Juristische Enzyklopädie [6., (unveränd.) Aufl. Reprint 2021]
 9783112395660, 9783112395653

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Juristische

Enzyklopädie. Von

Dr. Adolf Merkel, zuletzt Professor in Straßburg i. E.

Sechste (unveränderte) Auflage. .V)erau5gegeben von

Dr. Kudolf Merkel, Professor in Hreiburg i. B

Berlin und Leipzig 1920. Bereinigung wissenschaftlicher Berleger Walter de Grnyter & «o vormals ®. I. Vöschen'sche Berlagshandlung — I. Guttentag, Verlags­ buchhandlung - Georg Reimer — Karl I. Trübner — Veit & Tomp.

Vorwort

sechsten Auflage.

Trotz der für die Verbreitung eines Buches wie des vor­ liegenden außerordentlich ungünstigen Zeitverhäktniffen war die S. Auflage im Herbst 1919 vergriffen — ein erfreulicher Beweis für seine Lebenskraft. Aber zugleich ein höchst ungeeigneter Zeit­

punkt für eine Neubearbeitung.

Sind doch unsere gesamten staatsrechtlichen Verhältnisse in einem tiefgreifenden und noch nicht abgeschloffenen Umgestaltungs­

prozesse begriffen, befindet sich doch das Völkerrecht infolge all der mit dem „Böllerbund" zusammenhängenden Fragen in einem unfertigen llbergangsstadium, steht doch ferner eine Reform der Gerichtsverfassung, des Strafprozeß- und weiterhin des Straf­ rechtes vor der Türe, ja kürzlich hat der Reichsjustizminister sogar auch eine baldige Reform des Zivilprozeß- und des bürgerlichen Rechts in Aussicht gestellt. So befindet sich unser gesamter Rechtszustand in einer gewißen Garung und Unsicherheit — ein Spiegelbild unseres gegenwärtigen nationalen Lebens überhaupt. Im Hinblick auf diese Situation waren Verlag und Herausgeber darüber einig, sich zurzeit auf einen unveränderten Neudruck der vorigen Auflage beschränken zu sollen. Freiburg i. B. im Dezember 1919

«. Merkel.

Vorwort ?nr Mette» Auflage. *;cibet ivar es meinem Bater nicht vergönnt, seine dem Lehrer

und Freunde Rudolf von Jhering zugeeignete „Enzyklopädie"

In einer neuen Auflage auSzugestalten.

Erst nach seinem im

Jahre 1896 erfolgten Tode hat sich durch Erschöpfung der ersten

Ituflage der Anlaß zu einer solchen ergeben. In dem Wunsche, sein Werk nicht vom Büchermarkt ver­ schwinden zu sehen, habe ich der Aufforderung zur Herausgabe

einer neuen Auslage entsprochen.

Zunächst galt es, die Litteraturangaben au- der Fülle der Erscheinungen innerhalb deS fünfzehnjährigen Zeitraums seit der ersten Auflage (1885) zu ergänzen, wobei ich bestrebt war, be­

sonders auf die sonstigen Arbeiten meines Vaters hinzuweisen, welche durch die von mir herausgegebene Sammlung seiner kleineren

Schriften jetzt ja leichter zugänglich geworden sind. In bezug auf den Text schien vor allem der früher vielleicht

überhaupt etwa- knapp gehaltene privatrechtliche Abschnitt im Hin­ blick auf das inzwischen erfolgte Inkrafttreten eines deutschen Reichs» givilgesetzbuchS mannigfacher Änderungen und Ergänzungen zu be­

dürfen.

Aber auch in den anderen Spezialabschnitten schienen mir

manche Modifikationen und Zusätze gerechtferttgt. Durch diese etwa-

breitere Ausführung, zumal de- nun doch einmal im Mittelpunkt

deS juristischen Studium- stehenden Privatrechts, hoffe ich dem kuche die Verbreitung unter den Studierenden erleichtert zu haben.

1*

Servers.

4

Dagegen glaubte ich mich hinsichtlich de» Texte» de» „All­ gemeinen Teil»" ans wenige, nicht eingreifende Änderungen brfchränken zu sollen, um so dem Buche möglichst den individuellen

Charakter zu erhalten, den ihm die Eigenart seine» Verfasser» auf« geprögt hat.

Freiburg i. B. im Januar 1900.

