Kant als Klassiker der Philosophie. Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900 [1. ed.] 9783495492208, 9783495825433


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German Pages 284 [240] Year 2022

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I. Einleitung
1.1 Forschungsfrage
1.2 Kommentierter Aufbau
1.3 Methode
II. Der Neukantianismus
2.1 Frühkantianismus
2.2 Entstehung und Ausbreitung des Neukantianismus
2.3 Kantbewegung
2.3.1 Kantianismus, Kantforschung, Kantphilologie: Eduard Zeller, Friedrich Paulsen, Hans Vaihinger
2.3.2 Die Fischer-Trendelenburg-Debatte
2.3.3 Cohens Darstellung der Fischer-Trendelenburg-Debatte
2.4 Die Marburger Schule: Hermann Cohen und Paul Natorp
2.5 Die Südwestdeutsche Schule: Wilhelm Windelband
2.6 Popularisierung Kants
2.6.1 Kant in Lehrbüchern. Darstellungen der Geschichte der Philosophie: Friedrich Ueberweg, Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer
2.6.2 Kant in der universitären Lehre
2.6.3 Kant in der Öffentlichkeit. Kant-Studien, Kant-Gesellschaft und Kant-Feiern
III. Die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften
3.1 Die Vorgängereditionen der Akademie-Ausgabe. Die Edition von Karl Rosenkranz/ Friedrich Wilhelm Schubert und die zwei Editionen Gustav Hartenstein
3.2 Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Ort der Forschung und Produktionsstätte von Editionen
3.3 Konzeption und Struktur der Akademie-Ausgabe
3.3.1 Planung und Umsetzung der Edition
3.3.2 Editorische Theorie und Praxis um 1900
3.3.3 Wilhelm Dilthey als Philosoph und Leiter der Akademie-Ausgabe
3.3.3.1 Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften: Die Methode des Verstehens
3.3.3.2 Diltheys Auseinandersetzung mit Kant in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883)
3.3.3.3 Diltheys Methode des Verstehens: Leben und Werk
3.3.3.4 Dilthey als Leiter der Akademie-Ausgabe
3.3.4 Rezeption der Akademie-Ausgabe
3.4 Die Marburger Konkurrenzausgabe von Kants Schriften
IV. Die Klassiker-Buchreihen
4.1 Bedingungen ihrer Entstehung und Verbreitung Rechtliche und technische Neuerungen in der Buchherstellung
4.1.1 Die »Philosophische Bibliothek« im Meiner Verlag. Konzeption und Verbreitung
4.1.2 Die »Universalbibliothek« im Reclam Verlag. Konzeption und Verbreitung
V. Schluss
5.1 Ergebnisse und Zusammenfassung: Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie
VI. Bibliographie
VII. Verzeichnis von Abkürzungen und Siglen
VIII. Anhang
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Kant als Klassiker der Philosophie. Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900 [1. ed.]
 9783495492208, 9783495825433

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Anne Wilken Kant als Klassiker der Philosophie Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900

ALBER THESEN

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Anne Wilken

Kant als Klassiker der Philosophie Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900

Verlag Karl Alber Baden-Baden

Anne Wilken Kant as a Classic of Philosophy. On the Production of Philosophical Classics and their Edition Conditions around 1900. This work analyzes the interrelationship between the formation of the canon and the practice of editing, using the Akademie-Ausgabe of Kant's writings as an example, and thus addresses a research desideratum. The focus is on the question whether inner-philosophical discourses found their way into the practise of editing. Specifically, it is pursued by analyzing the philosophical discourse surrounding the first and second edition of the »Critique of Pure Reason«.

The author: was a research assistant at the DFG Research Training Group 2196 »Document-Text-Edition. Conditions and Forms of their Transformation and Modeling in a Transdisciplinary Perspective« from 2016–2019 at the Bergische Universität Wuppertal. Subsequently, she was a lecturer and research assistant at the Chair of Philosophy of Culture and Aesthetics at the Department of Philosophy there. She is currently a postdoctoral fellow of the Thyssen Foundation.

Anne Wilken Kant als Klassiker der Philosophie Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900 Die Arbeit analysiert das Wechselverhältnis von Kanonbildung und Editionspraxis am Beispiel der Akademie-Ausgabe von Kants Schriften und widmet sich damit einem Forschungsdesiderat. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob innerphilosophische Diskurse Eingang in die Editionspraxis gefunden haben. Konkret wird ihr anhand der Analyse des philosophischen Diskurses um die erste und zweite Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« nachgegangen.

Die Autorin: war von 2016–2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DFG-Graduiertenkolleg 2196 »Dokument-Text-Edition. Bedingungen und Formen ihrer Transformation und Modellierung in transdisziplinärer Perspektive« der Bergischen Universität Wuppertal. Im Anschluss daran war sie Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Ästhetik ebenda. Derzeit ist sie Postdoc-Stipendiatin der Thyssen-Stiftung.

Alber-Reihe Thesen Band 84

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 277132246/GRK2196

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Printed in Germany ISBN 978-3-495-49220-8 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82543-3

Für H. & L.

Deshalb bedeutet die Rückkehr in ein Herkunftsmilieu, aus dem man hervor- und von dem man fortgegangen ist, immer auch eine Umkehr, eine Rückbesinnung, ein Wiedersehen mit einem ebenso konservierten wie negierten Selbst. Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren. Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Einleitung . . . . . . . 1.1 Forschungsfrage . . . 1.2 Kommentierter Aufbau 1.3 Methode . . . . . . .

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Der Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Frühkantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Entstehung und Ausbreitung des Neukantianismus . . . 2.3 Kantbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Kantianismus, Kantforschung, Kantphilologie: Eduard Zeller, Friedrich Paulsen, Hans Vaihinger . 2.3.2 Die Fischer-Trendelenburg-Debatte . . . . . . . . 2.3.3 Cohens Darstellung der Fischer-TrendelenburgDebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Marburger Schule: Hermann Cohen und Paul Natorp 2.5 Die Südwestdeutsche Schule: Wilhelm Windelband . . . 2.6 Popularisierung Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Kant in Lehrbüchern. Darstellungen der Geschichte der Philosophie: Friedrich Ueberweg, Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer . . . . . . 2.6.2 Kant in der universitären Lehre . . . . . . . . . . 2.6.3 Kant in der Öffentlichkeit. Kant-Studien, KantGesellschaft und Kant-Feiern . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

III. Die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften . . . . . . 125 3.1 Die Vorgängereditionen der Akademie-Ausgabe. Die Edition von Karl Rosenkranz/ Friedrich Wilhelm Schubert und die zwei Editionen Gustav Hartenstein . . 3.2 Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Ort der Forschung und Produktionsstätte von Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Konzeption und Struktur der Akademie-Ausgabe . . . . 3.3.1 Planung und Umsetzung der Edition . . . . . . . 3.3.2 Editorische Theorie und Praxis um 1900 . . . . . 3.3.3 Wilhelm Dilthey als Philosoph und Leiter der Akademie-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3.1 Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften: Die Methode des Verstehens . . . . . . . . . . . 3.3.3.2 Diltheys Auseinandersetzung mit Kant in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883) . 3.3.3.3 Diltheys Methode des Verstehens: Leben und Werk 3.3.3.4 Dilthey als Leiter der Akademie-Ausgabe . . . . . 3.3.4 Rezeption der Akademie-Ausgabe . . . . . . . . 3.4 Die Marburger Konkurrenzausgabe von Kants Schriften .

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130 133 133 151 156 156 161 167 174 176 181

IV. Die Klassiker-Buchreihen . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4.1 Bedingungen ihrer Entstehung und Verbreitung Rechtliche und technische Neuerungen in der Buchherstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die »Philosophische Bibliothek« im Meiner Verlag. Konzeption und Verbreitung . . . 4.1.2 Die »Universalbibliothek« im Reclam Verlag. Konzeption und Verbreitung . . . . . . . . . . .

V.

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Ergebnisse und Zusammenfassung: Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie . . . . . .

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194 194 207 214 214

Anne Wilken

Inhaltsverzeichnis

VI. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 VII. Verzeichnis von Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . 235 VIII. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal als Inauguraldissertation im Fach Philosophie angenommen. Bedanken möchte ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung der Druckkosten. Dem DFG-Graduiertenkolleg 2196 Dokument-Text-Edition, namentlich Herrn Prof. Dr. Jochen Johrendt und Herrn Dr. Rüdiger Nutt-Kofoth, danke ich für die gute Forschungsumgebung, in der meine Doktorarbeit entstehen konnte. Weiterhin danke ich allen am Kolleg beteiligten Personen, die innerhalb des transdisziplinären Diskurses meine Doktorarbeit durch konstruktive Kritik vorangebracht haben. Meiner Hilfskraft Patrick Welp danke ich für seine zuverlässige und präzise Arbeitsweise. Ein großer Dank gebührt meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Gerald Hartung für die fachliche und persönliche Unterstützung. Für das entgegengebrachte Vertrauen und die daraus resultierende Freiheit während meiner Promotionszeit möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Meiner Zweitbetreuerin Prof. Dr. Andrea M. Esser danke ich für zahlreiche fachliche Hinweise sowie den ein oder anderen Schubs in die richtige Richtung. Beiden möchte ich für die ermutigenden und bestärkenden Worte danken. Meine Doktorarbeit hat nicht nur von den Impulsen des Kollegs profitiert, sondern in besonderer Weise auch von der engen fachlichen Anbindung an den Arbeitsbereich Kulturphilosophie/Ästhetik der Bergischen Universität Wuppertal. Bedanken möchte ich mich für den wertschätzenden Umgang und die produktive Arbeitsatmosphäre bei allen Mitgliedern des Arbeitsbereiches. Ein besonderer Dank gilt Dr. Jörn Bohr für die interessierte Anteilnahme an dem Fortschritt meiner Arbeit und das selbstverständliche Teilen seines Wissens. Heike Koenig und Dr. Tim-Florian Steinbach danke ich für den per-

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Vorbemerkung

sönlichen Erfahrungsaustausch rund um den Promotionsprozess. Carsten Voswinkel danke ich für die Mühen des Korrekturlesens. Den Personen in meinem privaten Umfeld danke ich für Freundschaft, Rückhalt und Unterstützung in dieser besonderen Lebensphase. Wuppertal im Juli 2021

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I. Einleitung

1.1 Forschungsfrage Die vorliegende Doktorarbeit »Kant als Klassiker der Philosophie. Zur Produktion philosophischer Klassiker und zu ihren Editionsbedingungen um 1900« analysiert das Wechselverhältnis von Kanonbildung und Editionspraxis am Beispiel der Edition von Kants Schriften der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Unter dem Begriff ›Kanon‹ versteht die Verfasserin eine Auswahl an maßgeblichen Philosophen und Texten, die als Richtschnur innerhalb des Faches fungieren. Editorische Entscheidungen stellen der These der vorliegenden Arbeit zufolge ein kanonbildendes Element dar. Die vorliegende Doktorarbeit untersucht den Zeitraum von 1860 bis 1920. In diese sechzig Jahre fallen die Veröffentlichung der »Klassiker-Buchreihen« durch den Meiner sowie den Reclam Verlag, die Initialisierung der »Akademie-Ausgabe von Kants Schriften« (AA) durch Wilhelm Dilthey, Darstellungen der kantischen Philosophie in zahlreichen Lehrbüchern zur Geschichte der Philosophie, die parallele Gründung der »Kant-Gesellschaft« sowie der Zeitschrift Kant-Studien (KS) durch Hans Vaihinger, öffentlichkeitswirksame Feiern zu kantischen Jubiläen, die vermehrte Lektüre kantischer Texte in den Philosophischen Seminaren der Universitäten sowie die Umsetzung der Marburger Konkurrenzausgabe unter Federführung von Ernst Cassirer. Die kantische Philosophie dominiert um die Jahrhundertwende die akademische Diskussion. Das Verhältnis von Idealismus und Realismus steht um 1900 aufgrund des wiedererwachten Interesses an Kants Erkenntnistheorie erneut zur Debatte. Die Frage, ob innerphilosophische Diskurse Eingang in die Editionspraxis gefunden haben, wird diese Arbeit untersuchen. Dabei vertritt die Verfasserin vorliegender Arbeit die These, dass sich eine Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen ausmachen lässt. Die Kant als Klassiker der Philosophie

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Einleitung

editorische Praxis agiert nicht losgelöst von genuin philosophischen Debatten, sondern diese beeinflussen die Edition. Konkret steht in vorliegender Arbeit die Analyse des philosophischen Diskurses um die erste und zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV) sowie die möglichen Ausprägungen dieses genuin fachlichen Diskurses auf die editorische Arbeit im Fokus. Die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit ist von dem Interesse geleitet, einen Beitrag zum Wechselverhältnis von Kanonbildung und Editionspraxis zu leisten. Dies stellt in der Philosophie ein Desiderat dar. So ist es keineswegs geklärt, in welchem Verhältnis die genannten Bereiche zueinander stehen und wie sie sich wechselseitig bedingen.

1.2 Kommentierter Aufbau Die vorliegende Dissertation gliedert sich in drei Themenschwerpunkte: den Neukantianismus, die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften sowie die Klassiker-Buchreihen. Die Analyse systematischer Positionen des Neukantianismus als einer vorherrschenden philosophischen Strömung im akademischen Kontext bildet die Grundlage vorliegender Arbeit. Das zentrale Forschungsobjekt der Arbeit ist die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften, die um 1900 auf Initiative von Wilhelm Dilthey entstanden ist. Die AA stellt auch heutzutage die maßgebliche Referenzausgabe für kantische Texte dar. Die Verfasserin analysiert die Entstehungsgeschichte der Akademie-Ausgabe auch hinsichtlich Diltheys Gedanken zur Hermeneutik sowie ihren möglichen Implikationen in der Edition. Dilthey war weder Kantianer noch Neukantianer. Daher besteht das Ziel in der Analyse von Diltheys Interessen, die er mit der AA über die bloße Bereitstellung kantischer Texte hinaus noch verfolgt hat. Weiterhin zieht die Verfasserin die Konzeption und Struktur der Klassiker-Buchreihen als eine weitere Bereitstellung von Kants Texten heran. Diese sind für die Verbreitung von kantischen Schriften auch im außerakademischen Bereich bedeutsam. Die Klassiker-Buchreihen waren bereits in den 1860er Jahren preisgünstig auf dem Buchmarkt verfügbar. Ihr Einfluss auf die Verbreitung von Kants Texten wird herausgearbeitet. Die in vorliegender Dissertation vorkommenden Personen, Dokumente, Ideen, Probleme und Theorien werden im Sinne der Konstellationsforschung in einem produktionsdynamischen Zusammenhang betrachtet. 16

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Kommentierter Aufbau

Der Frühkantianismus, der sich nach der Veröffentlichung der ersten Auflage der KrV herausgebildet hat, bildet das Bindeglied zu dem ersten Themenschwerpunkt. Der Neukantianismus als vorherrschende philosophische Strömung im akademischen Kontext wird auf die Frage hin analysiert, warum der Appell »Zurück zu Kant« um die Jahrhundertwende auf große Resonanz gestoßen ist. Die Debatte der beiden Philosophiegrößen Kuno Fischer und Adolf Trendelenburg um die idealistische oder realistische Interpretation von Kants KrV wird die Verfasserin beschreiben. Diese Debatte ebnet den Weg in den Neukantianismus und macht die Ausdifferenzierung in Marburger und Südwestdeutsche Schule verständlich. Die jeweiligen philosophischen Profile der Schulen 1 werden freigelegt und die wichtigsten philosophischen Standpunkte ihrer bedeutendsten Vertreter Hermann Cohen und Paul Natorp auf der einen Seite sowie Wilhelm Windelband auf der anderen beschrieben. Weiterhin wird auf die Darstellung der kantischen Philosophie in Lehrbüchern zur Geschichte der Philosophie eingegangen sowie auf den Stellenwert der Philosophie Kants innerhalb des universitären Unterrichts und die Bedeutung von Kants Leben und Werk in der Öffentlichkeit. Die von Hans Vaihinger parallel gegründeten Kant-Studien als Publikationsorgan sowie die Kant-Gesellschaft als institutionelle Verankerung werden neben den öffentlichkeitswirksam abgehaltenen Kant-Feiern als Strategien zur Popularisierung Kants beschrieben. Der zweite Themenschwerpunkt, die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften, beginnt mit einer kurzen Darstellung der Vorgängereditionen von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert auf der einen sowie den zwei Editionen Gustav Hartensteins auf der anderen Seite. Nach der Beschreibung der Institution der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin als Entstehungsort der AA folgt eine Analyse der Konzeption und Struktur dieser Edition. Mithilfe von Sitzungsberichten der Akademie, Briefen sowie Archivmaterial wird die editorische Praxis der AA ergründet. Wilhelm Dilthey als Leiter der Edition hat das Konzept maßgeblich

Der Problematik der Neukantianismus-Forschung, die mit der Subsumption von Philosophen unter eine der zwei Schulen verbunden ist, sowie der damit suggerierten Einheit selbiger ist sich die Verfasserin bewusst. Siehe Kurt Walter Zeidler: »Begriff und ›Faktum‹ der Wissenschaft«, in: Christian Krijnen, Kurt Walter Zeidler (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 85–116.

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Einleitung

geprägt. Seine philosophischen Überzeugungen, die sich in seiner Theorie der Geisteswissenschaften manifestieren, die Auseinandersetzung mit Kant sowie sein hermeneutisches Verständnis werden beschrieben und zur Editionstätigkeit in Beziehung gesetzt. Im Anschluss wird die Rezeption der AA in den Kant-Studien beschrieben. Den Abschluss des zweiten Themenschwerpunktes bildet das Kapitel über die Marburger Konkurrenzausgabe, die unter Verantwortung von Ernst Cassirer zwischen 1912 bis 1922 umgesetzt worden ist. Anders als Natorp hat Dilthey Cohen bei der Mitarbeit an der AA übergangen. Das Schuloberhaupt der Marburger Neukantianer reagierte mit der Beauftragung seines Schülers Cassirer mit der Anfertigung einer eigenen Edition. Hierbei sind besonders die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bedeutsam – die Berliner haben die Akademie als Institution im Hintergrund, die im Besitz kantischer Handschriften ist. Die Marburger können durch den Verlag von Bruno Cassirer – dem Cousin Ernst Cassirers – hochwertig ausgestattete Bücher produzieren, jedoch müssen sie auf die Kollationierung mit kantischen Handschriften verzichten. Die Folgen für die editionspraktische Tätigkeit finden Eingang in die Darstellung. Der dritte Themenschwerpunkt, die Klassiker-Buchreihen, beginnt mit einer beschreibenden Einführung der technischen und rechtlichen Neuerungen der Buchherstellung um die Jahrhundertwende. Nach der Beschreibung der jeweiligen Verlagsgeschichte wird die Entstehung der »Philosophischen Bibliothek« (PhB) des Meiner Verlages und der »Universalbibliothek« (UB) von Reclam dargestellt. Im Anschluss erfolgt die Analyse ihrer Konzeption und Verbreitung. Der Umgang mit genuin philosophischen Debatten um die erste und zweite Auflage der KrV und ihre möglichen Auswirkungen auf die editorischen Entscheidungen stehen in diesem Kapitel über die Klassiker-Buchreihen im Fokus. Das Schlusskapitel führt die Teilergebnisse zusammen und entwickelt erste Überlegungen zu einer Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie.

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Methode

1.3 Methode Die von Dieter Henrich entwickelte Methode der Konstellationsforschung kommt in seiner Untersuchung zum Deutschen Idealismus erstmals zur Anwendung. 2 Sie nimmt das komplexe Beziehungsgefüge von Personen, Dokumenten, Ideen, Problemen und Theorien in den Blick, um einen »Denkraum« zu erschließen. Letzterer kann zum einen dynamisch als Reaktion der Konstellation auf eine Hintergrundsituation betrachtet werden. Zum anderen ist er statisch als »Gravitationsfeld von Begriffsformen« sowie als »abstraktes Kräftefeld konzeptueller und argumentativer Ressourcen« 3 anzusehen. Daraus erwächst die Aufgabe, Motivationskontexte sowie die Interessen der Akteure zu analysieren. Gekennzeichnet ist die Konstellation im Hinblick auf externe Motivationslieferanten durch ein Spannungsverhältnis. Marcelo R. Stamm spricht hierbei von einer »produktiven antagonistischen Grundstruktur innerhalb von Konstellationen«. 4 Die Konstellationsforschung verfährt sowohl historisch als auch systematisch und stellt implizit die Frage nach der Einheit des Autors. Dieser wird im Verhältnis zu anderen Mitgliedern der Konstellation sowie in seinem Bedingungsgefüge betrachtet und nicht als isolierter Akteur. Die nachkantische Philosophie wurde vor Henrichs Studie vornehmlich autorzentriert erforscht. Die Konstellationsforschung will zu einer produktionsdynamischen Betrachtungsweise gelangen. »Dabei werden die Motive und Probleme der Konstellation, innerhalb deren ein Autor sich bewegte und zur Selbständigkeit kam, als scheinbar selbstverständlich verfügbare Datenmengen in Anspruch genommen.« 5 Das Werk ist nicht der Fixpunkt der Konstellation. Die Konstellationsforschung geht davon aus, dass es nicht ausreicht, alle Vorarbeiten zu kennen, um die Genese desselben verständlich zu machen. Henrich warnt bei einer Philologie im luftleeren Raum, 2 Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991. In seiner Studie Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena 1790– 1794, Frankfurt am Main 2004, findet die Methode breite Anwendung. 3 Marcelo R. Stamm: »Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven«, in: Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, S. 31–73, S. 36. 4 Stamm 2005, S. 37. 5 Henrich 1991, S. 13.

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Einleitung

»[…] daß die Arbeit an dem Werk eines Autors, die ohne ein klares Bewußtsein von den Vorgaben des Denkraumes erfolgt, in den hinein dies Werk gewachsen und gestellt worden ist, auch zu Trübungen des Blicks und der Fragestellung schon bei der philologischen Erschließung dieses Werks selber führen kann«. 6 Für Henrich besteht der Gang der Forschung aus zwei Schritten: erstens aus der Analyse von Argument- und Begriffsformen, um die Begriffs- und Systembildungen zu erfassen, und zweitens aus der historischen Quellenforschung, um das philosophische Gespräch überblicken zu können. 7 Laut Stamm besteht der Forschungsgang in einem ersten Schritt aus der Argumentanalyse. Der zweite untersucht die Alternativen zu faktischen Entwicklungsgängen. Es geht dabei nicht um die Anwendung einer »historischen Investigationstechnik« 8, sondern um einen heuristischen Blick auf (bekanntes) Quellenmaterial. Stamm spaltet die Konstellation in zwei Stränge auf, in die »Figuren-« und die »Dokumentenkonstellation«. Erstere legt durch ein analytisches Verfahren die »Oberflächenkonstellation« frei. Letztere entwickelt durch ein synthetisches Vorgehen der Untersuchung öffentlicher Dokumente die »manifeste Konstellation« mit dem Ziel, die »Kryptokonstellation« freizulegen. Diese stellt einen Übergangszustand dar, der es durch Dokumentensuche ermöglichen soll, die »Tiefenkonstellation« analysieren zu können. Diese wirkt wiederum auf die »manifeste Konstellation« ein. Die »Tiefenkonstellation« zeichnet sich durch Eigenständigkeit aus. Für die Konstellationsforscherin ist das Verhältnis der beiden Stränge zueinander von Interesse. Dabei lautet der Grundsatz, dass die »Dokumentkonstellationen die Personenkonstellationen keineswegs ersetzen können«. 9 Erstere sind lediglich Platzhalter für letztere. Dabei ist es nicht notwendig, dass die betrachteten Personen einer Konstellation faktisch in Kontakt zueinander stehen. Die Herausforderungen für die Konstellationsforscherin ergeben sich aus dem holistischen Ansatz der Methode. Daniel Dahlstrom definiert die Konstellationsforschung als »reflexive und imaginative Rekonstruktion der vielfältigen Dynamik desjenigen geschichtlichen Mit-Seins, durch das die Philosophie zu einer Zeit gediehen ist«. 10 Henrich 1991, S. 18–19. Henrich 1991, S. 42. 8 Stamm 2005, S. 49–50. 9 Stamm 2005, S. 48. 10 Daniel Dahlstrom: »Seiltänzer. Herausforderungen der Konstellationsforschung«, 6 7

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Methode

Unter Bezugnahme auf Dahlstroms Bild des »Seiltänzers« gilt es, folgende herausfordernde Dynamiken mitzudenken: 11 Erstens hat die Konstellationsforscherin die Aufgabe, die Spannung zwischen Individuum und Kollektiv aufrechtzuerhalten. Zweitens geht es um die Darstellung der dynamischen Beziehung zwischen Thematisiertem und Unthematisiertem. Das Mitdenken von Horizonten respektive alternativen Entwicklungsgängen stellt die dritte herausfordernde Aufgabe für die Konstellationsforschung dar. Viertens fordert sie eine Reflexivität hinsichtlich der eigenen Position, von der aus die Konstellation betrachtet wird. Als Ergebnis ergibt sich ein »Bilder-Spiel (Schau-Spiel), in dem die zeitlich und räumlich getrennten Elemente beziehungsweise Vorstellungen der Konstellation getreu und bedeutsam zusammengefügt und entfaltet werden.« Bezüglich des dritten Aspekts ergibt sich die Schwierigkeit, welchen Maßstab die Forscherin anlegt, um wichtige Elemente von unwichtigen zu unterscheiden: Wie fordert der Zusammenhang von Motiven und Gründen bzw. Erklärungen und Begründungen den Konstellationsforscher heraus? […] Will der Konstellationsforscher die von einem Philosophen dargelegte Begründung erklären, dann sucht er die Ursache, das heißt […] das Motiv […]. Will er aber die Begründung unter einer philosophischen Lupe betrachten, dann fragt er nach der Schlüssigkeit […] der Folgerung […]. Damit leistet der Konstellationsforscher historische Erklärung und philosophische Begründung in ihrem gegenseitigen Zusammenhang, ohne sie zu verwechseln oder zu verschmelzen. 12

Die Konstellationsforschung unterscheidet sich von der Diskursanalyse im Sinne von Michel Foucault, da letztere »die Mitarbeit sinnfähiger Individuen methodisch ausschließt und Diskursen autonome und völlig ateleologische Transformationen zutraut.« 13 Eine Gemeinsamkeit besteht hingegen in der Ansicht, dass »die Träger einer Denkform […] keinen Zugriff auf die zahlreichen unbewußten und unausgesprochenen Hintergrundverhältnisse haben können«, 14

in: Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, S. 125–138, S. 133–134. 11 Dahlstrom 2005, S. 127–133. 12 Dahlstrom 2005, S. 137–138. 13 Manfred Frank: »Stichworte zur Konstellationsforschung (aus Schleiermachers Inspiration)«, in: Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, S. 139–148, S. 144. 14 Fred Rush: »Mikroanalyse, Genealogie, Konstellationsforschung«, in: Martin MulKant als Klassiker der Philosophie https://doi.org/10.5771/9783495825433

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Einleitung

die jedoch unabdingbar für das Verständnis des Argumentationsganges sind. Die bourdieusche Wissenssoziologie lässt sich für die Konstellationsforschung fruchtbar machen. Die zentralen Begriffe ›Feld‹, ›Kapital‹ und ›Reputation‹ lassen sich in die Konstellation einbetten. Das Feld als »Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmten Formen von Macht (oder Kapital) beruhen«, 15 wird in Bezug auf das Großprojekt der Edition von Kants Schriften vor allem hinsichtlich Diltheys Position im akademischen Kontext Anwendung finden. Bourdieus »differenztheoretisches Axiom«, »daß ein Element nur innerhalb der relationalen Struktur, zu deren Konstitution es selber beiträgt, seine Bedeutung erhält«, ist mit der Haltung der Konstellationsforschung äquivalent. »Texte und Akteure einer Konstellation [können] nicht als aus sich heraus bedeutungstragend begriffen werden, sondern im Kontext ihrer feldspezifischen Stellung, also nur in Abgrenzung zu anderen Positionen«. 16 Die Situation der Marburger Neukantianer kann nur im Kontrast zu derjenigen Windelbands verstanden werden, die wiederum beide zu Diltheys Position im akademischen Feld in Beziehung gesetzt werden. Die Figuren sind mit unterschiedlichem Kapital ausgestattet, wozu bspw. auch die Konfession, Kontakte sowie Einflussmöglichkeiten auf die akademische Welt gehören. Mit der Mikroanalyse Walter Benjamins hat die Konstellationsforschung den geänderten Blick auf das Quellenmaterial gemeinsam. Ihr geht es jedoch um eine Sozialtheorie, die in einem ersten Schritt nach Ähnlichkeiten zwischen Phänomenen sucht. Dieser Ansatz ist mit demjenigen der Verfasserin nicht kongruent und daher wird die Methode der Mikroanalyse als mögliche Ergänzung zur Konstellationsforschung im weiteren Gang der Arbeit nicht weiterverfolgt. Die vorliegende Doktorarbeit eröffnet einen Denkraum aus Personen, Dokumenten, Ideen, Problemen sowie Theorien vor dem Panorama der Reaktionen auf die Krise der akademischen Philosophie um 1900. Zentrale Personen sind dabei vor allem die Marburger Neukantianer Hermann Cohen und Paul Natorp auf der einen sowie sow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, S. 149–172, S. 165. 15 Marian Füssel: »Intellektuelle Felder. Zu den Differenzen von Bourdieus Wissenssoziologie und der Konstellationsforschung«, in: Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung. Frankfurt am Main 2005, S. 188–206, S. 193. 16 Füssel 2005, S. 191.

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Methode

Wilhelm Windelband als Vertreter der Südwestdeutschen Schule auf der anderen Seite. Sie sind zum einen in innerphilosophische Debatten verwickelt und – im Fall von Natorp und Windelband – auch an der editorischen Arbeit an der AA beteiligt, dessen Leiter Wilhelm Dilthey ist. Aus dieser Konstellation hat sich die Forschungsfrage der Verfasserin entwickelt, ob es zwischen den innerphilosophischen Diskursen eine Brücke zu den editorischen Entscheidungen gibt. Dilthey hat Cohen für die Mitarbeit an der Edition nicht vorgesehen. Letzterer richtet sich an seinen Schüler Ernst Cassirer mit dem Auftrag der Herstellung einer eigenen Edition. Aus den öffentlichen Dokumenten wie den Sitzungsberichten der Akademie, durch Analyse von Briefen sowie unter Hinzuziehung von Archivmaterial wird die Tiefendynamik der Konstellation freigelegt. Ein Kernanliegen der Konstellationsforschung, Alternativen zu faktischen Entwicklungsgängen mitzudenken, wird dabei berücksichtigt. Die Darstellung geschieht auf Basis der historisch-faktischen und systematischen Ressourcen, wie bspw. Status und Einflussfaktoren der Figuren, der institutionellen Anbindung und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten, vor deren Hintergrund die Kanteditionen erarbeitet werden konnten. Die sich anschließende Interpretation erschließt und rekonstruiert einen Denkraum. Das Ziel besteht darin, die Motivationskontexte und Interessen der beteiligten Personen freizulegen. Der Blick der Verfasserin ist dabei von der produktionsdynamischen Sichtweise des Denkraums geprägt, welche die Konstellation als Reaktion auf die Hintergrundsituation betrachtet. Anhand des Denkraums lassen sich als zentral für die Figurenkonstellation Cohen, Natorp, Windelband sowie Dilthey ausmachen. Aus diesen und weiteren Figuren lässt sich durch Analyse die Oberflächenkonstellation konstituieren. Anhand der Dokumentenkonstellation lässt sich die Tiefenkonstellation darstellen. Dabei ist das Verhältnis von Oberflächen- zur Tiefenkonstellation entscheidend. Letztere erörtert die impliziten Regeln der Oberflächenkonstellation. Hier liegt ein Spannungsverhältnis vor, das besonders bei Betrachtung des Verhältnisses von Cohen und Dilthey zum Tragen kommt. Durch die dynamische Betrachtung des Denkraums lässt sich eine Tiefendynamik analysieren, die Einblicke in die Interessenlagen von Dilthey und Cohen ermöglicht.

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II. Der Neukantianismus

2.1 Frühkantianismus Nachdem die KrV veröffentlicht worden war, blieben positive Reaktionen zunächst aus. Die Flut an antikantischen Traktaten riss auch nach der Veröffentlichung der zweiten Auflage der KrV 1787 nicht ab und erreichte in den Jahren 1787 und 1788 ihren Höhepunkt. 17 Es bedurfte diverser Mittler, um die Hemmschwelle gegenüber diesem Werk abzubauen. Dabei spielen die von Christian Gottfried Schütz veröffentlichten Rezensionen in der in Jena erscheinenden Allgemeinen Literaturzeitung (ALZ) eine große Rolle. Es entwickelte sich der Bedarf nach einer Vermittlungsinstanz, um das »wichtige Werk, das aus Hieroglyphen besteht« 18 verstehbar zu machen. Der Königsberger Mathematiker Johann Schultz fasste 1784 mit diesen Worten in seinen Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft die Stimmung innerhalb des Fachs zusammen und beendete damit das »ehrfurchtsvolle und bedächtige Stillschweigen«. 19 Der seit 1779 an der Universität Jena lehrende Professor für Dichtkunst und Beredsamkeit, Christian Gottfried Schütz, setzte bereits ein Jahr nach der Publikation der KrV diese öffentlichkeitswirksam in Szene. Die von Schütz mitherausgegebene Allgemeine Literaturzeitung war für die Verbreitung des Lutz-Henning Pietsch: Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern. Berlin/New York 2010, S. 175. 18 Norbert Hinske: »Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie im Lehrangebot der Universität Jena«, in: Norbert Hinske, Erhard Lange, Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Stuttgart 1995, S. 1–14, S. 1. 19 Horst Schröpfer: »›… zum besten der Teutschen Gelehrsamkeit und Litteratur …‹«, in: Norbert Hinske, Erhard Lange, Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Stuttgart 1995, S. 85–100, S. 90. 17

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Frühkantianismus

Frühkantianismus bedeutsam. 20 Schütz propagierte offensiv die kantische »Revolution«, die er in der »Festlegung der ideellen Basis für eine vernunftgeleitete Selbstgestaltung der menschlichen Existenz« 21 sieht. Schütz bekundet seine Wertschätzung gegenüber der kantischen Philosophie in einer Zeit, in der über diese entweder geschwiegen oder Unverständnis darüber geäußert wurde. Zwischen dem 12. und 30. 07. 1785 veröffentlichte er informierende Rezensionen zur KrV, die den sonst üblichen quantitativen Rahmen für Rezensionen in der ALZ durchbrachen. Diese lösten »den Prozeß der allgemeinen Rezeption der kritischen Philosophie aus«. 22 Schütz’ Intention war die Vermittlung der kantischen Revolution, die für ihn in der »Neubestimmung der Metaphysik als Wissenschaft von den Prinzipien aller Erkenntnis a priori« 23 bestand. Schütz und Kant stehen in einem brieflichen Austausch miteinander. In Bezug auf die erste Auflage der KrV (A) hat er per Brief angemerkt, dass er eine Strukturierung der KrV durch Paragraphen für sinnvoll erachtet. Es lasse sich neben der geänderten Struktur eine selbstbewusstere Haltung zu seiner Umarbeitung von A ausmachen: das Wort ›Revolution‹ komme in A nur einmal vor und nicht als Bewertung des kantischen Systems. In B sei der Begriff in der »Vorrede« zur Kennzeichnung der kantischen Philosophie als Novum enthalten. Kurioserweise führten die brieflich gut dokumentierten Vorschläge von Schütz in Bezug auf die Umgestaltung von A in der ALZ nicht zu einer Rezension der zweiten Auflage der KrV (B). Erst die dritte Auflage der KrV von 1791 erfährt wieder Besprechungen. 24 Schröpfer würdigt Schütz’ Leistung hinsichtlich seiner Initialwirkung für eine weitergehende Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie: Es war ihm gelungen, Kants neuartiges Denken in seiner systematischen Verknüpfung als geschlossenes System vorzustellen und seine revolutionierende Bedeutung für die Selbsterziehung des Menschen in einer zweckbestimmten Weltordnung zu verdeutlichen. Er verband die kritische und Horst Schröpfer: »Christian Gottfried Schütz – Initiator einer wirkungsvollen Verbreitung der Philosophie Kants«, in: Norbert Hinske, Erhard Lange, Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte. Stuttgart 1995, S. 15–35. 21 Horst Schröpfer: Kants Weg in die Öffentlichkeit. Christian Gottfried Schütz als Wegbereiter der kritischen Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, S. 196. 22 Schröpfer 2003, S. 258. 23 Schröpfer 2003, S. 260. 24 Schröpfer 2003, S. 253–255. 20

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konstruktive Haltung zum Werk des Autors mit ersten Polemiken gegen falsche oder unsachliche Angriffe. Auf diesen Merkmalen beruht die Initialwirkung der Rezension im Prozeß der Anerkennung der Philosophie Kants. 25

Die Rezensionen von Schütz bis zum Jahr 1815 sind für alle kantischen Werke durchweg positiv. Die KrV wird gelobt als »tiefsinniges Werk«, welches eine »Revolution stiften wird, die erst im Anfang begriffen ist« 26: das »unübertreffliche«, »vollkommene« Werk, dessen »Beurtheilung […] gegenwärtig eine der ersten Angelegenheiten im hohen Rathe der Selbstdenker« 27 sei. Ein anderer bedeutender Kantianer, Carl Christian Erhard Schmid, vertritt die zu dieser Zeit als Außenseiterposition zu bezeichnende Auffassung, dass die KrV als Teil eines großen Systems verstanden werden müsse. Die Erkenntnistheorie sei nur als ein Baustein in der Entwicklung zu einer Anthropologie zu sehen. 28 Kritik an Schmids Vorgehen wird von Fichte und Schelling geübt. Sie werfen ihm vor, dass er die kantische Philosophie nur dem »Buchstaben nach sattsam bekannt gemacht« habe, ihren Geist darzustellen, sei jedoch dem »zweyte(n) Schöpfer dieser Philosophie«, 29 Fichte, vorbehalten geblieben. Karl Leonhard Reinholds 1786/87 erschienenen acht Briefe über die Kantische Philosophie im Teutschen Merkur sorgen durch ihre verständliche Darstellung für einen Aufschwung in der Wahrnehmung von Kants Schriften. Die erschütterte Metaphysik lasse das Bedürfnis nach einer Grundwissenschaft entstehen. Die KrV stellt für Reinhold eine Propädeutik für ein noch zu entwickelndes System

Schröpfer 2003, S. 271–272. Christian G. Schütz, in: ALZ Nr. 80, 07. 04. 1785, S. 21–23. Neben dem Begriff der ›Revolution‹, der seinen Ursprung in der Astronomie hat, werden weitere Metaphern, u. a. aus den Fachgebieten Medizin (»Krise und Heilung«) sowie Architektur (»Zerstörung und Wiederaufbau«), zur Auszeichnung von Kants Leistung für die Philosophie herangezogen. Zur Analyse dieser und weiterer Metaphern siehe Pietsch 2010. 27 Christian G. Schütz, in: ALZ Nr. 55, 18. 02. 1791, S. 433–436, S. 435. 28 Horst Schröpfer: »Carl Christian Erhard Schmid – der ›bedeutendste Kantianer‹ an der Universität Jena im 18. Jahrhundert«, in: Norbert Hinske, Erhard Lange, Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart 1995, S. 38–83, S. 56. 29 Schröpfer 1995, S. 51. 25 26

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Entstehung und Ausbreitung des Neukantianismus

dar. 30 Jena ist zu dieser Zeit der Kristallisationspunkt des »Kantischen Evangeliums«. 31 Es lässt sich festhalten, dass die Rezeption der erkenntnistheoretischen Grundlegung Kants einiger Vermittlungsanstrengungen bedurfte. Nach dieser Karenzzeit entwickelte sich jedoch die dominierende Bewegung, die große philosophische Systeme in den Mittelpunkt stellt. Zwischen 1781 und 1831, dem Todesjahr Hegels, entsteht die maßgeblich durch Kant, Fichte, Schelling und Hegel geprägte Strömung des Deutschen Idealismus. Ihr Kernanliegen ist die Entwicklung eines Systems, das den einzig wahren Standpunkt repräsentiert. Auf dieses können weitere Überlegungen aufbauen. Im Gegensatz dazu haben die Neukantianer ein Bewusstsein dafür entwickelt, in einer geschichtlich gewordenen Kultur zu stehen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

2.2 Entstehung und Ausbreitung des Neukantianismus Die Anfänge des Neukantianismus liegen im späten 18. Jahrhundert. Jakob Friedrich Fries, Johann Friedrich Herbart sowie Friedrich Beneke treten als Fürsprecher der kantischen Philosophie auf. Nach dem Tod Hegels 1831 übernehmen Ernst Mirbt, Christian Weiße und Carl Fortlage diese Aufgabe. 32 Die Anfänge des Aufschwungs erfährt der Neukantianismus durch Hermann von Helmholtz in den 1850er Jahren. Die Wahrnehmung des Neukantianismus als Bewegung setzt Horst Schröpfer: »Karl Leonhard Reinhold – sein Wirken für das allgemeine Verständnis der ›Hauptresultate‹ und der ›Organisation des Kantischen Systems‹«, in: Norbert Hinske / Erhard Lange / Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart 1995, S. 101–120, S. 109. 31 Erhard Lange: »Schiller und Kant«, in: Norbert Hinske, Erhard Lange, Horst Schröpfer (Hg.): Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785–1800 und seine Vorgeschichte, Stuttgart 1995, S. 121–138, S. 122. Von den Wirkungen der kantischen Philosophie hebt Friedrich Paulsen die der Göttingischen Rezension von Feder hervor. Letzterer widerspricht Kant, was zu einem immensen Widerstand gegen den Rezensenten führt. Die Universitäten Göttingen und Halle treten in ihrem Prestige in die zweite Reihe zurück. Jena wird zur Keimzelle der kantischen Philosophie. Hier befassen sich Reinhold, Schiller, Fichte sowie Schelling und Hegel mit seiner Philosophie und sorgen für ihre Verbreitung. Paulsen 1924, S. 390–391. 32 Diese Philosophen sind heute weitgehend unbekannt. Siehe Frederick C. Beiser: After Hegel. German Philosophy 1840–1900. Oxford 2014, S. 36. 30

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erst in den 1860er Jahren durch zwei Vorlesungen ein: Kuno Fischers Das Problem der menschlichen Erkenntniß als die erste Frage der Philosophie 1860 sowie Eduard Zellers Heidelberger Antrittsvorlesung Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnistheorie 1862. In den 1870er Jahren festigt sich der Neukantianismus als Bewegung vor allem durch Alois Riehl, Wilhelm Windelband, Friedrich Paulsen, Hermann Cohen sowie Hans Vaihinger. Anfangs besteht für eine kurze Zeit eine Allianz zwischen Neukantianismus und Positivismus. Friedrich Paulsen, Otto Liebmann, Wilhelm Windelband, Eduard Zeller, Hans Vaihinger und Alois Riehl veröffentlichen Artikel in der positivistisch geprägten Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie. Die Neukantianer entwickeln zwei Lesarten des Transzendentalen, die logische und psychologische, wobei sich die Erstere durchsetzt. Diese Lesart, die Kants praktische Philosophie vollständig ausklammert, führt dazu, dass Studenten entsprechenden Lehrveranstaltungen fernbleiben. In der Folge distanzieren sich Windelband, Paulsen und Liebmann vom Positivismus und wenden sich der praktischen Philosophie zu. Diese thematische Wendung können sie mit der Rückkehr zu den kantischen Wurzeln begründen. Sie müssen dabei nicht ihre Strategie offenlegen, mit ihrer Philosophie gegen diejenige Arthur Schopenhauers anzuschreiben. 33 Schopenhauer, der als Gegner der akademischen Philosophie auftritt, fordert die bedeutendsten Neukantianer mit seinem Pessimismus zu zahlreichen schriftlichen Auseinandersetzungen heraus. Sie schreiben gegen diese Sicht auf die Welt an, da sie den wissenschaftlichen Status der Philosophie bekräftigen wollen. Der Pessimismus passt in dieses Anliegen nicht hinein, da es sich um eine individuelle Art und Weise handelt, die Welt zu sehen. Die Neukantianer hingegen verfolgen mit ihrer Arbeit allgemeingültige Ansätze, die weltanschauliche Perspektiven ausklammert. 34 Die Entstehung des Neukantianismus ist in Auseinandersetzung der Philosophie mit den erstarkenden Naturwissenschaften zu verstehen. Ein zentraler Disput behandelt den Materialismus. Vertreter dieser Position hatten nur Hohn und Spott für die Philosophie übrig, die sich folglich gezwungen sah, ihr eigenes Aufgabengebiet schärfen zu müssen. Immanuel Kants Erkenntnistheorie war dabei für die Neukantianer ein Anker, der unterschiedlichste Interpretationen seiner 33 34

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Beiser 2014, S. 43. Beiser 2014, S. 168–169.

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Philosophie ermöglichte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die Frontstellung zwischen den Naturwissenschaften und der Religion zu erbitterten Auseinandersetzungen. Strittig war die Deutungshoheit des Materiellen über das Geistige. In den 1850er Jahren eskalierte diese Konfrontation im Materialismusstreit. Der Streit um den Materialismus kann vielmehr als Kampf gegen ihn charakterisiert werden. Die Gegner des Materialismus waren um die religiöse, politische und sittliche Ordnung der Gesellschaft besorgt. An dem Disput waren neben den Medizinern Heinrich Czolbe, Jacob Moleschott und Ludwig Büchner auch die Naturwissenschaftler Carl Vogt, Rudolph Wagner, Matthias Jakob Schleiden und Jacob Henle, die Philosophen Ludwig Feuerbach, Immanuel Hermann Fichte und Karl Philipp Fischer sowie der Theologe Jakob Frohschammer beteiligt. Der Materialismus spaltet sich in verschiedene Strömungen und Methoden auf: Der philosophische, naturwissenschaftliche und kulturalistische Materialismus können unterschieden werden. Letzterer war mit nationalistischen bis hin zu antisemitischen Äußerungen verbunden. Die Materialisten wehren sich gegen die Einbeziehung theologischer Inhalte in ihren Forschungsprozess: »Die Naturwissenschaften haben ihrem Erkenntnisinteresse nachzugehen und ihre Methoden zu befolgen, ohne sich um die Vereinbarkeit ihrer Resultate mit theologischen Annahmen zu bekümmern«, 35 so die verbreitete Ansicht. Bis in das 17. und 18. Jahrhundert hinein waren wissenschaftliche Erkenntnis und religiöse Überzeugung keine Gegensätze. Die Menschen waren davon überzeugt, dass Gott einen Zweck in die Natur gelegt hat, der von Wissenschaftlern erkannt werden kann und muss: »Gott legt seine Zwecke in die Natur; die Wissenschaft hat sie zu erkennen, und wo sie sich dieser Aufgabe verweigert, verfehlt sie ihre Bestimmung«. 36 Kopernikus war beispielsweise der Ansicht, dass Gott ein genialer Konstrukteur der »Weltmaschine« war. Diese sogenannte »Physikotheologie« 37 konnte im 19. Jahrhundert nicht mehr vertreten werden. Der Materialismus dementiert den Zweck-

Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hg.): Der Materialismus-Streit, Hamburg 2012, S. XXVIII. 36 Bayertz et al. 2012, S. XXII. 37 »Zwar hat bereits Kants Erweis ›der Unmöglichkeit des physikotheologischen Gottesbeweises‹ der Physikotheologie in der deutschen Philosophie den Boden entzogen; jenseits der Philosophie finden sich aber nach wie vor physikotheologische Argumente, etwa in Liebigs Chemischen Briefen […]«. Bayertz et al., S. XXI. 35

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gedanken. Im Materialismusstreit stehen sich »nicht die eigentlichen Extreme – Materialismus und Spiritualismus –, sondern Anhänger eines ontologischen Materialismus und eines Dualismus von Materie und Geist gegenüber«. 38 Kritik an der Philosophie in ihrer bisherigen Form wird auf polemische Art und Weise geübt. So spricht beispielsweise Louis Büchner in Kraft und Stoff von der Schulphilosophie, die auf »täglich mehr abgemagertem Rosse sitzend« mit ihrer »spekulativen Hohlheit« an Ansehen gegenüber den empirischen Wissenschaften verliert. »Ausgehend von der Erkenntniß jenes unverrückbaren Verhältnisses zwischen Kraft und Stoff als unzerstörbarer Grundlage muß die empirisch-philosophische Naturbetrachtung zu Resultaten kommen, welche mit Entschiedenheit jede Art von Supranaturalismus und Idealismus aus der Erklärung des natürlichen Geschehens verbannen«. 39 Büchner provoziert mit seinen kritischen Äußerungen und erzwingt gleichsam eine ebensolche Reaktion darauf, wenn er schreibt: »Was klar gedacht ist, kann auch klar und ohne Umschweife gesagt werden. Die philosophischen Nebel, welche die Schriften der Gelehrten bedecken, scheinen mehr dazu bestimmt, Gedanken zu verbergen, als zu enthüllen«. 40 Büchner pointiert seine Kritik an den Gegnern des Materialismus, wenn er ihnen die Frage stellt, wie eine Schöpferkraft existieren kann, »welche nicht an dem Stoffe selbst in die Erscheinung tritt, sondern denselben willkürlich und nach individuellen Rücksichten beherrscht?« 41 Im Zuge der erstarkenden Naturwissenschaften und einer damit einhergehenden materialistisch geprägten Weltanschauung, verschärft sich der Ton innerhalb der Auseinandersetzung. Rudolph Wagner bekundet in Menschenschöpfung und Seelensubstanz seine Skepsis gegenüber dem Reifegrad des Materialismus, um Fragen über die Natur der Seele entscheiden zu können: [A]lle jene ernsten und grossen Gedanken, welche die tiefsinnigsten philosophischen und historischen Forscher in den Bewegungen des menschlichen Geistes und deren Ausdruck, der Weltgeschichte, erkannt, […] sind eitle Träume […], Spiele mechanischer mit zwei Armen und Beinen umherlaufender Apparate […], während uns Naturforschern im Reiche der sicht38 39 40 41

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Bayertz et al. 2012, S. XIX. Bayertz et al. 2012, S. 173. Bayertz et al. 2012, S. 174. Bayertz et al. 2012, S. 178.

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Entstehung und Ausbreitung des Neukantianismus

baren Welt die kunstvollste und stetigste Harmonie gesetzmässiger Erscheinungen entgegentritt? 42

Die Gegner des Materialismus sahen ihre religiös geprägte Ordnung der Welt in Gefahr. Besonders der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und die Annahme eines persönlichen Gottes galt es zu bewahren. Der metaphysisch-religiös geprägte Begriff der Seele wuchs zu einem Streit über ihre Verortung an. Wagner und Fichte gaben den Versuch einer Verortung auf, ohne jedoch von der Annahme einer substanziellen Seele abzuweichen. Das ließ den Streit keineswegs abflachen, sondern sorgte im Gegenteil für weitere Probleme. Da die Seele als ausgedehntes Ding, als Substanz, gedacht wurde, geriet die religiöse Überzeugung ins Wanken, dass die Seele nach dem Tod eines Menschen frei wird. Denn wie soll sich eine Substanz vom menschlichen Körper nach dessen Tod lösen, wenn sie am lebenden Menschen nicht lokalisiert werden kann? Am Beispiel des Materialismusstreits lässt sich zeigen, dass für die Philosophie in der Krise viel auf dem Spiel steht. Sie muss dagegen ankämpfen, ihre Deutungshoheit zu verlieren. Ebenfalls deutlich wird, dass sich eindeutige Lager ergeben, die eine klare Position vertreten und sich scharf gegen abweichende Anschauungen abgrenzen. 43 Die gescheiterte Revolution von 1848/49 stellt auch für die Philosophie eine tiefgreifende Zäsur dar. Die Linkshegelianer befinden sich in der Emigration und die Rechtshegelianer verlieren ihr Zutrauen in den vernunftgemäßen Verlauf der Geschichte. Die staatliche Überwachung und Bevormundung führt zur Akademisierung und Entpolitisierung der Universitätsphilosophie. Eine skeptische Generation an Professoren steht spekulativen Systementwürfen und politischen Utopien mit Misstrauen gegenüber. »Der ›Zusammenbruch des Idealismus‹ und der Erfolg der positivistisch geprägten Einzelwissenschaften hatten nach der gescheiterten Märzrevolution zu einer

Bayertz et al. 2012, S. 77–78. Dieser Befund trifft ebenfalls auf die Fischer-Trendelenburg-Debatte zu, die in Kapitel 2.3.2 verhandelt wird. Auf die anderen viel diskutierten Debatten um den Darwinismus und Ignorabimus wird hier nicht eingegangen. Siehe dazu Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hg.): Der Ignorabimus-Streit, Hamburg 2012 und Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hg.): Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2012.

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Identitätskrise der Universitätsphilosophie geführt«. 44 Es lässt sich ein schwindender Einfluss der Universitätsphilosophie auf die Gesellschaft konstatieren. Welche Aufgabe wird ihr noch zuteil? Es kristallisieren sich die Philosophiegeschichtsschreibung sowie die Erkenntnistheorie heraus. Letztere ist in der Frühphase des Neukantianismus durch ihre Vertreter Hermann von Helmholtz, Eduard Zeller und Friedrich Albert Lange sinnesphysiologisch ausgerichtet. 45 Adolf Trendelenburg war einer der Ersten, der auf die Krise der Philosophie reagierte. Diese müsse die Erfolge der Naturwissenschaften anerkennen und solle im Zuge dessen Wissenschaftstheorie werden. Seine Vorstellung von Philosophie als »Wissenschaft der Idee« hat in den 1860ern angesichts von Haeckel, Darwin und Helmholtz jedoch einen schweren Stand 46. Als Folge dieser Identitätskrise innerhalb der Philosophie ist die Forderung zum Rückgang auf Kant zu verstehen, der dem positivistischen Weltbild der Naturwissenschaften einen Blick auf das menschliche Erkenntnisvermögen entgegensetzt: »In diesem Zusammenhang gewann Kant nicht nur durch die systematischen Intentionen seines Denkens an Gewicht. Allein die Tatsache, daß seine Lehre nicht zum absoluten Idealismus gehörte, sicherte nach dessen Niedergang ihre Attraktivität«. 47 Der Neukantianismus profitierte von günstigen institutionellen Bedingungen. Nach der Reichsgründung erhielten die Universitäten einen finanziellen Aufschwung. Zwischen 1870 und 1880 stiegen die Wissenschaftsausgaben auf 123 %. 48 Besondere Förderung erhielt die Straßburger Universität, um Elsaß-Lothringen stärker an das Deutsche Reich zu binden. Der Neukantianismus gewann während der Kaiserzeit an Popularität und verbreitete sich rasch innerhalb der akademischen Welt. Außerhalb der Universität waren andere Strömungen einflussreich, wie der Pessimismus Schopenhauers, der Materialismus und die Religionskritik der Linkshegelianer. Nicht nur der Pessimismus Schopenhauers erreichte außerhalb des akademischen Betriebs eine rasche Verbreitung, sichtbar an hohen Auflagen seiner Werke, sondern auch derjenige Eduard von Hartmanns. Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, S. 77. 45 Sieg 1994, S. 120–124. 46 Beiser 2014, S. 19–23. 47 Sieg 1994, S. 77. 48 Sieg 1994, S. 75. 44

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Verständlich wird die erfolgreiche Verbreitung neukantianischen Denkens erst bei der Betrachtung des universitären Kontextes. Hier gilt es, die Situation des Fachs Philosophie an den Universitäten zu der Zeit zu beachten, ferner das Konkurrenzverhältnis zu anderen Fächern sowie die genuin innerphilosophischen Konflikte. Die Philosophie befand sich in der Zeit um 1900 in einer Krise. Sie galt nicht mehr als die Wissenschaft der Wissenschaften, sondern war ein Fach unter vielen. Die Einzelwissenschaften differenzierten sich aus und emanzipierten sich von der Philosophie. Die Philosophen mussten sich die Frage gefallen lassen, welche genuin eigene Aufgabe ihrem Fach für die Bearbeitung noch zukomme. Zwei mögliche Aufgabenfelder kristallisierten sich heraus: zum einen die Synthese der Ergebnisse aus den Einzelwissenschaften zu einer allgemeinen Weltanschauung; zum anderen die Auslotung und Analyse der Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis selbst. Die Neukantianer wenden sich dem letzteren Aufgabengebiet zu, indem sie auf die Philosophie Immanuel Kants zurückgreifen. Vor allem seine Erkenntnistheorie wurde erneut mit dem Ziel rezipiert, der Philosophie ein solides Fundament zurückzugeben. Die Neukantianer forcierten eine weltanschaulich neutrale Philosophie, die als einigendes Band innerhalb des Fachs fungieren sollte. Die Neukantianer, die in den 1840er Jahren geboren wurden, konnten unter veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen ihre Karrieren beginnen. So profitierten Otto Liebmann, Alois Riehl, Wilhelm Windelband, Benno Erdmann, Friedrich Paulsen sowie Hans Vaihinger von den Vorarbeiten der skeptischen Generation des Nachmärz, namentlich Friedrich Albert Lange und Kuno Fischer. Die jüngere Generation erhielt schneller eine Professur und musste keine Eingriffe seitens des Staates fürchten. 49 Der Neukantianismus konnte sich institutionell gut verankern, da viele Stellen vakant waren. Die Neugründung der Universität Straßburg hat ihren Teil dazu beigetragen. Die Neukantianer besetzten ihre Lehrstühle zur Hochzeit des Kulturkampfes zwischen 1876 bis 1878. Klaus Christian Köhnke vertritt die These, dass sich der Neukantianismus ohne den Berufungsboom der 1870er Jahre nicht so rasch an den Universitäten

Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main 1986, S. 306–307.

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hätte etablieren können. 50 Ebenfalls bedenkenswert ist in diesem Kontext die Etablierung eines Privatdozentenstipendiums im Jahr 1875 durch den Kultusminister Adalbert Falk. Dieses ermöglichte vielen Neukantianer die finanzielle Absicherung ihrer Habilitation. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 machte der Neukantianismus als Ganzes Karriere. Die Gründung der Universität Straßburg wurde als »mächtigstes Mittel des deutschen Geistes« 51 angesehen. So ist die Berufungssituation der Neukantianer insgesamt als gut zu bezeichnen, denn »bis 1880 sind die führenden Köpfe des frühen Neukantianismus bis auf den Mittzwanziger Vaihinger bereits alle mindestens zu außerordentlichen Professoren ernannt. An neun deutschsprachigen Universitäten ist damit der Neukantianismus durch wenigstens einen hervorragenden Vertreter präsent, und die Bewegung als Ganze hatte damit innerhalb von nur sechs Jahren die Zahl ›ihrer‹ Stellen mehr als verdoppelt«. 52 Die Neukantianer verteilten sich auf der universitären Landkarte des deutschsprachigen Raumes wie folgt: Jürgen Bona Meyer war in Bonn, Kuno Fischer in Heidelberg, Otto Liebmann in Straßburg, Alois Riehl in Graz, Wilhelm Windelband in Freiburg, Hermann Cohen in Marburg, Friedrich Paulsen in Berlin, Johannes Volkelt in Jena, Benno Erdmann in Kiel sowie Hans Vaihinger in Straßburg. Die wichtigsten Zentren des Neukantianismus sind Marburg und Freiburg. Die Neukantianer richten sich gegen die Verabsolutierung von Erkenntnissen der Naturwissenschaften und des religiösen Glaubens zu einer Weltanschauung. 53 Die Haltung des Neukantianismus zu geKöhnke 1986, S. 310–311. Das lässt sich aus den stenographischen Berichten über die Reichstagsdebatte entnehmen, die Köhnke 1986, S. 312–313, bietet. 52 Köhnke 1986, S. 313–314. 53 Sie fungierten quasi als Anwälte bürgerlicher Freiheits- und Grundrechte. Die Neukantianer standen zudem durch die Sicherung der Autonomie der Philosophie für die Legitimation der sittlichen Person ein: »Jedenfalls glaubte man noch während der 1870er Jahre, daß sowohl durch eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung der Seele des Menschen, seiner Lebenswelt und aller Handlung als auch durch eine weltanschauliche Verabsolutierung von religiösen Dogmen oder durch die pessimistische These des Unwertes allen Lebens die Freiheit, die gelebte Freiheit, im neuen Reich gefährdet werde. Weil man philosophische, politische und weltanschauliche Ideen für die ›Ursachen‹ gesellschaftlicher Konflikte ansah, statt sie als einen möglichen Ausdruck solcher Auseinandersetzungen zu begreifen, reagierte man adäquat eben auch durch Kritik der Ideen.« Köhnke 1986, S. 322. 50 51

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nuin philosophischen Aufgaben hängt eng mit ihrem Verständnis des kantischen Begriffs »a priori« zusammen: Wissenschaftliches Denken verhält sich zu seinen Gegenständen immer formal. Den Einzelwissenschaften gelingt dies durch die Anwendung von Grundbegriffen und Methoden in logischer und methodischer Art und Weise. In der Philosophie werden diese Verfahren selbst Gegenstand der Betrachtung in Form von Logik und Erkenntnistheorie. Kants Begriff des a priori war ein gemeinsamer Ausgangspunkt für die Entwicklung eigener philosophischer Ansätze. Was die Neukantianer daraus entwickelten, ist jedoch höchst unterschiedlich. Bei Cohen erzeugt das Apriorische den Gegenstand erst, wohingegen Alois Riehl darunter »eine Teilleistung des Bewußtseins im Akt der Erkenntnis« versteht. »Aber auch er begründete das Apriorische dann ganz anders als Kant. Und zwar vom Theorem der Apperzeption her, bewußtseinspsychologisch, als Leistung der Einheit des Bewußtseins«. 54 Aufgrund unterschiedlicher Interpretationen von Kants Philosophie blieben teils intensiv geführte Debatten nicht aus. So grenzt sich Cohen mit seiner Haltung zur Philosophiegeschichtsschreibung stark von der seiner Kollegen ab. Seine vehement vertretene These lautet, dass sich die Historiographie der Systematik unterzuordnen habe. Damit übt er Kritik an Kuno Fischers entwicklungsgeschichtlicher Betrachtungsweise von Kants Philosophie. Cohen sieht die Philosophie vielmehr in der Pflicht, eine Darstellung ihrer Problemgeschichte zu liefern. 55 Cohens Vorwurf an Fischer zielt auf seine biographisch-entwicklungsgeschichtliche Darstellung von Kants Lehre. Brisant ist dieser Vorwurf, da Fischer Hegelianer ist und es ihm im Grunde ein Anliegen sein sollte, Kants Ideen in den frühen Schriften ausfindig zu machen und sein System aus dieser Analyse heraus zu verstehen. Die auf den ersten Blick methodische Kontroverse legt auch offen, dass Cohen und Fischer jeweils ihre Lesart von ihrem Kant haben. Denn »ein Jeder liest ja seinen Kant« 56, wie Cohen es in Kants Theorie der Erfahrung ausdrückt. Als einen Versuch, Debatten dieser Art zu schlichten, kann Friedrich Paulsens Beitrag Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Köhnke 1986, S. 355. Köhnke 1986, S. 367. In seiner Darstellung der Fischer-Trendelenburg-Debatte erörtert Cohen sein Verständnis von Philosophiegeschichtsschreibung. Darauf wird in Kapitel 2.3.3 näher eingegangen. 56 Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 11871, in: Helmut Holzhey (Hg.): Hermann Cohen. Werke. Bd. 1.1. Hildesheim/Zürich/New York 1987, S. XI. 54 55

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Kantischen Erkenntnistheorie aus dem Jahr 1875 gelesen werden. In jedem Fall stellt er einen neuen Abschnitt in der Beschäftigung mit Kants Texten dar. Er wahrt weit größere Distanz zu seinem Forschungsobjekt, als es Fischer und Cohen getan haben. Paulsen geht es um eine objektive Darstellung der Entwicklung der Kantischen Erkenntnistheorie und weit weniger um eine heroische Stilisierung Kants zur Absicherung des eigenen philosophischen Standpunktes. Doch Paulsens Position war innerhalb des Neukantianismus die eines Außenseiters. Er liest zuerst Hume, anschließend Kant und beschreibt seine Leseerfahrung der KrV als eine Art Erweckungserlebnis: »Nun las ich die Kritik, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: natürlich, nicht die ›Unerkennbarkeit der Dinge an sich‹ ist das Ziel der Beweisführung, wie es mir bisher vorgeschwebt hatte, […] sondern die Möglichkeit ›reiner‹ Erkenntnis und dann die Begründung einer ›reinen‹ Moral und endlich die Begründung einer auf ›Vernunft‹ sich gründenden Weltanschauung«. 57 Als Gegenspieler Paulsens tritt Cohen selbst auf den Plan. Er eignet sich die KrV in einer viel freieren Art und Weise an, als es Paulsen getan hat. Köhnke charakterisiert Cohens Arbeit als »produktive Aneignung«, diejenige Paulsens als »Sekundärdarstellung, die sich der Mittel historischer Kritik zu bedienen wußte«. 58 Die Aufgabe der Philosophie kondensiert sich im Neukantianismus zu einer Prüfungsinstanz und entfernt sich vom Systemdenken Hegel’scher Provenienz. 59 Für dieses Vorhaben muss auf Kants als Autorität zurückgegangen werden, um das eigene Denken abzusichern. Der Rückgang auf Kant kann auch als eine Antwort auf den Pessimismus Schopenhauers und Eduard von Hartmanns gewertet Friedrich Paulsen: Aus meinem Leben. Jugenderinnerungen, Jena 1909, S. 189– 190. 58 Köhnke 1986, S. 372. 59 »Philosophie ist diejenige Wissenschaft, die überhaupt nur noch die quaestio juris des Denkens zu beantworten sucht, sie ist Wissenschaft in der Funktion der Schiedsund Rechtsinstanz gegenüber allen Ansprüchen von Einzelwissenschaften, Philosophien und Ideologien, die meinen, etwas beweisen zu können, was überhaupt nicht bewiesen werden könne: daß für das Leben, die Gesellschaft oder die Zukunft aus Erkenntnissen praxisrelevante Schlüsse zu ziehen seien. Dieser Wissenschaftsbegriff nämlich ist aus der Position der Abwehr gedacht: gegen materialistische Konsequenzen aus der Naturwissenschaft, gegen weltanschauliche Ansprüche aus Systemen, metaphysischen Prinzipien, Glaubenssätzen – gegen die Behauptung von Geschichtsgesetzen ebenso wie gegen aus Wissenschaft zu folgernde Forderungen einer Gesellschaftsveränderung.« Köhnke 1986, S. 348–349. 57

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werden, mit dem sich Windelband und Paulsen innerhalb des akademischen Kontextes beschäftigen. Beide wenden sich mit Friedrich Albert Lange gegen die pessimistische Strömung. Sie fordern eine strikte Trennung der Bereiche Wissenschaft und Weltanschauung, die nicht in ein wechselseitiges Begründungsverhältnis eintreten sollen. Dadurch soll der Gefährdung der Autonomie der Person und mit ihr der Philosophie entgegengewirkt werden. 60 Die pessimistische Strömung hat für Windelband in der Philosophie keinen Platz, da sie seinem Wissenschaftsverständnis widerspricht. Die wissenschaftliche Legitimität spricht er ihr ab, da sie sich auf Stimmungen sowie eine Weltanschauung beziehe. Diese zwei Aspekte haben für Windelband keinen Platz im wissenschaftlichen Denken. 61 Die Neukantianer grenzen sich mit ihrem Philosophieverständnis von einer Inanspruchnahme der Wissenschaft als christlicher Weltanschauung ab. Zugleich wollen sie den Materialismus auf den Bereich der Naturwissenschaft verweisen und eine Übertragung auf ethische Fragestellungen verhindern. Das Anliegen der Verteidigung freiheitlicher Werte wird durch die Repressionen sowohl von Seiten der Kirche als auch des Staates zwischen den Karlsbader Beschlüssen und der Neuen Ära verständlich. In einer Zeit, in der auch die Wissenschaften in Einzelfächer zerfallen und der Systemgedanke nicht mehr tragfähig ist, streben die Neukantianer nach einer gefestigten, eigenständigen Philosophie: So verwundert es nicht, dass die Verfestigung des Neukantianismus als vorherrschende philosophische Strömung mit der Hochzeit des Liberalismus zusammenfällt. Der in Graz lehrende Alois Riehl äußert sich zu der Frage, warum auf Kants Philosophie zurückgegangen werden müsse, mit einer Kritik der materialistischen Position seiner Zeit. Als Gegenspieler zu den Positionen von Cohen und Paulsen kristallisiert sich Riehl in seiner entwicklungsgeschichtlichen Auffassung heraus. Von John Locke über David Hume bis hin zu Immanuel Kant zeichnet er eine philosophische Entwicklungslinie. Von ganz anderer Couleur stellt sich der Kantforscher Benno Erdmann dar. Als »Anwalt Kants gegen die Neukantianer« sticht er mit seiner Forschungsposition hervor. Sein Versuch zielt auf die Analyse des kantischen Umfeldes im weiten Sinne ab, um die Entwicklung der kantischen Erkenntnistheo-

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Köhnke 1986, S. 335. Köhnke 1986, S. 334.

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rie zu erhellen, »statt etwa nur, wie sonst üblich, dessen Erkenntnistheorie mithilfe von Klassiker-Zitaten zu erläutern«. 62 Mit Erdmann beginnt die Phase der philologischen Untersuchung von Kants Texten. Innerhalb der Kantbewegung bildet sich die Kantphilologie heraus. In seinem 1878 erschienenen Werk Kant’s Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft 63 spricht er sich gegen die neukantianische Bewegung und damit gegen jegliche Aktualisierung Kants aus. Er vertritt die These, dass die KrV weit davon entfernt sei, einen Beitrag zur Lösung zeitgenössischer Probleme zu leisten. Durch die zeitliche Distanz sei jedoch eine Steigerung ihres historischen Verständnisses möglich. Erdmann rekonstruiert die Debatte um die erste und zweite Auflage der KrV und macht als Kern die Frage aus, ob B eine »hin und wieder verbesserte« oder vielfach verschlechterte Auflage sei. Zu Beginn des Streits haben die Verfechter von A – Arthur Schopenhauer, Karl Rosenkranz, Johann Eduard Erdmann und Kuno Fischer – Kant bei der Bearbeitung von A unterstellt, diese wider »besseres Wissens aus feiger persönlicher Rücksichtnahme verunstaltet« 64 zu haben. Auf der anderen Seite stehen Gustav Hartenstein, Hermann Cohen, Alois Riehl, Eduard Zeller sowie Friedrich Ueberweg, die B bevorzugen. Durch Schaffung einer verbindlichen Textgrundlage war die Hoffnung verbunden, dass die systematische Kantforschung zu ihrem Recht kommen könne und nicht mehr die historisch-philologische Arbeit belaste. Erdmann stellt Kants Werk zurück in den Kontext seiner Zeitgenossen, um das radikal Neue seiner Philosophie aufzuzeigen. 65 Als Hauptfragen von A macht er aus: »›Was und wieviel kann Verstand und Vernunft frei von aller Erfahrung erkennen?‹ sowie daran anknüpfend: ›Wie lässt sich die objective Gültigkeit der Verstandesbegriffe a priori begreiflich machen?‹« 66 Er kommt zu dem Schluss, dass Kants Überarbeitung von A zu einem Großteil auf die Rezeption seiner Kritiker zurückzuführen sei: »Nur ein ganz kleiner Bruchteil der Veränderungen der späteren Bearbeitung ist […] einer rein immanenten Klärung und bloss formellen Fortbildung des

Köhnke 1986, S. 378. Benno Erdmann: Kant’s Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1878, Neudruck Hildesheim 1973. 64 Erdmann 1878, S. 1. 65 Erdmann 1878, S. 10–11. 66 Erdmann 1878, S. 11–12. 62 63

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ursprünglichen Gedankengehalts des kantischen Hauptwerks entsprungen«. 67 Erdmann bezieht zudem bei der Beurteilung der Änderungen von B die KpV mit ein. Er erinnert an die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in der Rezeption der KrV und die daraus resultierenden divergierenden Ergebnisse der Interpretation. Sein methodisches Vorgehen besteht in der Analyse von Kants eigenen Äußerungen über die KrV in Kombination mit einem historischen Verständnis der beiden Auflagen. Alle diese Auffassungsweisen haben in der früheren Kantliteratur mannigfache Vorläufer […]. Zur bestimmten Grundlage umfassenderer Interpretationsversuche sind sie jedoch ohne Ausnahme erst in der gegenwärtigen, seit der Mitte des vorigen Jahrzehnts etwa bestimmt aufgetretenen Bewegung um Kant geworden. Es ist daher gegenwärtig der Gegensatz in der Interpretation der Lehre Kants ungleich tiefergehend als zu irgend einer früheren Epoche der nachkantischen Philosophie. Dies um so mehr, als die entschiedenere Setzung des einen Gesichtspunktes fast überall dazu geführt hat, die relative Berechtigung der anderen ganz zu verkennen. 68

Den Grund hierfür sieht Erdmann in der Tendenz, Kant nicht historisch, sondern nur sachlich auszulegen. »Je nach der Parteistellung also, die man selbst einnimmt, wird sich die Reconstruction verschieben, sei es dass der Zusammenhang, sei es dass der Gegensatz zu dem eigenen Urtheil über die sachlichen Probleme stärker hervortritt, als ein solcher historisch genommen vorhanden war« 69. Erdmann sieht drei Formen der Kantinterpretation als legitim an: I) den Kritizismus, der Kants Philosophie als Fortführung der Bestrebungen Humes ansieht. Dies ist Erdmanns eigene Position sowie die von Alois Riehl. II) Den formalen Rationalismus, der die kopernikanische Wende sowie Kants Ding an sich in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt. Paulsen ist ein Vertreter dieser Interpretationslinie. III) Den absoluten Idealismus, der nur die erste Auflage der KrV rezipiert. Als Vertreter ist Kuno Fischer zu nennen. Nach Erdmanns Ansicht sind dies durch Kants Schriften unmittelbar gewordene Interpretationen. Polemischer geht er gegen andere Neukantianer vor: Er kritisiert den Ansatz, Kants Lehre als Theorie der Erfahrung aufzufassen. Dies ist ein eindeutiger Hinweis auf Cohen, der ein Buch 67 68 69

Erdmann 1878, S. 238. Erdmann 1878, S. 246. Erdmann 1878, S. 246–247.

