuständen avanciert ist, ist aber der Kantische Versuch der Transformation der historischen Erfahrungen in die Gegenwart falsch. Er trägt in der Religionsschrift weder dem Umstand Rechnung, daß die bürgerliche Gesellschaft als aktueller Ausgangspunkt jeder Weiterentwicklung den Zwecken der Vernunft nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist, noch bezieht er sich auf den aktuellen Stand der Produktivkräfte, auf deren Grundlage eine „Gesellschaft nach Tugendgesetzen"1 überhaupt nur existieren kann. Insofern bleibt auch die Religionsschrift im Ästhetizismus der Theorie befangen: Sie ist philosophisches Modell, nicht politische Agitation. Benjamin hatte dagegen zunächst die messianische Kraft nicht positiv im Verhältnis von Religion und Gesellschaft gefaßt, sondern negativ in dem Anachronismus progressiver moralischer Intention und regressiver historischer Perspektive. Gegen den Ästhetizismus der Theorie erscheint das Leid der unterdrückten Vergangenheit nicht in der ästhetisierenden Erinnerung, sondern nur indirekt im Scheitern moralischer Erfahrung. Die Erfahrung dieses Bruchs enthalte die Chance im Kampf um die unterdrückte Vergangenheit, die durch den zeitlichen Index', den sie mit sich führe, einen Anspruch auf Erlösung durch die Gegenwart habe. Die Errungenschaft der Vergangenheit war es, sich des Vermögens zur Freiheit überhaupt bewußt geworden zu sein. Da dieser Begriff aber in der Moralphilosophie Kants zu sich selbst gekommen ist, ist es nun an der Gegenwart, die darin unerfüllt gebliebene politische Implikation zu ihrer Sache zu machen. Insofern bleibt die Gegenwart auf die Vergangenheit verwiesen. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit des akkumulierten Wissens der Gegenwart und der Inhalt des kollektiven Gedächtnisses. Gegen die verhalten affirmative Konnotation insbesondere der 2. Geschichtsphilosophischen These Benjamins2 kann aber das Leid der Opfer der Geschichte post mortem nicht versöhnt werden. Der Schluß Benjamins von der zeitlich tingierten Vorstellung des Glücks, ,das Neid in uns erwecken könnte', auf den Anspruch der Vergangenheit, durch die Gegenwart erlöst zu werden, erliegt selbst der Versuchung, die immer auch gewaltsame Erfahrung der Endlichkeit des Lebens rekursiv in der kollektiven Vorstellung zu ästhetisieren, oder zumindest vom Standpunkt der Gegenwart aus den Menschen als instrumenteil handelnden Sinnenwesen einen progressiv geltenden Rechtsanspruch auf die Teilhabe am Fortschritt einzuräumen. Der letzten Variante ist dann nicht wie der ästhetisierenden ihre Gleichgültigkeit gegen das Leid, sondern im Gegenteil ihre Befangenheit in dem sie theoretisch wie praktisch beeinflussenden historischen Umfeld vorzuwerfen. In der Konsequenz wird damit den Menschen ihre moralische Selbständigkeit und zugleich auch die Fähigkeit zur Ver-
1 Religion, VI 94. 2 Walter Benjamin, „Geschichtsphilosophische Thesen", a.a.O., 268f.
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änderung abgesprochen. Die Teilhabe der Individuen am Fortschritt endet mit deren Tod, die authentische Erinnerung an deren Leiden stirbt mit ihnen; umgekehrt ist der Fortschritt nicht gegen die Individuen zu verselbständigen, sondern sie sind vielmehr Subjekt und Objekt jeder kulturellen Entwicklung. Deshalb liegt die geschichtliche Wahrheit nur in der Negation des Gedankens, der sie zu fassen versucht, und ist noch an der Vorstellung herauszustellen, daß in der zukünftigen Einrichtung menschenwürdiger Verhältnisse zumindest für die dann lebenden Menschen die Befreiung von der Herrschaft von Menschen über Menschen läge: Nur im Konjunktiv bleibt das ,ist nicht in der Gegenwart' bewahrt.
BETTINA STANGNETH
Die Religion als Übergang zur Weltpolitik
In einer Zeit, die von Schlagwörtern wie Kampf der Kulturen und Heiligem Krieg geprägt ist, scheint nichts provozierender oder doch wenigstens abwegiger zu sein als Kants Gedanke, daß ausgerechnet die Religion ein notwendiges Element zu dem friedlichen Miteinander aller Menschen und Staaten in der Welt sei. Schließlich ist doch offensichtlich gerade sie ein Hauptmotiv der Differenz, und selbst diejenigen, die Kriege und Terrorismus bevorzugt rational als Folgen ökonomischen Ungleichgewichts interpretieren, sehen in der Religion zumindest einen die Auseinandersetzung verschärfenden Faktor, denn sie hat nicht nur eine integrative Funktion, schweißt also eine Gemeinschaft zusammen, sondern erreicht diese Gemeinschaftsbildung offenbar über ein Feindbild, also in der Abgrenzung von dem Anderen, der wesentlich Ungläubiger ist. Diese Einsicht ist keineswegs neu, ebensowenig wie Religionskriege ein Phänomen der Moderne sind und auch die Reaktion darauf verläuft bis heute in zwei hinlänglich bekannten Grundmustern: Die einen neigen dazu, quasi religiös aufzurüsten und rufen zum Beispiel in Europa nach Abgrenzung durch ein christliches Selbstverständnis und den ausdrücklichen Gottesbezug in der Verfassung; die anderen möchten die Religion am liebsten ganz abschaffen, da sie in ihr nur blauen Dunst sehen können, der die Urteilskraft lähmt und darüber hinaus wie alle Drogen ein unberechenbares Element hat, das bei manchen Menschen wie eine Art Amphetamin wirkt, also Wahnvorstellungen, Realitätsverlust und ein ungeahntes Aggressionspotential freisetzt, so daß es schon gefährlich ist, der Religion auch nur den Status einer Privatangelegenheit zu lassen. Dieses gefahrliche Potential läßt noch nicht einmal die Wissenschaftler selbst unbefleckt, denn schon die Diskussion über das Thema Religion scheint uns zu überfordern, da Religion offenbar selbst im Miteinanderreden nur Differenzen hervorbringt, was jeder Hoffnung, in ihr ein Medium der Verständigung zu sehen, offenkundig widerspricht. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus naheliegend, wenn Kant sich ausgerechnet eine Schrift unter dem Titel Religion aussucht, um das erste Mal vom Ewigen Frieden
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als einem vernachlässigten Forschungsthema zu sprechen. 1 Überraschend ist allerdings, daß dabei von einzelnen Religionen oder gar Religionskriegen gar keine Rede ist. Bisher - so schreibt Kant 1792 - sei der „Zustand eines ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten, Friedens" allenfalls eine schwärmerische, also weltfremde, Hoffnung und die Überlegungen zum Ewigen Frieden seien Beschwörungsformeln ähnlicher als konstruktiven Vorschlägen. Ja, die Vorstellung einer friedlichen Weltgemeinschaft sei bisher nichts als der „ p h i l o s o p h i s c h e Chi Ii asm", also das Pendant 2 zur theologischen Erwartung des tausendjährigen Reiches nach der Wiederkunft Christi, wobei es der Philosophie darüber hinaus noch an einer Galionsfigur mangelt, die da wiederkommen, geschweige denn den Schlüssel zur Lösung des Problems auch noch gleich mitbringen könnte. Der „äußere Völkerzustand [...], da zivilisierte Völkerschaften gegeneinander im Verhältnisse des rohen Naturzustandes (eines Standes der beständigen Kriegsverfassung) stehen, und sich auch fest in den Kopf gesetzt haben, nie daraus zu gehen", gehört nicht nur zu den großen Provokationen an den, der verstehen will, sondern ist nach Kant vor allem ein Defizit des bisherigen Denkens über den Menschen selbst: Wer sich nämlich dem eigentümlichen Umgang mit dem Problem zwischen Beschwörungsritualen einerseits, in denen man sich des gegenseitigen unbedingten Friedenswillens versichert und bestenfalls faktischer Untätigkeit andererseits stellt, entdeckt unausweichlich „dem öffentlichen Vorgeben gerade widersprechende und doch nie abzulegende Grundsätze großer Gesellschaften, S t a a t e n genannt, [...] die noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen, und doch auch (welches arg ist) keine besseren, die sich mit der menschlichen Natur vereinigen ließen, vorschlagen können" 3 . Es spricht nicht viel dafür, daß Kants 200 Jahre alte Diagnose an Aktualität verloren hätte. Daß eine wirkliche Weltgemeinschaft als wesentlich friedliches Gemeinwesen zu den anstrebenswerten Zielen gehört, wird wenn überhaupt, 4 nur in den seltensten Fällen bestritten, was in einer eigentümlichen Diskrepanz zu der ihrerseits nicht zu bestreitenden Tatsache steht, daß diese Gemeinschaft trotz Institutionen wie den Vereinten Nationen noch lange nicht existiert. Ja, sie wird bei allerlei Gelegenheiten selbst riskiert, was dann in unauflösbaren Widersprüchen wie
1 Es handelt sich bei Religion, B31 (VI 34) tatsächlich um Kants erste öffentliche Erwähnung dieses Begriffs, der der 1795 erschienenen Schrift ihren Namen geben sollte. Die Religion wird durchgehend nach der Neuedition Philosophische Bibliothek Band 545 im Meiner Verlag, Hamburg 2003 unter Angabe der Seitenzahlen der B-Auflage und der Akademieausgabe zitiert. Dort vorgenommene und begründete Korrekturen der AA werden nicht gesondert vermerkt. 2 Zu Kants Übertragung des Dogmatik-Begriffs (ausgehend von Bibel Off 20,4f.) auf die Philosophie vgl. a. Idee, VIII27; SF, VII 81. 3 Religion, B29f. (VI 34). 4 Schließlich verstehen sich auch fanatische Kriegstreiber als Schöpfer einer anderen und zwar friedlichen Weltordnung, auch wenn diese ins Jenseits verlegt oder als Friedhofsruhe angestrebt wird. Es gehört wohl zu den folgenreichsten Mißverständnissen, diesen gestalterischen Willen und damit sowohl den inneren Antrieb als auch die äußere Anziehungskraft eines Fanatikers in seinem zerstörerisch wirkenden Wahn zu übersehen.
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,Wir kämpfen für den Frieden' oder ,Wir foltern gegen den Terror' endet, also Sätzen, die man offenbar zwar sagen aber nicht mehr denken kann, so daß dem Philosophen offenbar nur das Kopfschütteln bleibt. Nun ist Kopfschütteln keine verwertbare politische Maxime und es gehört zu den großen Stärken der Kantischen Philosophie, sich dem provokativen Gehalt des Unverständlichen im menschlichen Verhalten nicht zu entziehen, sondern stets darauf zu bestehen, daß Misanthropie und das Abwenden von den Menschen keine Lösung sein kann, weil es letztlich der Offenbarungseid der Philosophie selbst wäre. Eine Moral - und damit nach dem Primat der Praxis jede Philosophie - wird dem Menschen nur nützen und etwas ändern können, wenn sie Grundsätze vorschlägt, die „sich mit der menschlichen Natur vereinigen ließen" (ds.). Es ist genau dieser Anspruch einer Verankerung der praktischen Philosophie im Verstehen, die irgendeine beliebige Hoffnung von dem unterscheidet, das ich hoffen darf, weil nur das die Träumerei von einem konstruktiven Ansatz unterscheidet. Da den Philosophen bisher keine Formulierung brauchbarer Lösungsansätze geglückt ist, muß also ihr Verständnis der menschlichen Natur defizitär sein. Nach Kant ist es genau ein Puzzlestein, den die Philosophie bisher übersehen hat, und das ist die menschliche Fähigkeit, der eigenen Erkenntnis und den eigenen Überzeugungen zuwider zu handeln.1 Es ist für den Menschen charakteristisch, daß weder objektive Erkenntnis noch subjektive Überzeugung notwendig ein dieser Erkenntnis gemäßes Handeln hervorbringen, weil es kein Kausalverhältnis zwischen Wissen und Tun gibt. Daß gerade die Philosophie, die sich selbst in erster Linie als Erkenntnis versteht, auf diesem Auge gern blind ist, kann auch nicht wirklich überraschen, stellt diese geradezu antiphilosophische menschliche Eigenschaft doch nicht zuletzt die Bedeutung der Philosophie selbst in Frage. Aber nicht nur Philosophen werden ausgesprochen ungern an diese Eigenschaft erinnert. Das Eingeständnis, daß ich zwar genau weiß, was ich tun soll und auch einsehe, daß ich es vernünftig finde, es zu tun, aber dennoch anders handele, gehört nicht zu den schmeichelhaften Erfahrungen. Und es ist diese Kränkung, die nach Kant eine fatale Entwicklung auslöst, nämlich den Versuch, den unlösbaren Widerspruch auch noch zu rechtfertigen, also Gründe für etwas zu finden, das selbst wesentlich unbegründbar ist. Wir neigen offenbar dazu, auch noch die Destruktion unserer eigenen moralischen Haltung als vernünftige Haltung selbst darzustellen. Das Abweichen vom eigenen, vernünftigen Anspruch vernünftig erklären zu wollen, beruht auf einem Selbstbetrug, zu dem sich ein Hang in der menschlichen Natur findet, den es immer wieder zu überwinden gilt, wenn man diesen Betrug aufdecken möchte. Was wie die Überbewertung einer banalen Kleinigkeit klingt, denn wer wüßte nicht von dieser angeblich so harmlosen Schwäche, läßt sich jedoch in allen Bereichen
1 Selbstverständlich kann hier diese Lesart von Kants Theorie des radikalen Bösen nur skizziert werden. Ich erlaube mir daher den Verweis auf einen ausführlicheren Versuch: Bettina Stangneth, Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Würzburg 2000, insb. 47-83 (Kap. II).
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menschlichen Handelns (und insofern das Denken ein Handeln ist, auch in Bereichen des Denkens) nachweisen, wenn auch als durchaus unterschiedlich verheerender Wirkung. Kant hat deshalb vom „Krebsschaden"1 dieses allem zugrundeliegenden, also „radikalen Bösen" in der menschlichen Natur gesprochen. Und nur wer dieses Böse richtig bewertet, hat - das behauptet Kant - eine Chance, brauchbare Grundsätze fur eine beständige Weltrepublik zu entwickeln. Wenn es sich bei dem .radikalen Bösen' wirklich um eine so grundlegende menschliche Eigenschaft handeln soll, dann kann man allerdings fragen, warum sie bisher so wenig beachtet worden ist bzw. wie es den Menschen auch ohne den bewußten Umgang mit einer solchen Anlage gelingen konnte, durchaus dauerhafte Gemeinschaften zu konstituieren. Schließlich existieren Staaten über beachtliche Zeiträume (zu Kants Zeiten ebenso wie zu unseren). Der Grund dafür, daß diese menschliche Eigenschaft erst in Fragen der vernünftigen Weltpolitik zu einem besonderen Problem wird, liegt nach Kant darin begründet, daß es einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Staat2 als regional begrenzter Gemeinschaft und einer Weltrepublik als alle Menschen und Staaten umfassendem Gemeinwesen gibt. Dieser Unterschied besteht in den Grenzen des Mittels, mit dem ein Staat sich selbst definiert und erhält: in den Grenzen des Rechts. Die Konzeption des Staates als Rechtsstaat beschränkt die Größe eines Gemeinwesens auf den Geltungsbereich des Rechts, weil das Gemeinwesen nur dort beständig ist, wo die Möglichkeit besteht, das gemeinschaftserhaltende Recht auch auszuüben. Mit anderen Worten: Ein Rechtsstaat reicht nur so weit wie seine Macht zu zwingen. Dieser Möglichkeit zur Sanktion ist aber nicht nur qualitativ im je einzelnen Menschen und seinen Überzeugungen eine Grenze gesetzt (denn die Gesinnung eines Einzelnen geht den Rechtsstaat schon deshalb nichts an, weil er nicht zwingend auf sie einwirken kann), sondern ebenso quantitativ. Wenn ein Staat zu groß wird, scheitert seine Selbsterhaltung und damit die Aufrechterhaltung der Rechtssicherheit an der technischen Schwierigkeit einer einheitlichen Durchsetzbarkeit des Rechts. Ein territorial immer größer werdender Staat zerbricht also notwendig und gliedert sich in neue Staaten. Die Angewiesenheit des Rechtsstaats auf Rechtsausübung macht das Rechtsstaatskonzept als Konstitutionsprinzip für einen nach seinem Modell zu errichtenden Weltstaat also untauglich. Aber auch, wenn man gar nicht den einheitlichen Weltstaat anstrebt, sondern in Kategorien des Völkerbundes, also der Weltrepublik, denkt, erweist sich das Rechtsstaatskonzept als nicht ausreichend. Betrachtet man nämlich das Verhältnis schon bestehender Staaten untereinander als Gemeinschaft souveräner Staaten, läßt sich eine überstaatliche Institution der Legislative und Exekutive nicht im gleichen Sinne als Staat bezeichnen, ohne eben zu der Souveränität ihrer Glieder in Widerspruch 1 Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, in: Kant's Gesammelte Schriften, (AkademieAusgabe), Berlin 1923, Band XV, 287. 2 Die ersten Überlegungen zu seiner Staatstheorie veröffentlicht Kant zeitgleich in der Religion und dem Aufsatz Gemeinspruch seit 1792. Zu diesem Abschnitt vgl. auch Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden", Darmstadt 1995.
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zu geraten. Staaten zur Einhaltung von Recht zu zwingen, ist - das wissen wir spätestens heute auch aus leidvoller Erfahrung - etwas ganz anderes, als ein Individuum auf ein Verhalten innerhalb des geltenden Rechts zu verpflichten. Und während ein Rechtsstaat auch dann existieren kann, wenn die unterschiedlichen Rechtssubjekte sich nur insoweit mit den Gesetzen identifizieren, wie es der Staat kontrolliert, weil es nicht relevant ist, ob jemand einen Diebstahl deshalb nicht begeht, weil er den grundsätzlichen Rechtsbruch im Stehlen einsieht oder weil er nur Angst vor den rechtlichen Folgen hat, kommt eine Gemeinschaft, der das Mittel der Sanktion nicht in gleicher Weise zur Verfugung steht, genau dort an eine Grenze. Wer das Verhältnis der Staaten als stabiles und friedliches Miteinander begründen will, kann das nur, wenn er das rechtliche Mittel der Sanktion durch eine andere .Macht zu Zwingen' ersetzen kann. Während der Rechtsstaat die ,Befugnis zu Zwingen' 1 als potentiell jedem Individuum mögliche Zustimmung zum Recht aus Vernunftgründen zwar als Legitimation seiner Macht zu verstehen hat, einer tatsächlich vom Einzelnen erteilten Befugnis aber nicht bedarf, um das Recht zu sichern, benötigt die Weltrepublik die aktive und stetige Zustimmung jedes einzelnen seiner Glieder. Kurz gesagt: Die Weltrepublik muß, wie nur wenige andere Formen menschlicher Gemeinschaft, ausdrücklich und immer wieder gewollt werden.2 Es ist diese Angewiesenheit auf das tatkräftige Wollen der Glieder einer Weltrepublik, die den Hang der Menschen, eigenen Überzeugungen zuwider zu handeln, gerade in Fragen der Weltpolitik zu einer gefahrlichen Größe macht, weil man in dieser Gemeinschaft als Verbindendes letztlich nichts anderes als eben diese Willenserklärung der einzelnen hat. Sicher ist es nicht zuletzt dieser strukturelle Unterschied zwischen Rechtsstaat und Weltrepublik, der weltpolitische Theorien grundsätzlich der Schwärmerei verdächtig macht. Sogar faschistische Weltherrschertheorien haben bekanntlich dieses ausgeprägt phantastische Element im grausamen Traum des einheitlichen Weltstaats ohne Gegenstimmen. Unsere je eigenen Erfahrungen mit den Menschen und ihrem Hang, auch die kleinsten Wünsche und Interessen über noch so beeindruckende eigene Einsicht und Überzeugungen zu stellen, rücken ein Unternehmen wie den Ewigen Frieden in den Bereich des eher Unwahrscheinlichen. Wer eine Gemeinschaft von Menschen gründen will, kommt offensichtlich nie ohne eine ,Macht zu Zwingen' aus, wenn diese Gemeinschaft beständig sein soll. Da diese Macht in einer Weltgemeinschaft aber nicht wie in anderen begrenzten Rechtssystemen3 von Menschen ausgehen kann, liegt es durchaus nahe, es dann wenigstens mit der Schwärmerei ernst zu nehmen und gleich auf einen 1 Vgl. Religion, Β131 ff. (VI 95f.); des weiteren MdS, VI 231 ff. 2 Es ist nicht zuletzt dieser Umstand, der die Konstitution der Weltrepublik einer anderen menschlichen Gemeinschaft ausgesprochen ähnlich macht: der Freundschaft. Kant selbst hat ausdrückliche Parallelen gezogen, aber dem kann hier nicht nachgegangen werden. 3 Der Versuch, Weltgemeinschaft als universale Geld- und Handelsgemeinschaft zu verstehen, unterliegt denselben Grenzen wie das juridische gemeine Wesen, weil es ebenfalls auf einer Sanktionskausalität gründet (nämlich Gewinn und Verlust), damit also auch eine Kontrolle voraussetzt, deren Möglichkeit die Größe des Gemeinwesens beschränkt.
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Gott oder doch einen anderweitig Außerirdischen als absoluten Gesetzgeber zu warten, der dann zu schaffen hat, was wir zwar schaffen wollen, aber nicht allein können. Allerdings nützt auch eine solche Instanz wenig, wenn der absoluten Verbindlichkeit ihrer Gesetze nicht auch ein absolutes Instrument der Sanktion zur Verfugung steht - und spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob wir uns einen solchen Ewigen Frieden als universales, von uns nicht mehr kontrollierbares Zwangssystems wirklich wünschen sollten. Selbst in einer theologischen Flucht nach vorn entkommt man also nicht dem Grundproblem, daß für einen realistischen Begriff der Weltgemeinschaft das Modell eines rechtlichbürgerlichen Zustande für sich genommen nicht ausreicht. Wer also Weltgemeinschaft als stabilen Zustand begründen will, muß plausibel machen, daß das rechtlichbürgerliche Verhältnis nicht das einzig realistische Modell für das Verständnis menschlicher Gemeinschaft ist. Da darüber hinaus in einer Weltgemeinschaft wenigstens soweit Rechtsgesetze gelten müssen, wie diese durchsetzbar sind (auch wenn sie für sich nicht hinreichen), muß außerdem der Beweis erbracht werden, daß das andere Gemeinschaftsmodell dem rechtlichbürgerlichen Modell nicht widerspricht, sondern es zu integrieren in der Lage ist, also kein grundlegend anderes, sondern ein erweitertes Gemeinschaftsmodell ist. Kant hat mit der Religion unter dem Namen „ethisch gemeines Wesen" ein solches erweitertes Gemeinschaftsmodell vorgeschlagen, also „die Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen, durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird"1. Wenn nämlich die Rechtsgesetze allein nicht als einheitsstifitendes und -erhaltendes Prinzip ausreichen, diese Einheit aber offenbar nicht in der Natur selbst angelegt ist, so daß sie von allein entstünde, dann kann eine menschliche Gemeinschaft, wenn überhaupt, nur in der Orientierung an einem wesentlich anderen Maßstab gebildet werden, also als „ e t h i s c h b ü r g e r l i c h e [...] Gesellschaft" mit dem ,,besondere[n] und ihr eigentümliche[n] Vereinigungsprinzip" der Tugend selbst „als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben"2. Menschen, so lautet die Hoffnung, könnten in der Lage sein, sich jenseits pragmatischer Überlegungen und über kurzzeitige zweckrationale Waffenstillstandsverhältnisse hinaus, zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, nämlich aus der Überzeugung heraus, daß ein solches dauerhaft friedliches Miteinander vernünftiger ist. Es ist dieses grundlegend andere Motiv, daß jeden Vergleich zwischen rechtlichbürgerlichem und ethischbürgerlichem Verhältnis zu einer nur begrenzt tauglichen Analogie macht, denn „ein rechtlichbürgerlicher (politischer) Z u s t a n d ist das Verhältnis der Menschen untereinander, sofern sie gemeinschaftlich unter ö f f e n t l i c h e n R e c h t s g e s e t z e n (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein ethischbürgerlicher Zustand ist der, da sie
1 Religion, Β129 (VI 94). Religion, B129f. (VI 94f.).
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unter dergleichen zwangsfreien, d.i. bloßen Tugendgesetzen vereinigt sind."1 Beide Gemeinschaftsmodelle unterscheiden sich also fundamental im einheitskonstituierenden Moment, nämlich dem Zwang hier und der Freiheit dort. Das „ethisch gemeine Wesen" als um seiner Vernünftigkeit selbst willen angestrebte Gemeinschaft, setzt damit etwas voraus, das nicht im gleichen Maße wie die Kausalität im Zwang bewiesen werden kann. Wer nämlich eine menschliche Gemeinschaft nach Tugendgesetzen für möglich hält, muß die Vernunft selbst nicht nur im Denken als mögliches Einheitsprinzip zugrunde legen, sondern in ihr auch eine real wirksame Kraft sehen, ist doch die Gemeinschaft, die hier angestrebt wird, wesentlich eine Gemeinschaft in der Welt und nicht nur im Wunsch. Weil das so ist, bedeutet der Schritt von einem juridischen zu einem moralischen Gemeinwesensbegriff den Übergang vom empirisch gegründeten Wissen von der Wirkmächtigkeit von (Rechts-) Gewalt zu einem empirisch nicht mehr zu verifizierenden Glauben an die Wirkung der Vernunft als in Freiheit gewähltem Gesetz, eine Wirkung, die Vernunft nur dann haben kann, wenn sie nicht nur ein zweifellos nützliches Prinzip des Denkens, sondern auch ein bestimmendes Gesetz der Welt außerhalb des Denkens ist. Nur wenn Vernunft ,in die Welt paßt', ist die Hoffnung auf eine gemeinsame Orientierung an der Vernunft mehr als eine Träumerei. Es ist dieser Schritt vom Wissen zum Glauben, der damit jede Hoffnung auf eine Gemeinschaft über die Rechtsgemeinschaft hinaus zur „Religion" macht,2 und zwar zu der Religion, die als notwendiger systematischer Schritt „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" wesentlicher Bestandteil der Philosophie selbst ist und damit vielleicht positiven Religionen teilweise zugrunde liegen mag, von ihnen aber im Kern unabhängig ist. „ R e l i g i o n ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote."3 Diese Erkenntnis besonderer Art setzt die Pflichtenerkenntnis immer schon voraus. Religion ist also ein bestimmtes Verständnis dessen, was wir als Pflichten nicht nur begreifen können, sondern auch immer schon begriffen haben. Die in dieser Erkenntnis vollzogene Identifikation aller Pflichten als „göttlicher Gebote" schließt wesentlich alle Pflichten ein, also sowohl die Tugendpflichten als auch die Rechtspflichten. Es ist demnach nicht ein eigener Pflichtenkatalog, den die Religion zu unserer Handlungsorientierung beizutragen hat, sondern sie besteht wesentlich in einem Perspektivenwechsel, also einer anderen Einstellung zu dem, was wir als vernünftig erkannt haben. Dieser Perspektivenwechsel entspricht einem anderen Verständnis der Bedeutung der Vernunft, denn ich muß eine „Idee der Vernunft" 4 haben, also einen Begriff davon, was Vernunft ist, kann und soll. Die Frage nach der Idee der Vernunft ist 1 Religion, Β131 (VI 96). 2 Es wäre eine sehr lohnenswerte Aufgabe, Kants Religionsbegriff zum Begriff der Ideologie in Beziehung zu setzen und damit Kants Schriften ab spätestens 1792 als Beiträge zur Ideologiekritik fruchtbar zu machen. 3 Religion, B229 (VI 153). Die Unterschlagung der Kantischen Hervorhebung des „als" gehört zu den wirkmächtigsten Verschlimmbesserungen der Akademieausgabe. 4 Religion, Β135 (VI 97).