R. Merkel.

Uorwfrt M trifte« Ävflage.

Au» der Tatsache, daß der zweiten Auflage diese» Buche»

nach 4 Jahren eine neue folgen kann, glaube ich die Überzeugung entnehmen zu dürfen, daß sein hohe» Doppelziel: sowohl „An­

fängern" wie „schon Kundigen" sich nützlich zu erweisen, doch nicht al» unerreichbar bezeichnet werden darf, sowie die Hoffnung, daß bei der mißlichen Aufgabe der Bearbeitung eine» fremden Werke»

im wesentliche» wohl der richtige Weg eingeschlagen wurde; so ist derselbe auch jetzt weiter verfolgt worden.

Wünschen, die mir au» den Kreisen deutscher Studierender wie au» dem Ausland« bekannt geworden find, wurde tunlichst Rechnung getragen; auch künftig würde ich für Mitteilung von

solchen dankbar sein. Freiburg i. B. im April 1904.

« Merkel.

Servers.

4

Dagegen glaubte ich mich hinsichtlich de» Texte» de» „All­ gemeinen Teil»" ans wenige, nicht eingreifende Änderungen brfchränken zu sollen, um so dem Buche möglichst den individuellen

Charakter zu erhalten, den ihm die Eigenart seine» Verfasser» auf« geprögt hat.

Freiburg i. B. im Januar 1900.

R. Merkel.

Uorwfrt M trifte« Ävflage.

Au» der Tatsache, daß der zweiten Auflage diese» Buche»

nach 4 Jahren eine neue folgen kann, glaube ich die Überzeugung entnehmen zu dürfen, daß sein hohe» Doppelziel: sowohl „An­

fängern" wie „schon Kundigen" sich nützlich zu erweisen, doch nicht al» unerreichbar bezeichnet werden darf, sowie die Hoffnung, daß bei der mißlichen Aufgabe der Bearbeitung eine» fremden Werke»

im wesentliche» wohl der richtige Weg eingeschlagen wurde; so ist derselbe auch jetzt weiter verfolgt worden.

Wünschen, die mir au» den Kreisen deutscher Studierender wie au» dem Ausland« bekannt geworden find, wurde tunlichst Rechnung getragen; auch künftig würde ich für Mitteilung von

solchen dankbar sein. Freiburg i. B. im April 1904.

« Merkel.

Inhalt. Seite

_______

Einleitung......................................................................

.

13

Ausgangspunkte. ...................................... ...........................................................

17

Allgemeiner Teil.

Vie allgemeine Nechtstrhre. 88 1-20

Erstes Kapitel.

Das Recht. Programm.

8 21

.

§§ 21—144. ......................................

23

Erster Abschnitt. §eiut Merkmale. §§ 22—80.

I. Das Recht als Lehre und Macht. 8§ 22—59. Einleitung. 88 22-23 ..................................... 25 1. Das Recht als Lehre. §§ 24—41 ...................................... 25 2. Das Recht als Macht. §§ 42—59 . . ........................... 37 II. Sein Verhältnis zum Staate. 88 60—67................................. 47 III. Sein Verhältnis zu Moral, Religion und Sitte. 88 68—80 49 Zweiter Abschnitt.

Seine Kinteitnnge«. §§ 81—101. Übersicht.

§ 81...................................................................................... .57

I. Einteilungen mit Rücksicht aus die Subjekte des Recht-. §8 82—83 . ................................................. - 57

Inhalt.

6

II. Einteilungen mit Rücksicht auf den Inhalt d-S Rechts. 88 84-100 ................................................................................................... 58 1. Öffentliches und Privatrecht. §§ 84-98

.............................

58

2. Ergänzendes und zwingendes Recht. § 99...................................63 3. Gebietendes und erlaubendes Recht. § 100............................. 64

III. Einteilungen mit Rücksicht auf die Entstehung-formen de« Recht».

§ 101............................................................................................. 65 Dritter Abschnitt.

Kutstehung.

§8 102—144.

I. Entstehuug-formen (Lehre von den Recht-quellen). §8 102 bi» 121......................................................................................................... 66

II. Beteiligt- Faktoren. 8§ 122—133 ......................................... .77 III. Wgemeingeschichte des Rechts. §§ 134-144............................. 81

Zweites Kapitel.

Mr Rechtsverhältnisse. Programm.

88 145-310.