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mit eben diesem Titel 70 verfasst hat, jedoch von Erdmann nicht explizit erwähnt wird. Weiterhin kritisiert er Vaihinger sowie Lange für ihren Kritizismus der philosophischen Methode. Auch Günther Thiele, Professor in Königsberg, gerät mit seiner Kantinterpretation des Kritizismus der intellektuellen Anschauung bei ihm in Misskredit. Bis zur Gründung der Kant-Studien 1897 durch Hans Vaihinger war die Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie das Publikationsorgan der Neukantianer: Liebmann, Paulsen, Riehl, Windelband, Laßwitz, Wundt sowie Zeller publizierten rege. Richard Avenarius greift in seiner Einführung der ersten Ausgabe der Viertaljahresschrift die Krisenstimmung in der Philosophie auf und hält ihr eine Frage entgegen: »Wie ist Philosophie möglich, wenn nicht als Wissenschaft?« Dabei geht er davon aus, dass Philosophie sich nicht in »Dichtung oder Religionsvertiefung« erschöpfen könne, sondern »Wissenschaft sein will«. 71 Er eröffnet die Vierteljahresschrift mit einem Plädoyer für den Abwurf von Scheinproblemen der philosophischen Tradition. Gefordert wird eine absolut säkulare Philosophie. 72 Die Vierteljahresschrift erscheint von 1877 bis 1901. Den Beiträgen geht um eine Klärung des Verhältnisses zu den Wissenschaften seitens der Philosophie. Von den Einzelwissenschaften ist diese längst erreicht worden. 1863 ziehen die Naturwissenschaften aus der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen aus und treffen damit eine eindeutige Aussage in Bezug auf das Selbstverständnis des eigenen Faches. Im Zuge dieser Auseinandersetzung grenzt die Philosophie ihren Aufgabenbereich auf Logik im Sinne der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie die Geschichte der Philosophie ein. Nach zwei Jahren zogen sich Windelband und Liebmann von der Mitarbeit an der Vierteljahresschrift zurück. Ersterer beschimpft die »wissenschaftlichen Philosophen« als Sophisten: »Platon und Aristoteles haben zuerst ihre Philosophie als die Wissenschaft (ἐπιστήμη) der Sophistik als der unwissenschaftlich voraussetzungsvollen Meinung (δόξα) entgegengestellt, und mit einer Umkehrung, die man

Siehe Fußnote 56. Richard Avenarius: »Zur Einführung«, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie. 1877, S. 1–14, S. 2 (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94128f/ f9.image) (04. 10. 21). 72 Köhnke 1986, S. 391. 70 71

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einen Witz der Geschichte nennen könnte, pflegen heutzutage die positivistischen und relativistischen Erneuerer der Sophistik ihre Lehre als die ›wissenschaftliche‹ Philosophie derjenigen gegenüberzustellen, welche die große Errungenschaft der griechischen Wissenschaft noch aufrecht erhält«. 73 Die Kernfrage der Vierteljahresschrift, warum und wozu noch Philosophie betrieben werden soll, war virulent. Eduard Zeller stellt in seiner Antrittsrede Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntniss-Theorie 74an der Universität Heidelberg fest, dass für die Philosophie nur das Aufgabenfeld der Erkenntniskritik bleibt. Zeller entwickelt sein an den Naturwissenschaften orientiertes Verständnis der Erkenntnislehre ausgehend vom kantischen Kritizismus: Je unumwundener wir aber anerkennen müssen, dass in allen unseren Vorstellungen ein subjektives Element ist, dass sich uns die Dinge in denselben immer nur so darstellen, wie dies die uns angeborenen Anschauungs- und Denkformen mit sich bringen, um so unabweisbarer drängt sich uns auch die Frage nach der Wahrheit der Vorstellungen auf, welche wir auf diesem Wege gewinnen. Mag auch unseren Vorstellungen noch so sehr etwas Objektives zu Grunde liegen, wie ist es möglich, dieses Objektive in seiner reinen Gestalt, das Ansich der Dinge, zu erkennen, wenn uns die Dinge doch immer nur in den subjektiven Vorstellungsformen gegeben sind? Kant antwortet, es sei unmöglich […]. Eben hier liegt aber der Grundfehler des kantischen Kriticismus. 75

Zeller führt die Frage an, ob es nicht möglich sei, dass unsere Vorstellungsformen so angelegt sind, dass ein Erkennen der Dinge an sich prinzipiell möglich ist. Er geht dabei über die Betrachtung von Einzeldingen hinaus zum Vergleich der Dinge: »Wenn wir sehen, wie die verschiedensten Objekte in die gleichen Vorstellungsformen gefasst werden, wie umgekehrt dasselbe Objekt sich in verschiedener Weise und aus verschiedenen Gesichtspunkten vorstellen lässt […], so werden wir in den Stand gesetzt werden, zu bestimmen, was in unsern Erfahrungen von den Objekten, was von uns selbst herrührt«. 76 Wenn dieser Weg nicht zum Erfolg führt, dann hält Zeller es für hilfWilhelm Windelband: »Was ist Philosophie? Über Begriff und Geschichte der Philosophie«, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Tübingen 1921, S. 5–6. 74 Eduard Zeller: Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntniss-Theorie. Ein akademischer Vortrag. Heidelberg 1862. 75 Zeller 1862, S. 23–24. 76 Zeller 1862, S. 25. 73

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reich, den Weg der Naturwissenschaft mitzugehen, welchen diese »schon längst und mit dem bedeutendsten Erfolge eingeschlagen hat. Wie wir von den Erscheinungen durch Schlussfolgerung zu den Ursachen aufsteigen, welche ihnen zu Grunde liegen, so prüfen wir umgekehrt die Richtigkeit unserer Vermuthungen über die Ursachen an den Erscheinungen. [Z]eigt es sich dann, dass diese Erscheinungen auch wirklich, nicht blos in vereinzelten Fällen, sondern regelmässig, eintreten, so ist ebendamit die Richtigkeit unserer Annahmen […] dargethan«. 77 Was dabei in Kauf genommen werden müsse, sei die Loslösung von dem idealistischen Ziel, eine objektive Wahrheit erreichen zu können. In der universitären Lehre bearbeiteten in den Semestern 1877 bis 1879 viele Neukantianer die Frage, was wissenschaftliche und was nichtwissenschaftliche Philosophie sei. »Auch daß nahezu zwei Drittel der historischen Veranstaltungen sich mit der Epoche von Bacon bis Kant beschäftigen, läßt erkennen, daß Avenarius’, Windelbands, Paulsens, Riehls und Vaihingers Ansätze zu einer entwicklungsgeschichtlichen Theorie der philosophischen Probleme kaum mehr als Episode blieben: Sie lasen, wie schon Trendelenburg dies getan hatte, philosophische Klassiker zum Zweck der Vergegenwärtigung des vergangenen, zuerst aber des eigenen Denkens«. 78 Das Jahr 1878 war nicht nur gesellschaftspolitisch durch die Attentate auf den Kaiser und die wirtschaftliche Krise eine Zeit der Umbrüche. Auch innerhalb des Neukantianismus vollzieht sich eine Entwicklung hin zur Rezeption von Kants praktischer Philosophie. Wie Köhnke analysiert hat, bricht jedoch die Vorlesungstätigkeit über die philosophischen Klassiker Platon, Aristoteles und Kant in den Jahren 1878/79 deutlich ein. 79 Für die gesellschaftspolitische Krisensituation wurde auch in der Philosophie ein Feindbild gesucht und gefunden. Die Neukantianer wurden in die sozialdemokratische bzw. sozialistische Ecke gedrängt und für die gesellschaftlich desolate Lage mitverantwortlich gemacht. Dabei ging es nicht um die Forderung echter Veränderungen, sondern um die Konstruktion eines Feindbildes: »[I]mmer bewegte sich die Argumentation im Rahmen von Um- und Neudeutungen von AutoZeller 1862, S. 25–26. Köhnke 1986, S. 402. 79 Siehe die Graphik in Köhnke 1986, S. 409 sowie die zugrundeliegenden Daten S. 610–611. 77 78

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ritäten der Theorie und Lehre, ohne die wirklichen Veränderungen und Probleme der sozialen Welt überhaupt nur an irgendeiner Stelle zu streifen. Die soziale Wirklichkeit – von Kinderarbeit bis Wohnungselend, von Klassenjustiz bis Militarismus – kam in solchen Überlegungen nicht vor. Ja, sie brauchte und konnte nicht vorkommen, weil es nicht um ein Verstehen, sondern um politische Polemik und Denunziation des Gegners zu tun war«. 80 Das philosophische Diskussionsniveau war an einem Tiefpunkt angekommen. Die gesellschaftspolitische sowie philosophische Krisenstimmung birgt die Möglichkeit in sich, Erneuerungen hervorzubringen. Ablesen lässt sich das an einem geänderten Rezeptionsinteresse der Neukantianer in den Jahren 1878/79. Sogar Helmholtz spricht nun von metaphysischen Hypothesen, rehabilitiert die Gedanken des deutschen Idealismus und findet […] zu einer Neubewertung des deutschen Idealismus und wird zum Fürsprecher eines Empirismus, der aus pragmatischen Motiven vor allem auf ethischem Gebiet eine Hypothesenbildung fordert, die durchaus auch Anleihen bei den alten, idealistischen und metaphysischen Systemen machen dürfte, wenn nur die ästhetischen und moralischen Gefühle damit in Übereinstimmung ständen 81.

Auch Wilhelm Windelband versucht sich an einer Neubestimmung der philosophischen Aufgaben. Er würdigt Kants KrV in einer Rede zur Säkularfeier dieses Werks: »Das ist nun die große Bedeutung der kantischen Philosophie, daß sie diesem veränderten Verhältnisse der Kulturtätigkeiten zum erstenmal einen völlig adäquaten Ausdruck gibt, daß sie in großen Zügen diesen unseren geistigen Gesamtzustand ausprägt, und das ist die Epoche machende Tat der ›Kritik der reinen Vernunft‹, daß sie diesen Tatbestand mit strengster wissenschaftlicher Beweisführung zum unumstößlichen Bewußtsein bringt«. 82 Windelband hält 1878 einen Vortrag in der akademischen Gesellschaft zu Freiburg im Breisgau mit dem Titel Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick. Darin äußert er sich abfällig über den Parlamentarismus als »Staatsform des Dilettantismus«. Überraschend polemisch führt er weiter aus:

Köhnke 1986, S. 412. Köhnke 1986, S. 416. 82 Wilhelm Windelband: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, in: Präludien I, Tübingen 1921, S. 112–146, S. 120–121. 80 81

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Die Staatsform ist er, vermöge deren jeder beliebige Sophist und Schreihals, mit dem Mandat einer unverständigen Masse in der Tasche, weil Gott ja einmal mit dem Amt auch den Verstand gab, sich dazu berufen glaubt, über alles, was die Interessen des öffentlichen Lebens angeht, sein verantwortungsloses Urteil ex officio abzugeben, und nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht fühlt, sich über die Tätigkeit des erfahrungsreichen Fachmannes, des gewissenhaften Beamten, des genialen Staatsmannes zum Richter aufzuwerfen. Und es bleibt nicht aus, daß dieser dilettantische Zug auch außerhalb der Parlamente gerade diejenigen ergreift, die spezifisch moderne Menschen zu sein wünschen und glauben. 83

Es verwundert, dass ein Neukantianer so offen politisch Stellung bezieht und nicht Wissenschaftsphilosophie oder formale Philosophie betreibt. Windelband sucht in der Krisenzeit der Jahre 1878/79 Halt in der Vernunft, von der aus er seine Wertphilosophie entwickeln kann. 84 »Die ›soziale Gefahr‹, die im Jahre 1878 sichtbar zu werden schien, machte aus dem ›Relativisten‹ Windelband einen kämpferischen ›Wertwissenschaftler‹, der die Interessen des autoritären Bismarckschen Staates offensiv vertrat«. 85 Dahinter steht die Überzeugung, dass gesellschaftliche Fehlentwicklungen auf irreleitenden Ideen respektive Theorien beruhen. Daher setzt Windelband bei dem menschlichen Bewusstsein an, um neue Werte zu vermitteln und so die Gesellschaft zu verändern. Benno Erdmann ist an dieser Stelle weitaus bescheidener als sein Kollege Windelband und fordert eine erneute Besinnung auf die kantische Ethik. Dabei geht er zurückhaltender vor und verfolgt politische Ziele nicht offensiv. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich das Rezeptionsinteresse von der KrV hin zu Kants praktischer Philosophie verschoben: In den 1870er Jahren wurde nur Kants erkenntnistheoretisches Hauptwerk rezipiert. Eine Dekade später beginnt hingegen ein stetig wachsendes Interesse an Kants praktischer Philosophie. Damit einher geht eine Wandlung der Streitpunkte innerhalb des Neukantianismus. War innerhalb des ersten Debattenjahrzehnts Kants Begriff des a priori Anlass für zahlreiche Diskussionen, so ist die Sachlage innerhalb der Rezeption der praktischen Philosophie Kants eine andere: »Aber über die Apriorität im Bereich der praktischen Philosophie war kein Ver83 Wilhelm Windelband: »Über Friedrich Hölderlin und sein Geschick«, in: Präludien I, Tübingen 1921, S. 230–259, S. 256. 84 Siehe Kapitel 2.5. 85 Köhnke 1986, S. 427.

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handeln mehr möglich, war man doch felsenfest davon überzeugt, daß die Ereignisse auch der jüngsten Krise auf geistige und moralische Fehlentwicklungen zurückgingen«. 86 Dieser Einschnitt war für den Neukantianismus tiefgreifend, da mit ihm das Ende der akademischen Liberalität der Ära Falk verbunden war. »Die ›Nation Kants‹ (Treitschke) berief von nun an keine Juden mehr in ordentliche Professoren (bis 1903)«. 87 Das zweite Attentat auf den Kaiser bringt den Liberalismus zu Fall. Der Sozialismus als Feindbild wird vom zunehmenden Hass gegenüber Juden überlagert. Cohen führt seine Lehrstuhlbesetzung an der Universität Marburg auf den für ihn glücklichen Umstand zurück, dass ein Liberaler zu der Zeit Kultusminister war, wie er Heinrich von Treitschke am 27. Dezember 1879 brieflich mitteilt. 88 Bei der Lektüre von Texten der Neukantianer ist die Konstellation mitzubedenken, vor der aus sie ihre Philosophie entwickeln. Ist die Entwicklung des kantischen Denkens nur vor dem Hintergrund des Rationalismus sowie des britischen Empirismus heraus zu verstehen, so ist es hundert Jahre später der Aufstieg des deutschen Empirismus sowie der Niedergang des nachkantischen Idealismus. 89 Der Neukantianismus ist eine philosophische Strömung des Kaiserreiches. Der Rückgang auf Kants Erkenntnistheorie stellt einen sicheren Ausweg dar, um den expandierenden Naturwissenschaften ein genuin philosophisches Aufgabengebiet entgegenhalten zu können. Die Neukantianer eint die Vorstellung, dass die Wirklichkeit nicht unabhängig vom Denken existiert. Die empiristische Trennung von Subjekt und Objekt lehnen sie ab. Ihnen geht es vielmehr um eine Verbundenheit der beiden Aspekte in der Erkenntnisrelation. 90 Aus der kantischen Philosophie entwickelten die Neukantianer höchst diKöhnke 1986, S. 430. Köhnke 1986, S. 431. 88 Helmut Holzhey: »Zwei Briefe Hermann Cohens an Heinrich von Treitschke«, in: Bulletin für Mitglieder der Gesellschaft der Freunde des Leo Baeck Instituts, Tel Aviv, 12/1969, S. 183–204, S. 199–200. 89 Christian Krijnen: »Das konstitutionstheoretische Problem der transzendentalen Ästhetik in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ und seine Aufnahme im südwestdeutschen Neukantianismus,« in: Marion Heinz, Christian Krijnen (Hg.): Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt? Würzburg 2007, S. 109–134, S. 130. 90 »Die Wirklichkeit erweist sich zwar als unabhängig von unserem Denken, unserer Subjektivität, aber nicht von dem Denken, von derjenigen Subjektivität, die Geltungsgrund von Objektivität ist.« Christian Krijnen: »Transzendentaler Idealismus und empirischer Realismus«, in: Christian Krijnen, Kurt Walter Zeidler (Hg.): Wissen86 87

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vergierende eigene Positionen – von der strengen philologischen Kantexegese Buchstabe um Buchstabe bis hin zu einer freien Interpretation dem kantischen Geiste nach.

2.3 Kantbewegung 2.3.1 Kantianismus, Kantforschung, Kantphilologie: Eduard Zeller, Friedrich Paulsen, Hans Vaihinger Die drei Begriffe ›Kantianismus‹, ›Kantforschung‹ und ›Kantphilologie‹ stehen in einem engen Verhältnis zueinander. Die Kantforschung beschäftigt sich mit Biographie, Entwicklungsgeschichte, Textkommentierung sowie Quellen- und Begriffsgeschichte. Sie muss nicht zwingend zum Kantianismus führen, der gewissermaßen über der Kantforschung schwebt. Vertreter des Kantianismus sehen Kants Philosophie als zentral für ihr eigenes Philosophieren an. Der Kantianismus kann sich nur auf der Basis der Kantforschung ausbilden. Die Kantphilologie ist eine Unterkategorie des letzteren Bereiches. Ihre Aufgabe besteht in der Bereitstellung gesicherter Texte. 91 Hans Zeller, Friedrich Paulsen und Hans Vaihinger stehen in ihren Positionen der Trias Kantianismus – Kantforschung – Kantphilologie mit unterschiedlichen Motivationsinteressen gegenüber. In den Jahren 1875 und 1876 entwickelt sich eine weit verzweigte Kantphilologie. Damit einher geht die Erforschung der Genese der kantischen Philosophie. In den darauffolgenden zwei Jahren erfolgt eine Annäherung der prominentesten Neukantianer an den Positivismus. Die Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie 92 bezeugt dies. Ab 1878 ist eine Wende zur praktischen Philosophie und zum Idealismus auszumachen. Als allgemeine Forderung schaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen Würzburg 2014, S. 10–56, S. 15. 91 Norbert Hinske: »Kantianismus, Kantforschung, Kantphilologie. Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte des Kantischen Denkens,« in: Ernst Wolfgang Orth / Helmut Holzhey (Hg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, S. 31–43. Hinske erinnert daran, dass die heutige Interpretation kantischer Sätze von der Leistung der Kantforschung profitiert. Die Generation Cohens habe diese »Schlüsselsätze […] teilweise erst spät, vielleicht zu spät, kennengelernt.« Hinske 1994, S. 31–32. 92 Siehe Kapitel 2.2.

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wurde festgehalten, dass die Philosophie wissenschaftlich werden und sich ihrer Scheinprobleme entledigen müsse. Die Bedingungen, unter denen Philosophie möglich war, hatten sich innerhalb von zwei Jahrzehnten radikal gewandelt. Nun durfte ausgesprochen werden, was zuvor des Pantheismus verdächtig gewesen wäre und zum Entzug der Lehrerlaubnis geführt hätte: Die im Kulturkampf erreichte Trennung von Kirche und Staat und die dadurch hervorgebrachte Unabhängigkeit der akademischen Lehre von theologisch-›klerikalen‹ Einflüssen begünstigte die neukantianische Bewegung nicht nur, sondern stellte eine objektive Voraussetzung für jegliche ›pantheistische‹, atheistische, positivistische, antimetaphysische wie schließlich auch neukantianische Auffassung von Philosophie dar. Jetzt erst durften Universitätslehrer in Vorlesungen aussprechen, was zur Zeit der neukantianischen Programmatik den Verlust der Lehrerlaubnis bedeutet hatte, was im deutschen Idealismus und Vormärz selbst sogar noch der Zensur zum Opfer gefallen wäre. Nicht ›der Gedanke‹ war hier fortgeschritten, sondern nur seine uneingeschränkte Verbreitung war möglich geworden. 93

Die Klärung des Verhältnisses zu den Wissenschaften löst die Philosophie durch Begrenzung ihres Aufgabengebietes auf Erkenntnisund Wissenschaftstheorie sowie die Geschichte der eigenen Disziplin. Eduard Zeller unternimmt diesen Schritt bereits 1868 in seinem Heidelberger Vortrag Ueber die Aufgabe der Philosophie und ihre Stellung zu den übrigen Wissenschaften. Er fasst apriorisches Wissen nicht als Alleinstellungsmerkmal der Philosophie auf. Sie setze, wie andere Wissenschaften auch, beim menschlichen Bewusstsein an. Da praktisches Wissen ein theoretisches Fundament benötige, seien sowohl die Naturwissenschaft als auch die Geschichtswissenschaft ergänzungsbedürftig durch die Philosophie: [A]ber die Begriffe des Raumes, der Materie, der Bewegung setzt sie [die Naturwissenschaft] voraus; wie uns diese Begriffe entstehen, was ihr letzter Grund ist, ob unsere Vorstellungen von körperlicher Masse, räumlicher Ausdehnung und Bewegung unbedingt richtig sind, oder ob sie vielleicht nur die Art ausdrücken, wie gewisse Dinge und Verhältnisse sich unserer subjektiven Anschauung darstellen, und was in dem letzteren Fall das Objektive und Reale ist, das ihnen zu Grunde liegt – diese und die verwandten Fragen pflegt die Naturwissenschaft weder aufzuwerfen, noch besitzt sie innerhalb ihrer besonderen Sphäre die Mittel, sie zu beantworten. 94 93 94

Köhnke 1986, S. 390–391. Eduard Zeller: »Ueber die Aufgabe der Philosophie und ihre Stellung zu den übri-

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Zeller hat sehr früh erkannt, dass für die Philosophie viel auf dem Spiel steht. Ihm geht es darum, ihr Selbstverständnis stärker zu profilieren. »Zeller insistiert […], dass es ohne die Philosophie keinen Gesamtzusammenhang des Wissens gibt. Wer darauf verzichtet, die Bedingungen wissenschaftlichen Erkennens – die Konzepte, Methoden usw. – zu hinterfragen, der liefert sich dem bloßen Wissenschaftsbetrieb aus und verliert die Kompetenz des Nachdenkens«. 95 Der nachkantischen Philosophie diagnostiziert Zeller das Problem der einseitigen Verknappung von Kants Erkenntnistheorie auf den subjektiven Idealismus: »Wie schwer es aber der Philosophie seit Kant überhaupt wurde, sich von dieser idealistischen Einseitigkeit zu befreien, sehen wir am deutlichsten daran, dass auch solche, die dem Idealismus grundsätzlich entgegentreten […] doch thatsächlich immer wieder in ihn zurückfallen«. 96 Er plädiert stattdessen für ein Zusammendenken des idealistischen und realistischen Anteils am Erkenntnisprozess, die er nicht als gegensätzlich ansieht, sondern als »Richtpunkte, welche das philosophische Denken gleichzeitig und gleich fest im Auge behalten muss, wenn es weder den festen Boden der Wirklichkeit verlieren, noch die Erscheinung mit dem Wesen verwechseln will«. 97 Bereits 1862 betont Zeller in einem Vortrag Kants Verdienst der Durchbrechung des Dogmatismus. Die kantische Synthese des Rationalismus und Empirismus sieht er als großen Verdienst an. Den verengten Blick der nachkantischen Philosophie auf die Erkennbarkeit des Dinges an sich will Zeller zugunsten eines Rückgangs auf Kants erkenntnistheoretische Prinzipien, ihre kritische Hinterfragung sowie Weiterentwicklung ausweiten. Der Erkenntnisprozess besteht ihm zufolge aus den objektiven Eindrücken in Zusammenwirkung mit der subjektiven Tätigkeit. 15 Jahre später erscheinen Zusätze zu gen Wissenschaften. Rede zum Geburtsfeste des Grossherzogs Karl Friedrich von Baden und zur akademischen Preisverleihung am 23. November 1868 in Heidelberg gehalten«, in: ders.: Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung, Leipzig 1877, S. 445–466, S. 462. 95 Gerald Hartung: »Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften bei Eduard Zeller«, in: Gerald Hartung (Hg.): Eduard Zeller. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 153–176, S. 159. 96 Eduard Zeller: »Ueber die gegenwärtige Stellung und Aufgabe der deutschen Philosophie. Vortrag bei Eröffnung der Vorlesungen über Geschichte der Philosophie den 24. Oktober 1872 zu Berlin gehalten«, in: ders.: Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung, Leipzig 1877, S. 467–478, S. 471. 97 Zeller 1877, S. 475.

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dem Vortrag, in denen er vor einem »unkritischen Kultus« in Bezug auf Kant warnt: »Von diesen Geistern, die einer auktoritätsgläubigen Orthodoxie anhängen, fehle es auch heute wie vor 80 und 90 Jahren nicht«. 98 Dieser hängt Zeller nicht an, so dass er sich zu Kants widersprüchlichen Aussagen bezüglich des Dinges an sich äußern kann. Der Widerspruch besteht für ihn darin, dass Kant das Gesetz der Kausalität auf den Bereich des Dinges an sich anwendet. Das Gesetz der Kausalität sei jedoch nur auf die Erscheinungen beschränkt: »[W]enn er das Ding-an-sich für den realen Hintergrund der Erscheinungen erklärt, schliesst er von den letztern auf das erstere nach der Kategorie der Causalität; verwickelt sich aber ebendamit in den Widerspruch, den ihm schon gleichzeitige Gegner so scharf vorgerückt haben, dass er diese Kategorie auf das Ding-an-sich anwendet, während er doch die Anwendbarkeit aller Kategorieen grundsätzlich auf die Erscheinung beschränkt wissen will«. 99 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zeller für eine kritische Neulektüre von Kants Texten plädiert. Er distanziert sich von der Glorifizierung Kants und spricht sich gegen eine einseitige Vereinnahmung seiner Philosophie für eigene philosophische Gedanken aus. Stattdessen sieht er die Philosophie in der Pflicht, Kants Syntheseleistung des Rationalismus und Empirismus anzuerkennen. Diese kann genutzt werden, um die Philosophie als Grundlagenwissenschaft zu festigen. 100 In seinem Kantbuch moniert Friedrich Paulsen im Vorwort der ersten Auflage 1898 die unüberblickbare Menge an Spezialuntersuchungen. Kants Philosophie sei »Gegenstand einer Art philologischer Arbeit, wie es einige Jahrzehnte früher Aristoteles war« 101. Paulsen bekennt sich dazu, kein Anhänger Kants zu sein, jedoch sieht Eduard Zeller: »Ueber Bedeutung und Aufgabe der Erkenntnisstheorie. Vortrag bei Eröffnung der Vorlesungen über Logik und Erkenntnisstheorie den 22. Oktober 1862 in Heidelberg gehalten. Zusätze 1877«, in: ders.: Vorträge und Abhandlungen. Zweite Sammlung. Leipzig 1877, S. 479–526, S. 497. 99 Zeller 1877, S. 520. 100 »Zeller hat gesehen, dass die Philosophie in das Fahrwasser weltanschaulicher Streitigkeiten gerät, wenn sie ihre methodische Klarheit verliert und ihren Anspruch, eine Wissenschaft unter Wissenschaften zu sein, aufgibt. Die Abgrenzung von Philosophie und bloßer Weltanschauungslehre – und der damit einhergehende Status ihrer jeweiligen Hypothesenbildung – gelingen nur auf dem Weg erkenntnistheoretischer Klärung.« Hartung 2010, S. 173. 101 Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 11898, 4 1904, 71924. Paulsen 1898, S. VII. 98

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er es als lohnenswert an, sich mit ihm auseinanderzusetzen. »Das Aufhören der Kritik ist das Anzeichen dafür, daß eine Philosophie tot ist; man nennt das Absterben historisch werden. Für Kant ist diese Zeit noch nicht gekommen; er hat auch der Gegenwart noch wichtige Dinge zu sagen«. 102 Dahinter steht Paulsens Auffassung einer Klassikers. Er vertritt die Auffassung, dass es in der Philosophie Denker gibt, »die nicht veralten, so wenig als die grossen Dichter«. 103 Als Beispiele der »grossen Pfadfinder der Weltgedanken« 104 nennt er Platon, Aristoteles, Spinoza und Kant. Sie bleiben die »lebendigen Lehrer der Philosophie; sie behalten die Kraft, zum Denken über die letzten Dinge anzutreiben«. 105 Paulsen ist überzeugt, dass die Lektüre von Lehrbüchern zur Geschichte der Philosophie nicht diejenige der Klassiker ersetzen könne. Für den universitären Unterricht destilliert er daraus die wichtigste Aufgabe, »zum Denken zu erregen und in das Verständnis der grossen Meister einzuführen« 106. Die »fabrikmässig organisierte Arbeit« 107 anderer Fächer werde man in der Philosophie nicht finden. Paulsen lehnt die aprioristisch-dogmatische Denkweise des 18. Jahrhunderts ab und sieht sich ganz der historisch-genetischen seines Jahrhunderts verpflichtet. Der »Rationalismus und Apriorismus im strengen Kantischen Sinn gehört, trotz dem Pochen der Inhaber der Kantorthodoxie auf die ›transzendentalen Methode‹ sei es gesagt, der Vergangenheit an; er gehört in die Reihe der Descartes, Spinoza, Leibniz, denen das mathematisch-demonstrative Wissenschaftsideal vorschwebte«. 108 Er wünscht sich, dass Kants praktischer Idealismus Einzug in das Zeitalter des Realismus hält und wendet sich damit gegen die einseitige Vereinnahmung der kantischen Philosophie: »[W]er Kant entweder zum skeptischen Agnostiker macht, der die Unerkennbarkeit der ›Dinge an sich‹ lehrt, oder zum subjektiPaulsen 1898, S. VIII. Friedrich Paulsen: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 417. 104 Paulsen 1902, S. 417. 105 Paulsen 1902, S. 417. 106 Paulsen 1902, S. 417. Paulsen rät den Studierenden, sich mit Ernsthaftigkeit in das Studium der großen Denker zu vertiefen. Den weiteren Weg sieht er darin, sich einen »Meister zum Führer« zu nehmen und sich mithilfe dieser Gedanken über die Welt und das Leben auseinanderzusetzen. So werde man am ehesten »zur Einheit auch mit sich selber kommen.« Paulsen 1902, S. 417. 107 Paulsen 1902, S. 417. 108 Paulsen 1924, S. 404. 102 103

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ven Idealisten, für den es überhaupt keine an sich seiende Wirklichkeit gibt, der wird mit seiner Philosophie niemals zurecht kommen, wenigstens nicht durch Auslegung, sondern nur durch Hinein- und Hinausdeutung«. 109 Paulsens Ziel besteht darin, »der idealistischen Metaphysik, die sich in der jüngsten Zeit wieder ans Licht zu wagen begonnen hat, Mut zu machen, indem sie zeigt, daß Kant für sie kein drohender Name, sondern ein geneigter Patron ist«. 110 Im Vorwort zur vierten Auflage seines Kantbuches macht Paulsen Kants Idealismen stark 111: der praktischen Idealismus, den erkenntnistheoretischen sowie den metaphysischen. Die praktischen Ideen vom dem, was sein soll, seien dazu berufen, das Leben zu beherrschen. Der erkenntnistheoretische Idealismus lehre uns, dass Erkenntnis nicht von außen in den Geist kommt, sondern vielmehr durch die schöpferische Kraft des Geistes erst erzeugt wird. Der metaphysische Idealismus habe gezeigt, dass Ideen schöpferische Prinzipien der Wirklichkeit sind. Dieser letzte Aspekt wurde seit der Veröffentlichung der ersten Auflage von Paulsens Kantbuch bestritten. Paulsen kritisiert diejenigen Neukantianer, die vorgeben, den ganzen Kant zu verstehen, aber sich dabei nur die Aspekte herausgreifen, die zur Untermauerung eigener Gedanken passen. Er spricht in diesem Zusammenhang vom »selbstgemachten Kant«. 112 Diesen Fehler will er vermeiden durch eine historische Analyse und Erklärung der Philosophie Kants aus gesellschaftlichen Strömungen wie dem Pietismus und Rationalismus. Paulsen grenzt sich damit von dem Konzept des Autorwillens ab. Er lehnt die dahinterstehende Haltung der Kantianer ab, mit absoluter Sicherheit auftretend zu wissen, was Kant gemeint habe, und entsprechend ihre Interpretation aufzubauen. »Mit Leuten zu streiten, […] deren einziges Argument die Wiederholung ist […], was Kant gesagt hat oder nach ihrer allein echten Auslegung allein gesagt haben kann und darf […], ist nicht meine Sache«. 113 Diese Leute nennt Paulsen »Nichts-als-Kantianer« 114. Paulsen 1898, S. X. Paulsen 1898, S. X. Paulsen benutzt als Textgrundlage die zweite Hartenstein’sche Ausgabe. 111 Paulsen 1904, S. XIII. 112 Paulsen 1904, S. XIX. 113 Paulsen 1904, S. XIX-XX. 114 Paulsen 1904, S. XX. Einer belehrenden Anmerkung Cohens stellt Paulsen eine kritische Spitze entgegen. In einer Fußnote informiert er über Kants finanzielle 109 110

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Paulsen will durch sein Kantbuch einen niedrigschwelligen Zugang zur KrV bieten. Sein Verständnis des Klassikers Kant schließt nicht mit ein, dass seine Schriften ohne Probleme zu verstehen seien. Er denkt die Möglichkeit des Nicht-Verstehen-Könnens der KrV mit. Paulsen steht als Figur innerhalb der Kantforschung am Rand der Konstellation, da er klar benennt, dass die KrV kein auf Anhieb leicht zu verstehendes Werk ist. »Ich vermute, daß die Zahl derer nicht klein ist, die beim ersten Versuch, die Kr.d.r.V. zu lesen, an der Möglichkeit dieses Buch zu verstehen, verzweifeln und dann an ihrer Fähigkeit, philosophische Schriften zu verstehen, überhaupt verzweifeln« 115. Diese bodenständige und nah an den Lesern orientierte Position findet sich bei keinem anderen Philosophen zu der Zeit, der sich mit Kants Philosophie auseinandersetzt. Um die Entwicklung des kantischen Denkens nachzuzeichnen, bedarf es laut Paulsen der AA. In seinem Kantbuch sei dafür nicht der richtige Ort. Er suggeriert, dass Kant die Unterscheidung von vorkritischer und kritischer Epoche vorgenommen hat, ohne jedoch Belege dafür zu liefern. Er warnt vor der künstlichen Einteilung der kantischen Philosophie in Entwicklungsstufen, wie dies bspw. Vaihinger vornimmt. Stattdessen rät er zu einer Konzentration auf Kants Kernanliegen, der »Scheidung der sensiblen und intelligiblen Welt: damit ist der Hauptschlüssel zur kritischen Philosophie gefunden« 116. Paulsen unterscheidet fünf Arten, die KrV zu lesen: 1.

Erkenntnistheoretischer Idealismus: Die Gegenstände unserer Erkenntnis sind Erscheinungen, nicht die Dinge an sich selbst.

Situation und fragt dann: »Ob Friedrich der Große von Kant mehr als den Namen gehört hat? Es läßt sich nicht ausmachen; er sah das ganze deutsche Gelehrtenwesen tief unter sich, und so ist vielleicht auch der Name des berühmtesten unter den preußischen Professoren unter der Schwelle des königlichen Bewußtseins geblieben. – Ich lasse den letzten Satz stehen, obwohl mich Herr Cohen in Marburg aus dem Schatz seiner Gelehrsamkeit hat belehren wollen, daß der König einmal Kant als Redner und Meister des deutschen Stils gepriesen habe. Es ist Herrn Cohen das Malheur widerfahren, daß er in blindem Vertrauen zu seinem Gewährsmann, dem Geschichtsschreiber der Berliner Akademie Bartholmèss, Kant mit dem Hofprediger Quandt, der an einer Stelle der Schrift über die deutsche Literatur genannt wird, verwechselt; hoffentlich paßt auf Quandt das Lob des Königs besser als auf Kant, den als orateur um seiner langue harmonieuse willen rühmen zu hören wohl hätte stutzig machen können. Blinder Eifer schadet nur.« Paulsen 1924, S. 44–45. 115 Paulsen 1924, S. 76–77. 116 Paulsen 1924, S. 102.

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Formaler Rationalismus: Es gibt Erkenntnis a priori. Die Erkenntnis von Gegenständen durch reine Vernunft ist möglich. Sie ist die Bedingung für wissenschaftliche Erkenntnis. Positivismus: Verstandesbegriffe haben objektive Gültigkeit in Anwendung auf Erscheinungen, nicht aber jenseits der Erfahrung. Metaphysischer Idealismus: Dinge an sich sind nicht zu denken als intelligible Wesenheiten, die in der Einheit des allerrealsten Wesens beschlossen sind. Es gibt eine ideelle Wirklichkeit, deren Naturgesetz die teleologische Beziehung auf das höchste Gut ist. Primat der praktischen Vernunft: Die KrV wird als Propädeutik verstanden 117.

Paulsen ist davon überzeugt, dass alle fünf Interpretationen Aspekte von Kants theoretischer Philosophie enthalten. Unklar ist ihm jedoch das Verhältnis der ersten drei Interpretationen zueinander sowie ihre Bedeutung für das kantische System insgesamt. Er kommt auf die ersten drei Interpretationsansätze genauer zu sprechen. Die erste Auslegung wird von Moses Mendelssohn, Christian Garve, Johann Georg Heinrich Feder und Schopenhauer mit der Vehemenz vertreten, dass der »Alles Zermalmende« den naiven Realismus zerstört habe. Die zweite Auslegung sehen Paulsen und Adickes in der »Begründung der Möglichkeit allgemeingültiger und notwendiger Erkenntnis in den Wissenschaften« gegeben mit dem Ziel der »Begründung eines metaphysischen Idealismus in der Weltanschauung« 118. Die dritte Interpretationslinie verficht Benno Erdmann. Der »›Hauptzweck‹ der Kritik sei, zu beweisen, daß die objektive Gültigkeit der Kategorien nicht über die Grenzen möglicher Erfahrung hinausgeht« 119. Laut Paulsen bestehen die Ziele der KrV erstens darin, eine positive Erkenntnistheorie als rationalistische Theorie der Wissenschaften zu etablieren, und zweitens, eine positive Metaphysik als idealistische Weltanschauung aufzubauen. 120 Paulsen hebt Vaihingers philologischen Kantkommentar zwar hervor, jedoch sieht er diesen auch kritisch als Teil der Überfülle an

117 118 119 120

Paulsen 1924, S. 118–119. Paulsen 1924, S. 120–121. Paulsen 1924, S. 120. Paulsen 1924, S. 122.

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Kantliteratur an. 121 Er unterliegt nicht dem Geniegedanken, den seine Fachkollegen in Bezug auf Kant offensiv vertreten. Er ist sich im Klaren darüber. dass die KrV nicht in einem Strom der kantischen Feder entsprungen ist, sondern viele Überarbeitungsstufen erfahren hat. Den Anspruch von Vaihinger, Adickes und Arnoldt, die Entstehungsgeschichte der KrV rekonstruieren zu wollen, würdigt Paulsen. Die monolithisch erscheinende KrV zu dekonstruieren, ist auch Paulsen ein Anliegen: »[I]hr Hauptwert [die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der KrV] besteht darin, daß sie zwingend zeigen, wie zufällig, willkürlich und variabel das anscheinend so feste Gefüge des Systems in Wahrheit ist: alle die Gedanken, die in der Architektonik der Kr. d. r. V. als feste Bauglieder des Systems erscheinen, liegen hier in endlosen Variationen des Inhalts und der Kombination zum Ganzen vor« 122. Paulsen ist der Auffassung, dass die Hauptfrage der KrV, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, erst nachträglich in die Einleitung hinzugefügt worden ist. Nach Paulsens Dafürhalten besteht der Kern der KrV in der Frage, »wodurch und wieweit ist es möglich, durch reine Vernunft (a priori) zur Erkenntnis von Gegenständen zu gelangen?« 123. Das Ding an sich ist nach Paulsens Auslegung nicht Gegenstand der sinnlichen Anschauung, sondern Gegenstand des notwendigen Denkens. »Der Verstand bildet, indem er bei kritischer Besinnung die sinnliche Erkenntnis als solche, d. h. in ihrer Zufälligkeit und subjektiven Bedingtheit erkennt, die korrelativen Begriffe der Erscheinung und des Dinges an sich« 124. Die transzendentale Ästhetik der KrV enthält die metaphysische sowie die transzendentale Beweisführung von Raum und Zeit. Erstere hat zum Ergebnis, dass Raum und Zeit dem Subjekt als Formen der sinnlichen Anschauung ursprünglich angehören und nicht erst mit der Erfahrung hineingebracht werden. Letztere schlussfolgert, dass durch Raum und Zeit erst Erkenntnis a priori möglich ist. Erst in B wird dem transzendentalen Beweis mehr Platz eingeräumt. Hier wird der Beweisführung der Idealität von Raum und Zeit durch die 121 »Garve soll, nachdem er die Kritik zum erstenmal gelesen, gesagt haben: ›Wenn ich das Buch geschrieben hätte, ich wäre darüber verrückt geworden‹. Was hätte er erst gesagt, wenn er auch noch diesen Kommentar dazu gelesen hätte?« Paulsen 1924, S. 129. 122 Paulsen 1924, S. 132. 123 Paulsen 1924, S. 137. 124 Paulsen 1924, S. 157.

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transzendentale Deduktion 125 ersetzt. Als Ergebnisse hält Paulsen fest 126: 1. 2. 3.

Raum und Zeit sind ursprüngliche Voraussetzungen der Auffassung von Dingen. Raum und Zeit sind unaufhebbare Momente unseres Bewusstseins. Raum und Zeit sind Anschauungen.

In Bezug auf die transzendentale Analytik stimmt Paulsen mit Schopenhauer überein, dass dies das schwierigste Stück der KrV sei. Paulsen moniert allgemein, dass Kant in B einige Textstellen verdunkelt habe. 127 Für ihn ist die Frage ungeklärt, wie sich der Verstand zur Ordnung der Erscheinungen in Raum und Zeit verhält. 128 Er sieht einen Bruch in der Argumentation der transzendentalen Deduktion, da hier plötzlich »empirisch bestimmte Erscheinungen« 129 hinzukommen. In Bezug auf den Streit um das richtige Verständnis des a priori, den auf der einen Seite Fries und auf der anderen Fischer und Cohen ausgetragen haben, schließt sich Paulsen der Meinung letzterer an. Die Auffassung von Fries, dass Kant die Erkenntnis des a priori durch Erfahrung gewinnt, hält Paulsen für falsch. 130 Wäre dem so, dann ginge das Kernstück der KrV verloren. Kant entwickele keine empirischpsychologische Philosophie, sondern eine transzendentale. Kants Leistung sieht er in der Synthese des rationalistisch-idealistischen mit dem empiristischen oder dogmatisch-materialistischen Bereich. Die Hauptfragen des Idealismus kondensiert Paulsen auf drei zusammen: 131 1. 2.

Gibt es Körper als wirkliche Dinge außer (extra) uns im Raum? Haben die Körper absolute Wirklichkeit unabhängig von aller Vorstellung?

125 Paulsen spekuliert an dieser Stelle, dass Kant beim Beweisgang für die Zeit »ermattet« sei und ihn deshalb nicht konsequent zu Ende führen konnte. Paulsen 1924, S. 161. 126 Paulsen 1924, S. 163. 127 Paulsen 1924, S. 241. 128 Paulsen 1924, S. 172. 129 Paulsen 1924, S. 182–183. 130 Paulsen 1924, S. 206. 131 Paulsen 1924, S. 243.

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3.

Gibt es überhaupt etwas außer (praeter) unseren Vorstellungen absolut Existierendes (Dinge an sich)?

Paulsens Ansicht zufolge hat Kant bei ihrer Beantwortung seit 1770 nicht geschwankt: Ad 1. Ohne Zweifel gibt es Körper als wirkliche Dinge außer uns; ein wirkliches Ding sein heißt nichts anderes, als in der äußeren Anschauung im Raume als Objekt gegeben sein. Ad 2. Diese Dinge, die Körper, sind nicht die Dinge an sich selbst, sie sind wirklich nur für ein anschauendes Subjekt als Erscheinungen. Ad 3. Es gibt Dinge an sich, die völlig unabhängig von unserm Vorstellen und Denken da sind; freilich sind sie nicht in der Anschauung gegeben und es kommt ihnen also nicht empirische Realität wie den Körpern zu. Die Ausführung der ersten beiden Antworten ist Paulsen zufolge »vorzüglich klar in der Kritik des vierten Paralogismus« in A ausgeführt. In B tritt an diese Stelle die »schillernde Widerlegung des Idealismus« 132, die aber im Grunde nichts anderes aussagt als A. »So ist heute die Neigung weit verbreitet, in der Kantischen Philosophie die bleibende Grundlage der Philosophie zu sehen. Auch ich bin der Überzeugung, daß sie hierzu tauglich ist. Im System scheint mir des Zufälligen und Verfehlten nicht wenig zu sein. Aber die großen Grundgedanken haben dauernden Wert« 133. Paulsen wahrt die notwendige Distanz zu seinem Forschungsobjekt und ist in der Lage, Kants Werk kritisch zu beurteilen. Er will sich mit seiner Position von den Vertretern der Kantorthodoxie abgrenzen. Zusammenfassen lassen sich Kants Verdienste Paulsen zufolge auf folgende Hauptpunkte: Die Philosophie Kants hat das Wesen des Wissens und des Glaubens richtig gefaßt. Sie steht darum mit den beiden Großmächten des geistigen Lebens, mit der Wissenschaft und der Religion, selber in Frieden und ist geschickt, zwischen ihnen Frieden zu stiften. […] Kant lebt mit der Wissenschaft, mit der er selbst in vertrautem Verkehr steht, in Frieden. Der Verstand mag alle Naturerscheinungen, auch die Lebensvorgänge, an der Hand des mecha132 133

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Paulsen 1924, S. 243. Paulsen 1924, S. 396.

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nischen Naturzusammenhangs zu erklären suchen; Kant ist der Ansicht, daß die Sache nicht ohne Rest aufgeht und niemals aufgehen wird […]. Ja, man kann sagen, die wissenschaftliche Forschung hat so wenig Rätsel der Welt gelöst, daß sie es vielmehr immer erstaunlicher macht; […] die Welt, wie wir sie erkennen, ist nur eine zufällige Ansicht der Wirklichkeit selbst, eine Projektion der Dinge auf unsere Sinnlichkeit. Nur ein Verstand, der die Dinge schafft […], erkennt sie als das, was sie an sich sind; ein Verstand, dem sie durch Sinnlichkeit gegeben werden, kommt nicht über eine Erkenntnis ihrer Außenseite hinaus. 134

Der seit 1884 an der Universität Halle lehrende Philosophieprofessor Hans Vaihinger veröffentlicht zum hundertjährigen Jubiläum der KrV 1881 einen Kommentar. Elf Jahre später erscheint der zweite Band. Vaihingers Kommentar wurde von vielen Seiten kritisiert, da er eine Vielzahl an Widersprüchen und Ungereimtheiten im kantischen Text ausgemacht hat. Im Vorwort zum zweiten Band betont er, dass es keineswegs seine Intention war, die »Gesammtgrösse des Kantischen Geistes« 135 herabzusetzen. Einen Fehler sieht Vaihinger in seiner Verwendung des Terminus ›Kantphilologie‹ : Cohen hatte 1871 […] zuerst von der ›philologischen Genauigkeit‹ gesprochen, mit welcher Kant behandelt werden müsse; 1876 sprachen Laas […] und Liebmann […], Riehl und Windelband […] von ›Kantphilologie‹ im Sinne einer gründlichen und sorgfältigen Erforschung Kants. Paulsen sprach über dieselbe […] 1878 das treffende Wort aus: ›Die wirkliche und wahre Philologie befreit von dem Joch der Autorität, welches ein unsicher und halb aufgefasster Gedankenkreis aufzuerlegen pflegt.‹ Und 1881 nennt Erdmann […] die Kr. d. r. V. ein Werk, das die ›philologische Erklärung des Einzelnen durchaus fordert, so gerechtfertigt der Anspruch des Philosophen ist, man solle es aus der Idee des Ganzen heraus zu verstehen suchen.‹

Vaihinger ist überrascht, dass ihm der Terminus ›Kantphilologie‹ negativ ausgelegt worden ist: »Was sollte denn der Ausdruck anderes besagen, als Uebertragung der exacten Methode, wie sie in den anderen historischen Wissenschaften gehandhabt wird, auf das Kantstudium?«. 136 Paulsen 1924, S. 396–398. Hans Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Band. Stuttgart/Berlin/Leipzig 1892, S. VI. 136 Vaihinger 1892, S. VI. Schneider bewertet diese Trennung von Philologie und Philosophie im Nachhinein wie folgt: »Die Grenze zwischen einer philosophischen und einer philologischen Auffassung markiert Weisen des Umgangs mit Philosophie; sie trennt das freie Denken, das sich frei auf anderes Denken bezieht, von der wissen134 135

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In seinem Commentar geht er auf die Fischer-TrendelenburgDebatte 137 ein, die er als »wichtigste und zugleich reizvollste Kantcontroverse« 138 bezeichnet. Trendelenburgs Ansicht der »dritten Möglichkeit« in Bezug auf das kantische Verständnis seiner Raumkonzeption schließt sich Vaihinger zwar an, jedoch bescheinigt er ihm eine logische Unrichtigkeit in seiner Argumentationsführung, da er die Ursprungs- und Geltungsfrage miteinander vermischt habe. Zunächst bemängelt er an der Kontroverse, dass Nebensachen zu Hauptsachen stilisiert werden. So »handelte es sich immer wieder darum, ob K. Fischer in seine Darstellung der Kantischen Lehre von R. und Z. [Raum und Zeit] Unkantisches aufgenommen habe, ob seine Darstellung eine authentische oder eine gefärbte, ja verfälschte und verfälschende sei« 139. Dieser Umstand mache es schwer, »die Streitschriften beider Gegner[,] ein verfilztes Gewebe von Wahrheit und Irrthum, von Scharfsinn und Kurzsichtigkeit« 140 zu entwirren. Die Vermischung der Bereiche Ursprung und Geltung, die Vaihinger Trendelenburg unterstellt, lässt sich anhand des Begriffes ›subjectiv‹ nachzeichnen. Der Frage, was der Raum für das menschliche Erkennen ist, könne auf drei Arten begegnet werden: 1) 2) 3)

der Raum ist objectiv, der Raum ist nur subjectiv, der Raum ist subjectiv und objectiv zugleich. 141

Die ersten beiden von Kant aufgestellten Thesen fallen in den Geltungsbereich. Der Passus »nur subjectiv« meint, dass der Raum keine Entsprechung in der Realität hat, sondern einzig aus der produktiven Tätigkeit des menschlichen Geistes entsteht. In Trendelenburgs dritter Möglichkeit wird der Begriff »subjectiv« nicht ideell, sondern apriorisch verwendet: »[D]er Raum ist erstens apriorisch, hat seinen Ursprung im menschlichen Subject – als Vorstellung; was aber seine Geltung betrifft, so ist er zweitens trotzdem zugleich real«. 142 Für

schaftlichen und pädagogischen Arbeit des Kommentierens und Dozierens, wodurch Philosophie als Textkorpus und als Argumentationsweise vergegenwärtigt wird.« Schneider 1999, S. 359. 137 Siehe Kapitel 2.3.2. 138 Vaihinger 1892, S. VI-VII. 139 Vaihinger 1892, S. 135. 140 Vaihinger 1892, S. 135. 141 Vaihinger 1892, S. 137. 142 Vaihinger 1892, S. 137.

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Vaihinger ist es unverständlich, warum Fischer diesen logischen Fehler nicht bemerkt. Damit ergeben sich zwei Standpunkte des Geltungsbereiches: »I. Der Raum ist etwas Reales. II. Der Raum ist etwas Nicht-Reales, somit nur Vorgestelltes, Ideelles.« Vom Standpunkte der Ursprungsfrage gibt es (zunächst) ebenfalls nur zwei Hauptansichten: I.

II.

Die Raumvorstellung des Menschen ist aus der Erfahrung entstanden, d. h. in und mit den Empfindungen resp. Wahrnehmungen als solchen schon mitgegeben, also empirisch resp. aposteriorisch. Die Raumvorstellung des Menschen ist nicht in und mit den Empfindungen mitgegeben, sie kommt zu diesen erst hinzu aus dem inneren Fonds des vorgestellten Subjects, ist also apriorisch.

Vaihinger benennt folgende vier mögliche Kombinationsmöglichkeiten hinsichtlich der Erkennbarkeit des Raumes im Spannungsfeld Idealismus und Realismus sowie a priori und a posteriori: 1) 2) 3) 4)

Der Raum ist seiner Geltung nach real, seine Vorstellung in uns ihrem Ursprung nach aposteriorisch. Der Raum ist seiner Geltung nach ideal, seine Vorstellung ihrem Ursprung nach aposteriorisch. Der Raum ist seiner Geltung nach real, seine Vorstellung ihrem Ursprung nach apriorisch. Der Raum ist seiner Geltung nach ideal, seine Vorstellung ihrem Ursprung nach apriorisch. 143

Vertreten werden die vier Positionen der Reihenfolge nach von Locke, Berkeley, Trendelenburg und Kant. Dass Kant die dritte Möglichkeit übersehen hat, demnach eine Lücke in seinem Beweisgang vorliegt, begründet Vaihinger mit dem Geniegedanken: »[W]er eine neue philosophische Theorie aufstellt, wird im Eifer, in der Begeisterung weder nach rechts, noch nach links blicken; jene rechts oder links liegenden Wege werden ihm von vorneherein als Irrwege erscheinen; anstatt den Anderen zuzurufen, dass sie auf falschen Wegen gehen, geht der grosse Mann mit der berechtigten Einseitigkeit eines Genies seinen eigenen neuen Weg« 144. In Bezug auf die Entstehungszeit der KrV gibt es eine rege Diskussion zwischen Adickes, Vaihinger sowie Benno Erdmann. Zur Debatte stehen Art und Umfang möglicher Vorarbeiten. Adickes will in 143 144

Vaihinger 1892, S. 139. Vaihinger 1892, S. 142.

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seiner Ausgabe der KrV nachweisen, »dass die Kritik der reinen Vernunft nicht das Erzeugniss einiger Monde ist, dass vielmehr die Entwürfe einiger Jahre in ihr in einander verarbeitet sind«. 145 Adickes unterscheidet den »ersten Entwurf«, die »Erzeugnisse der letzten 70er Jahre« und die »späteren Zusätze«. Durch letztere kommt ihm zufolge die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen in die KrV. Diese Hypothese kritisiert Vaihinger in seiner Rezension zu Adickes’ Ausgabe. Er datiert den »ersten Entwurf« auf das Jahr 1777 und nicht 1780. Zudem bestreitet er, dass Kant die Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen erst nachträglich in die KrV eingefügt hat. 146 Erdmann bestimmt den Entwicklungszeitraum der KrV auf die Jahre 1765 bis 1781. Diese sechzehn Jahre unterteilt er in drei »Vorstufen« 147: die »Dämmerungsperiode der Idee« (1765–69), die »Periode der definitiven Entwicklung der Idee« (1769–76) – Phase 1: »Scheidung des Sinnlichen vom Intellektuellen« (1769–1771), Phase 2: »Ursprung des Intellektuellen« (1771/2–1776) – sowie die »Ausfertigung des Werks« (1777– 1780/1). Hans Zeller, Friedrich Paulsen und Hans Vaihinger sind Vertreter unterschiedlichster Ansätze in der Auseinandersetzung mit Kant. Zeller hat früh erkannt, dass für die Philosophie in Konfrontation mit den Naturwissenschaften viel auf dem Spiel steht. Kants Philosophie stellt einen Ausweg dar, die Zeller mit einem kritischen Impetus und fern jeder autoritätsgläubigen Orthodoxie betrachtet. Paulsen möchte innerhalb einer populären Darstellung einen Zugang zur KrV eröffnen. Zugleich übt er Kritik an den Neukantianern, die vorgäben, den ganzen Kant zu verstehen, wobei sie sich dabei lediglich die Aspekte herausgreifen, die für das eigene Philosophieren gut passen. Vaihinger ist ein Vertreter der Kantphilologie und bleibt zugleich dem Geniegedanken verhaftet. Anhand der Reaktionen auf seinen Commentar werden die divergierenden Auffassungen dieses Begriffs deutlich. Der Nutzen einer philologischen Behandlung von Kants Schriften ist höchst umstritten. Nicht nur Paulsen und Vaihinger haben Kants Ausführungen von Raum und Zeit zu Erläuterungen Erich Adickes: Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben. Berlin 1889, S. I-II. 146 Hans Vaihinger: Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Erich Adickes, in: Archiv für Geschichte der Philosophie. Bd. IV. Berlin 1891, S. 723–729, S. 727. 147 AA, Bd. IV, S. 573–576. 145

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veranlasst, sondern sie haben auch dazu geführt, dass sich zwei Philosophiegrößen um 1900 erbittert gestritten haben.

2.3.2 Die Fischer-Trendelenburg-Debatte Zellers frühe Wahrnehmung, dass für die Philosophie viel auf dem Spiel steht, spielt auch in der Fischer-Trendelenburg-Debatte eine Rolle. Die Philosophiegrößen Kuno Fischer und Adolf Trendelenburg werfen sich gegenseitig vor, Kants Philosophie nicht richtig verstanden zu haben. Dabei schwingt auch der Vorwurf mit, den ganzen Kant nicht erfasst zu haben. Fernab aller Polemik geht es im Kern um die erkenntnistheoretischen Positionen Realismus versus Idealismus. Ende der 1860er Jahre entwickelt sich eine Debatte zwischen dem zu der Zeit in Jena lehrenden Philosophen Kuno Fischer und dem Berliner Adolf Trendelenburg. Im Kern geht es um die Interpretation von Kants transzendentaler Ästhetik als idealistische oder realistische Theorie der Erfahrung. Der Disput hat seinen Ursprung in der Auslegung des apriorischen Ursprungs von Raum und Zeit. Die Debatte beginnt sachlich und endet in persönlichen Angriffen von beiden Seiten. Die Auseinandersetzung wurde in verschiedenen Aufsätzen geführt und gipfelte in zwei Veröffentlichungen Fischers und Trendelenburgs. Der Schrift Kuno Fischer und sein Kant aus dem Jahr 1869 ist das Motto veritas odium parit 148 vorangestellt. Lässt man die Polemik beiseite, dann tritt folgender Streitpunkt zutage: Trendelenburgs Meinung zufolge hat Kant die Apriorität so verstanden, dass Raum und Zeit nur subjektiv wahrnehmbar sein können. Fischer hingegen meint, dass Kant in seiner Argumentation durch die Nichtbeachtung einer dritten Möglichkeit eine Lücke gelassen habe. Diese bestehe darin, dass Raum und Zeit sowohl subjektiv als auch objektiv wahrnehmbar sein können. Zwischen Fischer und Trendelenburg besteht nun der Streit darüber, ob Kant diese Lücke tatsächlich gelassen hat oder nicht. »Hat Kant die ausschliessende Subjectivität von Raum und Zeit streng bewiesen, so führt der Weg zum (transscencentalen) Idealismus; hat er sie nicht bewiesen und in seinen Beweisen die Möglichkeit offen gelassen, dass die Vorstellung des Raumes und der Zeit auch für die Dinge ausser uns Geltung habe: so ist der Weg frei,

148

Adolf Trendelenburg: Kuno Fischer und sein Kant. Eine Entgegnung. Leipzig 1869.

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das Ideale im Realen zu befestigen«. 149 Auch an dieser Debatte lässt sich zeigen, dass die Vorstellung von Kant als genialem Denker um 1900 vorherrschend ist. Dass Kant keinen lückenlosen Beweisgang hinterlassen hat, ist für Trendelenburg nicht denkbar. Diese Behauptung von Fischer stellt für Trendelenburg einen Affront dar. Der Disput gipfelt in der gegenseitigen Anschuldigung, Kants Philosophie nicht richtig verstanden zu haben und auch die Gegenposition nicht verstehen zu wollen. »Hat Kuno Fischer in seiner Darstellung Kants unkantische Gedanken als kantisch aufgenommen?« 150. Kuno Fischer antwortet auf Trendelenburgs Angriff ein Jahr später mit der Schrift Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift. In dieser weist er neben dem persönlich verletzenden Ton Trendelenburgs vor allem den Vorwurf zurück, dass er sich nicht urkundlich mit Kants KrV auseinandergesetzt habe, »und zwar soll die Quelle meiner Irrthümer darin liegen, dass ich in Rücksicht der Gattungsbegriffe eine Lehre für kantisch ausgebe, die unkantisch ist« 151. Der Vorwurf, die KrV nicht intensiv gelesen zu haben, wiegt für Fischer schwer. Trendelenburg spricht ihm implizit die fachliche Expertise ab. Zudem wird deutlich, dass sich Trendelenburg dazu erhebt, beurteilen zu können, was kantische Gedanken sind und was nicht. Das Selbstverständnis, für Kant als Testamentsvollstrecker aufzutreten, spielt in der Editionspraxis um 1900 eine große Rolle 152. Die Debatte ist bedeutsam für die Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da es darum geht, ob die Wissenschaften etwas über die Welt der Dinge oder diejenigen der Erscheinung aussagen können. Kurz gefasst geht es um nichts weniger als die Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaften. »Kant wurde jetzt zum absoluten Zeitgenossen, weil seine Absichten und der innere Zusammenhang seiner Theoreme je nach Bedürfnissen zurechtgestutzt wurden«. 153 Kant selbst äußert sich nicht darüber, ob den Dingen an sich etwas Räumliches oder Zeitliches anhaftet. Raum und Zeit sind für ihn Anschauungsformen: Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjective Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns 149 150 151 152 153

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Trendelenburg 1869, S. 3. Trendelenburg 1869, S. 8. Kuno Fischer: Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift. Jena 1870, S. 6. Siehe Kapitel 3.3.2. Köhnke 1986, S. 265.

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äußere Anschauung möglich ist. Weil nun die Receptivität des Subjects, von Gegenständen afficirt zu werden, nothwendiger Weise vor allen Anschauungen dieser Objecte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori im Gemüthe gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Principien der Verhältnisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne. 154

Weiter heißt es: [D]er Raum aber betrifft nur die reine Form der Anschauung, schließt also gar keine Empfindung (nichts Empirisches) in sich, und alle Arten und Bestimmungen des Raumes können und müssen sogar a priori vorgestellt werden können, wenn Begriffe der Gestalten sowohl, als Verhältnisse entstehen sollen. Durch denselben ist es allein möglich, daß Dinge für uns äußere Gegenstände sind. Dagegen ist der transscendentale Begriff der Erscheinungen im Raume eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich, noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwas an sich selbst eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sind, und was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, deren Form der Raum ist, deren wahres Correlatum aber, d. i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird. 155

Die Fischer-Trendelenburg-Debatte war eine viel beachtete Kontroverse, die den Weg in den Neukantianismus geebnet hat. Dies ist auch dem Umstand zuzuschreiben, dass sich die beiden Philosophiegrößen Fischer und Trendelenburg als Kontrahenten gegenüberstanden. 156 Hermann Cohen war es, der Licht in das Dunkel dieser verwickelten Debatte bringen wollte.

AA, Bd. 4, S. 33 und AA, Bd. 3, S. 55. AA, Bd. 4, S. 35 und AA, Bd. 3, S. 57. Die ersten beiden Sätze sind in B gestrichen. 156 Köhnke sieht seine These, dass Kants Schriften je nach eigener Bedürfnislage zurechtgestutzt wurden, auch am Beispiel Fischers bestätigt: »Dieselbe reine Mathematik, die Kant immer wieder als so glänzendes und verführerisches Beispiel einer reinen Vernunfterkenntnis anführt, benutzt Fischer zur Begründung der These, philosophische Erkenntnis basiere auf jener – ja sogar die Kantische ›Idee‹ der Freiheit wird jetzt zu einem indirekten Beweis für Fischers tendenziösen Idealismus.« Köhnke 1986, S. 268. 154 155

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2.3.3 Cohens Darstellung der Fischer-Trendelenburg-Debatte Cohen bemüht sich in dem Aufsatz »Zur Kontroverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer« 157 aus dem Jahr 1871 um eine sachliche Klärung der polemischen Auseinandersetzung. Aus der Fischer-Trendelenburg-Debatte ist bei Cohen das Interesse am richtigen Verständnis von Kants Raum-Zeit-Lehre erwachsen. Sein Anliegen ist es, Kants Dualismus von Anschauung und Denken von den psychologischen Komponenten zu befreien. Cohen verteidigt Trendelenburgs Argumentationslinie. Seine Kritik an Fischer baut er um sein Verständnis von philosophischer Geschichtsschreibung auf und wirft ihm vor, Kants Entwicklungsgang nicht bis zum Ende mitzugehen. Die frei nachbildende und die streng philologische Methode schließen sich seiner Ansicht nach nicht aus. Ihm geht es darum, den »Springpunkt«, 158 den wirksamen Grundgedanken zu entdecken und von hier aus die einzelnen Teile des Systems zusammenzufügen. Kants System soll nicht durch eigene Überlegungen ergänzt werden: »Das höchste Maß der Objektivität, das erreichbar scheint, liegt in dem Grade der Läuterung, den wir durch möglichst unbefangene Aufnahme des Fremden und strenge Durchbildung des Eigenen unserer Subjectivität geben können«. 159 Die Debatte ist Anlass für Cohen, sich »urkundlich« mit Kants KrV zu beschäftigen und dabei beide Textauflagen zu beachten. Bei den Belegen von Textstellen Kants bezieht er sich auf die zweite Hartenstein’sche Ausgabe. Sein Anspruch besteht darin, systematisches und historisches Interesse miteinander zu verbinden. 160 Cohen tritt zum einen mit der Haltung auf, die Debatte zu überblicken, und zum anderen, Kant richtig verstanden zu haben. Fischer wirft er vor, Kant

157 Hermann Cohen: »Zur Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer«, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. 3. Heft, 7. Bd. 1871, S. 249–296. Die Darstellung des persönlichen Auftakts der Diskussion zwischen Trendelenburg und Fischer sei bereits an anderer Stelle unternommen worden, auf die Cohen in einer Fußnote hinweist. Cohen 1871, S. 251. 158 Cohen 1871, S. 292. 159 Cohen 1871, S. 293. 160 Helmut Holzhey, Wolfgang Röd (Hg.): Geschichte der Philosophie Bd. XII. Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2. Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie. München 2004, S. 43–45.

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sowie seine eigenen Ausführungen nicht zu verstehen. Cohen sieht sich selbst als »Advokaten der Wahrheit«. 161 Kant stellt für Cohen einen Neubeginn der Philosophie dar. Die Auseinandersetzung mit seinem Verständnis von Raum und Zeit kommt einer mit den »Principien der Erkennniß« 162 gleich. Seiner Ansicht nach besteht die »Ehre des Genius« 163 darin, dass dessen Theorien zuerst verschmäht, dann vergessen wurden und schließlich ein Wiederaufleben erfahren. Aus der Kontroverse extrahiert er zwei Haupt- sowie eine Nebenfrage: »1. Hat Trendelenburg nachgewiesen, daß Kant in seinen Beweisen für die ausschließende Subjectivität von Raum und Zeit eine Lücke gelassen habe? 2. Hat Trendelenburg nachgewiesen, daß Kuno Fischer in seine Darstellung der Kantischen Lehre von Raum und Zeit Unkantisches aufgenommen habe? Die Nebenfrage lautet: Hat Kuno Fischer nachgewiesen, daß die von Trendelenburg behauptete Lücke in den Kantischen Beweisen nicht vorhanden sei?« 164. Er gliedert seine Darstellung mithilfe dieser drei Fragen. Bezüglich der ersten zitiert er Fischers Selbstzuschreibung seiner Geschichte der neuern Philosophie, nicht als »Advokat, sondern nur als philosophischer Geschichtsschreiber mit der Kantischen Lehre zu thun zu haben« 165. Cohen zieht ein verkürztes Zitat aus Fischers Vorrede heran, um ihm wissenschaftliche Unredlichkeit vorzuwerfen: »›Ich hätte nie geglaubt, daß Jemand für diesen Sonnenaufgang der Kantischen Philosophie ein Citat fordern würde.‹ ›Ebenso gut könnte man sagen: Beweise durch ein Citat, daß Kant

Cohen 1871, S. 296. »Beruht die Natur der Dinge auf den Bedingungen unseres Geistes? oder muß und kann das Gesetz der Natur unser Denken bewähren? Die Frage nach der Bedeutung und dem Werthe der Kantischen Lehre von Raum und Zeit kann als ein anderer Ausdruck für die Frage nach den Principien der Erkenntniß gelten.« Cohen 1871, S. 249. 163 Cohen 1871, S. 250. 164 Cohen 1871, S. 251. 165 Cohen 1871 S. 251. Das Originalzitat lautet: »Da ich es hier mit der kantischen Lehre allein zu thun habe, nicht als Advocat, sondern als philosophischer Geschichtsschreiber; so beachte ich hier auch nur diejenigen Einwürfe, die (nicht gegen Kant, sondern) gegen meine Darstellung der kantischen Lehre gerichtet sind.« Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. 3. Bd.: Kant’s Vernunftkritik und deren Entstehung. 2., rev. Auflage. Heidelberg 1869, S. VII-VIII. 161 162

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gelebt hat‹« 166. Cohen reagiert hierauf mit dem Vorwurf an Fischer, wissenschaftliche Standards nicht zu beachten 167. Weiterhin bezieht sich Cohen auf Fischers Ausführungen zur von Trendelenburg behaupteten Lücke im kantischen Argumentationsgang. »Hätte Kant wirklich in seiner Lehre von Raum und Zeit weder an die Vereinbarkeit der subjectiven und objectiven Geltung beider gedacht, noch deren Unvereinbarkeit bewiesen, so wäre die Lücke nicht bloß in seinem System, sondern das ganze System wäre Lücke, und ich möchte wissen, was von diesem System noch stehen bleiben könnte, und nicht mit in das große Loch fiele, welches einer solchen Vorstellung gegenüber die Stelle der Kantischen Philosophie vertritt« 168. Trendelenburgs Argumentationsgang rund um die »Lücke« führt Cohen zufolge zu einer »bloßen Objektivität« im Gegensatz zur »reinen«: »Die bloße, die Trendelenburg’sche Objectivität rettet einen Grund und Boden, auf den die apriorische Anschauung sich beziehen könne; sie bietet eine Objectivität dar, welche die Dinge davor bewahrt, in den Abgrund der Erscheinungen zu fallen« 169. Bezüglich der Nebenfrage fällt Cohen das Urteil, dass »Kuno Fischer den Gegner Kant’s nicht widerlegt, weil er selbst seinen Kant nicht verstanden hat« 170. Laut Cohen hat Trendelenburg so argumentiert, dass Kant bewiesen habe, »daß Raum und Zeit apriorische und deshalb rein subjective Anschauungen seien. Die Ausdrücke apriorisch und rein subjectiv decken einander bei Trendelenburg«. 171 Kant hingegen unterstellt er, dass dieser mit seinen Überlegungen noch viel weiter gehe 166 Cohen 1871, S. 259. »Keine Stelle dafür, daß Kant die empirische Realität des Raumes und der Zeit bewiesen, dagegen die transcendentale Realität beider widerlegt habe! ›Eine solche Stelle […] giebt es weder in der Kritik der reinen Vernunft noch in den Prolegomenen. Wer das Gegentheil behauptet, mußte sie anführen.‹ Nun, ich behaupte das Gegentheil und habe die Stellen angeführt und wieder angeführt, obwohl ich nie geglaubt hätte, daß jemand für diesen Sonnenaufgang der kantischen Philosophie ein Citat fordern würde. Ebenso gut könnte man sagen: beweise durch ein Citat, daß Kant gelebt hat!« Fischer 1869, S. XII. 167 »Wäre die Ereiferung edler in Kern und Schale, so möchte sie eines ›Advokaten‹ Kants nicht unwerth sein. Aber der Advokat muß beweisen, widerlegen. Ein Sonnenaufgang ist zwar ein blendendes Schauspiel, aber nicht minder eine wissenschaftliche Illusion.« Cohen 1871, S. 260. 168 Cohen 1871, S. 260. Das Zitat stimmt mit dem Original bis auf von Cohen eingefügte Kommata hinter »gedacht« sowie »könnte« überein. Siehe Fischer 1869, S. XI. 169 Cohen 1871, S. 256. 170 Cohen 1871, S. 263. 171 Cohen 1871, S. 263.

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wollte: Er »will nicht nur die reine, sondern zugleich die ausschließende Subjectivität von Raum und Zeit bewiesen haben« 172. Cohen tritt mit einem sehr hohen Anspruch auf und scheitert daran. Ihm gelingt es durch seine Selbstzuschreibung der Rolle als »Advokat der Wahrheit« nicht, systematisches und historisches Interesse zu verbinden. Er trägt mit seinen Äußerungen nicht zu einer sachlichen Klärung der Debatte bei, sondern befeuert sie durch Einbringung von weiteren polemischen Elementen. Er löst seinen Anspruch nicht ein, sich »urkundlich« mit Kants Schriften zu beschäftigen, sondern erschafft sich seinen Gegenstand selber. Cohen tritt mit dem hohen Anspruch auf, die kantische Philosophie durchdrungen und verstanden zu haben. Ebenso sieht er sich dazu imstande, die Debatte zwischen Fischer und Trendelenburg sachlich darzustellen. In der Umsetzung unterlaufen ihm dabei Fehler, wie die Dekontextualisierung eines Zitats von Fischer zeigt. Dadurch erweckt Cohen den Eindruck, dass Fischer wissenschaftlich unsauber arbeitete. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Für Cohen stellt die Beschäftigung mit der Debatte seinen Beginn der Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie dar. Die Ausbildung der Marburger Schule führt über Trendelenburgs Weg der Kantinterpretation.