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damit die Frage nach der Bedeutung der Vernunft im menschlichen Selbstverständnis ebenso wie die nach der Bedeutung der Vernünftigkeit in der Welt. Wer auf die Vernunft als wirksames Einheitsprinzip im menschlichen Miteinander hoffen will, muß nicht nur Vernunft als die Bestimmung des Menschen verstehen, sondern ebenso die Ordnung der Welt jenseits menschlichen Denkens als wenigstens vernunftkompatibel voraussetzen. Weil aber jeder Versuch, die Welt auf diese Weise geordnet zu denken, in der Suche nach einem Ordnungsprinzip besteht, beruht auch die Einstellung des Menschen zu seinem Vernunftvermögen damit letztlich auf der Annahme eines solchen Prinzips. Da ein solches Prinzip nicht mehr deduzierbar, sondern nur postulierbar ist, kann diese Form der Erkenntnis auch allenfalls ein begründetes Fürwahrhalten, also ein Glauben, sein. Diese Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist der Glaube an die Idee der Vernunft als verläßliche Richtschnur unseres Handelns in jeder Hinsicht, also der Glaube daran, daß der Mensch bestimmt ist, Vernunftwesen zu sein.1 Diese Religion ist Vernunftreligion in zweifacher Hinsicht, denn sie ist einerseits ein Glaube aus Vernunftgründen und andererseits nichts anderes als der Glaube an die Vernunft. Nur wenn Vernunft selbst ein Naturzweck ist, sind das moralische Gesetz in mir und der bestirnte Himmel über mir von ein- und derselben Natur, d.h. nur dann ist die Welt ein Raum, in dem wir überhaupt sowohl durch Beobachtung verstehen als auch aus Einsicht handeln können. Allein auf der Grundlage dieses Glaubens als gemeinschaftlicher und damit öffentlicher Überzeugung, kann es Menschen gelingen, sich auch dann noch auf die Einhaltung von Recht zu verpflichten, wenn kein anderes Sanktionsmittel die Mißachtung verhindern kann als der eigene Wille, daß vernünftiges Recht Geltung haben soll. Eine alle Menschen und Staaten umfassende Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft aus Freiheit. Es ist dieser Ursprung, der die Idee der Weltgemeinschaft ebenso beeindruckend wie die Hoffnung darauf nach aller Erfahrung wenig aussichtsreich macht. Und so überzeugend Kants Analyse auch ist, es stellt sich doch die Frage, was uns all die Einsicht denn nützen soll, wo doch Kant selbst nicht müde wird zu betonen, daß Menschen einen Hang dazu haben, wider ihre Einsichten zu handeln und zwar trotz ihrer ebenfalls vorhandenen Anlage, für so erhabene Ideen wie einen Ewigen Frieden empfänglich zu sein. Wenn es letztlich nur der menschliche Wille zur Vernunft ist, der eine Weltgemeinschaft konstituieren und erhalten kann, hat eine Gattung, die sogar die Lust zur Willensschwäche kennt, doch offenbar wenig Grund zur Hoffnung. Kants durchaus vorsichtige, aber nichtsdestotrotz radikale Antwort verbirgt sich in der Frage, auf die die Religion seiner Definition nach die Antwort sein soll: „Was darf ich hoffen?" Hoffnung ist demnach nicht etwas, das mir einfach gegeben wäre oder eben nicht oder das ich nach Belieben aufnehmen oder fallenlassen könnte, denn sie ist keine
1 Es handelt sich also wohlbemerkt bei Kants Vorschlag nicht um die Idee einer Weltstaatsvergötterung, sondern allenfalls um einen religiösen Respekt vor der Vernünftigkeit im eigenen Denken und Handeln.
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Voraussetzung, um mich und die Welt in bestimmter Weise zu verstehen und zu behandeln, sondern allenfalls als Folge eines bestimmten Handelns überhaupt erlaubt. Diese Hoffnung ist kein bloßes Gefallen an irgend etwas und unterscheidet sich auch wesentlich von allerlei optimistischen Gefühlen, die Menschen heimsuchen können, Gefühlen, die uns im weltpolitischen Kontext ohnehin wenig nützen dürften, denn angesichts einer so komplexen Idee wie der eines weltumspannenden Friedens ist der Gedanke an ein derart Raum und Zeit umfassendes Gemeinschaftsgefühl gelinde gesagt nicht sehr realistisch, zumal es uns dann doch ausgezeichnet gelungen wäre, gerade dieses Gefühl jahrhundertelang zu unterdrücken. Wer hoffen möchte, muß dieses Hoffen begründen und zwar in zweierlei Hinsicht, denn zum einen muß das Gehoffte vor der Vernunft zu rechtfertigen sein - was der Ewige Friede zweifellos ist - , zum anderen aber darf vor allem mein eigenes Handeln dem Gehofften nicht entgegenarbeiten. Ich darf nur hoffen, was ich nicht selbst mit meinem Tun und Denken zu verhindern versuche. Hinter dieser schlichten Forderung steckt mehr als eine banale Alltagsweisheit, denn sie verweist auf den einzig möglichen Schlüssel zu einem Fortschritt menschlicher Gemeinschaftlichkeit. Frieden und Verständigung wirklich zu wollen, verweist uns nicht nur auf das Erdenken von Regelsystemen, die in der Lage wären, unterschiedlichste Kulturen und Geschichten zu integrieren, sondern vor allem auf eine Disziplin im Umgang mit unserer Einsicht selbst. Da es Menschen aber offenbar schwer fällt, konsequent aus eigener Einsicht zu handeln, bedarf es genau hier neuer Übung und Erfahrung im gemeinschaftlichen Bekämpfen einer jedem bekannten Schwäche im Umgang mit der Vernunft. Wenn die von Kant definierte religiöse Erkenntnis wesentlich in einem Perspektivenwechsel beruht, dann verspricht ein gemeinschaftliches Bemühen immerhin, daß wenigstens ein Schritt zur Vernunft getan ist, nämlich der Schritt von meiner eigenen Perspektive auf mich und die Welt zum Blickwinkel der Gemeinschaft auf Gemeinschaft selbst und unsere Welt.1 Die Idee, der äußere Völkerzustand könnte ein Zustand des Friedens sein, wird nur dann mehr als Schwärmerei, wenn wir das einzige Prinzip, das diesen Zustand zu erhalten in der Lage wäre, auch als Prinzip unseres Handelns - also als Minimalkonsens der Selbstverpflichtung auf Vernunft - zugrunde legen und gemeinsam über seine Einhaltung wachen. Eine Garantie ist das wohlbemerkt nicht, es sei denn in dem Sinne, daß es einen anderen Weg für uns nicht mehr gibt. Kant konnte vielleicht im 18. Jahrhundert noch darauf hoffen, daß die „Natur [...] die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen A n t a g o n i s m derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d.i. sie treibt durch die Kriege, durch die über-
1 Daher kann allein schon der Versuch, eine längst bestehende Gemeinschaft als Stufe zu einer Weltgemeinschaft zu betrachten, diese Gemeinschaft ebenso nach innen stabilisieren wie nach außen für umfassenderes Handeln öffnen, weil dieser Perspektivenwechsel nicht nur die eigenen Erfolge in einen anderen Sinnzusammenhang stellt, sondern auch die Hoffnung auf mehr rechtfertigt.
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spannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können"1. In unserem Zeitalter jedoch, in dem wir die Natur um global wirkende Kampfstoffe erweitert haben, werden wir uns beeilen müssen, die traurigen Erfahrungen vernünftig einzuholen, weil keineswegs mehr sicher ist, daß wir sie ansonsten lange genug überleben, um noch aus ihnen lernen zu können. Immerhin dürfte die Angst vor unseren eigenen Möglichkeiten ein tauglicher Antrieb sein, endlich doch die Revolution der Denkungsart' hervorzubringen und damit eine menschliche Gemeinschaft im Glauben an unsere eigene Vernunft umwillen der Hoffnung, die menschliche Spezies könnte am Ende doch liebenswert sein.
1 Idee, VIII 24.
MATTHIAS LUTZ-BACHMANN
Das ,ethische gemeine Wesen' und die Idee der Weltrepublik Der Beitrag der Religionsschrift Kants zur politischen Philosophie internationaler Beziehungen
In meinem Beitrag möchte ich im Durchgang durch die ersten ,drei Stücke' der Religionsschrift von Kant einige Motive herausarbeiten, die für die Religionsphilosophie Kants ebenso wie für seine politische Philosophie von systematischem Interesse sind. Zuerst behandele ich den Zusammenhang von Moralphilosophie und Religion bei Kant, wobei ich mich auch auf einige seiner früheren Texte beziehe und auf einige Entwicklungen im Denken Kants hinweise, vor denen die Aussagen der Religionsschrift zu sehen sind (I). In einem zweiten Schritt rekonstruiere ich drei zentrale Argumente Kants, die die praktische Unabweisbarkeit aufzeigen sollen, die fur Kant der Errichtung eines ,ethischen gemeinen Wesens' zukommt (II). Aus Kants Argumentation für das ,ethische gemeine Wesen' lassen sich auch einige Schlußfolgerungen für die strittige Frage einer Weltrepublik bei Kant ziehen, mit denen ich meine Überlegungen abschließe (III).
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Moralphilosophie und Religion
Zu Beginn der Vorrede zur ersten Auflage seiner Religionsschrift aus dem Jahr 1793 macht Kant unmißverständlich deutlich, daß die Morallehre, die von dem seine Vernunft autonom gebrauchenden Menschen in seiner praktischen Freiheit ausgeht, sich aus systematischen Gründen nicht auf einen sei es religiös, theologisch oder sei es philosophisch begründeten Gottesbegriff stützt: Die philosophische Ethik bedarf weder eines über dem Menschen stehenden Gesetzgebers, damit der Mensch erkennt, was er tun soll, noch eines vergeltenden Richters, damit der Mensch auch tut, was er als ,zu tun' erkennt. „Die Moral", schreibt Kant, „[...] bedarf also zum Behuf ihrer selbst [...] keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug."1 Was an dieser Position Kants einem unbedarften Leser als typische
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MATTHIAS LUTZ-BACHMANN
Errungenschaft der Philosophie der Aufklärung vorkommen mag, ist bei einer genauen Betrachtung nicht neu. Schon Piaton hatte bekanntlich in seinem Dialog Euthyphron auf die inneren Widersprüche einer theonomen Morallehre hingewiesen1 und für Aristoteles folgt bereits aus der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie, daß die Ethik nicht aus einer spekulativen Metaphysik oder Gotteslehre abgeleitet werden darf.2 Selbst Thomas von Aquin folgt mit seiner Unterscheidung von lex aeterna und lex naturalis nicht dem von Vertretern der stoischen Ethik wie auch von Augustinus verfolgten Konzept einer Moralphilosophie, deren Einsichten an einer kosmischgöttlichen Ordnung gewonnen werden, sondern zielt auf eine in der praktischen Vernunfteinsicht des Menschen alleine begründete Ethik.3 Philosophiegeschichtlich betrachtet ist der Gedanke, daß die Ethik nicht in einer Lehre von Gott begründet werden kann, somit nicht neu. Neu ist allerdings die spezielle Begründung, die Kant für seine Argumentation vorlegt. Er sieht die Notwendigkeit einer dem Gottesbegriff vorausliegenden Ethik in der Struktur des sittlichen Urteils begründet. Um der Autonomie des sittlich Urteilenden willen soll das sittliche Urteil nach Kant von allen materialen Zwecken absehen und allein in der Verallgemeinerungsfahigkeit das Kriterium für die sittliche Richtigkeit unserer Handlungsmaximen finden. Daher, schreibt Kant, „bedarf sie [die Moral] überhaupt gar keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür, das ist keines Zwecks, weder um, was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, daß sie ausgeübt werde, anzutreiben: sondern sie kann gar wohl und soll, wenn es auf Pflicht ankommt, von allen Zwecken abstrahiren"4. Auch wenn nach Kant die Quelle der sittlichen Einsicht in das moralische Sollen und die Motivation des Handelnden bei der praktischen Umsetzung des als gesollt Erkannten von äußeren Zwecken frei gehalten werden müssen, schließt dies nicht aus, daß der Mensch sich selbst fragt, was das Ergebnis seines sittlich richtigen Handelns im Ganzen seines Lebens ist; denn Kant weiß - auch hier in einer Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition - , daß es dem Menschen in seinem Handeln, Streben und Wollen sehr wohl darum geht, im Ganzen seines Lebens seine Ziele zu verwirklichen. Als Inbegriff dieser Zweckbestimmung des Menschen steht der Philosophie spätestens seit Aristoteles der Begriff des ,geglückten Lebens', der Eudaimonia, zur Verfügung. Doch anders als in der aristotelischen Ethik gewinnt die Morallehre bei Kant den Gesichtspunkt des sittlich Richtigen nicht aus der Perspektive eines geglückten Lebens, sondern alleine aus der von der praktischen Vernunft in uns geforderten Übereinstimmung des Gewollten mit dem, was wir als ,gesollt' erkennen. Im Unterschied zur stoischen Ethik ist für Kant jedoch mit dem habituellen Erwerb der sittlichen Tugend, d.h. der gelungenen Übereinstimmung unseres freien Willens mit dem sittlich Gesollten der praktischen
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Vgl. Piaton, Euthyphron, 10 c-11 b. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, 1-2, 1138 b 16-1139 b 13. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I-II, q. 91, a. 2. Religion, VI 3 f.
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Vernunfteinsicht, noch nicht das Streben des Menschen nach Glück an sein intendiertes Ziel gekommen. Es bleibt die Frage der praktischen Vernunft nach einem letzten Zweck unseres Handelns, den Kant als die erstrebte Übereinstimmung von Tugendbesitz und Glückseligkeit begreift. Erst die Verwirklichung dieser Übereinstimmung bezeichnet Kant mit dem Begriff des,höchsten Guts'. In der fiinf Jahre vor der Religionsschrift, also im Jahr 1788 vorgelegten Kritik der praktischen Vernunft vertrat Kant die Auffassung, daß nur unter der Voraussetzung, daß eine positive Antwort auf diese Frage möglich ist, das Projekt seiner Morallehre nicht scheitert. Dies veranlaßte ihn, das Dasein Gottes als eines heiligen, d.h. allgütigen, zugleich allwissenden und allmächtigen Wesens zu postulieren, weil für ihn nur auf diesem Weg die Verwirklichung des ,höchsten Guts' für den Menschen gedacht werden kann. Im Unterschied zu unserem Sprachgebrauch versteht Kant unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft aber keine praktische Handlungsanweisung an den Menschen oder einen puren Wunsch, sondern vielmehr einen theoretischen Satz, und zwar eine notwendige Einsicht der Vernunft, die, weil sie nicht auf das Material unserer sinnlichen Anschauungen bezogen ist, zwar kein Objekt in der physikalischen Dingwelt konstituiert. Doch artikuliert das Postulat der Existenz Gottes und die Annahme bestimmter Eigenschaften Gottes nach Kant einen unabweisbaren Gedanken, nämlich eine wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit, die dem Sittengesetz, das „α priori unbedingt" gilt und dessen Wirklichkeit wir in unserer Vernunft antreffen, „unzertrennlich anhängt"1 und ohne die in letzter Konsequenz für Kant die Voraussetzung seiner Morallehre, nämlich die mögliche Bestimmung des menschlichen Willens durch die Vernunft, nicht gedacht werden könnte. Seine Argumentation für die Annahme der Existenz Gottes erweitert Kant in der Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790, insofern es ihm hier als notwendig erscheint, unter der Voraussetzung der regulativen Erkenntnisleistung der teleologischen Urteilskraft' anzunehmen, daß die Natur insgesamt wie ein zweckmäßiges Ganzes gedacht werden muß, und infolge dessen auch die Verwirklichung des ,höchsten Guts' als ein Plan betrachtet werden muß, der der Schöpfung als ganzer zugrunde liegt. Diese Überlegungen enthalten nicht nur neue Argumente für die Annahme der Existenz Gottes, sondern sie führen auch die Notwendigkeit vor Augen, Gott nicht nur als einen Gesetzgeber für die Natur, „sondern auch als ein gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwecke"2 denken zu müssen. Hieraus leitet Kant nicht nur die klassischen Gottesattribute der Allwissenheit, Allmacht, Ewigkeit oder Allgegenwart Gottes ab, sondern auch die seiner moralischen Güte und Gerechtigkeit. So macht Kant klar, weshalb aus der moralischen Teleologie der Vernunft „allererst eine T h e o l o g i e " 3 folgt und nicht umgekehrt.
KpV, V 122. KU, V 444. 3 KU, V 444. 1
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Auf diese Überlegungen in der Kritik der Urteilskraft greift die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift wieder zurück. Sie stellt klar, weshalb die Moral zwar auf den Zweckbegriff verzichten muß, insofern es in ihr um die Einsicht der praktischen Vernunft in das sittlich Richtige und die motivationale Handlungsbestimmung des Menschen im Blick auf sein Handeln geht. Doch ist der Zweckgedanke mit dieser Argumentation nicht nur nicht grundsätzlich abgewiesen, er geht, wie Kant ausfuhrt, vielmehr aus der Moral selbst hervor, weil nur mit seiner Hilfe die berechtigten und unabweisbaren Fragen der praktischen Vernunft nach dem letzten Zweck des menschlichen Lebens und Handelns sowie der Welt im Ganzen beantwortet werden können. „Es kann also der Moral", schreibt Kant, „nicht gleichgültig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge [...] mache, oder nicht: weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objectiv praktische Realität verschafft werden kann."1 Mit dieser Argumentation ist ein neuer und weiterführender Beitrag der Religionsschrift sowohl zur Frage nach Gott als auch zur Bestimmung der Morallehre vorbereitet. Im Blick auf die Moral liegt die innovatorische Kraft der Schrift über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft insbesondere in dem Gedanken, daß der Endzweck der Schöpfung nicht in der Sittlichkeit des Individuums, seinem Tugendbesitz also, und der ihr proportionalen Glückseligkeit des Einzelnen zu sehen ist, sondern daß die Sittlichkeit der gesamten Menschheit das umfassendste Ziel der praktischen Vernunft sein muß. Kant gelangt im Dritten Stück seiner Religionsphilosophie schließlich zu der Formulierung seines moralischen Imperativs eines ,ethischen gemeinen Wesens', das die gesamte Menschheit im Sinne einer Pflicht gegen sich selbst erreichen soll. Den Weg zur Ableitung dieser Forderung bereiten seine Ausführungen im Ersten und Zweiten Stück über das Böse in der menschlichen Natur und die Überwindung des Bösen durch das gute Prinzip grundlegend vor.
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Begründung und Verfassung eines ,ethischen gemeinen Wesens'
Worin besteht, so müssen wir uns zuerst fragen, das ,Böse' in der menschlichen Natur, und welche Bedeutung kommt ihm für die hier nur kurz angeschnittene Frage nach dem Verhältnis von Moralphilosophie und Gotteslehre zu? Kant sieht in Übereinstimmung mit seiner Lehre von der in der Autonomie des Menschen grundgelegten Sittlichkeit eine ursprüngliche Anlage zum Guten in der menschlichen Natur gegeben. Diese Annahme unterscheidet Kant grundlegend von Thomas Hobbes, woraus sich auch die Differenzen beider in der politischen Philosophie erklären lassen. Die von Kant angenommene Anlage des Menschen zum Guten schließt dessen Fähigkeit zur Sittlichkeit ein und das heißt die dem Menschen gegebene Möglichkeit, auf die unbedingte gesetz-
1 Religion,V15.
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gebende Vernunft in sich selbst hören und ihr gemäß handeln zu können. Der gleichwohl als mit der Freiheit des Menschen unauflösbar verbunden verstandene ,Hang des Menschen zum Bösen' besteht für Kant aber darin, daß jeder Mensch geneigt ist, sei es aufgrund einer Gebrechlichkeit der menschlichen Natur' (Jragilitas'), einer Unlauterkeit des Herzens' (,impuritas') oder sogar einer ,Verderbtheit' (,corruption, von den sittlichen Pflichten abzuweichen, die das Sittengesetz ihm auf der Grundlage seiner Freiheit und Vernunft aufträgt. Kant vertritt hier eine philosophische Variante der überlieferten theologischen Erbsündenlehre: Er sieht im Menschen einen ,Hang zum Bösen' wirksam, und zwar als eine allgemeine Eigenschaft der Gattung, die alle Menschen prägt, die aber nicht - wie man meinen könnte - der biologischen Natur des Menschen wie etwa seiner Sinnlichkeit oder Begehrlichkeit, also seiner Mangelnatur entspringt, sondern vielmehr seiner intelligiblen Freiheit selbst. Daher ist dieser ,Hang' auch als Ausdruck und Folge der menschlichen Freiheit dem Menschen moralisch und somit schuldhaft zuzurechnen. Dies macht den Menschen in seiner Freiheitsnatur, nicht aber in seiner biologischen Verfassung ,radikal', also wurzelhaft ,böse'. Doch diese Auskunft bei Kant heißt wiederum nicht, daß der Mensch als ganzer oder seine Vernunft böse würden. Eine solche Qualifikation würde ihn vielmehr zu einem teuflischen' Wesen machen. Daß der Mensch qua Mitglied der menschlichen Gattung ,radikal böse' ist, soll nach Kant auch nicht heißen, daß er die Autorität des Sittengesetzes leugnet oder seine Freiheit verliert; denn mit diesen Annahmen wäre auch die Realität des Sittengesetzes als ein Faktum der Vernunft in uns in Frage gestellt. Stattdessen will Kant sagen, daß der Mensch aus anderen Gründen als nur denen der praktischen Vernunft die praktischen Gebote der Vernunft erfüllt; dies zeigt sich darin, daß er in der Regel nur pflichtgemäß', aber nicht ,aus Pflicht' sittlich handelt. „Folglich ist der Mensch", schreibt Kant in der Religionsschrift, „(auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, [...] er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht"1. Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist nach Kant also nicht eine abgrundtiefe Bosheit. Sie bestünde darin, daß der Mensch in seiner Gesinnung das Böse als Böses wählt und zur Triebfeder seines Handelns macht. Des Menschen Bösartigkeit ist vielmehr als eine ,Verkehrtheit des Herzens' zu qualifizieren, die die universalen Vernunftgebote zu allgemeinen Regeln umdeutet, von denen nach Maßgabe des eigenen Vorteils abgewichen werden kann. Sie artikuliert sich in einer pragmatischen Einstellung zu dem Sittengesetz, bei der sich der Mensch stets selbst aber für moralisch hochstehend hält und sich auf seine Sittlichkeit noch etwas einbildet. Dem Menschen ist es nach Kant einerseits geboten, diese als ,Verkehrtheit' bestimmte ,Bösartigkeit' vom Grund seiner 1 Religion,
VI 36.
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Gesinnung auf zu überwinden. Doch genau dies kann ihm andererseits nicht gelingen, weil sie zugleich ein Ausdruck und eine Folge seiner Freiheit ist. Deshalb bedarf es einer anderen Lösung: Die praktische Vernunft soll Kant zufolge Ausschau halten nach einem exemplarischen Menschen, der das Ideal der moralischen Vollkommenheit verwirklicht, d.h. sich von dieser Verkehrtheit nicht bestimmt sein läßt, und wie ein ,Vorbild für uns' wirkt. Was Kant hiermit fordert, ist das Vorbild eines „wahrhaftig göttlich gesinntefn] Menschfen], [...] der durch Lehre, Lebenswandel und Leiden das B e i s p i e l eines Gott wohlgefälligen Menschen an sich" gibt, der „durch alles dieses ein unabsehlich großes moralisches Gute in der Welt durch eine Revolution im Menschengeschlechte"1 hervorbringt. Dieser Mensch muß nach Kant so vorgestellt werden, daß er, da er selbst frei von der Bösartigkeit in seiner Gesinnung ist, die Herrschaft des Bösen über die menschliche Freiheit im Grundsatz, und d.h. stellvertretend und exemplarisch für die gesamte Menschheit durchbricht. Offensichtlich beschreibt Kant mit diesem von der Vernunft gesuchten exemplarischen Menschen' das Programm einer moralphilosophisch begründeten philosophischen Christologie'. Doch selbst die „Darstellung des guten Principe, nämlich der Menschheit, [...] in ihrer moralischen Vollkommenheit, als Beispiel der Nachfolge für Jedermann"2 ist noch nicht in der Lage, die Erwartungen der praktischen Vernunft insgesamt zu erfüllen. Zwar ist mit diesem exemplarischen Menschen, wenn er einmal geschichtlich auftritt, die universelle Gewalt des bösen Prinzips über die Gesinnung der Menschheit zumindest im Ansatz gebrochen und auf diesem Weg grundsätzlich ein Rechtsanspruch des guten Prinzips auf Herrschaft über den Menschen begründet, aber der von der Vernunft geforderte endgültige Sieg des guten Prinzips ist damit durchaus noch nicht gesichert; denn hierzu bedarf es der sittlichen Verwirklichung des guten Prinzips durch die Menschen selbst. Daher schreibt Kant im Dritten Stück seiner Religionsschrift·. Die dauerhafte und endgültige „Herrschaft des guten Principe, sofern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird"3, denn nur so kann nach Kant ein Sieg für das gute Prinzip über das Böse erhofft werden. Daß es die praktische Vernunft selbst ist, die außer dem unbedingten Gehorsam, den ein jeder Mensch dem Sittengesetz, und das heißt der autonomen Einsicht seiner eigenen praktischen Vernunft schuldet, noch dazu die Vereinigung aller Menschen nach Art eines öffentlichen Gemeinwesens verlangt, verdeutlicht Kant mit dem viel zitierten Bild: „Es ist von der moralisch-gesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem Einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereini-
1 Religion,Ν163. 2 Religion, V182. 3 Religion, VI 94.
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gungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen."1 In der Religionsschrift entfaltet Kant drei praktische Vernunftgründe, die für die Konstitution einer solchen ,ethisch-öffentlichen Gesellschaft' oder, wie er auch sagt, eines »ethischen gemeinen Wesens' sprechen. Der erste Grund bezieht sich auf das Selbstverhältnis des einzelnen Menschen im Angesicht des Sittengesetzes, der zweite bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu den anderen Menschen, der dritte artikuliert die Pflichten, die fur Kant das Menschheitsgeschlecht als Ganzes sich selbst gegenüber besitzt. Ich nenne diese drei Gründe erstens das innersubjektive Argument, zweitens das intersubjektive Argument und drittens das Argument eines notwendigen Selbstbezugs der Menschheit. Diese drei Argumente bauen systematisch aufeinander auf, wobei das zweite Argument das erste und das dritte Argument die beiden vorausgehenden voraussetzen. Das erste Argument für eine Vereinigung der Individuen in einem ,ethischen gemeinen Wesen' steht im Kontext der Analyse eines unausweichlichen Kampfs zwischen der Anlage des Menschen zum Guten und dem Hang zum Bösen im Ersten und Zweiten Stück der Religionsschrift. Die Überlegungen Kants beziehen sich hier auf die Frage, wie jeder Einzelne angesichts der Forderungen des Sittengesetzes in seiner Vernunft und der gleichzeitigen Bösartigkeit seines Herzens verfahren soll. Die innersubjektive Überwindung des in jedem von uns aus unserer eigenen Freiheit hervorgehenden Hangs zum Bösen, die die praktische Vernunft in uns selbst fordert, kann für Kant nur gelingen, wenn dem Menschen ein wahrhaftes Vorbild von aufrichtiger Tugendgesinnung gegeben wird und wenn er sich diese äußere Stütze dauerhaft in einer Gemeinschaft von Tugendhaften selbst verschafft. Die Gemeinschaft der Tugendhaften erhält hier die Funktion, die vom Einzelnen verlangte Revolution der Gesinnung zu unterstützen; sie ist selbst aber nicht konstitutiv für die Überwindung des Bösen in ihm, da der Einzelne diese Aufgabe selbst bewältigen muß. Dies macht seine sittliche Freiheit aus. Das zweite Argument stützt sich auf eine intersubjektivitätstheoretische Analyse der Gefahrdung der Sittlichkeit des Menschen. Ihr zufolge ist sie bereits mit dem Faktum der anderen Menschen gegeben. ,,[E]s ist genug", schreibt Kant, „daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen."2 Kant illustriert diese Aussage durch den Hinweis auf die asozialen Laster des Neids, der Herrschsucht und der Habgier. Doch Kant verbindet mit diesem Hinweis auf die ungesellige Verfassung des Menschen keine seiner Freiheits- und Vernunfttheorie grundsätzlich zuwiderlaufende pessimistische Anthropologie wie etwa Thomas Hobbes; denn es bleibt dabei, daß jeder Menschen ,böse' wird aufgrund seiner eigenen freien Entscheidung. Neu ist gegenüber den Analysen des Ersten und Zweiten Stücks, daß es im Dritten Stück die 1 Religion, VI 94. 2 Religion, VI 94.