§ 145............................................................................................. 87

Erster Abschnitt. Jyre MerKmckte. I. Im allgemeinen.

§§ 146-190.

§§ 146—158

.....................................................

II. DaH subjektive Recht insbesondere.

§§ 159—170

....

87

91

III. Dier Ausübung des subjektiven Recht- insbesondere. §§ 171 bis 182......................................................................................................... 95 IV. Die Recht-subjekte insbesondere.

§§ 183—190

........................

98

Zweiter Abschnitt.

Ayre Kintettmrgen.

§§ 191—205.

I. Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Berhältniffe und Rechte.

§§ 191-199................................................................................................ 102 II. Absolute und relative Rechte. §§ 200-202 ............................. 105 III. Übertragbare und nicht übertragbare Rechte. §§ 203—205 . 106

Inhalt.

7

Seite Dritter Abschnitt.

Ihre Krrtste-m,-. I. Im allgemeinen.

§§ 206-310.

§§ 206-228 ..................................................

107

II. Rechtsgeschäfte und Rechtsverletzungen. Was ihnen gemein­ sam ist. §§ 229-243 ..................................... 114

1. In betreff des Tatbestandes. §§ 230—238 ...................... 2. In betreff ihrer Rechtsfolgen. §§ 239—243 ...................... III. Speziellere Bettachtung der Rechtsgeschäfte. §§ 244—259

114 118

.

121

1. Merkmale und Arten. §§ 144—249 ................................. 2. Rechtsfolgen. §§ 250—259 .................................................

121 124

IV. Speziellere Betrachtung der Rechtsverletzungen. §§ 260—310

12.7

1. Merkmale und Arten. §§ 260—273 ................................. 2. Rechtsfolgen. §§ 274—310 .................................................

127 132

2) Überhaupt. §§ 274-282 ............................................ t>) Arten. §§ 283—310 ......................................................

132 137

a) Rechtsfolgen privattechtlicher im Gegensatz zu Rechtsfolgen öffentlich-rechtlicher Natur. 284—290 .

137

ß) Strafrechtliche im Gegensatz zu anderen Rechtsfolgen. §§ 291-310................................................................. 140

Drittes Kapitel.

Nir Anwendung des Rechts und die Nechtswiffenschaft. §§ 311—363 a. Erster Abschnitt.

pte Kuiveudrtirß des Itechts. Programm.

§§ 311—357.

§ 311...................................................................................... 151

I. Daö Anwendungsgebiet der Rechtssätze (Kollision der Gesetze). §§ 312—341...................................................................................... 151 1. Jm allgemeinen. §§312—314................................................ 151 2. Zeitliche Kollision. §§ 315-324 ...................................... 152 3. Räumliche Kollision. §§ 325—341 ...................................... 156

8

Inhalt. Seite

II. Die Anwendung des Rechts durch die Gerichte. §§ 342—356

162

1. Das richterliche Urteil. §§ 342-347 ................................. 2. Die Interpretation. §§ 348—356 ......................................

162 164

Zweiter Abschnitt.

Me ztechtswiffenschast. §§ 357—363 a.......................................................................................

168

Besonderer Teil.

Vie juristischen Spezlatwisserrschasteu. Vorbemerkung.

§ 364............................................................................

177

A. Das Recht der staatlichen Gemeinschaft. Einleitung. Der Staat selbst. §§ 365-385 ....................................................................................

177

Erstes Kapitel.

Das Staatsrecht. §§ 386—538. Erster Abschnitt.

Jm assgemeiuen. §§ 386—448. I. II. III. IV.

Die Organisation der Staaten. §g 386—414 ...................... Formen und Richtungen der Staat-tätigkeit. §§ 415—428 . Da- staatliche Herrschaftsbereich. §§ 429-435 ...................... Die Rechtsstellung der Einzelnen. §§ 436—444 ....

185 196 202 203

Zweiter Abschnitt.

Aas deutsche Staatsrecht. §§ 445—538. I. Zur Vorgeschichte desselben. §§ 445—461 ........................... II. Das Reich in seinem Verhältnis zu den Bundesstaaten. §§ 462 bis 475 ............................................................................................

207 212

Inhalt. III. DaS Reich in seinem Verhältnis zu den Einzelnen. §§ 476 biS 479 ............................................................................................

IV. Die Organe des Reichs.

§8 480—512

.................................