2.4 Die Marburger Schule: Hermann Cohen und Paul Natorp Die Entwicklung der Marburger Schule ist von Hermann Cohen und Paul Natorp geprägt. Der Studienstandort Marburg hat provinziellen Charakter, erlebt jedoch zwischen 1865 und 1914 seine Blütezeit. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel erhöhen sich in diesem Zeitraum um das Sechsfache. Vom Sommersemester 1866 bis 1914 steigt die Studentenzahl an der Philosophischen Fakultät von ca. 260 auf 2500 an. 173 Ein Grund dafür liegt in dem Ausbau des höheren Schulwesens begründet, der nach universitär ausgebildeten Lehrkräften verlangt. Philosophie war in Marburg nur als Nebenfach der Theologie studierbar. Entsprechend klein war der philosophische Lehrstuhl und die finanziellen Mittel begrenzt. Trotzdem hat die Philosophie der Marburger zahlreiche Studenten aus dem Ausland angezogen, darunter José Ortega y Gasset, Władysław Tatarkiewicz und 172 173

Cohen 1871, S. 254. Sieg 1994, S. 81.

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den späteren Literaturnobelpreisträger Boris Pasternak. 174 Ernst Cassirer wechselte von Berlin nach Marburg, um bei Cohen studieren zu können. Im Wintersemester 1872/73 wird der Philosoph, Pädagoge und Sozialreformer Friedrich Albert Lange aus Zürich nach Marburg berufen. Er steht politisch dem Linksliberalismus nahe und lehnt die Bismarck’sche Militärpolitik ab. Den wachsenden Einfluss des Katholizismus beobachtet er kritisch. Er sorgt in Marburg für einen Aufschwung der akademischen Philosophie. Seine Geschichte des Materialismus 175 erfährt mehr als zehn Auflagen und stellt das meistgelesene Werk des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Lange setzt sich in diesem Werk mithilfe von Kants Unterscheidung von noumena und phaenomena mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen auseinander 176. Langes Rekurs auf die kantische Philosophie fungiert für Cohen und Natorp als »Wegweiser zum Neukantianismus« 177. In Cohens »biographischem Vorwort« zu Langes Geschichte des Materialismus bezeichnet ersterer letzteren als »Apostel der Kantischen Weltanschauung«. 178 Er sieht Langes Buch als eine Rechtfertigung des Idealismus an. »Die Materie mit ihren Kräften und Gesetzen ist nicht ein Selbständiges neben uns, sondern die Ausgeburt unseres eigenen Geistes« 179. In der Einleitung spricht Cohen von den »Mächten der Finsterniss, die heutzutage auf allen Gebieten unserer vaterländischen Kultur den Ruhm des deutschen Namens verunehren, die deutsche Idealwelt fürchten, hassen und verfolgen. Die Zeichen mehren sich, dass die Gespenster wieder verscheucht werden, Sieg 1994, S. 222–225. Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn 11866. Zur Bedeutung von Lange für die PhilippsUniversität Marburg siehe Ulrich Sieg: Die Geschichte der Philosophie an der Universität Marburg von 1527 bis 1970. Marburg 1988, S. 28–35. 176 »Though often very critical of Kant, Lange still held that his philosophy provides the right general strategy to overcome the dilemma between science and faith. Kant’s philosophy, because of its distinction between the phenomenal realm of science and the noumenal realm of value, offers a middle path between a soulless materialism and an irrational leap of faith.« Beiser 2014, S. 90. 177 Sieg 1994, S. 100. 178 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 7. Aufl.: Biograph. Vorw. u. Einl. mit krit. Nachtr. in 2., erw. Bearb. von Hermann Cohen. Bd. 1: Geschichte des Materialismus bis auf Kant. Leipzig 1902, S. VIII. 179 Lange 1902, S. IX. 174 175

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die man in einem verkehrten, verirrten nationalen Historismus als heimische Hausgeister anerkannt und geduldet hat« 180. Langes erkenntnistheoretisches Anliegen besteht in der Suche nach allgemeinen Voraussetzungen des Denkens und er erkennt die Bedeutung der Erkenntnistheorie für das Fach Philosophie als Reaktion auf die Krise zu der Zeit. Er betrachtet das denkende Individuum in seiner psychisch-physischen Ganzheit 181. Lange beschäftigt sich mit dem Einfluss der forschenden Person auf den Forschungsprozess. Damit nimmt er eines der zentralen wissenschaftstheoretischen Postulate der Marburger Schule vorweg, das in der Neutralisation des Einflusses der Subjektivität des Forschers besteht 182. Hermann Cohen hört Vorlesungen bei Trendelenburg sowie Emil Du Bois-Reymond. Cohen reicht sein Werk Kants Theorie der Erfahrung 183 (KTE) als Habilitationsschrift ein. In Berlin wird sie zweimal abgelehnt, sowohl von Trendelenburg als auch von seinem Nachfolger Eduard Zeller. Friedrich Albert Lange setzt sich für Cohens Habilitation in Marburg ein und versucht ihm nach Georg Weißenborns Tod im Jahr 1874 den Lehrstuhl zu verschaffen. Cohen war der einzige Kandidat auf der Berufungsliste, bekam den Lehrstuhl jedoch nicht. Kultusminister Adalbert Falk besetzt Julius Bergmann, den Herausgeber der Philosophischen Monatshefte.

180 Lange 1902, S. 438. »Die kantische Erkenntnislehre stellt für Lange ›den eigentlichen Wendepunkt‹ in der Geschichte des Materialismus dar, weil der Königsberger Philosoph bewiesen habe, ›dass unsere Begriffe sich nicht nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unseren Begriffen‹. Langes sinnesphysiologische Kantdeutung wird jedoch keineswegs den Ansprüchen werkimmanenter Interpretation gerecht. Die Leitfrage der ›Kritik der reinen Vernunft‹, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, interessiert den Neukantianer nicht. Er wendet sich vielmehr dem Problem zu, auf welche Art menschliche Erkenntnis zustande kommt. Bei seiner Lösung bietet die Kantische Vernunftkritik nur eine geringe Hilfe. Kants Auffassung vom Ding an sich, das aller Erscheinung zugrunde liege, lehnt Lange als unbeweisbare Spekulation ab.« Sieg 1994, S. 100. 181 »Die Dinge an sich bleiben uns ebenso unbekannt wie die transzendentale Grundlage unseres Seins. Von einer absoluten Wahrheit bzw. in diesem Sinne objektiven Realität kann nicht ausgegangen werden.« Frank Freimuth: Friedrich Albert Lange – Denker der Pluralität: Erkenntnistheorie, Pädagogik, Politik. Frankfurt am Main 1995, S. 181. 182 Sieg 1994, S. 104. 183 Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, in: Helmut Holzhey (Hg.): Hermann Cohen. Werke Bd. 1: Kants Theorie der Erfahrung. Teil 1.3.: Erste Auflage 1871. Hildesheim/Zürich/New York 1987.

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Als Lange 1876 verstirbt, ist sein Lehrstuhl für Cohen vakant. Der Kulturkampf bewirkt die Institutionalisierung des Neukantianismus innerhalb der preußischen Universitätsphilosophie. Zwischen 1876 und 1878 erhalten vier prominente Neukantianer in Preußen einen Lehrstuhl: Hermann Cohen, Otto Liebmann, Alois Riehl und Wilhelm Windelband. Einen entscheidenden Einfluss hat Kultusminister Adalbert Falk an dieser Berufungssituation: »Auch seine Hochschulpolitik richtete Falk am liberalen Wertekanon aus. So protegierte er im Fach Philosophie namentlich die Vertreter des Neukantianismus, die politisch zum liberalen Lager zählten und in ihrer Mehrheit zu den Propagandisten des Kulturkampfes gehörten«. 184 Die Entstehung und Etablierung des Neukantianismus kann nicht ohne den Liberalismus verstanden werden, zu einer Zeit, in der man »Kant im liberalen Bürgertum bereits seit der ›Neuen Ära‹ zum nationalen Heros stilisiert« hatte. »Nicht zuletzt aus diesem Motiv heraus wurde er zum meistgelesenen philosophischen Klassiker der Gründerjahre«. 185 Cohen knüpft an Kants Autonomiebegriff an. So schreibt er in der Einleitung zu Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart in siebter Auflage 1902: »Man streiche die Autonomie, den homo noumenon der idealen Persönlichkeit, und man vernichtet nicht nur das Schulsystem Kants, sondern zugleich die Idealwelt unserer vaterländischen Dichtung; und man vereitelt den Freiheitsschwung und den Enthusiasmus für Recht und Gerechtigkeit, der unseren politischen Liberalismus in den Zeiten seiner Kraft beseelte. Die Autonomie war Richtung gebend sowohl gegen den Materialismus der Natur-Causalität wie gegen den Despotismus des Unrechts und die Knechtschaft des Dogmas«. 186 Es steht viel auf dem Spiel: die kantische Philosophie, der Liberalismus, die Dichtung. Was hat der Autonomie-Gedanke bisher geleistet? Er war hilfreich im Kampf gegen den Materialismus, DesSieg 1994, S. 80. Sieg 1994, S. 77. 186 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 7. Aufl.: Biogr. Vorw. u. Einl. mit krit. Nachtr. in 2., erw. Bearb. von Hermann Cohen. Bd. 2: Geschichte des Materialismus seit Kant. Leipzig 1902, S. 512. Das Zitat bettet sich in Cohens Überlegungen zum Verhältnis von Ethik zur Religion ein. Er vertritt die These, dass in der »Vermählung von Ethik und Poesie der tiefste weltgeschichtliche Sinn des Christenthums, die Humanisierung Gottes, frei und ehrlich geworden« sei. Lange 1902, S. 512. 184 185

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potismus sowie die Knechtschaft des Dogmas. Ohne die kantische Lehre hätte die Philosophie keine verlässliche Basis mehr. Ihr wäre die legitimierende Grundlage entzogen. Neben diesen geschichtsphilosophischen Aspekt tritt ein politischer: »Denn welchen Sinn hätte die Ethik, wenn das Subjekt als gegeben, als geboren und in seinem Milieu erzogen, schlechterdings zu fassen wäre? Die Ethik ginge dann eben in Anthropologie und Soziologie auf« 187. Sowohl Cohen als auch sein Lehrer Trendelenburg sind davon überzeugt, dass der Rechtsstaat erst den höchsten Wert menschlicher Existenz ermögliche 188. Eigentümlich ist Cohens Übertragung seiner Methode auf unterschiedliche philosophische Bereiche: Da Ethik und Logik für Cohen die gleichen Methoden nutzen, belegt er den Wahrheitswert der euklidischen Geometrie respektive Axiome mit der gleichen Wissenschaftlichkeit wie die Heiligkeit des Staates 189. Die Philosophischen Seminare waren – im Gegensatz zu denen der Geschichtswissenschaften – institutionell noch nicht etabliert. Es gab einige Bestrebungen, die Wissenschaftlichkeit der Philosophie zu befördern: Der Philosophieprofessor Hermann Langenbeck setzte sich in den 1860er Jahren für die Etablierung von Philosophischen Seminaren ein. Nach seinem Tod 1869 wurde sein Lehrstuhl jedoch gestrichen und mit einer Professur der Staatsarzneikunde besetzt. Das preußische Kultusministerium beförderte diese Entscheidung 190. 1900 wurden schließlich die Philosophischen Seminare gegründet. Das Fach Philosophie erhält im Gegensatz zu allen anderen Fächern der Philosophischen Fakultät keinen eigenen Etat. »Auch die in ganz Preußen begangene Feier zu Kants hundertjährigem Todestag am 12. Februar 1904 brachte keinen Wechsel in der staatlichen Einstellung zur Philosophie« 191. Die Bibliothek ist schlecht ausgestattet. Erst ab 1911 wurde ein jährlicher Etat von 300 Mark sowie 1200 Mark als Einmalzahlung gewährt 192. Köhnke 1986, S. 298. Köhnke 1986, S. 299. »In der Nähe des Linksliberalismus Friedrich Naumanns ist die politische Philosophie des Marburger Neukantianismus zu verorten, welche die scharfe Kritik der wilhelminischen Gesellschaft mit einem großen Respekt vor dem Rechtsstaat verband und für gesellschaftliche Veränderungen auf evolutionäre Art plädierte.« Sieg 1994, S. 228–229. 189 Köhnke 1986, S. 300. 190 Sieg 1994, S. 71. 191 Sieg 1994, S. 201–202. 192 Sieg 1994, S. 201–203. 187 188

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Im expandierenden Wissenschaftsbetrieb der Jahrhundertwende gewannen die naturwissenschaftlichen Disziplinen und ihre Vertreter immer mehr an Bedeutung. Sie mußten sich an der Ausnahmestellung eines Faches stören, dessen Legitimation seit dem ›Zusammenbruch des Idealismus‹ trotz aller Bemühungen strittig geblieben war. Auch das Humboldtsche Bildungsideal, das der Philosophie eine exponierte Rolle im Wissenschaftskosmos zuwies, hatte um 1900 einen Großteil seiner Leuchtkraft verloren. Die Neukantianer wiederum hielten jede Art wissenschaftlicher Tätigkeit, die nicht über ihre eigenen Bedingungen reflektiert, für einen erkenntnistheoretisch blinden Positivismus und erhoben einen Führungsanspruch zur Lösung der Grundlagenfragen in den naturwissenschaftlichen Disziplinen. 193

Die gescheiterte Revolution von 1848 hat eine skeptische Generation des Nachmärz zu Folge. Der philosophische Materialismus von Marx und Engels stellt keine konsensfähige Theorie mehr dar. Weiterhin führt dieser gesellschaftliche Umbruch unter Intellektuellen zum sogenannten Materialismusstreit. Friedrich Albert Langes Position, dass Materialismus und Idealismus »welthistorische Irrthümer« 194 seien, hält Cohen für falsch. Er hält am methodischen Idealismus fest 195. In seiner Habilitationsschrift Kants Theorie der Erfahrung arbeitet Cohen seine auf naturwissenschaftlichem Denken basierende Philosophie aus. Die Unterschiede zwischen der ersten Auflage 1871 und der zweiten 1885 bestehen in einer umfangreicheren Einleitung. In der Vorrede zur ersten Auflage benennt Cohen sein Ziel, die kantische Aprioritätslehre von Neuem begründen zu wollen. Seine Motivation dazu ist aus den Angriffen gegen die KrV entsprungen: »Denn bei der ausschliessend systematischen Behandlung des erkenntnistheoretischen Problems kann nicht leicht darüber volle Gewissheit erreicht werden, wie weit der nach der Seite des Idealismus oder des Realismus entwickelte Kant Recht behalte, wie weit der historisch gegebene« 196. Bereits in der Vorrede spielt er auf die FischerTrendelenburg-Debatte an: »Der Streit war entsprungen aus einer neuen Kritik des wissenschaftlichen Wertes der kantischen Lehre; Sieg 1994, S. 197. Köhnke 1986, S. 290. 195 »Durch die Entdeckung der Apriorität von Raum und Zeit, des Apodiktischen in der Sinnlichkeit, ist aller materiale Idealismus, aller Materialismus in seinen Motiven vernichtet […]. Die Verschiedenheit der Dinge aufzulösen in Unterschiede der Ideen – das ist das Geheimnis des Idealismus.« Sieg 1994, S. 112. 196 Cohen: KTE, S. X. 193 194

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und er ist ausgelaufen in der Rezension einer geschichtlichen Darstellung jener Lehre«. 197 Cohens eigener Anspruch besteht darin, Kant dem Buchstaben nach zu lesen mit dem Ziel der »Wiederaufrichtung der Kantischen Autorität«: Um Kant nach seinem Wortlaute zu verstehen, ist es unumgänglich, die von einander verschiedenen Auffassungen, welche derselbe möglich gemacht hat, auf ihren Wert für die Theorie der Erkenntnis eigens zu prüfen: die systematische Parteinahme ist unvermeidlich. Denn es sind nicht die äusseren Tatsachen von Worten, welche festgestellt werden sollen, sondern die Zusammenhänge geschlossener Gedanken, deren Sinn die historische Forschung gegenüber von Auffassungen und Deutungen zu erhellen hat, welche nicht minder aus der gesamten Weltansicht des Urteilenden fliessen. Man kann kein Urteil über Kant abgeben, ohne in jeder Zeile zu verraten, welche Welt man im eigenen Kopfe trägt. Das Verständnis einer Kritik über Kant erheischt deshalb das Verständnis der Philosophie des Kritikers, welche als der geheime Urheber nicht bloss jener Kritik, sondern eben so sehr jener scheinbar objektiv-historischen Auffassung im Auge zu behalten ist. 198

Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Cohen sich darüber bewusst ist, dass es keinen objektiven Standpunkt eines Kritikers geben kann. Kritik an Kant ist immer mit einer Parteinahme verbunden. Trotz alledem bleibt Cohen dem Geniegedanken verhaftet. »Wenn daher die Philosophie, wie es heutzutage Viele aussprechen, nur durch Kant wieder aufgeholfen werden kann, so tut vor Allem die Einsicht Not, dass dieser eine Genius ist« 199. Kant wird als Bezugspunkt gebraucht, um das Fach Philosophie vor dem Bedeutungsverlust zu bewahren. Ganz im Sinne des Geniekultes äußert Cohen seine Wünsche zur Rezeption und Wirkung seines Werkes: »Möge es denn vereinten Bestrebungen gelingen, Entstellungen und Verdunkelungen gegenüber, welche bereits bei Lebzeiten Kant’s aufgetaucht und unter vereinzeltem Widerspruch angewachsen sind, diesen Heros des Deutschen Geistes in seiner Grösse als Denker und in seiner Würde als Charakter dem Bewusstsein der Zeitgenossen zu erschliessen, und sein Werk für eine fernere, reinere Fruchtbarkeit frei zu machen« 200. Dieser Passus kann interpretiert werden als Versuch, die subjektiven Standpunkte unterschiedlicher Philosophen, die sich mit Kants Texten aus197 198 199 200

Cohen: KTE, S. X. Cohen: KTE, S. XI-XII. Cohen: KTE, S. XIII. Cohen: KTE, S. XIV.

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einandergesetzt haben, zu tilgen. Letztendlich läuft Cohens Vorstellung auf die Zielsetzung hinaus, beim ursprünglichen Wortlaut von Kants Texten anzusetzen. Cohen ruft in Erinnerung, dass Kant gesagt hat, dass es in der Philosophie keinen klassischen Autor geben könne 201. Cohens Ansicht nach helfen uns Klassiker in der Philosophie jedoch, indem sie die Richtung der Probleme vorgeben und für die Ausrichtung des eigenen Denkens immer wieder wegweisend sind. Damit einher geht für ihn eine präzise Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Fachs. Cohen hat einen hohen hermeneutischen Anspruch. Dieser drückt sich in der Formel aus, »das Kantische Gebäude vom Einzelnen zum Ganzen und abwärts sicher durchschreiten« 202 zu können. Er ist optimistisch, dass philologische Arbeit das Verständnis von Kants Philosophie befördern werde. Ihn bestärkt hierbei die »reiche Ausbeute«, die aus der philologischen Bearbeitung des Aristoteles erwachsen ist 203. Hinsichtlich seines methodischen Vorgehens betont Cohen den Wert akribischer Kollationierung: [Es] hat […] mir hohe Befriedigung bereitet, durch Vergleichen der in geändertem Ausdruck oft wiederkehrenden Gedanken fast in jeder Änderung, besonders auch in den kleinsten Abweichungen, welche die zweite * Ausgabe der KrV enthält, Sinn zu finden. * Wir zitieren nach der Ausgabe von Rosenkranz und Schubert[,] die Kritik der reinen Vernunft jedoch nach Hartenstein, Separatausgabe, Leipzig 1868; durch die Seitenzahl ohne weitere Angabe wird dieses Werk angezogen.1 Anm. der 2. Auflage. Die Kritik der reinen Vernunft zitieren wir jetzt in der 2. Ausgabe von Kehrbach. 204

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In seiner Vorrede zur zweiten Auflage der KTE aus Jahr 1885 ergänzt Cohen seine methodischen Überlegungen zur Systematik, »dass seine Gedanken [diejenigen des philosophischen Schriftstellers] daraufhin 201 »Denn was philosophisch richtig sei, kann und muß keiner aus Leibnizen lernen, sondern der Probirstein, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, ist die gemeinschaftliche Menschenvernunft, und es giebt keinen klassischen Autor der Philosophie.« AA, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, S. 218. 202 Cohen: KTE, S. XIII. 203 Cohen: KTE, S. XIII-XIV. 204 Diese Nennung der Quellen ist missverständlich, da Rosenkranz und Kehrbach die erste Auflage der KrV zugrunde legen und Hartenstein die zweite. Es liegt nahe, dass die Begriffe »Auflage« und »Ausgabe« miteinander verwechselt wurden. Cohen: KTE, S. XIV.

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geprüft werden; ob sie in systematischer Ordnung verfasst sind, – denn darin allein liegt der Wert philosophischer Gedanken – also auch: dass sein Buch als ein Lehrgebäude studiert werde« 205. In der Vorrede zur dritten Auflage der KTE aus dem Jahr 1918 fasst er den Entwicklungsgang seines Werkes zusammen und kommt dabei nicht umhin, die Folgen des Krieges für den deutschen Geist festzuhalten: »Mit seiner Lösung für die Neugestaltung der Philosophie war das Buch in seiner ersten Fassung schon aufgetreten. Und ferner auch hat es das Nationalbewusstsein des deutschen Geistes für die Wiederherstellung Kants angerufen. Das neue Erscheinen des Buchs fällt in eine schwere, gewaltige Zeit, in der nichts Geringeres als die Würde des deutschen Geistes die Schicksalsfrage bildet« 206. Kant als Verkörperung des deutschen Geistes aufzufassen, liegt in Cohens Vorstellung von Philosophie als Wissenschaft begründet. Ihr zufolge hat sich die Philosophie an den naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften zu orientieren. »Der Grund für die eminente Identität Kants mit dem deutschen Geiste liegt in der Identität Kants mit dem wissenschaftlichen Geiste der Philosophie. In dieser geschichtlichen Einsicht enthüllt sich zugleich die Eigenart des deutschen Geistes in ihrer Harmonie mit dem weltgeschichtlichen Geiste der Menschheit« 207. Cohens Ziel ist von Beginn an, Kants Ansehen wiederherzustellen und sein Werk von Missverständnissen zu reinigen. Er will Kant in die Reihe der Weltgeister einordnen. »Wie könnte denn Kant ein wahrhaftes Original der Philosophie sein, wenn er nicht über die Jahrtausende hinweg mit Platon verbunden wäre?« 208. Cohen hält Kant für einen Meisterdenker, da sich innerhalb seiner Philosophie die Geschichte des Fachs kristallisiert und bis zu Platon zurückverfolgen lässt. Dabei spannt er einen Bogen, der den Geist Platons, Cusanus’, Galileis, Descartes’, Newtons und Leibniz’ mit Kant verbindet. Dieser Geist ist ein wissenschaftlicher, der in Verbindung mit

Cohen: KTE, S. XVIII. Cohen: KTE, S. XIX. Auch im Jahr 1918 sollte sich Cohen zufolge die deutsche Nation auf Kant berufen, um »insbesondere der deutschen Nation ins Gewissen zu rufen: was Kants Lehre und ihre Wiederherstellung gemäss dem Fortschritt des verflossenen Jahrhunderts für die Kräftigung und Läuterung des deutschen Nationalgeistes und für die Erhebung der Welt zu dieser einzigen Höhe des philosophischen Geistes bedeutet.« Cohen: KTE, S. XX. 207 Cohen: KTE, S. XXI. 208 Cohen: KTE, S. XXI-XXII. 205 206

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der Mathematik die Möglichkeit bereitet hat, aus Ideen Hypothesen entstehen zu lassen. 209 In Bezug auf den Begriff der Nation sieht Cohen 1918 den überlegenen deutschen Geist, der sich in der wissenschaftlichen Philosophie offenbart, als Teil einer nationalen Entwicklung an: »Früher sagte man wohl in frivoler Skepsis, es sei die Eigenart der deutschen Nation, keine Nation zu sein. Richtig ist vielmehr der tiefere und daher schwerer verständliche Satz: es sei die Eigenart des deutschen Geistes, den geschichtlichen Geist der in der Wissenschaft wurzelnden Philosophie, der für alle Völker nur einer sein kann, im Laufe seiner nationalen Entwicklung zu immer höherer Darstellung zu bringen.« Mit Kant werde die »Wiedergeburt des deutschen Nationalgeistes, dessen Jungbrunnen immer nur in seinem wissenschaftlichen Idealismus und dem in ihm begründeten menschheitlichen Ethizismus gelegen ist« 210, möglich. Cohen gibt 1918 an, sich auf die Edition seines Schülers Cassirer zu beziehen 211. Wenn die Texte noch nicht innerhalb dieser Ausgabe veröffentlicht worden sind, wird die Edition von Rosenkranz/Schubert herangezogen. Im 16. Kapitel der KTE »Das System des kritischen Idealismus« 212 erläutert Cohen seine Auffassung von Kants philosophischem System. Seiner Ansicht zufolge liegt den drei Kritiken ein solches zugrunde. Er sieht die KrV als Propädeutik für Kants Ethik an. Vor Kant war die Metaphysik Kunst, erst nach ihm wurde sie zur Wissenschaft. Cohen geht es darum, sich mit Kants Grundbegriffen in dessen System zurechtzufinden. Philosophie ist für ihn Kritik, die lehrt, »Irrtum zu verhüten, und leistet, was keiner Wissenschaft möglich sei: den ›Horizont‹ der Erkenntnis auch positiv zu bestimmen« 213. Cohen verknüpft den Systemgedanken mit dem der Kritik und bindet beide an die Naturwissenschaften an. Er setzt voraus, dass die Naturwissenschaft des Substanzgedankens als Bedingung bedürfen. Erst durch die Kritik kommt dieser auf den Begriff. »Denn nunmehr ist der Substanzgedanke ihr eigener Lehrsatz, und die Sammlung solcher Lehrsätze gibt der Philosophie, als Kritik, den Charakter Cohen: KTE, S. XXIII. Cohen: KTE, S. XXV. 211 Ernst Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, Benzion Kellermann, Otto Schöndörffer. Berlin 1911–1922. 10 Bde + 1 Bd. 212 Cohen: KTE, S. 731–783. 213 Cohen: KTE, S. 733. 209 210

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eines Systems«. 214 Raum und Zeit sind für Cohen Träger des Apriori. Diese sind als Methoden zu verstehen und nicht als Geistesformen. Die Hauptarten des a priori, Anschauung und Denken, unterscheiden sich als Methoden voneinander. Reine Anschauung ist die Methode der Mathematik, reines Denken die der Mechanik: »Raum bedeutet nicht Räumlichkeit, so wenig, als Zeit Zeitlichkeit. Der Raum a priori ist nicht der physikalische, auch nicht der geometrische; sondern nur das Erzeugen und Gestalten der letzteren. Dies heisst: der Raum sei reine Anschauung« 215. Cohens Position ist die einer streng naturwissenschaftlich ausgerichteten Weltbetrachtung. Das Individuum tritt dahinter zurück. Von psychologischen Komponenten will Cohen die Philosophie freihalten. Diese würde innerhalb der Philosophie von der Aufgabe der Kritik ablenken. Ihm geht es einzig und allein um die Analyse der Grundsätze, die sich in den Dingen zeigen. Durch diese gelangen wir zu einer »wissenschaftlich fixierten, unzweideutigen Geltung der Objektivität« 216. Grundsätze sind für Cohen die Grundlage der allgemeinen Naturgesetze: Die Naturgesetze objektivieren sich in den Kräften, und in diesen die Dinge der Natur. Also sind die Grundsätze die Grundlagen der Dinge. Und erst weil und wie zu Gesetzen Methoden gehören, fordern die Grundsätze auch als ihre methodischen Bedingungen die der Anschauung und des Denkens; stofflich ausgedrückt, die Mannigfaltigen und die synthetischen Einheiten 217.

In Hinblick auf das transzendentale und metaphysische Apriori kritisiert Cohen die Vertreter des Südwestdeutschen Neukantianismus sowie Schopenhauer scharf: »Am metaphysischen a priori bleiben die Gegner hängen, als an dem relativ besten bei Kant. Nicht nur die Sekte der Idealisten, sondern ebenso Fries und Herbart und nicht minder Schopenhauer, der den Raum für eine Art apriorischer Gehirnaffektion akzeptiert« 218. Cohen wendet sich mit seiner Position sowohl gegen den Realismus als auch gegen den Positivismus. Wenden sich Philosophen nicht in kritischer Art den Grundlagen ihres

214 215 216 217 218

Cohen: KTE, S. 735. Cohen: KTE, S. 743. Cohen: KTE, S. 751. Cohen: KTE, S. 751. Cohen: KTE, S. 739.

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eigenen Denkens zu, so »ist auch der Realismus oberflächlich, seiner Grundlage sich nicht bewusst und des philosophischen Vermögens unmächtig, dieselben zu definieren. Das ist das Schicksal des Positivismus und aller sogenannter Wirklichkeitsphilosophie, die allesamt nicht wissen, dass sie ein Rätselwort zu ihrem Systemnamen machen. Was ist das Wirkliche? Was ist das Positive? Das ist die Frage, deren Antwort die Philosophie geben soll«. 219 Kants Verdienst ist es laut Cohen, sich diesen Positionen mit seiner kritischen Philosophie entgegengestellt zu haben: »Der gewöhnliche Idealismus besteht hauptsächlich in dem Gedanken, dass alle Erfahrungserkenntnisse uns keine Wahrheit geben, sondern dass diese allein durch die Ideen der reinen Vernunft verbirgt sei […]. Es ist ein Zensorverdienst Kants, auf diesen Punkt hingewiesen, und den Widerspruch, der in dem gewöhnlichen Idealismus steckt, aufgedeckt zu haben« 220. Der gewöhnliche Idealismus umfasst das sinnlich Erscheinende, das Reale. Dieses kann nicht das wahrhaft Reale sein, denn das wahrhaft Reale muss unabhängig davon existieren. Cohen geht es zum einen um eine Klärung des Begriffs »Denken« sowie zum anderen um eine Konkretisierung des Geltungsanspruchs der Erkenntnis. Er verfolgt damit das Ziel, die Bedeutung der Philosophie als Wissenschaft zu festigen 221. Bei seiner Unterscheidung des gewöhnlichen und des transzendentalen Idealismus sieht er bei letzterem den Ausgangspunkt für die Wissenschaften gegeben: »[D]as erste, was zu suchen ist, ist die Form des Gesetzes, als die Form der Erfahrung. Diese ist das wahre a priori. Um diese muss der Gegenstand gedreht werden, in der Drehung um diese kann er erst entstehen«. 222 Cohens philosophische Klassiker Newton und Kant werden nach ihrem Beitrag zur Lösung des Erkenntnisproblems bewertet. Der Ausgangspunkt des Denkens liegt in der (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnis im Sinne eines »Faktum der Wissenschaft« 223. Dabei geht es um eine »systematische Fortentwicklung der kritischen Philosophie mit dem Ziel der Entwicklung

Cohen: KTE, S. 759. Cohen: KTE, S. 767. 221 Geert Edel: Hypothesis. »Die Grundlegung ist die Grundlage. Hermann Cohens tiefste Einsicht«, in: Christian Krijnen, Kurt Walter Zeidler (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 57–84, S. 60–62. 222 Cohen: KTE, S. 769. 223 Sieg 1994, S. 144. 219 220

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eines dynamischen wissenschaftstheoretischen Konzeptes, das sich auf alle Disziplinen anwenden« 224 lässt. Kantianer zu sein bedeutet für Cohen, Kants Prinzipien anzuerkennen und über diese hinauszugehen 225. Kants Ding an sich als Kern und die Dinge in der Welt der Erscheinung geben Anlass für zahlreiche Auseinandersetzungen. Die Marburger sehen es als Aufgabe der Philosophie an, die Grenze zwischen dem ›Ding an sich‹ und dem ›Ding in der Welt der Erscheinung‹ näher zu betrachten. Für Cohen enthält ersteres zwei Bedeutungen: zum einen aus wissenschaftstheoretischer und zum anderen aus moralphilosophischer Perspektive. Die Geisteswissenschaften eröffnen die sittliche Kultur für die Erkenntnis und sind damit als Faktum zu bezeichnen. Auf dieses hat sich die transzendentale Methode zur richten, um sich als Ethik konstituieren zu können. 226 Unter Geisteswissenschaften fallen bei Cohen die Geschichtswissenschaft, Rechts- und Staatswissenschaft sowie Nationalökonomie, Soziologie und Religionswissenschaft. Im Gegensatz zur KrV bildet bei Cohen der Begriff der Idee als Grundlegung den Inhalt der Erkenntnis. Sein Anspruch besteht darin, die Verbindung von Erkenntnistheorie und Ethik wissenschaftlich zu begründen. Es geht ihm um eine wissenschaftliche Weltanschauung. 227 In der ersten Auflage der KTE von 1871 äußert sich Cohen zur philosophierenden Person. Er geht von der Annahme aus, daß jede Kantdeutung durch den philosophischen Standpunkt des Interpreten inhaltlich präformiert sei: »Man kann kein Urtheil über Kant abgeben, ohne in jeder Zeile zu verrathen, welche Welt man im eigenen Kopfe trägt« 228. Widersprüchlich ist Cohens Haltung zur Bedeutung des kantischen Nachlasses. Einerseits beklagt er das mangelnde antiquarische Interesse an Kants Nachlass und greift dabei das Ereignis der Veröffentlichung der Losen Blätter 229 von Reicke 1889 auf. Andererseits haben für Cohen gedruckte Werke Vorrang Sieg 1994, S. 216. »Die Analyse von Erkenntnis, die im Gegensatz zu Kant ausschließlich auf das Denken abstellt, ist bloß als Analyse wissenschaftlicher Erkenntnis durchführbar.« Helmut Holzhey: Cohen und Natorp. Bd. 1: Ursprung und Einheit. Die Geschichte der ›Marburger Schule‹ als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens. Basel/ Stuttgart 1986, S. 295. 226 Holzhey 1986, Bd. 1, S. 323. 227 Sieg 1994, S. 295–296 228 Cohen 1871, S. V. 229 Rudolf Reicke: Lose Blätter aus Kants Nachlass. Königsberg 1889. 224 225

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vor dem Nachlass eines Autors, da letzterer für ihn bei der Interpretation nur begrenzten Wert hat 230. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Paul Natorp verfährt er nicht nach philologisch exakter Methode. Statt sich in philologischen Detailfragen zu verlieren, steckt Cohen einen Autorenkreis an Philosophen ab, die seinem Lektürebedürfnis entsprechen. In der zweiten Auflage der KTE 1885 gibt er die Lektürerichtung vor: Neben Galilei und Newton sind dies Platon, Descartes, Leibniz und Kant 231. Cohen hat in Bezug auf die Geschichtsschreibung ein eigentümliches Verständnis ihrer Leistung und Aufgabe. Er weist die aufblühende historische Kantforschung in die Schranken, da sie sich der exakten naturwissenschaftlichen Methode entziehen: »Wie ein Objekt der Natur muß die geschichtliche Tatsache, als der subjektiven Bestimmungsgründe entledigt, erscheinen. Nicht für die Ethik, wohl aber für die Geschichtswissenschaft gilt das Wort Spinozas, daß die Handlungen der Menschen beschrieben werden müssen, als ob es sich um Linien, Flächen und Körper handele« 232. Cohens System der Philosophie zeichnet sich durch die Gleichgültigkeit gegenüber philosophisch-historischen Ausführungen aus. Er knüpft an das »Prinzip der Infinitesimal-Methode« 233 an und kritisiert die KrV, da hier das Denken seinen Anfang in etwas außerhalb seiner selbst nimmt. Für Cohen gilt es, beim Denken selbst anzufangen und es als ein Erzeugnis zu sehen. Ihm geht es um eine Klärung des Verhältnisses von reinem Denken zu den Einzelwissenschaften. Im Gegensatz zu Wilhelm Dilthey geht es Cohen darum, die apriorischen Elemente aus Kants Transzendentalphilosophie zu reaktivieren. In der KTE beschreibt er seine Vorstellung des Erkenntnisprozesses der Wissenschaften: Das Ding an sich ist somit der Inbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Aber damit ist mehr gesagt. Die Erkenntnisse bilden nicht eine abgeschlossene Reihe, ein Kapitel toter Hand; sie sind nur, indem sie zeugen, dies ist der Charakter alles Idealen. Sie enthalten daher nicht nur das, was Sieg 1994, S. 139–140 »Die zweite Auflage [1885 erschienen] der ›Kants Theorie der Erfahrung‹ beabsichtigte nicht mehr wie die erste [1871 erschienen] die Wiederherstellung des Kantischen Ansehens. Das war längst erreicht.« Sieg 1994, S. 145. 232 Hermann Cohen: »Zur Orientierung in den Losen Blättern aus Kants Nachlaß«, in: PM 26, 1890, S. 287–323, S. 293. 233 Hermann Cohen: »Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte«, Berlin 11883, in: Helmut Holzhey (Hg.): Hermann Cohen. Werke. Bd. 5. Hildesheim/ Zürich/New York 2005. 230 231

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ermittelt ist, sondern in sich zugleich das, was fraglich bleibt. Dies ist der Charakter aller Begriffe: dass sie, indem sie Denkforderungen befriedigen, neue stellen. Es gibt hier keinen definitiven Abschluss. Jeder richtige Begriff ist eine neue Frage, keiner eine letzte Antwort. Das Ding an sich, als ›Umfang und Zusammenhang‹ der Erkenntnisse gedacht, muss daher zugleich der Ausdruck der Fragen sein, welche in jenen Antworten der Erkenntnisse eingeschlossen sind. Diese fernere Bedeutung des Dinges an sich bezeichnet ein anderer Ausdruck, durch welchen Kant das x, als welches er wiederholentlich das transzendentale Objekt bezeichnet, bestimmt und vertieft hat. Das Ding an sich ist ›Aufgabe‹. 234

Pointiert auf den Punkt gebracht heißt es an einer anderen Stelle: »So ist das Ding an sich endlos, in jedem Gegenstande sich neu erzeugend. All unser Wissen ist Stückwerk, ganz ist allein das Ding an sich; denn die Aufgabe der Forschung ist unendlich«. 235 Das kantische Apriori ist für Cohen nichts Gegebenes, sondern etwas immer wieder neu zu Vollziehendes. Er versteht den Erkenntnisprozess als ein kontinuierliches, unabschließbares Voranschreiten anhand von Begriffen. Gewonnene Erkenntnisse generieren neue Bedürfnisse und so ist sich das Denken stets selbst Aufgabe. Cohens KTE wurde mit großer Skepsis rezipiert. Das Werk ist in großen Teilen schwer verständlich. Natorp versucht im Sommersemester 1902 innerhalb der universitären Lehre die Inhalte zu vermitteln. Staudinger veröffentlicht seine ablehnende Besprechung in den Kant-Studien 236. Einen Verriss schrieb der Göttinger Begründer der Neufriesschen Schule Leonard Nelson 1905. Dieser wirft Cohen in seiner Rezension Unkenntnis auf dem mathematischen Gebiet vor. An einer Stelle heißt es: Wie in der Philosophie, so geht Cohen also auch in der Mathematik auf die vorkritische Zeit der Wissenschaft zurück. Durch inhaltslose Schlagwörter und dialektische Spiegelfechtereien soll das festgefügte Gebäude umgeworfen und ersetzt werden, das das Resultat jahrzehntelanger mühevoller Forschung bildet. Mit seinen Ansichten über Differentiale und Reihen und Funktionen steht Cohen völlig außerhalb des Gebietes, das die Wissenschaft heute als Mathematik bezeichnet 237. 234 Cohen: KTE, in: Helmut Holzhey (Hg.): Hermann Cohen. Werke. Bd. 1. Teil 1.1.: Text der dritten Aufl 1918, Hildesheim/Zürich/New York 1987. 235 Cohen: KTE, S. 662. 236 Franz Staudinger: »Cohens Logik der reinen Erkenntnis und die Logik der Wahrnehmung«, in: KS 8 1903, S. 1–29. 237 Leonard Nelson: Hermann Cohen. System der Philosophie. Erster Teil: Logik der

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Nelsons Buchbesprechung endet mit einem Paukenschlag: »›Wer einmal Kritik gekostet hat‹, sagt Kant, ›den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche an‹. Das wird ewig wahr bleiben« 238. Die Versuche der Marburger, Cohens Werk zu mehr Popularität zu verhelfen, schlugen fehl. Cohens Ethik zeichnet sich durch einen apriorischen Zugang aus. Er setzt die Ethik als etwas Absolutes, das auch da ist, wenn es die Menschheit nicht geben würde. Die wissenschaftliche Begründung dafür hat er nicht eingelöst und muss daher auf die Autorität Kant zurückgreifen. Er deutet Kants Antinomien der Freiheit und Notwendigkeit als bloß scheinbare um. Cohen lehnt es strikt ab, den Menschen als das Produkt der Gesellschaft, der Natur und der Geschichte zu sehen. Er will an der Bedeutung einer transzendentalen Idee für den Menschen festhalten und deutet die Weltgeschichte mit Kant als eine fortschreitende Annäherung an ein Reich der Sittlichkeit 239. Seine Ethik des reinen Willens aus dem Jahr 1904 wird wohlwollender besprochen. Er beruft sich auf Kants Ethikverständnis, jedoch insistiert er auf die Grundlegung der Logik für die Ethik und knüpft dabei an Kants Prinzip der Autonomie an. Dass der Mensch nur als Zweck, niemals als Mittel benutzt werden dürfe, sieht Cohen im Kern des Sozialismus verwirklicht. Er spricht sich gegen den wilhelminischen Staat, aber nicht gegen den Staat an sich aus 240. In dem Vortrag Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur 241, den Cohen an der Universität Marburg zur Feier anlässlich des Geburtstags des Kaisers am 17. 03. 1883 hält, betont er mit viel Pathos die Bedeutung Kants für die deutsche Nation. »Die Traumwünsche reinen Erkenntnis. Berlin 1902, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 167. Jg. Berlin 1905, S. 610–630, S. 621 (https://doi.org/10.26015/adwdocs-661) (04. 10. 21). 238 Nelson 1905, S. 630. Das Originalzitat ist in den Prolegomena überliefert: »So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Noth vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte«. AA, Bd. IV, S. 366. Zur Auseinandersetzung zwischen dem Marburger Neukantianismus und dem Neofriesianismus siehe Volker Peckhaus: »Das Erkenntnisproblem und die Mathematik. Zum Streit zwischen dem Marburger Neukantianismus und dem Neofriesianismus«, in: Christian Krijnen, Kurt Walter Zeidler (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 233–257. 239 Hier unterscheidet sich Cohens Ansatz fundamental von dem Diltheys. Darauf wird in Kapitel 3.3.3.1 näher eingegangen werden. 240 Sieg 1994, S. 244–245. 241 Hermann Cohen: Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur. Berlin 1883.

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der Nation sind unter der gesegneten Regierung dieses Königs Wirklichkeit geworden« 242. Cohen möchte mit seiner Rede an den »deutschen Genius und preußischen Lehrer Kant« 243 erinnern. Er stellt Galileis Weltsystem als Disposition des Vernunftsystems dar und nimmt zudem Goethe, Schiller sowie Newton als Gesprächspartner hinzu. Aufgrund seines Philosophieverständnisses setzt Cohen die Newtonianer mit den Kantianern gleich, da sich beide um die Erkenntnisbedingungen der Wissenschaft verdient gemacht haben. Er lobt Kant als »großen Schriftsteller«: Bei ihm lassen sich »französische-englische Eleganz, gefälliger Witz, behagliche Breite, epigrammatische Pointe« finden. Erst mit 75 Jahren nimmt sein Stil »das Gepräge des Genius und den Grundzug deutscher Art an: terminologisch pünktliche und systematisch überschauende Gravität« 244. Cohen äußert sich positiv über die Pioniere der philologisch-historischen Forschung und unterstellt ihnen, dass sie Kantianer seien: Humboldt treffe auf dem Gebiet der Sprache mit seiner »Verbindung von Poesie und Philosophie« den »Charakter der Deutschheit« 245, Gotfried Hermann gelinge dies mit seiner philologischen Kritik und Niebuhr mithilfe seiner geschichtlichen Forschungen 246. In all den Personen wohne der »nationale Geist in Kant« 247. Voller Emphase trägt er vor dem Kaiser seine Gedanken zu Nation, Staat und Vaterland vor: »Die Revision der sogenannten Menschenrechte hatte dem deutschen Humanitätsgeschlecht die Wahrheit schmerzlich fühlbar gemacht: das echtes Weltbürgerthum nur von dem festen Grunde heiliger Vaterlandsliebe sich aufschwingen könne« 248. Weiterhin betont er die Bedeutung des Lehrers Kant für Preußen: »[U]nter den Ersten und Edelsten, die an der Neugestaltung unseres Staates gearbeitet haben, dürfen wir Schüler Kants ansprechen. Man glaubt sagen zu dürfen, daß jene Ostpreußen sämmtlich vom Kantischen Geiste erzogen waren […]. Es versetzt in eine erbauliche Stimmung, die unmittelbare Einwirkung des Weltweisen auf diesen Kriegsmann [General von Boyen] zu gewahren« 249. Die Rede schließt mit einem 242 243 244 245 246 247 248 249

Cohen 1883, S. 3. Cohen 1883, S. 4. Cohen 1883, S. 15. Cohen 1883, S. 15. Cohen 1883, S. 18–19. Cohen 1883, S. 22. Cohen 1883, S. 30. Cohen 1883, S. 30.

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Appell an die Universitäten, die Wissenschaft als nationale Aufgabe zu betrachten: »Es ist die erste Aufgabe unserer Universitäten, daß sie die Würde der Wissenschaft heilig halten; daß sie die Nation ermahnen, die selbständige wissenschaftliche Forschung als eine sittliche Lebensbedingung zu achten und zu hüten« 250. Der berühmte Berliner Antisemitismusstreit erregt starkes öffentliches Aufsehen und erwirkt auch in Marburg eine Gegenwehr. Heinrich von Treitschke veröffentlicht in den Preußischen Jahrbüchern 1879 eine Schrift mit dem Titel »Unsere Aussichten«. Darin heißt es: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück« 251. Diese Zeilen provozieren eine massive Gegenwehr. So stellen sich u. a. Rudolf Virchow, Heinrich von Sybel und Theodor Mommsen zusammen mit über 70 anderen Professoren gegen Treitschkes Pamphlet und an die Seite von Cohen. Dieser sieht in der Rezeption der kantischen Philosophie eine innige Verbindung von jüdischen und protestantischen Elementen und verurteilt von Treitschkes Äußerungen unmissverständlich: »Der Antisemitismus selbst ist die nackte Dummheit – die sich selbst vernichten muß. Dagegen bildet der religiöse Punkt des Rassenhasses die eigentliche, die einzige Gefahr, die über das Tagesgeschrei hinausreicht« 252. Antisemitische Äußerungen hatten in Marburg zu der Zeit leichtes Spiel 253. 250 Cohen 1883, S. 34. In einer umfangreichen Einleitung zu einer Neuausgabe von Langes Geschichte des Materialismus von 1896 stellt Cohen die These auf, dass Kant der »wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus« sei: »Kant hat sich als Ideal-Politiker ausdrücklich auf Platon berufen, und er ist für die Republik, die doch das Ideal aller Utopien geblieben ist, für ihre Wahrhaftigkeit und Realisierbarkeit mit wuchtigen Worten eingetreten. Er ist der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus.« Hermann Cohen: Einleitung mit kritischem Nachtrag zur ›Geschichte des Materialismus‹ von F. A. Lange, in: Helmut Holzhey: Hermann Cohen Werke. Bd. 5, 6. Aufl. Hildesheim/Zürich/New York 2005, S. 112. »Dabei setzt er auf die erzieherische Kraft der Bildung, die er in Deutschland seit Luther verwurzelt sieht, um einem engstirnigen Nationalismus konservativer Gruppen etwas entgegenzusetzen.« Sieg 1994, S. 229–230. 251 Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 44, 1879, S. 559–576, S. 575. 252 Cohen hat das bereits 1869 in dem Vortrag »Der Sabbat in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung« öffentlich geäußert. Erschienen ist dieser erst 1881 in der Zeitschrift Der Zeitgeist inklusive einem Nachwort aus dem Jahr 1880. Hier zitiert nach

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In der Hochblüte des Marburger Neukantianismus zwischen 1893 und 1912 löst die Habilitation des Bergmann-Schülers Ludwig Busse bei Cohen und Natorp scharfen Widerstand aus und führte während des Habilitationskolloquiums zu einem Eklat, in dem seine reaktionäre politische Weltanschauung auf die linksliberale Grundhaltung der Neukantianer trifft. Cohen versucht die seiner Meinung nach unter philologischen Aspekten mangelhafte Arbeit Busses zu verhindern 254. Busse, von dem es heißt, dass »er sich in Marburg als germanisch-antisemitischer Agitator geberde« 255, wurde von Althoff protegiert und machte Karriere. Im Wintersemester 1894/95 beginnt Busse seine Vorlesungstätigkeit. Bereits 1896 wechselt er jedoch nach Rostock, was den Konflikt mit Cohen und Natorp entschärft. Busse kann über die Stationen Rostock, Königsberg und Münster schließlich den Lehrstuhl von Vaihinger in Halle besetzen, obwohl Natorp auf Listenplatz eins stand. Das Votum gegen Busse verstärkte Cohens und Natorps Isolation an der Marburger Hochschule. Wie sehr die Neukantianer innerhalb der Fakultät isoliert waren und welche Kämpfe sie auszufechten hatten, lässt sich an einem Brief von Cohen an Natorp vom 22. 10. 1912 ablesen, in dem er rückblickend unter dem Eindruck der Querelen um seine Nachfolge schreibt: [A]ber mit Diplomatie kommt ein Professor unseres Schlages der Regierung gegenüber nicht durch. [W]enn allen Universitäten die Psychologie recht ist, muss sie auch in Marburg billig sein. Dahingegen kann es uns nicht erspart werden, das perfide Vorgehen der Fakultät bloszustellen. Sie wissen, dass ich Ihnen immer zum Frieden mit der Fak., wie mit den Fachgenossen geraten habe, auch wo ich dadurch offen zurückgesetzt wurde. Aber jetzt ist es meine Freundespflicht, Sie vor der süssen Eintracht mit dieser Bande […] mit aller Energie zu warnen. Ich hatte es Ihnen deutlich Bruno Strauß (Hg.): Hermann Cohens jüdische Schriften. Bd. 2: Zur jüdischen Zeitgeschichte. Berlin 1924, S. 45–72, S. 67. 253 »Der Antisemitismus hatte in Marburg trotz behördlicher Gegenmaßnahmen Fuß gefaßt. Obwohl die Böckel-Bewegung bereits 1894 ihren Zenit überschritten hatte, blieb ihr Protagonist bis 1903 Mitglied des Reichstages.« Sieg 1994, S. 157. 254 Einen detaillierten Bericht über den Vorgang bietet Sieg 1994, S. 191–196. 255 Brief Anton Martys, Philosophieprofessor in Prag, an Paul Natorp vom 17. Mai 1896, in dem er um eine Stellungnahme bittet, ob Busse als Nachfolger von Friedrich Jodl in Prag in Frage kommt. Das vollständige Zitat lautet: »Von anderer Seite aber wurde bei unseren Berathungen noch erwähnt, daß Dr. Busse sich in Marburg als germanisch-antisemitischer Agitator geberde, was natürlich auch bedenklich wäre.« Sieg 1994, S. 498. Kant als Klassiker der Philosophie

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genug in den Wind geredet, dass es einer Fakultät nicht ansteht zu sagen: die ganze Richtung passt uns nicht; dass so nur die Regierungen aus konfessionellen & politischen Rücksichten zu verfahren pflegen. Wie konnte man mich so mit Füssen treten? Auch Sie mussten darunter mitleiden; denn der Anti kennt keine nationalen Rücksichten, so wenig wie wissenschaftliche, noch solche des kollegialen Anstands. Man wird unter ihm zum Pöbel, geschweige zum Verfolger der Wissenschaft. 256

Cohen rät Natorp dazu, entweder »kollegialen Respekt & Kompetenzgefühl üben [zu] lernen« oder aber offensiv vorzugehen und die Abschaffung des Fachs Philosophie an der Universität Marburg zu fordern. Ansonsten drohe seiner Meinung nach ein Zustand, der den Regierungen in die Hände spielt, die eine »selbständige Philosophie mundtot machen« 257 wollen. Die aufgebrachten Philosophieprofessoren veröffentlichten 1912 eine Erklärung für die Einrichtung eines Lehrstuhls für systematische Philosophie, u. a. von Vertretern des akademischen Linksliberalismus wie Franz Brentano, Gustav Radbruch, Ernst Troeltsch und Max Weber. Zudem gab es einen weiteren Aufruf u. a. von Windelband und Natorp, die sich vehement für die Philosophie einsetzten 258. Im Hintergrund der Kontroverse der Philosophen mit den Psychologen stehen die beiden kontroversen Besetzungen der Lehrstühle in Marburg und Königsberg. Jaensch wird Nachfolger Cohens und Narziß Ach besetzt 1907 den renommierten Königsberger Kant-Lehrstuhl 259. Der Diskurs wurde im Laufe der Zeit von polemischen Äußerungen bestimmt. Nicht nur durch die gesellschaftspolitischen Umstände hatten die Marburger keine einfachen Bedingungen, um ihr eigenes Philosophieren voran zu bringen, sondern auch durch institutionelle Hürden. Innerhalb der Universität gewinnt ein anderes Fach an Bedeutung: die Psychologie. Der Neukantianismus kann sich gegen die Brief Cohens an Natorp vom 22. 10. 1912, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 421. Brief Cohens an Natorp, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 422. 258 »Mit Eucken, Husserl, Rickert, Riehl und Windelband organisierten fünf renommierte Philosophen zusammen mit Natorp eine Erklärung, die sich gegen die weitere Preisgabe philosophischer Katheder an die Experimentalpsychologie wandte. Sie wurde von 106 deutschsprachigen Hochschullehrern der Philosophie unterzeichnet.« Sieg 1994, S. 366. Das entspricht 1∕3 des gesamten Lehrpersonals. 259 Uwe Wolfradt: »Neukantianismus und Psychologie. Ein kritisches Verhältnis und die Konsequenzen«, in: Christian Krijnen, Kurt Walter Zeidler (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 289–316, S. 301. 256 257

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erstarkende experimentelle Psychologie im letzten Viertel des 19. Jahrhundert nicht durchsetzen. 1879 erfolgt die Gründung des psychologischen Labors in Leipzig von Wilhelm Wundt. Zugleich werden wenig neue Lehrstühle für die Philosophie eingerichtet. Zudem tritt der für die Philosophie ungünstige Umstand ein, dass Althoff 1907 seinen Rücktritt einreicht. Cohen und Natorp wollen die Philosophie naturgemäß stärken und wenden sich gegen die Kandidaten aus der Psychologie. Erneute Gegenwehr erfährt Cohen durch die Tatsache, dass seinem Schüler Dimitry Gawronsky die Habilitation verweigert wird. 1912 – Cohen wird in diesem Jahr 70 Jahre alt – stellt er sein Entlassungsgesuch 260. Zu seinem 70. Geburtstag räumt ihm Vaihinger ein Sonderheft der KS ein. Dieses wird nur von Anhängern des Marburger Neukantianismus gefüllt. Cohens Nachfolger wird nicht Cassirer, sondern der Experimentalpsychologe Erich Jaensch 261. Cohens Kollege Paul Natorp war 1880 Hilfsbibliothekar in Marburg. Aufgrund seines Interesses an Cohens Kantianismus ist er nach Marburg gekommen 262. 1881 erfolgte die Habilitation mit der Schrift Descartes’ Erkenntnisstheorie 263, die ein Jahr später veröffentlicht wurde. Im Jahr 1893 wurde er ordentlicher Professor in Marburg. Andere Berufungen waren nicht erfolgreich 264. Natorps Vorhaben, eine akademische Karriere anzustreben, wurde mehrfach gebremst. Zweimal ist er in Halle abgelehnt worden, obwohl er auf dem ersten Listenplatz stand. Politische Motive sind denkbar, aber schwer zu belegen. In dem sozialdemokratischen Organ Vorwärts wird in dem Artikel »Akademische Cliquenwirtschaft« der Umgang mit Natorp stark kritisiert und dahinterstehende politische Motive vermutet: Beide Male wurde er [Natorp] von der Regierung verweigert. Ja, beim letzten Male wurde ihm sogar ein junger Anfänger, der philosophisch bisher noch nichts geleistet hat, vorgezogen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß der Marburger Sozialpädagoge, der sich noch jüngst durch seine oppositionelle anti-chauvinistische Rede auf dem Dortmunder LehrerSieg 1994, S. 361. Zum Aufruhr der Philosophieprofessoren, die nun erneut einen Lehrstuhl an die Experimentalpsychologie verlieren, siehe Sieg 1994, S. 363–366. 262 Holzhey et al. 2004, S. 65. 263 Paul Natorp: Descartes’ Erkenntnisstheorie. Eine Studie zur Vorgeschichte des Kriticismus. Marburg 1882. 264 Brief Natorps an Laßwitz vom 02. 02. 1910: »[I]ch war in Wien, in Halle, in Göttingen dringend vorgeschlagen, scheitre aber stets an den Ministerien.« Holzhey 1986, Bd. 2, S. 387. 260 261

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tag bemerkbar machte, lediglich aus politischen Gründen abgelehnt worden ist. Natorp hat nie mit seinem Demokratismus hinter dem Berge gehalten […]. Vor zwei Jahren gestand er […]: Nun könne er innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr mitmachen 265.

Mit polemischen Einschlägen fährt der Artikel fort und kritisiert dabei die Rolle Diltheys bei der Vergabe von Stellen an Paul Menzer sowie seinen Schwiegersohn Georg Misch: Solche aufrechten Ideologen kann Neu-Deutschland nicht mehr gebrauchen. Es besetzt seit Jahren seine philosophischen Lehrstühle entweder mit schwarz-weiß-rot abgestempelten Nullen oder mit saftlosen Bücherwürmern. Herr Menzer, der nun nach Halle zieht, hat nichts getan als an der neuen Kantausgabe mitgewirkt. Sein Protektor Dilthey spielt eben nach seinem Rücktritt eine noch größere Rolle als vorher. Er hat es fertig gebracht, daß sein blutjunger, frischgebackener Schwiegersohn, Herr Misch, der soeben von Althoff ein Weltreisestipendium erhalten hat, neben Natorp und Menzer auf die Hallische Liste kam. Er sorgt in rührender Weise für seine Schüler, Berlin, Breslau und Jena hat er in letzter Zeit mit jungen Dozenten seiner Richtung versorgt, und er betrachtet es anscheinend – man spricht sogar davon, daß er es direkt erklärt hat – als seine Hauptaufgabe, die paar Neukantianer, die noch Rückgrat haben, auszurotten und seine verpreußte Neuauflage der Hegelschen Philosophie überall an den Mann zu bringen. 266

Cohen wiederum verschafft Natorp durch seinen guten Kontakt zum preußischen Kultusminister Friedrich Althoff eine Stelle. Neben Cohen war Julius Bergmann seit 1874 Philosophieprofessor in Marburg. In den Jahren 1890/91 gab es eine Debatte darüber, ob die Philosophie im Rigorosum der Philosophischen Fakultät Pflichtfach bleiben soll. Bergmann war dagegen, Cohen dafür. Natorp wurde 1893 schließlich Nachfolger Bergmanns. Er macht sich neben seiner Professorentätigkeit als Redakteur verdient. 1895 fusionierten die Philosophischen Monatshefte mit dem Archiv für Geschichte der Philosophie zum Archiv für Philosophie. Von 1888 bis 1901 war er neben Ludwig Stein der Herausgeber der zweiten Abteilung Archiv für systematische Philosophie. Neben ihm gehörten diesem zudem

265 Akademische Cliquenwirtschaft, in: Vorwärts. Nr. 172 vom 25. 07. 1908, S. 2. (http://fes.imageware.de/fes/web/) (04. 10. 21). 266 Akademische Cliquenwirtschaft, in: Vorwärts. Nr. 172 vom 25. 07. 1908, S. 2. (http://fes.imageware.de/fes/web/) (04. 10. 21).

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Hermann Diels, Wilhelm Dilthey, Benno Erdmann, Christoph Sigwart sowie Eduard Zeller an. Natorp geht es innerhalb der Marburger Schulbildung um die Etablierung einer Philosophie als Wissenschaftstheorie. Müssen sich die Einzelwissenschaften ihre Grundlagen nicht selbst erarbeiten? Kann sich eine solche Disziplin neben den Wissenschaften behaupten? Sie kann es nur, wenn die grundlegenden Diskussionen über Begriffe, Methoden und Verfahren nicht in den einzelnen Fächern stattfinden. Dann besteht jedoch zugleich die Gefahr, dass die philosophische Diskussion abhebt und nicht an die Fächer rückgebunden wird. Natorp entgeht diesem Szenario, indem er die Wissenschaft als unendlichen Prozess des Schaffens von Wissen ansieht, deren Voraussetzungen nicht feststehen und daher immer wieder neu bestimmt werden müssen 267. Diese These bestätigt sich in seinem Vortrag »Kant und die Marburger Schule« 268, den Paul Natorp 1912 vor der Kant-Gesellschaft in Halle gehalten hat. Hierin beschreibt er sein Philosophieverständnis, das von Zurückhaltung und einer Offenheit für Entwicklungen geprägt ist: »Philosophie ist, nach der klassischen Bedeutung dieses Namens, ewiges Streben nach fundamentaler Wahrheit, nicht der Anspruch, in ihrem Besitze zu sein. Gerade Kant, welcher Philosophie als Kritik, als Methode versteht, hat zwar Philosophieren, nicht aber ›eine‹ Philosophie lehren wollen« 269. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob dieses Selbstverständnis nicht im Gegensatz zu Cohens Philosophie steht. Immerhin hat er ein philosophisches System bestehend aus Ästhetik, Ethik und Logik formuliert. Natorp verneint dies, da Cohen zwar ein System, aber kein dogmatisches, sondern ein flexibles aufgestellt habe 270. Die Marburger grenzen sich vom Empirismus sowie von jedweden metaphysischen Gehalten ab. Natorp verhilft mit seinem Philosophieren dem Methodenverständnis zu mehr Klarheit, als Cohen dies getan hat. Philosophie als Methode führe zu einer Auflösung von Dualismen und ist für Natorp von einer Offenheit für den prozessualen Weg des Denkens gekennzeichnet: »In diesem Grundgedanken also der Philosophie als Methode und zwar Methode einer unendlich, schöpferischen Entwicklung, glauben wir den Kern, den unzerstörlichen 267 268 269 270

Holzhey et al. 2004, S. 71. Paul Natorp: Kant und die Marburger Schule, in: KS 17, 1912, S. 193–221. Natorp 1912, S. 194. Natorp 1912, S. 195.

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Grundgehalt der ›transzendentalen Methode‹ als der Methode des Idealismus, und somit den unzerstörlichen Grundgehalt der Philosophie Kants, festzuhalten und erst zur reinen Durchführung zu bringen« 271. In den Naturwissenschaften habe sich faktisch eine Objektivierung bereits vollzogen. Die philosophische Erkenntnistheorie will diesen objektiven Punkt aufspüren. Durch die objektiv-transzendentale Erkenntnisweise sei die Autonomie der Erkenntnis erfüllt. Die Texte von Cohens Kollegen Paul Natorp, wie die Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode (1888), Platons Ideenlehre (1903), Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaft (1910) sowie Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme (1911) waren eingänglicher und leichter verständlich. Im Sommersemester 1883 lehrt Natorp innerhalb eines Kant-Kollegs und stellt eine Verbindung von Luther und Kant her 272. Er ist in seiner Lehre um die Synthese von philosophischen und philologischen Betrachtungen bemüht und favorisiert die historisch-genetische Methode. Anders als Cohen richtet Natorp seine Vorlesungen nach historisch und philologisch exakten Verfahren aus 273. Mit seinem Werk Platos Ideenlehre 274 weicht Natorp mit seinen Vorschlägen zur Datierung platonischer Texte von der gängigen Ansicht der Forschung ab. Ebenfalls gewagt ist die Ansicht, dass die platonische Idee als Vorläufer des Galileischen Naturgesetzes aufzufassen sei. Natorp liest Platons Schriften mit einer erkenntnistheoretischen Brille. So wird Platon bei ihm zu einem Vorläufer der modernen Naturwissenschaft 275. Natorp äußert sich kritisch zu den Privilegien des Beamtentums und zu den Burschenschaften. Aus dem Streit mit letzteren erwuchsen heftige Angriffe von Seiten des konservativen Lagers. Diese Natorp 1912, S. 200. »In ihnen erklärt Natorp die jüngsten Erfolge der Lehre Luthers und der Kantischen Philosophie aus der gleichen Wurzel. Es sei der nationale Zug in ihrem Denken, der sie einem patriotisch empfindenden Zeitalter nahebringe.« Sieg 1994, S. 164–165. 273 Diese Ausrichtung macht ihn auch für Verleger interessant: »Sehr bewirbt sich jetzt um mich der Verleger Dürr-Leipzig, der den alten Sahlingerschen Verlag mit d. Kirchmannschen Bibliothek gekauft […] hat. Ich helfe mit Rat u. möchte ihm gern auch Mitarbeiter dafür beschaffen.« Brief Natorps an Görland vom 23. 03. 1901, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 264–265. Der Phil.-histor. Verlag Dr. R. Salinger besteht von 1891 bis 1899 und wird von der Dürr’schen Buchhandlung, 1900–1911, aufgekauft, die ab 1911 in den Felix Meiner Verlag übergeht. Siehe Kapitel 4.1.1. 274 Paul Natorp: Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 1903. 275 Sieg 1994, S. 265–267. 271 272

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rücken Natorp in die Nähe der ihrer Meinung nach staatsgefährdenden Sozialdemokratie 276. Auch an der Universität Marburg muss Natorp mit einer zunehmenden Distanzierung umgehen. Natorp erhält als Folge seiner kritischen Äußerungen jedoch lediglich einen Verweis von Althoff 277. Rückhalt und Zuspruch für seine Äußerungen kommen aus der von Friedrich Naumann gegründeten Wochenschrift Die Hilfe. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung und vom Theologen Gottfried Traub. Dass Natorp sich nicht gehorsam und treu gegenüber Kaiser und Staat zeigt, äußert sich auch an einer von ihm initiierten Petition gegen den wachsenden Einfluss der Kirche auf den schulischen Unterricht. Diese blieb erfolglos, erzeugte jedoch eine hohe Resonanz. Das »Zentrum« war zu mächtig, um dagegen anzukommen, trotz der Unterstützung von den Berliner Wissenschaftlern Hans Delbrück, Adolf von Harnack, Friedrich Paulsen und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. 278 Im Jahr 1903 wird Natorp von Hans Vaihinger gebeten, die Herausgabe der KS zu übernehmen. Diese befindet sich in einer finanziellen Krise, nachdem der Mäzen Walter Simon beim Leipziger Bankenkrach den Großteil seines Vermögens verloren hat. Cohen lehnt 1895 eine entsprechende Anfrage schroff ab. Als Leiter der Philosophischen Monatshefte bis 1892 und Herausgeber vom Archiv für systematische Philosophie von 1895 bis 1901 ist Natorp ein idealer Kandidat für Vaihinger. Die weitere Finanzierung ist durch eine Bewilligung von 600 Mark durch Althoff gesichert. Vaihinger will die Verfügungsrechte über die Summe behalten. Daher lehnt Natorp ab. Dadurch bringt sich der Marburger Neukantianismus insgesamt noch tiefer in die Isolation 279. Natorps Wissenschaftsverständnis ist geprägt von einer starken methodischen Fixierung sowie einem Fortschrittsoptimismus: »Der Fortgang, die Methode ist alles; im lateinischen Wort: der Prozeß. Also darf das ›Faktum‹ der Wissenschaft nur als ›Fieri‹ verstanden werden. Auf das, was getan wird, nicht was getan ist, kommt es an. Das Fieri allein ist das Faktum« 280. Im Gegensatz zu Cohen fokussiert er sich nicht auf die Überwindung des kantischen Dualismus von AnSieg 1994, S. 195 und S. 292–295. Sieg 1994, S. 294. 278 Sieg 1994, S. 299–304. 279 Sieg 1994, S. 212–216. 280 Paul Natorp: Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig 1910, S. 14. 276 277

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schauung und Denken, sondern auf die Unterscheidung von Materie und Form der Erkenntnis. Mit ersteren sind die gegebenen Dinge gemeint. »Aber diese ›Gegebenheit‹ selbst ist nicht – gegeben, sondern gefordert; gefordert – vom Denken. Denn Denken heisst Bestimmen; bestimmt ist für die Erkenntnis nichts, das nicht sie selbst bestimmt hätte; gefordert aber ist die Bestimmung an sich ohne Einschränkung; eine Bestimmung also, die nichts unbestimmt lasse […]. Wagnis der Hypothese ist unumgänglich« 281. Nach einem gescheiterten Habilitationsversuch bei Wilhelm Dilthey in Berlin kommt 1895 Eugen Kühnemann nach Marburg und wird Privatdozent. Cohen und Natorp sprechen sich ihm gegenüber wohlwollend aus. Diese Reaktion ist ungewöhnlich, da Kühnemann im Bereich der Philosophie keine Publikationen vorzuweisen hat. An Stelle dessen sichert er sich durch seine guten Kontakte zum Kultusministerium seine Stelle 282. Bevor er 1903 nach Bonn wechselt, hält er in Marburg publikumswirksame Vorlesungen. Paul Menzer, Sekretär unter Dilthey an der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und vertraut mit der Kant-Ausgabe, wird Nachfolger von Kühnemann. Er beginnt 1906 an der Universität Marburg zu lehren. Damit kommt ein Vertreter der verachteten Kant-Philologie nach Marburg 283. Einen bleibenden Eindruck hinterließ er in den zwei Jahren jedoch nicht. Er verlässt Marburg 1908 gen Halle und besetzt Busses Ordinariat. Es bricht ein heftiger Streit um die Besetzung des Lehrstuhls aus. Dabei stehen sich die Vertreter des Neukantianismus und die empirischen Psychologen gegenüber. Erstere wollen entweder Cassirer oder Görland auf den Lehrstuhl befördern, letztere unterstützen Gottlob Friedrich Lipps 284. Der Neoidealist Hermann Schwarz, der ab 1907 die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik herausgibt, scheidet zum Wintersemester 1910/11 in Marburg aus. Erneut bricht ein Streit um die Besetzung aus. Wieder stehen sich die Psychologen und die Neukantianer gegenüber. Als Kandidaten sind wieder Lipps sowie Cassirer oder Görland im Gespräch. Neu in der Diskussion ist Nicolai Natorp 1912, S. 201. Sieg 1994, S. 304–306. 283 »Um sein berufliches Fortkommen mußte sich Menzer wenig Sorgen machen, protegierte ihn doch mit Dilthey die mächtigste Gestalt der Universitätsphilosophie. Dessen Fürsprache dürfte eine wichtige Ursache für die Erlangung des Marburger Extraordinariats gewesen sein.« Sieg 1994, S. 308. 284 Sieg 1994, S. 309. 281 282

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Hartmann. Neben den verfeindeten Lagern tritt ein drittes hinzu: Historiker und Philologen votieren für den Schwiegersohn von Wilhelm Dilthey, Georg Misch. Die Fakultätsmehrheit ist gegen ihn, jedoch setzt sich das Kultusministerium erfolgreich für Misch ein 285. Die Marburger Schule brachte eine kleine Zahl an Schülern hervor, die zum Teil eine eigenständige Fortführung der transzendentalen Methode leisteten und eine originelle Kulturphilosophie hervorbrachten. Der Kantphilologe Karl Vorländer ist der erste bekannte Schüler Cohens und Natorps, der eine wichtige Person hinsichtlich der Verbreitung des Marburger Neukantianismus darstellt. Zwischen 1899 und 1906 bringt er die Hauptwerke Kants mit Einleitungen sowie Sachregistern in der Philosophischen Bibliothek des Meiner Verlages heraus: 1902 die Kritik der Urtheilskraft, 1905 die Prolegomena und ein Jahr später die Kritik der praktischen Vernunft. Zudem veröffentlicht er 1924 die erste Kantbiographie mit dem Titel Der Mann und das Werk 286, in dem er Leben und Werk von Immanuel Kant zu einer biographischen Erzählung verwebt. Nicolai Hartmann zählte ebenfalls zu dem Marburger Schülerkreis, jedoch bricht er später mit dem Kantianismus und entwickelt, geprägt von seinem Interesse an der Evolutionstheorie Darwins, seine Philosophie der Seinsschichten des Realen. Er gibt 1909 Platons Logik des Seins 287 heraus. Ernst Cassirer ist der bekannteste Schüler Cohens. Sein Lehrer hat Schwierigkeiten, ihn zu habilitieren. Im Weg stehen sowohl sein Bekenntnis zum Judentum als auch die linksliberale Grundhaltung. In Berlin leisten ihm Alois Riehl, Carl Stumpf und Wilhelm Dilthey Widerstand. In Straßburg äußert Wilhelm Windelband zwar keine Bedenken gegen Cohens philosophische Position, jedoch stellt für ihn die Konfession ein unüberwindliches Hindernis dar: »Hier hat man nun direkt gesagt, dass es der Jude ist den man ablehnt. Nicht als ob man selbst (i. e. Windelband) Antisemit sei – beileibe nicht! Sondern – den Katholiken gegenüber dürfe man jetzt nicht mit einem Juden kommen« 288. Die Natorps Ansicht zufolge Sieg 1994, S. 313. Karl Vorländer: Der Mann und das Werk. Leipzig 1924. 287 Nicolai Hartmann: Platons Logik des Seins. Gießen 1909. »Hartmanns Auffassung, die den Wert jeder Erkenntnis an ihrer systematischen Reichweite mißt, belegt den bestimmenden Einfluß des Marburger Neukantianismus.« Sieg 1994, S. 321. 288 Brief Natorps an Görland vom 13. 01. 1902, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 270. Um die Brisanz dieses Zusammenhangs zu verstehen, muss man sich die Berufung des Katholiken Martin Spahn an die Universität Straßburg vergegenwärtigen, der zu 285 286

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fadenscheinigen Begründungen offenbaren vor allem eine Grundhaltung der Professorenschaft: »wir wollen eben keinen Juden, u. [und] nehmen, auch wenn wir selbst nicht Antisemiten sind, es doch nicht auf uns, uns gegen die vorhandene antisem. [antisemitische] Strömung durchzusetzen« 289. In Göttingen hatte Cohen ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg. Er versuchte es erneut in Berlin. Die Habilitationsschrift Cassirers wurde zwar angenommen, jedoch setzt Riehl im Kolloquium alles daran, Cassirers Habilitation zu verhindern. Letztendlich legt Dilthey ein gutes Wort ein und sichert Cassirers akademische Karriere 290. Geprägt ist Cassirers 1907 erschienene Schrift Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit 291 durch seinen Lehrer Cohen. Sie bedient sich der genetischen Methode des Neukantianismus. Hierin werden zum einen Kants Gedanken mit denjenigen Newtons zusammengebracht sowie zum anderen der Weg Kants von den vorkritischen Schriften zur KrV geschildert. Ganz der Marburger Tradition verpflichtet, schließt Cassirer sein Werk mit folgendem Satz: »Die Auflösung des ›Gegebenen‹ in die reinen Funktionen der Erkenntnis bildet das endgültige Ziel und den Ertrag der kritischen Lehre« 292. Cassirer wendet sich in seiner dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen 293 von den Grundsätzen der Marburger ab und der Entwicklung seiner Kulturphilosophie zu. Die Marburger sind im ersten Weltkrieg von den »Ideen von 1914« und dem »Augusterlebnis« begeistert. Nun herrscht ein »freiwilliger Gehorsam« anstatt das »Freiheitsideal« zu bekräftigen. Der »deutsche Sozialismus« und die »Schützengrabenkameradschaft« werden beschworen. Mehr als ¾ der ca. 2300 Marburger Studenten werden Soldaten. Das universitäre Leben kommt nahezu vollständig zum Erliegen 294. 1917 erhält Georg Misch einen Ruf an die Universität Göttingen, um die Nachfolge Edmund Husserls anzutreten. Im einer regen Diskussion über die Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft führte. Dieser Diskurs ist als »Fall Spahn« bekannt. 289 Brief Natorps an Görland vom 13. 01. 1902, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 270–271. 290 Sieg 1994, S. 334–335. 291 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in: Birgit Recki (Hg.): Gesammelte Werke Bd. 2. Darmstadt 1999. 292 Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in: Birgit Recki (Hg.): Darmstadt 1999, S. 762. 293 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, in: Birgit Recki (Hg.): Gesammelte Werke Bd. 11. Darmstadt 2001. 294 Sieg 1994, S. 377.