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anderen Menschen sind, die den Anlaß für die sittliche Verfehlung des Menschen ausmachen. In Analogie zur Rechtslehre der Metaphysik der Sitten, die von einem rechtlichen ,Naturzustand' (,status naturalis') spricht, nennt Kant diese Situation einen ,ethischen Naturzustand', der dadurch charakterisiert ist, daß der Mensch beständig durch das Böse angefeindet wird, das „in ihm und zugleich in jedem andern angetroffen wird"1. Analog zur Forderung der praktischen Vernunft in der Rechtslehre, daß der rechtliche Naturzustand verlassen werden muß, fordert Kant auch hier, daß der ,ethische Naturzustand', weil er alle von ihm Betroffenen in ihrem geforderten Streben nach reiner Gesinnung beschädigt, in Richtung eines ethischbürgerlichen Zustande unter allgemeinen Tugendgesetzen auch gemeinschaftlich verlassen werden muß, - also nicht wie im ersten Argument durch einen individuellen Entschluß nach dem Vorbild des .exemplarischen Menschen', sondern zusammen mit den anderen durch eine gemeinschaftliche Entscheidung, wobei diese natürlich nicht die rechtliche Form eines Vertragsabschlusses haben kann. Ebenfalls anders als im Fall des Verlassens des rechtlichen Naturzustands gibt es hier auch kein ,Erlaubnisgesetz', das es erlaubt, einen anderen Menschen zu zwingen, in den ethischbürgerlichen Zustand einzutreten. Dieser ethischzivile Zustand ist denn auch kein Status unter öffentlichen Rechtsgesetzen, sondern unter öffentlichen Tugendgesetzen. Kant fugt die interessante Bemerkung hinzu, daß dieser ethischbürgerliche Zustand auch deshalb auf Rechtsgesetze verzichten kann, weil er den rechtlichen ,status civilis' bereits voraussetzen muß; denn das ,ethische gemeine Wesen' kann für Kant von Menschen nicht geschaffen werden, ohne daß das öffentlich-rechtliche Gemeinwesen der politischen Republik ihm bereits „zum Grunde liegt"2. Auf dieses Argument werde ich noch zurückkommen. Als drittes Argument für die Gründung eines ethischbürgerlichen Gemeinwesens nennt Kant „eine Pflicht von ihrer eignen Art"3; damit bezeichnet Kant nicht eine Pflicht, die die einzelnen Menschen aufgrund des Sittengesetzes gegenüber sich und gegenüber den anderen Menschen haben wie im ersten und zweiten Argument. Vielmehr redet Kant jetzt von einer Pflicht, in der sich das Kollektiv der Gattung Menschheit sich selbst gegenüber vorfindet. Der Rekurs auf eine solche Pflicht, die die Menschheit sich selbst gegenüber besitzt, setzt die Vernunftidee der ,Gesamtheit aller Menschen' voraus. Sie verweist auf die teleologische Urteilskraft' und auf deren Rede von einem moralischen ,Reich der Zwecke': „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt."4 Kant greift hier auf die Idee des ,höchsten Guts' zurück, wie sie uns bereits im Zusammenhang mit der Kritik der Urteilskraft begegnet war. Das ,höchste Gut' bezeichnet Kant hier
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Religion, Religion, Religion, Religion,
VI VI VI VI
97. 94. 97. 97.
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genauerhin als ein gemeinschaftliches Gut der Gattung aufgrund der ihr eigenen Vernünftigkeit. Die Vereinigung aller Menschen in einem ,ethischen gemeinen Wesen' folgt hier nicht negativ aus der Absicht einer Überwindung des Bösen und das heißt der Ambivalenzen der praktischen Freiheit, die sich im ,Hang zum Bösen' manifestiert hatten, sondern sie ergibt sich positiv aus einer letzten Zwecksetzung, die den vernunftbefahigten Wesen ,objektiv', nämlich in der Vernunftidee selbst, gegeben ist. Das heißt, daß wir Kant zufolge von einem sittlichen Subjekt der Menschheit nur reden können unter der Voraussetzung dieser vernünftigen Zweckidee. In dieser Perspektive betrachtet heißt das ,ethische gemeine Wesen' nun bei Kant ,Volk Gottes', da die Realisierung des ,höchsten Guts' - wie bereits die Kritik der praktischen Vernunft gezeigt hatte - nur als ein Werk Gottes selbst gedacht werden kann, und von einem ,letzten Zweck' der Menschheit in strengem Sinn - wie bereits von der Kritik der Urteilskraft ausgeführt nur von einem vernünftigen, vor allem aber gütigen und gerechten Schöpfer her sinnvoll gesprochen werden kann. Erst im Blick auf diese teleologische Idee der Vernunft und ihrer Forderung, das höchste Gut als ein gemeinschaftliches Gut der Menschheit zu denken, macht es für Kant Sinn, von Gott als dem öffentlichen Gesetzgeber des ,ethisch gemeinen Wesens' zu sprechen. Da seine Gesetze aber nicht Rechtsgesetze, sondern Tugendgesetze sind, können sie nicht anders vorgestellt werden, als in Gestalt einer göttlichen Bestätigung ,aller wahren ethischen Pflichten'. Gott ist also nur in diesem Sinn der oberste Gesetzgeber und ,moralische Weltherrscher'. Aber er ist auch zugleich der oberste Richter, weil nur er die innersten Gesinnungen der Menschen durchschaut. Auch diese Vereinigung der öffentlichen Aufgaben Gottes als Legislator, Exekutor und Richter der Tugendgesetze unterscheidet das Volk Gottes als einige Republik unter öffentlichen Tugendgesetzen von der politischen Republik. Deren politische Gewalt geht zwar einzig vom souveränen Volk aus, doch sie muß rechtsstaatlich in Gestalt einer Trennung der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalt gedacht werden.
III
Ein neues Argument für die Weltrepublik
Mit einem gewissen Recht ist in der Literatur zu Kant darauf hingewiesen worden, daß Kant im Dritten Stück seiner Religionsschrift einen neuen Beitrag zur philosophischen Diskussion über einen möglichen Gottesbeweis vorgelegt hat.1 Dieses neue Argument muß als eine Fortführung der Beiträge Kants in der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft verstanden werden. Ein neuer Gedanke kommt in der Religionsschrift fraglos durch die Idee des ,ethischen gemeinen Wesens' ins Spiel. Daß 1 Vgl. hierzu u.a. Hans Michael Baumgartner, „Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionsschrift: Eine spezielle Form des ethikotheologischen Gottesbeweises?", in: Metaphysikkritik, Ethik, Religion, hg. v. Matthias Lutz-Bachmann, Würzburg 1995, 103-117; sowie ders., „Das .ethische gemeine Wesen' und die Kirche in Kants ,Religionsschrift'", in: Kant über Religion, hg. v. Friedo Ricken u. Francois Marty, Stuttgart 1992, 156-167.
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diese Idee auch ein neues Argument für die Debatte über die Notwendigkeit des politischen Postulats einer Weltrepublik enthält, ist jedoch bislang noch nicht hinlänglich herausgearbeitet worden.1 Wie wir bereits gesehen hatten, stützt sich das zweite Argument zugunsten der Gründung eines ,ethischen gemeinen Wesens' auf die Einsicht, daß die Menschen nicht nur den ,Hang zum Bösen' in sich überwinden wollen, sondern daß sie nur gemeinsam das ,ethische gemeine Wesen' verwirklichen können. Für den konstitutiven Schritt zur Etablierung des ,ethischen gemeinen Wesens' setzt Kant jedoch voraus, daß die Menschen den rechtlichen Naturzustand bereits verlassen haben, da ohne ihn der , ethischbürgerliche Zustand', wie Kant schreibt, „von Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden könnte"2. Dies leuchtet ein, denn nichts dürfte Menschen mehr zur Entfaltung von Neid, Herrschsucht oder gar Gewaltbereitschaft veranlassen als der rechtliche Naturzustand, in dem jeder ,auf eigene Faust' sein Recht zu erreichen sucht. So ist der rechtliche Naturzustand nicht nur rechtsnormativ betrachtet defizitär, sondern auch moralphilosophisch gesehen, nämlich unter dem Aspekt der von der praktischen Vernunft geforderten Überwindung des ,Hangs zum Bösen' betrachtet, ein Zustand, der verlassen werden muß, damit die Menschen miteinander das .ethische gemeine Wesen' realisieren können. Zunächst scheint es, daß es einen analogen Zusammenhang zwischen Recht und Sittlichkeit im dritten Argument nicht gibt; denn wir lesen bei Kant, das Volk Gottes zu konstituieren „ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann"3. Doch auch wenn zutrifft, daß Gott derjenige sein soll, der dieses Volk konstituiert und ihm seine tugendgesetzliche Verfassung gibt, so relativiert Kant diese Auskunft, wenn er die weitere Überlegung hinzufügt: „Deswegen ist aber doch dem Menschen nicht erlaubt, in Ansehung dieses Geschäftes unthätig zu sein, und die Vorsehung walten zu lassen, als ob ein jeder nur seiner moralischen Privatangelegenheit nachgehen, das Ganze der Angelegenheit des menschlichen Geschlechts aber (seiner moralischen Bestimmung nach) einer höheren Weisheit überlassen dürfte. Er muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen."4 Dies aber heißt nichts anderes, als daß die Menschen auch in der Perspektive dieser praktischen Hoffnung auf die Vollendung des ,höchsten' als eines gemeinschaftlichen Guts', nämlich ihrer Konstitution als ein Volk Gottes unter Tugendgesetzen, alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um das Böse, das in der politischen Verfassung des Naturzustands begründet liegt, zu überwinden. 1 Vgl. hierzu den Beitrag von Pierre Laberge, „Das radikale Böse und der Völkerzustand", in: Kant über Religion, hg. v. Friedo Ricken u. Francois Marty, a.a.O., 112-123. 2 Religion, VI 94. 3 Religion, VI 100. 4 Religion, VI 100.
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Das Böse in der gemeinschaftlichen Verfassung der Menschheit als ganzer aber liegt zweifellos darin begründet, daß sich die Staaten in ihrem Verhältnis zueinander nicht in einem Verhältnis eines öffentlichen Rechts befinden, sondern noch immer in einem rechtlichen Naturzustand. Daher spricht Kant in seiner Friedensschrift des Jahres 1795 davon, daß sich die „Bösartigkeit der menschlichen Natur" „unverhohlen" im äußeren Verhältnis der Staaten zueinander „blicken läßt (indessen daß sie im bürgerlich-gesetzlichen Zustande durch den Zwang der Regierung sich sehr verschleiert)"1. Kant verweist kritisch auf die klassische Völkerrechtslehre bei Grotius, Pufendorf und Vattel, die dem geltenden Völkerrecht der Staatenordnung des Westfälischen Friedens zugrunde liegt, die mit ihrer Semantik verschleiert, daß es im zwischenstaatlichen, also internationalen Raum kein Recht gibt, das diesen Namen verdient. Gleichwohl beweist dieser Schein der Rechtmäßigkeit der klassischen Völkerrechtsdoktrin, daß die Staaten, die ihre Konflikte mit Krieg austragen, auf den Anspruch der Rechtmäßigkeit ihres Handelns nicht ganz verzichten können. Dies beweist nach Kant, „daß eine noch größere, ob zwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei, über das böse Princip in ihm (was er nicht ableugnen kann) doch einmal Meister zu werden und dies auch von andern zu hoffen" 2 . Die Überwindung des ,bösen Prinzips' und die Erweckung der ,moralischen Anlage im Menschen' verknüpft Kant in seiner, nur zwei Jahre nach der Religionsschrift erschienenen Schrift Zum Ewigen Frieden mit der Konstitution eines öffentlichen Rechtszustands zwischen den Staaten, genauerhin mit einem „Friedensbund", der sich vom „ F r i e d e n s v e r t r a g " darin unterscheidet, daß er, gemäß der Verurteilung des „Kriegs als Rechtsgang" durch die Vernunft („vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab"3), den Krieg ein für allemal zu beendigen versucht. Dies kann nach Kant dauerhaft nur gelingen, wenn sich die Staaten erstens in ihrem Inneren eine republikanische, d.h. in unserer Sprache demokratische Verfassung geben, und zweitens zu einer „ W e l t r e p u b l i k " oder, wie Kant auch schreibt, einem „ V ö l k e r s t a a t " zusammenschließen; denn ,,[f]ür Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie eben so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) V ö l k e r s t a a t (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden."4 Kant macht unmißverständlich klar, daß dies die Forderung der praktischen Vernunft im Blick auf das Zusammenleben der Menschheit ist, und seine Einsicht gewinnt seither täglich eine größere Aktualität. Gegen diese Forderung spricht aus der Sicht der Friedensschrift von Kant allein die Tatsache, daß
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Frieden, Frieden, Frieden, Frieden,
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355. 355. 355f. 357.
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die Staaten de facto an der alten, von Grotius, Pufendorf und Vattel vertretenen Idee des Völkerrechts festhalten, das keine Einschränkung der einzelstaatlichen Souveränität zuläßt. Weil also die Staaten „nach ihrer Idee vom Völkerrecht", die nicht dem von Kant vertretenen Konzept des neuen Völkerfriedensrechts entspricht, ablehnen, ihre Souveränität so einzuschränken, daß zwischen ihnen ein Zustand des bedingungslosen Friedens durch die Konstitution eines globalen öffentlichen Rechts herrscht, so fordert Kant, daß „an die Stelle der positiven Idee einer W e l t r e p u b l i k " wenigstens ein Völkerbund tritt, der die Aufgabe hat, den Krieg zwischen den Staaten abzuwehren und sich immer weiter auszubreiten. So hofft er, auf daß „nicht alles verloren werden soll", den aus der Bösartigkeit der menschlichen Natur resultierenden „Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung auf[zu]halten", wobei sich Kant dessen bewußt ist, daß der Völkerbund niemals die „beständigen Gefahr [eines] Ausbruchs"1 der friedlosen Gesinnung der Menschen beheben kann. Es ist offenkundig, daß Kant hier aus politisch-pragmatischen Gründen seiner eigenen Argumentation widerspricht.2 Dies ist in der Diskussion zu Kants politischer Philosophie, insbesondere im Blick auf die rechtspolitische Figur einer ,Weltrepublik', eine von maßgeblichen Interpreten geteilte Sicht.3 Sie kann aus der Perspektive des Dritten Stücks der Religionsschrift, nämlich der Lehre Kants vom .ethischen gemeinen Wesen' noch ergänzt werden. Wie wir gesehen hatten, begründet Kant diese Idee in seinem dritten Argument aus einem notwendigen Selbstbezug der Menschheit, genauer einer Pflicht, die die Menschheit sich selbst gegenüber besitzt. Es gehört zu den unverzichtbaren Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit das Volk Gottes errichtet werden kann, daß die Menschheit zuerst den globalen, also internationalen rechtlichen Naturzustand verläßt. Die Konstitution einer weltweiten Ordnung des gerechten öffentlichen Rechts, die den Krieg dauerhaft abwehrt und Frieden durch demokratische Verfahren gewinnt, erweist sich im Lichte des dritten Arguments der Religionsschrift als unverzichtbar, damit es zur Errichtung eines .Volkes Gottes unter ethischen Gesetzen' kommen kann. Genauso wie aus der Perspektive des zweiten Arguments der , ethische Naturzustand' nur verlassen werden kann, wenn ihm die Konstitution einer rechtlichbürgerlichen' Ordnung im republikanischen Staat vorausgeht, so setzt die Errichtung eines ,Volkes Gottes' die Konstitution einer globalen, d.h. einer international gültigen Rechtsordnung voraus. Sie legt die rechtlichen Grundlagen dafür, daß das Volk Gottes seinen moralischen Pflichten entsprechend handeln kann, also den jeweiligen Pflichten gemäß, die die Menschheit sich selbst gegenüber besitzt und die das Volk Gottes Kant zufolge aufgrund der in ihm geltenden Tugendgesetze aus innerer Orientierung befolgt. Zu den rechtlichen Voraussetzungen dieses ethischen Ideals der Menschheit zählen, 1 Frieden, VIII 357. 2 Vgl. hierzu ausführlicher meinen Beitrag: „Kants Friedensidee und das rechtspolitische Konzept einer Weltrepublik", in: Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hg. v. Matthias Lutz-Bachmann u. James Bohman, Frankfurt am Main 1996, 25-44. 3 Vgl. hierzu auch Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 1995.
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modern gesprochen, zumindest die basalen Menschenrechte und die geeigneten rechtlichen Verfahren ihrer globalen Durchsetzung und Bewahrung, aber auch die rechtliche Verfassung einer kosmopolitischen Ordnung, in der der Krieg als ein Mittel der Politik wirksam verhindert werden kann. Ob wir dieses Postulat der Philosophie Kants in seiner Sprache als eine von der moralischen Vernunft geforderte ,Weltrepublik' bezeichnen oder lieber, weil Mißverständnisse vermeidend, als eine demokratisch verfaßte, globale öffentliche Rechtsordnung zwischen und oberhalb der Einzelstaaten, dies ist angesichts der systematischen Argumente, die uns bei Kant begegnen, und angesichts der hohen weltpolitischen Aktualität dieser Idee nur von einer eher nachgeordneten Bedeutung. Diese kosmopolitische Ordnung muß im Sinne der Religionsschrift von Kant gefordert werden, damit die Vernunftidee eines Volkes Gottes unter Tugendgesetzen nicht als unmöglich erscheint. Sie muß im Blick auf die zeitgenössischen Prozesse der Globalisierung und Transnationalisierung von politischer Verantwortung aber auch rechtsethisch im Namen eines Überlebens der Menschheit gefordert werden, durchaus als Ausdruck einer Verpflichtung der Menschheit gegenüber sich selbst. Dabei kommt es im Sinne von Kant vermutlich heute darauf an, daß die Politik verbindliche Schritte in diese Richtung unternimmt und einen Rechtsfortschritt zustande bringt, der sich der kantischen Vernunftidee der Weltrepublik beständig annähert.
LUKASZ MAZUR
Vom Priestertrug zur Organisationsfrage Zur Funktion des historischen Modells in Kants Rel igions schrift „Tym sposobem sama przyroda egiptu, domagajac^ si§ wielkiej, ci^glej i porz^dnej roboty, stworzyia szkielet spoiecznej organizacji tego kraju: lud pracowal, faraon kierowal, kapiani ukladali plany. I jak dhigo te trzy czynniki d^zyty zgodnie do celow wskazanych przez natura, tak dtugo spotecznosc mogla kwitn^c i dokonywac swoich dziel wiecznotrwalych."1
I
Die Priestertrugtheorie in der französischen Aufklärung
Die aufklärerische Kritik der Religion intendiert eine andere Einrichtung der Gesellschaft. Im Begriff des Priestertrugs läßt sich dieser unmittelbare Zusammenhang von Religionskritik und gesellschaftlicher Reorganisation aufzeigen. Die folgende Darstellung des Priestertrugs soll aber zugleich deren Vermittlung klären. Der Zweck des Priestertrugs ist die Instrumentalisierung der Erkenntnis der Prinzipien der ersten Natur fur die Usurpation der Herrschaft über die zweite Natur. Der Begriff der Herrschaft hat ein zirkuläres Moment: Insofern sie als selbständig zu denken ist, kann sie nicht aus anderem abgeleitet sein und verweist logisch immer schon auf Herrschaft. Allerdings sind drei Momente von Herrschaft zu unterscheiden, nach denen sie auf Anderes verwiesen ist: Das erste Moment ist die abstrakte Herrschaft über die Natur, die Naturerkenntnis, die in partikularen Naturzusammenhängen ihre Anwendung findet. „Diese Macht ist eine directe Macht über die Natur überhaupt und nicht zu vergleichen mit der indirecten, die wir ausüben durch Werkzeuge."2 Das zweite Moment ist die Herrschaft über diejenigen, welche die Naturbeherrschung betrieben, also das klassische Herrschaftsverhältnis von Herr und Knecht. Und das dritte Moment ist die Ausübung der Herrschaft über diejenigen, welche die Subjekte, welche die Naturbeherrschung betreiben, subordinieren.3 Der Begriff von Herrschaft ist in sich widersprüchlich, weil der 1 Boleslaw Prus, Faraon, Panstwowy Instytut Wydawniczy, Warszawa 1982, Einleitung, 11. In der deutschen Übersetzung fehlt die Einleitung, deshalb übers, von mir: „Auf diese Weise verlangte die Natur Ägyptens eine große, beständige und nützliche Arbeit der Bevölkerung, und schuf damit eine gesellschaftlich organisierte Form: das Volk arbeitet, der Pharao regiert und die Priester entwickelten Pläne. Solange diese drei Kräfte die von der Natur auferlegten Ziele alle gemeinsam verfolgten, solange konnte diese Gemeinschaft fortschreiten und ihr epochales Schaffen ins Werk setzen." 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: Sämtliche Werke, ed. Hermann Glockner, Bd. 15, Stuttgart 1965, 299. 3 Vgl. Peter Bulthaup, „Arbeit und Wissenschaft", in: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften (Funktion), Lüneburg 1996,48.
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Lukasz M a z u r
logischen Zirkularität, die als Selbstzweck in der Erhaltung von Herrschaft erscheint, historisch ein unmittelbares Gewaltverhältnis der Menschen untereinander zugrundeliegt; Herrschaft als bloße Selbsterhaltung ist inkompatibel mit ihrer Kontinuität in der Geschichte. Um dieses Gewaltverhältnis zu vermitteln, wird durch den Priestertrug die Zustimmung der Menschen zur Herrschaft als deren Voraussetzung erschlichen. Der Priestertrug, der mit der Instrumentalisierung der herrschaftlichen Organisation der Naturbeherrschung sich der Herrschaft als Mittel bedient, ist einerseits zirkulär und mündet andererseits gleichzeitig in einen unendlichen Regreß der Voraussetzung von Herrschaft. 1 Die religiöse Vermittlung des historischen Prozesses von Herrschaft versieht diese mit einer transzendenten Begründung, die den Widerspruch von Selbständigkeit und Abhängigkeit verdeckt. Die durch regressive Synthesis erschlossenen Bedingungen werden als Momente einer aus sich selbst begründeten Herrschaft und damit als Bedingungen der progressiven Synthesis verstanden. Sie werden zum vermeintlich notwendig falschen Schein. Dieser Schein als Ausdruck der Organisation der Herrschaft begründet und konsolidiert die hierarchische Ordnung der Gesellschaft. Die Geheimnisse der Priesterschaft, die jede Kirchenreligion mit sich fuhrt, zu erklären, ohne zugleich die Religion als gegenstandslos abzutun, ist das Thema von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Kants Versuch, der Religion ihren rationalen Gehalt abzutrotzen, ist widersprüchlich, da die Begründung der Religion durch Vernunft notwendig diese selbst in Antinomien verwickelt. Dabei erweist sich der Begriff des Priestertrugs als Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion als eine historische Voraussetzung des Ideologiebegriffs. 2 Für die französische Aufklärung war die Religionskritik von Anfang an verbunden mit einer Priestertrugtheorie, welche die mutwillige Irreführung der Laien zu begründen suchte: „Aber nachdem ich seither das Verhalten der Menschen ein wenig besser untersucht habe und ein wenig tiefer in die dunklen Geheimnisse der schlauen und geschickten Politik derer
1 Die Probleme, die mit dem Verhältnis von Selbständigkeit und Abhängigkeit von Herrschaft verbunden sind, lassen sich an verschiedenen historischen Modellen demonstrieren. So ist zum Beispiel die Inquisition für die katholische Kirche, da sie sich jeglicher Kontrolle entzog, zum Problem geworden. Die Bolschewistische Partei hatte mit einem analogen Problem in Gestalt des NKWD zu kämpfen. Eine problematische Antwort der französischen Aufklärung auf dieses Problem war die Gewaltenteilung im bürgerlichen Staat. Das Problem wurde damit nicht aufgehoben, sondern nur auf verschiedene Institutionen verteilt, und reproduziert sich im Kleinen weiter. Ein literarischer Ausdruck dieses Problems am Beispiel der russischen Provinz ist das Theaterstück Der Revisor von Nikolai Gogol. Die Peripetie steht am Ende dieser Komödie: „Gendarm: Der auf ausdrücklichen Befehl aus Petersburg angekommene Beamte verlangt Sie sofort zu sich. Er ist im Gasthaus abgestiegen." Dieser letzte Satz faßt die ganze Handlung des Stücks als Tautologie zusammen, denn er verweist auf die UnUnterscheidbarkeit des falschen vom richtigen Revisor. Vgl. Nikolai Gogol, Der Revisor. Eine Komödie, aus dem Russischen von Wolfgang Kasack, Stuttgart 1986, 107. 2 Vgl. Kurt Lenk, Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie,
Köln 1964, 18ff.
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eingedrungen bin, die auf nichts anderes als auf Ämter aus sind, [...] die anderen zu regieren, [...] danach habe ich nicht nur die Ursache und den Ausgangspunkt so vieler Irrtümer und so großen Aberglaubens leicht erkennen können, sondern ich habe darüber hinaus den Grund gefunden, warum diejenigen, die in der Welt für weise und aufgeklärt gelten, gegen so viele und abscheuliche Irrtümer und Mißstände nicht ihr Wort erheben"1. Die Kritik der radikalen französischen Frühaufklärung an Religion, welche die Verflechtung derselben mit den Herrschenden aufdecken sollte, resultierte, wie nun zu zeigen ist, in einem Materialismus, der außerstande gewesen ist, eine konsistente Begründung jener Religionskritik anzugeben.2 Darin hat die Religionskritik der französischen Aufklärung ihren Mangel. An Kants Religionskritik, deren vernünftiger Maßstab nur unter der Voraussetzung der Freiheit denkbar ist,3 ist zu zeigen, daß sie der Sache nach direkt mit einer Reorganisation der Gesellschaft verbunden ist. Der französische Materialismus sah sich dagegen gezwungen, die Vorstellung der Freiheit programmatisch aus dem Denken zu verbannen: „Um frei handeln zu können, müßte der Mensch ohne Beweggründe wollen oder wählen können, oder er müßte die Beweggründe daran hindern können, auf seinen Willen zu wirken. Da die Handlung stets die Wirkung des einmal bestimmten Willens ist, und da der Wille nur durch den Beweggrund bestimmt werden kann, [...] so folgt daraus, daß wir niemals Herr über die Bestimmungen unseres eigenen Willens sind, und daß wir folglich niemals frei handeln. Man hat geglaubt, wir seien frei, weil wir einen Willen und die Fähigkeit zum Wählen haben, aber man hat nicht beachtet, daß unserer Wille nur durch Ursachen bewegt wird, die unab-
1 Abbe Meslier, Das Testament des Abbe Meslier, hg. v. Günther Mensching, übers, v. Angelika Oppenheimer, Frankfurt am Main 1976, 63 f. Den Prototyp der Religionskritik, den Priestertrug, der Aufklärung stellt Abbe Meslier in seinem Testament vor. Vgl. dazu Günther Mensching, „Cartesianischer Materialismus und Revolution", in: Das Testament des Abbe Meslier, a.a.O., {Materialismus) 13f. Meslier steht Pate für die späteren französischen Aufklärer, wie zum Beispiel Voltaire, Claude Adrien Helvetius, Denis Diderot, Jean le Rond d'Alembert und Paul Thiry d'Holbach, die so eine avancierte Religionskritik vorlegen konnten. Explizit zum Ausdruck kommt der Einfluß Mesliers bei Voltaire, der Teile der ursprünglichen Fassung mit dem Titel Memoire des penses et des sentiments de Jean Meslier, unter dem Titel Das Testament neu verlegt hat. Vgl. Extraits des sentiments de Jean Meslier 1762. Vgl. dazu auch Mensching, Materialismus, a.a.O., 53ff. 2 Mensehing, Materialismus, a.a.O., 36. 3 Die Kritik als Vermögen der Vernunft kommt ohne die Vorstellung der Freiheit nicht aus, insofern Freiheit Bedingung jeder Kritik an falschen Vorstellungen ist. Vgl. KrV, Β XXVIIf. Das Argument lautet, daß die transzendentale Freiheit als Bedingung von Kritik angenommen werden muß, da die „negative Bestimmung [der, L.M.] transzendentalen Freiheit, die Unabhängigkeit von der durchgängigen Bestimmung der Erscheinungen nach den Kategorien Kausalität und Wechselwirkung, die Voraussetzung der Realisierung technisch-praktischer Zwecke ist". Till Streichelt, Von der Freiheit und ihrer Verkehrung. Eine Studie zu Kant und den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Berlin, New York 2003, 83.
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hängig von uns sind, die unserem Körperbau und der Natur derjenigen Dinge innewohnen, die uns bewegen." 1 Was Kant als Antinomie von Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität faßt und vermittelt, wird hier von d'Holbach unvermittelt und als unvereinbar vorgestellt. Dadurch wird zugleich die Notwendigkeit eines vernunftbestimmten Maßstabs der Kritik verschleiert. Der menschliche Wille ist der Sache nach von der Natur, die bei d'Holbach sowohl als Bestimmung des Subjekts als auch als Gegenstand der Naturwissenschaft behandelt wird, eminent unterschieden. Als gemeinsames Drittes von Mensch und Natur erscheint bei d'Holbach aber die Negation von Freiheit. Jede spekulative Konstruktion, vermöge der dieser Widerspruch zu schlichten gewesen wäre, wird durch d'Holbachs Kritik an der philosophischen Tradition zurückgewiesen. 2 Die Freiheit der Menschen erscheint so als bloße Willkür, deren Bestimmung nur als Abhängigkeit von der Kontingenz der Natur gedacht werden kann. Diese Konstruktion des Freiheits- und Naturbegriffs fuhrt auf einen empirischen Determinismus, der keine allgemeinen und notwendigen Gesetze, sondern nur mehr Urteile von komparativer Allgemeinheit zuläßt. Gegen diese deterministische Konstruktion und für die Notwendigkeit der konsistenten Vorstellung der Freiheit der Willkür argumentiert Kant: „Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft [der Freiheit der Willkür, L.M.] als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ist, was man einsehen will und nie einsehen wird. Den Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem nothwendigen Wesen, zu vereinigen, hat gar keine Schwierigkeit: weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determiniert sei), d.i. nicht im Indeterminism (daß Gutes oder Böses zu thun Gott gleich möglich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminism Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund
1 Paul Thiry d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt (System der Natur), übers, v. Fritz-Georg Voigt, Frankfurt am Main 1978, 164. Diese Position ist auch bei Voltaire zu finden. Vgl. Voltaire, Dictionnaire philosophique 1764. Deut. Übers.: Voltaire, Abbe Beichtkind Cartesianer Philosophisches Wörterbuch, hg. v. Rudolf Noack, übers, v. Erich Salewski, Leipzig Philipp Reclam jun. 1964, 175f. Dort lehnt Voltaire die Existenz des freien Willens ab. „Freiheit hat mit dem Willen nichts zu tun" und folglich ist „freier Wille [...] eine völlig sinnlose Wortbildung" da wir den Grund „von der Entstehung der Ideen [...] ebensowenig wie von der Entstehung der Welt" wissen können. 2 D'Holbach, System der Natur, a.a.O., 164.