Seite

216 218

.

227

I. Die Teile deS Privatrechts. 88 539—551 ............................ II. Die Vermögensrechte und ihre Objekte. 88 552—561 . .

236 241

V. Die Organisation der Bundesstaaten.

§§ 513—538 .

.

Zweites Kapitel.

Sas Privatrrcht.

§§ 539—750.

Erster Abschnitt.

Ira aK-emeinen. 88 539—561.

Zweiter Abschnitt.

deutsche Nrivatrecht hinsichtlich seiner -nelken. 88 562—587.

I. Übersicht.

88 562—581

............................................................

244

II. Die Rezeption des römischen Rechts insbesondere. 88 582 bis 587 .............................................................................................

254

Dritter Abschnitt.

Aas Sachenrecht. 88 588—646. I. Da- Eigentum. 88 588—609 ................................................. II. Der Besitz. 88 610-620 ............................................................ III. Die beschränkten dinglichen Rechte. 8 621 ...........................

256 265 271

1. Die Nutzungsrechte. §§ 622—637 .............................. 2. DaS Pfandrecht. §§ 638—646 ...................................

271 276

Vierter Abschnitt.

Aas Aecht der Schntdoer-Lttniffe oder --Ngationenrecht. 88 647-708.

I. Im allgemeinen. 88 647—669 ................................................. II. Das Kaufgeschäft (als Beispiel eines obligatorischen Rechts­ geschäfts). 88 670—690 ............................................................ III. Die Verpflichtung zum Schadensersatz. 88 691—708. . .

279

290 298

Inhalt.

10

Sette

Fünfter Abschnitt.

$«s Jiamtkienrecht. §§ 709—732 ........................................................................................

313

Sechster Abschnitt.

Aas Krbrechi. §§ 7.33-760 ........................................................................................

324

Drittes Kapitel.

Na- Strafrecht.

§§ 751-797.

Erster Abschnitt.

Im allgemeinen. §§ 751—757 ........................................................................................

334

Zweiter Abschnitt.

J>ie strafbaren Kanblunge». §§ 758—782 ........................................................................................

337

Dritter Abschnitt.

z»ie Zbestrafung. §§ 783-797 ........................................................................................

352

Viertes Kapitel.

Na- Prozeßrecht.

88 798—848.

Erster Abschnitt.

3« allgemeinen. §§ 798-824 .........................

869

Zweiter Abschnitt.

Atnkkprazetz »ab Strafprozeß Im Z^er-ättni» zneinander. §§ 825—848 ........................................................................................

882

Inhalt.

11 Sette

B. Das Kirchenrecht. §§ 849—868. Erstes Kapitel.

3m allgemeinen. §§ 849—850 ........................................................................................

393

Zweites Kapitel.

Innere? üirchrnrrcht. 88 851—862............................................................................................. 395 Drittes Kapitel.

Außeres Lirchenrrcht. 6§ 863-868 ........................................................................................

391)

C. Das Völkerrecht. 88 869-889 ........................................................................................

404

Alphabetisches Sachregister.............................................. 417

Erklärung der Abkürzungen und Zeichen.

Sammlung ---- „Gesammelte Abhandlungen au- dem Gebiet der all­

gemeinen Recht-lehre und des Strafrechts" von A. Merkel; nach

de- Berfasser- Tode Hrsg, von R. Merkel. Trübner) 1899.

2. Bde.

(Straßburg,

(Am Schluß des 2. Bandes ein vollständiges

Schriftenverzeichnis.) Elemente — „Elemente der allgemeinen Recht-lehre" von Adolf Merket in der 5. Auflage von HoltzendorffS Enzyklopädie, 1890.

Lehrbuch — „Lehrbuch des deutschen Strafrechts" von A. Merket. (Stutt­ gart, Ente) 1889.

Verbrechen und Strafe = „Die Lehre von Verbrechen und Strafe"

von A. Merkel, auf Grundlage des „Lehrbuchs" in Verbindung mit den übrigen Schriften des Berf. Hrsg, und mit Einleitung

versehen von Liepmann (Stuttgart, Enke) 1912.

Fragmente = „Fragmente zur Sozialwissenschast" von A.Merkel, aus dem Nachlasse hrSg. von R. Merkel. (Straßburg, Trübner) 1898.

t § 422 bedeutet, daß dieser § vom Herausgeber neu ausgenommen ist. *§ 511 bedeutet, daß der Text de- entsprechenden § der 1. Auflage eine Änderung erfahren hat.