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Gespräch um Mischs Nachfolger in Marburg sind Friedrich Kuntze, Cassirer, Heidegger und Wundt. Erneut haben die Marburger das Nachsehen. Der Experimentalpsychologe Wundt erhält die Professur. Cohens Denken während der Kriegsjahre ist durch eine Vermischung von religiösen Idealen und kantischen Motiven geprägt. Im Kampf für das Vaterland verwirkliche sich das Ideal der Freiheit. »Die deutsche Sozialpolitik hat zwei konzentrische Mittelpunkte: Luthers allgemeine Schulpflicht und Scharnhorsts allgemeine Wehrpflicht. Beide Einrichtungen bilden die Disziplin für den Idealismus Kants […]. Die Schöpfung des deutschen Heerwesens ist aus dem Kreise der Kant-Jünger hervorgegangen« 295. Der Marburger Neukantianismus hat zu Beginn der Weimarer Republik kein tragfähiges Fundament mehr. Im Jahr 1920 verlässt Wundt Marburg gen Jena. Für den freien Lehrstuhl im Gespräch sind Martin Heidegger und Nicolai Hartmann. Hartmann bekommt Wundts a. o. Professur. 1923 ernennt das Kultusministerium Hartmann zu Natorps Nachfolger. Sein Lehrstuhl war folglich frei. Heidegger kommt nach Marburg, für den Natorp das Gutachten verfasst hat 296. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entwicklung der Marburger Schule zum einen nicht ohne den Einfluss gesellschaftspolitischer Aspekte zu verstehen ist. Die Neukantianer vertreten in den 1870/80er Jahren einen gemäßigten Liberalismus. Cohen sieht sich antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, die im Berliner Antisemitismusstreit gipfeln. Zugleich mussten die Marburger den Erhalt ihres Faches im Rigorosum verteidigen. Die Philosophie steht in massiver Konkurrenz zur Experimentalpsychologie bei der Besetzung von Lehrstühlen. Das Kultusministerium favorisierte die Psychologie und drängte damit den Marburger Neukantianismus an den Rand. Die Entscheidungen wurden gegen die Beschlüsse der Fakultät durchgesetzt. Vor allem in dem Verhältnis der philologisch-exakten Verfahrensweise zu philosophisch-systematischen Fragestellungen agieren Cohen und Natorp diametral entgegengesetzt. Kant als Erkenntnistheoretiker stellt in diesen Interessenskonflikten einen verlässlichen Anker dar, um das Fach Philosophie gegen Angriffe zu verteidigen 295 Hermann Cohen: Kantische Gedanken im deutschen Militarismus, in: Helmut Holzhey, Julius H. Schoeps, Christoph Schulte (Hg.): Hermann Cohen Werke Bd. 17. Kleinere Schriften VI, Hildesheim/Zürich/New York 1997, S. 135–146, S. 137. 296 Sieg 1994, S. 439–440.

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und ihre Souveränität zu schützen. Den kantischen Geist nach der Reichsgründung 1871 heraufzubeschwören und die Bedeutung seiner Philosophie für die deutsche Nation zu betonen, stellt eine wirksame Strategie zur Rettung des Fachs vor dem Bedeutungsverlust dar. Doch nicht nur in Marburg formiert sich eine Schulgemeinschaft, sondern auch im Südwesten. Die Südwestdeutsche Schule sucht ebenfalls in Kant den Rettungsanker, verfolgt dabei jedoch eine andere philosophische Zielsetzung. Das Verhältnis der beiden Schulen ist durch Abgrenzung gekennzeichnet. So warnt Windelband vor der Lektüre des »Platorp« – Natorps Schrift über Platon in seinem Werk Platons Ideenlehre 297. Mit Schweigen und Missachtung gestraft wurden die Marburger in Windelbands Darstellung Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts 298, welches er zum 80. Geburtstag seines Lehrers Kuno Fischer herausgab. Die Marburger kommen darin nicht vor.

2.5 Die Südwestdeutsche Schule: Wilhelm Windelband Neben Cohen und Natorp als Vertreter des Neukantianismus in Marburg entsteht in Südwestdeutschland eine neukantianische Schule mit Wilhelm Windelband als Hauptvertreter 299. Der junge Windelband hat um 1875 einen Relativismus auf dem Gebiet der Logik vertreten. Diese Position wird er ab der Berufung an die Universität Straßburg 1882 vehement bestreiten und seine Theorie des Normalbewusstseins entwickeln. In diesem Kapitel stehen Windelbands Positionen nach der Selbstkorrektur im Zentrum 300. Windelband hat festigend auf die institutionelle Verankerung der Philosophie eingewirkt. Zum einen erreichte er dies durch die Veröffentlichung von Lehrbüchern zur Geschichte der Philosophie, durch die Etablierung Sieg 1994, S. 268–269. Wilhelm Windelband: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 1904. 299 Windelbands Schüler Heinrich Rickert (1863–1936) wird in diesem Kapitel nicht berücksichtigt, da sein Wirken außerhalb des von der Verfasserin betrachteten Untersuchungszeitraums fällt. 300 Für eine Darstellung der Position des jungen Windelband und seiner Abkehr vom Relativismus siehe Gerald Hartung: »Ein Philosoph korrigiert sich selbst – Windelbands Abkehr vom Relativismus«, in: Peter König, Oliver Schlaudt (Hg.): Wilhelm Windelband (1848–1915). Würzburg 2018, S. 45–60. 297 298

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des Philosophischen Seminars an der Universität Heidelberg, als Mitbegründer der dort ansässigen Akademie sowie als Rektor in Straßburg und Heidelberg, zum anderen als Mitglied nationaler und internationaler Gesellschaften. So kann er als »ernstzunehmender Konservativer mit wilhelminischem Sendungsbewusstsein« 301 angesehen werden, der die kantische Philosophie bewahren und behutsam weiterentwickeln will. Laut Bohr sei jedes Wort seiner Reden, die in den Präludien versammelt sind, »offiziös gemeint, wenn nicht gleich als offizielle Verlautbarung zu verstehen« 302. In dem Vorwort eben dieser Aufsatz- und Redensammlung Präludien 303 aus dem Jahr 1883 benennt Windelband seine Absicht, ein philosophisches System entwerfen zu wollen. Er folgt dem Ruf »Zurück zu Kant« mit dem Ziel, über ihn hinauszugehen: Wir alle, die wir im 19. Jahrhundert philosophieren, sind die Schüler Kants. Aber unsere heutige ›Rückkehr‹ zu ihm darf nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein, in welcher er die Idee der kritischen Philosophie darstellte. Je tiefer man den Antagonismus erfaßt, der zwischen den verschiedenen Motiven seines Denkens besteht, um so mehr findet man darin die Mittel zur Bearbeitung der Probleme, die er durch seine Problemlösung geschaffen hat. Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen 304.

Im Jahr 1881 hält Windelband anlässlich des hundertsten Jubiläums der KrV den Vortrag »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«. Die KrV bezeichnet er als das »Grundbuch der deutschen Philosophie«, als »Triumph des deutschen Geistes« 305. Kant wird als Meisterdenker inszeniert, der alle Fäden zusammenhält und eine neue wegweisende Philosophie begründet. Windelband zieht eine Linie von Sokrates zum Mittelalter bis hin zu Kant, durch den »die deutsche Philosophie das fertige Bewußtsein dessen« ausbilden konnte, »was als unwillkürlicher Denktrieb in der griechischen Philoso-

301 Jörn Bohr: »Im Fortschreiben der Probleme: Windelbands 19. Jahrhundert«, in: Peter König, Oliver Schlaudt (Hg.): Wilhelm Windelband (1848–1915). Würzburg 2018, S. 129–153, S. 129. 302 Bohr 2018, S. 135. 303 Windelband hat nie ein zugehöriges systematisches Hauptwerk verfasst. Die Präludien erscheinen 1883 in erster Auflage einbändig. Ab der vierten Auflage kommt ein zweiter Band hinzu. 304 Wilhelm Windelband, in: Präludien Bd. I, Tübingen 11883, 81921, S. IV. 305 Wilhelm Windelband: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, in: Präludien Bd. I, Tübingen 11883, 81921, S. 112–146, S. 114.

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phie sich entfaltet hatte« 306. Sein Kulturverständnis der Gegenwart ist geprägt durch eine Haltung, die die Pluralität und Heterogenität der Wissenschaftler ernst nimmt und anerkennt. Zudem ist es durch ein Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit geprägt. Windelband hat dabei die Position des einzelnen Menschen in einem komplexen Gefüge der sozialen und politischen Verhältnisse im Blick: Uns umgeben viel verschlungene, äußerst problemreiche Verhältnisse des äußeren, des politischen und sozialen Lebens, uns umwogt mit stürmischen Wellen der tägliche Kampf ums Dasein. Unser Blick hat sich in das Unendliche erweitert, er kennt keine Grenze des Seins: aus tausend und abertausend Quellen auf dem ganzen Erdball rinnt uns ein Wissen zusammen, daß nie mehr in Einem Kopfe vereinigt und nie mehr auf eine einfache Gesamtformel gebracht werden wird. Längst vor allem müssen wir uns an die Vorstellung gewöhnen, daß wir nicht im Mittelpunkte des Weltlebens sitzen, sondern irgendwo in einem entlegenen Winkel ein bescheidenes Dasein abspinnen 307.

Die Naturwissenschaft stellt für Windelband nicht den alleinigen Garanten für einen erfolgversprechenden Zugang zur Welt dar 308. Er würdigt Kants philosophische Leistung, insbesondere seine erkenntniskritischen Überlegungen, im Hinblick auf die Entwicklung einer Kulturphilosophie: Das ist nun die große Bedeutung der kantischen Philosophie, daß sie diesem veränderten Verhältnisse der Kulturtätigkeiten zum erstenmal einen völlig adäquaten Ausdruck gibt, daß sie in großen Zügen diesen unseren geistigen Gesamtzustand ausprägte, und das ist die Epoche machende Tat der ›Kritik der reinen Vernunft‹, daß sie diesen Tatbestand mit strengster wissenschaftlicher Beweisführung zum unumstößlichen Bewußtsein bringt 309.

Kants KrV falle in eine Zeit, die Windelband als Phase »literarischer Gärung« bezeichnet. Der Sturm und Drang wende sich gegen die Überzeugung der Allwissenheit der Aufklärung. Die Menschen sind Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 145. Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 119. 308 »Die Wissenschaft ist allein nicht imstande, jenes alle unsere Bedürfnisse umfassende Bewußtsein zu gewähren, welches wir als die Krönung unseres selbstbewußten Lebens erstreben müssen.« Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 121. 309 Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 120– 121. 306 307

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Windelbands Auffassung nach des Wissens und Beweisens satt. Ahnung, Gefühl und Einbildung treten an ihre Position. Kants Verdienst sei es in diesem Zusammenhang, die sich für überlegen haltende Wissenschaft in ihre Schranken zu weisen 310. Die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens werden auch im Positivismus, Skeptizismus, Mystizismus und der Orthodoxie verhandelt. Kant habe mit all dem nichts zu tun gehabt. Windelband sieht Kants Verdienst zudem in der »systematischen Besinnung auf die unumstößlichen und unumgänglichen, jeden normal denkenden Menschen von selbst einleuchtenden Voraussetzungen und Grundsätze, ohne welche es überhaupt keine Verständigung der Denkenden untereinander und keinen Versuch wissenschaftlicher Konstatierung irgendwelcher Tatsachen, keine Verarbeitung dieses Stoffes zu Erkenntnissen gibt« 311. Die kritische Philosophie hinterfrage die Erkenntnisvoraussetzungen, die der Positivismus unreflektiert setze. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens ist Windelband zurückhaltend bis skeptisch. An der Diskussion um das kantische Ding an sich will er sich nicht beteiligen. Für ihn ist sie nicht interessant, da der menschliche Erkenntnisapparat nichts über sie aussagen kann: Was also nach der gewöhnlichen Voraussetzung ein ›Gegenstand‹ ist, der im Denken abgebildet werden soll, das ist in voraussetzungsloser Betrachtung eine Regel der Vorstellungsverknüpfung. Ob es mehr ist, – das wissen wir nicht, und das brauchen wir nicht zu wissen. Wenn diese Regel auf einer absoluten, von allem Vorstellen unabhängigen Realität beruht, in einem ›Ding-an-sich‹ begründet ist, – wenn sie einem ›höheren‹ Vorstellen, einer ›transzendentalen Apperzeption‹ oder einem ›absoluten Ich‹ angehört, – wir können es niemals wissen 312.

Durch die Auffassung des Denkens als regelgeleiteter Verknüpfung von Vorstellungsverbindungen will Windelband den kantischen Idealismus jedoch nicht als absoluten verstanden wissen. Die kantische Philosophie hebe die Gegenstände nicht auf, »ihr ›Idealismus‹ besteht keineswegs darin, zu behaupten, daß in der weiten Welt nichts existiere, als die Vorstellungsmassen der Individuen. Aber sie behauptet, indem sie jede Metaphysik abschneidet, daß Gegenstände für uns nichts weiter sind, als bestimmte Regeln der Vorstellungsverbindung, Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 121. Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 122– 123. 312 Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 135. 310 311

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welche wir vollziehen sollen, wenn wir wahr denken wollen« 313. Auch wenn sich die Philosophie durch Kant vom metaphysischen Ballast befreit habe, ist sie immer noch für die großen Fragen des menschlichen Lebens verantwortlich. Ihre Aufgabe besteht in der Herausarbeitung von Normen. Diese verleihen dem Denken erst Wert und Geltung 314. In seinem Vortrag »Kritische oder genetische Methode?« 315 aus dem Jahr 1883 entwickelt Windelband seinen Begriff des Normalbewusstseins. Implizit kritisiert er damit Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften, das im gleichen Jahr erscheint 316. Er beginnt seine Rede mit der These, dass nach Kant nichts Neues in der Philosophie entstanden sei. Als Aufgabe sieht er für die Philosophie entweder die Entwicklung des kantischen Prinzips oder den Kampf der alten Richtungen gegen Kants Philosophie. Er vertritt die These, dass alle Philosophien – auch die der Gegner Kants – von der kritischen Philosophie beeinflusst seien. Windelband geht davon aus, dass wissenschaftlicher Erkenntnis, die induktiv und deduktiv verfährt, Axiome zugrunde liegen: »Das System dieser Axiome darzustellen und ihr Verhältnis zu der Erkenntnistätigkeit zu entwickeln – nichts anderes kann die Aufgabe der theoretischen Philosophie, der Logik, sein«. 317 Die Philosophie arbeite sich an der Geltung dieser Axiome ab. Diese sind für Windelband äquivalent zu Kants synthetischem Urteil a priori. Innerhalb der genetischen Methode werden Axiome als tatsächliche Auffassungsweisen verstanden, welche in der Psychologie sowie Kulturgeschichte zum Ausdruck kommen. Die kritische Methode hingegen versteht Axiome als Normen: Das Denken erstrebt Wahrheit, das Wollen erstrebt das Gute, das Fühlen erstrebt das Schöne. Windelband warnt vor einem Erstarken der genetischen Methode. Er sieht die Gefahr, dass der Eindruck entstünde, das Neue in der Kulturentwicklung des Menschen sei auch zugleich das Bessere 318. Interessant sind diese Überlegungen Windelbands in Bezug 313 Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 136– 137. 314 Windelband 1883: »Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie«, S. 138– 139. 315 Wilhelm Windelband: »Kritische oder genetische Methode?«, in: Präludien Bd. II, Tübingen 11883, 81921, S. 99–135. 316 Siehe Kapitel 3.3.3.2. 317 Windelband 1883: »Kritische oder genetische Methode?», S. 107. 318 Windelband 1883: »Kritische oder genetische Methode?«, S. 119.

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auf die Editionstätigkeit. Die verschiedenen Typen der Variantenverzeichnung in Editionen werden um 1900 in germanistischen Editionen erprobt und ihre implizit gesetzten Prämissen diskutiert. Hinsichtlich der Editionspraxis ist Windelband ein guter Gesprächspartner zu den Gefahren einer Edition letzter Hand – der damit vermittelte Eindruck, dass die Variante letzter Hand zugleich die bessere, die am weitesten entwickelste, die reifste sei 319. Als Voraussetzung der kritischen Methode bedarf es Windelband zufolge, neben der Unterwerfung unter formale Denkregeln, des Normalbewusstseins, um Dingen Geltung zuschreiben zu können. 320 Den Zugang zum Normalbewusstein eröffnet für ihn die Psychologie: »[D]a wir […] das Normalbewußtsein nicht an sich, sondern nur in seiner Beziehung zum empirischen Bewußtsein kennen, so bedarf die Philosophie des Leitfadens der empirischen Psychologie, um sich in geordneter Weise auf die einzelnen Axiome und Normen zu besinnen« 321. Einschränkend bemerkt er hierzu, dass die Geschichte einen noch viel höheren Stellenwert als Werkzeug für die Philosophie erhalten sollte und warnt zugleich vor dem Historismus: Deshalb bildet die Geschichte in noch viel höherem Maße als die Psychologie das Organon der kritischen Philosophie, indem diese die Gestaltung, worin die Normen als tatsächlich geltende Prinzipien des Kulturlebens historisch gegeben sind, zu Gegenständen ihrer teleologischen Untersuchung und damit zum empirischen Anlaß für ihre kritische Besinnung zu machen hat. Dabei schützen der Wechsel und die Mannigfaltigkeit dieser geschichtlichen Gestaltungen das kritische Denken vor dem Historismus, d. h. vor dem historischen Relativismus, der sich etwa mit der zeitlichen, geschichtlich als notwendig zu begreifenden Geltung jeder dieser Gestaltungen begnügen und auf die Erfassung einer davon unabhängigen absoluten Geltung verzichten wollte 322.

Eine Gemeinsamkeit zwischen den Fächern Philosophie und Geschichte besteht um 1900 in dem Wunsch, autonom zu sein und sich von den positivistisch arbeitenden Naturwissenschaften abzugrenzen. Im Zuge des Erstarkens der Lebensphilosophie, welche u. a. durch Dilthey bewirkt wurde, kämpft Windelband für ein Verständ-

319 Ob solche Diskussionen unter den Editoren der AA tatsächlich stattgefunden haben, wird in Kapitel 3.3.2 untersucht. 320 Windelband 1883: »Kritische oder genetische Methode?«, S. 122. 321 Windelband 1883: »Kritische oder genetische Methode?«, S. 131. 322 Windelband 1883: »Kritische oder genetische Methode?«, S. 132.

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nis der Philosophie als Wissenschaft. Beide eint jedoch der methodische Zugang zur Philosophie über die beschreibende Psychologie. Das wird im Zuge der Entwicklung der Psychologie als empirisch arbeitende Wissenschaft zunehmend problematisch, da sie sich nun nicht mehr dem Mittel der Introspektion bedienen kann, sondern ihre Arbeitsweise an den Naturwissenschaften ausrichten muss 323. In seiner Straßburger Rektoratsrede »Geschichte und Naturwissenschaft« aus dem Jahr 1894 erläutert Windelband sein Verständnis des Verhältnisses von Geistes- und Naturwissenschaften. Es geht ihm um eine wissenschaftliche Selbstverständigung. Er entwickelt eine Wertephilosophie, in der er das Wahre, Gute und Schöne innerhalb der Logik, Ethik und Ästhetik behandelt. Seine transzendentale Wertephilosophie steht auf dem Primat der praktischen Vernunft 324. Durch eine kritisch-philosophische Analyse der Wissenschaften hat er im Weiteren den Anspruch, eine Kulturphilosophie zu entwickeln. Sein Begriffspaar der nomothetischen Gesetzeswissenschaft auf der einen und idiographischen Ereigniswissenschaften auf der anderen Seite lösen die alte Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ab. Diese scharfe Trennung der beiden Bereiche hält er für falsch und will sie aufheben. Windelband ist in diesem Punkt ein Denker der Vermittlung. In der Historiographie hat das konkrete Ereignis, das Singuläre, eine viel größere Bedeutung als innerhalb der Naturbetrachtung. 325 Es dient ihm nur als ein Beispiel und Hilfsmittel, um allgemeine Gesetzmäßigkeiten herausarbeiten zu können: Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeit neu zu beleben. Er hat an demjenigen, was wirklich war, eine ähnliche Aufgabe zu erfüllen, wie der Künstler an demjenigen, was in seiner Phantasie ist. Darin wurzelt die Verwandtschaft des historischen Schaffens mit dem ästhetischen und dem der historischen Disziplinen mit den belles lettres 326.

Den Naturwissenschaften hingegen konstatiert Windelband ein abstraktes, distanziertes Verhältnis zur Wirklichkeit: Siehe Beiser 2011, S. 365–381. Windelband: »Geschichte und Naturwissenschaft«, in: Präludien Bd. II, Tübingen 11883, 81921, S. 136–160. 325 »Für den Naturforscher hat das einzelne gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert.« Windelband 1883: »Geschichte und Naturwissenschaft«, S. 150. 326 Windelband 1883: »Geschichte und Naturwissenschaft«, S. 150. 323 324

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[U]nd was sie [die Geschichte] liefert, das sind Bilder von Menschen und Menschenleben mit dem ganzen Reichtum ihrer eigenartigen Ausgestaltungen, aufbewahrt in ihrer vollen individuellen Lebendigkeit […]. Aus der farbigen Welt der Sinne präpariert sie [die Naturwissenschaft] ein System von Konstruktionsbegriffen heraus, in denen sie das wahre, hinter den Erscheinungen liegende Wesen der Dinge erfassen will, eine Welt von Atomen, farblos und klanglos, ohne allen Erdgeruch der Sinnesqualitäten, – der Triumph des Denkens über die Wahrnehmung. Gleichgiltig gegen das Vergängliche, wirft sie ihre Anker in das ewig sich selbst gleich Bleibende; nicht das Veränderliche als solches sucht sie, sondern die unveränderliche Form der Veränderung 327.

Die historischen Disziplinen bilden die vielfältigen Erscheinungen der Wirklichkeit für Windelband adäquater ab als die Naturwissenschaften mit ihrem distanzierten Blick: Da es somit kein in den allgemeinen Gesetzen begründetes Ende gibt, bis zu welchem die Kausalkette der Bedingungen zurückverfolgt werden könnte, so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nichts, um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem historischen und individuellen Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit – etwas Unaussagbares, Undefinierbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies Unfaßbare erscheint vor unserem Bewusstsein als das Gefühl der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen Freiheit 328.

In seinem Vortrag »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage« 329 aus dem Jahr 1904 untersucht Windelband folgende zwei Kernfragen: »Was soll aus dem Kritizismus werden?« und »Wie müssen wir Kant recht verstehen, um über ihn hinauszugehen?«. 330 Den Grund für das »begierige Greifen« nach Kants Philosophie sieht er in der Sogwirkung gegeben, die die Unerkennbarkeit des »Ding an sich« ausübt. Zugleich konstatiert er um 1860 den »Tiefstand der philosophischen Interessen, der fast leidenschaftlichen Ablehnung metaphysischer Fragen und der Beschränkung auf die Arbeiten der SpeziWindelband 1883: »Geschichte und Naturwissenschaft«, S. 151–152. Windelband 1883: »Geschichte und Naturwissenschaft«, S. 159. Dilthey würde an dieser Stelle von dem »Geheimnis der Person« sprechen. Siehe Kapitel 3.3.3.1. 329 Wilhelm Windelband: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, in: Präludien Bd. I, 11883, 81921, S. 147–167. 330 Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 147–148. 327 328

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alwissenschaften.« Hierdurch erklärt er sich die Popularität der KrV bei Naturforschern, die sich ihrer ebenfalls »begierig« bedienen. Die Attraktivität liege in der Unerkennbarkeit des ›Ding an sich‹ sowie in dem mathematischen Unterbau der Erfahrungswelt 331. Windelband beschreibt das geistige Lebens seiner Zeit als eine des Zerfalls. Der Kritizismus sei ein Grund für die Überwindung des Materialismus, der keine verlässliche Basis für die Philosophie mehr darstelle. Zugleich erstarken Denkmotive, »welche auf die Erfassung eines geistigen Lebensgrundes der Dinge, im Gedanken, in der Phantasie, im Willen gerichtet sind«. Laut Windelband verlange die Volksseele nach dem bestimmten und bestimmenden Ausdruck dessen, was sie bewegt: in Kunst und Literatur haftet und tastet sie nach dem Ungewöhnlichsten, um sich daran und darin zu formen, und in der Bedrängnis ihrer sozialen und religiösen Erregungen erheischt sie gebieterisch von der Philosophie das, ohne das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist: eine Weltanschauung. So haben wir es erfahren, wie am Ende des 19. Jahrhunderts Wissen und Leben den ›Mut der Wahrheit‹ wiedergefunden haben, den Hegel an seinem Anfange verlangt und den es verloren hatte. 332.

Mit dem Erstarken der Naturwissenschaft sieht Windelband eine Parallele zu der Geschichtswissenschaft gegeben. Erst nach Kant sei die Geschichtsschreibung von den belles lettres zur Wissenschaft geworden 333. Die Aufgabe der philosophischen Weltanschauung, d. h. der

331 »So wirkte Kant zunächst, gerade wie bei seinen Lebzeiten, wieder mit den negativen Ergebnissen seiner Erkenntnislehre. Damals war es eine Kontrastwirkung gewesen gegen die Alleswisserei des Rationalismus und des Popularphilosophentums, die der Alles Zermalmende ein für allemal abtat: jetzt war es eine Erscheinung der Sympathie, mit der man sich an der philosophischen Rechtfertigung des eigenen Empirismus freuen zu dürfen glaubte. Dieser Sachlage entsprach es, daß die ersten Auffassungen und Umwandlungen, die der ›Neukantianismus‹ erfuhr, den ›Antimetaphysizismus‹ besonders betonten und sich selbst zum Teil relativistischen und positivistischen Neigungen zuwandten.« Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 148. 332 Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 149. 333 »Es gehört zu den eigentümlichsten Erscheinungen im geistigen Leben des 19. Jahrhundert, daß neben der imposanten, namentlich nach außen eindrucksvollen Entfaltung der Naturwissenschaft als ein stillerer, aber stetiger und zielsicherer Vorgang die Erhebung der Historie ›zum Rang einer Wissenschaft‹ einhergegangen ist.« Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 154.

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Metaphysik, bestehe in der Hinterfragung der Ergebnisse aus naturwissenschaftlicher Forschung. Dieser soll nicht die alleinige Deutungshoheit überlassen werden 334. Windelband teilt Kants »bestirnten Himmel« in den Bereich der Gesetzeswissenschaften ein und »das moralische Gesetz in mir« der Wertwissenschaft zu, allen voran der Geschichtsschreibung. 335 Im Gegensatz zu den Marburgern erwartet Windelband von der kritischen Philosophie die Errichtung einer soliden Basis für eine Weltanschauung: Es drängt alles darauf hin, daß die kritische Philosophie, wenn sie die Lebenskraft, die sie ein Jahrhundert lang bewahrt hat, auch in der Bewältigung der intellektuellen Bedürfnisse der Gegenwart bewähren soll, sich fähig erweisen muß, mit ihrem Begriffssystem eine Weltanschauung zu tragen, welche den geistigen Wertinhalt der Wirklichkeit in sicherem Bewußtsein zu erfassen vermag. Sie hat dazu das Recht und den Beruf, weil sie, den kantischen Grundlagen gemäß, die Gründe allgemein giltiger und notwendiger Überzeugungen in dem ganzen Umfange menschlicher Kulturtätigkeit, im sittlichen und geschichtlichen Leben, in Kunst und Religion ebenso wie in den Wissenschaften zu suchen angewiesen ist. 336.

In der Rede »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie« 337 berichtet Windelband 1907 über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie. Er charakterisiert seine Zeit als eine des Übergangs, »die Formel von der Umwertung aller Werte ist in aller Munde« 338. Es sei eine Schwellenzeit, eine Zeit der Verunsicherung, die nach einem Halt im Bekannten verlangt. Seinen Zeitgenossen konstatiert er in den 1850/60ern ein philosophisches Desinteresse. Diese Zeit sei von dem geschichtsvergessenen Materialismus und Pessimismus geprägt. Kuno Fischers Kantdarstellung habe die materialistische Strömung

334 Welches »Recht wir haben, dem objektiven Weltbilde, das uns die Wissenschaften als das notwendige und allgemeingiltige Denken der Menschheit darbieten, die Kraft zu Erfassung der Realität, die absolute Wirklichkeit zuzutrauen?« Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 160. 335 Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 161. 336 Windelband 1883: »Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage«, S. 165. 337 Wilhelm Windelband: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, in: Präludien Bd. II, 11883, 81921, S. 1–23. 338 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 3.

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zum Stillstand gebracht bzw. aus der Wissenschaft in die Populärphilosophie gedrängt: Der Neu-Kantianismus, der sich in diesem Sinne als eine fast ausschließlich erkenntniskritische Philosophie ausbildete, konnte seine Deutung der kantischen Lehre mit der Autorität Schopenhauer’s decken und fand seinen Eingang nicht nur bei den Naturforschern, sondern auch bei den Theologen, die damit einverstanden waren, daß die philosophische Erkenntnis sich zu den großen Problemen der Weltanschauung nur problematisch verhalten sollte 339.

Methodisch könne hinter Kant nicht zurückgegangen werden, da der Versuch, »ein solches Weltbild lediglich aus rein formalen Begriffen herausspinnen zu wollen: eine solche Metaphysik, ein solches Wissen rein aus sich selbst« entwickeln zu wollen, »durch Kant ein für alle mal abgetan« 340 sei. Windelband sieht die Aufgabe der Philosophie in der Freilegung der letzten Erkenntnisgründe. Philosophie als Kritik verstanden arbeite aus den Einzelwissenschaften die Prinzipien heraus, auf denen ihr Erkenntnisstreben beruht, um die »innere Struktur der intellektuellen Arbeit aller jener besonderen Disziplinen zu verstehen und die fachlichen Voraussetzungen zu gewinnen, die ihren Geltungsgrund in sich enthalten« 341. Eine »kritisch-philosophische Untersuchung der Wissenschaft« gestalte sich so zur »bewußten Erfassung des Kulturinhaltes der Menschheit« 342. Windelbands erkenntnistheoretische Position ist geprägt von den Begriffen der Konstruktion sowie Produktion: »So entsteht durch analysierende Auswahl und synthetische Neuverbindung aus der Wahrnehmung der Begriff«. Dabei ist der Inhalt der Vorstellung »niemals eine einfache Kopie der Wirklichkeit, ein Abbild des Dinges, sondern er ist ein Erzeugnis des auswählenden und zusammenfügenden Denkens«. Windelband betont die konstruktive Leistung, die »im

339 Windelband 1883, S. 7. Gemeint ist Kuno Fischer: Immanuel Kant und seine Lehre. Erster Theil. Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. München 31882 (Geschichte der neuern Philosophie). 340 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 9. 341 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 9–10. 342 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 11.

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Denken und vom Denken selbst erzeugt« 343 wird. Hierin ist eine Übereinstimmung mit den Marburgern zu sehen. Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es ihnen zufolge, die Prinzipien zu bestimmen, nach denen die Auswahl und Neuverknüpfung der Merkmale in der wissenschaftlichen Begriffsbildung vonstatten geht. Für Windelband unterscheiden sich Geschichte und Naturwissenschaft nicht substanziell voneinander, sondern in ihrer Haltung, die Ereignisse als Prozess aufzufassen: Der wissenschaftliche Charakter einer allgemeingültigen Erkenntnis gewinnt also die historische Forschung im Unterschiede von den Naturwissenschaften nur dadurch, daß wir die Geschichte als die fortschreitende Verwirklichung der Vernunftwerte, daß wir sie als den Prozeß der Kultur betrachten, worin sich aus dem Gewirre menschlicher Interessen und Leidenschaften der allgemeingültige Wertinhalt des geistigen Lebens zum Bewußtsein und zur Verwirklichung emporringt 344.

Nach Windelbands Vorstellung soll sich die Philosophie der Geschichte als Werkzeug bedienen. Die Geschichte soll zum Organon der Philosophie werden, wie es früher nur die Naturforschung gewesen ist, und wenn diese Einsicht vor hundert Jahren in dem deutschen Idealismus aus rein begrifflichen und zum Teil metaphysischen Motiven entwickelt worden ist, so zwingt uns heute der lebendige Zusammenhang, in welchen die Philosophie mit der Arbeit der besonderen Wissenschaften stehen soll, unausweichlich dazu, dies Prinzip wieder aufzunehmen und fortzuführen 345.

In seinem Vortrag »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus« 346 des Jahres 1910 entwickelt er seine Kulturphilosophie dezidiert im Ausgang von Kants Transzendentalphilosophie. Er unterscheidet die Philosophie der Kultur als geforderte, aufgegebene Kultur von der Kulturphilosophie als geschichtlich vorgefundene, gegebene Kultur. In diesem Vortrag betont er die Bedeutung der konstruktiven Bezugnahme auf die Welt: 343 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 17. 344 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 20–21. 345 Windelband 1883: »Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie«, S. 21. 346 Wilhelm Windelband: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, in: Präludien Bd. II, 11883, 81921, S. 282–295.

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Daß wir die Welt, die wir erleben sollen, erst selbst uns zu eigen machen müssen, beruht darauf, daß wir immer nur eine Auswahl und diese immer nur in einem geordneten Zusammenhange erleben können, und daß die Prinzipien für die Auswahl wie für die Ordnung nur in der Struktur unseres Bewußtseins selbst gesucht werden können 347.

Die tätige Vernunft des Menschen sei beobachtbar und lasse sich anhand der kulturellen Hervorbringungen beschreiben. Windelband zufolge ist der Kritizismus zwar »aus der inneren Notwendigkeit der Sache«, aber »ungewollt in seiner Leistung eine Kulturphilosophie – die Kulturphilosophie geworden […]. In dem Bewußtsein der schöpferischen Synthesis ist die Kultur zur Selbsterkenntnis gelangt: denn sie ist ihrem innersten Wesen nach nichts anderes« 348. Windelbands Überlegungen gipfeln in dem Satz: »Es ist der Verstand, der der Natur Gesetze vorschreibt« 349. Der Begriff der Nation hat für Windelband in seiner Zeit ein starkes Gewicht. Das Humanitätsideal »schwebt uns nicht mehr in der verschwommenen Einheit des aufklärerischen Kosmopolitismus, sondern in der stärksten Differenzierung nationaler Sonderkulturen vor« 350. Kulturarbeit ist für ihn eine bewusste Lebensgestaltung. Das Bedürfnis nach einer Weltanschauung erwächst daraus. Das gemeinsam einigende Band ist seiner Ansicht nach »das Selbstbewußtsein der Vernunft, die ihre Gegenstände und in diesen das Reich ihrer Geltung selbst erzeugt« 351. Das entspräche der fundamentalen Lehre des transzendentalen Idealismus. Der letzte Zusammenhang aller kulturellen Hervorbringungen bleibe zwar unerforschlich, aber »es bleibt uns der Trost, daß jedes dieser in uns neugeformten Stücke eben je-

347 »Wenn es demnach überhaupt allgemeingiltige und notwendige Urteile geben soll, wie sie tatsächlich die ›Erfahrung‹ ausmachen, so ist das nur dadurch möglich, daß mitten in den empirischen Assoziationen und Apperzeptionen eine transzendentale Synthesis waltet, eine in den Sachen selbst begründete, von den Bewegungen des empirischen Bewußtseins unabhängige Zusammengehörigkeit der Elemente.« Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 282–283. 348 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 289. 349 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 291. 350 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 291. Besonders hier ist noch einmal an die These von Jörn Bohr zu erinnern, dass Windelbands Worte »offiziös gemeint, wenn nicht gleich als offizielle Verlautbarung zu verstehen« seien. Siehe S. 97. 351 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 292– 293.

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nem allgewaltigen Zusammenhange wahrhaft eingeordnet ist« 352. Das Ding an sich, eine Welt hinter derjenigen der Erscheinung, so wie Kant sie vorgestellt hat, ist nicht mehr notwendig. Die praktische Vernunft sei an ihre Stelle getreten. Für Windelband meint Kants Ding an sich nicht eine Welt hinter derjenigen der Erscheinungen, die für uns nicht erkennbar ist, sondern es stellt für ihn einen Grenzbegriff dar. Die anthropologische Konstante der Vernunfttätigkeit ordnet er der Bedeutung der Person unter. Für ihn ist nicht das Individuum die schöpferische Kraft in der Erzeugung der Gegenstände, sondern »wir sind dabei, sofern es sich um echte Kulturwerte handelt, niemals als Individuum, ja nicht einmal als Exemplare unserer Gattung, sondern als Wohnstätte und Träger übergreifender und deshalb sachlich im Wesen der Dinge selbst begründete Vernunftfunktion tätig« 353. Letztendlich bleibe jedoch ein »unbegreifliches Geheimnis aller geistigen Tätigkeit« 354 übrig. Windelband ist vor allem als Schreiber von Darstellungen zur Geschichte der Philosophie sowie als wichtige Person hinsichtlich der institutionellen Verankerung der Philosophie in ihre Geschichte eingegangen. Weder Befürworter noch Gegner Kants können sich dem Diskurs um seine Philosophie entziehen. So diente die kantische Philosophie auch Windelband als Basis, von der aus er seine Wertphilosophie entwickelt. Anders als die Marburger vertraut Windelband dabei nicht auf die Naturwissenschaften, sondern ist von dem hohen Stellenwert der Kultur für den Menschen überzeugt. Neben seinen Reden anlässlich kantischer Feiern liefert er profunde Analysen zu dem Zustand der gegenwärtigen Philosophie. Windelband hält die KdU für die bedeutendste von Kants Werken. In der AA ediert er genau diese Schrift. Nicht nur Windelband hat Darstellungen zur Philosophiegeschichte verfasst, sondern auch seine Kollegen Friedrich Ueberweg, Kuno Fischer sowie Johann Eduard Erdmann. Sie arbeiten an der Popularisierung kantischer Werke durch ihre Darstellungen zur Geschichte der Philosophie.

352 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 293– 294. 353 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 294. 354 Windelband 1883: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, S. 294.

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2.6 Popularisierung Kants 2.6.1 Kant in Lehrbüchern. Darstellungen der Geschichte der Philosophie: Friedrich Ueberweg, Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer In den Darstellungen zur Geschichte der Philosophie von Friedrich Ueberweg, Johann Eduard Erdmann sowie Kuno Fischer stehen nicht nur die Diskussion um die erste und zweite Auflage der KrV im Vordergrund, sondern sie enthalten auch Bewertungen bereits bestehender Editionen. Friedrich Ueberweg stellt die Philosophiegeschichte in seinem Grundriss nicht anhand des Entwicklungsfortschritts dar, sondern untersucht sie »auf ihre bleibende Wahrheit und Gültigkeit für unser gegenwärtiges philosophisches Bewusstsein« 355. Von den Kanteditionen bewertet er die erste Hartenstein’sche »im Einzelnen zum Theil correcter«, die Ausgabe von Rosenkranz/Schubert als »eleganter und reicher an Material und an anregenden Betrachtungen« 356. Die editorische Entscheidung, das Material nach systematischen Gesichtspunkten zu ordnen, fällen beide Herausgeber. Hartenstein ordnet in seiner ersten Edition die kantischen Schriften nach Logik, Metaphysik, praktischer Vernunft, Urteilskraft und Naturphilosophie. Rosenkranz/Schubert differenzieren Logik (inklusive Metaphysik) sowie Natur- und Geistesphilosophie. »Das letztere Verfahren ist das übersichtlichere; weit vorzüglicher aber möchte eine (nur durch Zusammenstellung der Briefe, wie auch vielleicht einzelner Complexe von Abhandlungen eingeschränkte) chronologische Ordnung des Ganzen sein, die Kant’s Entwicklungsgang zur Anschauung brächte« 357. Die weiteren Editionen können erst ab der dritten Auflage des Grundrisses 1924 vorgestellt werden. In Bezug auf die AA wird die Veröffentlichung der Briefe gelobt, die für die »Kenntnis von Kants Leben und Charakter, wie dem Verhältnis zu seiner Zeit, sowie für seine Philosophie und deren Entwicklung« 358 unabdingbar seien.

355 Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit von dem Aufblühen der Alterthumsstudien bis auf die Gegenwart. 3. Theil: Die Neuzeit. Berlin 1866, S. VI. 356 Ueberweg 1866, S. 128. 357 Ueberweg 1866, S. 128. 358 Friedrich Ueberwegs Grundriss. Dritter Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum

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Auch Johann Eduard Erdmann bringt im Jahr 1866 eine Philosophiegeschichte heraus. In seiner Darstellung der Geschichte der Philosophie findet sich bezüglich der Streitfrage um die erste und zweite Auflage der KrV die Position, dass die transzendentale Deduktion »in den Prolegomenen und der zweiten Auflage der Kritik verkürzt, aber nicht gerade verbessert« 359 sei. Erdmann ist nicht der Ansicht, dass ein Werk letzter Hand das am weitesten entwickelte sei. Im Weiteren geht Erdmann auf die Kritik seiner Zeitgenossen an der zweiten Auflage der KrV ein. Hier geht es um Kants Auseinandersetzung mit dem Idealismus: Man hat aus dem Umstande, dass in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft […] die Widerlegung des Idealismus […] aufgenommen ist, darin Aengstlichkeit, Inconsequenz und wer weiss was gefolgert […]. Man vergisst aber weiter, dass auch in der ersten Auflage sich Kant sehr entschieden gegen Berkeley ausgesprochen hatte, in dem Abschnitt von der Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena […] 360.

Erdmann vertritt damit im Streit um A und B eine gemäßigte Position, die nicht eine Auflage favorisiert, sondern in beiden eine Kritik des Idealismus herausliest. Kuno Fischer will genauer untersuchen, ob die »verschiedenen Darstellungsformen und -fragen […] auch in der Sache verschiedene Entwicklungsformen sind« 361. Fischer gibt sich in seiner Geschichte der Philosophie als Gegner der Kantphilologie zu erkennen. Er bezeichnet diese als »ungeheuerlichen Namen« und stellt sich in Opposition zum Neukantianismus. Er konstatiert, dass »dieses Jahrhundert […] von Kants Philosophie zur ›Kantphilologie‹« gehe, »wie einige der heutigen ›Neukantianer‹ die Art ihrer Industrie bezeichnen« 362. Er hält ihren Ansatz für falsch, den Wert der KrV einzig und allein aus der Deduktion zu schließen: »Denn es ist eine völlig schiefe und falsche Meinung, daß die Deduction der reinen Verstandesbegriffe ›den wertvollsten Bestandtheil der Vernunftkritik‹ ausEnde des achtzehnten Jahrhunderts. 12. neubearb. Auflage hg. von Max FrischeisenKöhler und Willy Moog. Berlin 121924, S. 544. 359 Johann Eduard Erdmann: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Zweiter und letzter Band. Philosophie der Neuzeit. Berlin 1866, S. 328. 360 Erdmann 1866, S. 336. 361 Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. 3. Bd.: Immanuel Kant und seine Lehre. Erster Theil. Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. 3., neu bearb. Aufl., München 31882, S. 545. 362 Fischer 1882, S. 546. Kant als Klassiker der Philosophie

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mache, als ob die übrigen Bestandtheile, insbesondere die transzendentale Aesthetik, weniger werthvoll und am Ende entbehrlich wären« 363. Vielmehr will Fischer den Aufbau der einzelnen Teile zum Gesamtwerk betrachten und die Kernaussage der KrV im Blick behalten. Die Deduction der reinen Verstandesbegriffe ist ein Theil der transscendentalen Analytik, diese ein Theil der Vernunftkritik. Etwas anderes ist der ›werthvollste Bestandtheil‹ des Ganzen, etwas anderes die wichtigste und schwierigste Untersuchung in einem Theile des Ganzen. Solche Unterschiede muß man kennen und beachten, bevor man es unternimmt, einen Philosophen wie Kant ›philologisch‹ zu interpretiren, mit der angenommenen Miene, auf solchem Wege zum erstenmale der Welt die Augen über den Ideengang dieses Denkers zu öffnen 364.

Fischer benutzt die erste Hartenstein’sche Ausgabe und extrahiert aus ihr die Hauptfrage der KrV: »[W]as und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen? und nicht: wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?« 365. An der Edition moniert er die typographische Absetzung der Erläuterungen von den Zusätzen der Prolegomena: »[E]in solches Verfahren kommt nicht die mindeste wissenschaftliche Bedeutung zu« 366.Den Streit um A und B fasst er mit den Fragen zusammen, ob die in der Darstellung vorhandenen Differenzen die Grundlage der kantischen Lehre treffen oder nicht? Wenn sie als Veränderungen der Lehre selbst gelten, so wird gestritten: ob der wahre Charakter derselben in der ersten oder in der zweiten Ausgabe der Kritik am reinsten gewahrt sei, ob die letztere eine widerspruchsvolle Entstellung oder eine richtige Fortbildung der Lehre enthalte? 367.

Fischer setzt mit seiner Darstellung des Vergleichs von A und B beim Idealismus an: »In ihrer größten Spannung erscheint die Differenz der beiden Ausgaben, wenn man die ›Widerlegung des Idealismus‹, die Kant in der zweiten Ausgabe hinzugefügt hat, mit dem ›ParalogisFischer 1882, S. 547. Fischer 1882, S. 547. 365 Fischer 1882, S. 548. 366 Fischer 1882, S. 554. Auch Benno Erdmanns 1881 erschienenen Nachträge zu Kants Kritik der reinen Vernunft beurteile Fischer kritisch. Sie seien »eine für Kants Buchstabenverehrer willkommene, für uns werthlose Beschreibung eines beschriebenen Handbuches.« Fischer 1882, S. 558. 367 Fischer 1882, S. 559. 363 364

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mus der Idealität‹ und der ›Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre‹, die hier weggelassen sind, vergleicht« 368. Kant spreche lediglich von marginalen Auslassungen, Jacobi hingegen hält sie für höchst bedeutsam. Schopenhauer bewertet die zweite Ausgabe gar als misslungen, auf dessen Aussage sich Fischer in seiner Darstellung bezieht: »Der Verlust, den die erste Ausgabe durch die Weglassungen, namentlich in den Paralogismen, erlitten, verhalte sich zu dem Ersatz, den die zweite Ausgabe dafür gebracht habe, wie das amputirte Bein zum hölzernen« 369. Schopenhauer begründet Kants Änderungen, die er als »verstümmelt, verunstaltet, verdorben« bewertet, mit Kants »Menschenfurcht, entstanden durch Altersschwäche« 370. Schopenhauers Ablehnung geht so weit, dass er Rosenkranz in einem Brief empfiehlt, die erste Auflage zu Textgrundlage seiner Edition zu machen. Aus philosophischer Sicht geht es Fischer zufolge Schopenhauer darum, »ob Kant den neuen und epochemachenden Grundcharakter seiner Lehre, den er selbst durch den Namen des ›transzendentalen Idealismus‹ bezeichnet, in der ersten Ausgabe der Vernunftkritik in seiner vollen Reinheit gewahrt und ausgeführt, dagegen in der zweiten durch eine andere Art der Auffassung und Begründung des Dinges an sich verleugnet und bis zur Unkenntlichkeit entstellt habe« 371. Fischer hält es editorisch für sinnvoll, aus A und B einen Text zu konstituieren, indem die Abweichungen vereinigt werden. Wie das darstellungstechnisch gelöst werden soll, lässt er jedoch offen. Die Editoren, die auf A als Grundtext für ihre Edition zurückgreifen – Rosenkranz/Schubert 1838–1842 (A), Kehrbach 1877–84 (A); Hartenstein 1867 (B), Erdmann 1878 (B) – begründen ihre Entscheidung mit dem Prinzip der editio princeps. Dieses hält Fischer für legitim, da der Text in seiner ursprünglichen Reinheit präsentiert werde: Indessen halte ich den Ausgabenstreit für müßg und zwecklos. Was ist denn zu vermissen oder zu fordern, wenn uns der Text der Vernunftkritik nach Fischer 1882, S. 559. Fischer 1882, S. 562. 370 Siehe die Ausgabe von Kehrbach 1877, S. IV, in der der Brief abgedruckt ist. Maja Schepelmann stellt die These auf, dass Schopenhauers »trotzige Auflehnung« gegen A von der Ambition getragen sei, als eigentlicher Vollender von Kants angestrebtem Systemprogramm aufzutreten, welches aufgrund besagter Altersschwäche nicht zum Abschluss gereichte. Maja Schepelmann: Der senile Kant? Zur Widerlegung einer populären These. Paderborn 2018, S. 30. 371 Fischer 1882, S. 566. 368 369

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der ersten Recension mit den Varianten der zweiten oder nach der zweiten Recension mit den Varianten der ersten geliefert wird? Aus philosophischen Gründen ist nichts zu vermissen 372.

Er sieht die Frage, ob B etwas wesentlich Neues enthält, nicht als eine an, die Editoren entscheiden sollten. Hierin stimmt Fischer mit der editorischen Praxis von Hartenstein und Kehrbach überein 373. Fischer zufolge geht es in A und B im Kern um folgende Inhalte: A: »Lehre von der Entstehung der Erscheinungen durch die intellektuellen Factoren der Einbildung und des Verstandes« B plus Prolegomena: »Verknüpfung der Erscheinungen durch die Begründung des reinen Verstandes« 374.

Nach Fischers Ansicht ist das Verhältnis vom Ding an sich zum Ding in der Welt der Erscheinung nicht so zu fassen wie das von Kern und Schale. »Raum und Zeit sind die Grundformen aller Erscheinungen und nur dieser; daher sind die Dinge an sich nicht in Raum und Zeit« 375. Fischer kritisiert, dass viele Herausgeber diesem Irrglauben anhängen und ihn in ihren Einleitungen zu den jeweiligen Gesamtausgaben als kantische Philosophie verbreiten. Fischer zufolge besteht zwischen A und B eine Kluft. Er betrachtet beide Auflagen als getrennte Werke. Daher stellt für ihn B keine Verbesserung resp. Weiterentwicklung von A dar: Kant hat in keinem seiner Aussprüche den Text und Lehrinhalt der ersten Ausgabe verleugnet. Wenn er zwölf Jahre nach der zweiten (den 7. August 1799) öffentlich erklärt hat, daß die ›Kritik nach dem Buchstaben und blos aus dem Standpunkte des gemeinen, nur zu solchen abstracten Untersuchungen hinlänglich cultivirten Verstandes zu verstehen sei‹, so erkennen wir hieraus von neuem das Bestreben des Philosophen, das Verständniß seines Werkes dem gewöhnlichen Bewußtsein anzunähern. Aber es ist, wenn wir die beiden Ausgaben der Kritik mit einander oder auch nur die zweite mit sich selbst vergleichen, unmöglich, seiner Forderung zu gehorchen und die Kritik buchstäblich zu verstehen. Denn was Kant an gewissen Stellen, die wegbleiben konnten, buchstäblich behauptet hat, widerstreitet

Fischer 1882, S. 565. Benno Erdmann hat ein anderes Selbstverständnis. Er ist geleitet von der Rezeptionsorientierung: B wurde über fünfzig Jahre lang gelesen, darum wählt er diese Auflage als Grundtext seiner Separatausgabe. 374 Fischer 1882, S. 567. 375 Fischer 1882, S. 572. 372 373

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den buchstäblichen Grundlehren, die nicht weggelassen werden durften und nicht weggeblieben sind 376.

Alle drei Philosophiegeschichtsschreiber leisten in unterschiedlichem Maße einen Beitrag zur Würdigung und kritischen Begleitung von Editionen und ihren editorischen Entscheidungen 377. Ueberweg bewertet die Editionen von Hartenstein sowie Rosenkranz/Schubert unter strukturellen Gesichtspunkten. Erdmann benennt die Vorwürfe, die gegen Kant aufgrund der Umarbeitung von A erhoben worden sind. Fischer will Kant dem Geist nach lesen und äußert sich spöttisch gegenüber den ›Buchstabenverehrern‹. Er kommt auf Schopenhauers Einfluss auf die Rosenkranz-Edition zu sprechen. Typographische Aspekte moniert er an den Editionen. Fischer favorisiert bei der Debatte um A und B die Herstellung eines kontaminierten Textes. Die Entscheidung der Editoren, nach dem Prinzip der editio princeps zu edieren, hält er für legitim. Neben den Darstellungen zur Geschichte der Philosophie und ihrer Auseinandersetzung mit der editorischen Bearbeitung kantischer Texte stellen die neu gegründeten Philosophischen Seminare den Ort der intensiven Kantlektüre dar.

2.6.2 Kant in der universitären Lehre Die intensive Auseinandersetzung mit Kant setzt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. In den 1840er Jahren ist es Hegel, über den die größte Zahl an Lehrveranstaltungen abgehalten wurden. Nach der Reichsgründung 1871 ändert sich das maßgeblich: Nun stehen Veranstaltungen über Kant an der Spitze. An neunzehn Orten 376 Fischer 1882, S. 576. Fischer bezieht sich hierbei auf »Kants Erklärung in Beziehung auf Fichtes Wissenschaftslehre«, in der es heißt, »daß die Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß eine Propädevtik zur Transscendental=Philosophie, nicht das System dieser Philosophie selbst, liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können, da ich selbst das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Crit. der r. V. für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen habe. [S]o erkläre ich hiermit nochmals, daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen, und bloß aus dem Standpunkte des gemeinen nur zu solchen abstracten Untersuchungen hinlänglich cultivirten Verstandes zu betrachten ist.« AA, Bd. XII, S. 370. 377 Ob die Editoren der AA über ebensolche Entscheidungen vergleichbar intensiv diskutierten, wird in Kapitel 3.3.2 untersucht.

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wird ab 1871 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches Philosophie unterrichtet 378. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind an allen Universitäten (Rostock ausgenommen) mehr als 500 Personen immatrikuliert. Mit mehr als 1300 Studenten sind die größten Universitäten Berlin, München, Leipzig, Breslau, Halle und Bonn 379. Zwischen den Semestern 1860 und 1880 erreicht die Berliner Universität mit durchschnittlich siebzehn philosophischen Lehrveranstaltungen den höchsten Wert. Getragen werden diese von durchschnittlich neun Lehrpersonen. In Marburg nimmt diese Anzahl von vierzehn im Jahr 1860 auf vier im Jahr 1880 ab. Die Werte korrelieren mit der Anzahl der philosophischen Lehrer: Waren es im Jahr 1860 noch sechs, sind es 1880 nur noch zwei 380. Der Erwartungsdruck an das philosophische Lehrpersonal war von Seiten der Öffentlichkeit keineswegs gering. Nach Meinung des vehementesten Kritikers der Universitätsphilosophie, Arthur Schopenhauer, haben diese die Rolle des Wissenschaftlers und Intellektuellen in der Funktion eines Orientierungshelfers bei der Sinnsuche auszufüllen. »Schopenhauer, der die Kanonisierung des philosophischen Wissens explizit ablehnte und Philosophie verstand als ›Wissenschaft, die erst noch gefunden werden muß‹, artikuliert damit einen Teil der allgemeinen Erwartung an Philosophie, die das Wegweisende und Sinngebende anzeigen soll« 381. Die Universitätsphilosophie bewegt sich in einem Spannungsfeld aus den hohen Erwartungen von Teilen des Bürgertums und den internen Auseinandersetzungen mit den Naturwissenschaften sowie dem Ringen um ein genuines Selbstverständnis 382. Der Prozess, der sich zu dieser Zeit 378 Neben den Hochburgen des Neukantianismus Marburg und Freiburg sind dies: Bonn, Gießen, Würzburg, Heidelberg, Tübingen, Göttingen, Erlangen, München, Jena, Halle, Leipzig, Kiel, Rostock, Greifswald, Berlin, Breslau sowie Königsberg. 1872 kommt die neu gegründete Universität Straßburg hinzu. Münster wird nicht aufgelistet, da diese mit nur zwei Fakultäten keine vollständige Universität war. Ulrich Johannes Schneider: Philosophie und Universität. Historisierung der Vernunft im 19. Jahrhundert. Hamburg 1999, S. 49. 379 Schneider 1999, S. 54. 380 Siehe die Tabellen in Schneider 1999, S. 128–129. 381 Schneider 1999, S. 127. 382 »Die Universitätsphilosophie steht so seit dem 19. Jahrhundert in ungelösten Spannungen nicht nur zu Ansprüchen, die aus ihrem eigenen Wissenschaftsbegriff stammen, sondern auch zu solchen der allgemein praktizierten Religion, der Literatur und Kunst, der Technik und des politischen Denkens, die keineswegs als ›äußere‹ Ansprüche qualifiziert werden dürfen.« Schneider 1999, S. 23.

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im Fach Philosophie vollzieht, ist als »Professionalität des akademischen Tuns« 383 zu beschreiben. Die Vermittlung von philosophischem Wissen geschieht innerhalb des universitären Betriebes durch wissenschaftliche und literarische Texte. Diese Arbeit sei jedoch von der Öffentlichkeit keineswegs als solche legitimiert 384. Die Dozenten waren nicht durch Staat oder Kirche in ihrer Themenauswahl eingeschränkt, sondern sind frei in der Ausgestaltung ihrer Lehre. Daher ist es überraschend, dass die »Vorlesungsverzeichnisse aller deutschen Universitäten […] von Anfang bis Ende des Jahrhunderts eine gleichbleibende Verteilung der von Philosophen gelehrten Gegenstände bzw. Themen« aufzeigen 385. Daraus ergibt sich für die Studenten eine kanonisch eingeschränkte Präsentation der Vielfalt philosophischer Themen und bedeutet zugleich »für die Professoren eine Verpflichtung zu multipler Kompetenz« 386. An den Vorlesungsverzeichnissen sind diese wiederkehrenden philosophischen Themen ablesbar. »Die Universitätsphilosophie ist im 19. Jahrhundert eben das, was sich in der qualitativen Unveränderlichkeit dieses Kanons bestätigt« 387. Der Kanon bezeugt die »Interessenlage der jeweiligen Kultur« 388. Was von den Studenten gelesen werden soll, bestimmen die Empfehlungen der Professoren, die durch die Eingrenzung des TextSchneider 1999, S. 27. »Wenn nach Hegels Wort die Philosophie ›ihre Zeit in Gedanken erfaßt‹, ließe sich von der Universitätsphilosophie sagen, daß sie das Privileg besitzt, sich davon zu dispensieren. Sie beantwortet nämlich zunächst die Fragen, die sie sich selber stellt. Anders gesagt: Die öffentliche Rolle des Universitätsphilosophen ist nicht unmittelbar legitimiert, sondern durch die allgemeine Wertschätzung für akademisch-wissenschaftliche Arbeit.« Schneider 1999, S. 24. 385 Schneider spricht konsequenterweise von einem »Themenkanon«, der aus den fünf Bereichen Enzyklopädie, Logik, Psychologie/Anthropologie, Ethik/Rechtsphilosophie und Geschichte der Philosophie besteht. Schneider 1999, S. 81. 386 Schneider 1999, S. 83. 387 Schneider 1999, S. 86. 388 Dieter Henrich bezieht sich bei seinen Ausführungen zur Kanonbildung auf Richard Rorty: »Der Terminus ›Philosophie‹ werde nicht, wie man vorgibt, als deskriptiver Ausdruck gebraucht. Seine Gebrauchsweise ist ›honorific‹, als ehrgebend und statusverleihend […]. Unter diesem Namen wird ein Kanon der Probleme und der Autoren für eine Lektüre aufgerichtet, der für eine Kultur oder eine Gruppierung innerhalb ihrer maßgebend sein soll. Was diesen Kanon besetzt, bestimmt sich also nicht von der Ewigkeit der Fragen und der überzeitlichen Klassizität der Texte her. Bestimmend dafür ist die Interessenlage der jeweiligen Kultur.« Dieter Henrich: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011, S. 112–113. 383 384

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korpus der Philosophie eine Auswahl treffen. Dadurch arbeiten sie an der Klassikerbildung aktiv mit 389. Die Gründung der Philosophischen Seminare stellt ein Novum im akademischen Unterricht dar. Neben den Wissenstransfer durch Vorlesungen tritt nun eine andere Art der philosophischen Auseinandersetzung: die intensive textbasierte Arbeit zu dem Werk eines Philosophen. Im Gegensatz zu anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gibt es in der Philosophie Ende des 19. Jahrhunderts lediglich fünf solcher Seminare. Neben dem von Windelband in Straßburg gegründeten sind diese an den Universitäten Göttingen, Freiburg, Leipzig und Jena etabliert 390. Diese Etablierung einer neuen Lehrform kann als Demokratisierung der Lehre durch Textarbeit verstanden werden. »Es ist die ›Zwischenschaltung‹ des Textes in den seminarähnlichen Veranstaltungen nämlich auch als Öffnung des philosophischen Gesprächs zu sehen, das als Textinterpretation inventiv-heuristisch angelegt ist und nicht mehr dogmatisch gelenkt wird« 391. Editionen stellen eine sichere Textgrundlage bereit und sind als Voraussetzung für das Gelingen Philosophischer Seminare zu betrachten. Das Verhältnis von Textproduktion zu Textreproduktion ist dabei ein wechselseitiges 392. Das bedeutet, dass sich die editionspraktische Arbeit auf ein Original bezieht, es jedoch zugleich erst erzeugt, da sie es der Rezeption zugänglich macht. Der originale Text wird als Bezugspunkt wichtiger 393. Die Editionstätigkeit berührt ver389 »In der Philosophie scheint die pädagogische Ökonomie vor allem auf die Inhalte bezogen zu sein. Es werden bestimmte Einführungstexte für Anfänger und bestimmte Mustertexte für Fortgeschrittene empfohlen. Davon haben im späten 19. Jahrhundert Buchreihen wie die ›Philosophische Bibliothek‹ oder ›Reclams Universalbibliothek‹ profitiert. So kommt es bis ins 20. Jahrhundert zu einem Kanon universitätsphilosophischer Klassiker, bestehend aus einem harten Kern unvermeidlicher und einer rauhen Schale immer vermiedener Texte, dazwischen die Masse potentieller Literatur für Übungen und Qualifizierungsarbeiten. Historisierung als Kanonisierung – das ist ein sehr spürbarer Einschlag der pädagogischen Rücksicht.« Schneider 1999, S. 125. 390 Nur in Freiburg und Straßburg verfügen die Philosophischen Seminare über einen eigenen Etat. Schneider 1999, S. 115–116. 391 Schneider 1999, S. 127. 392 »Übertragen auf die ›Historisierung‹ der Philosophie im 19. Jahrhundert heißt das, daß die sich auf Philosophie beziehenden Reproduktionstechniken der Edition, Übersetzung, Analyse, Geschichtsschreibung etc. einerseits sekundär sind gegenüber dem ›Original‹, welches sie andererseits aber erst produzieren.« Schneider 1999, S. 250. 393 »Original und Interpretation sind keine festen Größen, mit denen sich rechnen ließe, sondern Operatoren eines hermeneutischen Kalküls, der spätestens im 19. Jahrhundert auch die Philosophie erfaßt. Der Originaltext der Philosophie wird in Mono-

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schiedene Bereiche des öffentlichen sowie wissenschaftlichen Lebens. Editionen verändern den Buchmarkt und verstärken die »philologische Gelehrsamkeit, die sich in der Bemühung um die Sammlung von ›Werken‹ ausdrückt« 394. Die Editionsproduktion als Teil der philosophiehistorischen Arbeit des 19. Jahrhunderts besitzt in großen Teilen den Charakter der Testamentsvollstreckung und dient dem Vermächtnis des zu Text gewordenen Denkers. […] [W]esentliches Motiv im Hintergrund der philosophiehistorischen Aktivität ist die Etablierung eines Kanons von Meisterdenkern und die Fixierung von Autorität an die Gestalt der zitierbaren Aussage. Philosophie wird in Form des authentischen Textes zum Kulturgut, das bewahrt und bewundert wird […]. Das Kommentieren erfaßt mit einer gewaltigen Kraft jeden großen Denker und entreißt ihn sozusagen seiner eigenen Zeit, indem es ihn historisch in den Kanon der philosophischen Literatur einstellt, dessen Gliederung dann zum Maß seiner Wertschätzung wird 395.

In den 1840er Jahren werden am meisten Veranstaltungen zu Hegel gehalten, die kontinuierlich angeboten werden 396. Aristoteles und Platon sind die beiden weiteren Klassiker in dieser Zeit. In diesem Zeitraum werden zu Kants Texten nur sporadisch Veranstaltungen angeboten. So gibt es in den 1840er Jahren mal keine, mal eine, jedoch maximal drei Veranstaltungen über ihn 397. Gelesen wird die KrV. Ganz anders gestaltet es sich bei Aristoteles: Betrachtet man das gesamte 19. Jahrhundert, dann ist er der Philosoph, über den am häufigsten und dabei kontinuierlich Veranstaltungen abgehalten worden sind. Ab den 1870er Jahren verändert sich die Veranstaltungsdichte zu Kants Texten maßgeblich. Jetzt lösen Lehrveranstaltungen über Kant diejenigen von Hegel ab. Cohen hält Veranstaltungen über die

graphien und Historiographien, Aufsätzen und Editionen als das Andere verstanden, das der eigenen Arbeit vorausliegt und sie an die Tradition anschließt.« Schneider 1999, S. 251. 394 Schneider 1999, S. 252. Die Idee einer Gesamtausgabe ist laut Schneider »immer von der Absicht der Vergegenwärtigung getragen, von dem Wunsch, ein Vergessen oder Verkennen aufzuheben oder zu korrigieren.« Schneider 1999, S. 259. 395 Schneider 1999, S. 253. 396 Die folgende Auswertung hat die Graphiken und Tabellen zu Lehrveranstaltungen in den Semestern 1820/21 bis 1855/56 in Schneider 1999, S. 111–120 sowie S. 128– 149 zur Grundlage. 397 In dem genannten Zeitraum gibt es 42 Veranstaltungen über Kant, die ausschließlich seine Texte zur Grundlage haben. Zum Vergleich: Zu Aristoteles gibt es 98, über Hegel 87 Lehrveranstaltungen. Schneider 1999, S. 112. Kant als Klassiker der Philosophie

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KrV, aber auch über Kants Ethik, seine Metaphysik und die Kritik der Urteilskraft ab 398. Dabei ist es schwierig zu beurteilen, welche Rolle die KrV in Veranstaltungen spielt, die allgemeine Titel wie »Darstellung der Kantischen Philosophie« oder »Philosophische Übungen über Kant« tragen 399. Im Zuge der Popularisierung der KrV scheint es jedoch sehr unwahrscheinlich, ein solches Seminar ohne dieses Werk abhalten zu können. Cohen gestaltet die Lehre vor allem im Hinblick auf Kants System. Auch in Bezug auf Dilthey lässt sich eine kontinuierliche Beschäftigung mit Kants Philosophie ablesen. Wie aus den Titeln ersichtlich, gibt er zwischen 1870 und 1885/86 Übungen fast ausschließlich zur KrV, jedoch mit einer großen Unterbrechung zwischen den Wintersemestern 1876/77 und 1882/83. Windelband bietet zwischen den Jahren 1873 und 1888 vor allem Übungen zur KrV und Prolegomena in Leipzig, Freiburg und Straßburg an. Benno Erdmann setzt sich am intensivsten mit der KrV auseinander. In den Sommersemestern 1877 bis 1879 bietet er eine allgemeine Darstellung zur kantischen Philosophie mit einer sich daran anschließenden Vertiefungsübung an 400. Auch Vaihinger setzt sich durchgängig mit der KrV auseinander. Ungewöhnlich ist seine Betrachtung der KrV mit der Brille der Gegner Kants im Sommersemester 1879 sowie seine Übung zu den vorkritischen Schriften Kants im Jahr 1880 401. Festhalten lässt sich zum einen ein großer Umbruch in der Veranstaltungsdichte von Hegel zu Kant ab dem Jahr 1871. Neben der Lektüre kantischer Texte an den Universitäten entstehen mit Vaihingers Kant-Studien eine Plattform für den Diskurs um Kants Philosophie. Zudem schafft er durch die zeitgleiche Gründung der Kant-Gesellschaft eine institutionelle Bindung. Die Kant-Feiern zu Jubiläen von Autor und Werk werden öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt.

398 Die folgende Auswertung hat die Tabelle zu Veranstaltungen über Kant zwischen 1862 und 1890 in Köhnke 1986, S. 585–600 zur Grundlage. 399 Siehe für die folgende Auswertung die Tabelle im Anhang, S. 237–240. 400 Siehe die Tabelle im Anhang, S. 239. 401 Siehe die Tabelle im Anhang, S. 240.