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der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin so, daß jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt, sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt; da dann, weil in Gott keine Zeitfolge zu denken ist, diese Schwierigkeit wegfällt."1 Die Bestimmbarkeit der Handlung durch die Willkür ist für Kant zunächst als Vermittlung der Dritten Antinomie der reinen Vernunft erschlossen als transzendentale Bestimmung reiner Vernunft, auf deren Grundlage moralische Freiheit als Faktum der Vernunft notwendig zu denken ist. Ohne diese Voraussetzungen wird jede vernünftige Begründung von Kritik, auch in praktischer Hinsicht, unmöglich. Weder diese avancierten Bestimmungen Kants noch ihre Konsequenzen können jedoch für d'Holbach, aufgrund der von ihm negierten Freiheit, Gegenstand der Reflexion sein; und so wird die Spekulation darauf in toto abgelehnt: „Weil die Menschen in sich selbst eine verborgene Kraft empfanden, die die Bewegungen ihrer Maschinen auf eine ihnen selbst unsichtbare Art lenkt und hervorbringt, glaubten sie, daß die gesamte Natur, deren Energie und Wirkungsart ihnen unbekannt war, ihre Bewegungen einem Agens verdankte, das ihrer Seele ähnlich sei und das auf die große Maschine ebenso wirkte wie ihre Seele auf ihren Körper. Da der Mensch sich für ein Doppelwesen hielt, dachte er sich auch die Natur doppelt; er unterschied sie von der sie bewegenden Kraft, die er allmählich spiritualisierte. Dieses von der Natur unterschiedene Ding wurde als die Seele der Welt angesehen, und die Seelen der Menschen als Teile, die aus dieser allumfassenden Seele hervorgegangen seien."2 Ohne die Freiheit als Grund der Kritik ließ sich die Materie des Geistes, die Seele, nur als eine endliche Substanz der Natur vorstellen.3 Weder die göttliche noch die menschliche Freiheit waren so denkbar. Die Negation der Freiheit verkehrt sich nun als Suspension der Reflexion über eine herrschaftsfreie Gesellschaft der Sache nach in die Affirmation des status quo. Die Zurückweisung der Freiheit führte die französische Aufklärung in der Konsequenz auf die paradoxe Vorstellung von einem befreiten Subjekt, das keinen Begriff der Freiheit mehr haben konnte. So birgt der Tod nach d'Holbach schließlich die vermeintlich endgültige Befreiung von der Natur und der Herrschaft der Menschen: „Der Tod wird die Erde von einer beschwerlichen Last und dich von dir selbst, von deinem grausamsten Feind befreien." 4 Trotz der Mängel der materialistischen Kritik ist d'Holbachs Negation der Freiheit selbst ein Ausdruck von Freiheit und somit deren negative Bestätigung. So als privative Negation verstanden, hat sie eine Funktion in der Kritik an der Kirchenreligion und verdeckt doch zugleich den wahren Grund des Priestertrugs, nämlich die reale Freiheit der Herrschenden. Die Selbsttäuschung der französischen Aufklärer bestand darin, daß sie mittels der Abschaffung der Vorstellung der Freiheit überhaupt die Freiheit der Herrschenden und
1 2 3 4
Religion, VI 50, FN. D'Holbach, System der Natur, a.a.O., 210-211. Vgl. d'Holbach, System der Natur, a.a.O., 210-211. D'Holbach, System der Natur, a.a.O., 296.
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somit die bis dahin einzige reale Gestalt von Freiheit diskreditierten. Nach der Absicht der Materialisten sollte bewiesen werden, daß der Begriff der Freiheit nicht zu begründen war, um jede partikulare Freiheit der Herrschenden zur Disposition zu stellen. Unter dem Vorwand, dem Betrug der Herrschenden zu entgehen, mußte die Freiheit, der vermeintliche Grund des Betrugs, liquidiert werden. Dem folgt die Vorstellung eines willenlosen Subjekts, das nur noch die sanfte Führung der Natur zuläßt: „Laß dich also sanft von der Natur fuhren, bis du friedlich in dem Schöße einschläfst, der dich geboren hat."1 Zwar unterwirft die französische Aufklärung mit der Priestertrugtheorie die religiös-theologische Vorstellung eines übersinnlichen Wesens der Kritik, aber sie vermag keinen konsistenten Grund dieser Kritik anzugeben. In der Kritik an der Vorstellung Gottes, die der Sache nach Freiheit voraussetzt, bleibt der französische Materialismus stehen; der Grund dieser Kritik ist nur durch eine kritische Untersuchung der Vernunft selbst zu bestimmen, die ohne den Begriff der Freiheit, der von der materialistischen Aufklärung diskreditiert wurde, nicht auskommt. Die Destruktion des Freiheitsbegriffs verhindert die Erkenntnis, daß der Priestertrug subjektiv eine Konstruktion der Vernunft ist, und den Menschen nicht ausschließlich objektiv durch die extramentale Realität oktroyiert werden kann. In der Folge kann die Priestertrugtheorie unterschiedene Momente von Herrschaft nicht differenzieren und bleibt aporetisch. Nach Kant ist Moral ohne Freiheit wie Freiheit ohne Moral ein Widerspruch, der weder von den französischen Materialisten theoretisch eingeholt, noch von den Vertretern der Kirche in seiner praktischen Hinsicht reflektiert worden wäre: „Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der speculativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen."2 Kant fügt in einer Anmerkung hinzu: „Damit man hier nicht Inconsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein."3 Der Moralbegriff der Materialisten soll, aus der Natur abgeleitet, ohne Freiheit auskommen: „Diese Moral ist für den Menschen notwendig; sie ist in seiner Natur begründet; seine Pflichten sind etwas Bestimmtes, und sie müssen so lange bestehen wie das Menschengeschlecht selbst; die Moral legt uns eine Verpflichtung auf, weil ohne sie weder die Individuen
1 D'Holbach, System der Natur, a.a.O., 296. 2 KpV, V 4 f. 3 KpV, V 4, FN.
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noch die Gesellschaften existieren oder die Vorteile genießen können, nach denen sie auf Grund ihrer Natur streben müssen. Wir sollten also die Moral befolgen, die auf der Erfahrung und auf der Notwendigkeit der Dinge beruht; wir sollten nicht dem Aberglauben Gehör schenken, der sich auf die Träumereien, Betrügereien und Launen der Einbildungskraft stützt."1 Die Verpflichtung solcher naturalistischer Moral ist rein hypothetisch und bietet ebensowenig einen verbindlichen Maßstab zur Bestimmung menschlichen Handelns wie die kritisierte religiöse Moral. Der radikalen Ablehnung der Möglichkeit einer vernünftigen Organisation der Menschen in religiösen Gemeinschaften in der französischen Frühaufklärung und der damit einhergehenden Ablehnung eines rationalen Gehalts des Christentums überhaupt durch die radikale Negation von Freiheit entsprach die blinde Berufung auf die gerade im Entstehen begriffenen Naturwissenschaften. Diese konnten nun zwar durch eine sichere Begründung der Naturordnung die Objektivität von Naturerkenntnis beweisen, aber waren keineswegs unmittelbar für die Begründung einer gesellschaftlichen Ordnung heranzuziehen.2 Dem Versuch einer Übertragung der noch unzureichenden naturwissenschaftlichen Prinzipien auf die neue Gesellschaftsordnung lag eine mangelhafte Spekulation zugrunde; einmal verwirklicht, sollte jene Übertragung ihre Begründung durch Praxis erfahren. Die mangelhafte Bestimmung von Moral in der französischen Aufklärung bestimmt sowohl den Priestertrug wie dessen materialistische Kritik, die mit der Aufhebung der theoretischen Voraussetzungen von Kritik schließlich das Vorhaben der Aufklärung selbst beschädigt. So ist das von den Aufklärern in dem Versuch, die Tradition der Scholastik als Gegenstand ihrer Kritik zu exponieren, in Anschlag gebrachte Kriterium der Widerspruchfreiheit in sich zusammengefallen, da sie in ihrem Skeptizismus zuallererst die Freiheit zum Gegenstand vernichtender Kritik machten.3 Die ökonomischen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die sich in der Folge der Französischen Revolution historisch durchsetzte, und ihre ideologische Legitimation haben nicht zuletzt eine Voraussetzung in der mangelnden Bestimmung der Freiheit durch die französischen Aufklärung, denn ohne eine hinreichende Bestimmung dieser Bedingung aller Kritik konnte das Verhältnis der Differenz von Subjekt und Gegenstand der Kritik nicht adäquat erfaßt werden. Ohne den Begriff dieser Differenz ist der Zweck von Aufklärung, die vernünftige Organisation der menschlichen Existenz, nur als abstrakte Forderung aufzubringen, aber nicht zu begründen, geschweige denn vernunftgemäß zu realisieren. Gelingt der Aufklärung die Erfüllung ihres selbstauferlegten Zwecks aber 1 D'Holbach, System der Natur, a.a.O., 294. 2 Vgl. Peter Bulthaup, „Naturwissenschaftliche Bildung", in: Funktion, 24f. 3 Vgl. Günther Mensching, Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Frankfurt am Main 1971. Mensching weist an dem Begriff der Wahrheit nach, zu welchen Konsequenzen die skeptizistischen Implikationen des französischen Materialismus führten, 18ff. und 28ff.: „Philosophie intendierte [...] kompromißlose Widerspruchslosigkeit [...] verhinderte aber gerade dadurch, sich als Instanz kritischen Einspruchs gegen die etablierte Unvernunft zu begründen."
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nicht, so steht sie insgesamt zur Disposition. Kants Kritik der Religion aus Vernunftgründen beginnt mit diesem Defizit der französischen Aufklärung, und zwar am Anfang der Kritik der reinen Vernunft: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. R e l i g i o n , durch ihre H e i l i g k e i t , und Gesetzgebung durch ihre M a j e s t ä t , wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können."1
II
Kants Kritik der Religion
Kants Versuch, die Antinomie von Freiheit und Natur zu vermitteln, ist der terminus ad quem der Bestimmung des Vermögens der Vernunft, die erkenntnistheoretisch mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände möglicher Erfahrung entscheidend über den französischen Materialismus hinausgeht. Kant hält dabei einerseits an intellegiblen Gegenständen fest und begrenzt andererseits die Möglichkeit von Erkenntnis so, daß deren Begriff konsistent bleibt. Die Vernunft ist als Vermögen der Kritik widersprüchlich bestimmt. Erstens ist sie in der Bestimmung der Freiheit sowohl Selbstzweck als auch notwendig auf Anderes verwiesen, weil sie sonst leer bliebe. Zweitens muß sie sich als reflexive selbst affizieren, also sich selbst als Objekt setzen und sich selbst gegenüber leidend verhalten, was der transzendentalen Einheit der Apperzeption, der konstituierenden Handlung des Subjekts, widerspricht, denn diese ist als Verstandeshandlung ein tätiges Vermögen.2 Der grundsätzlich antinomische Charakter, der in der Selbstbestimmung der Vernunft liegt, macht sich auch in der Bestimmung des Glaubens geltend. Kant unterscheidet zwischen dem reinen Vernunftglauben und dem historischen Glauben aus Offenbarung. Die Bestimmung „der wahren Kirche" ihrer Quantität nach ist gemäß Kant „ihre Allgemeinheit"3. Daher muß die Vernunftreligion nach dem Modell der universitas, das heißt als „Allheit oder Totalität der Bedingung zu einem gegebenen Bedingten"4 organisiert werden. Dagegen ist der historische Glaube partikular, da er auf Erfahrung beruht und bloß eine komparative Allgemeinheit bei sich fuhrt. Der reine Religionsglaube dagegen ist durch Vernunft begründet, und besitzt unbedingte Geltung. „Wenn also
1 KrV, A XI, FN. 2 Vgl. KrV, Β 13Off. ,,[E]ine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung S y n t h e s i s belegen [...], um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die V e r b i n d u n g die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist." 3 Religion, VI 115. Die kategoriale Bestimmung der Kirche gibt Kant in Religion, VI 101 ff. 4 KrV, Β 379.
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gleich (der unvermeidlichen Einschränkung der menschlichen Vernunft gemäß) ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion affiziert, doch mit dem Bewußtsein, daß er ein solches sei, und dieser als Kirchenglaube ein Prinzip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich kontinuierlich zu nähern, um jenes Leitmittel endlich entbehren zu können, so kann eine solche Kirche immer die w a h r e Kirche heißen."1 Allein der reine Glaube der wahren Kirche ist nach Kant auf moralische Gesinnung gegründet. Da es nur eine Moral gibt, läßt sich nur ein reiner Religionsglaube vorstellen. Die vielen verschiedenen historisch in einer Vielzahl von Offenbarungen gegebenen Kirchenglauben, werden mit der Zeit durch die Vernunft erschlossen. Dieser Prozeß soll in den einen wahren Religionsglauben, die Vernunftreligion, resultieren. Es stellt sich nun die Frage, „ob ein historischer (Kirchen-) Glaube jederzeit als wesentliches Stück des seligmachenden über den reinen Religionsglauben hinzukommen müsse, oder ob er als bloßes Leitmittel endlich, wie ferne diese Zukunft auch sei, in den reinen Religionsglauben übergehen könne"2. Voraussetzung der Bestimmung des Übergangs vom historischen zum reinen Glauben ist das historische und systematische Verhältnis der beiden zueinander. Diesem liegt bei Kant die Antinomie zugrunde, daß der Anspruch auf Erlösung einen moralischen Lebenswandel voraussetzt, der bei den prinzipiell bösen Menschen nur als Besserung vorzustellen ist; diese Besserung aber ist, weil die Menschen böse sind, ohne höheren Beistand, ohne Erlösung nicht zu denken.3 Stellt man sich einen Menschen vor, der nur böse Handlungen vollzogen hat, so ist der Möglichkeit, daß er jemals dazu in der Lage sein wird Gutes zu tun, vorausgesetzt, daß er sich wenigstens die Idee des Guten vorstellen kann. Wenn er nur böse Handlungen vollzieht, kann die Idee des Guten nicht aus ihm selbst kommen, sondern kann ihm nur von einem Anderen gegeben werden: „Also muß der Glaube an ein Verdienst, das nicht das seinige ist und wodurch er mit Gott versöhnt wird, vor aller Bestrebung zu guten Werken vorhergehen; welches dem vorherigen Satze widerstreitet. Dieser Streit kann nicht durch Einsicht in die Kausalbestimmungen der Freiheit des menschlichen Wesens, d.i. der Ursachen, welche machen, daß ein Mensch gut oder böse wird, also nicht theoretisch ausgeglichen werden; denn die Frage übersteigt das ganze Spekulationsvermögen der Vernunft." 4 Da der Mensch diesen Streit nicht spekulativ schlichten kann, ist er ausschließlich auf den praktischen Gebrauch der Vernunft verwiesen. Kant löst diese Antinomie der Vernunft deshalb durch Distinktion in die Hinsicht eines bloß theoretischen Begriffs des Anspruchs auf Genugtuung als regulatives Prinzip einerseits und die des praktischen Begriffs der Pflicht zur moralisch-praktischen Besserung des Lebenswandels zum Guten, als konstitutives Prinzip: „Denn da das letzte Gebot (die Pflicht zum guten Lebenswandel) unbedingt ist, so ist es auch notwendig,
1 Religion,
VI 115.
2 Religion,
V I 116.
3 Vgl. Religion, VI 117. 4 Religion, VI 118.
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daß der Mensch es seinem Glauben als Maxime unterlege, daß er nämlich von der Besserung des Lebens anfange, als der obersten Bedingung, unter der allein ein seligmachender Glaube stattfinden kann." 1 Demnach ist der Kirchenglaube historisch erstes, der reine Religionsglaube systematisch erstes: „Der Kirchenglaube, als ein historischer, fangt mit Recht von dem ersteren an; da er aber nur das Vehikel für den reinen Religionsglauben enthält (in welchem der eigentliche Zweck liegt), so muß das, was in diesem als einem praktischen die Bedingung ist, nämlich die Maxime des T u n s , den Anfang machen, und die des W i s s e n s oder theoretischen Glaubens nur die Befestigung und Vollendung der ersteren bewirken." 2 In der Unterscheidung des Kirchenglaubens vom reinen Religionsglauben erhält die Kritik an der Religion nach Kant eine Begründung durch die Vernunft, indem diese ihre eigene Antinomie auflöst. Im Resultat ist Kants Begriff der Freiheit weder vollständig negiert noch verkehrt sich seine Realisierung in einen bloßen Automatismus. Dem Modell, das einer Regel folgt, ist die Freiheit vorausgesetzt. Unter dieser Bedingung ist die Konstruktion des Modells mit Vernunft und mit ihrem Vermögen der Freiheit vereinbar. Die vollständige Realisierung des Modells fiele nach Kant konsequent mit der Aufhebung von Herrschaft zusammen: „Je übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee eingerichtet wäre, desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und da ist es denn ganz vernünftig, (wie Piaton behauptet), daß bei einer vollkommenen Anordnung derselben [der Gesetzgebung gemäß den Ideen, L.M.] gar keine dergleichen [Strafen, L.M.] nötig sein würden." 3 Wäre die Gesetzgebung ideal eingerichtet, erforderte die Garantie der Einhaltung ihrer Gesetze keine Gewalt und die Herrschaft als idealer Gesetzgeber zielte auf die Abschaffung ihrer eigenen Notwendigkeit als Herrschaft. Diesen Widerspruch, der Ausdruck des zugrundeliegenden Vermögens der Freiheit ist, fuhrt jedes historische Modell, das Idee und Erscheinung vermitteln soll, mit sich. „Ob nun gleich das letztere niemals zustande kommen mag, so ist die Idee doch ganz richtig, welche dieses Maximum zum Urbilde [Modell, L.M.] aufstellt, um nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglichst größten Vollkommenheit immer näher zu bringen. Denn welches der höchste Grad sein mag, bei welchem die Menschheit stehenbleiben müsse, und wie groß also die Kluft, die zwischen den Ideen und ihrer Ausführung notwendig übrigbleibt, sein möge, das kann und soll niemand bestimmen, eben darum, weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Grenze übersteigen kann." 4 Die sachliche Notwendigkeit der vernünftigen Organisation von Gesellschaft ist mit Herrschaft, die immer nur empirisch, durch Gewalt oder ihre Androhung, 5 realisiert werden kann, unvereinbar. Kein Modell der 1 Religion, VI 118. 2 Religion, VI 118. 3 KrV, Β 373. 4 KrV, Β 373. Die These von der langsamen Annährung an die Idee ist analog der Geschichtsphilosophie Kants. Vgl. dazu Idee, VIII 23. 5 Vgl. Peter Bulthaup, Kants Anarchismus, im vorliegenden Band.
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gesellschaftlichen Organisation, das auf Herrschaft beruht, kann deshalb konsistent durch Vernunft begründet werden und auch jede vorgeblich vernünftige Legitimation der Realisierung eines Modells durch Herrschaft ist erschlichen. Die Bestimmung des Modells kann aber als Bedingung der Realisierung der Idee unter empirischen Umständen ein Moment von Herrschaft mit sich führen, impliziert aber zugleich auch deren Aufhebung. Die Vorstellung von Herrschaft als einzige oder substantielle Bestimmung jedes Modells von gesellschaftlicher Organisation ist dagegen die bürgerliche Gestalt des Priestertrugs, bis hin zur Legitimation der Legitimation durch Verfahren.1 Kant will die Abschaffung der Herrschaft organisieren durch deren eigene Organisation als Mittel zur Realisierung von Freiheit: „Weil indessen jede auf statutarischen Gesetzen errichtete Kirche nur sofern die wahre sein kann, als sie in sich ein Prinzip enthält, sich dem reinen Vernunftglauben (als demjenigen, der wenn er praktisch ist, in jedem Glauben eigentlich die Religion ausmacht) beständig zu nähern und den Kirchenglauben (nach dem, was in ihm historisch ist) mit der Zeit entbehren zu können, so werden wir in diesen Gesetzen und an den Beamten der darauf gegründeten Kirche doch einen D i e n s t (cultus) der Kirche sofern setzen können, als diese ihre Lehren und Anordnung jederzeit auf jenen letzten Zweck (einen öffentlichen Religionsglauben) richten. [...] [D]ie Diener einer Kirche, welche darauf gar nicht Rücksicht nehmen, [erklären] die Maxime der kontinuierlichen Annäherung für verdammlich"2. Die allgemeine Paradoxie des Organisierens,3 die in der Priestertrugtheorie als Vernichtung des Maßstabs der Kritik durch die Kritik selbst negativ präformiert ist, wird von Kant am Modell der Kirche mit dem Zweck der Errichtung des Reichs Gottes auf Erden demonstriert.4 In dieser Darstellung verliert die Aufklärung den ursprünglichen emphatischen revolutionären Impetus, der in der materialistischen Aufklärung vorherrschte, zu Gunsten einer durch Vernunftkritik begründeten Kritik, die umso radikaler gegen die vollständige Determination der ontologischen Systeme sich zu behaupten weiß. Diese begründete Kritik fuhrt zwar notwendig auf Antinomien, stellt aber in Gestalt des Modells ein Organon der Vernunft bereit, mittels dessen die Einrichtung menschlicher Verhältnisse wenigstens zu denken möglich ist. Daß die Realisierung dieser Einrichtung ein historisch langwieriger, in seiner Geschichte immer wieder mit
1 Vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1969. 2 Religion, VI 153. 3 Diese ist auch von Lukäcs für die KP ausgearbeitet worden, in Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, 341f: „Daß dies ein langwieriger Prozeß ist, daß wir erst an seinem Anfang stehen, kann und darf uns nicht daran verhindern, bestrebt zu sein: das P r i n z i p , das hier in Erscheinung tritt, das nahende „Reich der Freiheit" als Forderung für den klassenbewußten Arbeiter in der heute möglichen Klarheit zu erkennen. Gerade weil das Entstehen der kommunistischen Partei nur das bewußt getane Werk der klassenbewußten Arbeiter sein kann, ist hier jeder Schritt in der Richtung auf richtige Erkenntnis zugleich ein Schritt der Verwirklichung entgegen." 4 Vgl. Religion, VI 124ff.
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Gewalt verknüpfter Vorgang ist, der weder ohne weiteres abzuschließen, noch heute schon am Ziel wäre, hat Marx angemerkt: „Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte."1 Der Zweifel darüber, ob überhaupt eine vernünftige Organisation von Aufklärung möglich ist und ob nicht vielmehr längst die Vernunft von uns verlassen worden ist, scheint heute mehr denn je angebracht, denn: „die Revolution hat keine Heimat mehr und vielleicht war, was wir fiir das Morgenrot der Freiheit hielten, nur die Maske einer schrecklicheren Sklaverei"2. Dies ist die moderne Form des Priestertrugs, den es heute aufzuklären gilt. Dies aber gänzlich von der Organisationsfrage zu trennen, heißt die Vernunft in den Dienst einer Ideologie zustellen, „denn die Organisation ist die Form der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis"3.
1 Karl Marx, Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien, MEW 9, Berlin 1960, 226. 2 Heiner Müller, Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, Berlin 1981, 32. 3 Georg Lukäcs, Geschichte undKlassenbewußtsein, a.a.O., 302.
Politische Modelle
ADELHEID HOMANN
La Cittä del Sole1: Reich Gottes auf Erden oder „ein bloßes Fetischmachen"2?
Die Idee der Natur, die als „Natur ü b e r h a u p t " 3 in der Kritik der reinen Vernunft kein Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann,4 wird von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit den Begriffen Autonomie und Heteronomie in sich unterschieden: Das moralische Gesetz „soll der Sinnenwelt als einer s i n n l i c h e n N a t u r (was die vernünftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer ü b e r s i n n l i c h e n N a t u r , verschaffen [...]. Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft H e t e r o n o m i e . Die übersinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur A u t o n o m i e der reinen Vernunft gehören." Die Natur also, in der Erscheinungen untereinander nach Gesetzen verknüpft sind, soll zugleich „eine N a t u r u n t e r der A u t o n o m i e der r e i n e n p r a k t i s c h e n V e r n u n f t " 5 sein. Soll die Realisierung des moralischen Gesetzes in der sinnlichen Natur „ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu thun" möglich sein, kann die sinnliche Natur als natura ectypa, „weil sie die mögliche Wirkung der Idee der ersteren [natura archetypa] als Bestimmungsgrundes des Willens enthält", der Vernunft nicht heteronom bleiben: „Das Gesetz dieser Autonomie [...] ist das moralische Gesetz, [...] das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt [...], deren Gegenbild in der Sinnenwelt [...] existiren soll." „Denn in der That versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen
1 Titel der italienischen Urfassung des Textes, der der deutschen Ausgabe Fra Tomaso Campanella, Die Sonnenstadt, hg. v. Cristiane Wyrwa, München 1988 zugrunde gelegen hat; im folgenden: Sonnenstadt. 2 Religion, VI 179. 3 KrV, Β 165. 4 KrV, A 582/B 610, zur Definition der Idee vgl. A 320/B 377. 5 Beide Zitate KpV, V 43.
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würde, und bestimmt unseren Willen die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu ertheilen." 1 Da aber die reine Vernunft nicht von einem physischen Vermögen, diese Form zu verwirklichen, begleitet ist, ist die wirkliche Welt nicht moralisch verfaßt, Natur als Inbegriff von Erscheinungen ist der Vernunft heteronom, die praktische Vernunft ist lediglich gesetzprüfend. 2 Insofern als „unter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft [...] die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit" zu verstehen sein soll, gibt das moralische Gesetz als Form eines Gesetzes der praktischen Vernunft das Kriterium der Beurteilung, „ob etwas Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei oder nicht" 3 . Deren alleinige Objekte, „die vom G u t e n und B ö s e n " 4 , „bestimmen dem Willen zuerst ein Object. Sie stehen selbst aber unter einer praktischen Regel der Vernunft, welche [...] den Willen a priori in Ansehung seines Gegenstandes bestimmt" 5 . Es ist „praktische Urtheilskraft, wodurch dasjenige, was in der Regel allgemein [...] gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird" 6 . Diese Anwendung scheint „besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die darauf beruhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen, [...] angewandt werden soll" 7 . Da „dem Gesetze der Freiheit [...] kein [sinnliches, A.H.] Schema zum Behuf seiner Anwendung in concreto untergelegt werden [kann]"8, entwickelt Kant zum Nachweis der Möglichkeit der Beziehung des Sittengesetzes auf die sinnliche Realität die Typik der reinen praktischen Vernunft9. Die ist doppeldeutig: Einerseits ist das allgemeine Naturgesetz „ein T y p u s der Beurtheilung der [Maxime seiner Handlungen, A.H.] nach sittlichen Prinzipien. Wenn die Maxime der [einzelnen, A.H.] Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich." 10 Andererseits „ist es [hier] nicht um das Schema eines Falles nach Gesetzen, sondern um das Schema [...] eines Gesetzes selbst zu thun" 11 , und man kann „ein Naturgesetz, [...] seiner Form [der Gesetzmäßigkeit, A.H.] nach, [...] den T y p u s des Sittengesetzes nennen." 12 Im ersten Falle geht es um die Subsumtion einzelner Fälle unter das moralische Gesetz und da verwickelt sich die Typik in Widersprüche, auf die die Beurteilung 1 Alle Zitate in diesem Absatz KpV, V 43. 2 Vgl. KpV, V 44. 3 Beide Zitate KpV, V 57. 4 KpV, V 58. 5 KpV, V 67. 6 KpV, V 67. 7 KpV, V 68. 8 KpV, V 69. 9 KpV, V 67-71; bzgl. Typik und natura archetypa/ectypa folge ich der Argumentation von Till Streichert, Von der Freiheit und ihrer Verkehrung, Berlin u.a. 2003, 71-76. 10 KpV, V 69f. 11 KpV, V 68. 12 KpV, V 69.