B. = Bürgerliches Gesetzbuch für da- Deutsche Reich.

R. -- Recht. JZ. = Deutsche Jurtstenzeitung.

ZivPr. --- Archiv für die zivilistische Praxis. Die sonstigen Abkürzungen schließen sich Deutschen Juristentages an.

den Vorschlägen des

Einleitung. 1. Diese Schrift bietet einen Auszug aus den Hauptteilen

der Rechtswissenschaft unter Hervorhebung der durch das Ganze des Rechts hindurchgehenden

und

befielt geistige

Einheit be­

gründenden Gedanken.

Sie will es dem AafLnger erleichtern, sich mit dem Rechte vertraut zu machen,

dem schon Kundigen Anregungen geben in

der Richtung einer Vereinheitlichung unseres Wissens vom Rechte und einer Vereinfachung seines Ausdrucks.

2. Die Gliederung ihres Inhalts entspricht der Gliederung der Rechtswissenschaft.

Diese aber scheidet sich in die „Allgemeine Rechtslehre" und die

juristischen

Spezialwissenschaften:

Staats-,

VerwaltungS-,

Privat-, Straf-, Prozeß-, Kirchen-, VölkerrechtSwifienschaft.

Die letzteren

haben die

bezeichneten Teile deS Rechts in

ihrer Besonderheit, die erstere das den Teilen Gemeinsame zum

Gegenstand.

Demgemäß zerfällt diese Enzyklopädie in einen Allgemeinen Teil, der einen Auszug aus der Allgemeinen Rechtslehre, und einen besonderen Teil, der einen AuSzug

aus den juristischen

Spezialwifsenschaften enthält.

Bon anderen juristischen Enzyklopädien seien erwähnt: Arndts, j. Enz. anb Methodologie 1843, 11. A. des. v. Grueber 08. Blnhme, Enz. des in Deutschland geltenden Recht», 3. A. 63ff. Goldschmidt,

14

Einleitung.

Enz. der Rechtswissenschaft im Grundriß 62. Walter, j. Enz.56. Gareis, Enz. und Methodologie der Rechtswissenschaft 4. 21.1913. Kohler, Ein­ führung in die Rechtswissenschaft 4. A. 12. Grueber, Einführung 3. A.12. Sternberg, desgl. ^Sammlung Göschen) 2.A. 12. Radbruch, desgl.2.A. 13. Krückmann, desgl. 12. — Größere Sammelwerke, welche eine Bericht­ erstattung über das Ganze der Rechtswissenschaft geben wollen: Enz. der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Herausgegeben unter Mitwirkung vieler Rechtsgelehrter von v. Ho Itzendorf f, feit der 6. A. von Kohler. (Gegenwärtig die 7. A. im Erscheinen.) In der 5. A. 1690 von A. Merkel: „Elemente der allgemeinen Rechtslehre", ausgenommen in die „Sammlung" S. 577 ff.; ferner Ergänzungen zu den von Geyer herrührenden Abschnitten „Übersicht über die Geschichte der R.- und Staats­ philosophie" und „Strafrecht". Als 2. Teil: Rechtslexiton, 4 Bde., 3. A. 80 f. (darin zahlreiche Artikel von Merkel). — Enz. der Rechtswissen­ schaft. Hrsg, von Birkmeyer 2. 21. 04. — Systematische RechtSwiffenschast, in der „Kultur der Gegenwart", hrSg. von Hinueberg, TeilII, Abt. VIII. 06.

Ausgangspunkte. § i.

Was ist das Recht? Ein Fall mag es lehren. Nachbarn geraten in Streit über die Grenzen ihres Gebietes.

Ein Richter, von ihnen angerufen, stellt die streitigen Grenzen

fest und lässt sie durch Marksteine erkennbar machen. Geben wir uns Rechenschaft über die Bedeutung dieses Vor­ gangs.

Die Elemente, aus welchen sich das Recht zusammensügt,

werden dabei in ihrer einfachsten Gestalt zum Vorschein kommen. § 2.

Die richterliche Entscheidung gibt den streitenden Nachbarn:

1. Auskunft über die von ihnen zu respektierenden Grenzen ihrer Machtgebiete;

2. Beweggründe für ein entsprechendes praktisches Ver­

halten. § 3.