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2.6.3 Kant in der Öffentlichkeit. Kant-Studien, Kant-Gesellschaft und Kant-Feiern Die Kant-Studien werden 1896 von Hans Vaihinger mit dem Ziel gegründet, »Turnierplatz« und »Uebungsstätte« 402 für die diversen Kantinterpretationen zu sein. Neben Aufsätzen, Rezensionen und Überblicksdarstellungen neuer Zeitschriften stellen die KS für die AA das Rezensionsorgan dar. Die Verbindung von der AA zu den KS ist personell gesehen eng verflochten. Vaihingers Wunsch, dass Dilthey und die Mitarbeiter der AA in die Redaktion eintreten, sind sie nachgekommen 403. So verwundert es nicht, dass Vaihinger die Bedeutung einer »vollständigen Ausgabe der Werke Kants unter Benutzung des gesamten handschriftlichen Materials« 404 betont. Die geplanten Bände werden hier angekündigt und nach dem Erscheinen rezensiert. Von Beginn an betont Vaihinger die Wichtigkeit von Diltheys Kantprojekt, besonders unter dem Aspekt der Vollständigkeit betrachtet: »Die Voraussetzung aller fruchtbaren Kantforschung und alles philosophischen Studiums, insoweit es an Kant sich anschliesst, ist aber eine vollständige Ausgabe der Werke Kants unter Benutzung des gesamten handschriftlichen Materials« 405. Seiner Ansicht zufolge qualifiziert sich Dilthey als Leiter der AA zum einen durch die Veröffentlichung des Aufsatzes »Archive der Litteratur« 406 sowie zum anderen durch die Herausgabe und Bearbeitung der »Rostocker Kanthandschriften« 407. Vaihinger sieht durch die personellen Überschneidungen das Ziel der KS, »authentischen Berichte« 408 zu liefern, als eingelöst an. Die Kant-Gesellschaft wird zu Kants hundertjährigem Todesjahr 1904 ebenfalls von Vaihinger in Halle gegründet. Der Zweck der Gesellschaft ist die Förderung und Verbreitung des Studiums der kantischen Philosophie. Die Mitgliederzahlen entwickeln sich seit der Hans Vaihinger: »Zur Einführung«, in: KS 1,1897, S. 1–8, S. 4. »Der intellektuelle Urheber des Plans der neuen Ausgabe Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Dilthey in Berlin und seine hauptsächlichsten Mitarbeiter sind auf Wunsch des Herausgebers in die Redaktion der ›Kantstudien‹ eingetreten.« Vaihinger 1897, S. 6. 404 Vaihinger 1897, S. 6. 405 Vaihinger 1897, S. 6. 406 Wilhelm Dilthey: »Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie. II. Bd. 3. Heft. Berlin 1889, S. 343–367. 407 Hans Vaihinger: »Die neue Kantausgabe«, in: KS 1, 1897, S. 148–154, S. 148. 408 Vaihinger 1897: »Zur Einführung«, S. 6. 402 403

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Gründung von anfangs 70 auf 3000 im Jahr 1921. Innerhalb des ersten Weltkriegs ist ein Mitgliederzuwachs von 800 auf 1350 zu verzeichnen. Zugleich treten jedoch 200 Personen aus der Kant-Gesellschaft aus. Nach dem ersten Weltkrieg erfolgt innerhalb von zwei Jahren eine Verdopplung der Mitgliederzahlen bis zum Jahr 1921 409. Bruno Bauch ist während des ersten Weltkriegs Chefredakteur der KS. Er spricht in einem offenen Brief den Juden jegliches tiefere Verständnis der deutschen Philosophie ab 410. Cohen ist darüber empört. Neben Natorps Unmut, den er Vaihinger schriftlich mitteilt, schreibt Cohens Schüler Cassirer eine Entgegnung, die jedoch unveröffentlicht bleibt. Cassirer schickt diese an Vaihinger und kündigt seinen und Cohens Austritt aus der Kant-Gesellschaft an, falls sich die Geschäftsleitung nicht von Bauchs Aufsatz distanziert. Vermittlungsversuche zwischen den verfeindeten Lagern scheitern, so dass u. a. Cohen und Cassirer aus der Kant-Gesellschaft austreten. Bauch legt sein Amt in Folge der Diskussion um seine Rede nieder 411. Anlässlich des 100. Todestages von Kant werden im deutschsprachigen Raum zahlreiche Feiern veranstaltet 412. An der größten Feier in Königsberg nehmen von Seiten der Akademie in Berlin Carl Stumpf teil. Er betont in seiner Rede Kants Verdienst, »der deutschen Philosophie Kraft und Tiefe wiedergewonnen [zu] habe[n] […]. In der Vereinigung der Tiefe der Forschung mit der Genauigkeit bleibt Kant unser Vorbild […]. Eifersüchtig wollen wir darüber wachen, dass diese beiden Eigenschaften bleiben; dann wird es gut stehen um die deutsche Philosophie.« Zudem nehmen Cohen, Stammler und Vaihinger an den Festivitäten teil 413. Der »Intimfeind« der Mar409 http://www.kant-gesellschaft.de/de/kg/downloads/kg_geschichte_neu_2014.pdf (04. 10. 21). 410 Bruno Bauch: »Brief an Frau Dr. Ripke-Kühn«, in: Der Panther 4, 1916 H. 6, S. 742–746. 411 Bauch gründet 1917 zusammen mit Max Wundt die »Deutsche Philosophische Gesellschaft«, in der die Legende vom Verlust der Chefredakteurposition durch jüdische Intrigen genährt wird. Zu der Auseinandersetzung im Detail s. Ulrich Sieg: »Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbekanntes Manuskript«, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 88, Jerusalem 1991, S. 59–71. 412 Vaihinger berichtet in den KS darüber. Wenn nicht anders angegeben, entnimmt die Verfasserin alle folgenden Angaben diesem Aufsatz: Hans Vaihinger: Das Kantjubiläum im Jahre 1904, in: KS 10, 1905, S. 105–155. 413 Bestandteil der Feier ist die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Theologie an Dilthey. Weiterhin wird Rudolf Reicke zum Professor ernannt.

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Popularisierung Kants

burger, Ludwig Busse, hält eine Ansprache mit der Betonung der Wichtigkeit von Kant als »Lehrer im Ideal« für die studierende Jugend. Weitere Feiern finden in Schulen, evangelischen Arbeitervereinen und im Goethebund statt. Nachträglich haben Ferien bei der Deutschen Lehrerversammlung, der Berliner Philosophischen Gesellschaft und der Psychologischen Gesellschaft stattgefunden. In den Königsberger Zeitungen veröffentlichen u. a. Paulsen, Liebmann und Goldschmidt Artikel zur Bedeutung von Kant für die heutige Generation. Sein Werk wird als Beitrag für die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens betont: Die Spannweite reicht von der Sozialdemokratie als »wahre Erbin Kants« bis hin zum Protestantismus. Häufig wird Kants Leben und Werk neben das Luthers und Goethes gestellt, um die »Herrschaft des Geistes« als Kernbestand des Idealismus zu betonen. Auch neben Sokrates und Christus findet Kant seinen Platz. Erich Adickes betont in seiner Rede in Frankfurt Kants Beitrag zur Ästhetik. Der Herausgeber der KrV innerhalb der AA, Benno Erdmann, betont Kants exponierte Stellung für unser Kulturleben: [E]ntgegen der auf Grund der heutigen materialistischen wirtschaftlichen Geschichtsauffassung entstandenen Anschauung, der zufolge die Geistesarbeit selbst der hervorragendsten Denker nichts weiter sei als der Ausdruck der geistigen, sozialen, schliesslich sogar wirtschaftlichen Bewegung der breiten Volksmasse, haben wir gerade in Kant den überragenden Geist zu verehren, der wie kaum ein zweiter aus originaler Gedankenarbeit heraus auf das Kulturleben der Menschheit gewirkt habe.

Cohen betont in seinem Festvortrag in Marburg die Wichtigkeit von Kant als deutschem Nationalphilosophen. Seine Leistung sieht er in erster Linie in der Etablierung eines Systems begründet. »Sein [Kants] Idealismus darf sich mit dem wissenschaftlichen Realismus identifizieren: er ist nicht der träumende Idealismus, der Realismus des Selbstbewusstseins, er ist der Idealismus der Prinzipien«, 414 so Cohen. Die Frage, wie exakte Erfahrungserkenntnis möglich sei, stellt sich für die Philosophie immer wieder neu und sie verliere nichts von ihrer Brisanz und Aktualität. Windelband betont in seiner Rede die innige Verbindung von Person und Werk: die

414 Hugo Renner: »Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage«, in: KS 9, 1904, S. 518–534, S. 527–528.

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Wucht der historischen Wirkung entspringt überall nur aus dem intimsten und konzentriertesten Wesen der Persönlichkeit.« Windelband zufolge beinhaltet das innerste Wesen eines Philosophen seine Weltanschauung, die es aus seinem System herauszulösen gilt. Kants Hauptverdienst sieht er in der Tatsache der Grenzziehung zwischen sinnlichem und übersinnlichen Anteil im Denken begründet. Das habe ihn »zum kritischen Philosophen gemacht 415.

Vaihinger ist in Halle die zentrale Figur hinsichtlich der institutionellen Verankerung der kantischen Philosophie. Abgesichert und legitimiert durch die personelle Überschneidung zwischen der AA sowie den KS wird die Edition durch Rezensionen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und eventuelle Rezeptionshindernisse minimiert. Fragwürdige Personalentscheidungen der KS ziehen Konsequenzen für die Kant-Gesellschaft nach sich, wie das Beispiel Bruno Bauch zeigt. Zu den Kant-Feiern halten alle Personen Reden, die Rang und Namen haben. Kant wird von den unterschiedlichsten Interessengruppen in Anspruch genommen: Von der Politik bis zur Religion wird auf Kant als einigendes Band zurückgegriffen. Neben Luther, Goethe, Sokrates und Christus findet er seinen Platz. Zentral ist und bleibt die Umsetzung des Projekts einer vollständigen Kantausgabe, die sich an den Vorgängereditionen messen lassen muss.

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Renner 1904, S. 520.

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III. Die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften

3.1 Die Vorgängereditionen der Akademie-Ausgabe. Die Edition von Karl Rosenkranz / Friedrich Wilhelm Schubert und die zwei Editionen Gustav Hartensteins Neben dem Rückgang zu Kants Philosophie der Marburger und Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, der Popularisierung der kantischen Philosophie durch Lehrbücher zur Geschichte der Philosophie, der universitären Lehre, den KS, der Kant-Gesellschaft sowie Kant-Feiern stehen die Editionen kantischer Schriften als weitere Instanzen innerhalb der Konstellation, die den Kanon beeinflussen können. Durch sie werden Kants Texte konstituiert und sind in dieser Gestalt der Rezeption zugänglich. Zum Zeitpunkt der Antragsstellung für die Kantausgabe bei der Akademie waren bereits Gesamtausgaben verfügbar. Der Königsberger Philosophieprofessor Karl Rosenkranz und der Professor für Geschichte, Friedrich Wilhelm Schubert, bringen die erste Gesamtausgabe von Kants Schriften heraus. Sie erscheint unter dem Titel »Immanuel Kant’s sämmtliche Werke« 416 in sieben Bänden von 1838 bis 1842 bei Voss in Leipzig. Während die Herstellung einer Kantedition für Rosenkranz eine »literarische Ehrensache der Nation« 417 darstellt – ein Terminus, den Dilthey in der Begründung seines Antrags vor der Akademie übernehmen wird –, kommt Schubert durch die Auflösung des Königsberger Verlagsarchivs von

416 Karl Rosenkranz, Friedrich Wilhelm Schubert: Immanuel Kant’s sämmtliche Werke. Leipzig 1838–1842. 417 Karl Rosenkranz: »Die Gesammtausgabe der Kant’schen Schriften. Vortrag in der Kant’schen Gesellschaft zu Königsberg am 22sten April 1836«, in: ders.: Studien. Erster Theil. Reden und Abhandlungen. Zur Philosophie und Literatur. Berlin 1839, S. 243.

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Friedrich Nicolovius mit kantischen Handschriften in Berührung 418. Die Edition legt bei der KrV A zugrunde. Die Variantenverzeichnung erfolgt durch 28 Supplemente und einen Fußnotenapparat, der die fünfte Auflage der KrV von 1799 heranzieht. Die Editoren begründen diese Wahl damit, dass Kant die zugehörigen Druckfahnen noch hat überprüfen können. Rosenkranz’ Ansicht zufolge überliefern uns große Geister nicht bloß ihren Namen oder Texte, sondern Werke, »welche die unsterblichen Wendepunkte der Literatur enthalten« 419. Diese Werke großer Geister liefern uns Erklärungen der Gegenwart und bieten Orientierung für die Zukunft. Die Zeitlosigkeit dieser Klassiker erwirke ein Kümmern, Sammeln, Sichten und Veröffentlichen innerhalb einer Gesamtausgabe 420. Durch Auswahl einzelner Bände für die Lektüre mahnen uns die stehengelassenen zugleich, diese beizeiten zu rezipieren 421. Rosenkranz ist der Meinung, dass prosaische Editionen leichter zugänglich seien als philosophische. Von letzteren werden »Gesammtausgaben erst dann möglich sein, wenn die Philosophie eine Sache der Nation und der Welt geworden, nicht blos der Schule und ihrem engen Kreise angehört« 422. Interessant ist an dieser Stelle, dass Rosenkranz bereits Ende der 1830er Jahre auf die Nation verweist, um die Bedeutsamkeit einer Gesamtausgabe kantischer Schriften zu betonen. Auf die Begriffe »Nation« und »Welt« zu verweisen, erscheint geradezu prophetisch. Dilthey kann rund fünfzig Jahre später diese Begründungsstrategie erfolgreich bei der Akademie einsetzen, da die politische Reichsgründung vollzogen ist 423. Den Grund, warum es bisher keine Edition von Kant gibt, sieht Rosenkranz in der raschen Publikation kantischer Werke zu Lebzeiten und den revolutionären Umwälzungen für die Philosophie gegeben. Folglich sei es weder für Kant noch für die Rezipienten seiner Texte möglich, sich dem »Strom der oceanartig anschwellenden Er-

418 Werner Stark: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants. Berlin 1993, S. 65. 419 Rosenkranz 1839, S. 233. 420 »Eine Gesammtausgabe ihrer Werke zwingt uns gleichsam, uns um Alles zu bekümmern, was sie hervorgebracht haben.« Rosenkranz 1839, S. 233. 421 »[D]ie Bände der Gesammtausgabe, die man auf dem Bücherbrett bestauben läßt, werden sich wenigstens mit stillem Vorwurf, von Dämmerung umhüllt, in das Bewußtsein um das bevorzugte Werk drängen.« Rosenkranz 1839, S. 233–234. 422 Rosenkranz 1839, S. 234. 423 Auf den Begriff »Welt« kommt Dilthey allerdings nicht zu sprechen. Siehe Kapitel 3.3.1.

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Die Vorgängereditionen der Akademie-Ausgabe

kenntniß« zu entziehen und zu pausieren, so dass ein »erschöpfender Rückblick« 424 möglich gewesen wäre. Neben der schon erwähnten »literarischen Ehrensache der Nation« als Begründung für die Umsetzung der Edition sieht Rosenkranz ferner einen weiteren in der Implementierung von Kants Philosophie in anderen Nationen 425. Mit der Berufung auf Goethe und Schiller führt er als dritte Begründung die Notwendigkeit an, »Kant’s Bestrebungen in ihrer Totalität zu würdigen«, um »eine durchgreifende Erkenntniß der ganzen abgelaufenen Culturperiode, des geheimen Nexus zwischen den Meistern der Kunst und Wissenschaft« 426 erlangen zu können. Rosenkranz plädiert für eine Dreiteilung der Edition in »Speculative Schriften«, »Vermischte Schriften« und »Vorlesungen« 427. Auch Schubert betont den Wert einer vollständigen Sammlung kantischer Texte, den eine Edition bietet. Seine Gedanken dazu sind aus dem Kontakt mit kantischen Handschriften nach der Auflösung des Königsberger Verlagsarchivs von Friedrich Nicolovius entstanden. Jeder von Kant beschriebene Zettel ist für ihn im Kontext seiner Entstehung bedeutungstragend: »Aber nicht das Sammeln macht groß, nicht das Anschauen der Reliquien fromm, nicht die werthgehaltene Handschrift oder ihr Facsimile lehrt den großen Geist ihres Urhebers in sich aufnehmen. – Er muß aus seinem ganzen Schaffen und Wirken erfaßt, er muß in der Stellung zu seinen Zeitgenossen erkannt werden, wenn seine Lehren in unser Eigenthum über gehen, wenn sein Beispiel und sein ganzes Leben uns erheben oder warnen sollen« 428. Entwürfe und Vorarbeiten sind für ihn der Schlüssel zum Verständnis der kantischen Werke. Zusätze seien keine Berichtigungen des ursprünglichen Textes, sondern stellen eine Vervollständigung des betreffenden Werks dar. Dahinter steht die Idee, dass der Rosenkranz 1839, S. 238. »Ferner mahnt dazu die Verpflanzung der Kantischen Philosophie zu andern Völkern. Die Dänen, Schweden und Franzosen sind diejenigen, welche den Gang unserer Speculation mit lebhafter Theilnahme zu verfolgen angefangen haben.« Rosenkranz 1839, S. 244. Auf eine internationale Verbreitung der kantischen Philosophie zielten die Berliner nicht ab, jedoch scheint es ein Anliegen der Marburger gewesen zu sein. Siehe Kapitel 3.3.2 sowie 3.4. 426 Rosenkranz 1839, S. 246. 427 Rosenkranz 1839, S. 250–254. 428 Friedrich Wilhelm Schubert: »Immanuel Kant und seine Stellung zur Politik in der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts«, in: Friedrich von Raumer (Hg.): Historisches Taschenbuch. Neunter Jahrgang. Leipzig 1838, S. 525–628, S. 529. 424 425

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»welthistorische Charakter« 429 Kant in sich geschlossene Werke schreibt: Der »edle Wahrheitsforscher, der in reiner Begeisterung an seinem Werke unerschütterlich fort arbeitete« 430 und sich von seinem Weg nicht abbringen ließ. Nach Schuberts Ansicht lassen sich in Kants Schriften nicht nur philosophische Anknüpfungspunkte, sondern auch politische finden: Jetzt, wo vielleicht die Zeit gekommen ist, daß der deutschen Literatur das Ehrendenkmal einer Gesammtausgabe […] dargeboten wird, erscheint als des Historikers Pflicht, daran zu mahnen, daß die Werke dieses herrlichen klaren Geistes […] nicht blos der speculativen Philosophie angehören, daß sie die reichste Fundgrube auch für den Politiker eröffnen 431.

Der Professor für Philosophie in Leipzig, Gustav Hartenstein, hat zeitgleich mit Rosenkranz und Schubert eine Edition unter dem Titel Immanuel Kants sämtliche Werke 432 in zehn Bänden veröffentlicht. Sie erschien von 1838 bis 1839 bei Modes und Baumann in Leipzig. Die Edition verzeichnet die Varianten mithilfe eines Fußnotenapparates sowie zwei Nachträgen zur »Deduction der reinen Verstandesbegriffe« und »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«. Knapp dreißig Jahre später erscheint die zweite Edition Hartensteins mit dem Titel Immanuel Kants sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge 433 in acht Bänden von 1867 bis 1869. Sowohl die erste als auch die zweite Hartenstein’sche Ausgabe legen bei der Textkonstitution der KrV B zugrunde. Die Editionen werden in der ALZ insgesamt positiv besprochen. Die Notwendigkeit für eine Gesamtausgabe wird erkannt, da »einzelne Werke des Königsberger Weisen bereits selten zu werden« 434 beginnen. Hinsichtlich der KrV sei nicht gleichgültig, »ob es nach der Schubert 1838, S. 530. Schubert 1838, S. 530. 431 Schubert 1838, S. 627. Auch Dilthey mahnt an die Ehre, allerdings spricht er nicht vom »Ehrendenkmal« oder von der »Ehrensache der Nation«, sondern von der »Ehrenpflicht der Nation«, eine Gesamtausgabe von Kants Schriften herzustellen. Wilhelm Dilthey 1889, S. 360–361. 432 Gustav Hartenstein: Immanuel Kants sämtliche Werke, Leipzig 1838–1839. 433 Gustav Hartenstein: Immanuel Kants sämtliche Werke in chronologischer Reihenfolge, Leipzig 1867–1869. 434 Christian G. Schütz: Rezension zweier Gesamtausgaben von Kant: 1. Immanuel Kant’s Sämmtliche Werke. Hrsg. v. K. Rosenkranz und F. W. Schubert, Leipzig 1838– 40, 2. Immanuel Kant’s Werke. Sorgfältig revidirte Gesammtausgabe in zehn Bänden, Leipzig 1838–39, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 393–408, S. 395. 429 430

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ersten oder einer der folgenden Ausgaben studirt wird« 435. Aus Pietätsgründen gegenüber Kant und aufgrund des Ehrgefühls der Nation sei eine Gesamtausgabe ein »allseitiges Bedürfniss« 436. Das Format der Bände beider Editionen ist Median-Oktav. Rosenkranz und Schubert drucken die Texte in lateinischer Schrift ab, Hartenstein in deutscher, »mit welcher fast alle unsre Klassiker gedruckt worden sind« 437. Erstere ist fast doppelt so teuer wie letztere 438. Die KrV nimmt »bei völlig gleichem Texte« 439 bei Rosenkranz/Schubert 814 Seiten, bei Hartenstein 698 ein, was auf den raumsparenderen Druck zurückzuführen sei. Rosenkranz/Schubert teilen die Schriften in drei Konvolute ein, innerhalb derer die Texte chronologisch geordnet werden: 1. Logik und Metaphysik 2. Naturwissenschaft 3. Philosophie des Geistes, Mensch, Recht, Moral, Religion Hartenstein scheidet ebenfalls drei Konvolute: 1. Die drei Kritiken 2. Philosophie und ihre Stellung zu anderen Wissenschaften; Logik 3. Natur und Mensch (metaphysisch und empirisch) Der Rezensent kritisiert in der folgenden Besprechung die Anordnung der Editionen, da sie nicht nach kantischen Prinzipien verfahren: Die von RSch. gemachte gründet sich mehr auf Hegel’sche als auf Kantische Principien, und Kant selbst würde sie ohne Zweifel verworfen haben. Bei Hn. ist unter anderm zu erinnern, dass die Kr. der Urtheilskraft mit der praktischen Philosophie Kants in engem Zusammenhange steht, und daher zu spät gestellt ist; aus ähnlichem Grunde nimmt bei RSch. die Kr. der praktischen Vernunft eine zu späte Stelle ein. Die weite Entfernung der Logik und der Anthropologie von einander ist in beiden Ausgaben befremdend 440. 435 Schütz: Rezension zweier Gesamtausgaben von Kant, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 395. Mit »Ausgabe« ist hier »Auflage« gemeint. 436 Schütz: Rezension zweier Gesamtausgaben von Kant, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 395. 437 Schütz: Rezension zweier Gesamtausgaben von Kant, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 397. 438 Bei der Veröffentlichung der Rezension in der ALZ waren elf Bände veröffentlicht, die zusammen 22 Taler kosteten. Die von Hartenstein besorgte Ausgabe kostete hingegen nur 13 Taler. Rezension zweier Gesamtausgaben von Kant, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 394. 439 Schütz: Rezension, in: ALZ Nr. 50, März 1840, S. 397. 440 Schütz: Rezension, in: ALZ Nr. 51, März 1840, S. 401–408, S. 401.

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Der Rezensent plädiert stattdessen für eine chronologische Reihung, um zu erkennen, »wie allseitig vorbereitet seine [Kants] Philosophie in ihm selbst bis zum Jahr 1780 gewesen ist, und dass seit Erscheinung der Kritik der reinen Vernunft eine Einheit in ihr begründet ist« 441. Dem Rezensenten geht es mehr um das Gesamtsystem der kantischen Werke als um die Einzeltexte. In Bezug auf die AA ist es wichtig festzuhalten, dass Rosenkranz bereits Ende der 1830er Jahre an die »Ehrensache der Nation« appelliert, um die Editionstätigkeit zu begründen. Zudem setzt er darauf, dass andere Nationen ihre Auseinandersetzung mit Kant intensivieren werden. Hier unterscheidet er sich mit seinen Ansprüchen von denjenigen Diltheys. Goethe und Schiller als literarische Klassiker neben Kant zu stellen, ist als Strategie zu sehen, Kant als herausragenden Philosophen in die allgemeine Kulturgeschichte einzuschreiben. Mit dieser Strategie wäre sicherlich auch Dilthey einverstanden. Schubert ist der Auffassung, dass jeder von Kant beschriebene Zettel bedeutungstragend sei. Auch Dilthey wird auf die vollständige Verzeichnung pochen, um den ganzen Kant bieten zu können. Werke sieht Schubert als in sich geschlossen an, die durch deren Vorarbeiten besser verstanden werden können. Eine Gesamtausgabe sei ein »Ehrendenkmal« der Nation. Hartenstein appelliert ebenfalls an das Ehrgefühl der Nation. Hinsichtlich der Anordnung kantischer Texte ist die Heraushebung der drei Kritiken Kants bei Hartenstein wichtig, die es bei Rosenkranz/Schubert so nicht gibt. Rosenkranz’ und Schuberts Appell an das Ehrgefühl der Nation wird fünfzig Jahre später auch Dilthey nutzen, um sein Editionsvorhaben vor der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zu begründen. Diese Institution wird im nächsten Kapitel vorgestellt.

3.2 Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Ort der Forschung und Produktionsstätte von Editionen Die Geschichte der Akademie-Ausgabe ist eine wechselvolle, die von Umbrüchen und personellen Schwierigkeiten gekennzeichnet ist. Um zu verstehen, warum um 1900 eine weitere Gesamtausgabe von Kants Schriften initiiert worden ist, lohnt ein Blick auf den Ort des 441

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Schütz: Rezension, in: ALZ Nr. 51, März 1840, S. 402.

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Die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Ort der For-

Geschehens. Die 1809 gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ist keine Hochburg des Neukantianismus, sondern vor allem ein Ort der florierenden naturwissenschaftlichen Forschung. 442 Die Universitäten Breslau und Halle sind Aufstiegsuniversitäten, die den Weg nach Berlin ebnen. Nach der Reichsgründung 1871 stellt letztere eine erstrebenswerte Zieluniversität in der akademischen Karriere dar. Die Anziehungskraft des Standortes wird durch die KöniglichPreußische Akademie der Wissenschaften erheblich verstärkt. Sie blickt auf eine lange Tradition zurück: 1700 wurde sie vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. (ab 1701 König Friedrich I. von Preußen) als »Kurfürstlich Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften« gegründet. Gottfried Wilhelm Leibniz war bis zu seinem Todesjahr ihr Präsident. Die Akademie steht im 19. Jahrhundert im Schatten der 1810 gegründeten Berliner Universität: An sie trat die Akademie ihre Forschungseinrichtungen ab, mit ihr entwickelte sie aber auch eine neue, fruchtbare Symbiose. Die meisten der bis 1881 maximal 50 […] ordentlichen Akademiemitglieder waren zugleich Professoren der Universität. Die Akademie wurde primär zu einer Gelehrtengesellschaft, doch betrieb sie auch bahnbrechende langfristige Forschungsprojekte vor allem in den Geisteswissenschaften. 443

Die Akademie gliedert sich in die philosophisch-historische sowie die physikalisch-mathematische Klasse. Je zwei Akademiemitglieder besetzten den Posten des Sekretars, d. i. des Sprechers der jeweiligen Klasse. Alle drei bis vier Monate wechseln diese auf den Vorsitzposten, welcher zwar als Präsidentenamt fungiert, ohne jedoch diesen Titel zu erhalten. Für editorische Projekte werden Kommissionen gebildet, die über strittige Fragen entscheiden. Schleiermachers Rücktritt als Sekretar der philosophischen Klasse und zugleich die Neugründung der philosophisch-historischen Klasse, dessen Sekretar er ab 1827 ist, sichert der Akademie einen

442 Die in Heidelberg und Marburg lehrenden berühmten Neukantianer Kuno Fischer, Friedrich Albert Lange und Hermann Cohen haben keine Professur an der Berliner Universität inne. Friedrich Paulsen, Alois Riehl sowie Benno Erdmann werden berufen, als sich der Neukantianismus zur strengen Kantphilologie entwickelt. Volker Gerhardt, Reinhard Mehring, Jana Rindert: Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946. Berlin 1999, S. 95. 443 https://praesidenten.bbaw.de/de/informationen-zur-praesidentengalerie/dieberliner-akademie-und-ihre-leitung-in-drei-jahrhunderten/ (04. 10. 21).

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historisch-philologischen Schwerpunkt mit zahlreichen Editionsprojekten 444. Mit Eduard Zeller und Wilhelm Dilthey setzt die Blütezeit der Berliner Philosophie ein. Ersterer ist ab 1872 Ordinarius sowie ordentliches Mitglied der Akademie 445. Zusammen mit Hermann Diels, Dilthey sowie Benno Erdmann arbeitet er an der von Ludwig Stein herausgegebenen Zeitschrift Archiv für Geschichte der Philosophie mit. Er verfolgt den Ansatz, das eigene Philosophieren auf seine geschichtliche Entwicklung hin zu prüfen. Dazu bedarf es eines Studiums der Geschichte der Philosophie, um zu einer »historisch-philologischen Selbstkritik systematischer Ansprüche« 446 zu gelangen. Dilthey erhält nach der Besetzung von Lehrstühlen in Basel, Kiel und Breslau 1882 einen Ruf aus Berlin. Er wird Nachfolger des Philosophen und Doktors der Medizin Hermann Lotze, der nach nur einigen Wochen Amtszeit verstarb. 1887 wird Zeller ordentliches Akademiemitglied. Die »Kant-Kommission« besteht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bandes der AA neben Dilthey als Vorsitzendem aus dem klassischen Philologen Hermann Diels, dem Philosophen Paul Menzer, dem Germanisten Erich Schmidt, dem Philologen und Psychologen Carl Stumpf sowie dem klassischen Philologen Johannes Vahlen 447. Mit der Berufung Benno Erdmanns 1909 nach Berlin setzt die Ausdifferenzierung der philosophischen Lehre ein: die philosophischen Seminare werden gegründet. Erdmann gehört ab 1911, dem Todesjahr Diltheys, der Akademie an und übernimmt den Vorsitz der Kant-Kommission und damit auch die Leitung der AA. Bemerkenswert ist sein Einsatz für die editorische Bearbeitung von Kants Texten, da er, wie Adickes, Dilthey und Vaihinger, kein Kantianer ist. Die Gründe, warum Erdmann begonnen hat, sich mit Kanteditionen 444 Trendelenburg, der Hegels Lehrstuhl 1837 besetzt, ist von 1847 bis 1871 Sekretar der philosophisch-historischen Klasse. In der zweiten Auflage seiner Logischen Untersuchungen aus dem Jahr 1862 ignoriert er Kuno Fischers Kant’s Leben und die Grundlagen seiner Lehre, welches zwei Jahre zuvor erschienen ist. Die Debatte zwischen Trendelenburg und Fischer über die richtige Interpretation der kantischen Erkenntnistheorie bahnt sich an. Siehe Kapitel 2.3.2 445 Zeller war von 1872 bis 1894 ordentliches, anschließend bis zum Ende des Jahre 1894 Ehrenmitglied. Nach seinem Umzug von Berlin nach Stuttgart war er ab 1895 auswärtiges Mitglied. 446 Gerhardt et al. 1999, S. 100. 447 Menzer war bereits als Student an den Vorarbeiten der AA beteiligt. Dilthey hat ihn zum Sekretär der AA auserkoren.

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zu befassen, sind unklar. Im Wintersemester 1885/86, während seiner Zeit in Breslau, ändern sich Erdmanns Interessen weg von Kant hin zur Psychologie. Brieflich teilt er Vaihinger 1903 mit, dass er kein Bedürfnis nach einer weiteren Abhandlung über Kant mehr habe 448. Die Gründe für die Übernahme des Vorsitzes der Kant-Kommission 1911 scheinen nicht in der Bedeutsamkeit der Philosophie Kants für Erdmann zu liegen, sondern vielmehr mit Prestige und Statusinteressen verbunden zu sein.

3.3 Konzeption und Struktur der Akademie-Ausgabe 3.3.1 Planung und Umsetzung der Edition Aus den Sitzungsberichten der Akademie ist zu entnehmen, dass Dilthey 1889 mit einer Lesung aus den Handschriften Kants der Rostocker Bibliothek und dem Bericht der Veröffentlichung von Reickes »Losen Blättern aus Kants Nachlass« sein Interesse an handschriftlichen Nachlässen öffentlich bekundet hat 449. Im Dezember 1893 hat Dilthey seine Überlegungen zu einer Kantausgabe in einer Denkschrift dem Ministerium sowie der Akademie vorgelegt. Im Juni 1894, 90 Jahre nach Kants Tod, legte er diesen Plan gemeinsam mit dem Philosophen und Theologen Eduard Zeller der Akademie vor. Im Oktober desselben Jahres beschließt die Berliner Akademie die Edition seiner Schriften 450. So fällt in diese Zeit auch sein Einsatz für Carl Stumpf als Ordinarius in Berlin, um eine »gänzliche naturwissenschaftliche Radicalisierung der Philosophie hier« 451 zu verhüten. »Einen ganzen Monat« habe er »über dem Problem einer monumen»Ich bin der Kantarbeiten müde, und habe dringenderes fertigzustellen.« Brief Erdmanns an Vaihinger vom 03. 05. 1903, in: Stark 1993, S. 71. Die von Vaihinger hervorgebrachte Bitte, in den KS zu veröffentlichen, schlägt Erdmann aus: »Zu einer weiteren Abhandlung über Kant habe ich aber keine Zeit und – ich gestehe es – kein Bedürfnis. Ich habe den lebhaften Wunsch Arbeiten über Kant nicht mehr zu machen.« Brief Erdmanns an Vaihinger vom 20. 10. 1903, in: Stark 1993, S. 71. 449 Sitzungsberichte der Königlich-Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 20. Juni 1889, S. 601 (http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digitalequellen/ schriften/anzeige/index_html?band=10-sitz/1889-2&seite:int=165) (11. 03. 2019). 450 »Dilthey ist in diesen Jahren auf dem Höhepunkt seines Einflusses, seiner Arbeitskraft und Unternehmungslust.« Frithjof Rodi: Das strukturierte Ganze. Studien zum Werk von Wilhelm Dilthey. Weilerswist 2003, S. 160–161. 451 Brief Diltheys an von Wartenburg vom 30. 10. 1893, in: WDB II, S. 429. 448

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talen Kantausgabe gebrütet, für welche ich nun einen genau specificirten Plan von zwölf geschriebnen Bogen verfaßt habe. Sie wird so gut als sicher zustande kommen, eine große Sache, die mich mit hoher Befriedigung erfüllt: Wiederauferstehung des Kant der mittleren Lebensjahre« 452. Diltheys Ziel war die Archivierung sämtlicher Äußerungen Kants, um ihn sowohl im Einzelnen als auch im Ganzen betrachtet besser verstehen zu können, als Kant sich selbst verstand. Bisher sei es aufgrund der zerstreuten Überlieferungslage von Kants Nachlass nicht möglich gewesen, seine Philosophie als Ganzes und aus dem Einzelnen heraus verstehen zu können. Daher sah er es als notwendig an, Kants Material zu sammeln und eine Gesamtausgabe zu veranstalten. Mit der Edition verfolgt Dilthey den Anspruch, eine Musterausgabe zu schaffen, die nachfolgenden Editionskonzepten als Vorbild dienen soll. Die Editionspraxis um 1900 ist durch den Begriff des Autorwillens geprägt, d. h. durch das Verständnis des Editors als Testamentsvollstrecker. Dilthey sieht sich dazu in der Lage, Kants Willen zum einen verstanden zu haben und zum anderen diesen durch die Edition zur Entfaltung bringen zu können. Kant selbst habe eine Gesamtausgabe aufgrund seiner altersbedingt schwindenden geistigen Kräfte nicht mehr besorgen können: »So wie er [Kant] selbst auf dieser Höhe, nach den kritischen Hauptwerken noch schöpferisch, vor dem zu Beginn des neuen Jahrhunderts einreissenden Verfall seiner Geisteskräfte die Edition besorgt hätte, sie nun auszuführen, ist das Ziel« 453. Im Sinne der Testamentsvollstreckung will Dilthey seine Kantausgabe verstanden wissen: Und wie bescheiden man auch über den Nutzen desselben [die geordnete und vollständige Darbietung des Materials] für das letzte Ziel der objectiven geschichtlichen Erkenntnis des Systems denken mag: der Streit, der heute unter den Kantforschern besteht und die sich von der Gesammtauffassung bis auf die Interpretation der Hauptbegriffe Kants erstreckt, wird doch eingeschränkt, der Umfang sicherer geschichtlicher Erkenntniß erweitert werden können, wenn dies Material wohlgeordnet und nach Möglichkeit chronologisch bestimmt vorliegt 454.

Dilthey erhofft sich durch seine Edition ein höheres Maß an Objektivität für die Kantforschung. Ihm geht es dabei vor allem um die Voll452 453 454

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Brief Diltheys an von Wartenburg Anfang Dezember 1893, in: WDB II, S. 437. AA, Bd. I, S. 513. AA, Bd. I, S. IX-X.

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ständigkeit und die Chronologie. Bezüglich des ersten Aspekts spricht er von einer »Andacht zum Unbedeutenden und Kleinen« 455. Durch diese beiden Prinzipien soll die Entwicklungsgeschichte des mächtigen Genies Kant nachgezeichnet werden. Die Prinzipien der Textkonstitution folgen im Allgemeinen dem Grundsatz, dass Normierungen und Emendationen zugelassen werden, so dass das Ziel der »Herstellung eines gereinigten Textes der Werke Kants« erreicht werden kann. Die Schriften werden chronologisch geordnet, Originaldrucke zugrunde gelegt und, wenn möglich, mit den Handschriften kollationiert: Die Herstellung des Textes geschah mit möglichst treuer Erhaltung des Überlieferten. Nur wo die Verderbniss des Textes zweifellos war, ist die Emendation der ausgewählten Ausgabe eingetreten. Sie geschah aufgrund einer Vergleichung der Lesarten etwa vorhandener anderer Originaldrucke unter Hinzuziehung sachlicher Gesichtspunkte und mit der erforderlichen Berücksichtigung der für die Verbesserung des Textes werthvollen neueren Ausgaben oder sonst veröffentlichter Emendationsvorschläge 456.

Die Prinzipien der Textkonstitution der Akademie-Ausgabe waren keineswegs unumstritten. So sah es Eduard Zeller als falsch an, in der geschilderten Art und Weise in Kants Schriften einzugreifen: Wir dürfen nicht nach jeweiligem Gutdünken ein paar Störungen wegschaffen oder das Ganze dem vergänglichen Durchschnitt der Gegenwart anpassen, so dass Kants Werke von Zeit zu Zeit umgeschrieben (ja übersetzt) würden, sondern sie müssen, neben rein äusserlichen Eingriffen in Orthographie und Interpunction, als Denkmäler eines Schriftstellers des achtzehnten Jahrhunderts volle Rücksicht auf seinen eigenen Brauch und auf die Gewohnheiten jener sprachlich erst halbvergangenen Zeit erfahren 457.

Zellers Einwand hatte jedoch keinen Einfluss auf die Textkonstitution. Zwar legte er den Plan für die Edition gemeinsam mit Dilthey vor, jedoch war er im Jahr der Antragsstellung bereits 80 Jahre alt. AA, Bd. I, S. VIII. AA, Bd. I, S. 509. 457 AA, Bd. I, S. 512. »Ein Argument, welches […] Eduard Zeller bereits während der Erarbeitung der Regeln für die Abteilung der Werke genannt hatte und das innerhalb der Ausgabe anonym formuliert wird.« Tanja Gloyna: »Edition – Neuedition: die drei Critiken Immanuel Kants in der Akademie-Ausgabe. Eine Baubeschreibung«, in: Annette Sell (Hg.): Editionen – Wandel und Wirkung. Tübingen 2007, S. 109–126, S. 117. 455 456

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Zellers anonymisierte Kritik in der AA lässt auf Diltheys Strategie schließen, eine Diskussion um die Textkonstitution bei den Rezipienten der AA nicht erneut entfachen zu wollen. Im Juni 1895 beginnt Dilthey mit Vaihinger und Erdmann Verhandlungen zu führen 458. Diese laufen erfolgreich, so dass letzterer in die Kommission der Akademie aufgenommen wird. Ende des Monats berichtet er seinem Freund Paul York von Wartenburg: Eben komme ich aus Halle zurück wo ich zwei Tage mit Erdmann und Vaihinger verhandelt […]. Vaihinger ist zuletzt doch als der sicherste befunden und macht die Aufzeichnungen. Erdmann giebt ihm alle seine Vorarbeiten. Er wird wol die Vernunftkritik herausgeben […]. So wird in wenigen Wochen Alles geordnet sein: der Regisseur kann sich hinter die Bühne zurückziehen und das Stück beginnt 459.

Aus einem Brief vom September 1895 wird ersichtlich, dass Dilthey von Vaihingers Plänen zur Gründung der Zeitschrift KS erfahren hat. Zu diesem Zeitpunkt war er davon überzeugt, dass beide Vorhaben voneinander profitieren können, die Edition aus seiner Sicht jedoch absolute Dringlichkeit besitze. Bedenken hat Dilthey lediglich hinsichtlich einer geplanten Rubrik »inedita« in den KS. Er will sicherstellen, innerhalb der AA das »immerhin nicht sehr umfangreiche neue von etwaigen Briefen u. Abhandlungen auch wirklich zuerst zu bringen« 460. An dieser Stelle wird deutlich, dass Dilthey sich bewusst ist, dass die AA nur einen kleinen Anteil an Neuerungen für die Kantforschung bieten könne wird. Das ist jedoch auch nicht der wesentliche Aspekt für ihn. Wichtig ist vielmehr, mittels der AA eine Pionierleistung zu erbringen. Die wenigen neuen Forschungsgegenstände sollen durch die Berliner Akademie in die Öffentlichkeit gebracht werden. Dilthey hofft zu diesem Zeitpunkt, dass Vaihinger sowohl seiner Editionstätigkeit als auch der Arbeit an der neu gegründeten Zeitschrift nachkommen kann: »Freilich werden Sie sich nicht verhehlen daß Ihre Arbeitslast durch diese Studien erheblich vermehrt wird. 458 »Ich denke am Sonnabend Sie und Herrn Erdmann in Halle wegen der Kant-Sache aufzusuchen.« Brief Diltheys an Vaihinger vom 18. 06. 1895, in: WDB II, S. 532. 459 Dilthey führt weiter aus: »Es ist ein frischer Wind in den Segeln und man fühlt schon daß nach Beendigung des Kant die schlechte Leibniz-ausgabe von Gerhardt durch eine würdige ersetzt werden muß.« Brief Diltheys an von Wartenburg Ende Juni 1895, in: WDB II, S. 537. 460 Brief Diltheys an Vaihinger vom 25. 09. 1895, in: WDB II, S. 546.

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Aber fühlen Sie sich nun gegenwärtig im Stande, beide Aufgaben zu bewältigen u. vertrauen Sie, daß Sie das nicht später doch zu viel finden, so kann ja der Plan dieser Studien im Interesse Kants ganz nützlich werden. Es bleibt freilich meine Überzeugung, daß jetzt, wo aus ganzem Holz geschnitzt werden soll unser ganz überwiegendes Interesse hierauf gerichtet bleiben muß« 461. Zwei Monate später erreicht Dilthey der Brief mit der Absage Vaihingers. Er ist nicht überliefert und muss aus Diltheys Antwort geschlossen werden: »Sie können denken, wie sehr schmerzlich mir Ihr Brief gewesen ist. Ich habe denselben der Commission mitgeteilt und sie teilt mein aufrichtiges Bedauern über Ihre Erklärung. Nach Ihrer bestimmten Zusage im Sommer hatten wir uns ganz darauf eingerichtet, durch Ihre Thätigkeit die Sache auf’s Beste arrangiert zu wissen« 462. Vaihinger scheint mit einigen Prinzipien der AA nicht einverstanden gewesen zu sein, wie aus einer Antwort von Dilthey geschlossen werden kann: Ich muss zunächst das, was Sie über meine Intention bei der Ausgabe sagen, richtig stellen. Gerade das habe ich auf das Entschiedenste herausgehoben und es ist ja auch selbstverständlich, dass erst aus dem Studium des Materials dem Bearbeiter die Principien der Edition entspringen können […]. Ich kann schlechterdings nicht zugeben, dass ich in das wunderliche Licht komme, die Grundsätze, welche erst aus dem Studium der Papiere sich ergeben können, a priori konstruieren zu wollen. Der Herausgeber macht ja auch die Edition ganz selbständig auf seine Verantwortung. Keine Commission der Welt kann an dem Ergebnis seiner Forschung etwas ändern, da sie nicht zum zweiten Mal die Arbeit machen kann 463.

Nach Vaihingers Rückzug von der Editionstätigkeit stehen nun Verhandlungen mit dem Kieler Lehrer Erich Adickes an. Am 19. Januar 1896 berichtet Hermann Diels Zeller von der schwierigen finanziellen Lage der AA. Dilthey will Adickes für zwei Jahre mit einem Gehalt von 8000 Mark vom Schuldienst freistellen und für die Editionstätigkeit gewinnen, was zu Protesten der philosophischen Klasse der Akademie geführt hat. Das gesamte Editionsprojekt hängt von Adickes’ Entscheidung ab, den Diels, vermutlich aufgrund seiner mangelnden Entscheidungsfähigkeit, einen »unverschämten Patron« 464 Brief Diltheys an Vaihinger vom 25. 09. 1895, in: WDB II, S. 546. Brief Diltheys an Vaihinger vom 15. 11. 1895, in: WDB II, S. 574. 463 Brief Diltheys an Vaihinger Mitte Dezember 1895, in: WDB II, S. 581–582. 464 Brief Diels’ an Zeller vom 19. 01. 1896, in: Dietrich Ehlers (Hg.): Briefwechsel. Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Zweiter Bd. Berlin 1992, S. 124. Adickes übernimmt die Bearbeitung des handschriftlichen Nachlasses und legt seine 461 462

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nennt. Am 12. April desselben Jahres beklagt sich Diels über die vielen Zusendungen von Archiven und Bibliotheken und der damit verbundenen Arbeit als stellvertretender Leiter der AA 465. Zeller äußert am 12. Mai 1896 seine Zweifel darüber, ob Dilthey der Aufgabe als Leiter der Kantedition gewachsen ist 466. Zwei Tage später antwortet Diels, dass die Edition mit 25000 Mark finanziell zwar gesichert, Dilthey jedoch aus Krankheitsgründen erneut abwesend ist 467. Adickes sagt schlussendlich zu und übernimmt die dritte Abteilung mit dem für Dilthey so bedeutsamen handschriftlichen Nachlass. Im Jahr 1896 erfahren wir in einem Bericht von Dilthey etwas über den strukturellen Rahmen der Ausgabe. Die »Commission, welche aus den HH. Diels, Dilthey, Stumpf, Vahlen und Weinhold besteht«, arbeitet an den »Maassregeln für die Gewinnung und Sammlung des Materials« und tritt mit potentiellen Editoren in Kontakt: Die Kaiserlich Russische Regierung hat mit dankenswerther Bereitwilligkeit die Dorpater Kant-Handschriften zur Benutzung übersandt. Hrn. B. Erdmann in Halle ist die Akademie zu grossem Dank dafür verpflichtet, dass derselbe die von ihm hergestellte sehr umfangreiche Abschrift der in das durchschossene Exemplar der Baumgarten’schen Metaphysik von Kant eingetragenen wissenschaftlichen Aufzeichnungen unseren Arbeiten zur Verfügung gestellt hat. Ebenso ist die Akademie Hrn. Reicke in Königsberg grossen Dank dafür schuldig, dass er den reichen Schatz seiner Sammlungen, Handschriften und Abschriften ihrem Zwecke eröffnet hat. Hr. Reicke wird auch die Ausgabe der Briefe übernehmen, mit deren Sammlung er seit langen Jahren beschäftigt ist. Hr. Heintze in Leipzig wird die Abtheilung der Vorlesungen leiten und selbst die über die Logik, Metaphysik und Religionsphilosophie. Andere Verhandlungen schweben noch 468.

Im Februar desselben Jahres ergeht ein »Aufruf« an Redaktionen, in der das Ziel der Herstellung einer »vollständigen und kritischen AusHaltung zur Editionstätigkeit in der AA offen zutage: »Wie denn überhaupt die Arbeit an dem handschriftlichen Nachlass Kants ein harter, entsagungsvoller Frondienst ist, dem ich mich niemals würde unterzogen haben, hätte ich auch nur von fern geahnt, bis zu welchem Grade und für wie lange Zeit er die Arbeitskraft eines Menschen in Beschlag nimmt.« AA, Bd. XIV, S. IX. 465 Brief Diels’ an Zeller vom 12. 04. 1896, in: Ehlers 1992, S. 132. 466 Brief Zellers an Diels vom 12. 05. 1896, in: Ehlers 1992, S. 137. 467 Brief Diels’ an Zeller vom 14. 05. 1897, in: Ehlers 1992, S. 179. 468 Sitzungsberichte 1896, S. 68–69 (http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/ digitalequellen/schriften/anzeige/index_html?band=10-sitz/1896-1&seite:int=81) (11. 03. 2019). Die vierte Abteilung hat schließlich nicht Max Heinze, sondern Paul Menzer geleitet. Heinze hat die »Logik« in Band IX herausgegeben.

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gabe« benannt wird, die »dadurch eine Ehrenschuld der Nation gegenüber ihrem grossen Philosophen abtragen« 469 will. In diesem werden der Aufbau der Edition sowie geplante Arbeitsschritte beschrieben: Die Arbeiten an Sprache, Orthographie und Interpunktion sind in die Hände von Ewald Frey als germanistischem Mitarbeiter gegeben worden. Die Kant-Kommission will die »Buntscheckigkeit der alten Drucke« durch Modernisierung eindämmen. Frey soll die Orthographie durch die Anwendung von Johann Christian August Heyses Grammatik normalisieren – diejenige Schreibung, die bis 1880 in preußischen Schulen gelehrt wurde. Mit der Interpunktion soll ebenso verfahren werden. Der jeweilige Fachherausgeber bestimmt die zugrundeliegende Ausgabe für den Druck. Daran schließen sich die Arbeitsschritte der »Reinigung des Textes«, die Erstellung des Lesartenverzeichnisses, die Formulierung der Einleitung sowie die Erstellung der sachlichen Erläuterungen an. Diese sollen eine »Sicherung der Richtigkeit des Textes« gewährleisten. Das Manuskript wird der Kant-Kommission vorgelegt, die es nochmals Frey zur Durchsicht überlässt. Dieser gibt es in den Druck und erhält im Anschluss die Korrekturbögen mit Druckvorlage zurück. »Zum Mitlesen der Correktur- und Revisionsbogen ist ferner Dr. Menzer der Ausgabe verpflichtet worden«. Anschließend erhält der Fachherausgeber das Manuskript zurück und schickt es nach erfolgter Prüfung an Menzer. Der Herausgeber wählt die Originalausgabe als Textgrundlage. Falls diese nicht erreichbar ist, soll er die zweite Hartenstein’sche Edition benutzen, »in welcher der nach einer zu entleihenden Originalausgabe hergestellte Text hineincorrigiert wird«. Der Aufruf benennt den Aufbau der Bände, liefert hierzu jedoch keine Begründung. Bereits im Jahr 1896 sucht Dilthey Rat bei Vaihinger bezüglich Anordnungsfragen der Werke Kants. »Giebt man die Möglichkeit der Durchführung einer systematischen Anordnung bis in die einzelnen Abhandlungen auf, so bleibt […] [die] sachliche Anordnung und in den einzelnen Klassen [die] chronologische Folge« 470. Absehen muss Dilthey von der Systematik, die er für »die eigentliche Kantsche« hält: »1) Drei Kritiken mit Zubehör, 2) Metaphysik der Natur und 469 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1900–1912), PAW II-VIII-155. Alle folgenden Angaben entnimmt die Verfasserin dieser Quelle. 470 Brief Diltheys an Vaihinger vom 23. 11. 1896, in: WDB III, S. 93. Dilthey bezieht sich in dem Brief auf ein Verzeichnis, das jedoch nicht überliefert ist.

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der Sitten, 3) alles darauf Gebaute.« Dilthey sieht sich als Leiter der AA in der Pflicht, Kants Testament zu vollstrecken. Seine favorisierte Systematik würde die drei Kritiken zum Fundament eines wieder zu errichtenden kantischen Systems machen. Da dies in einer Edition jedoch nicht darstellbar wäre, muss er auf eine andere Anordnung ausweichen. Dilthey unterstellt Kant, dass dieser im dritten Teil nicht nach einem Plan arbeitete. Er gab Anwendungen, wie die ›Religion innerhalb der Grenzen‹, ›Zum ewigen Frieden‹, Pädagogik, und man kann sehen, dass vor ihm ein descriptiver und entwicklungsgeschichtlicher Zusammengang stand, der von der Naturgeschichte des Himmels bis zur Philosophie der Geschichte reicht und einen hypothetischen Charakter hat […]. Doch in einer Edition lässt sich dieser dritte Teil nicht herstellen 471.

Auch Kuno Fischer konsultiert Dilthey in Bezug auf die Entscheidung der chronologischen oder systematischen Anordnung. Seinen dritten Punkt modifiziert er in diesem Brief zu den »hauptsächlichsten darauf gegründeten Anwendungen, den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen, in welchem Kant durch Hypothesen bis zur Philosophie der Geschichte fortschritt« 472. Anfang des Jahres 1897 will Dilthey seinen Schüler Kurd Laßwitz für die Edition der sogenannten »Vorkritischen Schriften« gewinnen. Die »Naturgeschichte des Himmels und einige mit ihr verwandter Abhandlungen« soll er nicht übernehmen, »da diese von einem Astronomen bearbeitet werden sollen.« Dilthey erläutert den Beschluss der Kommission, dass »ein Germanist jeden Bogen zuerst auf das Orthographische und Grammatische lesen soll und der Herausgeber den in dieser Beziehung völlig fertig gestellten Bogen empfängt und alsdann nur mit dem, was der Inhalt hinsichtlich der Interpunktion erfordert, und mit der eigentlichen Emendation zu thun hat« 473. Laßwitz übernimmt die editorische Tätigkeit der vorkritischen Schriften, sagt jedoch 1901 die Bearbeitung der Bände II und IV ab: »Sie werden meinen, die Arbeit den Kantischen Text kritisch 471 Brief Diltheys an Vaihinger vom 23. 11. 1896, in: WDB III, S. 94–95. Vaihinger scheint Diltheys Argumentation des »descriptiven und entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhangs« nicht zu teilen. Im Originalbrief findet sich hinter diesen Worten ein Fragezeichen. 472 Brief Diltheys an Fischer vom 23. 11. 1896, in: WDB III, S. 92. 473 Brief Diltheys an Laßwitz vom 24. 02. 1897, in: WDB III, S. 110. Die astronomischen Schriften werden von dem Königsberger Astronomen und Mathematiker Johannes Rahts bearbeitet. Brief Diltheys an Laßwitz vom 10. 03. 1897, in: WDB III, S. 119.

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herzustellen, sei objektiv für die Wissenschaft von größerem Werte, als eigene systematische Produktion. Das bestreite ich nicht. Aber das können andere besser als ich […]. Die philologische Arbeit […] ist mir, je älter ich werde, um so unliebsamer; sie ist überhaupt nicht mein Feld, und nach der trockenen Schularbeit macht sie mich doppelt nervös« 474. Dadurch gerät Dilthey in eine Notlage, jedoch versucht er, Laßwitz’ Wunsch nachzukommen und ihn von der Bearbeitung des Bandes IV zu entbinden 475. Laßwitz erinnert in seinem Antwortbrief an seine gewollte, aber von Seiten der Akademie nicht genehmigte Streichung einer Vertragsklausel: Statt »übernimmt die Verpflichtung« sollte die Akademie »wird sich bemühen« einsetzen und die Beding[un]g der rechtzeitigen Abgabe meiner Arbeit […] ›vorausgesetzt, daß der bereits gram[matisch] u orth[ographisch] richtig gestellte Text rechtzeitig geliefert wird‹. Die Ak[ademie] hat das abgelehnt, weil solche Abmachung ›wohl im Verkehr zwischen vorsichtigen Geschäftsleuten, aber nicht im Verkehr mit einem solchen Unternehmen, das so ganz auf Vertrauen gegründet sei, erforderlich sein könne‹ 476.

An dieser Stelle tritt die Akademie als auftraggebende Institution in Erscheinung, die alle Verträge mit den Editoren geschlossen hat. Diese enthalten nur die rudimentärsten Informationen zur Bezahlung pro Band und strikte Anweisungen, dass alle Vorarbeiten für die Edition in die Akademie gegeben werden müssen. Laßwitz’ Forderung offenbart eine Diskrepanz zwischen konkreter Editionstätigkeit und der finanzierenden Institution im Hintergrund. Ein Interesse an der Editionspraxis oder an Kompromissen gab es von Seiten der Akademie nicht. Ihr geht es um eine zeitnahe Umsetzung der Gesamtausgabe. 1897 wird in einer Sitzung der Akademie bekanntgegeben, dass man dem »Hauptzweck der Ausgabe«, die »geistigen Hinterlassenschaften Kant’s […] vollständig und in zuverlässigem Abdruck darzubieten«, durch die Einsendung kantischer Aufzeichnungen, Briefe und Vorlesungsnachschriften durch Privatpersonen sowie Bibliotheken ein Stück näher gekommen sei. In dem Brief von Menzer an die Besitzer kantischer Briefe betont er das nationale Unternehmen sowie die Liberalität anderer Privatleute, die bereits ihre Kantbriefe der 474 475 476

Brief Laßwitz’ an Dilthey vom 28. 11. 1901, in: WDB III, S. 305–306. Brief Diltheys an Laßwitz vom 30. 11. 1901, in: WDB III, S. 307. Brief Laßwitz’ an Dilthey vom 03. 12. 1901, in: WDB III, S. 308.

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Akademie zur Verfügung gestellt haben 477. Zudem wird publik, dass Erich Adickes die handschriftliche Abteilung übernimmt und Erich Schmidt in die Kommission eingetreten ist 478. 1897 überweist die Akademie der Kant-Kommission »25000 Mark« 479 für die Editionsarbeit. War Dilthey noch knapp zwei Jahre zuvor euphorisch bezüglich des Voranschreitens des Unternehmens und seiner Rolle als »Regisseur«, der im Hintergrund agieren könne, schreibt er sich nun ein anderes Aufgabengebiet zu: »In Sachen des heiligen Kant lebe ich wie ein Theaterdirektor dessen Truppe schwer in seinen ästhetischen Grundsätzen zu erhalten ist: jeder will eine chargirte Charakterrolle spielen. Ich hoffe aber doch das Ensemble aufrecht zu erhalten« 480. Die »Truppe« scheint sich nicht vollständig den Regieanweisungen beugen zu wollen. 1898 möchte Dilthey Paulsen für die Mitarbeit an der Werkabteilung gewinnen, da Sie nun so ganz in Kant in letzten Jahren gelebt haben u. Leben […]. Zu vergeben sind noch die Religion innerhalb der Gränzen, der Streit der Fakultäten u. die kleine Pädagogik. Die Religion ist deßhalb immer noch unvergeben, weil das Biographische was daranhängt nur von einem der es ganz durchgearbeitet hat gehörig berücksichtigt werden kann 481.

Diltheys Worte scheinen auf Paulsen keinen großen Eindruck hinterlassen zu haben. Der Neukantianer Windelband, der, anders als Paulsen, seine Mitarbeit zugesichert hat, äußert in einem Brief an Dilthey angesichts der anstehenden philologischen Tätigkeit sein Unbehagen: Mich selbst bangt einigermaßen vor der Ausgabe der ›Urteilskraft‹. Es ist eigentlich so garnicht meine Art und Arbeit. Ich bin viel zu wenig Philologe. 477 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1894–1899), PAW II-VIII-153. 478 Sitzungsberichte 1897, S. 48–49 (http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/ digitalequellen/schriften/anzeige/index_html?band=10-sitz/1897-1&seite:int=61) (11. 03. 2019). 479 Sitzungsberichte 1897, S. 624. (http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digi talequellen/schriften/anzeige/index_html?band=10-sitz/1897-1&seite:int=642) (11. 03. 2019). 480 Brief Diltheys an von Wartenburg Mai 1897, in: WDB III, S. 134. »Chargirte« wird hier im Sinne von »herausragend« verwendet. WDB III, S. 135. 481 Brief Diltheys an Paulsen vom 06. 03. 1898, in: WDB III, S. 180. Paulsen gibt keine Schrift innerhalb der AA heraus. Die Religion bearbeitet der evangelische Theologe Georg Wobbermin, den Streit der Fakultäten gibt Karl Vorländer heraus und die Pädagogik Paul Natorp.

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Nun hagelt es ja auch noch neue Ausgaben. Ich denke es wird doch nichts dagegen einzuwenden sein, wenn ich mir das Technische, Variantenverzeichnisse etc. von irgend einem jüngeren, solcher Technik Gewachsenen machen lasse und dann das Ganze von mir aus durch- und überarbeite. Wann meinen Sie denn, daß man an eines der späteren Werke, wie die ›Urteilskraft‹ wird gehen können? Die Briefe sind ja nun da, sie bringen für meine specielle Aufgabe nicht viel, aber die Vorlesungen und der Nachlaß sollten doch wohl in Betracht gezogen werden 482.

Bevor er seine editorische Arbeit beginnt, würde Windelband gerne den aufbereiteten handschriftlichen Nachlass sowie die Vorlesungsnachschriften der AA studieren. Dahinter steht das Ziel, die Werkgenese umfassend verstehen zu können. Damit steht er Diltheys hermeneutischem Verständnis nahe, das Einzelne aus dem Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen verstehen zu wollen. Die Abteilungen III und IV sind jedoch Jahre nach der Veröffentlichung der KdU herausgegeben worden, so dass Windelband ohne dieses Material die editorische Arbeit durchführen musste. Inwieweit er auf die Hilfe eines »jüngeren, solcher Technik gewachsenen« zurückgreifen konnte, bleibt Spekulation. Aus dem Vertrag mit Adickes geht hervor, dass ihm »die Hinzuziehung von geeigneten Hilfskräften auf eigene Kosten und unter seiner Verantwortlichkeit gestattet wird« 483. In dem Vertrag mit Windelband findet sich dieser Zusatz zwar nicht, jedoch liegt angesichts des hohen Arbeitsaufwands die Vermutung nahe, dass mehrere Personen mitgearbeitet haben. Aus einem Brief von Menzer an Diels aus dem Jahr 1913 erfahren wir von Frau Rose Burger, die »in ausserordentlich fleissiger Arbeit das Manuskript zu den 3 Bänden des Briefwechsels (Anmerkungen) hergestellt« hat. »Diese Arbeit hat Frl. Burger als Vertreterin des Herrn Oberbibliothekar Dr. Johannes Reinke (Göttingen) geleistet. Mit ihm hatten wir einen Vertrag abgeschlossen und das Honorar festgesetzt. Er hat Frl. Burger, da er selbst sehr wenig leisten konnte, pekuniär unterstützt, um die Arbeit so zu fördern.« Diese Unterstützung will Reinke Burger entziehen. Menzer betont im Weiteren sein »grosses Interesse daran eine in diesen Dingen so bewanderte Hilfskraft uns noch für einige Zeit zu sichern« 484. Menzer will eine Geldbewilligung von Seiten der Brief Windelbands an Dilthey vom 16. 07. 1902, in: WDB III, S. 328. Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 153 (1894–1899). 484 Brief Menzers an Diels vom 01. 05. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). 482 483

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Akademie erreichen, auch wenn Dilthey mit der Begründung abgelehnt hat, »dass dann auch andere Herausgeber mit solchen Forderungen kommen würden« 485. Am 21. 02. 1897 richtet die Kant-Kommission an die Akademie die Bitte, 25000 Mark in das Projekt zu investieren. Die Kommission will vom Geld der Heckmann-Wentzel-Stiftung Abstand nehmen 486. Kant wird in diesem Zusammenhang als Naturwissenschaftler in Anspruch genommen: »Gehört doch dieser Denker nach seinen wissenschaftlichen Grundlagen, nach seinen Leistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft selber, ja nach der ganzen Richtung und den letzten Zielen seiner Philosophie ebensosehr der mathematisch-physikalischen Klasse als der unseren an« 487. Kant wird je nach Bedürfnisund Interessenlage mal als bedeutendster Erkenntnistheoretiker, mal als Naturwissenschaftler strategisch eingesetzt. Am 27. Juni 1897 informiert der Sekretär der AA Menzer in einem Brief an Adickes über die Beschlüsse der Kantkommission zur Textkonstitution: – – –

– –

Selbstverständliche Ergänzungen abgekürzter Worte werden nicht in den Anmerkungen gegeben. Angestrichene Worte sollen nur dann in eckigen Klammern gegeben werden, wenn sie wertvolle Varianten sind. Änderungen des Herausgebers an der von Kant gesetzten Interpunktion soll nur dann angegeben werden, wenn in Ihnen eine Interpretation enthalten ist, welche zweifelhaft erscheinen kann. Unsichere Lesarten sollen nicht durch Schwabacher Lettern, sondern durch Zusätze in den Anmerkungen kenntlich gemacht werden. Als Orthographie für die Anmerkungen des Herausgebers soll die von der Akademie in ihren Schriften angewandte gebraucht werden. Fer-

485 Brief Menzers an Diels vom 01. 05. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). Frau Burger erhält nach Fertigstellung der gesamten Arbeit 500 Mark. Brief Diels’ an Menzer vom 16. 06. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). 486 1894 gründete Maria Elisabeth Wentzel (geb. Heckmann) die Stiftung. Die Tochter des Kupfer-Großindustriellen Carl-Justus Heckmann investiert ihr Millionenerbe von 1,5 Millionen Mark in die Akademie. Die Stiftung war um die Jahrhundertwende eine bedeutende Finanzquelle für wissenschaftliche Großprojekte (https://www.bbaw. de/die-akademie/foerdereinrichtungen/hermann-und-elise-geborene-heckmannwentzel-stiftung/geschichte) (04. 10. 21). Warum die AA auf dieses Geld nicht zurückgreifen will, ist aus der Archivakte nicht zu ermitteln. 487 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 153 (1894–1899).

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ner erlaube ich mir Ihnen mitzuteilen, dass an dem Beschluss, die ganze Ausgabe in Fraktur zu drucken festgehalten wurde. Eine Discussion fand hierüber nicht statt 488.

Nachdem die Sammlung kantischer Handschriften erfolgreich war, stehen für die Kant-Kommission sowie die Leiter der einzelnen Abteilungen Fragen an, die die Form der Edition betreffen. 1898 berichtet Dilthey der Akademie, dass die Ausgabe »in vier Abtheilungen zerfallen« werde. So beinhaltete der ursprüngliche Plan, den handschriftlichen Nachlass in der Abteilung vor den Briefen erscheinen zu lassen: Die erste wird in etwa neun Bänden die Werke enthalten. In der zweiten wird zum ersten Male vollständig der handschriftliche Nachlass Kant’s, geordnet nach sachlichen Gesichtspunkten, in fünf bis sechs Bänden veröffentlich werden. Die dritte Abtheilung wird den Briefwechsel in zwei Bänden umfassen. In der vierten wird das Wissenswürdige aus Kant’s Vorlesungen in etwa vier Bänden nach den zahlreichen vorhandenen Nachschriften mitgetheilt werden. Umfassende Vorarbeiten, welche die Behandlung des Textes in Rücksicht auf Orthographie und Interpunction betreffen, sind im Gange 489.

Weiterhin werden erste Editoren genannt. So stehen die Herausgeber der drei Kritiken, B. Erdmann, Natorp und Windelband, zu diesem Zeitpunkt bereits fest. 1899 berichtet Dilthey über die weiteren Verträge mit Editoren der Werkabteilung. Interessant ist hierbei die Nennung von Karl Kehrbach, der von 1877 bis 1884 die Hauptwerke Kants in der »Universalbibliothek« bei Reclam herausgegeben hat. Laut Sitzungsbericht war er für die Schrift Träume eines Geistersehers in Band II vorgesehen. Brief Menzers an Adickes vom 27. 06. 1897, in: WDB III, S. 145–146. Im Jahr 1915 erfragt Franz Riedinger aus Jena brieflich bei Menzer die Ergebnisse der Umfrage, die von der Akademie vor dem Beginn der AA durchgeführt worden ist. Diese betrifft die Entscheidung, ob deutsch oder lateinische Typen gedruckt werden sollen. Vertreter des Auslands wurden hierzu auch befragt. »Das Ergebnis war eine grössere Zahl von Stimmen für die deutschen Lettern. Das Ausland stand der Frage ziemlich gleichgiltig gegenüber […]. Die eingegangenen Antworten lagen bei den Papieren, die in Diltheys Wohnung aufbewahrt wurden. Wo diese geblieben sind, weiss ich nicht.« Brief Menzers an Riedinger vom 13. 10. 1915, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1913–1915), PAW II-VIII-156. 489 Sitzungsberichte 1898, S. 82. (http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digi talequellen/schriften/anzeige/index_html?band=10-sitz/1898-1&seite:int=95) (11. 03. 2019). 488

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In einem vertraulichen und persönlichen Brief an Hermann Diels, seit 1895 Sekretar der philosophisch-historischen Klasse der Akademie, bekundet Dilthey seine Freude über die finanzielle Klarheit in Bezug auf Adickes. Optimistisch schätzt Dilthey das Ende des Projektes ein – die Edition sei »in etwa 6 Jahren fertig«. Er gibt seine Einwände zu dem Vertragsentwurf 490 zwischen der Akademie und Adickes zu benken. Aus Diltheys Anmerkungen wird deutlich, dass er skeptisch in Bezug auf die »unbedingte Selbständigkeit des Bearbeiters außerhalb der ›das Äußere der Publikation‹ betreffenden Sphäre ist«. Mit den Herausgebern der »Vorlesungen« muss Einverständniß bis auf einen gewissen Grad hergestellt werde […], event [uell] durch Vermittlung der Commission […]. Unmöglich darf eine Discrepanz zwischen den einzelnen Theilen des Unternehmens, insbesondre nicht zwischen den Ergebnissen der Edition der Vorlesungen und den Aufzeichnungen in den Hauptpunkten bestehen 491.

Hier wird Diltheys Motiv deutlich, einen geglätteten, objektiven Kant bieten zu wollen, an der die Rezipienten keinen Anstoß nehmen können. So sollen die Editoren ihre Expertise »im Inneren« gar nicht einbringen. Eigenständige Sonderwege will Dilthey unterbinden 492. Der seit dem Tod Georg von Gizyckis 1895 vakante Philosophielehrstuhl soll Dilthey zufolge unter keinen Umständen von Adickes besetzt werden. An Diels schreibt er, er müsse sich aufs Entschiedenste dagegen aussprechen daß Adickes sich habilitire und in Berlin ein Extraordinariat anstrebe. Es liegt das nicht im Interesse der Universität und ist gegen das Interesse der Kantunternehmung […]. Was er lesen würde, ist bei uns reichlichst vertreten: Ethik, Kant, neuere Philos [ophie] etc. Wir leiden hierin wie in der Psychologie an dem Zuviel. Für die Kantunternehmung ist es aber von der größten Wichtigkeit daß er zunächst ruhig in Kiel ihr lebe. Die Aufgabe die er hat kann sehr rasch oder sie kann sehr gründlich gemacht werden […]. Ich habe mich mit meiner ganzen Person dafür gleichsam verbürgt daß ihm die Akademie über das Übliche hinaus die Mittel gab, sie sehr gründlich abzumachen […]. Wie er nun ausdrücklich erklärte, daß ihm diese Arbeit ein Mittel in erster Linie für seine Laufbahn sei, würde eine Umsiedlung gleichsam die große Bühne

Dieser ist nicht überliefert. Brief Diltheys an Diels vom 27. 01. 1896, in: WDB III, S. 10–11. 492 Dass ihm dies nicht gelungen ist, zeigt sich an Natorps Bearbeitung des V. Bandes, der, entgegen der editorischen Richtlinien, Literaturhinweise bietet. Siehe Kapitel 3.3.2. 490 491

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des Berliner Privatdocenten, die eröffneten Aussichten, die ruhige Absolvirung seiner Aufgabe in Frage stellen 493.

Interessant ist an diesem Passus zum einen, dass Dilthey die editorische Arbeit nicht als ein Mittel zur Beförderung der akademischen Karriere ansieht. Adickes soll im fernen Kiel seinen Aufgaben nachgehen und nicht durch die Arbeit am Berliner Lehrstuhl abgelenkt werden. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass Dilthey ein Übermaß an kantischen Lehrinhalten an der Berliner Universität konstatiert. Wenn man davon ausgeht, dass editorische Tätigkeit auch einen Aufschwung für den betreffenden Philosophen innerhalb der akademischen Lehre erzeugen könnte, dann wäre es widersprüchlich, das Projekt einer Gesamtausgabe von Kants Schriften zu verfolgen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Dilthey zwischen editorischer Tätigkeit und philosophischer Arbeit trennt. Erstere ist lediglich die Grundlage für letztere und bedarf keiner Verstrickung mit philosophischer Gedankenarbeit. Zudem klingt an, dass Dilthey sich von der Edition keine verstärkte Beschäftigung mit Kants Texten innerhalb der akademischen Lehre wünscht, sondern sich eine nationale Wirkung erhofft. Zwischen Adickes und Dilthey hat sich im Zeitraum November 1904 bis Februar 1905 eine Diskussion über die Anordnung der handschriftlichen Erzeugnisse Kants entwickelt. Adickes hält alle »Arbeiten der 70er Jahre für Vorarbeiten« der KrV: »Es ist unmöglich, hier eine prinzipielle Grenze zu setzen; man muss von vornherein verzichten, aus dem Material der 70er Jahre für den 6. Band eine Auswahl zu treffen. Das Interesse des inneren Zusammenhanges erfordert hier, dass man das ganze Material der 70er Jahre chronologisch nach einander abdruckt« 494. Dilthey ist sich mit Adickes darüber einig, dass jeder Herausgeber selber den Inbegriff der Gründe für die Anordnung überblickt, da die Masse der Manuskripte selbst hier die Entscheidungsgründe in erster Linie in sich enthält: aber da doch unter der Verantwortlichkeit der Commission die Ausgabe stattfindet, ist es doch zweckmäßig, daß vor Ihrer Übergabe der Manuskripte, solange Ihre Arbeit noch im Fluß ist, eine Verständigung stattfindet […]. So viel ich sehe, handelt es sich darum, eine Vermittlung Brief Diltheys an Diels Ende März 1896, in: WDB III, S. 45. Brief Diltheys an Adickes vom 30. 11. 1904, in: WDB III, S. 441. Die Diskussion erstreckt sich in der Hauptsache auf Fragen zur Einordnung von Kants Anthropologie. Siehe WDB III, S. 436–439. 493 494

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zu finden, welche das in den Phasen Zusammengehörige zusammenzuhalten und doch eine Anordnung im Sinne Kants zu geben ermöglicht. Jede solche Anordnung von B[an]d I-V kann sich in den Hauptabteilungen nur an die spätere Kantische Anordnung halten 495.

Dilthey ist sich jedoch nicht im Klaren darüber, welche Begründung hinter Adickes Einteilung steht. Er bittet um Klärung in dieser Frage: Die Einteilung in gleichmäßige Bände ist ja sicher wünschenswert, wenn wir sie aber bei der sachlichen Anordnung mitspielen ließen, so würden wir der Kritik gegenüber schweren Stand haben. Und da diese Bände ja in erster Linie für in Kants Werken Orientierte bestimmt sind, so würden diese sich ungern in eine aus Kant selbst nicht begründbare Einteilung finden 496.

In Adickes’ Antwort begründet er seine Anordnung. Kants Einteilung ist für ihn »so künstlich […], dass schon aus diesem Grunde ein Anschluss an sie die Anordnung nur unübersichtlich machen würde« 497. Dilthey kann die Begründung der künstlichen Anordnung nicht nachvollziehen. Er will sich mit Adickes einigen und auf keinen Fall weitere Kantkenner, vor allem nicht B. Erdmann, in dieser Frage heranziehen: Erstens ich kann die Einteilung, in welcher Kant sein System entwickelt von Logik und Transzendentalphilosophie aufwärts in den Hauptzügen nicht künstlich finden. Die Anordnung Logik – Transzendentalphilosophie als die Methode, das Apriori zum Bewußtsein zu bringen und dann Metaphysik der Natur und der Sitten als Darlegung dieses Apriori ist in sich notwendig und natürlich und so fürchte ich auch nicht, daß irgend ein mit Kant einigermaßen Vertrauter – und an diese ist ja vornehmlich in diesem schwierigen Studium des Nachlasses zu denken – an den Nachlaß heranträte ohne die Kenntnis dieser Anordnung […]. Wollen wir eben Kant geben und nur ihn, dann können wir unmöglich dies in einer Einteilung thun, die nicht Kantisch ist 498.