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einzelner Handlungen unter heteronomen Bedingungen notwendig fuhrt,1 im zweiten Fall geht es um das Verfahren, das moralische Gesetz als einen Begriff, den nur Vernunft denken kann, auf Gegenstände möglicher Erfahrung anzuwenden: „Folglich hat das Sittengesetz kein anderes, die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnißvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an den Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urtheilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den T y p u s des Sittengesetzes nennen."2 ,,[D]ie N a t u r der S i n n e n w e l t als T y p u s einer i n t e l l i g i b e l e n N a t u r zu brauchen [sei erlaubt, so argumentiert Kant, A.H.] so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern blos die F o r m der G e s e t z m ä ß i g k e i t überhaupt [...] darauf beziehe."3 Dies verdanke sich der univoken Bedeutung der Form der Gesetzmäßigkeit in Natur- und Sittengesetz. Der Typik zufolge kann also die Heteronomie als Typus des moralischen Gesetzes fungieren, weil sie selbst schon unter der Form der Gesetzmäßigkeit steht. Eben diese einige Bedeutung des Begriffs der Form der Gesetzmäßigkeit liegt dem Verhältnis von natura archetypa und natura ectypa in der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft4 zugrunde. Die aber zielt, in Umkehrung der Argumentation in der Typik, darauf, der sinnlichen Natur die Form einer übersinnlichen Natur zu verschaffen, um die Heteronomie in Autonomie zu verwandeln. Die so implizierte Doppeldeutigkeit im Begriff der Heteronomie hat fatale Konsequenzen für die Möglichkeit der Beziehung der praktischen Vernunft auf die Realität. Die Natur der Sinnenwelt ist eine Natur aller Gegenstände möglicher Erfahrung, Natur als natura archetypa hat seinsollende Erscheinungen zum Ziel. Weil Erscheinungen als einzelne nicht allgemein und formal sind, ist die Realisierung seinsollender Erscheinungen nicht widerspruchsfrei zu denken und ohne Konflikte nicht zu haben. „Denn man wird aus der Analytik [der reinen praktischen Vernunft, A.H.] ersehen haben, daß, wenn man vor dem moralischen Gesetze irgendein Object unter dem Namen eines Guten als Bestimmungsgrund des Willens annimmt und von ihm dann das oberste praktische Princip ableitet, dieses alsdann jederzeit Heteronomie herbeibringen und das moralische Princip verdrängen würde."5 Objekt α priori des moralisch bestimmten Willens ist das „höchste Gut"6, „das in diesem Begriffe schon eingeschlossene [...] moralische Gesetz [...] [bestimmt] nach
1 2 3 4 5 6
Vgl. die Beispiele KpV, V 44f. KpV, V 69. KpV, V 70. KpV,W 42-50. KPv,\rm. Vgl. KpV, V 108.
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dem Princip der Autonomie den Willen" 1 ; doch bleibt „die Frage: w i e ist das h ö c h ste G u t p r a k t i s c h m ö g l i c h ? [...] eine unaufgelösete Aufgabe". Der Grund für diese Schwierigkeit sei „in der Analytik [der reinen praktischen Vernunft, A.H.] gegeben, nämlich daß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei [vollständig, A.H.] v e r s c h i e d e n e E l e m e n t e des höchsten Guts sind, und ihre Verbindung also n i c h t a n a l y t i s c h erkannt werden könne" 2 , die Synthesis beider Begriffe aber führe auf die Antinomie der praktischen Vernunft: Da weder „die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegungsursache zu Maximen der Tugend [noch] die Maxime der Tugend [...] die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein" 3 könne, sei „das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich [und] auch das moralische Gesetz [...] [müsse] an sich falsch sein" 4 . Zur ,,[k]ritische[n] Aufhebung der Antinomie" 5 greift Kant zunächst auf die Unterscheidung einer sinnlichen Natur, die nach der Form einer übersinnlichen Natur einzurichten sei, zurück (vgl. dazu a.o. die univoke Bedeutung der Form der Gesetzmäßigkeit von Natur- und Sittengesetz) und verweist dann darauf, daß „es nicht unmöglich [sei], daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen [...] nothwendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe, welche Verbindung in einer Natur, die bios Object der Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden und zum höchsten Gut nicht zulangen kann" 6 . Insofern als das Sittengesetz alle nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willen organisieren soll, erweist es sich als Totalitätsbegriff. Sittlichkeit ist Bedingung des höchsten Guts, Glückseligkeit ist deren Folge. 7 Die Totalität des moralischen Gesetzes als Bestimmung aller partikularen Zwecke zur Einheit der sittlichen Gesinnung und nachfolgend der Glückseligkeit bedarf in einer Welt, in der „die handelnde[n] vernünftige[n] Wesen [...] nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur" 8 sind, eines vermittelnden Prinzips. Das ist im Begriff „eines intelligibelen Urhebers der Natur" 9 gedacht. Da nämlich „das moralische Gesetz für sich [...] keine Glückseligkeit [ v e r h e i ß t ] " und die „christliche Sittenlehre diesen Mangel [...] durch die Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetz von ganzer Seele weihen, als eines R e i c h s G o t t e s [ergänzt]"10, „führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur R e l i g i o n , d . i . z u r E r k e n n t n i ß a l l e r
ι KPv,y 110. 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Beide Zitate Kp V, V 112. KpV,Μ 113. KpV, V 114. KpV, V 114, vgl. auch KpV, V 114-119. KpV,V 115. KpV, V 119. KpV,V 124. KpV, V 115, vgl. auch KpV, V 125. KpV, V 128.
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P f l i c h t e n als g ö t t l i c h e r G e b o t e , n i c h t als S a n c t i o n e n , d.i. w i l l k ü r l i c h e , f ü r sich selbst z u f ä l l i g e V e r o r d n u n g e n eines f r e m d e n W i l l e n s , sondern als wesentlicher G e s e t z e eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen"1. Moral hat es so „lediglich mit der Vernunftbedingung [...] [der Glückseligkeit], nicht mit einem Erwerbmittel derselben zu thun"2, nur nachdem sie vollständig vorgetragen ist und „der sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch, das höchste Gut zu befördern (das Reich Gottes zu uns zu bringen), [...] erweckt [...] ist, [...] [kann] sie auch Glückseligkeitslehre genannt werden, weil die H o f f n u n g dazu nur mit der Religion allererst anhebt."3 „Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert"4. Die Vorstellung eines „Reichs Gottes auf Erden" ist Resultat der Nötigung, die Form des moralischen Gesetzes in der ihm fremden Realität zu realisieren: „Es kann also der Moral nicht gleichgültig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge [...] mache, oder nicht: weil dadurch allein der Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objectiv praktische Realität verschafft werden kann."5 Ohne diese Zweckbeziehung könne gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden, Handlungen gingen ins Leere,6 aber die Idee zweckmäßiger Handlungen sei nicht Grundlage der Willensbestimmung, denn sich einen Zweck machen, setze schon sittliche Grundsätze voraus.7 Ob Menschen moralisch gut oder böse sind, müsse beides Wirkung der freien Willkür sein, weil sie anders weder moralisch gut noch böse sein könnten.8 Das moralische Verhältnis ist für Menschen nur im Zusammenleben mit anderen von Bedeutung. Für das Begehrungsvermögen gibt es in der Natur keinen Mangel, als Naturwesen handelten Menschen naturverfallen, im gesellschaftlichen Zusammen mit anderen Menschen geraten sie in Konkurrenz und das „ist genug [...] um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen". Nur „durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen [...] kann für das gute Princip über das Böse ein Sieg gehofft werden"9. Weil es ohne die kollektive Moralisierung keine Moralität gibt, ist die Anerkennung des Rechts als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden
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KpV,\ 129. KpV, V 130. KpV, V 130. Religion, VI 6. Religion, VI 5. Vgl. Religion, VI 4. Vgl. Religion, VI 5. Vgl. Religion, VI 44. Beide Zitate Religion, VI 94.
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kann"1, keine Forderung der Tugendlehre, sondern Bedingung für die Aufrechterhaltung eines rechtlich-bürgerlichen Zustande, in dem die Antagonismen fortbestehen, weil die Förderung des allgemeinen Wohls nicht das Interesse aller ist.2 Dagegen vereinige ein „ e t h i s c h - b ü r g e r l i c h e r Zustand" die Menschen unter „zwangsfreien [...] Tug e n d g e s e t z e n " 3 . ,,[S]o ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen"4. Daher kann das Volk (als staatliche Einrichtung) nicht Gesetzgeber sein,5 sondern nur ein „Herzenskündiger" könne als solcher vorgestellt werden, das sei im „Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher"6 enthalten. „ A l s o ist ein ethisches gemeines Wesen nur [...] als ein Volk G o t t e s , und zwar nach T u g e n d g e s e t z e n , zu denken möglich."7 Die Herkunft der moralischen Gesetze bleibt verborgen, gleichwohl ist die Freiheit der Willkür Voraussetzung für die moralische Bestimmung eines ethischen gemeinen Wesens und dessen Organisation daher Angelegenheit der Menschen.8 Modell der Organisation unter den Bedingungen der Heteronomie ist bei Kant deren Form als eine Kirche. Weil die als wahre sichtbare Kirche auf das Ideal eines ethischen gemeinen Wesens bezogen ist,9 kann an ihrem Modell die Unzulänglichkeit der empirischen Realität eines ethischen gemeinen Wesens innerhalb eines politischen Gemeinwesens kritisiert werden.10 Der Prospekt, im Übergang vom Kirchenglauben zum Vernunftglauben das politische gemeine Wesen als ethisches zu bestimmen,11 provoziert die Auflösung des Gegensatzes zwischen dem Ideal eines absoluten ethischen Ganzen und der empirischen Realität partikularer Gesellschaften in utopischen Staatsentwürfen. Am Modell von Tomaso Campanellas12 Sonnenstadt kann gezeigt werden, wie der Prospekt,
1 MdS, VI 230. 2 Vgl. Religion, VI 95. 3 Religion, VI 95. 4 Religion, VI 96. 5 Religion, VI 98. 6 Religion, VI 99. Wie dem zweiten Postulat in der KpVund dem transzendentalen Ideal in der KrV kommt dem Herzenskündiger die Funktion der Vermittlung von Individualität und Allgemeinheit zu. 7 Religion, VI 99. 8 Vgl. Religion, VI 152. 9 Vgl. Religion, VI 101. 10 Vgl. Religion, VI 104ff., vgl. a. den vierten Teil der Schrift. 11 Vgl. Religion, VI 122. 12 Campanella war 1568 zu Stylo in Kalabrien geboren und starb zu Paris 1639. Im Alter von 15 Jahren trat er dem Dominikanerorden bei. 1599 wurde er in Kerkerhaft genommen, nachdem ein Aufstand gegen die spanische Vorherrschaft, an dem er maßgeblich beteiligt war, scheiterte. 1626 wurde er nach Rom verlegt, wo er 1629 freikam, 1634 floh er nach Frankreich, um einer erneuten Verhaftung zu entgehen. Die Sonnenstadt entstand 1602. Mit dem Text hat Campanella sein Programm des kalabresischen Aufstands gegeben; die italienische Version war 1607 außerhalb des Gefängnisses nachweisbar. 1613 konnte Tobias Adam, der protestantische Erzieher eines deutschen Adligen, Campanella im Gefängnis besuchen und ihm den Druck mehrerer seiner Schriften in Aussicht stellen. Die Sonnenstadt erschien in einer von Campanella besorgten lateinischen Fassung als Anhang zum dritten
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politisches und ethisches Gemeinwesen in Übereinstimmung zu bringen, notwendig in die Vorstellung heteronom bestimmter Verhältnisse zurückfällt. Campanella hat die Machteinheiten seiner Zeit in die Sonnenstadt projiziert, um unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Veränderung aller weltlichen und geistlichen Machtverhältnisse den Beginn der Entwicklung eines gottgewollten Universalstaats1 zu projektieren. Allerdings ist die Sonnenstadt von anderen Staatsgebilden umgeben, ,,[d]as P r o b l e m der E r r i c h t u n g einer v o l l k o m m n e n bürgerlichen V e r f a s s u n g ist von dem P r o b l e m eines g e s e t z m ä ß i g e n äußeren Staatenverhältnisses a b h ä n g i g und kann ohne das l e t z t e r e nicht a u f g e l ö s e t werden" 2 ; ein Zehntel der italienischen Version der Schrift ist explizit auf das Kriegswesen bezogen. Ein genuesischer Seefahrer berichtet seinem Gastgeber von der Stadt, die auf der Insel Ceylon (Taprobana3) liegt. Die Sonnenstadt erscheint als Abglanz der transzendenten Gottheit, die Campanella in seinen metaphysischen Schriften4 als unendliches Wesen vorstellt, dessen eminente Qualitäten entsprechend der scholastischen Vorstellung der Trinität5 Macht, Weisheit und Liebe sind. Die Sonnenstadt ist ein juridisch verfaßter Staat,6 die Herkunft von dessen Staatsvolk liegt im dunkeln: „Das Volk ist aus dem fernen Indien gekommen, und sie waren große Philosophen, die vor dem Verderben durch den Großmogul der Tataren und andere Räuber und Tyrannen geflohen waren. Und so beschlossen sie, in Gemeinschaft ein philosophisches Leben zu führen" 7 . Die Regierung der Stadt ist in die Hände eines philosophischen Priesteriursten8 gelegt, dessen Name ,Metaphysikus' und Amtsbezeichnung ,Sonnenfiirst' ihn als Inbegriff dieses (vernünftigen) Staatswesens erscheinen lassen. Die in der Gottheit vereinigt gedachte dreifache Qualität ist unter drei Fürsten verteilt, deren Namen für deren staatTeil von: Tommaso Campanella, Realis philosophiae epilogisticae, partes 4, hg. v. Tobias Adami, Frankfurt am Main 1623. 1 Campanella war wegen seiner Auflehnung gegen die Statthalter der spanischen Krone eingekerkert. In der während seiner Haft entstandenen Schrift Von der spanischen Monarchie ..., üb. und hg. von Tobias Adam, o.O. 1620, kritisiert er die seinerzeitige Kolonialisierungs- sowie die verfehlte Finanzund Fiskalpolitik der spanischen Krone aufs schärfste, zugleich beschwört er die spanische Weltherrschaft als Bereitungsort fur ein messianisches Friedensreich: Er fordert die wahrhafte Hispanisierung der kolonialisierten Völker, die Verdrängung einheimischer partikularer Herrschaften und die Errichtung einer Universalmonarchie im Zeichen der (katholischen) Religion. Die Teilhabe an Funktionen und Privilegien, die seinerzeit nur dem spanischen Staatsvolk zugänglich waren, sollte für alle Mitglieder in allen Ländern des Reichs von Sonnenaufgang bis -Untergang gesichert sein (vgl. insbes. cap. 4f. u. cap. 31 der Schrift). 2 3 4 5 6 7 8
Idee, VIII24. Vgl. Sonnenstadt, 5. Vgl. u.a. Tobias Adami, Realis philosophiae epilogisticae, a.a.O., part. 1, cap. 1, art. 1. Hist. Wb. d. Phil. Bd. 10, Art. Trinität. Zum Begriff vgl. Religion, VI 95. Sonnenstadt, 14f. Vgl. Sonnenstadt, 10, dort auch folgende Bezeichnungen.
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liehe Aufgabenbereiche stehen. Macht ist zuständig fur Krieg und Frieden, er kümmert sich um Beamtenschaft und Kriegswesen. Weisheit ist zuständig fur Wissenschaften sowie für technische und freie Künste. Liebe obliegt alles, was Produktion, Ernährung und Zeugung betrifft; er ist zuständig fur gesellschaftlich-sittliche Fragen.1 Ein „ethisches gemeines Wesen unter der göttlichen moralischen Gesetzgebung ist [...] kein Gegenstand möglicher Erfahrung", ein gemeines Wesen, welches, wie Campanella für die Sonnenstadt beansprucht, das „Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt"2, sollte gleichwohl die Kennzeichen, die nach Kant aus der „Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung"3 folgen, aufweisen. Diese Kennzeichen, als Bestimmungen einer (bürgerlich-) rechtlichen Gesellschaft ausgelegt, scheinen, was die beiden ersten von Kant angeführten Bestimmungen betrifft, in der Sonnenstadt vorderhand erfüllt: -
Nach innen ist die Staatsauffassung von dem Grundgedanken der Einheit von Macht, Weisheit und Liebe einer von Gottheit erfüllten Weltregierung bestimmt. Unter der Leitung und Vollendung aller Staatsgeschäfte durch den Metaphysikus und der ihm zur Seite stehenden drei Fürsten ist die „ A l l g e m e i n h e i t , folglich numerische Einheit"4 der Sonnenstadt gegenwärtig, welche „die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen [ist], das mit jenem Ideal zusammenstimmt"5. Zu einem Ganzen müssen Menschen sich vereinigen, weil sich an ihnen „ d i e j e n i g e n N a t u r a n l a g e n , die auf den G e b r a u c h [ihrer] Vern u n f t a b g e z i e l t sind, nur in der G a t t u n g n i c h t aber im I n d i v i d u u m v o l l s t ä n d i g e n t w i c k e l n " 6 . Damit gehe, so Kant, der Antagonismus der ,,ungesellige[n] G e s e l l i g k e i t der Menschen [einher], d.i. de[r] Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist"7. Der Antagonismus zwinge zur „ E r r e i c h u n g einer a l l g e m e i n das R e c h t v e r w a l t e n d e n bürgerlichen Gesellschaft, [...] die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne."8 In der Sonnenstadt wird der Rechtszustand, der die Machtansprüche der Einzelnen bindet, aus dem Machtzentrum um den
1 Vgl. Sonnenstadt, 10 und 14. 2 Beide Zitate Religion, VI 101. 3 Religion, VI 101. 4 Ebd., zu Campanellas Reichsidee vgl. u.a. Tobias Adami, Realis philosophiae part. 2, cap. 6 und part. 3, cap. 3 und 7. 5 Religion, VI 101. 6 Idee, VIII 18. 7 Idee, VIII 20. 8 Idee, VIII 22.
epilogisticae,
a.a.O.,
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-
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Metaphysikus garantiert. Nur wer alle Wissenschaften und Künste in tugendhafter Absicht in sich vereinigt, kann Metaphysikus werden.1 Die Beschaffenheit der Rechtsgemeinschaft der Sonnenstadt ist „ L a u t e r k e i t , die Vereinigung unter keinen anderen als m o r a l i s c h e n Triebfedern"2; die Familie als Hort von Eigen- und Sonderinteressen ist ausgeschaltet: „Sie sagen, daß das ganze Eigentum deswegen entsteht, weil man getrennte Häuser baut und eigene Kinder und Frauen hat; daraus entsteht die Eigenliebe. Denn um einen Sohn zu Reichtum und Würde zu erheben oder ihn als Erben zurückzulassen, wird jeder zum Räuber am öffentlichen Gut [...]. Wenn sich jedoch die Eigenliebe verliert, bleibt nur die Gemeinschaft zurück."3 Produktion und Verteilung der Güter sind gesellschaftlich organisiert: Alle Arbeiten und Künste sind allen gemeinsam, die Zuteilung der Arbeiten geschieht gemäß Begabung und Leistungsfähigkeit, außerdem „werden alle Dienstleistungen, Handwerks- und Schwerarbeiten unter allen so aufgeteilt, daß jeder nur vier Stunden am Tag arbeiten muß."4 Solche Verteilung der Arbeit und die anschließende Verteilung der Güter als gemeinschaftliche an alle und doch zugleich entsprechend den Erfordernissen der Aufgaben und damit verbundenen Leistungserwartungen an die Einzelnen macht eine komplizierte Organisation mit entsprechendem Beamtenapparat nötig: ,,[S]ie besitzen alles gemeinsam, und die Beamten passen gut auf, daß niemand mehr hat, als ihm zusteht, aber alle haben so viel, wie sie brauchen." 5 Resultat ist immerhin, daß alle „reich und arm zugleich [sind]: reich, weil sie alles haben und besitzen; arm, weil sie sich nicht daran klammern, den Dingen zu dienen, sondern die Dinge ihnen zu Diensten sind."6
Sind die Regeln der Vereinigung allgemein auf die Moralität der Gesellschaft ausgerichtet und sachhaltig auf diesen einen Zweck hin bestimmt, so steht das praktische „ V e r h ä l t n i ß " der Sonnenstädter untereinander doch nicht „unter dem Prinzip der Freiheit" 7 : -
Insbesondere die staatliche Organisation des Verhältnisses der Geschlechter erfordert einen hohen administrativen Aufwand: „Jeder hat alles, was er braucht, auch zum Vergnügen. Die Fortpflanzung vollzieht sich nach den geheiligten Regeln für das öffentliche Wohl, nicht fur das private, also ist der Gehorsam gegenüber den Beamten notwendig."8 Die Einhaltung der Vorschriften zur Regelung
1 Sonnenstadt, 2
Religion,
20f.
VI 101.
3 Sonnenstadt, 4 Sonnenstadt,
15. 36.
5 6
Sonnenstadt, Sonnenstadt,
16. 36.
7
Religion, VI 102.
8
Sonnenstadt,
34.
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des Geschlechtsverkehrs wird strikt überwacht.1 Die Reproduktion der Gattung wird nach eugenischen Bestimmungen vollzogen, solche Menschenzüchtung unter obrigkeitlicher Aufsicht erweist das Naturverhältnis der Sonnenstädter als heteronom. Der Genuese berichtet: „Der Fürst der Liebe trägt Sorge für die Fortpflanzung, indem er Männer und Frauen so zusammengibt, daß gute Nachkommen entstehen. Sie lachen über uns, daß wir uns um den Nachwuchs der Hunde und Pferde kümmern, aber den eigenen vernachlässigen."2 Der Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit der Menschen, der insbesondere die Entwicklung der Anlagen, die auf den Gebrauch der Vernunft zielen, bestimmt,3 ist mit der gesellschaftlichen Organisation des Erziehungswesens in der Sonnenstadt4 vollständig nach der Seite der Allgemeinheit aufgelöst. In der theoretischen Philosophie Kants stimmen Individualität und Allgemeinheit im „ich denke"5 zusammen, im Moralischen können Menschen Individualität und Allgemeinheit nicht aus eigener Machtvollkommenheit in Übereinstimmung bringen.6 Moralität als Innerliches kann nicht unter öffentlichen Gesetzen stehen,7 ist aber auch nicht „Privatangelegenheit"8 eines jeden. Die Auflösung des Antagonismus nach einer der beiden Seiten ist deshalb ohne Verdrängung des moralischen Prinzips der Bestimmung des nach dem Freiheitsbegriff handelnden Willens zugunsten heteronomer Bestimmungen gar nicht denkbar.9
So wenig das Verhältnis der Sonnenstädter zueinander unter dem Prinzip der Freiheit steht, so wenig entspricht die Modalität10 dieses Staats, der sich dem Anspruch nach einem ethisch gemeinen Wesen annähert, der Art, nach der in einem solchen das Verhältnis von Konstitution und Administration ausgeführt sein sollte: -
Die Beobachtung der Regeln von Kooperation und Arbeitsteilung unter der Aufsicht einer hierarchisch organisierten Beamtenschaft verwandelt diese, die ein notwendiges Mittel der Organisationsform des Staats ist, in dessen Bestimmungsgrund und „den D i e n s t der [Organisation, A.H.] [...] in eine B e h e r r s c h u n g der Glieder derselben"11. So ist der Dienst an der Gemeinschaft „ein bloßes F e t i s c h m a c h e n und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Sonnenstadt, 27-31. Sonnenstadt, 14. Vgl. Idee, VIII 20, 18. Vgl. Sonnenstadt, 18f. KrV, Β 132 f. Vgl. Religion, VI 100. Vgl. Religion, VI 98. Religion, VI 100. Vgl. KpV, V 109. Vgl. Religion, VI 102. Religion, VI 165.
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zur [Sittlichkeit, A.H.] [...] rückgängig macht"1 Die heteronom bestimmte Art der Realisierung des Zwecks, „in Gemeinschaft ein philosophisches Leben zu fuhren" 2 , vernichtet ihn im Beginnen.3 Campanellas Prospekt eines absoluten ethischen Ganzen scheitert an den heteronomen Bedingungen, unter denen er die Utopie eines gottgewollten Universalstaats ausmalt. Diese Bedingungen, die von den Antagonismen partikularer Herrschaften mit lebensbedrohlichen Konsequenzen für die Untertanen gekennzeichnet sind, setzen sich in den von ihm ausgemalten Verhältnissen der Sonnenstadt durch: Nach außen steht die Sonnenstadt in der ständigen Gefahr des Konflikts mit anderen Staaten,4 nach innen sind die Bürger durch den Gehorsam unter eine hierarchische Machtordnung ihrer moralischen Freiheit beraubt.5 Ernst Bloch hat Campanellas Schrift als „Utopie der sozialen Ordnung"6 interpretiert. Die straffe Organisation der Wirkungskreise der drei Fürsten wird zum Ausdruck eines Siegs: „Notwendigkeit als Ausdruck der göttlichen Potentia besiegt den Zufall [...], Bestimmtheit [...] als Ausdruck der göttlichen Sapientia besiegt den Einzelfall [...], Ordnung aber [...] als Ausdruck des göttlichen Amor besiegt den Wechselfall."7 Unter dem Titel „Sokratische Frage nach Freiheit und Ordnung"8 unterscheidet Bloch die kapitalistische Gemeinschaft von der Gemeinschaft im Falle sozialistischer Wirtschaft und Gesellschaft: ,,[D]ie kapitalistische Gemeinschaft wird [...] nur möglich, indem individuelle Freiheit, das ist hier die der Warenbesitzer, im so genannten Rechtsstaat auf das Maß eingeschränkt wird, das die individuelle Freiheit jedes anderen Bürgers unangetastet läßt. Diese Einschränkung ist nicht aus Freiheit genommen, [...] sondern schwebt über ihr, ist als Notstand [der heißt bei Bloch bürgerliche Ordnung, A.H.] ihr aufgesetzt."9 Ganz anders zeige sich Ordnung im anderen Fall: „Sie hat sich, sobald die kapitalistische Bedrohung an den Grenzen aufgehört hat, nicht mehr bewaffnet aufrechtzuerhalten gegen eine unterdrückte Klasse, sondern stellt sich, bei verschwundenem Anlaß zur Unterdrückung, als einverständliche Organisation und Umfassung dar. Solch konkrete Ordnung [...] ist die Struktur dieser nicht-antagonistischen Gemeinschaft schlechthin. [...] Allerdings wird Ordnung so nicht Spiel, sie bewahrt vielmehr ihren Organisations- und Reichscharakter."10
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Religion, VI 179. Sonnenstadt, 15. Vgl. Sonnenstadt, 58-63. Vgl. Sonnenstadt, 40. Vgl. Religion, VI 180. Ernst Bloch, Das Prinzip Ernst Bloch, Das Prinzip Ernst Bloch, Das Prinzip Ernst Bloch, Das Prinzip Ernst Bloch, Das Prinzip
Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung, Hoffnung,
Gesammelte Werke Bd. 5, Frankfurt am Main 1959,607-614. a.a.O., 610f. a.a.O., 614-621. a.a.O., 617. a.a.O., 618.
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Adelheid Homann
Solche Ordnung als Grundlage der Freiheit zeige Campanellas Sonnenstadt: „Gerade als Organisation verhält sie sich darum nicht unbedingt konträr zum wichtigsten Motiv in Campanellas Ordnungs-Utopie: zur Aufhebung von unbeherrschtem Zufall, Einzelfall, Glücksfall (contigentia, casus, fortuna); zum Willen, die Dinge aus einem Zentrum her ins Lot zu bringen. Und nicht grundlos lebt im Marxismus außer dem gleichsam Toleranten, das sich im Reich der Freiheit ausdrückt, auch das gleichsam Kathedralische, das eben im Reich der Freiheit, in der Freiheit als einem Reich sich ausdrückt. Die Wege dazu sind gleichfalls nicht liberal; sie sind Eroberung der Macht im Staat, sind Disziplin, Autorität, zentrale Planung, Generallinie und Orthodoxie. Und das Ziel, welches jeder künftigen Freiheit den Halt gibt, zeigt gleichfalls mit dem Liberalismus der Dissoziierung keinerlei Verwandtschaft; konträr: gerade totale Freiheit verliert sich nicht in einem Haufen hüpfender Beliebigkeiten und in die substanzlose Verzweiflung, die an deren Ende steht, sondern siegt einzig im Willen zur Orthodoxie."1 Das Ziel, das künftiger Freiheit den Halt gibt, ist organisierte Gesellschaft, und die ist nur im Gedanken der Freiheit zu begründen. Solange die Bedingungen der Realisierung des vernünftig bestimmten Willens diesem Ziel nicht kompatibel sind, fuhrt der Wille zur Orthodoxie notwendig in repressive Praxis. Die Inkompatibilität der Bedingungen findet im zitierten Text Ausdruck in dem ,Kathedralischen', d.i. in der hierarchischen Organisation von Herrschaft, die keinen Raum für das ,Reich der Freiheit' läßt. Die Verdrängung aller Moralität in der Praxis staatlicher Organisation beschädigt sowohl im literarischen Modell Sonnenstadt als auch im historischen Modell UdSSR zwangsläufig das Ziel, daß Menschen ihr gesellschaftliches Leben vernünftig organisieren. Die Organisation ist zum Urheber despotischer Konstitution verkehrt, Menschen sind nicht als freie Bürger Urheber der Organisation.2 „Es kommt in dem, was die moralische Gesinnung betrifft, alles auf den obersten Begriff an, dem man seine Pflichten unterordnet. [...] Gottseligkeit [das Reich der Freiheit, A.H.] ist also nicht ein Surrogat der Tugend [der Handlungen gemäß der moralischen Bestimmung des Willens, A.H.] um sie zu entbehren, sondern die Vollendung derselben, um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden zu können."3 Unter den Bedingungen der Heteronomie wird jede positive, der Erfahrung analoge Vorstellung des Reichs Gottes auf Erden zum Fetisch und negiert damit den eigenen Anspruch auf Kritik an der Heteronomie.
1 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., 618. 2 Vgl. Religion, VI 180, auch 152. 3 Religion, VI 185.