Diese Entscheidung enthält: 1. den AuSspruch: Ihr sollt (und bzw. müßt) die von mir festgestellten Grenzen achten; Ihr seid hierzu verpflichtet;

2. den Ausspruch: Ihr dürft (und bzw. könnt) innerhalb dieser Grenzen Euren Willen und Eure Interessen zur Geltung

bringen; Ihr seid dazu befugt. Sie stellt sich in der ersten Richtung als ein Befehl, in der zweiten als eine Gewährleistung dar. Merkel, Juristische Enzyklopädie.

5. Anfl.

2

Allgemeiner Teil.

18

§ 4Den bezeichneten Elementen entsprechend ist die Wirkung

welche von der richterlichen Grenzbestimmung ausgeht, zweifacher,

Art: beschränkend und hemmend in der Richtung des BefehlS, befreiend und schützend in der Richtung der Gewährleistung.

Die gesicherte Grenze nämlich bildet eine Schranke für denjenigen, der geneigt sein könnte, das ihm zukommende Macht­

gebiet zu überschreiten;

eine Schutz wehr für denjenigen, der

sich innerhalb dieses Gebietes frei bewegen will. 8 ö. Das unter einer solchen Einwirkung sich ordnende nachbar­ liche Verhältnis heißt mit Rücksicht aus diese Einwirkung ein

Rechtsverhältnis,

in welchem wir, dem Gesagten zufolge, eine Leite der Gebunden­ heit oder der Pflicht und eine korrespondierende Seite der Macht

oder der Befugnis unterscheiden können.

Die Macht, von weicher hier die Rede ist, heißt unter bestimmten lÜorauSsetzungcn, welche in der Folge zu bestimmen jein werden, ein „Recht", „Recht im subjektiven Sinne" (§ 153 ff.). § 6. Der Zweck, der vom Standpunkt des Richters aus durch eine solche Wirksamkeit erreicht werden soll, ist dieser: eine Vor-

aussetzung friedlichen und geordneten Nebeneinander- und Mit­ einanderlebens der Beteiligten zu verwirklichen und ihrem Willen und ihren Interessen ein Gebiet freier Betätigung zu sichern.

8 7. Der Richter erscheint hierbei als der Vertreter eines ein­

heitlichen Interesses der Parteien. Tenn

beide

sind dabei interessiert,

innerhalb gesicherter

Grenzen ihren Willen und ihre Interessen ungehemmt betätigen

zu können.

Ausgangspunkte.

19

§ 8. Bon dem Geiste aber, in welchem diese richterliche Grenz­ regulierung erfolgt, hängt es ob, ob sie allseitig und dauernd zu befriedigen vermag. Dieses kann sie nur, wenn sie in unparteilicher Weise und nach einem Maßstabe ausgeführt wird, der nicht willkürlich an die Sache herangebracht, sondern ihr gemäß ist, und zu dem die Parteien sich gleichmäßig bekennen können. Mit anderen Worten, sofern sie sich als eine gerechte darstellt.

8 9. Diese richterliche Wirksamkeit fällt hiernach einerseits unter den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit (§ 6), andererseits unter den der Gerechtigkeit (§ 8). Sie erfolgt um des Zweckes willen, dem der Richter dient, aber sie erfüllt diesen Zweck nur als eine gerechte.

8 io. Betrachten wir jenen Vorgang nun im Zusammenhang eines entwickelten Nechtslebens, wie es innerhalb der modernen Staaten uns vor Augen steht, und von welchem bisher absichtlich abstra­ hiert worden ist. Hier gewinnt derselbe eine Bedeutung über den Kreis der Nächstbeteiligten hinaus, ohne daß im übrigen diese Bedeutung sich ändert.

8 11. Der Richter erscheint hier nicht bloß als der Vertreter eines einheitlichen Jnteresies der Parteien des einzelnen Falls, sondern aller, welche in Konflikte ähnlicher Art oder in Mitleidenschaft

bei solchen geraten können.

8 12. Der Richter hat hier ferner den Maßstab für seine Wirksamkeit sich nicht erst zu bilden. Dieser ist ihm viel-

2’

20

Allgemeiner Teil.

mehr gegeben in einem Systeme von Bestimmungen und Regeln,

„RechtSsätzen", „Rechtsnormen", an welche er gebunden ist.