Hier verfestigt sich das Bild, dass sich die AA an Spezialisten richtet, die sich in Kants System auskennen und mit Detailfragen an die

495 496 497 498

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Brief Diltheys an Adickes vom 30. 11. 1904, in: WDB III, S. 436. Brief Diltheys an Adickes vom 30. 11. 1904, in: WDB III, S. 438. Brief Adickes’ an Dilthey vom 21. 12. 1904, in: WDB III, S. 443. Brief Diltheys an Adickes vom 31. 12. 1904, in: WDB III, S. 451.

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Handschriften herantreten 499. Adickes und Dilthey ringen weiter um eine Verständigung. Für Adickes besteht die Hauptdivergenz darin, dass Dilthey die Handschriften vom späten Kant aus betrachtet, wohingegen er diese in ihrer Genese auffasst: »Das ist doch auf jeden Fall gegen den Sinn aller Kantischen Einteilungen, die Metaphys[ik] u. eigentliche Philosophie überhaupt ganz auf das Apriorische [zu] beschränken. Dies Letztere ist aber nicht der Fall bei dem Kant vor der Krit[ik] d[er] rein[en] Vern[unft] […]. Man müsste ja doch z. B. in Physik – Chemie eigentlich das Apriorische vom Empirischen sondern, letzteres ganz voranschicken, jenes – wenn man etwa der Architektonik in der Krit[ik] d[er] r[einen] V[ernunft] folgen wollte – zwischen Ontologie u. rationaler Psychologie« 500. Dilthey findet, dass Adickes der Anthropologie zu viel Raum gibt. Er will sie stattdessen nicht von der Naturwissenschaft trennen: Kant hatte ja selbstverständlich von Anfang an nebeneinander die verschiedenen Disziplinen im Kopfe und eben das Verhältnis des Menschen als eines Naturwesens und des Menschen im späteren transzendentalen Verstande bildete für seine Weltanschauung (nicht natürlich für seine Transzendentalphilosophie) das Problem 501.

Dilthey will ein einheitliches Auftreten der Edition erreichen und befragt Heinze in der Sache. Er hofft, »daß mit dem Urteil Heinzes Sie sich zufrieden geben könnten, und zwar vornehmlich, weil die Befragung anderer Kantautoritäten Ihnen nicht genehm ist« 502. Im Zweifelsfall entscheidet die Kant-Kommission. Aus Adickes’ Antwort wird deutlich, dass er mit der Voranstellung der Anthropologie im Grunde nicht einverstanden ist, jedoch »braucht von abweichenden Meinungen in der Edition natürlich nicht die Rede zu sein« 503. Am 15. Februar 1911 teilt Dilthey der Kommission mit, dass er seit dem letzten Sommer aus gesundheitlichen Gründen die Abgabe der Leitung der AA anstrebt. Als Stellvertreter schlägt er Menzer vor. Stumpf sei zu beschäftigt, um die Aufgabe übernehmen zu können 504. 499 Dieser Eindruck deckt sich mit einer Aussage von Natorp, der am 18. 11. 1903 an Dilthey schreibt: »So wird man einen lesbaren Text zwar nicht erhalten, aber darauf wird ja wohl überhaupt verzichtet«, in: WDB III, S. 373. 500 Brief Adickes’ an Dilthey vom 07. 01. 1905, in: WDB III, S. 455. 501 Brief Diltheys an Adickes vom 10. 01. 1905, in: WDB III, S. 459. 502 Brief Diltheys an Adickes vom 24. 01. 1905, in: WDB III, S. 462. Die Antwort von Heinze ist nicht überliefert. 503 Brief Adickes’ an Dilthey vom 05. 02. 1905, in: WDB III, S. 465. 504 Brief Diltheys an die Kant-Kommission vom 15. 02. 1911, Archiv der BBAW,

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Nach Diltheys Tod im selben Jahr übernimmt Erdmann die Leitung der AA. Die dritte Abteilung der AA ist mit zwölf Mark pro Band teurer als die der anderen. Adickes empört sich, dass dieser Umstand »entschieden seine Abteilung tot mache« 505. Menzer befürchtet, dass der hohe Preis zu einer mangelhaften Verbreitung führen könnte. Der Verleger Reimer übermittelt zwischen den Jahren 1916 und 1919 eine Absatzstatistik der Bände I bis V der Werkabteilung der AA 506: 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 I

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Die Bände sind jeweils in einer ersten Auflage von 700 Stück erschienen. In der zweiten Auflage 1911 wurde die Stückzahl auf 1000 erhöht. Auffällig ist für die KrV eine hohe Verkaufszahl im Erscheinungsjahr, die im darauffolgenden stark einbricht und sich um einen Wert zwischen 40 und 50 in den Folgejahren einpendelt. Die Planungsphase der Edition ist geprägt von der Vorstellung der Umsetzung des Autorwillens sowie der Abtragung der nationalen Ehrenschuld gegenüber Kant. Dilthey nährt die These vom Verfall der geistigen Kräfte Kants im Alter und sieht sich in der Rolle, Kants imaginiertes Testament umzusetzen 507. Durch die vollständige und chronologische Anordnung soll die Entwicklungsgeschichte des kantischen Denkens verstehbar werden. Die Textkonstitution der AA ist nicht unumstritten, jedoch hat schlussendlich die Kant-Kommission Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1900–1912), PAW II-VIII-155. Den Vorsitz der Kantkommission übernimmt Stumpf erst 1921. 505 Brief Menzers an Dilthey vom 11. 06. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1900–1912), PAW II-VIII-155. 506 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1916–1919), PAW II-VIII-157. 507 Maja Schepelmann geht dieser These nach in ihrem Buch Der senile Kant? Zur Widerlegung einer populären These, Paderborn 2018. Sie erklärt die Schlussfolgerung von körperlichen Schwächen auf eben solche des Geistes durch die »naturwissenschaftlich-positivistische Explikation des Denkens« zu der Zeit. Schepelmann 2018, S. 16.

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die Entscheidungsbefugnis. Der Appell an Archive, Bibliotheken und Privatpersonen, kantische Handschriften der Akademie im Namen des Ehrgefühls zukommen zu lassen, bezeugt die nationale Aufgabe, die durch die editorische Tätigkeit erfüllt werden soll. Eigene Archivreisen der Editoren fanden nicht statt. Während der Planungsphase der Edition war Dilthey vor allem mit der Verhandlung mit potentiellen Editoren beschäftigt; in der Umsetzungsphase waren es Fragen der Anordnung der Edition, die ihn beschäftigten.

3.3.2 Editorische Theorie und Praxis um 1900 Innerhalb des neukantianischen Diskurses unterstellen sich Philosophen gegenseitig, Kant entweder nur dem »Buchstaben« oder nur dem »Geist« nach zu lesen. Die Kantphilologie mit ihrer akribischen Behandlung von Kants Texten wurde von letzteren verachtet. Der Vorwurf der unwissenschaftlichen Behandlung der kantischen Philosophie und damit zugleich der Geringschätzung ihrer Bedeutung für die deutsche Nation steht dabei im Raum. Die Befürworter der Kantphilologie, wie bspw. Ernst von Aster, hofften darauf, dass die AA die Kantphilologie zum Abschluss bringen werde. Durch Modernisierung der Orthographie und der chronologischen Ordnung von Kants Texten sehnt von Aster ein Ende der philologischen Streitigkeiten herbei. Die AA leistet dies seiner Ansicht zufolge durch die Herstellung eines reinen, besten Textes. 1904 erscheint von ihm ein Artikel in den KS, in dem er den Zweck der Ausgabe als »Verwandlung des kantischen Lebenswerks in ein unzerstörbares geistiges Kapital« 508 bezeichnet. Die AA ediert in der Regel nach dem Prinzip letzter Hand. Dilthey sieht dabei die »Sophienausgabe« von Goethes Schriften als Vorbild an. In einem Brief an seinen philosophischen Freund den Grafen Paul York von Wartenburg schreibt er Ende 1893: »Der Plan der kritischen Kantausgabe – ein Gegenstück zu der Goetheausgabe, aber von einer ganz andren Fruchtbarkeit wie ich hoffe, ist von mir in einem ganzen Buch von Denkschrift dem Ministerium übergeben, findet Beifall und seine Ausführung ist nun wol gesichert. Damit kommt dann

508 Ernst von Aster: »Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band«, in: KS 9, 1904, S. 321–341, S. 322.

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die lange lange Arbeit der Kantphilologie zu ihrer wahrhaften nutzbringenden Bestimmung und abschließenden Benutzung 509.

Dem Zeitgeist des Entwicklungsgedankens gemäß verfährt die Ausgabe nach der Vorstellung eines organisch gewachsenen Gesamtwerks eines Autors. Den Einzelwerken kommt dabei ein besonderer Status zu, da sie die am weitesten entwickelte Form der Gedanken darstellen. Die handschriftlichen Notizen Kants sollen helfen, ihre Genese nachverfolgen zu können. Die AA bezeichnet alle Texte, die vor der KrV entstanden sind, als »Vorkritische Schriften«. Durch diese editorische Entscheidung wird suggeriert, dass Kant jahrelang einzig und allein auf die KrV hingearbeitet und sich dem Thema der menschlichen Erkenntnisfähigkeit ausschließlich gewidmet habe. Dadurch wird Kant als Erkenntnistheoretiker lanciert und die KrV als Höhepunkt seines Schaffens positioniert. Die AA druckt die erste und zweite Auflage der KrV ab. Die Texte erscheinen in verschiedenen Bänden: Band IV enthält die erste Auflage von 1781 und erscheint im Jahr 1903. Zudem enthält dieser noch die Schriften Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Im Jahr 1904 erscheint Band III mit der zweiten Auflage aus dem Jahr 1787. Der Herausgeber beider Bände ist Benno Erdmann. Innerhalb der Kantbewegung gibt es eine Debatte darüber, welche Auflage der KrV den echten, den wahren Kant verkörpere: Ob es nicht allein die erste Auflage sein kann, da Kant in der zweiten vor seinen eigenen Erkenntnissen zurückschreckte? Die AA entgeht der Entscheidung für oder gegen eine der beiden Auflagen, indem sie beide Texte in separaten Bänden abdruckt. Dilthey spricht der ersten Auflage eine eigenständige Bedeutung zu: Es muss nun aber andererseits die historische Bedeutung und der selbständige Werth der ersten Fassung dieses Werkes anerkannt werden. Daher wurde die erste Auflage […] vollständig zum Abdruck gebracht. Die Versuche, sei es auf Grundlage der ersten oder zweiten Ausgabe […] durch Angabe der Abweichungen unter dem Text und in Supplementen dem Leser die beiden Auflagen zugleich zugänglich zu machen, erreichen ihren Zweck nur unvollkommen […]. Und da nun bei dem von uns angewandten Verfahren das Bedürfniss bleibt, das Verhältniss beider Ausgaben dem Leser

509 Brief Diltheys an von Wartenburg Ende 1893, in: WDB II, S. 442. Das »ganze Buch von Denkschrift« ist nicht überliefert.

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kenntlich zu machen, so mussten Verweisungen in Anmerkungen hier ausnahmsweise angewandt werden 510.

Die von Dilthey angesprochene Darstellung der Varianten in Supplementen bieten die Vorgängereditionen von Rosenkranz/Schubert und Hartenstein. Die Edition von Rosenkranz/Schubert legt die erste Auflage der KrV zugrunde und Hartenstein die zweite. Den Lesetext der AA konstituiert Erdmann durch Zugrundelegung der Originalauflage der KrV plus Kollationierung mit den Gesamtausgaben sowie textkritischen Einzeluntersuchungen, deren Emendationsvorschläge bspw. in Zeitschriften wie den KS veröffentlicht wurden. Die Lesarten werden in einem sehr schmalen, positiv lemmatisierten Einzelstellenapparat verzeichnet. Der konstituierte Lesetext steht bei der AA eindeutig im Vordergrund. Die Verwendung der beiden Schrifttypen Fraktur und Antiqua zur Kennzeichnung von Autortext und Herausgebertext findet auch bei der »Sophienausgabe« Goethes Verwendung 511. Diese typographische Entscheidung unterstreicht gemeinsam mit dem editorischen Prinzip der Edition letzter Hand den Entwicklungsgedanken des vollendeten Werkes 512. Erdmann veröffentlicht zudem eine Separatausgabe der KrV, deren erste Auflage 1878 erscheint. Es folgen vier weitere Auflagen in den Jahren 1880, 1884 sowie 1889. Die ersten beiden sowie die dritte und vierte Auflage sind vom Aufbau her identisch. Neu sind ab der dritten Auflage ein weiteres Vorwort sowie ein Bildnis von Kant. Den Text konstituiert Erdmann durch die Anwendung des Prinzips letzter Hand. Er nähert sich der Entscheidung durch die Heranziehung eines internen Kriteriums, um die Frage zu beantworten, welche Schaffensphase Kants dem Leser präsentiert werden soll: Die Antwort hierauf ist zunächst davon abhängig, ob in der einen der beiden Auflagen der unveränderte ›kritische Hauptzweck‹ des Werks reiner hervortrete als in der anderen. Dies ist jedoch […] nicht der Fall. Die urAA, Bd. I, S. 509. Stark hingegen bezeichnet die drucktechnische Gestaltung der Texte der AA als »Pionierleistung«, was für philosophische Editionen sicherlich zutreffend ist. Stark 1993, S. 16. 512 »Der Werktext blieb nun frei von zusätzlichen editorischen Informationen und wirkt dadurch auch in seiner typographischen Präsentation rein, sauber und vollendet.« Rüdiger Nutt-Kofoth: »Typographie als Informationssystem. Zum Layout der neugermanistischen Edition«, in: Text. Kritische Beiträge. Sonderheft Typographie & Layout 2016, S. 349–368, S. 356. 510 511

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sprüngliche Bearbeitung, für welche die Wirklichkeit der Dinge und des Ich an sich selbstverständliche Voraussetzung ist, verdunkelt den kritischen Gegensatz gegen Dogmatismus und Skepticismus durch den anscheinenden Idealismus; die spätere Auflage, die den positiven Zweck des Werks im Vorwort bestimmter betont, schwächt denselben durch den anscheinenden Rationalismus 513.

Dieses Kriterium führt für Erdmann zu keiner Entscheidung. Daher bedient er das externe Kriterium der historischen Wirksamkeit: B ist als Grundtext zu wählen, da diese Auflage von 1788, ein Jahr nach der Erscheinung von B, bis 1838, dem Jahr der Veröffentlichung der Editionen von Rosenkranz/Schubert sowie Hartenstein, ausschließlich rezipiert werden konnten. Beim Vergleich der Vorworte ist ein Wandel hinsichtlich des Selbstverständnisses des Editors auszumachen. So findet 1878 – dem Zeitgeist gemäß – die Pflichterfüllung dem Autor gegenüber Berücksichtigung: Es entsteht daher für den Herausgeber […] die Forderung, ein Kriterium zu suchen, das ihn in den Stand setzt, die sachlichen und methodologischen Verbesserungen von den sachlichen und methodologischen Verschlechterungen zu unterscheiden. Wie aber sollte sich gegenüber einem so complicirten Gedankenapparat und gegenüber so mannigfach zusammenwirkenden psychologischen Motiven ein solches Kriterium aufstellen lassen? Demnach bleibt nur der Ausweg übrig, alle nicht rein sprachlichen Veränderungen von dem Grundtext auszuschliessen. Ein solches Verfahren aber verstösst wiederum offenbar gegen die selbstverständlichsten Pflichten, die ein Herausgeber seinem Autor gegenüber zu erfüllen hat 514.

Im Vorwort zur dritten Auflage sieht Erdmann keinen Anlass, seine Entscheidung für B als Grundtext zu revidieren. Es lässt sich hier jedoch eine veränderte Auffassung hinsichtlich der Aufgaben eines Editors ausmachen. Das Selbstverständnis verschiebt sich von der sprachlichen Modernisierung des Textes hin zu der Aufgabe der Restauration selbiger: »Weitaus den grössten Theil der in den Text ausgenommenen Verbesserungen der früheren Auflagen verdanke ich einer erneuten Revision sowie der weitergehenden Kenntnissnahme von Kants Stilgewohnheiten […]. Sie bestehen vielfach in Wiederherstellungen des ursprünglichen Wortlauts« 515. 513 Benno Erdmann (Hg.): Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1878, S. VIII. 514 Erdmann 1878, S. VII-VIII. 515 Erdmann 1884, S. XII. Damit ist sehr wahrscheinlich Erdmanns Arbeit mit Kants

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Ein Disput mit Kuno Fischer über die Kantphilologie wird nun ebenfalls aufgegriffen. Erdmann stellt sich Fischers Meinung entgegen, die die »›Kantphilologie‹ als eine Kunst Druckfehler nicht bloss zu finden, sondern zu machen« 516 auffasst. Er verteidigt die editorische Arbeit, die zu einer verlässlichen Textgrundlage führt, als Grundlage philosophischen Denkens: Die Herstellung eines sicheren Textes ist im allgemeinen die niedrigste Arbeit der historischen Forschung. Eben deshalb aber bildet sie eine elementare Voraussetzung auch für die Reconstruction der Entwicklungsgeschichte philosophischer Gedanken. Ob man diese Arbeit eine philologische nennen will, thut nichts zur Sache. Ich will daher gegen den Glauben Kuno Fischers, ›freilich braucht man zu einer solchen Arbeit keine Philologie‹, nicht streiten […]. Gegenüber dem Zusatz Kuno Fischers […] ›aber das Kind braucht einen Namen‹, sei nur hervorgehoben, dass der Name Kantphilologie, den ich nie gebraucht habe, lediglich denjenigen bezeichnend erscheinen kann, für welche die philologische Methode nicht die selbstverständliche Grundlage wissenschaftlicher Geschichtsforschung ist 517.

Die Zuschreibung der Positionen innerhalb der Kantbewegung, ihn dem Buchstaben oder dem Geist nach zu lesen, enthält den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Den Vertretern der Kantphilologie wird vorgeworfen, bei der akribischen philologischen Analyse Halt zu machen und die Entstehungsbedingungen der Texte zu missachten. Die Fixierung auf den Buchstaben blende die kritische Grundidee Kants aus. Dilthey will mithilfe der AA die Kantphilologie zum Abschluss bringen. Aufgrund der editorischen Entscheidung, sowohl A als auch B abzudrucken, erweckt die AA den Anschein der Neutralität und Objektivität. Sie schließt die philosophischen Diskurse aus der Edition aus. Erdmanns Selbstverständnis als Editor lässt sich anhand der verschiedenen Auflagen seiner Separatausgabe der KrV verfolgen: In den 1870er Jahren ist auch bei ihm der Autorwille prägend für seine Editionstätigkeit. Innerhalb weniger Jahre hat sich sein Selbstverständnis hin zu dem eines Restaurators verändert. Zudem betont er die Wichtigkeit der Editionspraxis als Grundlagenwissenschaft und steht damit einem modernen Editionsverständnis nahe. Von den anderen Editoren der AA ist von Natorp eine schriftliche Handexemplar der KrV gemeint, von der er berichtet in Nachträge zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Kiel 1881. 516 Erdmann 1884, S. XIII. 517 Erdmann 1884, S. XIII. Kant als Klassiker der Philosophie

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Aussage zu seiner editorischen Arbeit an der KpV überliefert, welche die Uneinigkeit bezüglich des editorischen Handelns zutage fördert. Er schreibt an Dilthey: »Ich bin mehr und mehr gestimmt die Textänderungen aufs äußerliche zu beschränken, weil auch uns klar ist, daß ein Verderben vorliegt, doch in den seltensten Fällen das Wie der Verbesserung allem möglichen Streit der Meinungen entzogen sein. So wird man einen lesbaren Text zwar nicht erhalten, aber darauf wird ja wohl überhaupt verzichtet« 518. Auch wenn er selbst nicht editorisch tätig war: Hatte Dilthey eine Vorstellung von editorischer Arbeit, die sich in seinen philosophischen Schriften finden lässt? Dieser Frage gehen die folgenden drei Kapitel nach.

3.3.3 Wilhelm Dilthey als Philosoph und Leiter der Akademie-Ausgabe 3.3.3.1

Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften: Die Methode des Verstehens

In seinem Aufsatz »Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat« 519 aus dem Jahr 1875 macht Dilthey seine Auffassung der Unabhängigkeit der Geistes- von den Naturwissenschaften stark. Er vertritt die These, das letztere bereits Klarheit über die Zusammenhänge der Wahrheiten ihrer Erkenntnisse gewonnen haben. Er stellt sich mit seinem Programm gegen die neukantianische Agenda und weist die Auffassung eines methodischen Unterschieds zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zurück. Dilthey will vielmehr allgemeine Regeln der Geisteswissenschaften entwickeln, die sich den »Tatsachen des Bewusstseins« nicht entziehen können. Die Geisteswissenschaften, präziser gefasst die moralisch-politischen Wissenschaften, haben diesen Kenntnisstand noch nicht erreicht 520. Dilthey erhebt gegenüber Brief Natorps an Dilthey vom 18. 11. 1903, in: WDB III, S. 373. Wilhelm Dilthey: Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat, in: Georg Misch (Hg.): Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Göttingen 21957, S. 31–73. 520 Wilhelm Dilthey kommt um 1900 nicht umhin, sich mit dem »naturwissenschaft518 519

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einem Philosophen den Anspruch, dass dieser zugleich auch Historiker sein müsse. Er »muß die Operationen des Historikers am Rohstoff der geschichtlichen Überreste selber machen« 521. In Bezug auf Kant fungiert er sowohl als Anwalt als auch als Kritiker 522. Dilthey argumentiert mit einem Kant zugeschriebenem Zitat gegen John Stuart Mill für seine Ordnung der Geistes- unter die Naturwissenschaften. Er bezeichnet die Untersuchung, »›ob Geisteswissenschaften existieren oder existieren können, auf welchen Grad von Vollkommenheit sie gebracht werden können und durch welche Wahl oder Anpassung der in den früheren Teilen dieses Werkes dargelegten Methoden dieser Grad von Vollkommenheit zu erreichen ist‹« 523, als kantisches Problem. Zudem schreibt er gegen das Comte’sche Gesetz an 524. Für Dilthey hat es keinen Bestand, da die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte anders funktionieren als die naturwissenschaftliche Forschung. Letztere stehen in einem Verhältnis logischer Abhängigkeiten zueinander 525. Zudem wendet er sich gegen die Vorstellung einer organisch gewachsenen Geisteswissenschaft. Diltheys Ansicht zufolge liegt die Grundlage geisteswissenschaftlicher Forschung in uns selbst. Das Experimentieren funktioniert in diesem Fall durch Nachdenken. Fundamental anders stellt sich die Arbeitsweise der Naturwissenschaftler dar, deren Forschungsgrundlage außerhalb des eigenen Bewusstseins in der Natur liegt. Hier findet ein Experimentieren durch Experimentieren statt. Für Dilthey haben in den geisteswissenschaftlichen »Zweigen der Wissenschaft die Beobachtungen des Praktikers einen Wert, der ihnen in der Naturwissenschaft nicht zukommt«, da erstere keine wissenschaftliche Abstraktionsleistung vollbringen müssen, lich-positivistischen Weltbild als das Nonplusultra von Erkenntnis« auseinanderzusetzen. Sebastian Luft: »Diltheys Kritik an der Wissenschaftstheorie der Neukantianer und die Konsequenzen für seine Theorie der Geisteswissenschaften. Das Problem des Historismus«, in: Christian Damböck, Hans-Ulrich Lessing (Hg.): Dilthey als Wissenschaftsphilosoph. Freiburg/München 2016, S. 176–198, S. 176. 521 Dilthey 1957, S. 36. 522 Frederick C. Beiser: The German Historicist Tradition. Oxford 2011, S. 322–325. 523 Dilthey 1957, S. 57. Hierbei handelt es sich nicht um ein Zitat Kants. Einen Beleg für die Urheberschaft liefert Dilthey nicht. 524 Auguste Comte zeichnet eine wissenschaftliche Entwicklungslinie von der Mathematik über die Astronomie zur Physik, Chemie, Biologie und schließlich zur Soziologie als umfassendste aller Wissenschaften. 525 Dilthey 1957, S. 51. Kant als Klassiker der Philosophie

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um die Faktoren des realen Zusammenhangs der Gesellschaft in ihrer Wirkungsweise zu erkennen. Andererseits ist das lebendige Gefühl der aktiven Kräfte in uns selber, mit welchen wir bei dem Nachdenken beständig […] experimentieren, auch für den Forscher ein Ersatz für die fehlende Grundlage einer exakten Wissenschaft der elementaren Tatsachen 526.

Den menschlichen Geist zeichnet die Fähigkeit zur Nachbildung aus. Durch diese sieht Dilthey eine Grundlage für das Gelingen von Verstehensprozessen gegeben 527. Es ist nicht die Natur, die uns in dieser Art und Weise anspricht. Sie bleibt stumm. Innerhalb der Geschichtsschreibung mahnt Dilthey ein kritisches Bewusstsein in Bezug auf die Konstruktion von Kausalbeziehungen der Einzeltatsachen an. Seiner Auffassung nach besteht die Aufgabe der Einzelwissenschaften in der Analyse der Verbindung »der Möglichkeit einer ursächlichen Verknüpfung« hin zur Prüfung ihres Vorhandenseins im Bereich des Wirklichen. Die »Vernachlässigung dieses methodischen Beweises ursächlicher Verknüpfung« hält er für den verhängnisvollsten Fehler der Geschichtsschreibung, welche an die Feststellung der Einzeltatsache den strengsten methodischen Maßstab legt, dagegen Kausalbeziehungen, durch welche doch Geschichte erst sehend wird, meist mit einer größeren künstlerischen Freiheit zur Verknüpfung der Tatbestände und zur Abrundung des historischen Gemäldes auf Grund innerer Wahrscheinlichkeit einfügen zu dürfen glaubt. Hier bedarf die Geschichte am dringendsten eine Verschärfung ihres logischen Gewissens 528.

Die Wissenschaft der Sitten empfängt ihre Bedeutung erst auf der Grundlage der moralisch-politischen Wissenschaft. Dabei mahnt er an, nicht vom Sein auf den Bereich des Sollens zu schließen 529. Dilthey 1957, S. 46. »Alle Tatbestände in ihr [den Geisteswissenschaften] sind uns verständlich; auf Grund der inneren Wahrnehmung unserer eigenen Zustände können wir sie in uns bis auf einen gewissen Punkt in der Vorstellung nachbilden, mit Liebe und Haß, mit leidenschaftlicher Freude und mit dem ganzen Spiel unserer Affekte begleiten wir anschauend die Vorstellung derjenigen Welt, in welcher wir uns als Element, wirkend unter anderen Elementen, wahrnehmen.« Dilthey 1957, S. 61. 528 Dilthey 1957, S. 47–48. 529 »Es ist wahr, daß die Untersuchung der Handlungen der Menschen, der Veränderungen ihrer Gewohnheiten wie des Stetigen in denselben ganz wertlos ist für die Grundlegung der Ethik. Keine Brücke führt von der Anschauung menschlicher Charaktere und ihres verworrenen Handelns zu dem Sollen, dem Ideal.« Dilthey 1957, S. 67. 526 527

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Konzeption und Struktur der Akademie-Ausgabe

Das Ich mit seiner Innerlichkeit schließe unter Annahme der Analogie auf die Innerlichkeit der anderen. Nach Diltheys Ansicht birgt der Charakter einer Person ein Geheimnis. Er ist undurchsichtig für andere und tritt nur manchmal durch Handlungen hervor. Motive und Handlungen seien im Bewusstsein der Person zu verorten. Für Dilthey stellt die nachträgliche Erforschung eines Individuums die größte Herausforderung eines historisch arbeitenden Philosophen dar. Er unterscheidet dabei zwei Untersuchungsgänge: zum einen die zutreffende Analyse des Charakters mithilfe von Einzelhandlungen; zum anderen, der häufigere Fall, den Untersuchungsgang eines Charakters über den Durchschnitt von Handlungen 530. Vor dem Hintergrund der erstarkenden Naturwissenschaft beschäftigt auch Dilthey die Frage, welche Aufgaben für die Philosophie zur Bearbeitung übrig bleiben. Er erwähnt den Neukantianismus an dieser Stelle implizit, wenn er schreibt: Neuerdings ist wiederholt die Frage untersucht worden, welcher Besitzstand ihr nach allen Einschränkungen ihres Gebietes, nach den letzten Grenzkriegen mit den positiven Wissenschaften verbleibe. Philosophie in denjenigen Grenzen, in welchen sie Wissenschaft ist und nicht in der Gesinnung wurzelt, ist die Wissenschaft, welche Logik (nebst Erkenntnistheorie) und Psychologie ausbildet 531.

Diltheys Verständnis zufolge bilden Logik und Psychologie die fundamentalen Hilfsmittel für den philosophischen Forscher. Wenn er diese benutzt, dann ist er mitten in der Philosophie. In ihr geht es um die Vermittlung von Einsichten, Methoden sowie Gewohnheiten geistiger Verfahren. Am Ende des Prozesses steht die Ausbildung des »philosophischen Geistes« 532. Dilthey macht die Geisteswissenschaften stark, indem er ihr Vermögen betont, uns zu berühren, wozu die Naturwissenschaften nicht in der Lage seien: Der Wassersturz setzt sich aus homogenen stoßenden Wasserteilchen zusammen; aber ein einziger Satz, der doch nur ein Hauch des Mundes ist, erschüttert die ganze beseelte Gesellschaft eines Weltteiles durch ein Spiel von Motiven in lauter individuellen Einheiten, deren keine mit der anderen vergleichbar ist: so verschieden ist das in der Vorstellung auftretende Motiv 530 »Auch der Historiker wird diese beiden Klassen auseinanderhalten müssen. Diese nachträgliche Erforschung eines Individuums ist eine der höchsten Leistungen des historischen Verstandes.« Dilthey 1957, S. 68. 531 Dilthey 1957, S. 48. 532 Dilthey 1957, S. 49.

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von jeder anderen Art der Ursachen. Hier ist der Knotenpunkt der Wissenschaften, der Philosophie insbesondere. Er liegt in dem Übergang von den Tatbeständen der Wirklichkeit zu dem Sollen, dem Zweck, dem Ideal 533.

Das Verhältnis von einem Rezipienten, der eine Schrift eines Autors zu verstehen sucht, denkt Dilthey als symbiotischen Akt. Er geht von einem gelingenden Verstehen aus, welches sich in der Geschichte fortschreibe: »Die Kontinuität des wissenschaftlichen Geistes beruht auf der völligen Übertragbarkeit von Vorstellungen und Begriffen von dem Denker, welcher eine Wahrheit gefunden, auf denjenigen, dessen Fassungskraft der Aufgabe des Verständnisses derselben angemessen ist« 534. Dilthey sieht Bibliotheken als Orte an, an dem der Übertragungsprozess stattfinden und gelingen kann. »Bibliotheken sind unsere Archive.« Sie ermöglichen, »einen wissenschaftlichen Vorgang, welcher das Hervortreten eines Inbegriffs von Wahrheiten zum Ergebnis hat, in seinen Stadien festzustellen« 535. Für Dilthey stellen neben den Bibliotheken vor allem die Nachlässe großer Denker eine Quelle für die Erfassung der Genese von philosophischen Gedankengebäuden dar. Die Antwort auf die Frage, was für ihn einen großen Denker ausmacht, bleibt er uns schuldig. Betont wird hingegen der Wert eines streng chronologisch aufgearbeiteten Nachlasses, um das Denken im Werden nachvollziehen zu können: »[D]ie Genesis eines großen Entschlusses enthüllt uns kein Papier; der Gang des Beweises, den ein Buch enthält, ist in den meisten Fällen ein anderer als der Gang der Entdeckung, und selten geben große Denker […] selber Einblick in diesen letzteren« 536. Für Dilthey stellt lediglich der Nachlass eine Ausnahme dar. Durch ihn entsteht das vollkommenste Bild, welches wir überhaupt von irgendeinem Teil der geistigen Operationen zu erlangen imstande sind, welche die geschichtlichen Fortschritte bewirken; jede streng chronologische Durcharbeitung eines solchen Materials ist ein Teil der Lösung der großen wahrhaft philosophischen Aufgabe, zu erkennen, ›wie ganz zerstreute Elemente der Kultur, welche durch allgemeine Zustände, gesellschaftliche und sittliche Voraussetzungen, Einwirkungen von Vorgängern und Zeitgenossen gegeben sind, in der Werkstatt des einzelnen Geistes verarbeitet und zu einem

533 534 535 536

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Dilthey 1957, S. 64. Dilthey 1957, S. 38. Dilthey 1957, S. 40. Dilthey 1957, S. 40.

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originalen Ganzen gebildet werden, das wiederum schöpferisch in das Leben der Gemeinschaft eingreift‹ 537.

Dilthey sieht schriftliche Dokumente im Vergleich zu ihrem individuellen Urheber als stabil und verlässlich an. Seine Hoffnung besteht darin, dass die »Mißachtung vieler hochpolitischer Historiker gegenüber dem Studium der Geschichte der höchsten Äußerungen des menschlichen Geistes schwinden« 538 wird. Dilthey ist sich der schwierigen Lage der Philosophie bewusst. Gegenüber den Naturwissenschaften macht er die Geisteswissenschaften stark und betont ihr Vermögen, uns zu berühren. Dem Geheimnis einer Person kommen wir durch die menschliche Fähigkeit der Nachbildung näher. Unabdingbare Voraussetzung stellen in diesem Zusammenhang Nachlässe dar. Chronologisch aufbereitet bieten sie die Möglichkeit zur Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte. Dilthey geht von einem gelingenden Verstehen des Versuchs aus, auf dieser Grundlage das Denken im Werden nachvollziehen zu können.

3.3.3.2

Diltheys Auseinandersetzung mit Kant in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883)

Das Forschungsvorhaben des jungen Dilthey besteht in einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften in Auseinandersetzung mit dem Positivismus und der Völkerpsychologie. Die Metaphysik hat für ihn ausschließlich als Privatangelegenheit ihre Berechtigung. Diltheys Denken dreht sich um den Begriff der Erfahrung. Im Ausgang von Kant geht es Dilthey darum, den Einzelnen mit seiner individuellen Biographie samt dem gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext zu sehen. Zentral ist sein Begriff des Lebens, der als erkenntnistheoretischer Gegenbegriff zur klassischen Bewusstseinsphilosophie angeführt wird. Letzterer wirft Dilthey vor allem Intellektualismus vor 539.

Dilthey 1957, S. 40. Dilthey 1957, S. 41. 539 Ihm gehe es hingegen um »die Totalität des Bewusstseins, den ganzen Menschen, das wollend fühlend vorstellende Wesen.« Hans-Ulrich Lessing: Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Zweiter Bd.: Dilthey im philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Berlin 2016, S. 37. 537 538

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In Diltheys erstmals 1883 erschienenem ersten Band Einleitung in die Geisteswissenschaften 540 unternimmt er den Versuch einer Grundlegung derselben. Dies ist als Bemühung zu verstehen, die ausdifferenzierten Teilfächer auf eine gemeinsame Basis zu stellen. Ihm geht es dabei darum, »die Grenzen niederzureißen, welche ein eingeschränkter Fachbetrieb zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften errichtet hat« 541. Er versteht unter Geisteswissenschaften die Summe der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und untersucht das verbindende Element zwischen den unterschiedlichen Disziplinen. Dabei formuliert er drei Kernfragen sowie eine abgeleitete: Welcher ist der Zusammenhang von Sätzen, der gleicherweise dem Urteil des Geschichtsschreibers, den Schlüssen des Nationalökonomen, den Begriffen der Juristen zugrunde liegt […]? Reicht derselbe in die Metaphysik zurück? Gibt es etwa eine von metaphysischen Begriffen getragene Philosophie der Geschichte oder ein solches Naturrecht? Wenn das aber widerlegt werden kann: wo ist der feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit gibt? 542.

Diese Sätze der Geisteswissenschaften teilen sich in »Tatsachen, Theoreme, Werturteile und Regeln« 543 auf. Was den Geisteswissenschaften allerdings fehle, ist die Freilegung der Basis der verschiedenen Disziplinen. Daher sieht Dilthey seine Aufgabe in der Entwicklung einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften […], alsdann das in einer solchen geschaffene Hilfsmittel zu gebrauchen, um den inneren Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, die Grenzen, innerhalb deren ein Erkennen in ihnen möglich ist, sowie das Verhältnis ihrer Wahrheiten zueinander zu bestimmen 544.

Sein Projekt mündet in einer »Kritik der historischen Vernunft, d. h. des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen« 545. 540 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, in: GS I, Göttingen 51962. 541 Dilthey 1962, S. 117. 542 Dilthey 1962, S. XVII. 543 Dilthey 1962, S. 26. 544 Dilthey 1962, S. 116. 545 Dilthey 1962, S. 116.

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Diltheys Anliegen ist es in diesem Kontext, die Logik als Methodenlehre zu entwickeln. Als »Mittelglied zwischen dem Standpunkt, welchen die kritische Philosophie errungen hat, und den fundamentalen Begriffen und Sätzen der einzelnen Wissenschaften« 546. Diese Erweiterung sieht er mit den naturwissenschaftlichen Methoden konform an, jedoch zeichnen sich die Geisteswissenschaften auch durch »psychische und psychophysische Tatsachen« aus, die die »Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, sondern ebenso von den Systemen der Kultur sowie von der äußeren Organisation der Gesellschaft bilden, und daß dieselben der historischen Anschauung und Analysis in jedem ihrer Stadien zugrunde liegen« 547. Die erkenntnistheoretische Grundlegung sowie die Logik seien die Basis für ein umfassendes Verständnis der Einzelwissenschaften. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zeichnen sich die Geisteswissenschaften durch einen inneren Zusammenhang von »Tatsachen, Gesetzen, Wertgefühlen und Regeln« aus, der »nur in der Selbstbesinnung erkannt werden« 548 könne. Dilthey beruft sich auf die »innere Erfahrung«, die »Tatsachen des Bewußtseins«, um einen »Ankergrund für das Denken« freizulegen, hinter den nicht zurückgegangen werden könne. Dieser Prozess liefert für ihn den Standpunkt der Erkenntnistheorie, der bisher nur ein empiristischer war. Kant habe Erfahrung und Erkenntnis »aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt.« Es folgt das berühmte Zitat: »In den Adern des erkennenden Subjekts, den Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit« 549. In seinen Augen reicht die starre Erkenntnistheorie Kants nicht aus, um den menschlichen Erkenntnisprozess adäquat zu beschreiben. Für Dilthey haben Wollen, Fühlen und Vorstellen einen maßgeblichen Anteil an ihm. Er wendet sich mit seinen Überlegungen gegen den Positivismus und den Empirismus und er ist von der Unableitbarkeit geistiger Tatsachen aus dem Naturgeschehen überzeugt: »[I]ch vermag sowenig einen Übergang von der bloßen mathematischen Bestimmtheit oder der Bewegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Bewußtseinsvorgang zu finden« 550. 546 547 548 549 550

Dilthey 1962, S. 117. Dilthey 1962, S. 119. Dilthey 1962, S. 120. Dilthey 1962, S. XVIII. Dilthey 1962, S. 11.

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Kant knüpfe in der KrV an die Definition der Metaphysik von Aristoteles an. Sie befasse sich mit Gründen, die selbst nicht mehr bedingt seien. Dieses dogmatische Verständnis wolle Kant mit seiner Transzendentalphilosophie auflösen. Dabei suggeriere seine Auffassung, dass hinter der Sinnenwelt die Dinge an sich verborgen seien. Andererseits würdigt Dilthey Kants Leistung: »[D]ieser tiefsinnigste Geist, den die neueren europäischen Völker hervorgebracht haben, hat bereits erkannt, daß in der Geschichte die Intelligenz ein notwendiger, in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens selber begründeter Zusammenhang bestehe« 551. Dilthey geht zurück auf die drei Stadien der erkenntnistheoretischen Entwicklung Kants: Dogmatismus, Skeptizismus sowie Kritizismus. Er kritisiert Kants ahistorische Betrachtungsweise des Erkenntnisprozesses: »Kant […] gibt eine Konstruktion, nicht eine geschichtliche Darlegung, und diese Konstruktion ist von seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt, innerhalb desselben von seiner Ableitung alles apodiktischen Wissens aus den Bedingungen des Bewußtseins, einseitig bestimmt« 552. Diltheys Auffassung zufolge ignoriert Kant den Verflechtungszusammenhang des Menschen in seiner je eigenen Welt. Für ihn ergibt das ein starres Bild des menschlichen Erkenntnisapparates ohne kontextuellen Bezug auf Geschichte und Gesellschaft. Das reicht für Dilthey nicht aus, um die komplexe Einbindung des Individuums in seine Umgebung abzubilden. Die Beschäftigung mit dem kantischen Ding an sich ist für Dilthey nur von geringem Interesse. Vielmehr haben für ihn die Dinge Bedeutung, die wir in unser Bewusstsein aufnehmen. Bewusstseinsinhalte seien für uns Menschen nicht relativ, wie es nur äußere Gegenstände sein können: Wie das Objekt aussieht, wenn niemand es in sein Bewußtsein aufnimmt, kann man nicht wissen wollen. Dagegen ist das, was ich in mir erlebe, als Tatsache des Bewußtseins darum für mich da, weil ich desselben innewerde: Tatsache des Bewußtseins ist nichts anderes als das, dessen ich innewerde. Unser Hoffen und Trachten, unser Wünschen und Wollen, diese innere Welt ist als solche die Sache selber 553.

Dilthey 1962, S. 133. Dilthey 1962, S. 134. 553 Dilthey 1962, S. 394. So versteht Dilthey auch Kants Auffassung der Zeit als »die wirkliche Form der inneren Anschauung. Sie hat also subjektive Realität in Ansehung der inneren Erfahrung, d. i. ich habe wirklich Vorstellung von der Zeit und meinen Bestimmungen in ihr.« Dilthey 1962, S. 394. 551 552

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Als bedeutend für seine Generation sieht Dilthey das tiefere Verständnis der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens durch die historische Perspektive an. Mit dem Aufkommen des Christentums sei »gleichsam eine Wand gezogen, hinter welcher man eine neue Art, die erste Ursache der Welt vorzustellen erblickte«. Im Mittelalter war die Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge in ihren Grundzügen abgeschlossen: [D]ann aber geschah, was niemand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswissenschaft entstand. So müssen auch wir uns sagen, daß wir nicht wissen, was hinter den Wänden sich befindet, die uns heute umgeben. Das Seelenleben selber verändert sich in der Geschichte der Menschheit, nicht nur diese oder jene Vorstellung. Und dieses Bewußtsein der Schranken unserer Erkenntnis, wie es aus dem geschichtlichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, ist ein anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts das metaphysische Bewußtsein ohne Geschichte war 554.

Die Transzendentalphilosophie habe ihren Ausgangspunkt in der inneren Erfahrung, in der ich »die gesamte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig« 555 vorfinde. Pointiert zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Natur unter den Bedingungen des Bewusstseins steht und dadurch der Erkenntnisprozess bestimmt wird. Im Gegensatz dazu stellen Vertreter des objektiv-empirischen Standpunktes geistige Prozesse unter die Bedingungen des Naturganzen: Die Naturwissenschaft baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr fähigen, nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbaren Elementarteilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinander wirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist. Ist doch die Welt nirgend anders als eben in der Vorstellung eines solchen Individuums 556.

Für Dilthey sind sowohl die Anthropologie als auch die Psychologie die zwei Forschungsgebiete, die für das Verständnis des Menschen in der Gesellschaft entscheidend sind. Er verfolgt eine deskriptive Psychologie und keine erklärende. Sein psychologisches Verfahren ist 554 555 556

Dilthey 1962, S. 406–407. Dilthey 1962, S. 15. Dilthey 1962, S. 29.

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von Zurückhaltung der eigenen Leistungsfähigkeit geprägt: »Den Menschen, wie er, abgesehen von der Wechselwirkung in der Gesellschaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie [die Psychologie] weder in der Erfahrung, noch vermag sie ihn zu erschließen« 557. Der Mensch stehe in einem komplexen äußeren Organisationsgefüge: Staat, Recht, Wirtschaft, Religion, Kunst und Wissenschaft ordnen und strukturieren seine individuelle Welt. Nach Diltheys Ansicht treten in diesem Gefüge verschiedene nationale Charaktere und Individuen auf. Ein »zusammengesetzter weltgeschichtlicher Zweckzusammenhang« 558 bilde sich heraus. Der Wissenschaft komme hierbei eine besondere Rolle zu, da sich hier »die intellektuelle Entwicklung des Menschengeschlechts« 559 abgesondert habe. Der Biographie komme innerhalb der Geschichtswissenschaft die entsprechende Stellung zu wie der Anthropologie derjenigen innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. 560 Durch Narration stelle sie sich »im Gegensatz zu den toten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden« 561, als lebendige Quelle dar. Dilthey beendet den ersten Band seiner Einleitung mit den Worten: Denn in Kant vollzog sich nur die Selbstzersetzung der Abstraktionen, welche die von uns geschilderte Geschichte der Metaphysik geschaffen hat; nun gilt es, die Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, festzustellen, was Natur und Geschichte diesem inneren Leben sind 562.

Diltheys philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit Positivismus und Völkerpsychologie, sondern auch mit Kant. An Stelle von metaphysischen Betrachtungen entwickelt Dilthey eine Kritik der historischen Vernunft. Er stellt den Lebensbegriff in den Mittelpunkt und betont die Bedeutung von Bewusstseinsinhalten für den Menschen in seiner geschichtlich-gesellschaftlichen Eingebundenheit. Mit ihrer Betrachtung der Wirklichkeit des inneren Lebens heben sich die Geistes-

557 558 559 560 561 562

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Dilthey 1962, S. 30. Dilthey 1962, S. 127. Dilthey 1962, S. 127. Dilthey 1962, S. 33. Dilthey 1962, S. 34. Dilthey 1962, S. 408.

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von den Naturwissenschaften ab und erhalten eine genuin eigene Aufgabe.

3.3.3.3

Diltheys Methode des Verstehens: Leben und Werk

In seinem Aufsatz »Die Entstehung der Hermeneutik«, der erstmals 1900 publiziert worden ist, liefert Dilthey u. a. einen Abriss über die Geschichte selbiger 563. Darin geht er der hermeneutischen Hauptfrage nach, ob wissenschaftliche Erkenntnis singulären menschlichen Daseins möglich ist. Der Vorgang des Verstehens ist dabei essentiell: »Unser Handeln setzt das Verstehen anderer Personen überall voraus […]; die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft ist auf der Voraussetzung gegründet, daß dies Nachverständnis des Singulären zur Objektivität erhoben werden könne« 564. Der einzelne Mensch werde sich seiner Individualität erst durch die Beziehung und die Auseinandersetzung mit anderen Personen seiner Selbst gewahr 565. Die Erfahrung des Individuellen einer Person vollziehe sich durch die Nachbildung. Wie kann nun ein individuell gestaltetes Bewußtsein durch solche Nachbildung eine fremde und ganz anders geartete Individualität zu objektiver Erkenntnis bringen?« Er setzt dem Prozess des Verstehens ein Interesse an diesem voraus und definiert ersteren als »Vorgang, in welchem wir aus 563 Der Aufsatz erscheint erstmals in der Festschrift Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem 70. Geburtstag 28. März 1900 gewidmet. Tübingen 1900, S. 185–202. Der Aufsatz ist nach einem Vortrag in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin entstanden. Hier: Wilhelm Dilthey: »Die Entstehung der Hermeneutik«, in: Georg Misch (Hg.): Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften Bd. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Göttingen 21957, S. 317– 338. Von der pergamenischen und alexandrinischen Philologie über die Renaissance bis hin zur Befreiung von der dogmatischen Bibelauslegung durch die Kirche kommt Dilthey schließlich auf Schleiermacher zu sprechen. Dilthey 1957, S. 321–325. 564 Dilthey 1957, S. 317. Die Biographie ermögliche Einblicke in die Selbstkonstituierung des Individuums in Auseinandersetzung mit dem objektiven Geist. Dabei geht es ihm um die »hypothetische Rekonstruktion der Entwicklung der Persönlichkeit und ihres Werkes aufgrund der Interpretation objektiver, fixierter Lebensausdrücke«. Hans-Ulrich Lessing: Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Zweiter Bd.: Dilthey im philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext. Berlin 2016, S. 28. 565 »Erst in der Vergleichung meiner selbst mit anderen mache ich die Erfahrung des Individuellen in mir.« Dilthey 1957, S. 318.

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sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen 566.

Diese Problemlage stelle sich für die Naturwissenschaft nicht, sondern ist eine genuin geisteswissenschaftliche Aufgabe. Unter Lebensäußerungen versteht Dilthey sowohl »Ausdrücke, die etwas meinen oder bedeuten (wollen)« 567, als auch solche, die ohne Absicht geschehen. Drei Klassen werden von ihm unterschieden: 1. Begriffe, Urteile und große Denkgebilde, 2. Handlungen und 3. Erlebnisausdrücke. Die ersten beiden lassen keinen Rückschluss auf das Seelenleben des Urhebers zu. Die Erlebnisausdrücke haben einen anderen Charakter. Nach Dilthey wird das Tagewerk einer Person von den Interessen des Erlebnisausdrucks bestimmt. Unsere Deutungen seien jedoch täuschungsanfällig. »Ein Furchtbares liegt darin, daß im Kampf der praktischen Interessen jeder Ausdruck täuschen kann, und auch die Deutung durch den Wechsel unserer Stellung sich ändert« 568. Gänzlich anders verhalte es sich bei der Interpretation großer Werke. Dilthey vertritt einen starken Werkbegriff, den er vom Autor entkoppelt: Indem nun aber in großen Werken ein Geistiges sich loslöst von seinem Schöpfer, dem Dichter, Künstler, Schriftsteller, treten wir in ein Gebiet, in dem die Täuschung endigt. Kein wahrhaft großes Kunstwerk kann nach den hier waltenden, später zu entwickelnden Verhältnissen einen seinem Autor fremden geistigen Gehalt vorspiegeln wollen, ja es will vom Autor überhaupt nichts sagen. Wahrhaftig in sich, steht es fixiert, sichtbar, dauernd da, und damit wird ein kunstmäßiges sicheres Verstehen desselben möglich. So entsteht in den Konfinien zwischen Wissen und Tat ein Kreis, in welchem das Leben in einer Tiefe sich aufschließt, wie sie der Beobachtung, der Reflexion und der Theorie nicht zugänglich ist 569.

Wer die Deutungshoheit innehat, zu bestimmen, was ein großes Kunstwerk sei, bleibt an dieser Stelle offen. Die Lebensäußerung, die verstanden werden kann, muss festgehalten worden sein, um ein hohes Maß an Objektivität zu gewährleisten. Dilthey sieht dies bei Dilthey 1957, S. 318. Wilhelm Dilthey: »Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, in: Bernhard Groethuysen (Hg.): Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften Bd. VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Göttingen 21958, S. 191–290, S. 206. 568 Dilthey 1958, S. 206. 569 Dilthey 1958, S. 206–207. 566 567

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Schriften resp. Werken gegeben, so dass das »kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen« 570 möglich sei, dessen Vorgang er Auslegung oder Interpretation nennt. Diese Aufgabe obliege der Philologie. Dilthey legt seinen Überlegungen einen Werkbegriff zugrunde, der vom Begriff der Wahrheit geprägt ist. Das Werk biete Verlässlichkeit in einer von Unwahrheit gekennzeichneten Gesellschaft: Aber das Werk eines großen Dichters […] oder eines echten Philosophen kann immer nur der wahre Ausdruck seines Seelenlebens sein; in dieser von Lüge erfüllten menschlichen Gesellschaft ist ein solches Werk immer wahr, und es ist im Unterschied von jeder anderen Äußerung in fixierten Zeichen für sich einer vollständigen und objektiven Interpretation fähig, ja es wirft sein Licht erst auf die anderen künstlerischen Denkmale einer Zeit und auf die geschichtlichen Handlungen der Zeitgenossen 571.

Dilthey geht davon aus, dass ein Philosoph durch seine Schrift Wahres ausspreche, welches durch den Vorgang der Auslegung zutage gefördert werden könne. Damit unterscheidet sich das Werk, die schriftlich fixierten Worte, von den mündlich vorgebrachten. Das Werk wird hier als eine objektive, solide Basis angesehen, auf die wir immer wieder zurückkommen können. Das literarische Werk stellt für Dilthey die höchste Form der Äußerung von Individualität dar. Verstehen und Interpretieren denkt er als wechselseitiges Verhältnis. Die eigene Individualität strebe nach der Ergänzung durch andere Anschauungen. »Verstehen und Interpretation sind so im Leben selber immer regsam und tätig, ihre Vollendung erreichen sie in der kunstmäßigen Auslegung lebensmächtiger Werke und des Zusammenhangs derselben im Geiste ihres Urhebers« 572. Diltheys hermeneutisches Verständnis ist vor allem durch Friedrich Schleiermacher geprägt. Weiterhin tritt als wichtiger Einfluss die Transzendentalphilosophie hinzu. Hier interessiert Dilthey die Suche nach einem schöpferischen Vermögen, »das einheitlich wirkend, seiner selbst unbewußt, die ganze Form der Welt in uns hervorbringt« 573. An die Stelle von Kants Ding an sich tritt das »einheitlich wirkende schöpferische Vermögen«, das sich durch das Bewusstsein, das Selbst des Autors, schließlich in einem Werk manifestiert. Das 570 571 572 573

Dilthey 1957, S. 319. Dilthey 1957, S. 320. Dilthey 1957, S. 328. Dilthey 1957, S. 327.

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Werk als »Ding in der Welt der Erscheinung« wird von dem Bewusstsein des Rezipienten aufgenommen. Dieser ist dadurch in der Lage, das »einheitlich wirkende schöpferische Bewußtsein«, das dem Autor unbewusst ist, zu erkennen. Jetzt wird Schleiermachers berühmter Satz verständlich, warum es in der Hermeneutik darum gehe »den Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstanden hat« 574. Der Autor hat keinen Zugang zu seinem schöpferischen Vermögen, da es im Unbewussten wirksam ist. Erst durch die Einwirkung eines anderen Selbst kann dieses bewusstwerden und hervortreten. Für Dilthey ergibt sich ein hermeneutischer Kreislauf: Die Auslegung von Werken führt zu einer Ausbildung des Vorgangs des Verstehens. Letztere wiederum wirkt zurück auf die Auslegung und ist die Grundlage für deren Regelgebung. Der Prozess des Verstehens ist aufgrund der »allgemeinen Menschennatur« möglich. Die Auslegung geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen die grammatische, die »von Verbindung zu Verbindung bis zu den höchsten Verknüpfungen im Ganzen des Werkes« verläuft. Zum anderen die psychologische, die »von der Versetzung in den schöpferischen inneren Vorgang« ausgeht. Über die äußere und innere Form des Werkes geht sie voran zur »Erfassung der Einheit der Werke in Geistesart und Entwicklung ihres Urhebers« 575. Nach Diltheys Verständnis ist höheres Verstehen vor allem durch die Anordnung des Gesamtwerks eines Autors möglich: Das Verstehen geistiger Schöpfungen ist in vielen Fällen nur auf den Zusammenhang gerichtet, in dem die einzelnen Teile eines Werkes, wie sie nacheinander zur Auffassung kommen, ein Ganzes bilden. Ja es ist dafür, daß das Verstehen den höchsten Ertrag für unser Wissen von der geistigen Welt abwerfe, von der höchsten Bedeutung, daß diese Form desselben in ihrer Selbständigkeit zur Geltung gebracht werde 576.

Hieran lässt sich Diltheys Betonung der chronologischen Ordnung für die AA ablesen. Sie ist die Grundlage für das höhere Verständnis der kantischen Philosophie. Neben dem Verstehen des Werks tritt das des individuellen Lebens hinzu. Dilthey geht davon aus, dass das »Geheimnis der Person« Anreize zu »immer neuen und tieferen Versuchen des Verstehens« gebe:

574 575 576

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Dilthey 1957, S. 331. Dilthey 1957, S. 331. Dilthey 1958, S. 211.

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Und in solchem Verstehen öffnet sich das Reich der Individuen, das Menschen und ihrer Schöpfungen umfaßt. Hierin liegt die eigenste Leistung des Verstehens für die Geisteswissenschaften. Der objektive Geist und die Kraft des Individuums bestimmen zusammen die geistige Welt. Auf dem Verständnis dieser beiden beruht die Geschichte 577.

Ist es möglich, dem Geheimnis der Person, dem Geheimnis des Lebens durch den Vollzug des hermeneutischen Prozesses näher zu kommen? Diltheys Antwort fällt positiv aus unter der Voraussetzung, daß wir im Akt des Verstehens beides [objektiver Geist und Allgemeinmenschliches] gleichsam in Wirksamkeit setzen könnten, die Veränderung des Seelenlebens und seine Lage durch die Umstände als das äußere Prinzip der Individuation, und als das innere die Variation durch die verschiedenen Betonungen der Momente der Struktur: dann wäre das Verstehen der Menschen, der dichterischen und schriftstellerischen Werke ein Zugang zum größten Geheimnis des Lebens. Und das ist in der Tat der Fall 578.

Eine höhere Form des Verstehens sei möglich durch das Hineinversetzen in ein Werk. Im Individuum finde durch diesen Akt eine Übertragungsleistung statt, die zu einer »Präsenz des eigen erlebten seelischen Zusammenhangs« 579 führe. Die Auslegung, d. h. das »kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäusserungen« 580, liefere die Grundlage für die Philologie. Hieraus entwickelt sich die Hermeneutik als Wissenschaft der kunstmäßigen Auslegung von Schriften. Das Sichhineinversetzen in ein Werk münde im Nachbilden bzw. Nacherleben. »Der Triumph des Nacherlebens ist, daß in ihm die Fragmente eines Verlaufes so ergänzt werden, daß wir eine Kontinuität vor uns zu haben glauben« 581. Diltheys Überlegungen laufen letztendlich auf die Freiheit des Menschen hinaus, bedingt durch die Kunst und das Verständnis geschichtlicher Prozesse 582. Dilthey 1958, S. 212–213. Dilthey 1958, S. 213. 579 Dilthey 1958, S. 214. 580 Dilthey 1958, S. 214. 581 Dilthey 1958, S. 215. Am Beispiel Luthers erklärt er: »Indem Luther an der Spitze dieser Bewegung [Ausbreitung des Christentums] dahingeht, erleben wir auf Grund eines Zusammenhangs, der vom Allgemeinmenschlichen zu der religiösen Sphäre und von ihr durch deren historische Bestimmungen bis zu seiner Individualität dringt, seine Entwicklung. Und so öffnet uns dieser Vorgang eine religiöse Welt in ihm […], die unseren Horizont in Möglichkeiten von Menschenleben erweitert, die nur so uns zugänglich werden.« Dilthey 1958, S. 216. 582 »[D]er durch die Realität des Lebens gebundene und bestimmte Mensch wird nicht 577 578

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In seinem Archivaufsatz aus dem Jahr 1889 betont Dilthey die Relevanz von Handschriften für ein umfassendes Verständnis von Werk und Autor. Philosophische Systeme bilden ihm zufolge die Kultur eines Volkes zu einer bestimmten Zeit ab. »Dies ist darin begründet, dass sie allein das Leben selber zum vollständigen bewussten Zusammenhang im Denken erheben.« Dieses System geht von den »Erfahrungen und den positiven Wissenschaften einer Zeit« aus und gestalte »eine Einheit, die hinüber reicht in die Lebensführung des Einzelnen und die Leitung der Gesellschaft« 583. Erst wo dieser Zusammenhang zur Klarheit komme, entsteht für Dilthey Philosophie. Haben wir es mit einem Genie zu tun, so ist es für Dilthey unerlässlich, alle schriftlichen Hinterlassenschaften vollständig zu bewahren. Das Werk enthält ein Geheimnis, das erst durch die Analyse der jeweiligen Vorarbeiten enthüllt werden könne: Je grösser das Lebenswerk eines Menschen ist, desto tiefer reichen die Wurzeln seiner geistigen Arbeit in das Erdreich von Wirthschaft, Sitte und Recht seiner Zeit, und in desto mannigfaltigerem lebendigerem Austausch mit Luft und Licht umher athmet und wächst sie. In solchem feinen, tiefen und verwickelten Zusammenhang kann jedes scheinbar unerhebliche Blatt Papier ein Element von Causalerkenntniss werden. Das fertige Buch spricht für sich wenig von dem Geheimniss seiner Entstehung aus. Pläne, Skizzen, Entwürfe, Briefe: in diesen athmet die Lebendigkeit der Person, so wie Handzeichnungen von derselben mehr verraten als fertige Bilder 584.

Daher sind wir auf entwicklungsgeschichtliche Materialien angewiesen. Entwürfe und Briefe seien dabei der Garant für Lebendigkeit, die uns hilft, Werke im Geiste des Autors zu verstehen. Von den Handschriften empfängt eine solche Betrachtungsweise ihr Leben und ihre Fülle […]. Die Beziehung von Werken aufeinander und zum Geiste des Autors können nur hypothetisch und unlebendig behandelt werden, wenn nicht Entwürfe und Briefe Bezeugung und lebensvolle Wirklichkeit gewähren. Wo wir dann aus dem Nachlass eines grossen Denkers […] schöpfen können, entsteht das in sich vollkommenste Bild, das wir von irgend einem Teil der Geschichte zu erlangen im Stande sind 585. nur durch die Kunst […], sondern auch durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt.« Dilthey 1958, S. 216. 583 Wilhelm Dilthey: »Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie. II. Bd. 3. Heft. Berlin 1889, S. 343–367, S. 349. 584 Dilthey 1889, S. 351. 585 Dilthey 1889, S. 354.

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Konzeption und Struktur der Akademie-Ausgabe

Im Fall von Kant sind wir jedoch nicht in der Lage, das »vollkommenste Bild« zu erreichen. Dilthey will den Umgang mit Kants Nachlass als mahnendes Beispiel verstanden wissen. »Dies Schicksal der Papiere Kants ist im höchsten Grade belehrend. Die Papiere enthielten aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich die volle und ganze Möglichkeit, die Entwicklungsgeschichte eines der grössten philosophischen Genies aller Zeiten und die wahren geschichtlichen Motive seiner Gedankenbildung zu erkennen« 586. Dadurch wird Diltheys Motivation verständlich, alle noch verfügbaren Hinterlassenschaften Kants in Berlin zu sammeln. Zugleich nutzt er an dieser Stelle die Möglichkeit, an die »Ehrenpflicht« der Akademie zu appellieren: »Und alle Begabung, alle Arbeit wird dies Ziel [die Darstellung der kantischen Entwicklungsgeschichte] nicht eher erreichen, als bis an Einer Stelle der Nachlass Kants vereinigt ist. Dann erst kann eine abschliessende Kantausgabe hergestellt werden: eine Ehrenpflicht der Berliner Akademie!« 587. Diltheys Entwicklung der biographisch-geschichtswissenschaftlichen Forschungsmethode ist geprägt von der Vorstellung, dass Verstehen gelingt. Nach Dilthey liegt hierin eine Voraussetzung der geisteswissenschaftlichen Arbeit. Zugleich ist das Verstehen ein Kennzeichen dieser und grenzt sie von den Naturwissenschaften ab. Diltheys Nachdenken über die geisteswissenschaftliche Methode ist von einem starken Werkbegriff geprägt. In einer Gesellschaft, die von Unaufrichtigkeit geprägt sei, stellen Werke Leuchttürme der Wahrhaftigkeit dar. Briefe und handschriftliche Notizen, Entwürfe o. Ä. dienen als Deutungshilfen des zugehörigen Werks. Dilthey betont sowohl die Bedeutung von Handschriften als auch der Anordnung des Gesamtwerks eines Autors, um die Entwicklungsgeschichte verstehbar zu machen. Das Nacherleben von Leben und Werk des Autors sei so möglich. Rezipiert wurde Diltheys Ansatz von dem Philologen Hermann Usener, der mit seinen Berliner Kollegen Eduard Zeller und dem Redakteur des Akademieprojekts Commentaria in Aristotelem Graeca, Hermann Diels, in brieflichem Kontakt steht 588. Dilthey 1889, S. 359. Dilthey 1889, S. 360–361. 588 Diltheys Hermeneutik sowie seine Trias von »Leben, Ausdruck und Verstehen« wird von einem »kleinen, aber einflußreichen Kreis […] philosophisch stark interessierter und motivierter Philologen« rezipiert. »Es ist ein existentielles Faktum, das die Menschen Leben als bedeutungsvoll erfahren und daß sie diese Bedeutung ausdrücken und daß dieser Ausdruck verstanden werden kann«. Diltheys Begriff des Ver586 587

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Die Akademie-Ausgabe von Kants Schriften

Wie agiert der Hermeneutiker Dilthey als Leiter eines editorischen Großprojektes?

3.3.3.4

Dilthey als Leiter der Akademie-Ausgabe

Eduard Zeller berichtet dem Berliner Philologen Hermann Diels über seinen Austausch mit Dilthey. Am 16. Juli 1895 teilt er mit, dass Dilthey »befriedigt über den Fortgang der Kantausgabe berichtet« 589. Nächsten Winter solle der Antrag auf korrespondierende Mitgliedschaft für Benno Erdmann bei der Berliner Akademie gestellt werden. In einem vier Tage später verfassten Brief nennt Diels eine Reserve von 60000 Mark, mit der sich Dilthey erhofft, »den Kant zu bezwingen« 590. Am 15. Dezember desselben Jahres berichtet Diels über Diltheys »nervöses Herzleiden«, so dass er an seiner Stelle die Leitung der AA übernehmen muss. Er bewertet das als ungünstigen Moment: »Circulare [gemeint sind die Zirkulare an die Bibliotheken, Archive und Privatpersonen, mit der Bitte um Zusendung kantischer Handschriften an die Akademie] sind zu versenden und Contract mit dem widerborstigen Adickes abzuschließen« 591. In seiner Antwort wird deutlich, dass Zeller Dilthey aufgrund seines instabilen Gesundheits-

stehens ist mit drei Hauptbedingungen verknüpft: der Vertrautheit mit mentalen Prozessen, Vertrautheit mit dem Kontext sowie der Kenntnis der sozialen und kulturellen Systeme. Besonders einflussreich war sein Ansatz in der Klassischen Philologie, durch die Biographie einen Zugang zum Verständnis des Kontextes menschlicher Äußerungen zu erhalten. Mit Hermann Usener beginnt die Methodenreflexion der Klassischen Philologie unter Zuhilfenahme von Diltheys Erkenntnissen. Seine These vom »Philologen als Pionier der Geschichtswissenschaft« nimmt Usener an und baut sie zur universellen Altertumswissenschaft aus: »Das Neue […] ist der bis dahin in der Klassischen Philologie so noch nicht zu methodischem Bewußtsein gelangte Sinn für die Geschichtlichkeit des Menschen […]. Die geschichtliche Entwicklung dieser Dokumentationen des Lebens zu erforschen, ist nach Meinung Useners Sache der Geschichtswissenschaft, zu der die Philologie im Verhältnis der sacherschließenden Dienstleistung steht«. Klaus Oehler: »Dilthey und die Klassische Philologie«, in: Hellmut Flashar, Karlfried Gründer (Hg.): Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Göttingen 1979, S. 181–198. 589 Dietrich Ehlers (Hg.): Briefwechsel. Hermann Diels, Hermann Usener, Eduard Zeller. Zweiter Bd. Berlin 1992, S. 100. 590 Ehlers 1992, S. 102. 591 Ehlers 1992, S. 119.

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zustands nicht als verlässlichen Projektleiter ansieht 592. Zeller hat Dilthey schon vor einem Jahr geraten, Haym und Benno Erdmann als korrespondierende Mitglieder aufzunehmen. Dieses Anliegen wurde jedoch vertagt. Am 19. Januar 1896 berichtet Diels Zeller von der schwierigen finanziellen Lage der AA. Dilthey will Adickes für zwei Jahre gewinnen und ihm dafür 8000 Mark zahlen, was zu Protesten der philosophischen Klasse der Akademie geführt hat. Das gesamte Editionsprojekt hängt von Adickes’ Entscheidung ab, den Diels einen »unverschämten Patron« 593 nennt. Am 12. April desselben Jahres beklagt sich Diels über die vielen Zusendungen von Archiven und Bibliotheken und der damit verbundenen Arbeit als stellvertretender Leiter der AA 594. Zeller äußert am 12. Mai 1896 erneut seine Zweifel darüber, dass Dilthey die Aufgabe der Kantedition bewältigen kann 595. Zwei Tage später antwortet Diels, dass die AA mit 25000 Mark finanziell zwar gesichert, Dilthey jedoch aus Krankheitsgründen erneut abwesend ist 596. »Wer auch immer Kant edieren wollte, mußte es auf eigene Faust wagen« 597 – so lässt sich die Ausgangslage für die Editoren der kantischen Schriften zusammenfassen. Diltheys Intention ist es, mithilfe der Edition eine Entwicklungsgeschichte des ganzen Lebens zu schreiben. Es geht ihm um ein »Verständniß der Lebensarbeit Kants«, d. h., er versteht die Lebensarbeit als Ausdruck bzw. Zeugnis desselben. Kant dient ihm dabei als Beispiel einer großen Persönlichkeit. Anhand derer können die Rezipienten der Edition Kants Entwicklung des Lebens mithilfe seiner Schriften nachvollziehen 598. Da es Dilthey um das Narrativ einer Entwicklungsgeschichte Kants geht, stellt die chronologische Ordnung das Mittel der Wahl für die Edition dar 599. 592 Ehlers 1992, S. 120–122. Zudem hat Zeller Dilthey schon vor einem Jahr geraten, Haym und Benno Erdmann als korrespondierende Mitglieder in die Akademie aufzunehmen. Dieses Anliegen wurde jedoch vertagt. Ehlers 1992, S. 120–122. 593 Ehlers 1992, S. 124. 594 Ehlers 1992, S. 132. 595 Ehlers 1992, S. 137. 596 Ehlers 1992, S. 179. 597 Wilhelm G. Jacobs: »Dilthey als Editor Kants«, in: editio 20, 2006, S. 133–141, S. 134. 598 »Der Totalzusammenhang, in dem wir stehen und der für Dilthey der Horizont des Lebens ist, wird für Kant umgriffen und – in jeder Hinsicht des Wortes – beurteilt von der Vernunft.« Jacobs 2006, S. 138. 599 Dilthey verfolge zudem den Zweck, das geschichtliche Verständnis des kantischen Denkens zu befördern. »Unter diesem Aspekt ist es bedeutsam, in welchem Grad Kant

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Dilthey ist als Leiter der Edition nicht mit der editorischen Praxis betraut. Seine Aufgabe besteht in der offiziellen Korrespondenz und Außendarstellung. Er ist der Hauptverantwortliche, vor allem was die finanzielle Absicherung der Ausgabe angeht. In den Materialien des BBAW-Archivs finden sich keine Hinweise auf eine Diskussion um editorische Richtlinien 600. Diese wurden von der Kant-Kommission festgelegt. Die Editoren sollten diese ausführen und nicht hinterfragen. Dilthey hat es als Leiter der AA neben einer angespannten finanziellen Situation auch mit schwierigen Verhandlungen mit Adickes zu tun, von dessen Zusage zeitweilig das Gesamtprojekt abhängt. Von seinem philosophischen Bestreben, Leben und Werk eines Autors verstehbar zu machen, ist auch die AA geprägt. Ziel ist die Darstellung der kantischen Entwicklungsgeschichte, die Dilthey durch die chronologische Anordnung zu erreichen sucht.

3.3.4 Rezeption der Akademie-Ausgabe Die Rezeption der AA ist von dem Disput um die richtige Interpretation von Kants Philosophie geprägt. Diese wurde von vielen Philosophen mit ganz unterschiedlichen Interessen in Anspruch genommen. Innerhalb dieses Diskurses gipfelt dies in der Unterstellung, Kant entweder nur dem Buchstaben oder dem Geist nach zu lesen. Die verächtlich vorgetragene Feststellung, lediglich Kantphilologie zu betreiben und damit Kants »Geist« zu missachten, trägt den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit in sich. Die Kantphilologen würden die Bedeutung von Kants Philosophie verkennen und damit auch seine Verwobenheit in das Schicksal der deutschen Nation, so der Vorwurf ihrer Gegner.

in das öffentliche Leben eingegriffen hat«. Die sich daraus ergebende Einteilung in vier Abteilungen richtet sich Jacobs zufolge nach »Art und Grad, in dem Kant das hinterlassene Material mitgeteilt hat«. Jacobs 2006, S. 138–139. Nimmt man diese beiden Aspekte ernst, dann müsste jedoch die Reihenfolge der Abteilungen eine andere sein: Werke, Vorlesungsnachschriften, Briefe und Handschriften. Vorlesungen greifen mehr in das öffentliche Leben ein und haben einen höheren Mitteilungsgrad als Handschriften. Zudem erreichen sie mehr Personen als private Briefe. Legt man Diltheys Archivaufsatz zu Grunde, müsste der handschriftliche Nachlass als erste Abteilung erscheinen. 600 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1894–1912), PAW II-VIII-153 – PAW II-VIII-155.