RICHARD MATTHEWS
Einige Vorbehalte gegenüber weltbürgerlicher Geschichte
Kants Abscheu vor der Tyrannei ist allgemein bekannt und bewundernswert. Sowohl Die Religion Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als auch die Vorlesungen über Rationaltheologie enthalten eine Menge kritischer Bemerkungen über den Despotismus. Die allgemeine Alleinherrschaft beschreibt er als ein Grab, das noch unheilbarer böse als der Krieg sei.1 In einer kurzen Analyse der mystischen Schwärmerei schildert er die Fesselung freier Menschen durch eine sich aufdringende Hierarchie.2 Außerdem meint er, daß ein Gesetzgeber, der versucht, ein moralisches Reich mittels Gewalt zu erschaffen, seine eigenen Zwecke untergraben muß.3 Daß er die Tyrannei und die Orthodoxie verachte, ist noch eine große Untertreibung. Dementsprechend fordert er besondere Achtung vor der menschlichen Freiheit, Glaubensfreiheit (den Atheismus ausgenommen) und den liberalen Werten im Allgemeinen. Warum aber betont er unsere Gehorsamspflicht gegenüber der Autorität so stark? Warum gibt es dieses furchtbare Gebot, daß wir unter allen Umständen dem Gesetz gehorchen müssen? Weshalb diesen unbedingten Ausschluß des Widerstandsrechts, selbst wenn die Regierung oder Führung gewalttätig bis hin zur Gewalt gegen das Leben ist? Warum ist ein Aufstand α priori unmoralisch? Dieses Problem stellt sich oft in Gesprächen darüber, wie man sich der Polizei eines tyrannischen Staates gegenüber verhalten soll. Nehmen wir zum Beispiel an, daß ich ein Mitglied irgendeiner unterdrückten Minderheit verstecke. Angenommen weiter, daß die Polizei mich vernimmt und fragt, ob ich ihr helfen kann, den Menschen zu finden. Die Frage ist: Darf ich als Kantianer lügen? Und das Schlimme liegt hier besonders darin, daß man ein furchtbares Dilemma hat: entweder die Wahrheit zu sagen, und den Menschen der Gefangenschaft, großem Leid, und vielleicht dem Tod auszuliefern, oder zu lügen und damit nach einer Maxime zu handeln, deren Verallgemeinerung logischerweise zur Zerstörung des Staates führen muß. 1 Religion, VI 34. 2 Religion, VI 130. 3 Religion, VI 96.
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Dieses klassische Dilemma birgt ein noch größeres Problem. Die Frage bezieht sich nämlich weiter auf die Möglichkeit einer unbedingten Gehorsamspflicht gegen ungerechte Gesetze und damit auf das Problem legitimer Mittäterschaft bei staatlichem Unrecht. Das Denkmodell, mit dem ich im letzten Absatz begonnen habe, ist eigentlich zu einfach. Wir haben keine Ahnung, ob es vielleicht gute Gründe fur die Gesetze gibt. Es mag sein, daß es eine Notsituation, einen Ausnahmezustand gibt. Ich weiß auch nicht, warum die Polizei diesen Mann sucht. Vielleicht hat er ein Verbrechen begangen. Wir wissen eigentlich noch nicht, ob wir ein echt moralisches Dilemma haben. Nehmen wir also zusätzlich folgendes an: Die Autorität ist politisch legitim. Sie wurde von der Bevölkerung rechtmäßig gewählt. Die Regierung hat gerade ein Gesetz verkündet, das von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Und in diesem Gesetz steht folgendes: Die Mitglieder einer bestimmten Minderheit sollen verhaftet werden, da sie in irgendeiner Weise den Staat bedrohen. Nehmen wir weiter an, daß es eine allgemeine gesetzliche Pflicht ist, daß alle Bürger solche Personen der Polizei denunzieren müssen. Außerdem gibt es ein Gesetz, daß alle Arten von Widerstand verbietet, sowohl aktiven als auch passiven. Ich darf nicht nichts sagen, das heißt selbst die Entscheidung, gegenüber der Polizei zu schweigen, soll in diesem Fall als gesetzwidrig gelten. Die entscheidende Punkte dieses Denkmodells sind folgende: Es gibt für mich keine Bedrohung, nichts wovor ich mich furchten muß. Es gibt nur die Gesetzgebung einer legitim gewählten Regierung, die mir gebietet, die Mitglieder dieser Minderheit allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit anzuzeigen. Das Problem hier hat wenig mit dem klassischen eines Rechts zum Lügen zu tun. Wir müssen uns nicht darum kümmern, daß wir den Polizisten als Mittel statt als Zweck an sich behandeln. Wir haben einfach ein unmoralisches aber doch legitimes Gesetz, das uns zwingt, eine moralisch unschuldige Person einfach wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer verbotenen Minderheit anzuzeigen. Wir kennen die schlimmen Folgen, die für diese Personen aus dem Gesetz folgen können. Das Gesetz fordert aber Gehorsam von uns, so daß sich die Frage stellt, ob es nach Kant Gründe gibt, die es ermöglichen, dem Gesetz nicht zu gehorchen? Leider sehe ich keine. Allem Anschein nach gibt es die unbedingte Pflicht, selbst Gewalt begünstigende Gesetze eines Willkürherrschers zu befolgen. In der Rechtslehre hebt Kant folgendes hervor: 1. Bei der Erklärung der politischen Gewaltenteilung behauptet Kant, der Wille des Gesetzgebers sei untadelig, das Ausführungsvermögen des Oberbefehlshabers sei unwiderstehlich, und der Rechtsspruch des obersten Richters sei unabänderlich. 1 2. Ein Staatsoberhaupt, meint Kant, kann kein Unrecht tun, weil das ein Widerspruch wäre. 3. Auch besteht er darauf, daß der Satz ,Alle Obrigkeit ist von Gott' „nicht einen G e s c h i c h t s g r u n d der bürgerlichen Verfassung, sondern eine Idee als prak1 Mß 1 , VI 316. 2 MdS, VI 317.
EINIGE VORBEHALTE GEGENÜBER WELTBÜRGERLICHER GESCHICHTE
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tisches Vernunftprincip aussagt: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle."' 4. Und daher folgt der verhängnisvolle Satz: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates giebt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; [...] also kein Recht des A u f s t a n d e s (seditio), noch weniger des A u f r u h r s (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch) unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannis) [...] Der geringste Versuch hiezu ist H o c h v e r r a t h (proditio eminens), und der Verräther dieser Art kann als einer, der sein V a t e r l a n d u m z u b r i n g e n versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden." 2 Bedeutet das wirklich, daß die Entscheidung, einer gesetzlich unterdrückten Minderheit zu helfen, Hochverrat sei? Dies scheint aus Kants Argument zu folgen. Die Leitfrage dieses Aufsatzes ist: Warum zieht Kant einen solchen Schluß? Da dies eine sehr schwierige Frage ist, beschränke ich mich auf eine Analyse der politischen Bemerkungen, die man in den Religionsschriften finden kann. Eine Grundlage für das unbedingte Verbot aller Arten von Widerstand findet man in Kants Vorstellung, daß die Geschichte gemäß einem vernünftigen göttlichen Vorhaben ablaufe. Kant sieht sowohl die menschliche Geschichte als auch das natürliche Universum als vernünftig an. Das bedeutet, daß alle natürlichen und geschichtlichen Ereignisse selbst irgendwie vernünftig sein müssen. Daß sie das nicht wären, wäre nicht mit einem guten, allmächtigen und allwissenden Gott zu vereinbaren. Der Staat, insofern er selbst eine geschichtliche Entwicklung in der Bewegung des Menschen aus dem Naturzustand zur Realisierung des ethischen Gemeinwesens darstellt, muß also auch vernünftig, mithin auch gut sein. Politischer Widerstand ist α priori gegen das göttliche Vorhaben, d.i. böse. Diese These ist an den folgenden Themen zu entwickeln: 1. Die Vernünftigkeit des Kosmos und der weltbürgerlichen Geschichte 2. Der Staat als Teil des göttlichen Plans in der Entwicklung weltbürgerlicher Geschichte 3. Die Entwicklung aus dem Naturzustand durch den rechtlich-bürgerlichen Zustand zum ethischen gemeinen Wesen 4. Die Zweckmäßigkeit des Leids als Mittel zur moralischen Selbstbesserung des Menschengeschlechts 5. Der Hang zum Bösen und der Ungehorsam gegen Gesetze als böse Handlung 6. Kants Vorstellung von Vernunft als ein Verbot α priori, einer Tyrannei zu widerstehen 7. Kants Quietismus als seine bevorzugte Auflösung des Problems - wir sollen die Unterdrückung ertragen, damit das zukünftige ethische Gemeinwesen sich entwickeln kann 1 MdS, VI 319, Hervorhebung vom Verfasser. 2 MdS, VI 320.
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Kants Zustimmung zu Leibniz' Vorstellung von der besten aller möglichen Welten kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Man kann aber auch diese Theorie von der besten Welt unabhängig von aller Theologie nach den Maximen der Vernunft erkennen, ohne daß man nötig hat, bei dem Beweise derselben erst auf die Weisheit eines Schöpfers zu rekurrieren, und zwar auf folgende Art: Es ist in der ganzen organisierten Natur eine notwendige Maxime für unsere Vernunft, anzunehmen, daß bei einem jeden Tier und Pflanze nicht das Mindeste unnütz und ohne Absicht da wäre, sondern daß vielmehr alles die angemessensten Mittel zu gewissen Zwecken enthält."
Und später: „So kann und muß man demnach um der Vernunft selbst willen annehmen, daß alles in der 2 Welt aufs beste eingerichtet sei und das Ganze von allem, was da ist, das bestmöglichste sei."
Der Begriff eines chaotischen, unvernünftigen, zwecklosen Universums, eines Kosmos, der unvollkommen und unvollständig sei, d.i. so etwas wie ein darwinistisches Universum ist nach Kant nicht möglich. Die ontologischen und teleologischen Argumente stehen hier im Hintergrund. Obwohl es nach Kant keine theoretischen Gottesbeweise gibt, und wir somit kein Wissen vom Sein Gottes haben, sind die Beweise immerhin notwendige Annahmen der spekulativen Vernunft, ohne die wir die Moralität, die menschliche Geschichte und Welt nicht verstehen würden.3 Und wenn es einen Gott geben muß, dann hat er die üblichen Eigenschaften - Vollkommenheit, Allwissenheit, und Allmacht. Ein solcher Gott hätte nur die bestmögliche Welt schaffen können, sonst ergäbe sich ein Widerspruch - ein vollkommenes Wesen hätte etwas Unvollkommenes gemacht. Als unendlich gutes Wesen schafft er nur das Beste, das überhaupt zu schaffen ist und die Welt selbst muß daher die bestmögliche sein. Das Gegenteil anzunehmen heißt sich widersprechen. Es würde auf eine Unvollkommenheit, ein Bösesein, eine Negation in Gott hindeuten, was dem Gottesbegriff nach unmöglich ist. Die Welt ist die bestmögliche. Wie ist es dann zu erklären, daß es überhaupt etwas Böses gibt? Wie bringen wir die Wirklichkeit des menschlichen Leids und das Bestehen des Bösen in Einklang mit dem Dasein eines allmächtigen und unendlich guten Schöpfers? Es spricht für Kant, daß er gegen die platonische Tradition das Böse nicht nur als bloße Täuschung oder reine Negation versteht. Er besteht zwar darauf, daß es das Böse an sich nicht gebe, sondern daß es eine Einschränkung des Guten, die unvollständige Entwicklung des Menschen zum Guten, sei.4 Aber nach Kant sind das Leid und das Böse echte Ergebnisse freier Wahl vernünftiger Personen, die noch nicht ihre Vollkommenheit erreicht haben: Sie sind die Ergebnisse moralisch noch nicht gereifter Menschen. Der Mensch bekam von Gott die Fähigkeit, sich - möglicherweise in belie-
1 Immanuel Kant, Vorlesung zur Rationaltheologie in: Kant's Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Band XXVIII 2,2 (im Folgenden VRT), 1199. 2 VRT, XXVIII 2,2 1200. 3 Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1046. 4 Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1078.
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biger Hinsicht - zu vollenden. Seiner Anlage nach war er vollkommen; die Ausbildung derselben war aber roh und unentwickelt.1 Das Beunruhigende daran ist folgendes: Seine Lösung kommt einer Legitimation des Bösen sehr nahe. Gleichgültig dagegen, wieviel Leid und Böses es in der Geschichte gibt, selbst wenn es sich ohne verstehbaren Grund ereignet, müssen wir einen Vernunftgrund dafür innerhalb des göttlichen Plans annehmen. Vielleicht erkennen wir diese Rationalität nicht, aber sie muß angenommen werden, da Gott das gute und vollkommene Wesen ist, das die Welt schuf. Ein solches Wesen begeht weder Fehler noch Böses. Es folgt daraus, daß die Existenz von Leid und von Bösem aus der Sicht Gottes gar nichts Fehlerhaftes oder Bösartiges ist. Die geschichtlichen Ereignisse folgen dem teleologischen Plan Gottes im Einklang mit der Naturkausalität. Wie paßt nun menschliches Leid und das Böse zu einem heiligen Vorhaben? Wie ich schon bemerkt habe, läßt Kant keinen Zweifel daran, daß sie Nebenprodukte unseres Fortschritts zum Guten sind. Die ganze Bewegung der menschlichen Geschichte besteht aus dem Verlassen der Barbarei, eines Zustande in dem unsere moralische Anlage zwar schon vollkommen, aber die Verwirklichung derselben noch roh und im Werden ist. Hier ist Kant der Hobbesschen Vorstellung eines Naturzustands sehr nahe, des Krieges aller gegen alle. Aber wir verlassen den Naturzustand abrupt, um eine politische Gesellschaft zu begründen und zu entwickeln, indem wir Zwangsgesetze akzeptieren, die uns davor schützen, uns gegenseitig allzu großen Schaden zuzufügen. Letztlich bewegen sich Geschichte und Natur in die Richtung der höchsten Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung. 3 Nach Kant gibt es keine Möglichkeit für den Menschen als endliches Wesen, sich moralisch zu bessern, ohne auch fehlerhaft und böse zu handeln. Nur dadurch lernen wir, das Böse zu überwinden. In diesem Sinne ist das Böse selbst eine paradoxe geschichtliche Bedingung der Entwicklung unserer moralischen Anlagen. Diese Anschauung hat schlimme Konsequenzen. Zunächst wird das Leid der Menschen als ihr Verdienst verstanden. Kant sagt: „Das Übel ist nur eine b e s o n d e r e Anstalt, um d i e M e n s c h e n zur G l ü c k s e l i g k e i t zu f ü h r e n . Wir kennen auch zu wenig den Ausgang der Leiden, die Zwecke, die dabei Gott hat, die Beschaffenheit unserer Natur, das Glücklichseyn selbst, als daß wir das Maaß von Glückseligkeit bestimmen könnten, dessen der Mensch hier in der Welt fähig ist."
Wir haben das Leid und das Böse, die uns widerfahren, verdient. Eine ähnliche Vorstellung finden wir in Kants Analyse der Stechfliegen. Nach Kant existieren Stechfliegen als Triebfedern zur Tätigkeit und sogar zum rechten Handeln,5 denn ohne diese Fliegen gäbe es keinen Grund, Sümpfe in nutzbares Land zu verwandeln. Sie sind Triebfedern zur Besserung des Menschen. Sub specie aeternitatis gesehen sind sie 1 2 3 4 5
Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1077. Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1109-1110. Vgl. rar, XXVIII 2,2 1103. VRT, XXVIII 2,2 1080. Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1097-98.
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daher ,gut'. Die Schwierigkeit hierbei liegt in der Frage, ob moralisches Leid auch in diesem Sinne gut ist. Ist nach Kant moralisches Leid auch eine Triebfeder zur geschichtlich-moralischen Entwicklung des Menschen? Ist es irgend möglich, daß eine Gewalttat, eine Vergewaltigung, die Ermordung eines Unschuldigen, eines Kindes, Verhaftung und Folter, ja selbst die völlige Vernichtung einer Gruppe von Menschen auch solche Triebfedern sein könnten? Meint Kant, daß uns solches Leid auch deshalb geschieht, damit wir es in der fernen Zukunft überwinden werden? Geschieht es, damit die Menschen in irgend einer Weise besser werden? Die Antwort ist j a ' . Kant sagt sogar, daß die Heiligkeit Gottes durch die menschliche Überwindung des Leids und des Bösen gerechtfertigt sei. Nur dadurch solle die Menschheit zur Vollkommenheit gelangen können.1 Das Böse ist, nach Kant, eine Triebfeder zur vollständigen moralischen Entwicklung des Menschen. Genau wie die natürliche Welt als ein System physischer Zwecke angesehen wird, gilt die moralische Welt als ein System freier Zwecke.2 Damit ist nicht gesagt, daß Kant das Böse gutheißt, ganz im Gegenteil: Wir wissen, daß keine böse Handlung mit dem moralischen Gesetz vereinbar ist. Allerdings geschehen derartige Übel in der von Gott geschaffenen Welt, und das muß erklärt werden. Das Leid ist unser Verdienst. Es hat eine notwendige Stelle in Gottes heiligem Plan, uns zum Guten zu fuhren. Gott schuf die Welt in dem Wissen, daß wir leiden würden. Ohne solches Leid gäbe es keine moralische Besserung des Menschen und wir würden das Reich der Zwecke nie erreichen können. Wenn wir niemals litten, und das Böse uns nie wiederfuhre, hätten wir keinen Grund, uns zu ändern. Die Laster sind daher auch Triebfedern zum Guten. Die Brutalität dieser Analyse ist hier angemessen, wie ich meine, aufgrund einer Aufwertung des Leids. Aus der Sicht Gottes dürfen wir nicht sagen, daß das Leid und das Böse wirklich böse sind. Aber wenn Gott uns schuf, und wenn wir ohne die Triebfeder des Leids und des Bösen unsere moralische Vollkommenheit nicht erreichen können, dann ist der Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen verwischt. Sub specie aeternitatis gesehen sind solche Erfahrungen die Bedingungen der Möglichkeit der moralischen Entwicklung des Menschen, ein Schluß, den Kant in dem Aufsatz Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht zieht: „Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untäthigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztern heraus zu ziehen."
1 Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1079. 2 Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1102. 3 Idee, VIII 21.
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Entscheidend ist, daß die Natur und die ganze menschliche Geschichte ein fast unermeßliches teleologisches und kausales System darstellen, innerhalb dessen einem bestimmten Wesen, dem Menschen, die notwendige Anlage und die Neigung zu seiner moralischen Besserung gegeben wurden. Am Anfang der menschlichen Geschichte steht so etwas wie der Hobbessche Naturzustand, der zum Fortschreiten in die Richtung einer politischen Gemeinschaft nötigt. Sobald wir uns vergesellschaften, erscheinen Laster wie Habgier und Neid und überhaupt die sogenannte ungesellige Geselligkeit der Menschen. Diese erfordern eine politische Macht, die sie beherrschbar macht. Der Mensch wird einer Gewalt unterworfen, welche die Ausbreitung des Bösen verhindern und die Entwicklung des Guten befördern kann. Die Gründung des Guten in der Menschheit setzt die Einrichtung einer nach Tugendgesetzen organisierten Gemeinschaft voraus.1 Nach Kant genügt also die Gründung einer politischen Gemeinschaft nicht: Sie ist eine notwendige Bedingung des Reiches der Zwecke, des vollkommen verwirklichten ethischen Gemeinwesens, aber sie ist selbst noch kein ethisches Gemeinwesen, weil sie noch Zwangsgesetze voraussetzt. Der Unterschied zwischen einer politischen Gesellschaft und einem ethisches Gemeinwesen besteht darin, daß jene nach Zwangsgesetzen verwaltet wird, und diese nach Tugendgesetzen funktioniert.2 Wir müssen uns hier an den teleologischen Charakter dieser Analyse der Entwicklung der Menschheit aus einem Anfangszustand zur Verwirklichung des Reiches der Zwecke erinnern. Diese Entwicklung wird ausgelöst durch eine Begegnung mit dem Bösen und vollzogen durch dessen Überwindung. Die politische Gemeinschaft ist eine wichtige Stufe in der moralischen Entwicklung des Menschen, aber sie ist nicht deren Ziel. Eine solche Gemeinschaft lebt in einem Zeitalter der Aufklärung, ist aber noch nicht aufgeklärt. Das Ziel der Geschichte wird erst mit der Verwirklichung des ethischen gemeinen Wesens erreicht.3 Der Staat ist die mehr oder weniger verwirklichte politische Gemeinschaft in ihrer Entwicklung zum ethischen gemeinen Wesen. Eine wohlgeordnete Regierung ist z.B. ein Symbol der Gerechtigkeit Gottes auf Erden, mit dem wichtigen Unterschied, daß der Staat nur eine Teileinheit ist, deren Befugnisse auf verschiedene Personen verteilt sind, während in Gott alle Macht in einer Person vereinigt ist.4 Insbesondere ist der politische Staat eine mittlere Stufe auf dem Weg zum Reich der Zwecke. In dieser Hinsicht ist die politische Gemeinschaft mit all ihren Schwächen eine notwendige Bedingung der moralischen Entwicklung des Menschen, und deshalb gut, egal wie tyrannisch sie ist.
1 2 3 4
Vgl. Religion, VI 93. Vgl. Religion, VI 95. Vgl. Religion, VI 96-97. Vgl. VRT, XXVIII 2,2 1074.
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Selbstverständlich ist nach Kant ein tyrannischer Staat eher der Barbarei zuzuordnen. In keiner Weise billigt Kant eine Diktatur oder irgendeinen anderen autoritären Staat. Dennoch ist ein solcher Staat besser als die alternative Möglichkeit des Bürgerkrieges und der Rückkehr in den Naturzustand. Hier sehen wir, glaube ich, den ersten Grund der unbedingten Zurückweisung des Widerstandsrechts bei Kant. Die Verallgemeinerung der Maxime, einem Gesetz nicht zu gehorchen, hätte den völligen Zusammenbruch der politischen Gemeinschaft zur Folge. Das heißt, die Nichtbefolgung eines Gesetzes, selbst eines unmoralischen Gesetzes in einer Diktatur, droht die empirische Möglichkeit der Entwicklung einer eigentlich moralischen Gemeinschaft aufzuheben. Solche Handlungen untergraben die Entwicklung zum Reich der Zwecke. Also folgt diese Bedrohung der gesetzlichen Ordnung durch Gehorsamsverweigerung einer bösen Maxime. Die Verallgemeinerung einer solchen Maxime muß die Destruktion der gesellschaftlichen Ordnung zum Ergebnis haben. Nach Kant ist es gleichgültig, ob man so etwas aus Mitleid oder Gutherzigkeit tut. Unmißverständlich schreibt er: „Denn wenn andre Triebfedern nöthig sind, die Willkür zu g e s e t z m ä ß i g e n Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (ζ. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinct, dergleichen das Mitleiden ist), so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, nach deren Güte aller moralische Werth der Person geschätzt werden muß^ ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse."
Diese Textstelle stimmt mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten überein, gemäß der Gefuhlshandlungen nie apodiktisch sein können. Da sie nicht zu verallgemeinern sind, sind sie gesetzwidrig und deshalb α priori böse. Jede Gehorsamsverweigerung gegenüber einem Gesetz ist daher unmoralisch. Es ist daher konsequent, daß Kant ein Widerstandsrecht unter allen Umständen ausdrücklich ablehnt. Anders zu handeln, hieße böse zu handeln und in der Konsequenz in den Naturzustand zurückzufallen. Im Begriff des zivilen Ungehorsams liegt noch ein weiteres Problem. Nach Kant stellt auch die Endlichkeit unseres Wissens einen Grund dar, Gesetzen gehorchen zu müssen. Er hebt hervor, daß wir die genauen Folgen unserer Handlungen nie voraussagen können. Es mag sein, daß das Gegenteil unserer Absicht eintritt. Eine gesetzwidrige Handlung könnte noch schlimmere Zustände hervorbringen, als sie beseitigen sollte. Die Revolutionen neigen ja dazu, die eigenen Kinder zu verschlingen. Kants Vorbehalt ist begründet: Widerstand und Revolution hängen immer von glücklichen Umständen ab und müssen zudem selbst Gewalt anwenden. Wie könnten wir daher eine solche Revolution anfangen, ohne die Rechte von Personen, Gruppen und Einrichtungen mit Füßen zu treten?
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Religion,V130.
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Nach Kant erkennen wir den göttlichen Plan in der Geschichte nicht. Wir können kaum die Folgen gesetzwidriger Handlungen voraussagen, mit Ausnahme der Wahrscheinlichkeit einer Destabilisierung der Gemeinschaft. Vielleicht haben wir die besten Absichten, aber die Durchführung bringt mehr böse Menschen hervor als zuvor da waren. Die Welt und die Geschichte sind nach Kant vernünftig. Selbst wenn wir diese Rationalität nicht erkennen können, so können wir sie doch aus der praktischen Notwendigkeit der verschiedenen Gottesbeweise erschließen. Die Argumentation mit der Endlichkeit des Wissens birgt aber ihrerseits ein großes Problem. Wir sollen nach verallgemeinerbaren Maximen handeln, selbst wenn dies nachteilige Folgen für uns und fiir andere hätte. Anders zu handeln ist böse. Anhand des Modells, mit dem ich diesen Aufsatz begonnen habe, wird folgendes deutlich: Wir müssen die unterdrückte Person der legitimen Tyrannei ausliefern, weil ein Gesetz dies verlangt. Wenn wir uns ruhig verhalten und schweigen, ist das in diesem Fall gesetzwidrig und α priori unmoralisch. Auch in diesem Fall hätte es logisch die Zerstörung der politischen Gemeinschaft und den Rückfall in den Naturzustand zur Folge, wenn wir dem Gesetz nicht gehorchten. Daher befürwortet Kant den Quietismus. Wir sollen eine ruhige, stoische Einstellung annehmen. Diejenigen, die an das Prinzip des Guten glauben, sollen ruhig ihre Pflicht tun und den Obrigkeiten gehorchen, weil jeder Widerstand gegen ein Gesetz ein Unrecht von fast unermeßlichem Umfang ausmacht. Was sagen wir dagegen? Ob mir die Konsequenzen gefallen oder nicht, das Argument ist folgerichtig und anspruchsvoll. Da ich hier nur versucht habe, Kants Argument und seine Begründung zu skizzieren, würde eine vollständige Widerlegung den Rahmen des Aufsatzes sprengen. Ich schlage aber die folgende Strategie vor: Wenn ich Recht habe, dann hat diese unbedingte Forderung, dem Gesetz zu gehorchen, die merkwürdige Konsequenz, daß gerade diejenige Personen unmoralisch sind, die für uns ethisch vorbildlich sind: Hans und Sophie Scholl, Martin Luther King, Mahatma Ghandi, Nelson Mandela haben neben vielen anderen bekannten und unbekannten Personen in unserer Geschichte absichtlich tyrannischen Gesetzen nicht gehorcht. Haben sie wirklich Hochverrat begangen, wie Kant in der Metaphysik der Sitten ausführt? Wie ist es dagegen möglich, ohne Kants Argumentation aufzugeben, zu sagen, daß sie nicht eigentlich böse gehandelt haben? Nun gibt es keinen Zweifel, daß sie gesetzwidrigen Widerstand geleistet haben und daß sie diesen Widerstand gewählt haben, obwohl er in vielen Fällen auch eine große Gefahr für die jeweilige Gesellschaft darstellte. Damit wäre nach Kant ihr Handeln als böse zu bewerten. Das darf nicht richtig sein. Da solche Personen moralische Vorbilder sind, müssen wir den Schluß vermeiden, ihre Handlungen seien bloß aufgrund der Tatsache des ungesetzlichen Widerstands irgendwie böse. Die Voraussetzungen, die solche Schlüsse haben, dürfen nicht richtig sein, wenn sie grundlegend wichtigen moralischen Anschauungen widersprechen.
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Die Berufung auf Anschauungen ist natürlich kein Argument und genügt allein nicht. Wir müssen daher auch die Vernünftigkeit von Geschichte und Staat als von Gott geschaffenen zurückweisen. Wenn die Geschichte vernünftig wäre, und damit alle Ereignisse innerhalb der Geschichte, dann hätten diese eine skurrile Notwendigkeit und damit ein eigentümliches Recht. Genau dieser Perfektionismus ist zu kritisieren. Anstelle des Begriffs einer vollkommenen Welt und Geschichte brauchen wir eine den Umständen entsprechende Interpretation. Damit geben wir die Idee auf, daß das Leid und das Böse je zu rechtfertigen wären. Wir müssen uns auch fragen, worauf sich die Analyse hier eigentlich bezieht. Hat sie überhaupt mit einzelnen Personen zu tun? Die Vollkommenheit des Menschen, von der Kant spricht, ist nicht die empirischer Menschen. Kant erwägt nicht, daß es sinnlos sein solle, wenn jemand unter etwas leidet, gefoltert oder ermordet wird. Kant analysiert nicht die moralischen Einzelheiten bestimmter Fälle unter ganz besonderen, vielleicht einmaligen Umständen, und in dieser Betrachtungsweise kann er keine Ausnahmen zulassen. Ich glaube, wir können unser Engagement für Menschenrechte und für weltbürgerliche Ideale bewahren, aber nur unter Voraussetzung eines ethischen Pluralismus, der die besonderen und ab und zu vielleicht einmaligen geschichtlichen Umstände menschlichen Handelns anerkennen kann. Wir brauchen eine Revision der kantischen Idee einer weltbürgerlichen Geschichte, aber nicht ihre Zurückweisung.