§ 13. Diese Bestimmungen werden nicht lediglich durch die Ver­

mittlung richterlicher Entscheidungen wirksam, vielmehr zugleich

auf direktere Weise,

indem sie unmittelbar das Verhalten der­

jenigen bestimmen, deren Machtgebiete sie begrenzen.

§ 14. Die geistige Macht, welche sich in dieser Wirksamkeit äußert, heißt das Recht,

Recht im objektiven Sinn. Ihr eigentümliches Wesen ist in jener richterlichen Grenzregu­

lierung allseitig zum Ausdruck gelangt.

Was von dieser gesagt

worden ist, läßt sich daher in allgemeinerer Fasinng aus das Recht überhaupt anwenden. DaS eigentümliche Wesen des Rechts findet in der richterlichen Tätigkeit überhaupt seinen verständlichsten Ausdruck. In ihr ist zugleich die geschichtlich erste Form gegeben, in welcher eS zur Entfaltung seiner spezifischen Merkmale gelangt ist.

§ 15. So können wir am Recht überall wie bei jener richterlichen

Entscheidung (§ 2) ein theoretisches und ein praktisches Element unterscheiden.

Denn jede seiner Bestimmungen gibt irgendwelche

Auskunft über Grenzen menschlicher Machtgebiete, welche re­ spektiert sein wollen,

und jede ist darauf

gerichtet, Beweg­

gründe für ein dieser Auskunft entsprechendes Verhalten wirksam

werden zu lassen. So wendet sich das Recht an unser Wissen und an unseren

Willen, eS wirkt als Lehre (§ 24-41) und als Macht (§ 42-59). § 16.

So kommt dem Rechte überall die zweifache Bedeutung jener richterlichen Grenzbestimmung (§ 3) zu: es hat in allen seinen

Ausgangspunkte.

21

Teilen in bestimmter Richtung die Bedeutung eines Gebotes,

in einer anderen die einer Gewährleistung; es wirkt dort be­

schränkend, hier schützend; begründet in der ersten Richtung ein Sollen und Müssen, in der zweiten ein Dürfen und Sönnen, in der ersten Pflichten, in der zweiten Befugnisse.

§ 17. Was jene richterliche Entscheidung

ferner den streitenden

Nachbarn gegenüber (§§ 6, 7), das leistet das Ganze des Rechts

für alle Glieder der Gemeinschaft und das gesamte Leben, welches sie einschließt, und leistet es unter der gleichen Voraussetzung (§ 8). Indem es den Menschen eine befriedete Sphäre der Macht und Freiheit, dieselbe begrenzend, verbürgt, gleicht es dem Ter­ minus, jener römischen Gottheit, welche die Grenzen behütet.

§ 18. Unter seinem Einfluß gestalten sich die Lebensverhältnifse innerhalb einer Gemeinschaft zu Rechtsverhältnissen (§ 5).

Die hierin sich begründende Ordnung der Gesamtverhältnisfe dieser Gemeinschaft aber heißt deren Rechtsordnung. 8 19. Die Begriffe des Rechts und der Rechtsverhältnisse sind die zentralen Begriffe unserer Wissenschaft. Ihr Inhalt fällt mit der Auskunft zusammen, welche sie

über das Recht als die ordnende Macht und über die Rechts­ verhältnisse als die seinem ordnenden Einflüsse unterliegenden

Lebensverhältnifse zu geben hat.

§ 20.

Wir werden im weiteren handeln: vom Rechte,

von den Rechtsverhältnissen, von der Anwendung des ersteren aus die letzteren und von der Rechtswissenschaft.

22

Allgemeiner Teil. Über den Charakter der allgemeinen Recht-lehre, oder, wa- da­

gleiche, de- allgemeinen Teile- der Recht-wissenschaft, oder endlich, wie wir jene auch benennen können, der Rechtsphilosophie (s. jedoch § 363 f), von welcher in diesem allgemeinen Teile ein Au-zug gegeben wird, vgl. A. Merkel, Über da- Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven"

RechtSwifieuschast und -um allgemeinen Teil derselben; in Grünhut-Z. 1,1. (Sammlung 291 und 402.) — Elemente.

Erste- Kapitel.