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Bevor auch nur ein Band der Ausgabe veröffentlicht war, äußert Adickes, der Herausgeber der dritten Abteilung »Handschriftlicher Nachlass«, seine Erwartungen an die AA. Er tritt in den KS als Verfechter der Kantphilologie auf: »Aber wie die Verhältnisse einmal liegen, ist nur von einer vollständigen Veröffentlichung des gesamtem Materials Heil und Genesung zu erwarten. Und der Genesung bedürfen wir. Die deutsche Philosophie seufzt unter dem Drucke der Erbschaft Kants. Sein System steht noch immer im Mittelpunkt des Interesses, selbst bei denen, die es bekämpfen. Es ist das allgemeine Orientierungsmittel, der magnetische Nordpol« 601. Adickes hofft durch die philologische Bearbeitung der kantischen Handschriften auf ein Ende der philosophischen Grabenkämpfe, so dass in den Streitfragen der Kantforschung »endgültige Resultate« erzielt werden können. Zudem wünscht er sich, dass »das böse Wort ›Kantphilologie‹ (das, in gutem Sinne verstanden, immer seine Rechte behaupten wird) nicht mehr die Gemüter beunruhigt« 602. Bemerkenswert ist Vaihingers Bewertung der AA als neukantisches Großprojekt. Die AA wird insgesamt positiv besprochen. Dilthey selbst hätte sich gewiss nicht als Neukantianer bezeichnet oder sein Projekt als ein solches aus dieser philosophischen Strömung erwachsenes angesehen, aber er konnte die Neukantianer Natorp und Windelband für die Editionstätigkeit gewinnen 603. Mit den KS verfolgt Vaihinger den Anspruch, »nicht ›Kantphilologie‹ in jenem verrufenen Sinne« zu reproduzieren, »sondern philosophische und philosophiegeschichtliche Forschungen im Anschluss an Kant« betreiben zu wollen. Philologische Fragen sind für ihn nur »rein äusserliche« 604. Erinnert sei an dieser Stelle nochmal an einen Befürworter der Kantphilologie, Ernst von Aster, der von der AA erwartet, dass sie »die kantphilologische Arbeit im engeren Sinn zum Abschluss bringt. Denn der Zweck der Ausgabe ist die ›chronologisch geordnete und 601 Erich Adickes: »Lose Blätter aus Kants Nachlass«, in: KS 1, 1897, S. 232–263, S. 235. 602 Adickes 1897, S. 238. 603 »Die neukantische Bewegung, wie sie seit etwa 30 Jahren in Deutschland herrscht, ist vertreten durch eine Reihe älterer und jüngerer Forscher, und Dilthey verstand es mit geschickter Hand, dieselben in den Dienst des neuen Unternehmens zu stellen, das somit als ein dauerndes ehrenvolles Dokument dieser ganzen neukantischen Ära gelten kann.« Hans Vaihinger: Die neue Kantausgabe. Kants Briefwechsel, in: KS 5, 1901, S. 73–115, S. 74. 604 Vaihinger 1901, S. 7.

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vollständige Darbietung‹ des ganzen Materials kantischer Gedankenarbeit – die Verwandlung seines Lebenswerks in ein unzerstörbares geistiges Kapital« 605. Durch Modernisierung und Anpassung der Orthographie entsteht ein reiner, bester Text. Diese textliche Basis soll der Kantforschung dienen, um Dispute zu überwinden. Ebenso wie Vaihinger sieht von Aster die AA als neukantisches Projekt an und erhofft sich durch die Edition eine objektive Grundlage, um die philosophischen Querelen beenden zu können. Gleichzeitig verortet er die Leistung der Edition in der Bedeutung für die nationale Geistesgeschichte der Deutschen: Indem aber diese neukantische Forschung sich und den ihr zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Apparat in den Dienst jenes Unternehmens stellte, hat sie schliesslich sehr viel mehr geschaffen, als einen blossen Ausgangspunkt, eine objektive Grundlage für die Interpretationsfragen und -Streitigkeiten der Gegenwart, nämlich einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteslebens überhaupt 606.

Zudem lobt er die philologische Redaktion der AA, die die prinzipienlose Editionstätigkeit von Hartenstein und Rosenkranz überwinde 607. Letztere legen in ihrer Edition der KrV die fünfte Auflage aus dem Jahr 1799 zugrunde. Begründet wird diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass Kant diese Auflage noch überprüfen konnte. Von Aster hält diese Begründung für nicht stichhaltig 608. Daher begrüßt er Erdmanns Entscheidung, A und B als Grundtexte anzusehen. Die vierte Auflage von 1794 wird zum Beweis herangeführt, dass Kant Modernisierungen hat geschehen lassen. Insgesamt werden die Bände der Werkabteilung durch von Aster positiv besprochen. Er hebt bei den Bänden III und IV die zurückhaltende Arbeit des Herausgebers Erdmann sowie die Einhaltung der Editionsprinzipien hervor. Er »legt überall den grössten Wert darauf, dass der überlieferte Text sich leicht aus den vorgeschlagenen Konjekturen herleiten lässt und giebt lieber eine korrumpierte Stelle unverändert, als dass er Veränderungen einschiebt, die willkürlich erSiehe Fußnote 496. von Aster 1904, S. 323. 607 von Aster 1904, S. 330–331. 608 »Irrig dagegen ist der z. B. von Rosenkranz und Schubert ausdrücklich eingenommene Standpunkt, dass man die fünfte, als die ›letzte unter Kants Auspicien gedruckte Originalausgabe‹ zu Grunde legen müsse.« Ernst von Aster: »Der III. Band der KantAusgabe«, in: KS 11, 1906, S. 450–455, S. 451. 605 606

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scheinen könnten« 609. Das Vorgehen, Emendationsvorschläge von fünfzehn Personen sowie die Randbemerkungen in Kants Handexemplar von A ebenfalls für die Textkonstitution heranzuziehen, wird nicht in Frage gestellt. Die »sachlichen Erläuterungen« beträfen lediglich rein äußerliche, grammatikalische Zusammenhänge. Von Aster grenzt diese vom Kommentar ab, der sich gänzlich dem Inhalt widmen würde 610. Es entsteht der Eindruck, dass die KrV als klassischer Text eines klassischen Philosophen keiner Kommentierung bedarf. In Bezug auf die Bände V und VI der AA moniert von Aster die mangelhafte Umsetzung der Vorgabe, in den »Sachlichen Erläuterungen« die äußere Geschichte des Werks darzustellen. Natorp liefert hier Literaturhinweise. Windelband verfährt mit dieser Vorgabe freier an einigen Stellen, was der Rezensent positiv bewertet und insgesamt auch nur leichte Kritik übt 611. Dem Umstand, dass in der zweiten Abteilung »Briefwechsel« der erste Band mit dem Brieftext vor dem Apparatband veröffentlicht worden ist, begegnet Vaihinger mit Gleichmut. Er lobt den Abdruck des »reinen Textes« in »buchstäblicher Treue«, da dadurch der »Duft der Altertümlichkeit erhalten geblieben« sei. Trotz des erst später erscheinenden zugehörigen Apparatbandes will Vaihinger seinen Lesern die Informationen über den Briefband nicht vorenthalten: »Was wir ohne Hilfe des kritischen Apparates schon jetzt mitteilen können, ist des Interessanten genug« 612. 609 Ernst von Aster: »Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe«, in: KS 10, 1905, S. 96–104, 100. 610 »Natürlich sind diese sachlichen Erläuterungen nicht als Kommentar zur Kritik gedacht, sondern sie haben wesentlich den Zweck, vorgeschlagene Änderungen des Textes an schwierigen Stellen, über den eine Entscheidung ganz ohne Eingehen auf den Inhalt nicht möglich war, zu rechtfertigen«, in: Ernst von Aster: Der III. Band der Kant-Ausgabe, in: KS 11, 1906, S. 450–455, S. 451. 611 »[I]ch glaube, man wird ihm [Windelband] dafür Dank wissen, dass er hier den Rahmen einer ›äusseren‹ Geschichte des Werkes, wie sie das Programm der Ausgabe für die sachlichen Einleitungen vorsieht, vielleicht nicht ganz streng eingehalten hat. Nur eine Wendung wie die, Kant habe ›damals noch mit vollkommen kritischer Schärfe‹ die Unmöglichkeit einer Herleitung der besonderen Naturgesetze aus den transzendentalen Prinzipien erkannt, hätte man m. E. n. hier besser vermieden, da sie doch erheblich mehr behauptet, als sich in diesem Zusammenhang beweisen lässt.« Ernst von Aster: »Band V und VI der Akademie-Ausgabe«, in: KS 14, 1909, S. 468–476, S. 472. 612 Hans Vaihinger: »Die Neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel«, in: KS 5, 1901, S. 73–115, S. 77.

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Anders fällt die Bewertung der dritten Abteilung des »Handschriftlichen Nachlasses« aus. Von Aster moniert Adickes’ ausufernde Kommentierung und stellt die Detailliertheit in Frage. »Es will mir scheinen, als habe man dabei bisweilen des Guten etwas zu viel getan und Arbeit an mancherlei Dinge verwandt, bei denen es sehr fraglich ist, ob sie jemals weitere Benutzung finden werden.« Seiner Ansicht überschreitet Adickes mit der Fülle an Kommentaren seine Kompetenzen als Editor: A.s [Adickes] Position, dass die Ansicht des Herausgebers über Wert und Unwert der einzelnen Kantischen Aufzeichnungen nicht hätte in Betracht kommen dürfen, dass jede Auswahl einer subjektiven Willkür Tor und Tür geöffnet hätte, ist ja gewiss richtig – und trotzdem erscheint es als zu weitgehend, wenn an eine flüchtig hingeworfene mathematische Figur scharfsinnige Überlegungen sich knüpfen, um herauszubekommen, was Kant vielleicht mit ihr gemeint haben könnte 613.

Von Aster kritisiert den Fokus auf die unterschiedlichen Formulierungen Kants, die mit der endgültigen kollationiert werden. Dadurch werde eine Fortschrittsarbeit konstruiert, die so nicht haltbar sei 614. Hinsichtlich der »Vorlesungen« stellt von Aster die gesamte Abteilung in Frage, da Adickes bereits Teile aus den Kollegnachschriften in ausführlichen Zitaten in Band XV verwendete. Angesichts dieser Tatsache fragt er sich: Hat »es dann […] noch Zweck, wie es doch im Plan der Ausgabe vorgesehen ist, in der IV. Abteilung diese Nachschriften selbst oder ein aus ihnen sich ergebendes Gesamtbild zu veröffentlichen?« 615. Der allgemeinen Überzeugung der Editoren zufolge, dass jede schriftlich fixierte Äußerung Kants von Wert und bedeutungstragend für das Verständnis von seiner Denk- und Arbeitsweise sei, sieht von Aster ebenfalls kritisch. Er bezweifelt, dass: »in den scheinbar nichtssagenden Beispielen für den, der sie in grösseren Zusammenhang zu stellen weiss, Leben und typische Bedeutung gewinnen und uns einen Einblick in Kants Denk- und Anschauungsweise […] gewähren.« 616. Sein Verständnis der Leistung eines

613 Ernst von Aster: »Der I. Band des handschriftlichen Nachlasses Kants,« in: KS 17, 1912, S. 437–445, S. 439. 614 Von Aster 1912, S. 439. 615 Ernst von Aster: »Der VIII. und XV. Band der Berliner Kant-Ausgabe«, in: KS 18, 1913, S. 476–485, S. 481. 616 Ernst von Aster: »Kants handschriftlicher Nachlass«, in: KS 21, 1917, S. 420–428, S. 421.

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Die Marburger Konkurrenzausgabe von Kants Schriften

Editors fällt mit dem der Deutungshoheit nicht zusammen. Er hat einen Editor im Sinn, der Zurückhaltung übt und die Interpretation der kantischen Schriften den Rezipienten der Edition überlässt. Die AA führte nicht nur zu diversen Besprechungen in den KS, sondern provoziert auch eine Konkurrenzunternehmen heraus: In Marburg beginnt Hermann Cohen mit den ersten Überlegungen zu einer weiteren Kantedition.

3.4 Die Marburger Konkurrenzausgabe von Kants Schriften An der von Dilthey initiierten AA waren zwar von den Marburgern neben Natorp auch Kurd Laßwitz, Rudolf Stammler sowie Karl Vorländer beteiligt, jedoch fehlten mit Cohen und Cassirer das Schuloberhaupt sowie sein wichtigster Schüler. 1890 veröffentlicht Cohen in den von Natorp herausgegebenen Philosophischen Monatsheftenden Artikel »Zur Orientirung in den Losen Blättern aus Kants Nachlass« 617 über sein Studium der kantischen Handschriften in Königsberg während einer gemeinsamen Reise mit August Stadler im Jahr 1885. Darin beschreibt er sein Unbehagen, die Handschriften eines Autoren zu sehen, den er sonst nur durch gedruckte Werke kennt. Sie erinnern ihn »an die Schriftzüge einer nicht unmittelbar für den Druck sorgenden Person, an die Handschrift eines Mannes in seiner unbewachten Hausarbeit« 618. Cohen wolle sich im weiteren Verlauf des Artikels jedoch nicht weiteren »sentimentalen Betrachtungen« widmen, sondern den Rechtsfragen zuwenden. »Kant hat ausdrücklich verboten, dass sein Nachlass gedruckt werde. Wir setzen uns darüber hinweg, weil wir an Alles, was der Genius offenbart, ein Recht zu haben glauben« 619. Dieses Recht ist für Cohen mit dem Zweck verbunden, Kultur und Wissenschaft zu befördern. Dieses »Zweckrecht« legitimiere »die Verletzung des Rechts der Person an ihrem Eigenthum« 620. Cohen setzt vor der Heranziehung von handschriftlichen Material die Kenntnis des Werks voraus. Diese stellen für ihn Einheiten dar, die aus sich selbst

617 Hermann Cohen: »Zur Orientirung in den Losen Blättern aus Kants Nachlass«, in: PM, XXVI. Band 1890, S. 287–323. 618 Cohen 1890, S. 287. 619 Cohen 1890, S. 288. 620 Cohen 1890, S. 288.

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heraus zu verstehen seien 621. Im Weiteren erläutert er sein Verständnis des Werkbegriffs auf der Basis des individuellen Lebens sowie deren wechselvolles Verhältnis. Cohen warnt davor, das »Philosophem, das Factum der Philosophie-Geschichte« 622 rein sachlich aufzufassen. Er plädiert stattdessen für die Erforschung des Werkes unter Berücksichtigung der individuellen Bedingungen. Damit das Werk, welches für Cohen eine Einheit darstellt, erfasst werden kann, muss eine Vereinigung der beiden Bereiche Sachgegenstand und Individuum angestrebt werden 623. Erst durch die Zusammenführung beider Bereiche, in »der Concentricität der Gedankenkreise wird das Philosophem Sache« 624. Cohen reagierte gekränkt auf den Umstand, von Dilthey bei der Frage der Mitarbeit an der AA übergangen worden zu sein, und beauftragt seinen Schüler Ernst Cassirer mit der Anfertigung einer eigenen Werkausgabe. Programmatisch äußert sich Cassirer zur Kantphilologie in seinem 1918 veröffentlichten Ergänzungsband XI Kants Leben und Lehre der Edition: Der Wert der Detailarbeit, die von der ›Kant-Philologie‹ der letzten Jahrzehnte geleistet worden ist, soll nicht unterschätzt werden […]. Dennoch scheint mir, als habe diese Richtung der Detailforschung die lebendige Anschauung von dem, was Kants Philosophie als Einheit und als Ganzes bedeutet, häufig eher gehemmt als gefördert. Wir müssen und dürfen einer Forschungs- und Arbeitsrichtung gegenüber, die sich vor allem in der Aufdeckung der ›Widersprüche‹ Kants zu gefallen scheint und die zuletzt das gesamte kritische System zu einem Aggregat solcher Widersprüche zu machen droht, wieder zu einer Gesamtansicht von Kant und seiner Lehre zurückstreben, wie Schiller und Wilhelm von Humboldt sie besessen haben 625.

»Die Werke des Geistes überhaupt sind trotz Schicksal und Erziehung Einheiten. In vorbildlicher wie in prägnanter Weise sind die Werke eines Genies solche Einheiten, die nicht durch Addition wachsen, nicht durch Anpassung und Annäherung verständlicher werden, nicht durch die Probe von angeblichen Theilen, Stücken und Versuchen als Einheiten zu errechnen sind.« Cohen 1890, S. 293. 622 Cohen 1890, S. 290. 623 »Wie wird das Philosophem zur Sache, wenn es weder allein durch die Einordnung in einen persönlichen Zusammenhang noch allein durch die Beziehung auf eine Entwicklung der speculativen Idee diesen geschichtlichen Charakter einer Sache erlangen kann?« Cohen 1890, S. 290. 624 Cohen 1890, S. 291. Cohen benutzt für seine Textbelege der KrV die Ausgabe von Karl Kehrbach, Leipzig 1877, 21878. 625 MA XI, S. V-VI. sowie ECN 17, S. 373. 621

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Cassirer will sich von philologischen Detailfragen distanzieren und zurück zu einer ganzheitlichen Sicht von Kants Philosophie gelangen. Er strebt eine Edition an, die zu der »Schlichtheit und Geschlossenheit, zu der erhabenen Einfachheit und Allgemeinheit des Kantischen Systems« zurückkehrt. »Dieses Ziel konnte […] nur dann erreicht werden, wenn darauf verzichtet wurde, den bloßen Umfang der Kantischen Gedankenarbeit vollständig darzulegen« 626. Der letzte Satz kann als Kritik an der Vorgehensweise der AA aufgefasst werden, alles von Kant zu edieren. Sowohl im systematischen als auch im biographischen Teil der Edition hat Cassirer sich daher Einschränkungen auferlegt: »Nur die großen und durchgehenden Züge der Kantischen Lebensführung und das, was als der einheitliche ›Sinn‹ dieser Lebensführung im Laufe der menschlichen und philosophischen Entwicklung Kants immer bestimmter heraustritt, habe ich aufzuzeigen gesucht« 627. An dieser Stelle tritt eine entscheidende Differenz zur AA zu Tage. Die Marburger Ausgabe verfolgt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern trifft eine Auswahl. Cassirers Anspruch ist es hingegen, Leben und Werk aufeinander zu beziehen, so dass »die Persönlichkeit und das Werk Kants in der Tat aus einem Gusse sind« 628. Bei der Form der Darstellung bemüht sich Cassirer um »Bestimmtheit und Deutlichkeit« im kantischen Sinne. So habe Kant zugunsten des Verständnisses seiner Grundidee der Vernunftkritik auf anschauliche Beispiele verzichtet. Cassirer bezieht sich über diese von Kant gesetzte Grenzlinie auf die Vorrede von A, über die keine Darstellung seiner Lehre hinausgehen dürfe 629. Bezüglich des subjektiven Standpunktes eines Philosophen, der Kants Leben und Werk darstellen will, strebt Cassirer Transparenz an. Er will diesen nicht »verschleiern« oder »verdecken«, sondern fordert ein, »diese Subjektivität, die mit jeder selbständigen Rekonstruktion eines philosophischen Systems MA XI, S. VI. sowie ECN 17, S. 373–374. MA XI, S. VI sowie ECN 17, S. 374. 628 MA XI, S. VII sowie ECN 17, S. 374. Das ist in den Grundzügen auch Diltheys Anspruch, der sich innerhalb seiner Überlegungen zur Hermeneutik aufweisen lässt. Siehe Kapitel 3.3.3.3. 629 »›Denn die Hülfsmittel der Deutlichkeit‹ – so bemerkt die Vorrede zur ersten Auflage der Vernunftkritik – ›helfen zwar in Theilen, zerstreuen aber öfters im Ganzen, indem sie den Leser nicht schnell genug zur Überschauung des Ganzen gelangen lassen und durch alle ihre hellen Farben gleichwohl die Artikulation oder den Gliederbau des Systems verkleben und unkenntlich machen‹.« MA XI, S. VII. 626 627

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notwendig gesetzt ist, von Anfang an anzuerkennen« 630. Cassirers Ergänzungsband stellt sich nicht die Aufgabe, Kants Philosophie weiterzuentwickeln. Er hält eine solche Weiterentwicklung per se jedoch »durch den Gehalt der kritischen Philosophie selbst, die kein metaphysisches Dogma aufstellen, sondern einen Weg und eine Weise der philosophischen Forschung bezeichnen will«, für geboten und verweist auf Kants Ausspruch, dass es in der Philosophie keinen klassischen Autor geben könne 631. In einem Brief an Ernst Cassirer bekundet Cohen seinen Wunsch, als Herausgeber genannt zu werden, da »dem Verleger […] die Teilnahme an der Herausgabe der Fragmente, ihre Auswahl & Datierung [ich] mich angeboten habe« 632. Die Edition wird angekündigt als »Gesamtausgabe in zehn Bänden und zwei Erläuterungsbänden. Herausgegeben in Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann, O. Schöndörffer von Ernst Cassirer« 633. Die Hauptverantwortung obliegt Cassirer, wobei der Name Cohen an prominenter Stelle genannt wird. Letztendlich hat er keinen Band veröffentlichen können; seine Fragmente aus Kants Nachlass sind nicht an die Öffentlichkeit gelangt 634. 1910 bittet Cassirer Albert Görland brieflich um die Mitarbeit an der Edition. Aus diesem geht hervor, dass Görland Natorp bereits bei der editorischen Arbeit an Band V (KpV) der AA, in erster Auflage 1908 erschienen, unterstützt hat. »Der Verlag Bruno Cassirer plant eine Kant-Ausgabe, an der, ausser Cohen und mir, noch Dr. Buek, Dr. Buchenau und ev. Dr. Kellermann sich beteiligen werden. Hätten Sie Lust und Zeit, an dieser Ausgabe mitzuwirken? Eine derartige Arbeit ist Ihnen als solche nicht fremd, da Sie Natorp bei der Ausgabe der Kritik der praktischen Vernunft eifrig unterstützt haben. Für den Fall, daß Sie mit bei der Sache sein wollen, könnte ich Ihnen die »Kritik der reinen Vernunft« vorschlagen, die bisher noch von keinem der MA XI, S. VIII. MA XI, S. IX. 632 Brief Cohens an Cassirer vom 06. 06. 1911, in: ECN 17, S. 273. 633 ECN 17, S. 275. 634 Der von Otto Schöndörffer und Hermann Cohen angekündigte Band VIII Anthropologie, Preisfragen, Vorlesungen über Logik, Pädagogik, Fragmente aus dem Nachlass ist 1922 ohne die Mitwirkung des letzteren erschienen. Cohen verstarb 1918. An seiner Stelle haben Buek und Buchenau mitgearbeitet. Zudem hat Cohen einen der zwei Erläuterungsbände mit dem Titel Kants Einwirkungen auf die Wissenschaft und die allgemeine Natur geplant. Dieser ist nicht zur Ausführung gekommen. Zur genauen Auflistung der Bände siehe ECN 17, S. 275. 630 631

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Mitarbeiter übernommen worden ist […]. Eine Schwierigkeit liegt nur darin, daß der Verlag mit der Ausgabe drängt […]. Als Honorar ist 20 Mark pro Bogen der Textausgabe festgesetzt; also für den Gesamttext der Kr. d. r. V. etwa 800 Mark« 635. Ab dem Jahr 1912 wird das Thema der Konkurrenz durch die Marburger für den Sekretär der AA, Menzer, akut. An Erdmann schreibt er über die Prüfung von Reickes Arbeit: Auch ist es notwendig, dass Reickes Druck nachgeprüft wird, damit die Cassirer-Ausgabe nicht durch Nachweis von Fehlern unseren Druck diskreditiert […]. Die Spekulation der Herren und ihres Verlegers geht dahin ihre Ausgabe möglichst bald vollständig zu machen, um sie dann als die einzig abgeschlossene zu bezeichnen. Ich sehe nicht ein, weshalb wir uns Schwierigkeiten machen sollen, um ein solches Unternehmen zu fördern, das doch schliesslich unsere mühselige Arbeit benutzt. Der erschienene erste Band zeigt dies ja ganz deutlich 636.

1912 fragt Cassirer bei Adickes an, um Einsicht in die Kanthandschriften zu erhalten. Die Akademie verwehrt Cassirer jedoch den Einblick in diese, wie aus folgendem Brief hervorgeht: Gestatten Sie mir als Herausgeber der neuen bei Bruno Cassirer erscheinenden Kant-Ausgabe eine Anfrage an Sie zu richten. Ich habe für diese Ausgabe die Bearbeitung der Kantischen Briefsammlung übernommen, die ich mit einem eingehenden Commentar begleiten möchte. Zugleich aber möchte ich bei der Gestaltung des Textes möglichst sorgfältig verfahren, d. h. überall auf die handschriftlichen Quellen selbst zurückgehen […]. Wie mir nun die Dorpater Universitäts-Bibliothek auf eine Anfrage mitteilt, ist der grösste Teil des handschriftlichen Materials […] schon seit Jah635 Brief Cassirers an Görland vom 22. 01. 1910 (http://agora.sub.uni-hamburg.de/ subcass/digbib/view?did=c1:6848&sdid=c1:6849) (04. 10. 21). [Transkription der Verfasserin] 636 Brief Menzers an Erdmann vom 04. 04. 1912, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). Menzers Empörung geht so weit, dass er als Privatperson eine Notiz an das Literarische Zentralblatt schreibt, in der Herr Lange, Oberlehrer in Charlottenburg, »den 2ten Band der Cassirerausgabe mit hohem Lobe bedacht, uns aber höchst abfällig kritisiert. Ich habe mir darauf diesen Band angesehen und gefunden, dass Buchenau [MA, Bd. II, 1912] sich überall auf unsere Ergebnisse stützt und kaum etwas Neues bringt. Bei Durchsicht des Titelblattes entdeckte ich dann, dass die von Warda neuaufgefundene Rezension Kants […] fehlt. Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen und ich habe an die L.Z. [Literarisches Zentralblatt] eine Notiz geschickt.« Seine Position innerhalb der Akademie wollte Menzer dabei unerwähnt lassen. Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 156 (1913–1915).

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ren an die Berliner Akademie verliehen […]. Ich habe mich nun zunächst an Herrn Professor Menzer gewandt, der mir mitteilt, daß die beiden Dorpater Briefbände sich zur Zeit bei Ihnen befinden, später aber zur Fertigstellung des 4ten Bandes der Briefe in der Akademie-Ausgabe an ihn gelangen müssten, mir daher nicht zugänglich gemacht werden könnten […]. Nach meiner Auffassung erfülle ich mit der Vergleichung der Handschriften in diesem Falle einfach meine Pflicht als Herausgeber: [N]achdem aber die Akademie dieses Material bereits seit 17 Jahren in ihren Händen hat, wird sie keine Einwendungen dagegen erheben wollen, daß es nunmehr auch von anderer Seite in Anspruch genommen wird 637.

Menzer geht in einem Brief an Erdmann auf die Anfrage Cassirers ein, über deren Inhalt er im »höchsten Maasse erstaunt« sei, da er »von einer Überlassung der Bände von Adickes nichts erfahren habe«. Menzer ist es »völlig unbegreiflich«, warum Adickes in dieser Sache eigenmächtig gehandelt hat, da »die Bände nicht ihm, sondern der Akademie überlassen worden sind und nur durch diese weitergegeben werden können« 638. Er bittet Erdmann um Rat, wie er auf Cassirers Anfrage reagieren soll, und befürwortet eine Abgrenzung in Bezug auf das Konkurrenzunternehmen. »Es ist unbedingt notwendig, dass wir die Bände jetzt längere Zeit benutzen. Gerade Cassirers Brief zeigt, dass wir mit dem Apparat nicht mehr warten dürfen, da die Herren dann in die Welt posaunen, dass sie allein einen abgeschlossenen Briefwechsel Kants veröffentlicht hätten« 639. Vier Tage später informiert Menzer Erdmann über Adickes Auskunft, dass Cassirer »im Namen der Dorpater Bibliothek um die Bände gebeten hat.

637 Brief Cassirers an Adickes vom 01. 04. 1912 (http://agora.sub.uni-hamburg.de/ subcass/digbib/view?did=c1:3116&sdid=c1:3117) (04. 10. 21). [Transkription der Verfasserin] Die Akademie hat auch Handschriften der Bibliothek Danzig entliehen. Am 30. 11. 1908 erhält die Akademie einen Brief von dieser mit der Bitte um Rücksendung. Die Kanthandschriften seien bereits seit sieben Jahren als Leihgabe in ihrem Besitz, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). 638 Brief Menzers an Erdmann vom 27. 04. 1913, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 156 (1913–1915). Der Umgang mit Adickes war schwierig. Er hat wiederholt Forderungen gestellt, die von der Planung sowie vom Budget der AA nicht abgedeckt waren. So fordert er bspw. Faksimiles für seine Bände. Siehe den Brief Erdmanns an Menzer vom 19. 03. 1914, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 156 (1913–1915). 639 Brief Erdmanns an Menzer vom 19. 03. 1914 Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 156 (1913–1915).

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Adickes hat übrigens den dritten Band zurückbehalten« 640. Menzer will Cassirer deutlich machen, dass von jetzt an alle Verhandlungen mit der Leitung der AA zu klären seien. Folglich konnten nur die handschriftlichen Bestände der Universitätsbibliothek Rostock von den Marburgern verwendet werden 641. Der Dorpater Nachlass sowie die Kanthandschriften der Universitätsbibliothek Königsberg lagen in Berliner Händen. Bei Fragen hinsichtlich der Prüfung des Manuskriptes für eine zweite Auflage der Edition gibt Menzer zu bedenken, dass »die Cassirerausgabe ebenfalls die Manuskripte prüfen will und die Herren werden es sich nicht entgehen lassen uns Fehler anzustreichen« 642. Nicht nur Menzer hat den Aspekt der Konkurrenz verinnerlicht, sondern auch die Akademie. Sie befürchtet etwaige Publikationen auch aus den eigenen Reihen. Menzer plant einen eigenen Band mit einer Auswahl kantischer Schriften. Dieses Vorhaben löst bei der Akademie Bestürzung aus, wie Menzer dem Verleger Reimer berichtet. Er führt an, welche Auswirkungen es für die Akademie hätte, würde die »Firma Bruno Cassirer, die soeben eine neue elfbändige Ausgabe der Kant’schen Werke angekündigt hat, nebenher von sich aus einen Ihrer Anregung verwandten Kantband schüfe und in diesem Bande auf die große Ausgabe des Cassirer’schen Verlages als den verbindlichen Kanon verwiese, dadurch jene Ausgabe eine Förderung, diejenige der Akademie […] eine Hemmung erführe« 643. Reimer gibt zu bedenken, dass Menzers Band einer »vor den Toren der Kantgemeinde« 644 wäre. In der Folge schreibt Menzer einen fünfseitigen Brief an die Kantkommission, um die Angst vor einer Volksausgabe 640 Brief Menzers an Erdmann vom 01. 05. 1913, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). 641 Stark 1993, S. 83. 642 Brief Menzers an Erdmann vom 16. 05. 1913, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). Den gleichen Ton schlägt Menzer an, wenn er fünf Jahre später an Erdmann schreibt: »Inzwischen drucken die Cassirerleute vielleicht bald wieder einige Manuskripte ab und erheben über solchen Fund dann ein lautes Geschrei.« Brief Menzers an Erdmann vom 15. 12. 1918, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 157 (1916– 1919). 643 Brief Reimers an Menzer vom 01. 07. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). Das Wort »verbindlichen« ist schlecht entzifferbar, da mit Tinte überschrieben. 644 Brief Reimers an Menzer vom 01. 07. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912).

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zu reduzieren 645. In diesem gibt er seine Motivation preis, einen Textband für die Kant-Gesellschaft schaffen zu wollen und sich damit explizit nicht an Fachphilosophen zu richten. Im 1918 veröffentlichten neunten Band der Marburger Kantedition verleiht Cassirer seinem Unmut Ausdruck, dass die Akademie anderen Forschern Einsicht in die Handschriften verweigert: »Die handschriftlichen Vorlagen, auf denen diese Ausgabe beruht […], sind leider noch immer der allgemeinen wissenschaftlichen Benutzung entzogen, da sie von der Berliner Akademie für die Ausgabe des Kantischen handschriftlichen Nachlasses und für die Fertigstellung des vierten, von Reicke nicht mehr veröffentlichten, Briefbandes, der die Lesarten und Anmerkungen zu den Briefen enthalten soll, zurückgehalten werden. Wiederholte Versuche, die ich unternahm, um in dieses wichtige handschriftliche Material für längere Zeit Einsicht zu erhalten, sind leider fehlgeschlagen« 646. Im ersten Band Vorkritische Schriften folgt zwischen Lesetext und Lesarten die »Vorbemerkung zur ganzen Ausgabe« 647. Diese enthält die editorischen Richtlinien: Auf die Originalausgaben Kants wird zurückgegangen und deren Lesart nach Möglichkeit beibehalten. Eingriffe in den Text finden nur dort statt, wo »Versehen des Originals« vorhanden sind, die das »Verständnis des Sinnes« 648 erschweren. Diese Änderungen werden in den Lesarten vermerkt, außer es handelt sich um eine Druckfehlerverbesserung. Ediert wird nach dem Prinzip letzter Hand. Abweichende Lesarten werden erwähnt, wenn sie eine Verbesserung darstellen. Ebenfalls werden Handschriften herangezogen, wenn sie denn zugänglich sind. Zudem finden Verbesserungsvorschläge früherer Herausgeber Eingang in den Apparat. Da Kant sehr wenig Einfluss auf den Drucktext nahm, wird die Orthographie und Interpunktion normiert, da sonst nur Setzereigentümlichkeiten reproduziert werden würden. Bewahrt wird hingegen die Sprachform: »Die stilistische Eigenart Kants sollte nicht angetastet und auch die Verschiedenheit des Kantischen Stils und Sprach645 Brief Reimers an Menzer vom 01. 07. 1911, Archiv der BBAW, Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe, PAW II-VIII, 155 (1900–1912). 646 MA IX, S. 457. 647 MA II, S. 517–518. Hinter den »Lesarten« ist die »Inhaltsübersicht des ersten Bandes« abgedruckt. Die »Vorbemerkung« ist hierin nicht gesondert verzeichnet, sondern fällt unter »Lesarten«. Da diese nicht unterzeichnet ist, bleibt unklar, ob Cassirer sie allein oder im Editorenkollektiv verfasst hat. MA II, S. 539–540. 648 MA II, S. 517.

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gebrauchs in den verschiedenen Epochen seiner Schriftstellertätigkeit nicht verwischt werden« 649, Eine Ausnahme bilden solche Sprachformen, die den Sinn verstellen würden 650. 1913 erscheint der von Görland herausgegebene dritte Band mit der KrV. Der Text ist durchgehend aus der Antiqua gesetzt. Görland wählt B als Grundtext und verzeichnet die Abweichungen von A im Anhang mithilfe des positiv lemmatisierten Einzelstellenapparates. Die Lettern des Lesetextes sind in einer größeren Type abgedruckt im Vergleich zu denen des Apparatteils. Zudem finden Varianten von Kantforschern Eingang in den Apparat. Angesichts der Fülle an Emendationsvorschlägen sieht Görland seine Aufgabe darin, »in mancherlei Hinsicht weniger zu tun, als von Früheren [Herausgebern] geschehen ist. Ich suchte also meine Arbeit darin, den Originaltext gegenüber den mannigfachen Eingriffen und Veränderungen […] zu rechtfertigen und wiederherzustellen« 651. Görland sieht seine Aufgabe als Editor in der Bereinigung des Textes von Fremdeinwirkungen. Ähnlich wie Erdmann verfolgt er einen positivistischen Ansatz in der Editionspraxis und sieht seine Aufgabe in der präzisen Wiedergabe des Originaltextes. Der Editor fungiert in diesem Fall als Restaurator. Begründet wird die Trennung von Text- und Apparatteil, da so nichts den »ruhigen Fortgang des Mitdenkens« stören würde. Der Text soll »zunächst rein für sich selbst und ohne alle kritischen Zutaten sprechen« 652. Kants eigene Umarbeitungen werden im Apparatteil von denjenigen anderer Kantforscher getrennt aufführt. Der Band ist wie folgt aufgebaut: Titelblatt, Lesetext, Lesarten: erste Abteilung, Gesamtbericht über die textkritische Arbeit an diesem Bande, zweite Abteilung, Vergleich der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, Inhaltsübersicht des dritten Bandes. In der Altpreußischen Monatsschrift werden in dem Zeitraum von 1912 bis 1922 die Bände der Marburger Ausgabe von Arthur Warda besprochen. Der Jurist und Kantforscher sieht keine Notwendigkeit einer Rechtfertigung für eine weitere Kantedition. Ihrem Plan sowie ihrer äußeren Ausstattung gemäß soll sie »den besten deut-

MA II, S. 517–518. Als Beispiel wird die kantische Form »seyn« angeführt, die verändert wird, wenn sie »sind« oder »seien« bedeutet. MA II, S. 518. 651 MA III, S. 574. 652 MA III, S. 574. 649 650

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schen Klassiker-Ausgaben zur Seite treten« 653. Warda beschreibt die chronologische Ordnung sämtlicher Schriften Kants und betont die Wirkung der »Stetigkeit der Kantischen Gedankenentwicklung« sowie den Mehrwert, »den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang der einzelnen Werke klar hervortreten zu lassen« 654. Warda bewertet es positiv, dass die Marburger Ausgabe die chronologische Ordnung im Gegensatz zur AA konsequent befolgt. Er moniert hingegen die fehlende Kommentierung sowie die große Ähnlichkeit zur AA hinsichtlich der Lesartenverzeichnung. Warda bewertet die Marburger Edition als gelungener bezüglich der Ausstattung, wie das Format, die Papierqualität und die Wahl der Drucktype. In diesem Zusammenhang zieht er den Autorwillen als Begründung heran: Wir möchten sehr bezweifeln, daß Kant, wenn er heute einen Band der Akademieausgabe und einen Band dieser Ausgabe vor sich hätte, dem Druck der ersteren den Vorzug geben […]. Würde nicht auch er dem weißen Papier, dem weitläufigen und sorgfältigen Druck der letzteren gegenüber dem gelblichen Papier, den schmalen, eng aneinander gerückten Typen im uneignen Druck der ersteren den Preis zuerkennen 655.

Das beigefügte Faksimile des zweiten Bandes wird positiv hervorgehoben. Moniert wird hingegen die Nichtbeachtung der zweiten Auflage der AA: Dieser zweite Band enthält dieselben Schriften wie der zweite Band der Akademieausgabe im Druck von 1905. Es ist ein Mangel, daß nicht der bereits vorher erschienene Druck des zweiten Bandes der Akademieausgabe von 1912 – der unwissenschaftlicherweise als neuer Druck nicht gekennzeichnet ist – für diesen Band benutzt ist 656.

Warda bespricht den dritten Band der Ausgabe, der die KrV enthält, negativ hinsichtlich der Lesartenverzeichnung. Die Aufteilung der

653 Arthur Warda: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann herausgegeben von Ernst Cassirer. Band I. Vorkritische Schriften, herausgegeben von Dr. Artur Buchenau. Verlegt bei Bruno Cassirer. Berlin 1912 in: AM, Bd. 49, 1912, S. 502–504, S. 502. 654 Warda 1912, S. 502. 655 Arthur Warda: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann herausgegeben von Ernst Cassirer. Band II. Herausgegeben von Dr. Artur Buchenau. Verlegt bei Bruno Cassirer. Berlin 1912, in: AM, Bd. 50, 1913, S. 183–184, S. 183. 656 Warda 1913, S. 183–184.

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Lesarten in zwei Abteilungen (die in der Ausgabe als »Anhang« bezeichnet werden) bewertet er als »nicht geschickt«: Wenn man zwar auch, wie der Herausgeber es rechtfertigen will, Kants eigene Umarbeitung deutlich herausgehoben wissen und nicht im allgemeinen Lesartenapparat aufgehen lassen möchte, so hätte dem dadurch Rechnung getragen werden können, daß diese Abweichungen durch hervortretenden Druck (kursiv) ausgezeichnet wurden 657.

Die sorgfältige textkritische Arbeit wird hingegen gelobt. Warda bespricht zwar die Marburger Ausgabe, übt aber zugleich auch Kritik an der AA. Die Begründung der Ausnahmen von der chronologischen Ordnung, »daß der Zusammenhang der großen Werke durch die zeitlich zwischenliegenden zerschnitten werde, die letzteren sich zwischen den Werken verlören«, hält er für nicht stichhaltig. »Wer die großen Werke studieren will, wird die kleineren dazwischen überschlagen« 658. Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt ist die Fülle an Bearbeitern. Warda befürwortet es, einen Spezialisten als Herausgeber zu bestimmen: Es ist immer ein misslich Ding, wenn die Werke eines bedeutenden Mannes von verschiedenen Bearbeitern herausgegeben werden; die verschiedenartige […] Arbeitsweise eines jeden von ihnen muss notwendig auf Kosten des Werts des Gesamtwerks zu einem verschiedenen Erfolge führen; es zeigt sich ja dies auch leider bei der Akademie-Ausgabe. Die Werke eines Mannes wie Kant können nur von Einem herausgegeben werden, der bei geschichtlicher Erfassung des ganzen Lebenswerkes und der einzelnen Teile und bei zuverlässiger Arbeitsweise imstande ist, einem jeden von diesen gerecht zu werden und damit auch dem Ganzen zu einer seiner würdigen Wiedergabe zu verhelfen 659. 657 Arthur Warda: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann herausgegeben von Ernst Cassirer. Band III. Herausgegeben von Dr. Albert Görland. Verlegt bei Bruno Cassirer. Berlin 1913, in: AM, Bd. 50, 1913, S. 515. Abteilung I enthält die Varianten von A, Emendationsvorschläge von Kantforschern und die Begründung der vorliegenden Textgestalt. Abteilung II enthält nochmals die Varianten von A. 658 Arthur Warda: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann herausgegeben von Ernst Cassirer. Band IV. Herausgegeben von Dr. Artur Buchenau und Dr. Ernst Cassirer. Verlegt bei Bruno Cassirer. Berlin 1913, in: AM Bd. 50, 1913, S. 188. 659 Arthur Warda: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann, O. Schöndörffer herausgegeben von Ernst Cassirer. Band VII. Herausgegeben von Dr. Benzion Kellermann. Verlegt bei Bruno Cassirer. Berlin 1916, in: AM Bd. 54, 1917, S. 280–283, S. 283.

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Es handelt sich bei der Marburger Ausgabe um eine Liebhaberedition. Die Zielgruppe sind bibliophile Personen. Der Band wirkt mit seiner hochwertigen Ausstattung – dem Halblederband mit Goldprägung und Lesebändchen, dem dicken Papier sowie der großen Type – opulent und massiv. Die Varianten von A können aufgrund der größeren Type der Antiqua sowie des Inhaltsverzeichnisses am Ende des Bandes nur erschwert rezipiert werden. Durch die gestalterischen Entscheidungen wird B mehr Gewicht gegeben und die Aufmerksamkeit auf den Lesetext gelenkt. Der Unterschied hinsichtlich des editorischen Grundverständnisses zwischen Dilthey und Cassirer besteht in der Leistungsfähigkeit von Editionen: Dilthey ist überzeugt, dass diese die Entwicklungsgeschichte eines Denkers nachvollziehbar machen können. Das Mittel zur Darstellung dieser stellt für ihn die chronologische Anordnung dar. Cassirer hingegen will das kantische Denken kontextualisieren. Dazu bedarf es seiner Ansicht nach keiner vollständigen Darbietung aller kantischen Schriften; Cassirer trifft eine Auswahl. Hinsichtlich seines subjektiven Standpunktes strebt er Transparenz an und hat damit die Rezipienten der MA im Blick. In Berlin spüren die Mitarbeiter der AA die Konkurrenz durch die Marburger. Dem Grunde nach wäre Cohen für die AA fachlich geeignet gewesen, da er Einsicht in die kantischen Handschriften in Königsberg genommen hat. Ein Aspekt seiner Ablehnung durch die Berliner hat ihren Ursprung sehr wahrscheinlich auch in antisemitischen Ressentiments. Zudem kommen an dieser Stelle die diametral entgegengesetzten Motivlagen von Dilthey und Cohen an die Oberfläche. Cohens Kantlektüre in der KTE ist als eigensinnige Fortführung der KrV zu bezeichnen. Dilthey setzt sich hingegen kritisch mit der KrV auseinander, hat jedoch keinerlei Interesse an einer philosophischen Fortschreibung. Ihm geht es philosophisch um eine Abgrenzung zur Transzendentalphilosophie im Sinne seiner Lebensphilosophie. Cohen verewigt sich dann schließlich innerhalb der MA durch die Nennung an vorderster Position, jedoch ohne einen Band veröffentlicht zu haben. Die Akademie verhindert die Einsichtnahme in die kantischen Handschriften und erschwert damit die editorische Arbeit der Marburger. Die AA wirkt nach außen hin als ein abgeschlossenes Gebilde. Sie duldet keine anderen Ausgaben neben sich, auch keine Initiativen aus den eigenen Reihen, wie der Fall Menzer belegt. Hinsichtlich der Variantenverzeichnung ähneln sich MA und AA. Ebenfalls präsentieren beide einen reinen Lesetext. Innerhalb 192

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der MA erfährt auch die KrV eine besondere Behandlung: Der Editor Görland entscheidet sich für B als Grundtext, jedoch gibt es eine eigene Abteilung für den Vergleich zwischen A und B. Görlands und Erdmanns Editorverständnis gleichen sich. Die Wahl der Antiqua kann als Versuch aufgefasst werden, die Verbreitung der kantischen Texte in andere Länder zu befördern. Im Gegensatz zu den Berlinern erheben die Marburger Kant nicht zum exklusiven Nationalhelden. Die Wahl der Schriftart Antiqua sowie Cassirers Anspruch, die Verflechtungen von Kants Leben und Werk so darzustellen, dass sie »aus einem Gusse sind«, lässt sich als Wunsch deuten, Kants Schriften international bekannt zu machen. Eine solche Verbreitung der MA wurde durch den Ersten Weltkrieg unmöglich gemacht. Die Kritikpunkte der Rezensionen von Warda betreffen vor allem die Aspekte der Darstellung. Dennoch wird sie aufgrund ihrer hochwertigen Ausstattung gelobt und die Vermutung geäußert, Kant hätte sie der AA vorgezogen. Nicht nur die Editoren sehen sich dazu in der Lage, Kants Willen beurteilen zu können, sondern auch die Rezensenten der Edition. Bevor Dilthey seine nationale und Cassirer eine Liebhaberedition kantischer Schriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben, waren bereits die Klassiker-Buchreihen auf dem Markt verfügbar.

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IV. Die Klassiker-Buchreihen

4.1 Bedingungen ihrer Entstehung und Verbreitung. Rechtliche und technische Neuerungen in der Buchherstellung 4.1.1 Die »Philosophische Bibliothek« im Meiner Verlag. Entstehungsgeschichte, Konzeption und Verbreitung Bevor die Projekte der AA und MA auf den Weg gebracht wurden, gab es bereits in den 1870er Jahren Werkausgaben der Verlage Meiner und Reclam. Beide unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Konzeption. Die »Philosophische Bibliothek« ist vor allem durch den philosophischen Standpunkt des Verlegers Julius Hermann von Kirchmann geprägt. Der »Universalbibliothek« geht es um eine Demokratisierung des Lesens und um die Möglichkeit zur Einrichtung einer eigenen Bibliothek für eine große Anzahl an Personen aus unterschiedlichen Bildungsschichten. Der Grundstein für die Erfolgsgeschichte der PhB wird durch das Klassikerjahr 1867 gelegt. Texte von Autoren, die vor dem Jahr 1837 verstorben sind, können nun ohne juristische Konsequenzen nachgedruckt werden. Folglich bringt das Jahr 1867 eine große Anzahl an Bibliotheken hervor, die von einem auf den anderen Tag verfügbar sind: Gustav Hempels »National-Bibliothek sämmtlicher deutscher Classiker« ab 1868, Anton Philipp Reclams »Universalbibliothek« ab 1867, mit Goethes Faust als erstem Band und insgesamt 35 veröffentlichten Bänden im ersten Jahr, sowie die »Bibliothek der Weltliteratur« von Cotta und den Brüdern Kröner ab 1882 660. Bei der Einschätzung des Erfolgs der PhB sind die gesellschaftlichen Umstände zu bedenken. Durch die Industrialisierung und die damit verbundene Er660 Rainer A. Bast: Die Philosophische Bibliothek. Geschichte und Bibliographie einer philosophischen Textreihe seit 1868. Hamburg 1991, S. 87.

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Bedingungen ihrer Entstehung und Verbreitung

findung der Schnelldruckpresse wird die Buchherstellung in großen Mengen erst möglich. Es gründen sich Gewerkschaften, die die Arbeitszeit begrenzen und dadurch Freizeit schaffen, in der Lektüre möglich ist. Ein verändertes Bildungswesen mit einem wachsenden Bedarf an Büchern ist ein weiterer Aspekt, der das Angebot bestimmt. Als vierter Punkt ist die durch die Frauenbewegung geschaffene neue Leserschaft zu nennen, die eine erhöhte Buchproduktion erforderlich macht. Die Verlagsgeschichte ist durch viele Personalwechsel an der Spitze sowie damit verbundene Umbenennungen geprägt, bis schließlich 1911 der Meiner Verlag gegründet wird. Der Verlag »L. Heimann« besteht von 1868 bis 1872 und beheimatete neben der PhB auch eine »Historisch-Politische Bibliothek«. 1872 kaufte Erich Koschny den Verlag, der zunächst in »L. Heimann’s Verlag (Erich Koschny)« umbenannt wurde und ab 1874 als »Erich Koschny (L. Heimann’s Verlag)« in Leipzig ansässig war. Dieser wird von Georg Weiss gekauft und existierte zwischen 1882 bis 1891 als Verlag »Georg Weiss«, der wiederum in den »Philosophisch-Historischen Verlag Dr. R. Salinger« (1891–1899) überging. Die »Dürr’sche Buchhandlung« kaufte diesen auf und bringt von 1900 bis 1911 ein erfolgreiches Verlagsprogramm hervor. Der Aufschwung setzte ab 1901 mit dem Marburger Lektor Friedrich Michael Schiele ein, über den Felix Meiner 1945 sagt, dass dieser den Grundsatz vertreten habe, dass »jeder Philosoph einem in seinem Geiste denkenden Herausgeber zu übertragen sei« 661. Durch die Unterstützung von Cohen und Natorp befördert Friedrich M. Schiele den Wiederaufbau der PhB 662. Schließlich entsteht 1911 der Meiner Verlag mit Sitz in Leipzig. Als erste Amtshandlung erwirbt der Verlag die philosophische Abteilung des »Fritz Eckardt Verlags«, so dass die Werkausgaben von Fichte, Hegel, Schelling und Schleiermacher nun bei Meiner verlegt werden. Bis auf die Hegel-Ausgabe werden alle Editionen in die PhB integriert. Der Jurist und Politiker Julius Hermann von Kirchmann etabliert die PhB und gibt neben Primärtexten auch zugehörige Erläuterungsbände heraus. Die Nachfrage bezüglich Kirchmanns Erläuterungsbänden hält Bast 1991, S. 154. »Sehr bewirbt sich jetzt um mich der Verleger Dürr-Leipzig, der den alten Sahlingerschen Verlag mit d. Kirchmannschen Bibliothek gekauft u. einen eigenen Mann, lic. Theol., der hierher gezogen ist, angestellt hat um diese auf einen bessern Fuss zu bringen. Ich helfe mit Rat u. möchte ihm gern auch Mitarbeiter dafür beschaffen.« Brief Natorps an Görland vom 23. 03. 1901, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 264–265. 661 662

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bis in die 1920er Jahre an, auch wenn die Textausgaben bereits durch neue ersetzt worden waren. Konzeption und Programm der PhB sind vor 1900 durch den Juristen und Politiker Julius Hermann von Kirchmann geprägt. Er war ab 1833 Strafrichter in Halle und wird 1846 zum ersten Staatsanwalt der neuen Strafverfolgungsbehörde beim Kriminalgericht in Berlin berufen. Vor seiner Herausgebertätigkeit hält er polarisierende Reden, wie bspw. im Jahr 1847 eine mit dem Titel »Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft« 663 – als Jurist 664. Ein Jahr später wird er in die preußische Nationalversammlung gewählt. Im gleichen Jahr wird er dessen Vizepräsident. Dieses Amt hatte er nur kurz inne, da er sich gegen die Obrigkeit auflehnt 665. Anonym veröffentlichte Artikel führen in den 1850er Jahren zu weiteren Dienststrafverfahren. Als Folge dessen kann Kirchmann einen fünfjährigen Urlaub mit vollen Gehaltsansprüchen antreten. 1860 wird dieser um weitere fünf Jahre verlängert. Sein sechs Jahre später gehaltener Vortrag »Ueber den Communismus der Natur« im Berliner Arbeiterverein sowie weitere Äußerungen führen zu einem erneuten Dienststrafverfahren. 1867 wird Kirchmann mit dem Verlust aller Pensionsansprüche entlassen. Ein Jahr später gründet er die PhB. Von Kirchmann entwickelte auf philosophischem Gebiet einen modernen oder reinen Realismus 666. Andere Philosophen bezeichnen seine Denkart hingegen als naiven, transzendentalen oder erkenntnistheoretischen Realismus. Seine Philosophie wendet sich gegen ein Vermittlungsdenken Hegelscher Art, dem er vorwirft, durch unverständliche Begriffe sowie eine »dunkle Darstellungsweise« 667 für die Abkehr der Gebildeten von der Philosophie gesorgt zu haben. Kirchmann will dem Idealismus seinen Realismus entgegenhalten. Seiner Ansicht nach reicht das Kompendienwissen aus der Zeit des auf663 Julius H. von Kirchmann: Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Berlin 1848. 664 In »Ueber den Communismus der Natur« spricht er sich für die Begrenzung der Anzahl an Nachkommen in Arbeiterehen als eine Lösung der Sozialen Frage aus. Bast 1991, S. 14–16. Siehe auch Rainer A. Bast: Julius Hermann von Kirchmann. 1802– 1884. Jurist, Politiker, Philosoph. Hamburg 1993, S. 28. 665 In einem Prozess gegen den Grafen Oskar Reichenbach bestand Kirchmann auf einem rechtsstaatlichen Verfahren. In der Folge wird er wegen Verletzung der Amtspflicht mit einer dreimonatigen Dienstenthebung, Halbierung des Gehalts und Suspension von allen Funktionen des Vizepräsidenten bestraft. Bast 1993, S. XII–XIII 666 Bast 1991, S. 18–19. 667 Bast 1991, S. 95.

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blühenden Idealismus nicht mehr aus. Er bemerkt ein wachsendes Interesse des gebildeten Publikums an Primärtexten und kommt diesem Bedürfnis durch die PhB entgegen. Von Kirchmanns Motivation besteht in der Beseitigung der Kluft zwischen der Philosophie auf der einen Seite und dem Publikum auf der anderen. Diesen Umstand sieht er durch Hegels Philosophie mit seiner dunklen und unverständlichen Sprache verursacht. Das »philosophische Studium soll nationales Bildungsmoment werden« 668, so Kirchmanns programmatische Zielsetzung. Selbstbewusst konstatiert er, dass erst durch die PhB mit ihrer »bequemen und billigen Form die deutsche Nation beginne, Kants Philosophie kennenzulernen« 669. Diese Aussage ist so nicht haltbar. Kants Texte sind schon vorher durch Gesamtausgaben verfügbar und er ist Teil des philosophischen Kanons 670. Zutreffend ist hingegen, dass der niedrige Preis der Bände ihre Verbreitung befördert hat. Als erster Band in der PhB erscheint 1868 die Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium der Philosophie von von Kirchmann selbst. In diesem warnt er in Bezug auf das Studium der Philosophie vor der Benutzung von Handbüchern sowie Darstellungen zur Geschichte der Philosophie. Er plädiert für den Rückgang auf die Originaltexte, um sich einen eigenen Zugang zur Philosophie zu schaffen. Denn »nur wenn man unmittelbar aus den Quellen schöpft, wird man am reinsten Trank der Weisheit sich erlaben« 671 können. Kirchmann beschreibt die Philosophie als einen »Tempel mit hundert Eingängen, die alle gleich sicher zu dem Inneren führen, sofern man sich nur nicht durch die Schwierigkeiten abschrecken läßt, die im Beginn dem Eintritt sich entgegenstellen« 672. Neben seiner Lehre vom Wissen veröffentlicht er im selben Jahr die von ihm herausgegebene Ausgabe der KrV als zweiten Band und ein Jahr später die Erläuterungen zur KrV. Ursprünglich hatte der Realist Kirchmann die Reihe nicht Bast 1991, S. 89. Bast 1991, S. 89. 670 Anderenfalls wäre es nicht zu verstehen, warum es keiner Begründung bedurfte, Kants Werke in einer philosophischen Bibliothek in preisgünstigen Bänden anzubieten. Ulrich J. Schneider: »Die ›Philosophische Bibliothek‹ im 19. Jahrhundert«, in: Philosophie und Regionalität. Acta Universitatis Wratislaviensis No 2152. Wroclaw 1999. S. 143–154, S. 150. 671 Julius H. von Kirchmann: Die Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium der Philosophie. Leipzig 1868, S. 18. 672 Von Kirchmann 1868, S. 18. 668 669

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mit dem Idealisten Kant beginnen wollen, jedoch schätzt er den Absatz auf dem Buchmarkt für Kants Schriften positiv ein 673. Zu diesem Zeitpunkt ist die PhB eine Herausgeber- und keine Verlegerserie. Neben Kirchmann gibt es elf weitere, u. a. den späteren Herausgeber vom Grundriss der Geschichte der Philosophie Friedrich Ueberweg 674. Kirchmann gibt bis zu seinem Tod 1884 von 21 Autoren 105 Titel in 160 Ausgaben heraus, wobei Kant am häufigsten verlegt wird: 20 Titel erscheinen in 33 Ausgaben 675. Kant war der verkaufsstärkste Autor. Es erscheinen sechs Auflagen KrV, je drei Auflagen Anthropologie, KpV, Kirchmanns Erläuterungen zu Kants KrV sowie je zwei Auflagen KdU, Logik, Prolegomena, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kirchmanns Erläuterungen zu Kants KpV, Kirchmanns Erläuterungen zu Kants KdU. Die KrV erscheint bis zum Jahr 1920 in folgenden Auflagen: 1868 1870 1873 1877 1881 1884 1891 1899 1901

Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Kirchmann Hg. Vorländer Hg. Valentiner

PhB bei Heimann PhB bei Heimann, 2. Aufl. PhB bei Heimann, 3. Aufl. PhB bei Koschny, 4. Aufl. PhB bei Koschny, 5. Aufl. PhB bei Weiss, 6. Aufl. (Tod Kirchmanns) PhB bei Salinger, 7. Aufl. Hendel’sche Bibliothek der Gesamt-Litteratur PhB bei Dürr, 8. rev. Aufl., erläutert u. m. einer Lebensbeschreibung versehen 1906 Hg. Valentiner PhB bei Dürr, in achter Aufl. rev., 9. Aufl. 1913 Hg. Valentiner PhB bei Meiner, neu hrsg. um ein Sachregister vermehrte 10. Aufl. 1919 Hg. Valentiner PhB bei Meiner, mit Sachregister, m. der 10. gleichlautende Aufl., 11. Aufl. (1926 folgt der Paralleldruck der 1. u. 2. Aufl. KrV)

Aufgrund des raschen Absatzes der kantischen Kritiken entscheidet sich Kirchmann, entgegen dem ursprünglichen Plan, für die Umsetzung einer Gesamtausgabe. Nur acht Monate nach dem Erscheinen des ersten Bandes der PhB schreibt er im Vorwort zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht:

Bast 1991, S. 137. Siehe Kapitel 2.6.1. 675 Sammel- oder Werksammelausgaben sind in diesen Zahlen nicht mitberücksichtigt. Bast 1991, S. 142. 673 674

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Es war ursprünglich die Absicht, in die philosophische Bibliothek nur die drei Hauptwerke Kant’s […] aufzunehmen; indess haben diese Werke in der hier gebotenen Form einen so unerwartet schnellen Absatz gefunden, dass schon sechs Monat [!] nach dem Erscheinen der ersten, 2500 Exemplare starken Auflage eine zweite von der Kritik der reinen Vernunft vorbereitet werden muss 676.

Eine Verlagsanzeige wirbt für diese: 677 Immanuel Kant’s sämmtliche Werke. Herausgegeben von J. H. v. Kirchmann. In 51 Heften oder 8 Bänden. Preis 8 Thlr. 15 Sgr. Inhalt. Band I: Kritik der reinen Vernunft. Band II: Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urtheilskraft. Band III: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysik der Sitten. Band IV: Logik. Anthropologie. Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. Band V: Kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik. Band VI: Kleinere Schriften zur Naturphilosophie. Band VII: Kleinere Schriften zur Ethik u. Religions-Philosophie. Band VIII:

Vermischte Schriften.

Von 1870 bis 1873 erscheinen alle Bände der Gesamtausgabe. Die Ausgabe wird in einem Editorenkollektiv neu herausgegeben. Dabei hat Karl Vorländer maßgeblichen Anteil an den positiven Reaktionen, da er durch seine Revision der Texte, den »historisch-philosophischen Einleitungen« sowie »Sachregistern« neue editorische Maßstäbe setzt 678. In einer Verlagsanzeige der Dürr’schen Buchhandlung des Bast 1991, S. 143. Oberhalb der Anzeige für die Kant-Ausgabe befindet sich der Hinweis auf den bereits erwähnten Vortrag Kirchmanns »Ueber den Communismus der Natur. Ein Vortrag gehalten im Berliner Arbeiter-Verein im Februar 1866« mit dem Hinweis, dass der Verfasser in Folge dessen »seines Amtes als Vicepräsident des Appellationsgerichts zu Ratibor unter Verlust aller Pensions-Ansprüche disciplinarisch entsetzt worden« ist. Siehe Bast 1991, S. 257. 678 »Ihr eigenes Gepräge aber erhielt die neue Kantausgabe durch die Mitarbeit Karl Vorländers […], der nicht nur die meisten Werke Kants selbst edierte, sondern auch in qualitativer Hinsicht mit der Revision der Texte, historisch-philosophischen Einleitungen und Registern Maßstäbe setzte. Die Einleitungen ersetzten die durch v. Kirchmann […] verfaßten ›Erläuterungen‹, die bereits 1907 auch durch den Verlag nicht 676 677

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Jahres 1907 heißt es: »Bekanntlich ist diese Ausgabe die einzige Ausgabe von Kants sämtlichen Werken, welche zurzeit im Buchhandel zu haben ist. Die große Berliner Akademie-Ausgabe mit ihren teuren 12-Mark-Bänden wird noch lange Zeit zu ihrer Vollendung brauchen. Die älteren Ausgaben von Kants gesammelten Werken sind meist nur noch antiquarisch zu haben« 679. Die PhB verfolgt sieben programmatische Grundsätze: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Sie ist für das gebildete Publikum im Allgemeinen konzipiert. Aufgenommen werden die Hauptwerke der Philosophie, d. h. Primärtexte. Erläuterungen und Lebensbeschreibungen werden zusätzlich zum Primärtext geboten. Eine deutsche Übersetzung wird angefertigt. Angestrebt wird der philologisch korrekteste Text. Die Bände sollen billig bei guter Ausstattung sein. Die Bände erscheinen in wöchentlichen Heften.

Von den aufgezählten Punkten besitzen auch heute noch 2., 4., 5. sowie 6. Gültigkeit. Ad 2: Ursprünglich sollten nur die drei Kritiken von Kant aufgenommen werden. Letztendlich liegt eine Gesamtausgabe vor inklusive der Physischen Geographie sowie den drei lateinischen Dissertationen. Eine chronologische und systematische Ordnung hält Kirchmann nicht für notwendig 680. Widersprüchlich ist seine Aussage, dass sich jeder Leser mit einem beliebigen Text einen Zugang zur Philosophie verschaffen kann. Zugleich gibt er mit dem ersten Band Die Lehre vom Wissen als Einleitung in das Studium der Philosophie eine programmatische Anleitung für die Lektüre der folgenden philosophischen Bände der PhB heraus. Zwischen 1903 und 1930 nehmen die dem Programm zuwiderlaufenden Bände zu. So erschienen 1907 in Leipzig Cohens Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft sowie Vorländers Biographie Immanuel Kants Leben im Jahr 1911. Diese ersetzt Kirchmanns »Lebensbeschreibung« in seiner mehr angeboten wurden.« Helmut Holzhey: Einleitung des Herausgebers, in: Hermann Cohen. Werke. Bd. 4. Hildesheim/Zürich/New York 1987, S. XV*. 679 Bast 1991, S. 159. 680 Bast 1991, S. 94.

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Ausgabe der KrV aus dem Jahr 1868. Unter der Leitung von Schiele wird die Kantausgabe von von Kirchmann ersetzt. Ab der neunten Auflage entfallen die Verweisziffern zu den Kirchmann’schen Erläuterungsbänden. Neben Cohen geben die der Marburger Schule nahestehenden Walter Kinkel 1904 die Logik und Otto Buek, der auch an der MA mitgewirkt hat, 1907–1909 die Kleineren Schriften zur Naturphilosophie heraus. Ad 3: Erläuterungen werden in der PhB von Anmerkungen unterschieden. Erstere sind entweder als Fußnoten unter dem Text angegeben oder separat in einem eigenen Band. Die Erläuterungsbände erscheinen mitunter bis zu vier Jahre nach Veröffentlichung des zugehörigen Primärtextes. Die Erläuterungen zeichnen sich durch die Schlagworte Sinn und Kritik aus: Ersterer leistet die Vermittlung zwischen Text und Leser. Letzterer hat die Aufgabe, verschiedene Ansichten gegenüberzustellen und so eine Positionierung zu ermöglichen 681. Die Erläuterungen basieren auf dem Standpunkt des naiven Realismus Kirchmanns. Damit unterscheidet sich das Verständnis der Erläuterung fundamental von unserer heutigen Auffassung eines Kommentars, der vor allem den Kontext des Primärtextes erhellen soll. Die »Grundsätze im Allgemeinen« liefern den »äußeren Anlass der Schrift«, die »Abfassungszeit und Kants Verhältnisse«, den »inneren Zusammenhang, der mit dem geistigen Entwicklungsgang Kants in Verbindung steht« 682. Weiterhin werden schwierige Begriffe erklärt und inhaltliche Kritik geübt. Kirchmanns realistischer Standpunkt lässt zwei Arten der Kritik zu: Die formale akzeptiert die verwendete Methode und prüft die Folgerungen. Die materiale Kritik untersucht die Methode. Die spekulative Kritik, die ein Festhalten an der Wahrheit aufgibt und die Entwicklung in den Fokus rückt, ist für Kirchmann nicht möglich. Im Vorwort zu den Erläuterungen der KrV sagt er, dass diese dem Leser »das Verständnis des Werkes nur erleichtern und ihn befähigen, den Inhalt desselben im eigenen Denken weiter zu verfolgen« 683. Seine Lehre vom Wissen setzt Kirchmann allerdings bei der Lektüre der Erläuterungen voraus. Bast 1991, S. 100. Bast 1991, S. 103–104. 683 Julius Hermann von Kirchmann: Erläuterungen zu Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1869, S. VII. 681 682

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Ad 4: Die Herausgabe deutscher Übersetzungen bildet einen weiteren grundlegenden Aspekt der Reihe. Eine Ausnahme stellt PhB 76/II dar, der Kants vier lateinische Dissertationen enthält 684. Dieser Umstand läuft der Konzeption zuwider. Eine Begründung erfahren wir nicht. Bast vermutet, dass an dieser Stelle das Prinzip der Vollständigkeit greift 685. Für ihn liefert das auch eine Erklärung für die Herausgabe der »völlig veralteten« Physischen Geographie. Ad 5: Kirchmanns druckt die Texte Kants nach der zweiten Hartenstein’schen Ausgabe ab. Kritisiert wird er dafür von Alexius Meinong, dass auch in der fünften Auflage der KrV innerhalb der PhB nur Hartenstein abgedruckt wird und die inzwischen veröffentlichte textkritische Arbeit von Erdmann dabei übergangen wird 686. Vorländer sagt dazu, dass die Ausgabe Hartensteins in ihrer Zeit verdienstlich war, aber der modernen Textkritik nicht genügt 687. Ad 6: Bei Heimann kostet die sechsbändige Kantausgabe mit über fünfzig Heften 1871 acht Taler und 15 Silbergroschen. Die zwei Bände Erläuterungen von Kirchmann mit 16 Heften kosten zwei Taler und 20 Silbergroschen 688. 1894 kosten acht Bände Kants Sämtlicher Werke inklusive Supplementbänden 27 Mark. Die Kirchmann’sche Ausgabe der Dürr’schen Buchhandlung kostet 1901 28 Mark. Im Vergleich dazu ist die AA wesentlich teurer: Hier kostet ein Band zwölf Mark. Die Ausgabe von Vorländer mit neun Bänden und einem Supplementband, der Cohens Kommentar und Vorländers Biographie enthält, kostet 1913 in Broschur 53 Mark und in Leinwand gebunden 65 Mark. Im Ersten Weltkrieg konnten die Bände nicht mehr in Ganzleinwand gebunden werden, sondern erscheinen als Halbleinwandbände. Dadurch ergibt sich ein Teuerungszuwachs von 20 %. Cohens Kommentarband wurde kaum rezipiert. Die KS lassen ihn unbesprochen. Arthur Liebert begrüßt es, dass der Kommentar von Cohen 1922 durch den neuen von August Messer abgelöst wird 689.

Die Bände 33 und 49 bieten die deutsche Übersetzung. Bast 1991, S. 118. 686 Gemeint ist: Benno Erdmann: Kant’s Kriticismus in der ersten und der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Eine historische Untersuchung. Leipzig 1878. 687 Bast 1991, S. 124. 688 Diese sowie die folgenden Preise entnehme ich Bast 1991, S. 125–128. 689 August Messer: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart 1922. 684 685

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Die Erläuterungen Cohens seien aufgrund des »spezifischen Marburger Standpunktes« 690 zu schwer verständlich. Von den Philosophieprofessoren würdigen Hermann Ulrici aus Halle und der Würzburger Franz Hoffmann das Konzept der PhB. Zugleich kritisieren sie Kirchmanns Erläuterungen von seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus. Ulrici lobt zunächst die »Auswahl der Schriften […], die Übersetzungen […] soweit wie möglich wortgetreu […] ohne doch der deutschen Sprache Gewalt anzuthun. Auch die Erläuterungen sind meist am rechten Platze angebracht und treffen meist das Richtige.« Die Art der Erläuterungen kritisiert Ulrici dagegen deutlich: Herr v. Kirchmann dagegen begeht den Fehler, daß er die fremden, von der Gegenwart oft weit abliegenden Werke aus seiner eignen Philosophie heraus zu erklären sucht. Dadurch werden seine Erläuterungen zu Kritiken, die, wenn sie vom Standpunkt eines andern Systems aus urtheilen, erst selbst der Erläuterung und Begründung bedürfen. Herr v. Kirchmann kann nicht erwarten noch verlangen, daß alle Leser der Bibliothek seine Schriften kennen und seinen philosophischen Ansichten beipflichten 691.

Der Philosoph Franz Hoffmann meint, dass es ein »überaus glücklicher Gedanken des Herrn von Kirchmann [war], mit einer philosophischen Bibliothek vor die deutsche Nation zu treten« 692. Er kritisiert jedoch die fehlende chronologische und systematische Ordnung der Reihe. Zudem hält er von Kirchmanns Aussage, dass der Leser sich mit jeder beliebigen Schrift den Zugang zur Philosophie schaffen kann, für falsch. Die »Erläuterungsbände« sollen den Leser vom Realismus Kirchmannscher Couleur überzeugen. Kritik daran wurde auch von Carl Grapengiesser geübt, einem Schüler Johann Friedrich Fries’. Trotz der Würdigung der allgemeinen Konzeption der Reihe sehen Hermann Ulrici, Friedrich Martin Schiele, der spätere Lektor der Dürr’schen Buchhandlung, sowie Vorländer von Kirchmanns Vorgehensweise kritisch. Allen gemeinsam ist die ablehnende Haltung 690 Arthur Liebert: Besprechungen: »Messer, August. Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft«, in: KS 28, 1923, S. 448. 691 Hermann Ulrici: »Sammelrezension über fünf Bände der Philosophischen Bibliothek«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 67, 1875, S. 156–158, S. 157. 692 Franz Hoffmann: Philosophische Schriften, Bd. 5, Erlangen 1878, S. 259.