LEO SESERKO
Die Auflösung der Symbiose von Religion und Metaphysik bei Kant
Der Dogmatismusvorwurf Es wurden neuerdings Vorwürfe gegen Kant erhoben, die sich inhaltlich in dem Sinne zusammenfassen lassen, daß Kant derjenige gewesen sei, der die Symbiose zwischen Religion und Metaphysik unberechtigterweise dadurch aufgelöst habe, daß er eine scharfe Grenze gezogen habe zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und dem positiven Offenbarungsglauben, der zwar zur Seelenbesserung beigetragen habe, aber „mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen [...] endlich zur Fessel"1 geworden sei. Für Hegel, aber auch für Habermas und Adorno, war das der pure Dogmatismus der Aufklärung' Kants. Anstatt diesem Vorwurf zu folgen, fragen wir uns, ob nicht ein anderer Weg eine breitere Perspektive öffnet, nämlich das Lesen der Religionsschrift Kants unter Berücksichtigung einiger Schlüsselfragen unserer Zeit. Auch Hegel hat bemängelt, daß Kant nur den Pyrrhussieg einer Vernunft erreicht habe, die den siegenden, aber dem Geist der unterworfenen Nation erliegenden, Barbaren darin gleiche, daß sie nur ,der äußeren Herrschaft nach die Oberhand' behalten habe. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Er wurde auch in dem Sinne formuliert, daß Hegel den Kreuzestod des Gottessohnes zum Zentrum eines Denkens gemacht hat, das sich die positive Gestalt des Christentums einverleiben will. Für ihn symbolisiert die Menschwerdung Gottes das Leben des philosophischen Geistes. Darin sieht Habermas den Schritt, die religiösen Inhalte in die Form des philosophischen Begriffs aufzuheben. Nur: Gehen sie umgekehrt in der Religionsschrift und in anderen Texten Kants tatsächlich verloren? Stimmt es, daß Hegel die heilsgeschichtliche Dimension der Zukunft einem in sich kreisenden Weltprozeß zum Opfer gebracht hat, Kant sie aber nicht einmal angesprochen sondern außer Acht gelassen hat? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, sehen wir uns in der Gegenwart um und stellen die Frage: Wie steht es mit der Religion, besser: mit der Religiosität, in der Welt
1 Religion, VI 121. Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001, 26.
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von heute? Da muß man denen zustimmen, die die Wiederkehr der religiösen Dimension in all ihren Verkleidungen beklagen, vom religiösen Fundamentalismus der Weltreligionen, mehr oder weniger verdeckt hinter den ideologischen oder kulturellen Symbolinhalten, über eine Fülle von New-Age-Spiritualismen bis hin zur wachsenden religiösen Sensibilität innerhalb der kritischen Theorie selbst. Diese gewaltige Offensive des Obskurantismus ist von weitem nicht auf Theorie- und Ideologiefragen begrenzt, aber in der profaneren Praxis auch nicht einfach als zukunftsorientierter Messianismus abzutun. Sogar der schlimmste Völkermord, den es in der Nachkriegszeit in Europa gegeben hat, der Genozid von Srebrenica, gehört zu dieser Offensive. Diejenigen, die geistig mit dem Strom der Wiederkehr der religiösen Dimension schwimmen, sollten sich über ihre geistige Gesellschaft Fragen stellen. Man kann die Frage nicht umgehen, wie Srebrenica im Europa von heute möglich war. Der ganze Balkankrieg hat sich sozusagen direkt in den Lichtern (der Fernsehübertragungen) der Weltöffentlichkeit abgespielt, und das Morden von Srebrenica wurde angekündigt, ihm wurde ,vorgebeugt', es wurde geleugnet und verharmlost, nachdem es geschehen war, und im nachhinein wurde es quasi legitimiert durch das Argument der ,Involvierung aller kriegfuhrenden Seiten'. Um das Unglaubliche an Srebrenica aufzuklären, bietet sich Kants Theorie der Moral, Politik und Religion als die theoretische Perspektive der radikalen Kritik des kärglich Messianistischen an, das in der Religionsschrift von allen ,Anhängseln' entkleidet wird. Das Verhältnis von politischer Praxis und philosophischer Theorie spiegelt sich in der Religion gewissermaßen als beider Wahrheit: Religion wird einerseits zum Symbolträger politischer Inhalte und sie wird andererseits in ihrer reinsten geistigen Form verteidigt, als frei von jeder Beziehung auf Politik oder Praxis überhaupt. Da gerade Kant Religiosität konsequent von jedem Mißbrauch als eines bloßen Mittels zur Erreichung anderer Zwecke trennen wollte, wird in diesem Aufsatz ausgehend von Kants Religionsschrift gezeigt, wie sich philosophische Theorie und politische Praxis wechselseitig aufeinander beziehen und einander erklären, auch unter dem Gesichtspunkt des Postulats ihrer strikten Trennung.
Der subversive Sinn von Kants Bindung der Religion an Moral Bei der Formulierung des Textes mußte sich Kant ständig der damals herrschenden politischen Situation anpassen und trotz dem subversiven Charakter seiner Texte politisch soweit korrekt agieren, daß er von der Zensur lediglich gerügt würde. Aber er ließ sich nicht vorschreiben, was er schrieb; lieber hat er nach der Religionsschrift über das Thema Religion geschwiegen. Die Religionsschrift ist auch ein Zeitdokument dafür, daß er die Zensur nicht übermäßig provozieren wollte, sondern sich ständig am Rande des religiös und politisch Annehmbaren bewegt hat. Dies ist gut ersichtlich aus der
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Wortwahl der entgegengesetzten Schlüsselwörter, die die Ausgangssituation der Schrift charakterisieren: Er beginnt seinen Religionstext mit der Spannung zwischen dem moralischen Glauben der Vernunftreligion und der Offenbarung (dem Offenbarungglauben).1 Damit wählt er sprachlich zwei Religionsphänomene oder -positionen, um die beiden entgegengesetzten Standpunkte, die er behandeln will, zu bezeichnen. Durch diese Wortwahl und die Ausführung der Religionsschrift hat er sich einen subversiven Platz unter den Autoren seiner Zeit gewählt und es seinen eigenen Zensoren unmöglich gemacht, seine Schrift umstandslos als mit der Religion unvereinbar und für die Zensur inakzeptabel zu erklären. In diesem Sinne hat er sich am Anfang der Religionsschrift innerhalb der Religion positioniert, in der Ausführung der Schrift jedoch die Religion an Moral gebunden und die ganze Palette der religiösen Phänomene zum Gegenstand der Kritik gemacht. Aber gleichzeitig kehrt er immer wieder zur Idee einer solchen Hierarchie (Moral Religion) zurück, indem Moral zwar „keiner Zweckvorstellung bedarf, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müßte", aber es doch möglich sei, „daß sie auf einen solchen Zweck eine nothwendige Beziehung habe, nämlich, nicht als auf den Grund, sondern als auf die nothwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß genommen werden".2 Nur ist diese gesellschaftliche Zweckmäßigkeit für Kant eine „Zweckmäßigkeit aus Freiheit", die zusammen mit der „Zweckmäßigkeit der Natur" erst die „objektiv praktische Realität"3 erhalte. Als er ,die Idee eines höchsten Guts' anspricht, ist sie für ihn (praktisch betrachtet) ,doch nicht leer'. Sie verschafft ,doch (allen Dingen) einen besonderen Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke' und deswegen kann es nach Kants Ansicht der Moral nicht gleichgültig sein, ob sie sich den Begriff von einem Endzweck aller Dinge macht oder nicht. Es handelt sich hier also nicht um eine Verbindlichkeit der Vernunft, sondern um einen als problematisch zulässigen Begriff der praktischen Vernunft. Um das, was jene moralische Idee vom höchsten Gut mit sich bringt, anschaulicher zu machen, bedient sich Kant eines Motivs, das nur dann nicht überrascht, wenn die Religionsschrift aus heutiger Sicht gelesen wird, weil es erst geschichtlich später eine zentrale Stellung eingenommen hat: Entfremdung4. 1 Vgl. Religion, VI 12. 2 Religion, VI 4, kursiv v. Verf. 3 Religion, VI 5. 4 Später wurde besonders bei Hegel und bei Lukäcs dieser Begriff in den Mittelpunkt gerückt, als Entäußerung, als Träger des Geschichtsprinzips, zunehmend als Herausbildung der geschichtlichen Notwendigkeit, der die Rose weichen sollte. Bei Kant dagegen ist das Motiv der Entfremdung als Motiv des parteilosen Urteils thematisch, als Inbegriff des Gesetzes (,die Pflichten'), des gesetzgebenden Verstandes und der Gesetzmäßigkeit. Auf überraschende Weise schließt sich hier Kants Bemühen um die Ergründung der Reinheit der Vernunft zusammen mit dem um die Ergründung der Trennung der Religion von allen ihren ,Anhängseln', jeglichem Mißbrauch für ,andere Zwecke'. In der Perspektive der Religionsschrift sowie der Philosophie Kants überhaupt ist der Entfremdungsbegriff nicht als Entäußerung der Geschichts- und Naturnotwendigkeit zu verstehen, also als eine Art
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Der Ausführung dieses Motivs kommt aber eine Schlüsselstellung innerhalb der Religionsschrift zu: Kant spricht in der Vorrede zur ersten Auflage davon, daß wir uns einen Menschen vorstellen könnten, „der das moralische Gesetz verehrt und sich den Gedanken beifallen läßt [...], welche Welt er wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, e r s c h a f f e n würde, wenn es in seinem Vermögen wäre, und zwar so, daß er sich selbst als Glied in dieselbe hineinsetzte, so würde er sie nicht allein gerade so wählen, als es jene moralische Idee vom höchsten Gut mit sich bringt, wenn ihm bloß die Wahl überlassen wäre"1, aber er sieht sich gemäß dieser Idee selbst in Gefahr, daß ,seine Person an Glückseligkeit einbüßen' würde. Damit charakterisiert Kant die allgemeine menschliche Situation. Aber er fahrt fort, daß dieser Mensch „dieses Urtheil ganz parteilos, gleich als von einem Fremden gefällt, doch zugleich für das seine anzuerkennen sich durch die Vernunft genöthigt fühlen [würde], wodurch der Mensch das in ihm moralisch gewirkte Bedürfniß beweist, zu seinen Pflichten sich noch einen Endzweck, als den Erfolg derselben, zu denken"2. Durch die entfremdete Parteilosigkeit dieses Urteils, die auch als die parteilose Entfremdung verstanden werden kann, daß es zu menschlichen Pflichten weder eines Endzweckes, des höchsten Gutes, noch eines Gottes bedarf, ist Kant zu dem nächsten Schluß gelangt, der direkt dem anfanglichen, ,die Moral bedarf keineswegs der Religion', entgegengesetzt ist und heißt: ,Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert'. Es ist nicht zu übersehen, was Kant zur Wahrnehmung dieser Entfremdung, des Sichfremdfuhlens, getrieben hat: die Macht und ihre Entfremdung gegenüber den Menschen. So geht er unverzüglich zur abschließenden umfangreichen Darlegung der Machtverhältnisse über, die sich im Übergang zur Religion manifestieren: Die Heiligkeit des moralischen Gesetzes wird ,auf der Stufe der Religion' ein Gegenstand der Anbetung, und erscheint in ihrer Majestät. Hier kommt Kants Geschick zum vollen Ausdruck, eine Wertvorstellung gleichzeitig zu affirmieren und zu negieren und sie auch auf dem Niveau der praktischen Philosophie gesellschaftskritisch zu bearbeiten. Wenn er sagt, daß sich ,aber alles, auch das Erhabenste, unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden, verkleinert', deutet er dreierlei an: 1. die überhebliche religiöse Behauptung, daß die Menschen eigentlich der Religion kaum gerecht werden können; 2. daß die Religion von den Menschen (und ihren Unzulänglichkeiten) ihr eigentliches Maß erfahren kann und muß; 3. daß sie von Menschen auch als ein Mythos gebraucht Pazifizierung der Vernunft, die dem Gesetz heteronom unterworfen wird, sondern umgekehrt, als eine Vernunft, die das Gesetz als ihr eigenes Vernunftgesetz erkennt und sich ihm selbst unterwirft. Sie verspürt aber dabei eine Art Entfremdung im eigenen Urteil, in den eigenen Pflichten, im Vernunftgesetz. Das Glück des Sich-zu-Hause-Fühlens geht in der reinen Vernunft und in der Religionsschrift Kants verloren; das ist der Preis ihrer Parteilosigkeit. 1 Religion, VI 5. 2 Religion, VI 6.
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werden kann, der als Ausgangspunkt für die usurpierte Herrschaft der Geistlichkeit dienen kann. Damit ist die Religion bei Kant in das Spannungsfeld zwischen Moral und Machtgewalt gesetzt, er unterzieht eine Reihe der möglichen religiösen (geschichtlich nebeneinander oder nacheinander existierenden) Standpunkte seiner Kritik der praktischen Vernunft und stellt fest: „In allen Glaubensarten, die sich auf Religion beziehn, stößt das Nachforschen hinter ihre innere Beschaffenheit unvermeidlich auf ein G e h e i m n i s , d.i. auf etwas H e i l i g e s , was zwar von jedem einzelnen g e k a n n t , aber doch nicht öffentlich b e k a n n t , d.i. allgemein mitgetheilt werden kann."1 Zwei Jahrhunderte später hat sich die geistige Situation um Moral, Religion und Macht grundlegend geändert. Im Gegensatz zu Kant, für den am Anfang der Religionsschrift Vernunft und Offenbarung zunächst Hand in Hand gegangen waren, der dann aber die Offenbarung und die Offenbarungsreligion der grundlegenden Vernunftkritik unterzieht, um zu zeigen, daß das, was an der Religion Moralisches und Vernünftiges ist, weg von der Offenbarung und zur Kritik der Offenbarungsreligion fuhrt, wird von der Seite der heutigen amtlichen katholischen Theologie das Bedürfnis nach der Verbindung von Offenbarung und Vernunft ganz treuherzig aufgegeben, ja sogar abgelehnt. In der Theologie gibt es eine lange Tradition der Bevorzugung der Offenbarung vor der Vernunft; im Gegensatz zu Kant, für den die Auseinandersetzung mit dieser Tradition und ihre Kritik der Kernpunkt seiner Religionsschrift und der Ansatzpunkt für moralische und demokratiepolitische Konsequenzen waren, begegnen wir heute wieder dem entgegengesetzten Standpunkt, und zwar am direktesten formuliert bei Kardinal Toma§ Spidlik: „Glauben an Gott, der nur eine Idee ist, nur eine Maxime, ist nicht wichtig, aber an den Gott zu glauben, der zum Menschen wurde und der ununterbrochen im Ankommen ist, daß ist der Glaube. Wir glauben nicht an ,einen' Gott. In unserer Religion sagen wir nicht: ,Ich glaube an Gott', sondern ,Ich glaube an Gott, der Vater ist'. Glaube an Gott, der nur eine philosophische Idee ist, ist eigentlich kein Glaube sondern nur ein Denken. Und Leben nach einer solchen Religion ist nur Moralismus, völlig gleich allen anderen Ideologien, die von den Menschen Ausfüllung der Ideen und Prinzipien verlangen. Glauben an Gott Vater bedeutet aber eine bestimmte Beziehung leben. Eine interpersonale Beziehung schließt aber das Leben ein und setzt es voraus. Mehr noch, sie ist Ausdruck der Liebe, ist ein Phänomen der Liebe. Die Liebe aber hat ihre persönliche Note, die nicht mit irgendetwas und mit keiner anderen Sache auszuwechseln ist. Der Glaube ist etwas, was nicht vom Leben und von der persönlichen Wirklichkeit zu trennen ist, was im Wesentlichen an den Begriff der Person gebunden ist".2
1 Religion, VI 137. 2 Das Interview der Woche: Kardinal Tomas Spidlik, Delo, Sobotna priloga, 17.1.2004, 5 (übers, v. L.S.).
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Der Glaube kann danach aus der Perspektive der Allgemeingültigkeit der Vernunftgesetze nicht beurteilt werden, weil er als Singularität, die an eine Person definitiv gebunden ist, keine Allgemeingültigkeit hat oder haben will. Kant mit seinen Bemühungen um den Glauben als allgemeingültige Moral in bezug auf das höchste Gut in der Welt hat aber diese Religionsvorstellung völlig verfehlt, was in einer milden Form der Zensur schon zu seiner Zeit festgestellt wurde. Nur ist das kein Dogmatismus, sondern gerade dessen Gegenteil. Seine Religionsschrift hat mit der Zeit an Schärfe und Aktualität nicht eingebüßt, sondern trägt heute genauso wesentlich zur Klärung des Wesens von Religion, Moral und Machtanspruch und ihrer wechselseitigen Beziehungen bei wie zur Zeit ihrer Veröffentlichung.
Der Gegenstand der Zensur und die Ausübung von Macht Kants Religionschrift wurde zum Gegenstand der Zensur, aber seinerseits hatte auch er die Zensur zu einem seiner hervorragenden Gegenstände gemacht: Er bestreitet die Begründbarkeit der Zensur als einer politischen und gesellschaftlichen Funktion nicht von vornherein, sondern findet sie im Bedürfnis nach Gehorsam als richtendes Gesetz der Gesellschaft angelegt. Den heutigen Leser kann dieses Vorgehen Kants abschrecken und von der Religionsschrift abwenden. Nur ist auch in den modernen Gesellschaften trotz der formalen Abschaffung der Zensur das Zusammenspiel von Machtausübung und Gehorsam eher verklärt als abgeschafft. Heute gehört die Beteuerung und Erklärung der Abwesenheit von Machtausübung zur wesentlichen Charakteristik dieser Ausübung. Die Machtausübung in ihrer direkten, unverklärten Form, ist nur in extremen, von allen Seiten der Gesellschaft für illegitim erklärten Situationen möglich; der Völkermord von Srebrenica war so eine Situation unserer Zeit. Sogar der Angriffskrieg gegen den Irak wurde nachträglich von der Vereinten Nationen für legitim erklärt. So haben heute in einer säkularisierten Zeit die Vereinigten Nationen die Funktion übernommen, die in der vorsäkularisierten Zeit der Religion zugefallen war: die Legitimierung der Machtausübung und des Gehorsams. Obwohl Kant zugibt, daß „das Gebot: gehorche der Obrigkeit! doch auch moralisch ist"1, ist nicht zu übersehen, daß er meint, daß dieses Gebot wie die Beobachtung aller Pflichten zur Religion gezogen werden kann als ein sie ,bestimmender Begriff. Aber anstatt zu versuchen, das Verhältnis von Gehorsam und Religion im Allgemeinen darzustellen, geht er unverzüglich zu einem konkreten Beispiel über, nämlich zur Analyse des ,Bücher richtenden Theologen'. Er spricht hier von den allgemeinen und grundlegenden Strukturen der Religionen: wie das Leben der Menschen angeordnet wird. Die Spannung zwischen Machtausübung und Machtlosigkeit, dem Gott-Vater und dem Anbetenden, dem Zensor und dem Zensurierten, ist ein wesentliches Merkmal der Reli-
1 Religion,
VI 8.
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gion, nur wird diese Spannung von Kardinal Spidlik als ,Liebe' verstanden, von Kant dagegen als Gehorsam gegenüber allen (moralischen) Pflichten und der Obrigkeit. Auch hier verbirgt sich Kant hinter einem anschaulichen Vergleich, um sich den Verhältnissen seiner Zeit, der Zensur und dem damaligen Verständnis von politischer Korrektheit, anzupassen, um sie nicht übermäßig zu provozieren, aber auch um sie philosophisch zum Gegenstand seiner Analyse zu machen: Er vergleicht die Spannung zwischen der biblischen Theologie, die die Offenbarungstheologie darstellt, und der philosophischen Theologie, die hier die Funktion des Denkens und der Wissenschaft ,innerhalb der bloßen Vernunft' einnimmt, also der Philosophie. Er läßt zwar der Theologie die Funktion der ,Oberzensur' zukommen, gibt aber zwei verheerende Beispiele dafür an, in welche Wüstenei diese Übermacht der Theologie gegenüber der Philosophie, d.i. die Machtausübung gegen den menschlichen Verstand, ausarten kann: den Fall von Galileo (in der Wissenschaft) und den Fall derjenigen Völker, die nicht Vermögen oder nicht Ernst genug finden, sich gegen besorgliche Angriffe zu verteidigen, und alles um sich her in Wüstenei verwandeln.1 Was meinte er damit? Wohl die innere geistige Verwüstung, die das Zusammenwachsen von politischer Macht und Religion innerhalb der christianisierten Völker hinterlassen hat, aber auch die geistige Verwüstung, zu der es unter den unterworfenen Völkern gekommen war, die von den fremden Völkern ,zum richtigen Glauben' bekehrt wurden. Er spricht also hier in einer verborgenen Weise die brutale Geschichte der Christianisierung Europas an. die in immer neuen Wellen ihre ,Erneuerung' erfahrt. Gleichzeitig deutet er aber auch die verhängnisvolle Geschichte der anderen , Weltreligionen' an, die sich mit Hilfe politischer Mächte und politischer Unterwerfung ausgebreitet haben.
Religiosität und Machtausübung Wenn wir uns heute umsehen, wo aufrichtiger Glaube und aufrichtiges Beten anzutreffen sind, können wir in der von den Vereinten Nationen ausgerufenen UN-Schutzzone Srebrenica, nach deren Zusammenbruch, Beispiele finden: Nachdem die niederländischen UN-Blauhelmsoldaten den Verteidigern von Srebrenica die wenigen von Serben erbeuteten oder selbstgebastelten schweren Waffen abgenommen, die Entwaffneten aber dann nicht beschützt hatten, hatte die bosnisch-serbische Armee die Enklave eingenommen und in den Wäldern um Srebrenica eine Jagd auf schlecht oder nicht bewaffnete Muslime begonnen. Während dieser Jagd, die tagelang dauerte, haben die serbischen Soldaten die niederländischen UN-Blauhelmsoldaten in mehreren Fällen bedroht, bestohlen und in einem Fall dazu gezwungen, mit in den Wald zu gehen, um Menschenjagd auf Muslime zu machen. „Die Serben gaben dem niederländischen
1 Vgl. Religion, VI 9.
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Soldat Mülder und dem Feldwebel, der bei ihm war, Gewehre zu, wie sie erklärten, ,ihrem eigenen Schutz', und sagten: ,Wenn ihr einen Muslim seht, schießt!' Die Niederländer kletterten also auf den Wagen und saßen schweigend, während er die Straße entlangschepperte. Die Serben lachten und rissen Witze. Sie streiften kurz durch den Wald. Mülder betete, daß sie keinen Muslim finden möchten. Nach zehn Minuten verkrochen sich die Niederländer in den gepanzerten Wagen. Die Serben patrouillierten noch eine Weile und kehrten dann zurück nach Konjevic Polje. Die ,Jagd' hatte zwanzig Minuten gedauert."1 Wie ist dieses Beten des Soldaten Mülder aus der Perspektive der Religionschrift Kants einzuschätzen, nach der das aufrichtige Gebet nicht ein Bitten um etwas, sondern eine innerliche Manifestation von Religion und somit eine Funktion moralischer Vernunft ist?2 Es war kein an die serbischen Soldaten gerichtetes Gebet, die Muslime in diesem Fall nicht zu töten. Es war ein innerliches Beten, obwohl der Soldat Mülder gegen seinen Willen bewaffnet war, und wenigsten hätte versuchen können, die Muslime gegen das Erschießen zu verteidigen, wenn die Serben sie entdeckt hätten. Das aber hätte angesichts der Überzahl der serbischen Soldaten fast den sicheren Tod von Soldat Mülder bedeutet. Diese Situation kann also so gedeutet werden, daß Soldat Mülder in diesem Fall weniger um das Los der geflüchteten Muslime gebetet hatte als vielmehr um sein eigenes Leben. Wenn es so gewesen wäre, wäre auch das ein Fall von Beten aus Berechnung gewesen und daher nicht aufrichtig. Als die bosnisch-serbischen Soldaten die vielen Muslime gefangengenommen hatten und sie in großen Gebäuden, auf Fußballplätzen etc. zusammengetrieben hatten, um sie danach reihenweise zu Tötungsplätzen zu bringen, haben einige Muslime, in Vorahnung dessen, was mit ihnen bald geschehen würde und was schließlich auch geschah, gebetet, und die serbischen Wächter haben versucht, sie daran zu hindern. Dieses Beten war anderer Art als das Beten des Soldaten Mülder. Die muslimischen Männer, deren Frauen und Kinder von ihnen getrennt wurden und die die bosnisch-serbischen Soldaten zumeist entkommen ließen, erwarteten den Tod. Der Umstand, daß sie vor den serbischen Wachen zu beten begannen, bedeutete, daß sie nicht mehr daran glaubten, sie könnten von serbischen Soldaten für begnadigungswürdig gehalten werden. Sie haben sich gegenüber ihren Wachen durch ihr Beten endgültig entblößt. Ihr Beten war keine religiöse Tat aus Berechnung, sondern aufrichtig. Sie hatten durch ihr islamisches Gebet ihre Kerkermeister gleichzeitig provoziert, sie versuchten nicht mehr, ihre religiöse islamische Identität zu verbergen, wegen der sie unmittelbar danach ermordet wurden. Dieses Beten war aber auch wahnsinnig, da sie dadurch den serbischen Soldaten einen religiösen Anlaß für ihre Ermordung lieferten. Allerdings kann man den wenigen Zeugenberichten entnehmen, daß serbisch-bosnischen Soldaten großenteils nur Befehle aus-
1 David Rohde, Die letzten Tage von Srebrenica. 1997, 302. 2 Vgl. Religion, VI 195 FN.
Was geschah und wie es möglich wurde, Reinbek
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geführt haben, oder einfach in einen Rausch des Tötens verfallen sind, sozusagen im Wiederholungszwang, wie Freud es nennt, dabei aber nicht persönlich religiös motiviert waren. Diejenigen serbischen Soldaten, die spontan versucht haben, das Beten der festgenommenen Muslime zu verhindern, agierten aus der Position der Macht heraus ,rational', sie versuchten sozusagen, die religiöse Selbstbeschuldigung und Anerkennung der muslimischen Identität zu verhindern, den eigentlichen Grund fur die darauffolgende Ermordung der Muslime. Das Beten war das einzige, was den Muslimen nach Monaten der Belagerung, des Hungerns und der Aufforderungen zum Aufgeben vor ihrem Tod zu tun übrig blieb. Sie waren gegenüber ihren Kerkermeistern völlig auf sich selbst gestellt. Die Vereinten Nationen hatten sie im Stich gelassen, das Rote Kreuz hatte sich auf beschämende Weise aus der Affäre gezogen, die EU und ihre Blauhelmsoldaten gleichfalls, ihre eigene Regierung in Sarajevo hatte sie geopfert, benutzte sogar dieses schreckliche Massaker, um sich selbst mit Hilfe der empörten internationalen Öffentlichkeit besser schützen zu können. Kant meint, im Fall des aufrichtigen Betens, „sucht der Mensch nur auf sich selbst (zu Belebung seiner Gesinnungen vermittelst der Idee von Gott) [zu wirken]"1. Die Männer und Jungen, denen die Erschießung direkt bevorstand, sahen keine Hoffnung mehr für sich und versuchten nicht mehr, die serbischen Soldaten davon zu überzeugen, daß es sich in ihrem persönlichem Falle nur um ein Mißverständnis handele. So fanden sie sich, obwohl viele zusammengetrieben und festgehalten worden waren, jeder auf sich gestellt, in völliger Ohnmacht - und haben aufrichtig gebetet der Verzweiflung völliger Hilf- und Aussichtslosigkeit. Obwohl sie schon während der Belagerung und während der Flucht um jede Würde gebracht worden waren, war ihr berechnungsloses Beten die letzte wahnsinnige Bewahrung ihrer Würde und ihrer Selbstachtung. Es war ein Glaubensakt ohne jeden Hintergedanken, sie war kein Mittel, um irgendeinen Vorteil zu erreichen. Wenn diese für die Weltöffentlichkeit und ihre offiziellen Vertreter in den Vereinten Nationen beschämende und entwürdigende Situation der letzte Ort des aufrichtigen Gebets und Glaubens war, erhält es für die moderne Gesellschaft eine eigentümliche Bedeutung, daß Kant dieses letzte Verteidigungsschild den ohnmächtigen Menschen, wie immer auch ihre Ohnmacht konkret verschieden sein kann, nicht entreißen will, sondern betont, daß die Wahrheit des Vorrangs des inneren vor dem buchstäblichen Gebet in bezug auf die Selbstbehauptung der Gesinnung „ein jeder bestätigt finden [wird], wenn er sich einen frommen und gutmeinenden, übrigens aber in Ansehung solcher gereinigten Religionsbegriffe eingeschränkten Menschen denkt, den ein Anderer, ich will nicht sagen, im lauten Beten, sondern auch nur in der dieses anzeigenden Geberdung überraschte. Man wird, ohne daß ich es sage, von selbst erwarten, daß jener darüber in Verwirrung oder Verlegenheit, gleich als über einen Zustand, dessen er sich zu schämen habe, gerathen werde. Warum das aber? Daß ein Mensch mit 1 Religion,
VI 195 FN.
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sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, daß er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe; und eben so beurtheilt man ihn (nicht ganz mit Unrecht), wenn man ihn, da er allein ist, auf einer Beschäftigung oder Geberdung betrifft, die der nur haben kann, welcher jemand außer sich vor Augen hat, was doch in dem angenommenen Beispiele der Fall nicht ist."1
Der Schluß Die Religionsschrift von Kant bewegt sich thematisch in einer Breite, die den späteren Religionsanalysen von Marx, Nietzsche, Freud und Russell den Weg bahnt. Andererseits trägt sie der französischen Aufklärung Voltaires und anderer Rechnung. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß der Vorwurf eines aufklärerischen Dogmatismus an die Religionsschrift keineswegs berechtigt ist. Die Schrift ist ein integraler Teil der Philosophie Kants, und zwar auch ein Teil seiner politischen Philosophie. Sie bietet sich an als Instrument zum Verstehen von Schlüsselereignissen unserer Zeit (Völkermord von Srebrenica, die Kollision der Weltreligionen, Glaubensantinomien des Einzelnen etc.) und wirft die Frage auf, ob nicht umgekehrt die Schriften Kants als Ausgangspunkt genommen werden können für die Untersuchung der großen (eben zusammengebrochenen) Ideologien des 20. Jahrhunderts sowie der Ideologie kultureller Überlegenheit überhaupt auf messianistische Elemente, mit denen so zu verfahren wäre, wie Kant in der Religionsschrift mit den Religionssphären verfährt. Nachdem es schien, daß die Aufklärung am Ziel ihres Weges angekommen sei, ist das Aufleben des Obskurantismus von heute ein Grund für die entgegengesetzte Behauptung: daß es nämlich an der Zeit ist, die Aufklärung Kants als einen der Ausgangspunkte für die Interpretation und das Verstehen aktueller Geschehnisse, Mythen und philosophischer Theorien zu nehmen. Der Dogmatismusvorwurf gegen Kant kann nicht in der Religionsschrift begründet werden, weil sie ihrer Zeit voraus war und heute durchaus eine produktive Rolle spielen kann. Kant hat an allen religiösen Phänomenen gezeigt, daß (wahre) Religiosität von jedem Vorteils- und Nutzeninteresse getrennt, also nicht instrumentalisiert werden sollte. Religion soll vor Instrumentalisierung jeder Art prinzipiell bewahrt werden. Oder umgekehrt: Er hat jede Art von Religiosität unter dem Gesichtspunkt der Instrumentalisierung sowie unter dem Gesichtspunkt der Fähigkeit der Menschen, den einzelnen religiösen Geboten zu entsprechen, überprüft und hat erst dann das Vernunfturteil über sie gefällt. Es ist in der Religionsschrift keine Spur von abstrakter Moralisierung der Religion oder von herabwürdigender Ablehnung in aufklärerischer Manier, wie ihm
1 Religion, VI 195 FN.
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vorgeworfen wurde. Jede Beweisführung in der Religionsschrift
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ist strikt auf eins der
beiden Vernunftprinzipien Instrumentalisierung' und Durchführbarkeit bei Menschen' gegründet und entspricht demnach dem Titel: Die Religion bloßen
innerhalb
der Grenzen
der
Vernunft}
1 Das Verhältnis zwischen Der Metaphysik der Sitten und der Religionsschrift hat Thomas W. Laqueur ( Solitary Sex. A cultural History of Masturbation, New York 2003) dadurch neu thematisiert, daß er dem Kapitel Von der wohllüstigen Selbstschändung (vgl. MdS, VI 424) eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung der traumatischen Stelle in Kants Theorie zugewiesen hat. Dabei geht es nicht um die Frage nach dem Moralisierenden in Kants Theorie, sondern vielmehr darum, wie Kant in seiner aufklärerischen Manier mit dem Traumatischen in der Sexualität umging, auf das er gestoßen war. In der Religionschrift verfahrt Kant kritisch und produktiv, in der Metaphysik der Sitten dagegen reproduziert er die herrschende dogmatisch-aufklärerische Meinung über Sexualität und Gesetz. Damit hat sich Kant einer weitverbreiteten aufklärerischen Mode des Intellektualisierens in bezug auf .pathologisches' Genießen angeschlossen. Es geht aber nicht darum, es als zugespitzte Moralisierung abzutun, sondern um die Frage, welche Stellung dieser moralisierende Standpunkt Kants in der Beurteilung oder Aufhellung der verborgenen .Wahrheit' seiner Ethik, seiner Konzeption des moralischen Subjektes und seiner Auffassung der sittlichen Gesetze einnimmt.
Verzeichnis der Abkürzungen
Die Abkürzungen beziehen sich auf die Textfassung der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe (Kant's Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe). In den Stellennachweise sind nach der Abkürzung die Bandziffer dieser Ausgabe und die Seiten- bzw. Paragraphenzahl angeführt. Der Text der Kritik der reinen Vernunft wird nach der Ausgabe von Raymund Schmidt, Hamburg 1990 u.ö. zitiert. Die Verwendung anderer Ausgaben oder weiterer Abkürzungen ist in den Beiträgen jeweils gekennzeichnet. Religion KrV KpV KU MdS GzMdS Idee Anfang Anthropologie Ende Gemeinspruch SF Frieden
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urtheilskraft Die Metaphysik der Sitten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Das Ende aller Dinge Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Der Streit der Facultäten Zum ewigen Frieden
Verzeichnis der Namen
Adam, Tobias 240ff. Adorno, Theodor W. 54, 59ff., 177, 257 Albrecht, Michael 116 d'Alembert, Jean le R. 223 Anderson-Gold, Sharon 18, 124 Aristoteles 208, Arndt, Andreas 9 Assmann, Jan 13 f. Augustinus, Aurelius 208 Bartuschat, Rudolf 76 Bauer, Johannes 83 Baum, Hermann 18 Baumgartner, Michael 19, 170,172f„ 215 Beck, Lewis White 116 Benjamin, Walter 183, 186, 188, 191, 193f. Berger, Maxi 29f. Blanke, Tobias 28 Bloch, Ernst 31, 245ff. Bohman, James 218 Bouterwek, Friedrich 31 Brecht, Berthold 161, 173 Breen, Jason 96 Bulthaup, Peter 9f., 29, 193, 221,227, 230 Campanella, Tomaso 31, 235, 240ff. Cavallar, Georg 18 Chadwick, Ruth 87 Chang, Maria H. 75 Clement, Wolfgang 178 Cohen, Hermann 76 Comtes, Auguste 61 Deggau, Hans-Georg 147 Derrida, Jacques 151, 156 Descartes, Rene 55
Despland, Michel 87 Diderot, Denis 223 Dierksmeier, Claus 27 Dörflinger, Bernd 11, 19 Dorschel, Andreas 98 Dürkheim, Emile 61 Eisler, Rudolf 169 Fackenheim, Emil 87f. Feuerbach, Ludwig 26, 58, 107 Fichte, Johann G. 37, 57f., 77, 105, 109, 111 Fischer, Norbert 13, 18, 162, 170 Flatt, Carl C. 105 Forberg, Friedrich 77 Forschner, Maximilian 162 Freud, Sigmund 26, 59ff., 62, 265f. Friedrich II. 17 Friedrich Wilhelm II. 16f. Galbraith, Elizabeth 83 Gebhardt, Jürgen 14 Gerhardt, Volker 131,200 Ghandi, Mahatma 255 Gliwitzky, Hans 111 Glockner, Herrmann 221 Goethe, Johann W. 87,125ff. Gogol, Nikolai 222 Graham, David 87 Grotius, Hugo 217 Guyer, Paul 79 Habermas, Jürgen 15, 18, 145, 169, 257 Hegel, Georg W. F. 19, 58f„ 61f., 98, 102, 119, 126f„ 130, 136, 148f„ 154, 163, 166, 168, 170,175, 221,257,259 Heine, Heinrich 59f., 82, 97
272 Helvetius, Claude A. 223 Henrich, Dieter 105, 116f. Herder, Johann G. v. 125 Hirsch, Emmanuel 78 Hirschman, Albert O. 42 Hobbes, Thomas 25f„ 31-46,47-52, 132f, 142,190, 168,210,213,251,253 Höffe, Otfried 218 Hogemann, Friedrich 127 Höhn, Hans-Joachim 84 d'Holbach, Paul T. 223ff. Hölderlin, Friedrich 11 f. Homann, Adelheid 9, 31 Horkheimer, Max 60f., 193 Howard-Snyder, Daniel 76 Hunter, Ian 79 Hutter, Axel 28 Iber, Christian 27 Jacobi, Friedrich H. 109 Jacquot, Jean 39 Jäschke, Walter 127 Jelinski, Oliver 26 Jesus 38, 42ff„ 76, 78, 80, 82ff., 107 Jones, Harald Whitmore 39 Kasack, Wolfgang 222 Kato, Yasushi 81, 131 Kelsen, Hans 13, 165 Kersting Wolfgang 77,131 King, Martin Luther 255 Kittsteiner, Heinz D. 126 Knaupp Michael 11 Kodalle, Klaus M. 44 Koppen, Friedrich 109 Kühne, Frank 27 Lacan, Jacques 47 Langthaler, Rudolf 11, 15, 19, 76, 163, 169 Laplanche, Jean 47 Laqueur, Thomas W. 267 Lauth, Reinhard 111 Leibniz, Gottfried W. 39, 100,250 Lenk, Kurt 222 Linden, Harry van der 19, 172 Locke, John 42 Ludwig, Bernd 25, 165 Luhmann, Niklas 231 Lukäcs, Georg 31, 231 f., 259 Lutz-Bachmann, Matthias 30 Machiavelli, Giacomo 13Iff.
VERZEICHNIS DER N A M E N
Macpherson, Crawford Β. 48 Maier, Hans 14 Mandela, Nelson 255 Marty, Francis 18f„ 76, 170, 172, 215f. Marx, Karl 26, 30, 58ff., 107, 119, 147, 168, 178, 188f„ 231 f, 266 Matthews, Richard 31 Mazur, Lukasz 31 McCarthy, Vincent 83 Meier, Heinrich 13f. Mensching, Günther 9, 87, 223, 227 Meslier, Abbe 223 Meyfeld, Dirk 28 Michaelson Jr., Gordon E. 75, 87, 132 Moses 42f. Mülder (Soldat) 263 ff. Müller, Heiner 232 Müntefering, Franz 178 Nagl-Docekal, Herta 11, 15, 19, 163, 169 Nicolovius 16 Nietzsche, Friedrich 60, 102,266 Noak, Rudolf 224 Nohl, Hermann 61 O'Leary-Hawthorne, John 76 O'Neill, Onora 18 Oppenheimer, Angelika 223 Ottmann, Henning 14f. Otto, Rudolf 40 Owen, James Judd 84 Palmquist, Stephen R. 18, 80, 83, 171 Paulus 13,41 Picht, Georg 75 Pieper, Annemarie 81 Piaton 30, 208, 230, 250 Pontalis, Jean-Bertrand 47 Prauss, Gerold 99 Prus, Boleslaw 221 Pseudo-Dionysius Areopagita 13 Pufendorf, Samuel 217f. Quinn, Philip L. 80 Rahden, Wolfert von 126 Rajiva, Suma 27 Reardon, Bernhard 76, 87 Reinhold, Carl L. 98, 100 Rentsch, Thomas 84 Ricken, Friedo 18f„ 76, 170,172, 215f. Robespierres, Maximilien 59 Rohde, David 264
VERZEICHNIS DER NAMEN Rosenau, Hartmut 81 Rossi, Philip J. 18f., 80 Roth, Friedrich 109 Rousseau, Jean-Jacques 26, 41,49ff., 83,104 Sala, Giovanni B. 13, 18, 76, 84, 115f„ 170, 172 Salewski, Erich 224 Sänger, Monika 77 Saul (König) 43 Schelling, Friedrich W. J. 81, 98, 100, 105, Schelling, Karl F. A. 100 Schiller, Friedrich 87 Schmalstieg, Herbert 9 Schmidt, Helmut 178 Schmidt, Raymund 100,269 Schmitt, Carl 13f„ 26, 63-72 Scholl, Hans u. Sophie 255 Schönberg, Arnold 1 lf. Schönrich, Gerhardt 81,131 Schröder, Gerhard 178 Schuller, Alexander 126 Schulze, Martin 19 SeSerko, Leo 32 Sophie von Sachsen 125 Sparn, Walter 80 äpidlik, Tomaä 261 f. Städtler, Michael 29 Stakemeier, Kerstin 26
273 Stangneth, Bettina 11, 16f„ 19,24, 30, 50ff„ 164, 187 Stor, Gottlob C. 105 Streichelt, Till 223, 236 Süßkind, Friedrich G. 105 Thomas von Aquin 76, 208 Tillich, Paul 78 Tönnies, Ferdinand 61 Tuck, Richard 37 Tuschling, Burckhard 19 Vattel, Emer de 217 Voegelin, Eric 14 Voigt, Fritz-Georg 224 Vollmann, Heiko 87 Voltaire 223f., 266 Vossenkuhl, Wilhelm 18 Walther, Manfred 9, 13f., 22 Weber, Max 61 Wenzel, Uwe Justus 102 Wimmer, Reiner 18, 76, 163 Woellner, Johann C. v. 16 Wolff, Christian v. 100 Wood, Allen W. 19 Wreen, Michael 18f„ 80 Wyrwa, Cristiane 235 Yovel, Yirimiahu 77 Zuckermann, Moshe 9, 26
Verzeichnis der Autoren und Herausgeber
M.A., ist Mitarbeiterin des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts. Sie beendete ihr Studium der Philosophie und der Deutschen Literaturwissenschaft 2003 mit einer Arbeit zum Thema: „Kunst und Gesellschaft. Zur materialistischen Implikation des Verhältnisses von ästhetischer Urteilskraft und Vernunft bei Kant." Zur Zeit arbeitet sie an ihrer Dissertation, in der sie sich mit dem Arbeitsbegriff des Deutschen Idealismus befaßt. M A X I BERGER ( 1 9 7 5 ) ,
(1973), Dr. phil., studierte Politologe, Philosophie und Informatik, vertrat Lehraufträge fur Politologie an der Freien Universität Berlin. Er promovierte an der Freien Universität Berlin bei Wolf-Dieter Narr und Gerhard Schweppenhäuser mit einer Arbeit über „Die Gegenwart des Bösen in der politischen Philosophie - ,Wer einer Republik Verfassung und Gesetze gibt, muss alle Menschen als böse voraussetzen.' (Machiavelli)" (im Erscheinen). Zur Zeit arbeitet er im Computer Science Department der Queen Mary University London an einem Projekt zur formal-logischen Evaluation von XML-Retrieval mit Situation Theory. Veröffentlichungen im Bereich Politische Philosophie sowie Logik und Informatik und zum Zusammenhang von Philosophie und Informatik. Daneben schreibt er Rezensionen über deutschen Marxismus fur „Historical Materialism" und bereitet eine Sonderedition von „Dialectical Anthropology" vor. TOBIAS BLANKE
Prof. Dr. rer. nat., studierte physikalische Chemie und Philosophie in Göttingen und Frankfurt am Main und war Professor fur Philosophie an der Universität Hannover. Seine Arbeitsgebiete waren vor allem Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, Moral- und Rechtsphilosophie sowie Ästhetik. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften ( 1 9 7 3 ) und Das Gesetz der Befreiung ( 1 9 9 8 ) . PETER BULTHAUP ( 1 9 3 4 - 2 0 0 4 ) ,
(1971), Prof. Dr. phil., ist Professor für Philosophie am Stonehill College in Easton bei Boston. Seine Themenschwerpunkte sind (systematisch) die Rechts-, Wirtschafts- und Religionsphilosophie sowie (historisch) die Freiheitsphilosophien des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine wichtigsten Buchpublikationen sind Der absolute Grund des Rechts. Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) in Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling (2003), Das Noumenon Religion - Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants (1998). CLAUS DIERKSMEIER
(1945), Dr. rer nat., ist akademische Oberrätin für Biologie und ihre Didaktik an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Ausarbeitung der Begriffe von Natur und Leben an Modellen der philosophischen Tradition, insbesondere der griechischen Antike und der europäischen Aufklärung. Die wichtigsten Veröffentlichungen sind „Zur Entwicklung eines methodischen Problems biologischer Disziplinen", in: Traditionell kritische Theorie, hg. v. ADELHEID H O M A N N
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VERZEICHNIS DER AUTOREN
Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover (1995), „Zweckmäßigkeit bei Kant und bei Hegel", in: Mit und gegen Hegel, hg. v. Andreas Knahl u.a. (2000), „Und das Licht scheinet in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen" in: Hans Jonas - von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, hg. v. Wolfgang Erich Müller (2003). AXEL HUTTER (1961) PD Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hegel-Archiv in Bochum und Privatdozent für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings (1996); Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken (2003). CHRISTIAN IBER (1957), Dr. phil. habil., lehrt als Privatdozent am Institut für Philosophie der FU Berlin. Gastprofessuren in Prag, Jena und Berlin. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik (1990); Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos (1994); Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus (1999); als Mitherausgeber: Dialektischer Negativismus (1992); Selbstbesinnung der philosophischen Moderne. Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe (1998); Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven (2000); Der Sinn der Zeit (2002). Aufsätze zu Kant: „Inwiefern ist Kant in seiner Ästhetik sein eigener Häretiker?" (Dialektik Zeitschrift für Kulturphilosophie 2001); „Warum bedürfen Geschmacksurteile nach Kant einer Deduktion?" (erscheint 2005). OLIVER JELINSKI (1975) studiert Philosophie und Informatik und leistet Bildungsarbeit bei Junge linke". Veröffentlichungen: „Stefan Roigk", in: Ausstellungskatalog gemußt, hg. v. Bettina Cohnen u.a., Hannover 1999; „Verlaufsformen des Nichts", in: Ausstellungskatalog Meisterschüler 2002, hg. v. FH Hannover, Fachbereich Bildende Kunst, Hannover 2002; einige Mitveröffentlichungen bei Junge linke" (www.junge-linke.de). FRANK KÜHNE (1956), Dr. phil., ist Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Hannover; Veröffentlichungen: Begriff und Zitat bei Marx. Die idealistische Struktur des Kapitals und ihre nicht-idealistische Darstellung, Lüneburg 1995, diverse Aufsätze zur Marxschen Theorie und klassischen deutschen Philosophie. BERND LUDWIG (1955), Prof. Dr. phil., studierte Physik und Philosophie in Marburg. Er war Hochschuldozent fur Philosophie an der Universität der Saarlandes und ist nunmehr Professor für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Philosophie der Neuzeit, Rechts- und Moralphilosophie sowie Wissenschaftsphilosophie. Er ist Herausgeber von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre sowie der Tugendlehre (21998, 1990); seine wichtigsten Monographien sind Kants Rechtslehre (1988), Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. Zu Hobbes' philosophischer Entwicklung von De Cive zum Leviathan im Pariser Exil (1998). Hinzu kommen Aufsätze zur Philosophie der Neuzeit, zur Rechts- und Moralphilosophie und zum Problem der Kausalität. MATTHIAS LUTZ-BACHMANN (1952), Prof. Dr. Dr., promovierte 1981 zum Dr. phil. über „Geschichte und Subjekt. Zum Begriff der Geschichtsphilosophie bei Kant und Marx" und 1984 zum Dr. theol. über „Das Verhältnis von Philosophie und Theologie in den Opuscula Sacra des A.M.S. Boethius". Die Habilitation erfolgte 1987 über das Thema „Zum Begriff der Religionsphilosophie bei Max Horkheimer". Zur Zeit lehrt er Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seit 2002 ist er Adjunct Professor am Department of Philosophy der Saint Louis University,
VERZEICHNIS DER A U T O R E N
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St. Louis, USA (Graduate Faculty). Jüngste Publikationen: M. Lutz-Bachmann/A. Fidora/P. Antolic (Hg.), Erkenntnis und Wissenschaft/Knowledge and Science. Probleme der Epistemologie in der Philosophie des Mittelalters/Problems of Epistemology in Medieval Philosophy (2004); Μ. LutzBachmann/A. Fidora (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Religionsdialoge im Mittelalter (2004); J. Szaif/M. Lutz-Bachmann (Hg.), Was ist das fiir den Menschen Gute?/What Is Good for a Human Being? Menschliche Natur und Güterlehre/Human Nature and Values (2004); Μ. Lutz-Bachmann/A. Fidora/A. Niederberger (Hg.), Metaphysics in the Twelfth Century. On the Relationship among Philosophy, Science and Theology (2004); M. Lutz-Bachmann/J. Bohman (Hgg.) Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik (2002); H. Brunkhorst/W. Köhler/M. LutzBachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik (1999); M. Lutz-Bachmann/J. Bohman (Hrsg.), Frieden durch Recht (1996). RICHARD MATTHEWS (1967), Ph.D., lehrt zur Zeit Philosophie an der Mount Allison University in Sackville, New Brunswick, Canada. Die zuletzt erschienenen Aufsätze sind „Heidegger and Quine on the (ir)relevance of Logic for Philosophy", in: A house divided: Comparing Analytic and Continental Philosophy, hg. v. C.G. Prado (2003) und „Heidegger, Politics, and the Problem of Error", i.V. Derzeit arbeitet er sowohl über Wahrheitstheorien der Analytischen Philosophie als auch über Logik. LUKASZ MAZUR
(1975), studiert Philosophie und Geschichte an der Universität Hannover.
(1973), M.A. Magisterarbeit zu: Das Ansichsein und das Wesen als Reflexionsbegriff und als Bestimmtheit des Seienden; Veröffentlichung: [AJber die Raumvorstellung gehört nicht hieher. - Von der Voraussetzbarkeit des Raumes, in: Hegel-Jahrbuch 2004; Das „jüdische Prinzip der Entgegensetzung" - Antisemitismus und Kantkritik in Hegels Geist des Christentums, Hegel-Jahrbuch 2006 i.V. DIRKMEYFELD
SUMA RAJIVA (1962) lehrt an der Memorial Universität in St. John's, Neufundland, Kanada. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die kritische Philosophie Kants, besonders die Kritik der Urteilskraft und ihr Verhältnis zu den anderen Kritiken und zu den post-kritischen Werken, wie der Religionsschrift, Zum Ewigen Frieden, und der Metaphysik der Sitten. Ihre wichtigste einschlägige Veröffentlichung ist „Rationalizing Taste: A Dialectic of Critique" in: Proceedings of the Ninth International Kant Congress in Berlin (2001) Zur Zeit arbeitet sie an Kant's System of Judgment. LEO Seäerko (1948), Prof. Dr. phil., hat Philosophie und Soziologie in Ljubljana studiert und wurde dort Außerordentlicher Professor für Sozialphilosophie an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. 1979/80 forschte er am philosophischen Institut der FU Berlin, 1985-87 an der Universität Paris VII. Zur Zeit arbeitet er zu Kant und Hegel, zur politischen Philosophie der Gegenwart und Ethik des Gattungssterbens sowie zur Aktualität des Kapital von Marx. Er ist Mitglied einer Projektgruppe zur „Nachhaltigkeitsstrategie" unter der Schirmherrschaft des Institutes für Philosophie der FU Berlin. Seine wichtigsten Veröffentlichung (in slowenischer Sprache) sind: Die Geschichtlichkeit der hegelschen Logik im ,Kapital', Naturwissenschaften und Warenform, Die soziale Herkunft der Intelligenz, Modernismus-Postmodernismus in der Kunst, Militärische Gegenkultur als gesellschaftliche Kraft und Drastische Methaphorik im Strukturalismus. MICHAEL STÄDTLER (1970), Dr. phil, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet für Philosophie und Rechtsdidaktik der Juristischen Fakultät der Universität Hannover sowie Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar und Vorstandsmitglied des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts. Sein Arbeitsschwerpunkt sind der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie, besonders die Philosophie von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Die wichtigsten Veröffentlichungen sind Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der theoretischen mit der praktischen Philosophie bei Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles (2003) sowie verschiedene Aufsätze zu
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VERZEICHNIS DER AUTOREN
Aristoteles, Hegel, Kant und Thomas, besonders „Wird heute die Freiheit rechtlich geordnet? Recht, Moral und Politik bei Kant und im Grundrechteabschnitt des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland", in: Philosophie nach Kant, hg. v. G. Kruip und I. Kaplow (i.V.); sowie als Mitherausgeber Mit und gegen Hegel. Von der Gegenstandslosigkeit der absoluten Reflexion zur Begriffslosigkeit der Gegenwart (2000). BETTINA STANGNETH (1966), Dr. phil., studierte Philosophie in Hamburg bei Klaus Oehler und Wolfgang Bartuschat und promovierte mit der Arbeit „Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft' (2000). Es folgte neben der Neuedition von Kants Religionsschrift für die Philosophische Bibliothek, Felix Meiner, eine Arbeit über Antisemitismus bei Kant (2002, Preisschrift der Philosophisch-Politischen Akademie e.V.). Frau Stangneth arbeitet zur Zeit an einem Projekt zur „Nationalsozialistischen Philosophierezeption" und ihrer Habilitation zum Thema „Die sogenannte Willensschwäche. Zum systematischen Zusammenhang von Denken und Moral". In diesem Kontext sind mehrere Vorträge und Aufsätze erschienen, u.a. Zum Faktum der Vernunft (2001); Adolf Eichmann interpretiert Kant (2004). KERSTIN STAKEMEIER (1975), Dipl. rer. Pol., MA History of Art, ist Freie Mitarbeiterin am Kunstverein in Hamburg, Lehrbeauftragte an der Universität Lüneburg und der Universität der Künste, Berlin. Zur Zeit arbeitet sie an einem Promotionsprojekt zur „Ästhetisierung des Politischen". MOSHE ZUCKERMANN (1949) Prof. Dr., lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (TAU) und ist seit 2000 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte (TAU). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Philosophie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften; Frankfurter Schule; Ästhetische Theorie und Kunstsoziologie; der Einfluß der Shoah auf die politischen Kulturen Israels und Deutschlands. In den letzten Jahren hat er folgende Bücher veröffentlicht: Die Fabrikation des Israelischen. Mythen und Ideologien in einer konfliktgeladenen Gesellschaft (2001, hebräisch); Kunst und Publikum. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit (2002); Verdinglichung des Menschen. Aphorismen über Gesellschaft, Politik und Kultur (2003, hebräisch); Zweierlei Israel? (2003). D a s GESELLSCHAFTSWISSENSCHAFTLICHE INSTITUT HANNOVER w u r d e
1991 v o n P h i l o s o p h e n
und
Sozialwissenschaftlern gegründet. In ihm arbeiten Wissenschaftler verschiedener geistes- wie naturwissenschaftlicher Disziplinen mit dem Ziel, die gesellschaftliche Relevanz und Funktion wissenschaftlicher Erkenntnisse einerseits sowie die Bestimmungen von Gesellschaft, im Bewußtsein ihrer Veränderbarkeit, andererseits zu erforschen. Das Institut ist als Veranstalter von Seminaren über das Marxsche Kapital und andere kanonische Texte der philosophischen und gesellschaftstheoretischen Tradition sowie von Tagungen und Vorträgen zu Themen wie Antisemitismus, Wissenschaft und Agitation oder Theodor W. Adorno: Wissenschaft statt Ideologie ebenso tätig gewesen wie als Herausgeber von Traditionell kritische Theorie. Zehn Überlegungen zu verschiedenen Gegenständen (1995), Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften (1996), Peter Bulthaup, Das Gesetz der Befreiung (1998), Das automatische Subjekt bei Marx (1998) und Mit und gegen Hegel (2000).
Kant im Akademie Verlag
Immanuel Kant: Kritik der praktischen V e r n u n f t Otfried Höffe (Hrsg.) Klassiker Auslegen, Band 26 2002. X, 231 S. - 130 χ 210 mm Pb, € 19,80 ISBN 3-05-003576-5 Werner Stark N a c h f o r s c h u n g e n zu Briefen u n d Handschriften Immanuel Kant: Z u m ewigen Frieden Otfried Höffe (Hrsg.) Klassiker Auslegen, Band 1 2. durchges. Aufl. 2004. VIII, 290 S. - 130 x210 mm Pb, € 19,80 ISBN 3-05-004048-X Immanuel K a n t : Kritik der reinen V e r n u n f t Georg M o h r / M a r c u s Willaschek (Hrsg.) Klassiker Auslegen, Band 17/18 1998. X, 680 S. - 130 x210 mm Pb, € 39,80 ISBN 3-05-003277-4 Immanuel K a n t : Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre Otfried Höffe (Hrsg.) Klassiker Auslegen, Band 19 1999. VIII, 310 S. - 130x210 mm Pb, € 19,80 ISBN 3-05-003025-9
Immanuel Kants 1993. VIII, 374 S. - 170 χ 240 mm 6b, € 64,80 ISBN 3-05-002316-3 Christine Pries Übergänge ohne Brücken Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philosophie 1995. 207 S. - 170 x 240 mm Gb, € 64,80 ISBN 3-05-002689-8 Reinhard Brandt Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung Kants »Streit der Fakultäten« M i t einem A n h a n g zu Heideggers »Rektoratsrede« Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 5 2003. 210 S. - 170 x 240 mm Gb, € 49,80 ISBN 3-05-003859-4
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Recht - Geschichte - Religion
Die Bedeutung Kants für die Gegenwart Recht Geschichte Religion &»8«j*>tene Karts KM & .·· :·· wo
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Herausgegeben von Herta Nagl-Docekal und Rudolf Langthaler Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband, Band 9
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