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Erläuterungen gegenüber, die den Leser von der realistischen Weltanschauung überzeugen wollen. Ulrici kritisiert explizit, dass diese die Lektüre des ersten Bandes der PhB voraussetzen. Schiele hält die materielle Kritik für ein Hindernis. Er plädiert für einen anderen Typus von Erläuterung, der Kant vom Standpunkt Kants aus erörtert und nicht durch den von von Kirchmann verzerrten Blick. 1902 wird Vorländers harsche Kritik an Kirchmann in seiner Ausgabe der Kritik der Urteilskraft publik: »Wer wie Kirchmann von Kants Ästhetik sagen kann, sie besitze ›für die Gegenwart nur noch einen literarischhistorischen Wert‹ […], der hätte sich von der Herausgabe der Kritik der Urteilskraft, mindestens aber von 92 Seiten ›Erläuterungen‹ zu ihr, besser ferngehalten« 693. Die Erläuterungsbände der PhB wurden auch von akademischer Seite abgelehnt. Kritisiert wurde zum einen Kirchmanns Versuch, die Leser von seinem Realismus zu überzeugen. Zum anderen wurde moniert, dass Kirchmann sein eigenes Werk als ersten Band der PhB herausbrachte, das für alle weiteren als Grundlage dienen solle. Aller ablehnenden Haltung von akademischer Seite zum Trotz verkauften sich sowohl die Bände mit den Primärtexten als auch die Erläuterungen sehr gut. Der Erfolg der PhB – nach sechs Jahren bereits 60 Titel, teilweise in mehrfachen Auflagen – lässt auf das Bedürfnis nach allgemeinverständlichen philosophischen Texten schließen. Durch Sammlung, ggf. Übersetzung und Kommentar werden die Philosophen in die Gegenwart übertragen. Sie werden zu Zeitgenossen 694. Eine Sammlung wie die PhB ist zugleich ein Antiquariat. Sie macht die Philosophiegeschichte zugänglich, aber in einer anderen Form als die Philosophiegeschichtsschreibung. Anders als letztere befördern philosophische Textsammlungen nicht das Verständnis des Zusammenhangs der Texte untereinander. In der PhB stehen die Bände zunächst einzeln für sich. Philologische Detailarbeit hat daher kaum eine Relevanz. Die PhB steht im Dienst einer höheren Sache: dem Aufweisen einer historischen Entwicklung, der Genese philosophischer Gedanken 695. Die PhB konstituiert die Texte nicht selbst, sondern druckt bereits bestehende ab. Einer Begründung bedurfte Karl Vorländer (Hg.): Kritik der Urtheilskraft. Leipzig 1902, S. VI. Schneider 1999, S. 291. 695 »Daß die Idee der philosophischen Bibliothek diese Ansicht von Philosophie mit der genetischen Interpretation der modernen Philosophiegeschichte teilt, läßt sich zunächst daran erkennen, daß von beiden ganze Bereiche der Aktivität der philosophischen Autoren mißachtet werden.« Schneider 1999, S. 301–302. 693 694

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das Vorhaben nicht, philosophische Texte preisgünstig anzubieten. Aufgrund der Auswahl der Texte kann darauf geschlossen werden, dass es eine Vorstellung davon gab, was den philosophischen Kanon konstituiert 696. Vom heutigen Wissenschafts- und Editionsstandard aus gesehen sind Kirchmanns Erläuterungensbände nicht mehr benutzbar. Ebenfalls als überholt anzusehen ist, dass ein Herausgeber sein eigenes Werk sowie seine Weltanschauung für die Erläuterungen der KrV voraussetzt und nicht das Werk in seinem Kontext erläutert. Bis 1900 sind die Erläuterungen ein zentrales Konzeptionskriterium. Signifikant anders verhält es sich bei der Kantausgabe, da sie zusätzlich Cohens Kommentarband sowie das 1929 von Heinrich Ratke veröffentlichte Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft 697 bietet. Für Kant weicht die Konzeption der Reihe von der Norm ab. Eine Differenz zeichnet sich hier zur AA und MA ab. War es dort die KrV, die eine Sonderbehandlung erfährt, ist es in der PhB der ganze Kant. Seine Primärtexte werden erläutert, kontextualisiert und kommentiert – ganz im Gegensatz zur AA. Kirchmanns Erläuterungsbände sind für die PhB nach und nach obsolet geworden. Was jedoch bleibt, sind die Anmerkungen. Sie liefern eine Einführung in die geschichtlichen sowie sachlichen Vorbedingungen des Werks und erläutern Einzelstellen. In der 1914 gegründeten Reihe »Meiners Volkausgaben« sind nur drei Bände erschienen. Neben Hume und Descartes erscheint hier eine eigens für die Reihe hergestellte Edition »Ausgewählte kleine Schriften. Für den Schulgebrauch und zum Selbststudium« von Kant als erster Band 698. Die Bestimmung für den Schulgebrauch wird 1919 für die »Taschenausgaben« wieder aufgenommen. In der Reihe »Philosophische Zeitfragen«, die von 1919 bis 1923 zehn Bände hervorbringt, erscheint 1919 von Vorländer Kant und der Gedanke des Völkerbundes 699. Die beiden Reihen »Wissen und Forschen« sowie Schneider 1999, S. 309. Heinrich Ratke: Systematisches Handlexikon zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Leipzig 1929. 698 Der vollständige Titel lautet: Ausgewählte kleine Schriften. Für den Schulgebrauch und zum Selbststudium mit einer ausführlichen Einleitung in die Kantische Philosophie und in das philosophische Denken überhaupt. Hg. v. Hermann Hegenwald. Leipzig 1914. 699 Karl Vorländer: Kant und der Gedanke des Völkerbundes. Mit einem Anhang: Kant und Wilson. Leipzig 1919. 696 697

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»Hauptwerke der Philosophie in originalgetreuen Neudrucken« verstehen sich als Ersatz für die überholten Erläuterungsbände Kirchmanns. Der Verlagsprospekt aus dem Jahr 1913 offenbart, dass diese der ständigen Nachfrage des Publikums nach Erläuterungen der philosophischen Klassiker und nach Einführungen in die Grundprobleme der Philosophie entgegenkommen. Frei von jeder Einseitigkeit und unter Anerkennung der Verschiedenheit der philosophischen Richtungen in der Gegenwart soll hier ein Sammelpunkt geboten werden für alle Bestrebungen, die von wissenschaftlichem Boden aus […] in das weite Gebiet philosophischer Lektüre und […] Forschung einzuführen beabsichtigen 700.

Der Elberfelder Artur Buchenau liefert 1913 den Band Kants Lehre vom kategorischen Imperativ. Eine Einführung in die Grundfragen der Kantischen Ethik 701 sowie 1914 die Grundprobleme der Kritik der reinen Vernunft. Zugleich eine Einführung in den kritischen Idealismus 702. Beiden Bände erscheinen in Leipzig. Das Klassikerjahr 1867 revolutionierte den Buchmarkt. Eine Fülle an Bibliotheken entsteht und so auch die PhB. Die benannten technischen, rechtlichen sowie gesellschaftspolitischen Neuerungen katalysieren die Verbreitung. Julius Hermann von Kirchmann ist als Figur prägend für die Konzeption des Verlagsprogramms. Er verfolgt mit der PhB selbstbewusst sein Ziel, der deutschen Nation endlich ihren Kant darzubieten. Von Kirchmann hat den Buchmarkt gut analysiert, die Zeichen der Zeit für den raschen Absatz von Kants Texten erkannt und eine Gesamtausgabe innerhalb von nur drei Jahren veröffentlicht. Kirchmann druckt lediglich die zweite Hartenstein’sche Ausgabe ab. Anders wäre die Publikation einer Gesamtausgabe innerhalb von drei Jahren nicht zu erklären. Als Marketingstrategie und als Kontrastfolie wird auch die AA angeführt, die noch Jahre brauchen und teure Bände produzieren werde. Kritik an Kirchmanns Vorgehen, die Erläuterungsbände auf Grundlage seiner eigenen philosophischen Überzeugungen zu verfassen, wurde von Fachvertretern geübt. Vorländer geht sogar so weit, seine Kritik öffentlich in seiner Ausgabe der KdU zu äußern. Im Gegensatz zur AA scheuen die Herausgeber Bast 1991, S. 82. Artur Buchenau: Kants Lehre vom kategorischen Imperativ. Eine Einführung in die Grundfragen der Kantischen Ethik. Leipzig 1913. 702 Artur Buchenau: Grundprobleme der Kritik der reinen Vernunft. Zugleich eine Einführung in den kritischen Idealismus. Leipzig 1914. 700 701

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Bedingungen ihrer Entstehung und Verbreitung

der PhB die Kontroverse nicht. Die Einleitung wird in diesem Fall als Schauplatz der Kritik genutzt.

4.1.2 Die Universalbibliothek im Reclam Verlag. Konzeption und Verbreitung Neben der PhB ensteht die »Universalbibliothek« bei Reclam als ein weiterer möglicher Zugang zu Kants Texten. Die rasche Verbreitung der UB ist auch auf die Investition in eine eigene Druckerei zurückzuführen. 1802 setzt der 26-Jährige Charles Henri Reclam mit der Gründung den ersten Wegstein zur Entwicklung des Reclam Verlages. Nach seinem Tod 1844 übernimmt sein Schwiegersohn Julius Friedrich Altendorff die Geschäfte des seit 1828 umbenannten Verlags »C. H. Reclam sen.« 1872 übernimmt Henris Sohn Philipp Reclam den Verlagsgeschäfte. Er kauft 1828 das »Literarische Museum« und gründet den »Verlag des Literarischen Museums«, den er 1837 verkauft, um sich vollständig dem Verlag seines Vaters zu widmen. In diesem Jahr wird der Verlag in »Philipp Reclam jun.« umbenannt. Erfolgversprechend ist der Kauf der »Haackschen Buchdruckerei« 1837 sowie die Einrichtung einer eigenen Druckerei im Verlagshaus. Im Jahr 1905 verfügt der Verlag über 42 Schnellpressen sowie eine eigene Dampfmaschine als Energielieferant 703. Als Liberaler steht Philipp Reclam im Konflikt mit den Obrigkeiten, der zu einem zeitweisen Verbot der Produktion von Schriften seines Verlags führt 704. Die Shakespeare-Ausgabe, welche ab 1858 erscheint, stellt einen erfolgreichen Vorläufer für das Projekt der Universalbibliothek dar. Als Bedingung für die rasche Produktion von Büchern ist die Erfindung der Stereotypie zu sehen. Diese Buchdruckplatte ermöglicht die schnelle Nachproduktion von Büchern. Die Bibliothek wächst rasch: Ab 1867 erscheinen 140 Bände pro Jahr 705. Der Verlag schaltet kaum Werbung. 706 Durch den Novitätenversand verteilen sich die https://www.reclam.de/info_pool/wir_ueber_uns (04. 10. 21). Gerd Schulz beschreibt die Erfolgsgeschichte von Philipp Reclam mit den zwei Begriffen »Hartnäckigkeit« sowie »Aufsässigkeit«. Gerd Schulz: »Das Klassikerjahr 1867 und die Gründung von Reclams Universal-Bibliothek,« in: Dietrich Bode (Hg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867–1992. Stuttgart 1992, S. 11–28, S. 20. 705 https://www.reclam.de/info_pool/wir_ueber_uns (04. 10. 21). 706 »Reclam braucht keine Reklame« – so der einprägsame (Werbe-)slogan. 703 704

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Bände auf die Sortimentsbuchhandlungen, so dass kaum Bedarf für eine zusätzliche Vermarktung besteht. Eine der wenigen Anzeigen findet sich zum Auftakt der Reihe in der Leipziger-Zeitung vom 4. Februar 1868 707. In dieser wird der Vorteil betont, dass jeder sich den eigenen Vorlieben entsprechend eine Bibliothek zusammenstellen könne. Es sollen nicht nur sämtliche klassische Werke der Literatur, »die ein allgemeines Interesse in Anspruch nehmen und deren Umfang es gestattet«, veröffentlicht werden, sondern auch solche, die »sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreuen«. Das Ziel bestehe darin, manches »fast vergessene gute Buch wieder ans Tageslicht« zu ziehen sowie andere Werke zum ersten Mal innerhalb der UB zugänglich zu machen. Damit bleibt die UB nicht bei der Reproduktion des bestehenden Kanons stehen, sondern hat auch den Anspruch, andere Werke in das öffentliche Bewusstsein zu heben. Ab dem Jahr 1912 werden Reclam-Buchautomaten an öffentlichen Plätzen aufgestellt, die den Zugang zu Literatur ermöglichen. Für den Sortimentsbuchhandel eigens angefertigte Reclam-Bücherregale sollen die Präsentation der vollständigen Universalbibliothek ermöglichen, der »beste Brotartikel für den Sortimenter« 708. In den Auslagen kann ein Schaufenstergestell platziert werden, auf dem es heißt: »Reclams Universum hat durch vielseitigen Inhalt und vornehme Ausstattung in allen gebildeten Kreisen des In- und Auslandes die größte Verbreitung erlangt. Wo Interesse für Literatur und Kunst und für die großen Fragen unserer Zeit herrscht, ist Reclams Universum allwöchentlich ein willkommener Gast« 709. Als erster Band erscheint im Juli 1867 Goethes Faust mit einer Auflage von 5 000 Stück. Bereits im Dezember wird der Druck einer zweiten Auflage notwendig. Die erforderliche dritte Auflage im Februar 1868 umfasst 10 000 Exemplare. Das Jahr 1867 stellt einen Umbruch innerhalb des Buchhandels dar. Rechtliche und technische Neuerungen, wie die Gewerbefreiheit, die Schnelldruckpresse sowie Eisenbahnen, sorgen für eine schnellere Produktion und Verbreitung von Büchern. Die Verlage trennen sich vom Sortiment und es entstehen Sortimentsbuchhandlungen. Weiterhin ist die Zensur größtenteils aufgehoben. Insgesamt ist dieser Prozess als Demokratisierung der Literatur zu bezeichnen, u. a. sicht707 708 709

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Abgedruckt in Schulz 1992, S. 24. https://www.reclam.de/data/images/ReclamSchrank1-l.jpg (04. 10. 21). https://www.reclam.de/data/images/Schaufenstergestell-l.jpg (04. 10. 21).

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bar an der Gründung des Börsenvereins. Das Klassiker-Monopol von Cotta ist durchbrochen. In Preußen ist der unerlaubte Nachdruck zwar bereits seit 1827 verboten, jedoch gab es weder Fristen noch eine Form der Überwachung. Der Erfolg der Reihe ist möglich durch das Selbstverständnis der Deutschen als Kulturnation – das inhomogene Bürgertum sucht und findet seine Identität – sowie das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Diese beiden Aspekte legitimieren den Ansatzpunkt des Verlegers, auf die Kanonbildung Einfluss zu nehmen. In der Zeit des Vormärz beginnt der Prozess der nationalen Identitätsbewegung auf literaturgeschichtlicher Basis gepaart mit liberalen Reformideen. Volk und Nation sind sowohl Träger als auch das Ziel des historischen Prozesses. Das Konzept des Klassikers fungiert als Nationaleigentum und als ideell einigendes Band der Nation. Im Hinblick auf die Arbeiter als potentielle neue Leserschicht, die es zu gewinnen gilt, verfolgen liberal und sozialdemokratisch gesinnte Personen unterschiedliche Strategien. Aus der Sicht der bürgerlich-liberalen Bildungsbestrebung ist eine kulturelle Reichsgründung gefordert mit dem Ziel, »ein einziges patriotisches Volk von verantwortungsbewussten Staatsbürgern« 710 zu erziehen. Dadurch soll die soziale Frage entschärft und die Arbeiter weg von der Sozialdemokratie geführt werden. Die Liberalen gehen davon aus, dass erst der Besitz von Büchern zu einem intimeren Verhältnis mit dem Autor führt. Dem gegenüber stehen die Sozialdemokraten, die das bürgerliche Bildungsmonopol aufbrechen und zugleich der Arbeiterschaft den Zugang und die Vermittlung von Schriften des wissenschaftlichen Sozialismus ermöglichen wollen. Das damit verbundene Ziel ist die Schärfung des politischen Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse 711. Das Selbstverständnis des Verlages ist geprägt von der Vorstellung einer nationalen Bildungsinstitution. Die Vorstellung von einem »Reclam-Volk« wurde u. a. von dem Publizisten Jakob Landau genährt, der durch die Reihe den »idealen Kommunismus« verwirklicht 710 Silke Knappenberger: »Reclam und die Arbeiterbewegung im Kaiserreich und Weimarer Republik,« in: Dietrich Bode (Hg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867–1992. Stuttgart 1992, S. 82–118, S. 83. 711 »Insgesamt zielten die sozialdemokratischen Bildungsbestrebungen auf den kollektiven sozialen Aufstieg der Arbeiter als Klasse, während die Liberalen den individuellen Aufstieg des einzelnen innerhalb der bestehenden Gesellschaft anstrebten.« Knappenberger 1992, S. 86.

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sieht, da »hier nicht einem einzelnen geraubt werden braucht, was der Allgemeinheit zugutekommt, und weil hier nur allen gegeben, keinem genommen wird« 712. Die UB verfolgt im Zuge der bürgerlich-liberalen Bildungsbewegung volkspädagogische Absichten, die Personen fernab des Bildungsbürgertums den Zugang zu Klassikern ermöglichen will. Anlässlich der Veröffentlichung der 5000. Ausgabe der Reihe gibt der Verlag Widmungsblätter für Hans Heinrich Reclam heraus, in denen u. a. der Nobelpreisträger Rudolf Eucken und Wilhelm Windelband dem Verleger ihre Anerkennung zollen 713. Auch der Sozialdemokrat August Bebel beteiligt sich mit einem Beitrag, in dem er das »Werk, auf das Deutschland stolz sein darf« lobt und sich für die Zukunft wünscht, dass es »Unzähligen Wissen, Aufklärung und genußreiche Unterhaltung bieten möge« 714. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Albert Südekum preist in den Widmungsblättern die Leistungen der UB als Korrektiv zur bestehenden schulischen Bildung an 715. Die Gestaltung der Bände folgt dem Prinzip der Einheitlichkeit: Die Texte unterschiedlichster Autoren erscheinen in gleicher Ausstattung zum gleichen Preis. Die Reihe ist offen angelegt bei an sich abgeschlossenen Bänden. Von anderen Klassiker-Buchreihen der 1830er Jahre, wie der »Miniatur-Bibliothek der Deutschen Classiker« und »Meyer’s Groschen-Bibliothek der Deutschen Klassiker für alle Stände«, übernimmt sie die »Reihenbildung mit periodischer Publikation, die broschierten kleinen Bändchen, den Ansatzpunkt des Programms bei den Klassikern« 716. Der Verleger Reclam beginnt mit einer internen Schwerpunktbildung sowie dem Ausbau von Reihen innerhalb der UB. Ab 1877 halten philosophische Texte Einzug, ab 1882 werden Gesetzesausgaben veröffentlicht und 1889 folgen Operntextbücher. Sieben Jahre später beginnt die Sammlung »Erläuterungen zu Meisterwerken der Knappenberger 1992, S. 92. Hans Heinrich ist der Sohn von Anton Philipp Reclam. Letzterer stirbt 1896. Von 1890 bis 1917 ist Hans Heinrich der Inhaber des Verlages. 1909 erscheinen die »Widmungsblätter«. Siehe auch: https://www.reclam-museum.de/Themen-von-A-bis-Z/ Hans-Heinrich-Reclam/ (04. 10. 21). 714 Knappenberger 1992, S. 82. 715 »Einen großen Teil dessen, was die Volksschule versäumt, leistet Reclams Universalbibliothek unserer Nation.« Knappenberger 1992, S. 93. 716 Georg Jäger: »Reclams Universal-Bibliothek bis zum Ersten Weltkrieg. Erfolgsfaktoren der Programmpolitik«, in: Dietrich Bode (Hg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867–1992. Stuttgart 1992, S. 29–45, S. 31. 712 713

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deutschen Literatur« mit einführendem und orientierendem Charakter. Zwei Jahre später erscheinen Dichtermonographien. Als Ergänzung zu den Operntextbüchern werden ab 1905 »Erläuterungen zu Meisterwerken der Tonkunst« herausgegeben. Auch auf das Gebiet der Naturwissenschaften wagt sich die UB hinaus und konzipiert die Reihe »Bücher der Naturwissenschaft«, die ab 1908 erscheint. Als ersten Band einen Text des Chemikers Wilhelm Ostwald zu veröffentlichen, dem ein Jahr später der Nobelpreis für Chemie verliehen wird, erweist sich, wie bei Goethes Faust und Kants KrV, als glückliche Entscheidung. Der Band wird ein Erfolg. Bis zum Jahr 1917 bleiben der Preis von zwei Silbergroschen pro Band, das Format und das Layout gleich. Als Konkurrenzunternehmen zur UB ist Hempels »National-Bibliothek sämmtlicher deutscher Classiker« zu nennen. Sie verfolgt jedoch ein anderes Konzept und bietet eine abgeschlossene Reihe an. Durch Ausleihbeschränkungen für die Unterhaltungsliteratur, Leselisten sowie Empfehlungen nach Alter und Geschlecht wird die Leserschaft – im Gegensatz zur UB – in ihrer Lektürewahl gelenkt 717. Drei Jahre nach der Entstehung der UB hält mit der Auswahlausgabe Der Philosoph für die Welt von Johann Jacob Engel als erster Band die Philosophie Einzug in die Reihe. Die Konzeption für die Auswahl sieht vor, keine philosophische Richtung auszuschließen. Es sollen »zur Philosophie gehörige« Texte aufgenommen werden oder solche, die eine »philosophisch behandelte Wahrheit« 718 vortragen. Sowohl Laien als auch Vorgebildete sollen von den Bänden profitieren. Das Kernanliegen der Reihe ist die Pflege der Edition philosophischer Klassiker. Als zweiter Band der philosophischen Reihe innerhalb der Universalbibliothek erscheinen 1872 Fichtes Reden an die deutsche Nation. Geprägt ist die Auswahl dieses Werks durch die politische Strömung des Nationalismus. Das ist jedoch bei der Betrachtung aller veröffentlichten Bände als Ausnahme anzusehen. Die Antike wird durch eine Vielzahl an Texten repräsentiert, das Mittelalter hingegen, ähnlich wie beim Meiner Verlag, kaum. Der Fokus liegt auf der Neuzeit.

Knappenberger 1992, S. 99. Rudolf Malter: »Philosophie in der Universalbibliothek und die Kant- und Schopenhauer-Editionen bei Reclam«, in: Dietrich Bode (Hg.): Reclam. 125 Jahre Universal-Bibliothek 1867–1992. Stuttgart 1992, S. 167–179, S. 168. 717 718

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Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Goethes Faust als erstem Band erscheint 1877 Kants KrV. Diese bettet sich neben Kants anderen Schriften als Werkausgabe in die UB ein. Die Ausgabe bietet den Text der Erstauflage von 1781 und ediert damit nach dem Prinzip erster Hand. Sämtliche Abweichungen der zweiten Auflage von 1787 werden in einem Fußnotenapparat verzeichnet. Weiterhin steht vor dem konstituierten Lesetext eine Auflistung an Änderungen, die »im Interesse eines besseren Sinnes und leichtern Verständnisses« 719 vorgenommen wurden. Größere Varianten werden in Supplementen im selben Band geboten. Kritik an der editorischen Entscheidung, die Erstauflage zugrunde zu legen, entwickelt sich rasch. Die Diskussion, ob die erste oder zweite Auflage der KrV den wahren Kant verkörpere, beginnt in den 1870ern und stellt auch heutzutage für die Kantforschung einen Streitpunkt dar. Die Vertreter der Position, dass die erste Auflage zugrunde gelegt werden müsse, reichen von Rosenkranz über Schopenhauer und Kehrbach bis hin zu Heidegger in Davos 720. Der konstituierte Lesetext folgt erst nach einer »Vorrede des Herausgebers«, die über die Anordnung des Textes, Orthographie sowie Interpunktion und den angesprochenen Änderungen informiert. 1877/78 erscheinen die drei Kritiken. Anschließend folgen unter der Herausgabe von Kehrbach »Von der Macht des Gemüts« (der dritte Teil der Streit der Fakultäten), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Die Träume eines Geistersehers, Der Streit der Fakultäten, Zum ewigen Frieden sowie die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Den Band Prolegomena gibt 1888 Karl Schulz und die Anthropologie 1942 Raymund Schmidt heraus. Ein Teil der Werkausgabe von Kant wird neu herausgegeben, jedoch nicht aufgrund editionsphilologischer Mängel, sondern da die AA und andere Ausgaben neue Erkenntnisse zutage gefördert haben. Schmidt gibt die KrV neu heraus und wählt, wie Kehrbach, die erste Auflage als zu konstituierenden Text. Er betont die Vorteile von Kehrbachs Verfahren, »auf der Basis des Textes der ersten Ausgabe die Genesis des Textes späterer Ausgaben leicht und eindeutig kenntKarl Kehrbach (Hg.): Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Leipzig 1877, 21878, S. XIV. 720 Zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer findet 1929 innerhalb des »II. Internationalen Davoser Hochschulkurses« eine Auseinandersetzung statt, die als »Davoser Disputation« in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Heidegger stellt sich gegen die neukantianische Interpretation der KrV und lehnt die Marburger Deutung dieser als eine Theorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis explizit ab. 719 1

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lich machen zu können«. Als nachteilig sieht Schmidt die Darstellung mithilfe von Supplementen an, da sie »de[m]jenigen, der von der größeren Bedeutung der zweiten Ausgabe überzeugt ist« 721 nicht dienlich sei. Die Geschichte des Reclam Verlages ist von klugen verlagsinternen Entscheidungen geprägt. Im Gegensatz zur PhB, die sich an das gebildete Publikum im Allgemeinen richtet, soll mit der UB das ganze Volk angesprochen werden. Der Verlag sieht in der UB den Anreiz gegeben, sich preisgünstig eine eigene Sammlung an klassischen Werken zusammenstellen zu können. Reclams Zielvorstellung ist es, dass sich das Volk mithilfe der UB selbst bilden könne. Die Idee hinter dem Konzept ist als Demokratisierung der Literatur zu bezeichnen. Nach der politischen Reichsgründung 1871 soll das Konzept des Klassikers – vom Literaten Goethe bis zum Philosophen Kant – ein einigendes kulturelles Band um das deutsche Volk legen. Dabei wird dieses Konzept sowohl von Liberalen als auch von Sozialdemokraten mit unterschiedlichen Vorzeichen in Anspruch genommen. Karl Kehrbach strebt hinsichtlich seiner editorischen Vorgehensweise ein transparentes Verfahren an. Er scheut sich nicht davor, außerakademische philosophische Diskurse rund um die erste und zweite Auflage der KrV zu zitieren.

721 Abgedruckt in: Malter 1992, S. 179. Schmidt selbst stellt größere Passagen an Änderungen in einem Paralleldruck dar und verzeichnet lediglich kleinere Varianten mithilfe des Fußnotenapparates.

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V. Schluss

5.1 Ergebnisse und Zusammenfassung: Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie Die Reaktionen nach der Veröffentlichung der ersten Auflage der KrV 1781 waren zunächst verhalten und vielfach von Unverständnis geprägt. Der Geniegedanke zeichnet sich hier bereits ab: Die kantische Philosophie wurde zuerst kaum beachtet, dann von ihren Gegnern scharf kritisiert, aber zugleich bildet sich auch ein Lager an Befürwortern seiner Philosophie aus. Entweder war man vehementer Gegner der kantischen Philosophie oder ein ebensolcher Befürworter. Aus den intensiv geführten Debatten, wie bspw. diejenige zwischen Fischer und Trendelenburg, lässt sich schließen, dass man sich einem Lager anschließen musste. Eine vermittelnde Position scheint kurz nach der Erstveröffentlichung der KrV nicht denkbar gewesen zu sein. Ein gutes Jahrhundert später war es innerhalb der akademischen Philosophie kaum möglich, dem Ruf »Zurück zu Kant« nicht zu folgen. Die Erfolge der Naturwissenschaften und der dadurch zunehmende Druck auf die Philosophie ließen das nicht zu. Die akademische Philosophie ringt um ihre Legitimation. Die Referenz auf Kant wird benötigt, um die Grundlage für das eigene Fach zu sichern. Die neukantianischen Schulen bilden diesen Befund ab. Auf Kant beziehen sich beide, jedoch mit einer ganz unterschiedlichen Herangehensweise. Die Marburger Schule entwickelte ihren philosophischen Standpunkt eng an den Naturwissenschaften orientiert, wohingegen die Südwestdeutsche sich von diesem abgrenzen. Ihre Position entwickelte sich vor allem in der Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie der Psychologie. Die Bezeichnung Kants als Genie stellte auch gut hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung der KrV innerhalb des Neukantianismus eine häufig verwendete Wertung dar. Der Verfasserin zufolge ist dies ein anderer Ausdruck für die Kant zugeschriebene Klassizität. Die Wertung Kants als Genie verschleiert jedoch die Text214

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genese der KrV. Es wird ein Bild von Kant produziert, dem die KrV gleichsam aus einem Strom der Feder entflossen sei. Wilhelm Dilthey, der weder einer dieser beiden Schulen angehört, noch als Kantianer zu bezeichnen ist, initiiert in der Blütezeit des Neukantianismus eine Kantausgabe. Mit einem Interesse an der kantischen Philosophie allein ist dieser Sachverhalt nicht zu erklären. Diltheys philosophisches Anliegen war es, die Unabhängigkeit der Geistes- von den Naturwissenschaften durch eine Klärung des jeweiligen methodischen Vorgehens zu bekräftigen. Der menschliche Geist sei zur Nachbildung fähig, so dass der Nachvollzug des Denkens im Werden gelingen könne. Die Kantedition biete Einblicke in die »Werkstatt eines einzelnen Geistes«. So wird es Dilthey zufolge möglich, der »Wirklichkeit des inneren Lebens« gewahr zu werden. Der Transfer von Diltheys philosophischem Schaffen auf die Editionspraxis bleibt jedoch an der Oberfläche verhaftet. Hier wird deutlich, dass sich zwischen den beiden Bereichen keine Verbindung aufweisen lässt. Entgegen der vorgebrachten Aussage Diltheys, »Einblick in die Werkstatt eines einzelnen Geistes« geben zu wollen, trifft dies auf die AA gerade nicht zu. Die AA stellt vielmehr ein würdiges Denkmal für den genialen Philosophen Kant dar. Die Textgenese lässt sich durch den Apparat gar nicht nachträglich nachvollziehen. Dilthey versucht vielmehr eine Objektivität zu generieren, die es so in der Form nicht geben kann. Hinter Diltheys Überlegungen steht ein starker Werkbegriff: Das Werk ist immer wahr und kann uns nicht täuschen. Es stellt für ihn den »wahren Ausdruck des Seelenlebens« des »echten Philosophen« Kant dar. Der Rezipient erhält mithilfe der Edition Zugang zum schöpferischen Vermögen Kants, das diesem, Diltheys Verständnis zufolge, unbewusst bleiben musste. Unter Bezugnahme auf Diltheys Methode des Verstehens wird deutlich, dass Kant für ihn als Beispiel eines herausragenden Philosophen fungiert. Mithilfe einer Gesamtausgabe und der vollständigen Darbietung sämtlicher Schriftstücke soll die Rezeption der Lebensarbeit Kants ermöglicht werden. Das lässt sich an der Oberfläche feststellen. In der Tiefe wirken jedoch die o. g. Aspekte der vermeintlichen Objektivität und die Beförderung des Klassikers Kant. Die Herstellung von Editionen ist vor diesem Hintergrund als ein spezifisches Aufgabengebiet der Geisteswissenschaften und der Verfasserin zufolge zugleich als Signal zu werten, die Deutungshoheit der Philosophie nicht gänzlich an die Naturwissenschaften abtreten zu wollen. Editionen fungierten als RepräKant als Klassiker der Philosophie

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sentatoren, als Aus- und Nachweis der eigenen Grundlagenforschung. Sie bilden das Pendant zu den experimentell im Labor gewonnenen Ergebnissen der positiven Wissenschaften. Dilthey verfolgt mit der AA die Strategie, gegenüber den dominierenden naturwissenschaftlichen Diskursen eine spezifisch geisteswissenschaftliche Tätigkeit zur Schau zu stellen. Die AA wirkt imponierend aufgrund ihrer Faktizität und weniger aufgrund der Leistungen der Teilbände. Die AA fällt in eine editorische Experimentierphase. Um 1900 werden fachübergreifend verschiedene Darstellungen der Variantenverzeichnung erprobt: vom Fußnotenapparat der Altphilologie bis hin zum schmalen positiv lemmatisierten Einzelstellenapparat der Germanistik. Einen kritischen Umgang mit editorischen Fragestellungen konnten die Herausgeber der AA aufgrund der Anlage des Projekts nicht ausbilden. Zwar arbeitete jeder Herausgeber eigenverantwortlich, jedoch ging es dabei vornehmlich um die Umsetzung der Richtlinien der Kant-Kommission und nicht um deren kritische Hinterfragung. Dilthey konnte nicht aus einer großen Auswahl an potentiellen Editoren schöpfen. Sie wurden nicht nur aufgrund ihres Beitrags zur Kantforschung ausgewählt, sondern vor allem in Hinblick auf die Einschätzung des zügigen Abschlusses der editorischen Arbeit. Die Prognose Diltheys, das Projekt in sechs Jahren zu Ende zu bringen, bezeugt zum einen seine mangelnde Erfahrung bei der Herstellung einer Edition sowie zum anderen die Intention, vor allem das handschriftliche Material für sich zu beanspruchen und rasch unter seinem Namen an die Öffentlichkeit bringen zu wollen. Dilthey hatte gute Kontakte zu Kultusminister Althoff sowie zu zahlreichen Fachkollegen, wie sich an seinem umfangreichen Briefwechsel ablesen lässt. Aufgrund seiner mächtigen Position sowohl in der Universitätsphilosophie als auch als gut vernetztes Mitglied der Berliner Akademie konnte er seinen Handlungsspielraum gewinnbringend für sich nutzen. Dilthey war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um das Großprojekt AA zu initiieren. An der AA durften Personen unterschiedlichster Fächer mitarbeiten, bei denen eine schnelle Bearbeitung der Bände absehbar war. Diltheys Bestreben war es, die Editoren auf die gemeinsame Sache einzustimmen und eine rasche Fertigstellung der Bände zu verlangen. Cohen an der Edition mitwirken zu lassen, wäre für Diltheys Ansehen schädlich gewesen 722. Den einzigen jüdischen Professor für 722

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Brieflich festgehaltene Äußerungen der konträren Denker übereinander gibt es

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Philosophie in Deutschland an dem Nationalunternehmen AA teilhaben zu lassen, hätte in einer Zeit des grassierenden Antisemitismus im akademischen Milieu für Diltheys Reputation negative Konsequenzen gehabt 723. Das wäre ein Signal gewesen, für das Dilthey erheblichen Gegenwind bekommen hätte. Diesen Aufruhr hat er vermieden durch die Auswahl von Editoren, die ihm nicht unbequem werden konnten, auch angesichts der Tatsache, dass sie fast alle außerhalb Berlins tätig waren. Welche Aufgaben die Editoren delegierten – erinnert sei an Windelbands briefliche Mitteilung, er wolle sich »das Technische, Variantenverzeichnisse etc. von einem jüngeren, solcher Technik Gewachsenen« besorgen lassen –, bleibt spekulativ. Die Materialfülle, langwierige Kommunikationswege sowie die Tatsache, dass die meisten Editoren die Tätigkeit neben ihrem Professorenamt durchgeführt haben, bestärkt die Vermutung, dass die Herausgeber die Bände nicht alleine produziert haben können. Belegen lässt sich das anhand des Archivmaterials der BBAW nicht eindeutig – außer für den Fall von »Fräulein Burger«. Im Zuge der Rückkehr zu Kant bildeten sich zwei Lesarten seiner Philosophie aus: dem Buchstaben oder dem Geist nach. Diese Frontstellung innerhalb des Diskurses enthält den Vorwurf des zweiten Lagers, durch den Fokus auf eine rein philologische Bearbeitung kantischer Schriften seine Bedeutung für die deutsche Nation zu verkennen. Um 1900 setzte sich die zweite Lesart durch. Die »Buchstabenverehrer« (Kuno Fischer) verwehren sich dagegen, die Bedeutung Kants für die kulturelle Einigung der deutschen Nation anzuerkennur an einer Stelle. »Bei Dilthey war ich, traf ihn nicht zu Hause, u. wurde darauf zu einer Einladung zu einer Tasse Kaffee beehrt. Gegenbesuch hält dieser Hallunke nicht für nothwendig. Ich ging trotzdem hin, u. kam verkatert von dieser Kaffee Speculation nach Hause; der Kerl ist mir widerwärtig.« Brief Cohens an Natorp vom 10. 04. 1895, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 237. 723 Cohen selbst wittert an vielen Stellen den Antisemitismus – auch in den eigenen Reihen. Da Görland seine Dissertation Aristoteles und die Arithmetik nicht ihm, sondern Natorp widmete, reagiert Cohen misstrauisch und sieht sich in seiner Furcht vor Missachtung seiner Person aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum bestärkt. So stellt es Natorp in einem Brief an Görland vom 24. 09. 1899 dar: »Cohen hatte ich die Grille dass bei Ihrer damaligen Absicht etwas von Antisemitismus im Spiel sei oder jemand das denken könne, auszureden geglaubt. Es wundert mich aber – fast nicht mehr, dass er dennoch darauf beharrt, da ich schon oftmals erfahren habe, wie solcher, an sich seiner erregbaren Natur u. seinen trüben Erfahrungen verzeihlicher – Verdacht, nachdem er einmal in ihm entstanden, nicht mehr auszutreiben ist«, in: Holzhey 1986, Bd. 2, S. 259. Kant als Klassiker der Philosophie

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nen. Für Vertreter, die Kant dem Geist nach lesen, ist die vollständige Auflistung von Emendationsvorschlägen anderer Kantforscher, wie sie die AA bietet, von geringem Interesse. Ihnen geht es nicht um philologische Spezialfragen, sondern um das große Ganze: die Kenntnis des kantischen Systems, das sich aus seinen Werken konstituiert. Dazu bedarf es nicht unbedingt einer kritischen Gesamtausgabe, sondern die Wahl fällt auf eine beliebige Textausgabe, die leicht verfügbar ist. Die AA vereint beide Umgangsweisen mit Kants Texten in sich: Der Einzelstellenapparat bedient einerseits philologische Interessen; zugleich ist er ein Ausweis der Gelehrsamkeit namhafter Kantforscher. Andererseits verfolgt Dilthey mit dem Gesamtprojekt gerade die Förderung der Anerkennung von Kant als nationalem Denker ersten Ranges. Die AA soll beide Interessen bedienen. Kant war um 1900 bereits ein Klassiker der Philosophie. Ein philosophischer Klassiker fungiert als Wegweiser innerhalb des Fachs. Seine Gedanken sind zeitlos und fordern nachkommende Generationen zur Auseinandersetzung heraus. Ein Klassiker um 1900 zeichnet sich sowohl durch akademische als auch öffentliche Präsenz aus. Er muss von verschiedenen Personenkreisen mit unterschiedlichen Interessenlagen in Anspruch genommen werden können. Seine Texte müssen in Gebrauch sein. Nicht nur im akademischen Betrieb wird Kant durch zahlreiche Lehrveranstaltungen im Bewusstsein der Studierenden verankert sowie in Darstellungen zur Geschichte der Philosophie in ebendiese eingeschrieben, sondern auch im öffentlichen Leben durch feierliche Begehungen der Jubiläen von Autor und Werk. Zudem wird die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie durch die Gründung sowohl der KS als auch der Kant-Gesellschaft institutionalisiert. Dilthey konnte sich durch erstere sowohl der Ankündigung als auch der zeitnahen Besprechung der Einzelbände kurz nach ihrer Veröffentlichung sicher sein. Die Klassiker-Buchreihen bereiten das Feld für die Verbreitung kantischer Schriften durch die AA vor. Sie machen seine Schriften auf dem Buchmarkt in den späten 1860er Jahren zu einem günstigen Preis verfügbar und sorgen für eine rasche Verbreitung auch im außerakademischen Bereich. Getragen durch die akademische Philosophie neukantianischer Couleur setzt Dilthey Kant mithilfe der AA ein entsprechendes Denkmal. Die AA festigt den Status eines Klassikers der Philosophie um 1900. Sie stilisiert Kant nach der Reichsgründung 1871 zu einem Nationalphilosophen, der ein einigendes Band um die sich neu justierende Nation legen soll. Auf die politische Reichsgründung soll mit218

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hilfe von Kant die kulturelle folgen. Wichtig ist es für Dilthey, das Projekt möglichst rasch abzuschließen, damit keine Konkurrenzunternehmungen entstehen können. Die gegenüber den Marburgern unter hermetischem Verschluss gehaltenen Kanthandschriften bezeugen den Wunsch nach Abgrenzung, um den monumentalen Kant ganz für sich beanspruchen zu können. Das Kantunternehmen soll das ruhmreiche Projekt der Berliner sein und bleiben. Die Akademie will Konkurrenzunternehmungen weitestgehend verhindern. Sie scheut auch Aktivitäten aus den eigenen Reihen, die etwas mit der Herausgabe kantischer Schriften zu tun haben, wie die Initiative von Menzer zur Veröffentlichung einer Volksausgabe belegt. Innerhalb der »Kantgemeinde« soll nur die AA stattfinden. Die editorische Praxis erfordert viele Entscheidungen, die ein machtvolles Instrument zur Rezeptionslenkung darstellen. Die Verfasserin geht davon aus, dass ein bestehender Kanon Voraussetzung für die editorische Tätigkeit ist, da letztere den Kanon zur Absicherung und Legitimation des eigenen Tuns benötigt. Die Edition stellt damit das sichtbare Produkt ebendieses Kanons dar. Die AA bewirkt durch die Herstellung eines normalisierten Textes eine Komplexitätsreduktion. Der Lesetext erscheint ohne Verweis auf den Apparat als ein reiner Text. Ein in dieser Art und Weise geglätteter Klassiker findet leichter seine Leser. Die Normalisierung von Rezeptionsvorgängen stellt der Verfasserin zufolge eine Kanonisierungsstrategie dar. Durch Dekontextualisierung der KrV wirkt der Text enthoben aus philosophischen Diskursen. Für den Rezipienten erscheint der Text als ein objektiver, an dem in der Vergangenheit keinerlei Anstoß genommen worden ist. In diesem Sinne kann man die Behandlung der KrV innerhalb der AA mit dem Begriff »Apriorismus« beschreiben: Die KrV steht für sich – herausgehoben aus seinem Entstehungs- und Wirkungskontext. So führt diese durch editorische Entscheidungen bewirkte Heraushebung der KrV zur Festigung des Status eines klassischen Textes. Der Klassiker Kant gewinnt seine Klassizität von eben jener Schrift her. Das wiederum führt zur Einschreibung von Kant als Klassiker der Erkenntnistheorie in den philosophischen Kanon. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Bände III und IV der AA mit der KrV 1904 bzw. 1903 veröffentlicht worden sind: Zu Kants hundertjährigem Todestag ist sein Hauptwerk sowohl in Gestalt der Erst- als auch der Zweitauflage verfügbar. Die AA erweckt den Anschein der Objektivität und ist eine Zurschaustellung philologischer Gelehrsamkeit. Der Editor tritt in den Kant als Klassiker der Philosophie

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Hintergrund: Auf dem Titelblatt wird die Akademie als Herausgeberin angeführt. Der Editor wird nur am Ende des Apparates genannt. Es handelt sich um eine Edition für Spezialisten, die sich mit Kants System bereits auskennen. Durch den Neukantianismus ist die Editionstätigkeit legitimiert. Die akademische Jugend fällt vor seinen Werken auf die Knie, wie das Gemälde von Gustave Doré Deutschlands akademische Jugend vor ihren Götzen 724 (um das Jahr 1875 entstanden) versinnbildlicht. Das Verständnis der KrV soll durch die Editionstätigkeit nicht befördert werden. Der schmale Apparat erweckt den Eindruck, dass der Klassiker Kant nicht leicht zugänglich sein darf, geschweige denn erklärt werden muss. Der Abdruck von Emendationvorschlägen namhafter Kantforscher steht hier im Vordergrund. Der Kommentar soll zudem keinen Anlass für Kontroversen bieten. Durch den schmalen Apparatband verfolgt die AA zum einen das Interesse, die Bände auf dem Buchmarkt gut verkäuflich zu halten. Zum anderen wird dadurch der Eindruck der Objektivität verstärkt. Das Prinzip der Vollständigkeit soll das verbürgen. Die wenigen Kommentare im Apparat überdauern aus Diltheys Perspektive Veränderungen. Sie sind zeitlos, genauso wie es einem Klassiker gebührt. Die Diskussion innerhalb der Philosophie um die KrV findet hier keinen Eingang. Dessen Urheber und zugleich Verächter der Universitätsphilosophie, Arthur Schopenhauer, soll verschwiegen werden. Zwar findet er Eingang in den Apparat, aber nur über die Vermittlung durch Reickes Veröffentlichung seiner Ausgabe der KrV aus dem Jahr 1889. Sein Name wird genannt, aber nur als Vorschlagender einer Variante. Als Urheber eines philosophischen Diskurses und als ein Philosoph, der versucht hat, auf den Editor Rosenkranz hinsichtlich der Bestimmung der Textgrundlage der KrV einzuwirken, wird er von der AA umgangen. Philosophische Diskussionen um die KrV sollen in der AA nicht transparent dargestellt werden. Durch die editorische Entscheidung des Abdrucks sowohl von A als auch von B mit der Begründung »des historischen Eigenwerts von A« (Dilthey) wird der Diskurs und die Nennung von Schopenhauer umgangen. Die Entscheidung Diltheys, sowohl A als auch B abzudrucken und diese mit der historischen Bedeutsamkeit von A zu rechtfertigen, erzeugt auf den ersten Blick den 724 Gustave Doré, Illustration zu: Paul Flemming: Die Reise wider Willen. Empfindsam-launige Skizze eines harmlosen Touristen. Stuttgart o. J. (ca. 1875), S. 334 (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9105563v/f340.image) (04. 10. 21).

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Anschein der Objektivität. Auf den zweiten Blick verstellt diese jedoch vor allem den Zugang zu dem philosophischen Diskurs. Die AA bleibt den Spezialisten der akademischen Philosophie vorbehalten und setzt damit auch ein Zeichen der Abgrenzung gegenüber der gemeinverständlichen Philosophie. Damit dekontextualisiert sie die KrV und unterbindet den Zugang zur philosophischen Auseinandersetzung um A und B. Gänzlich anders gehen die Klassiker-Buchreihen mit dem Kritiker der Universitätsphilosophie, Schopenhauer, um. Innerhalb der Edition Karl Kehrbachs wird der Brief von Schopenhauer an den Editor Rosenkranz in Gänze direkt auf der ersten Seite der »Vorrede des Herausgebers« abgedruckt. Ein informierter Einstieg kennzeichnet u. a. diese Ausgabe. Wie sich an der Konzeption des Reclam Verlages ablesen lässt, tritt sie mit einer anderen Haltung auf als die AA. Hier geht es einerseits um die Leserlenkung und andererseits um einen informierten Einstieg, bevor der Lesetext beginnt. Schopenhauer wird nicht verschwiegen, sondern als ein Verfechter von A vorgestellt. Die AA hingegen lässt zusätzliche Informationen beiseite und präsentiert A und B in reiner Gestalt. Der Anspruch Julius Hermann von Kirchmanns hingegen ähnelt derjenigen der AA. Von Kirchmann ist weit davon entfernt, Textkritik zu betreiben oder einen informierenden Einstieg bieten zu wollen. Der Erläuterungsband zur KrV hat seinen eigenen philosophischen Standpunkt zur Grundlage. Er hat die Zeichen der Zeit erkannt, dass sich kantische Schriften gut verkaufen. Von Kirchmann druckt lediglich die Texte der zweiten Hartenstein’schen Ausgabe ab. Er ist davon überzeugt, dass erst durch seine Sammlung die deutsche Nation Kants Texte kennenlernen könne. Diese Überzeugung ist faktisch nicht haltbar, jedoch stellt der Rekurs auf die Nation um 1900 eine wirksame Marketingstrategie dar. An dieser Stelle tritt eine weitere Differenz bezüglich der Anordnung der drei Editionen zutage: Die AA beginnt unvermittelt mit dem Lesetext. Die editorische Bearbeitung wird erst deutlich, wenn sich die Leserin im Apparatband zurechtgefunden hat. Das Format und die unterschiedlichen typographischen Auszeichnungen behindern die Rezeption. Es entsteht der Eindruck, dass die AA beide Optionen bereithalten will: Der Lesetext steht zwar im Vordergrund, aber bei Bedarf ist ein wissenschaftlicher Apparat vorhanden. Zugleich entzieht sich die AA dadurch etwaiger Kritik des schwer benutzbaren Apparates: Dies mag der Fall sein, doch hat die AA dadurch ihren Anspruch auf Vollständigkeit eingelöst. Sie bietet den ganzen Kant als Klassiker der Philosophie

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Kant. Die AA ist der Verfasserin zufolge eine Edition für Bibliotheken. Sie ist mit Dilthey und der Berliner Philosophie verknüpft. Im 19. Jahrhundert wird häufig nicht angegeben, auf welche Edition Bezug genommen wird. Wenn es angegeben wird, dann bezeugt es eine klare Abgrenzung zu philosophischen Gegnern. So greift Cohen nicht auf die bereits erschienenen Bände der AA zurück, sondern nutzt die Ausgabe von Kehrbach des Reclam Verlages, wenn die entsprechenden Bände der Marburger-Ausgabe seines Schülers Cassirer noch nicht erschienen sind. Das ist als eindeutiges Abgrenzungsbestreben Cohens zu werten. Daraus lässt sich schließen, dass die Nutzung der verlässlichsten Ausgabe nicht relevant war, sondern diejenige genutzt wurde, die dem eigenen philosophischen Standpunkt am nächsten kommt und zudem leicht verfügbar ist. Die Zugehörigkeit zu einer Schule bzw. das Lehrer-Schüler-Verhältnis hat einen größeren Effekt auf die Entscheidung für eine Edition als die philologische Verlässlichkeit der Ausgabe. Resümierend lässt sich festhalten, dass es zwischen den genuin philosophischen Diskussionen und der editorischen Bearbeitung kantischer Texte keine Verbindung gibt. Die beiden Tätigkeiten verlaufen parallel und es findet kein Austausch darüber statt. Philosophische Debatten werden unabhängig von der editorischen Bearbeitung geführt. Andersherum finden Probleme der Editionspraxis keinen Eingang in die philosophischen Debatten um 1900. Brisant ist die fehlende Brücke zwischen diesen beiden Bereichen innerhalb eines Fachs, dessen Selbstverständnis durch die kritische Reflexion der Bedingungen des eigenen Denkens geprägt ist. Die textlichen Grundlagen des eigenen Arbeitens werden um 1900 jedoch gar nicht hinterfragt. Skandalös ist die fehlende Verknüpfung, geradezu die strategische Abwehr einer Verbindung zwischen philosophischen Debatten und der Editionspraxis innerhalb eines Fachs, das sich durch ein ganz anderes Selbstverständnis auszeichnet. Dieser Befund nährt wiederum die These, dass es Dilthey bei dem Projekt der AA nicht um die Beförderung des Verständnisses kantischer Texte ging, sondern um die Verfolgung von höheren Zielen. Diltheys Anspruch besteht in der Kreation eines Pendants zur Sophienausgabe Goethes, das den Status der Klassizität für alle Zeit bekräftigen soll. Für Kanonisierungsprozesse sind bisher aus literaturwissenschaftlicher Perspektive verschiedene Modelle entwickelt worden. Die geschichtlich-theoretische Modellierung beschreibt anhand der Faktoren Bildung, Ökonomie, Nation und Identität den Kanonisie222

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rungsprozess und lässt sich für die vorliegende Arbeit in einer ersten Annäherung fruchtbar machen 725. Sie nimmt Bezug auf Friedrich Nietzsches Auffassung der Historiographie als antiquarischer, kritischer und monumentaler. Die antiquarische Geschichtsschreibung will Vergangenes bewahren, wohingegen die kritische einen Bruch mit der Vergangenheit anstrebt. Der monumentalen geht es hingegen um die Präsentation des Herausragenden. Die Strategie der AA lässt sich demnach als monumentale Historiographie klassifizieren. Die Auffassung dieses Modells, dass sich ein Kanon weder willkürlich noch zufällig ergibt, sondern notwendig aus dem Geschichtsverlauf herausbildet, entspricht nur hinsichtlich des ersten Teils der These der Verfasserin: Ein Kanon ergibt sich weder willkürlich noch zufällig, jedoch bildet er sich nicht notwendig aus dem Geschichtsverlauf heraus. Mehr noch, ein Kanon bildet sich nicht nur nicht willkürlich heraus, sondern wird aktiv produziert. Durch die editorischen Entscheidungen, wie Normalisierung und Abdruck von A und B, wird das Bild eines zeitlosen Klassikers bekräftigt. Entrückt aus der Entstehungsund Rezeptionsgeschichte des Werks wird Kants Status als Erkenntnistheoretiker innerhalb des philosophischen Kanons stabilisiert. Die geschichtlich-theoretische Modellierung geht davon aus, dass Machtfaktoren nicht konstitutiv für die Bildung eines Kanons seien. Diese Ansicht steht zu den Ergebnissen der Analyse der Verfasserin im Kontrast. Machtfaktoren und Möglichkeiten der Einflussnahme sind für die Analyse des Denkraums der Konstellation elementar für vorliegende Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie. Ohne die Heranziehung Diltheys philosophischer Gedanken und seiner einflussreichen Position innerhalb der akademischen Philosophie um 1900 ist die Wirkung des Kantprojekts in Gänze nicht zu verstehen. Daher ergänzt die Verfasserin das geschichtlich-theoretische Modell für vorliegende Theorie zur Kanonbildung in der Philosophie um den Faktor Macht. Die frühe Germanistik in der Mitte des 19. Jahrhunderts versteht sich als aktive politische Kraft, die in der Kanonpflege einen Beitrag zur angestrebten nationalen Einheit sieht 726. Die »Weimarer 725 Gabriele Rippl, Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2013, S. 58–66. In Gänze sind weder das Modell »Kanon als Text«, »invisible-hand« noch »Kanon als System« auf die Darstellung der Ergebnisse vorliegender Arbeit anwendbar. 726 Rippl, Winko 2013, S. 62. Das Methodenbewusstsein der Philosophie bleibt hier hinter dem der Germanistik zurück.

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Goetheausgabe« ist als eine Ausprägung dieser Strategie anzusehen, die Dilthey für die Philosophie auch anstrebt und mit ihr die gleiche Zielsetzung verfolgt. Durch die Reichsgründung 1871 ist die nationale Einheit auf politischer Ebene vollzogen worden. Um 1900 kann die Akademie-Ausgabe als ein Beitrag zur kulturellen Identitätsbildung verstanden werden. Mit dem Begriff »Rekanonisierung« 727 ist Diltheys Strategie zu beschreiben, um nicht so sehr Kants Texte wieder in das Bewusstsein der akademischen Welt zu heben, sondern vielmehr Kant als Philosophen zu stilisieren, der ein einigendes Band um die Nation legt: Kant als Erkenntnistheoretiker, auf den zunächst zurück- und über den anschließend hinausgegangen werden kann. Der Vorname Immanuel wird in diesem Zusammenhang nicht verwendet. Die Nennung des Nachnamens bezeugt die Funktion als Klassiker – zeitlos, unstrittig und bedeutsam für alle kommenden Philosophien. Es geht nicht um die Person bzw. nicht um die Verknüpfung von Leben und Werk – im Gegensatz zur Intention von Cassirer innerhalb der Marburger-Ausgabe. Die geplanten Ergänzungsbände dokumentieren Cassirers Verständnis der Aufgabe einer Edition, Leben und Werk von Immanuel Kant in Bezug zueinander setzen zu können. Dilthey bedient sich lediglich bei der Begründung zur Anfertigung einer Gesamtausgabe an biographischen Hintergründen Kants. Aufgrund seiner Senilität habe er eine Edition nicht mehr planen können. Dieser Aufgabe hat sich Dilthey schließlich angenommen. Um die Herstellung einer Verknüpfung von Leben und Werk ist es ihm dabei aber nicht gegangen. Das Wechselverhältnis zwischen Kanonbildung und Editionspraxis stellt sich für die Verfasserin folgendermaßen dar: Ein bestehender Kanon ist Voraussetzung für die editorische Tätigkeit. Die wissenschaftliche und öffentliche Bedeutung Kants legitimiert die Herstellung der Gesamtausgabe. Kants Philosophie wurde von verschiedenen Personenkreisen mit unterschiedlichen Interessen in Anspruch genommen, was die Verfasserin als ein Kennzeichen für Klassizität wertet. Damit geht die Tendenz zur Überhöhung einher, wie an den Festreden zu Jubiläen von Autor und Werk abzulesen ist. Durch die editorische Entscheidung, A und B in separaten Bänden abzu727 »Mit ›Rekanonisierung‹ können auch diejenigen Handlungen (etwa von Experten oder literarischen Gesellschaften) beschrieben werden, die darauf abzielen, bestimmte Texte oder Autoren, die einst als kanonisch gegolten haben, wieder in den Kanon aufzunehmen.« Rippl, Winko 2013, S. 71.

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drucken, wird eine Objektivität suggeriert, die im Kontrast steht zu Diltheys Intention, Kant zu einem Nationalphilosophen zu stilisieren. Kant wird durch die AA als Erkenntnistheoretiker lanciert. Die KrV erscheint als Höhepunkt seines Schaffens und er wird als Erkenntnistheoretiker in den philosophischen Kanon eingeschrieben. Der Status der KrV als klassischer Text wird damit bekräftigt. Erkennbar wird dies an der Konvention, die erste und zweite Auflage der KrV nach A und B zu zitieren. Dadurch rückt die dahinterliegende Edition, und mit ihr der Prozess der Herstellung von Texten, in den Hintergrund. Bei der Analyse von Kanonisierungsprozessen spielen weniger die internen Faktoren, wie die Geltungslogik philosophischer Argumente, eine Rolle, sondern vor allem die externen. Diltheys Möglichkeiten der Einflussnahme als Leiter der AA bezeugen, dass Macht einen konstituierenden Faktor bei der Kanonbildung darstellt. Aus diesen Erkenntnissen lässt sich der Appell ableiten, der Grundlagenforschung, die editorisches Arbeiten darstellt, eine höhere Anerkennung und mehr Gewicht innerhalb des Fachs zuteilwerden zu lassen. Das Ziel sollte es sein, zwischen der Editionspraxis und dem philosophischen Diskurs eine enge Verbindung zu ziehen, indem die Bedeutung von Editionsvorhaben für das Fach deutlich herausgestellt wird. Innerhalb der Fachs müsste sich dafür jedoch die Bereitschaft zur Anerkennung der Editionstätigkeit als Teil der philosophischen Forschung erheblich wandeln. Die Verfasserin erachtet es zudem als bedeutsam an, Studierende in den ersten Semestern an Fragen der Textkritik heranzuführen, da die Auseinandersetzung mit der Entstehung philosophischer Texte eine hochgradig philosophische ist. Aus vorliegender Arbeit lassen sich weitere Forschungsansätze gewinnen. Die Analyse des Beitrags einzelner Philosophen zur Festigung des Status von Kant als Klassiker um 1900, die innerhalb des Fachs nicht in der ersten Reihe zu verorten sind, böte sich an. Diese Untersuchung bestünde in der Betrachtung vermeintlicher Außenseiter in der Philosophie, die von akademischer Seite für ihre populärwissenschaftlichen Kantbücher mit ihren allgemeinverständlichen Kantinterpretationen verachtet wurden. Weiterhin verdient die Analyse der Figur Schopenhauer in der Konstellation eine eingehendere Betrachtung. Das Wechselverhältnis von Kanonbildung und Editionspraxis anhand weiterer Editionsprojekte zu ergründen, bleibt ein interessantes Forschungsfeld in der Philosophie sowie für die Editionswissenschaft im Allgemeinen. Die von der Verfasserin entwickelten ersten Ansätze zu einer Theorie zur Kanonbildung könnten Kant als Klassiker der Philosophie

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auf weitere editorische Großprojekte angewendet werden. Eine vergleichende Betrachtung mit vorliegenden Überlegungen würde Klarheit erbringen, ob sich weitere Konstellationen auffinden lassen, die durch den Faktor Macht geprägt sind. Zudem wäre die Analyse von Editionen interessant, innerhalb derer sich Verbindungen zwischen editionspraktischen und philosophisch-systematischen Fragestellungen nachweisen ließen.

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VI. Bibliographie

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Primärliteratur: Archivmaterialien der BBAW: Kant-Ausgabe – Arbeitsstelle Kant-Ausgabe (1894–1899): PAW II-VIII-153; (1900–1902): PAW II-VIII-154; (1900–1912): PAW II-VIII-155; (1913–1915): PAW II-VIII-156; (1916–1919): PAW II-VIII157; (1919–1923): PAW II-VIII-158. Bayertz, Kurt; Gerhard, Myriam; Jaeschke, Walter (Hg.): Der IgnorabimusStreit. Hamburg 2012. Bayertz, Kurt; Gerhard, Myriam; Jaeschke, Walter (Hg.): Der MaterialismusStreit. Hamburg 2012. Cohen, Hermann: Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur. Berlin 1883. Erdmann, Johann Eduard: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Zweiter und letzter Band. Philosophie der Neuzeit. Berlin 1866. Fischer, Kuno: Geschichte der neuern Philosophie. 3. Bd.: Kant’s Vernunftkritik und deren Entstehung. 2., rev. Aufl., Heidelberg 1869. Fischer, Kuno: Anti-Trendelenburg. Eine Gegenschrift. Jena 1870. Fischer, Kuno: Geschichte der neuern Philosophie. 3. Bd.: Immanuel Kant und seine Lehre. Erster Theil. Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. 3., neu bearb. Aufl., München 1882. Hoffmann, Franz: Philosophische Schriften, Bd. 5. Erlangen 1878. Holzhey, Helmut: Zwei Briefe Hermann Cohens an Heinrich von Treitschke, in: Bulletin für Mitglieder der Gesellschaft der Freunde des Leo Baeck Instituts. Tel Aviv, 12/1969, S. 183–204. Holzhey, Helmut: Cohen und Natorp. Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Zeugnisse kritischer Lektüre. Briefe der Marburger. Dokumente zur Philosophiepolitik der Schule. Basel/Stuttgart 1986. Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Bd. 1: Geschichte des Materialismus bis auf Kant. Bd. 2: Geschichte des Materialismus seit Kant. 7. Aufl.: Biogr. Vorw. u. Einl. mit krit. Nachtr. in 2., erw. Bearb. von Hermann Cohen. Leipzig 1902.

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ALBER THESEN

Anne Wilken

Bibliographie zehn Bänden, Leipzig 1838–39, in: ALZ vom März 1840, Nr. 50, S. 393–408 und ALZ vom März 1840, Nr. 51, S. 401–408. Sieg, Ulrich: Im Zeichen der Beharrung. Althoffs Wissenschaftspolitik und die deutsche Universitätsphilosophie, in: vom Brocke, Bernhard: Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das »System Althoff« in historischer Perspektive. Hildesheim 1991, S. 287–306. Staudinger, Franz: Cohens Logik der reinen Erkenntnis und die Logik der Wahrnehmung, in: KS 8 1903, S. 1–29. Vaihinger, Hans: Zur Einführung, in: KS 1, 1897, S. 1–8. Vaihinger, Hans: Die neue Kantausgabe, in: KS 1, 1897, S. 148–154. Vaihinger, Hans: Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. Erich Adickes, in: Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. IV. Berlin 1891, S. 723–729. Vaihinger, Hans: Die neue Kantausgabe. Kants Briefwechsel, in: KS 5, 1901, S. 73–115. Vaihinger, Hans: Das Kantjubiläum im Jahre 1904, in: KS 10, 1905, S. 105–155. von Aster, Ernst: Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band, in: KS 9, 1904, S. 321–341. von Aster, Ernst: Der IV. Band der Berliner Kant-Ausgabe, in: KS 10, 1905, S. 96–104. von Aster, Ernst: Der III. Band der Kant-Ausgabe, in: KS 11, 1906, S. 450–455. von Aster, Ernst: Band V und VI der Akademie-Ausgabe, in: KS 14, 1909, S. 468–476. von Aster, Ernst : Der I. Band des handschriftlichen Nachlasses Kants, in: KS 17, 1912, S. 437–445. von Aster, Ernst: Der VIII. und XV. Band der Berliner Kant-Ausgabe, in: KS 18, 1913, S. 476–485. von Aster, Ernst: Kants handschriftlicher Nachlass, in: KS 21, 1917, S. 420–428. von Treitschke, Heinrich: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 44, 1879, S. 559–576. Windelband, Wilhelm: Immanuel Kant. Zur Säkularfeier seiner Philosophie, in: Präludien. Bd. I, Tübingen 11883, 81921, S. 112–146. Windelband, Wilhelm: Nach hundert Jahren. Zu Kants hundertjährigem Todestage, in: Präludien. Bd. I. Tübingen 11883, 81921, S. 147–167. Windelband, Wilhelm: Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie, in: Präludien. Bd. II. Tübingen 11883, 81921, S. 1–23. Windelband, Wilhelm: Kritische oder genetische Methode?, in: Präludien. Bd. II. Tübingen 11883, 81921, S. 99–135. Windelband, Wilhelm: Geschichte und Naturwissenschaft, in: Präludien. Bd. II, Tübingen 11883, 81921, S. 136–160. Windelband, Wilhelm: Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus, in: Präludien. Bd. II, Tübingen 11883, 81921, S. 282–295. Wolfradt, Uwe: Neukantianismus und Psychologie. Ein kritisches Verhältnis und die Konsequenzen, in: Krijnen, Christian, Zeidler; Kurt W. (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 289–316.

Kant als Klassiker der Philosophie

A

233

Bibliographie Zeidler, Kurt W.: Begriff und ›Faktum‹ der Wissenschaft, in: Krijnen, Christian; Zeidler, Kurt W. (Hg.): Wissenschaftsphilosophie im Neukantianismus. Ansätze – Kontroversen – Wirkungen. Würzburg 2014, S. 85–116.

Internetquellen: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94128f/f9.image (04. 10. 21). http://fes.imageware.de/fes/web/ (04. 10. 21). http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digitalequellen/schriften/anzeige/ index_html?band=10-sitz/1889-2&seite:int=165 (15.01.19). http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digitalequellen/schriften/anzeige/ index_html?band=10-sitz/1897-1&seite:int=61 (15.01.19). http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digitalequellen/schriften/anzeige/ index_html?band=10-sitz/1897-1&seite:int=642 (15.01.19). http://bibliothek.bbaw.de/bibliothek-digital/digitalequellen/schriften/anzeige/ index_html?band=10-sitz/1898-1&seite:int=95 (15.01.19). http://agora.sub.uni-hamburg.de/subcass/digbib/view?did=c1:6848&sdid=c1: 6849 (04. 10. 21). http://agora.sub.uni-hamburg.de/subcass/digbib/view?did=c1:3116&sdid=c1: 3117 (04. 10. 21). http://www.kant-gesellschaft.de/de/kg/downloads/kg_geschichte_neu_2014. pdf (04. 10. 21). https://www.bbaw.de/die-akademie/foerdereinrichtungen/hermann-und-elisegeborene-heckmann-wentzel-stiftung/geschichte (04. 10. 21). https://praesidenten.bbaw.de/de/informationen-zur-praesidentengalerie/dieberliner-akademie-und-ihre-leitung-in-drei-jahrhunderten/ (04. 10. 21). https://www.reclam.de/info_pool/wir_ueber_uns (04. 10. 21). https://www.reclam.de/data/images/ReclamSchrank1-l.jpg (04. 10. 21). https://www.reclam.de/data/images/Schaufenstergestell-l.jpg (04. 10. 21). https://www.reclam-museum.de/Themen-von-A-bis-Z/Hans-HeinrichReclam/ (04. 10. 21). https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9105563v/f340.image (04. 10. 21). https://rep.adw-goe.de/handle/11858/00-001S-0000-0023-9B66-6 (04. 10. 21).

234

ALBER THESEN

Anne Wilken

VII. Verzeichnis Abkürzungen und Siglen

AA

ALZ

AM BBAW ECN

ECN 17

KrV KpV KdU KS KTE MA

PhB PM UB

Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1900–heute. Allgemeine Literaturzeitung. Hg. von Friedrich Justin Bertuch gemeinsam mit Christian Gottfried Schütz und Christoph Martin Wieland. 1785–1849. Altpreußische Monatsschrift. Hg. Von Rudolf Reicke und Ernst Wichert. 1864–1923. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Ernst Cassirer: Nachgelassene Manuskripte und Texte. Herausgegeben von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer. Hamburg 1995–heute. Band 17: Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929. Herausgegeben von Jörn Bohr und Klaus Christian Köhnke. Hamburg 2014. Kritik der reinen Vernunft (A: erste Auflage 1781, B: zweite Auflage 1787) Kritik der praktischen Vernunft Kritik der Urteilskraft Kant-Studien. Gegr. von Hans Vaihinger. Halle 1896–heute. Hermann Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 11871, 2 1885, 31918. Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann, Otto Schöndörffer herausgegeben von Ernst Cassirer. Berlin 1912– 1922, Band III: Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Herausgegeben von Albert Görland. Berlin 1913, 21922, Band XI: Kants Leben und Lehre. Herausgegeben von Ernst Cassirer. Berlin 1918. Philosophische Bibliothek des Meiner Verlages Philosophische Monatshefte. Berlin/Heidelberg 1868–1894. Universal-Bibliothek des Reclam-Verlages

Kant als Klassiker der Philosophie

A

235

Verzeichnis Abkürzungen und Siglen WDB I–III

236

ALBER THESEN

Kühne-Bertram, Gudrun; Lessing, Hans-Ulrich (Hg.): Wilhelm Dilthey: Briefwechsel. Band I: 1852–1882. Göttingen 2011, Band II: 1882–1895. Göttingen 2015, Band III: 1895–1905. Göttingen 2019.

Anne Wilken

VIII. Anhang

Auswertung der Daten in Köhnke 1986, S. 585–600.: Veranstaltungen über Kant in den Jahren 1862 bis 1890. Cohen: Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Marburg Marburg

Erklärung von Kants KrV Kants KrV

SoSe 1874 WiSe 1874/75

Marburg Marburg

Interpretation von Kants KrV Über Kants Ethik

WiSe 1875/76 SoSe 1876

Marburg Marburg

Interpretation von Kants KdU Kants KrV

SoSe 1877 WiSe 1879/80

Philosophische Übungen (Prüfung wichtiger Beurteilungen der kantischen Grundlagen) Marburg

Philosophische Übungen. Interpretation von Kants MS

WiSe 1880/81

Marburg Marburg

Darstellung der Kantischen Philosophie Kants Philosophie

WiSe 1881/82 WiSe 1883/84

Marburg

Philosophische Übungen über Kant Kants System

WiSe 1886/87

Philosophische Übungen (Prüfung wichtiger Beurteilungen der Kantischen Grundlagen) Marburg

Kants System (Erfahrungslehre, Ethik, Ästhetik)

Kant als Klassiker der Philosophie

WiSe 1889/90

A

237

Anhang Natorp: Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Marburg

Geschichte und System der Kantischen Philosophie

SoSe 1883

Marburg

Philosophie Kants

SoSe 1885

Philosophische Übungen über Kants Prolegomena Marburg

Erklärung der Philosophie Kants

WiSe 1887/88

Dilthey: Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Kiel

Philosophische Übungen (Kants KrV)

WiSe 1870/71

Kiel

Angekündigt: Philosophische Übungen über Kants KpV (hat nicht stattgefunden; Beurlaubung)

SoSe 1871

Breslau

Übungen über Kants KrV

SoSe 1872

Kant und die Philosophie unseres Zeitalters Breslau Breslau

Übungen über Kant Übungen über Kants KrV

WiSe 1872/73 SoSe 1873

Breslau Berlin

Übungen anknüpfend an Kants Logik Philosophische Übungen über Kants KrV

SoSe 1876 SoSe 1883

Berlin

Philosophische Übungen über Rousseau und Kant, in Bezug auf die Grundlegung der Pädagogik

SoSe 1884

Berlin

Übungen aus dem Gebiete der neueren Philosophie, angeknüpft an Kants KrV

SoSe 1885

Berlin

Philosophische Übungen im Anschluss an Kant

WiSe 1885/86

Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Leipzig

Darstellung und Kritik der Kantischen Philosophie

SoSe 1873

Windelband:

Leipzig

238

ALBER THESEN

Kants KrV Philosophische Gesellschaft (Besprechung über KdU)

WiSe 1873/74

Anne Wilken

Anhang Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Leipzig

Philosophische Gesellschaft (Besprechung von Kants Prolegomena) Kritik der Kantischen Philosophie

WiSe 1875/76

Zürich

SoSe 1876

Freiburg

Philosophische Übungen über Kants Prolegomena

WiSe 1877/78

Freiburg

Übungen über ausgewählte Abschnitte aus Kants KrV Im Seminar: Kants transzendentale Ästhetik Im Seminar: ausgewählte Capitel aus Kants KrV

WiSe 1879/80

Straßburg

Im Seminar: Kants Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft

SoSe 1887

Straßburg

Im Seminar: Kants KrV

SoSe 1888

Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Berlin

Entwicklungsgeschichte der Kantischen Philosophie

SoSe 1877

Freiburg Straßburg

SoSe 1882 SoSe 1885

Benno Erdmann:

Berlin

Philosophische Übungen im Anschluss an Kants KrV Entwicklungsgeschichte der Kantischen Philosophie

SoSe 1878

Philosophische Übungen im Anschluss an Kants Prolegomena Kiel

Philosophische Übungen im Anschluss an Kants KrV

WiSe 1878/79

Kiel

Entwicklungsgeschichte und Kritik der Kantischen Philosophie

SoSe 1879

Kiel Kiel Kiel

Philosophische Übungen im Anschluss an die Interpretation von Kants Prolegomena Philosophische Übungen im Anschluss an die Interpretation von Kants KrV Lectüre von Kants Prolegomena Philosophische Übungen im Anschluss an Kants Prolegomena (transzendentale Analytik)

Kant als Klassiker der Philosophie

WiSe 1879/80 WiSe 1880/81 SoSe 1881

A

239

Anhang Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Kiel

Philosophische Übungen im Anschluss an Kants KrV Philosophische Übungen im Anschluss an Kants KrV (transzendentale Analytik) Philosophische Übungen: Interpretation ausgewählter Abschnitte von Kants KrV

SoSe 1882

Kiel Kiel

WiSe 1882/83 WiSe 1883/84

Breslau

Die Philosophie Kants und die WiSe 1885/86 Fortwirkung derselbigen bis zur Gegenwart

Breslau

Philosophische Übungen im Anschluss an die Interpretation von Kants KrV Übungen der Philosophie Kants

SoSe 1886

Universität

Titel der Lehrveranstaltung

Semester

Straßburg Straßburg

Kants KrV im philosophischen Seminar WiSe 1878/80 Kants KrV mit Zugrundelegung der SoSe 1879 Prolegomena (niederer Curs für Anfänger)

Breslau

SoSe 1889

Vaihinger:

Straßburg Straßburg

WiSe 1879/80 SoSe 1880

Straßburg

Kants vorkritische Schriften im philosophischen Seminar Hauptabschnitte in Kants KrV

Straßburg Halle

Im Seminar: Kants KrV Über Kants Philosophie

WiSe 1882/83 WiSe 1884/85

Halle

Über die Kantische Philosophie für Studierende aller Facultäten

WiSe 1887/88

Halle

Über Kants Philosophie für Studierende aller Facultäten Erklärung von Kants KrV Über Kantische Philosophie

WiSe 1888/89

Halle

240

Kants KrV, ihre hauptsächlichsten Gegner und Verteidiger (Fries, Herbart, Schopenhauer, Mill u. A.; höherer Curs; beides im philosophischen Seminar) Kants KrV

ALBER THESEN

SoSe 1882

WiSe 1889/90

Anne Wilken