Das Recht. Wir betrachten das 1. bezüglich seiner 2. bezüglich seiner 3. bezüglich seiner

§ 21. Recht Merkmale, Einteilungen, Entstehung.

Jeder der entsprechenden Abschnitte wird seine Ergänzung finden in dem korrespondierenden Abschnitt über die (Merkmale, Einteilungen, Entstehung der) Rechtsverhältnisse. Schriften von allgemeinerer Bedeutung für die in diesem Kapitel behandelten Materien, welche zugleich die hauptsächlichen Richtungen der heutigen Wissenschaft in betreff der allgemeinen Recht-lehre vertreten: Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht („Der Zweck ist der Schöpfer de- ganzen Rechts"), 2 Bde. 77/84, 4. A. 05. (Dazu Merkel in JherJ. 32, Sammlung 749; auch D. Rundschau, Nov. 93. — Eucken in „Allgem. Zeitung" 1883 Rr. 362 f. — Lasson in „Philos. Monat-Hefte" 15 u. 21.) (Seist deS römischen R. auf den verschiedenen Kursen seiner Entwicklung, 4 Bde., 52 ft jetzt in 5. bzw. 6. A. (Frcmzös. Übersetzung in 4. A. 88. — Oeuvres choiaies, Paris 93.) A. Mertel, „Jhering', in JherJ. 32 (Sammlung 733ff.); auch MitteiS in Allg. d. Biographie Bd. 50; Lands­ berg, Gesch.der d.RechtSwissensch. 111,2, 788ff. Trendeleuburg, Narurrecht aus dem Grunde der Ethik, 2. A. 68. Lasson, System der Rechts­ philosophie 82. Geyer, Geschichte und System der R.philosophie 63. Über­ sicht über die Gesch. der R.- u. Staatsphilosophie in Holtzend. Enz. 5. A.; eraänU (neu mSbes. §8 25ff.) von Merkel. AhrenS, Naturrecht oder Phtlosophie deS R. u. de- Staates. 6. A. 70f. v. Kirchmann, Grund­ begriffe deS R. it der Moral, 2. A. 73. (Dazu Merkel, Sammlung 320.) Arnold, Kultur u. RechtSleben 65. Poft, Bausteine f. eine allgem. R.wissenschaft aus vergleichend-ethnologischer Bast- 81. Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I 2. A. 90; II 77. (Dazu Merkel, DLittZ. 1890, Sammlung 679 und Lehrb. g 6.) Handbuch de- Straft. 85. (Dazu Merkel, ZStW. 6, Sammlung 509.) Vierling, Zur Kritik der jurist. Grundbegriffe 77/83. (DazuMerkel, Sammlung 481.) Juristische

24

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

Prinzipienlehre, 4Bde. 94/1911. Thon, Rechtsnorm und subjektive- R.78. Merkel, Rechtsnorm u. subjektives R., mit Beziehung auf d. gleichnamige Werk von Thon 79 (in GrünhutsZ. 6, 367; Sammlung 873). Schuppe, Grundzüge der Ethik u. R.phit. 81; Methoden der R.phil. 84; R.wifsenschast u. R.phil. 95; Begriff des R., in GrünhZ. 10 u. 11; Begriff des subjek­ tiven R. 87 (dazu Merkel, in „PhiLos. Monat-Heften" 24; Sammlung 537); Da- Gewohnheitsrecht 90. (Dazu Merkel, Sammlung 648.) Jellinek, System der subjektiven öffentl.Rechte, 2.A. 05; Allgem.Staats­ lehre, 2. A. 05. Austin, Philosophy of the Positive Law 5. ed. 86. Bekker, Uber den R.begriff, ZBglR. 1; Syst. des heut. Pandektenr. 86, des. § 18; JVRBJ. 1; R. muß R. bleiben 96; Grundbegriffe des R. rc. 10; DaS R. als Menschenwerk u. s. Grundlagen 12. Dahn, Die Vernunft im R. 79; Werden u. Wesen des R., ZBglR. 2/3; Begriff des R. 95. Schein, Unsere R.philos. u. Jurisprudenz 89 (dazu Elemente § 6 — JZ. 08, 471). Harms, Begriff, Formen u. Grundlegung der R.phil. 89. Frenzel, R. u. Rechtssäpe: Untersuchungen über d. R.begriff der posit. R.wissensch. 92. Holder, Über objektives u. subj. R. 93. Brodmaun, Pon Stoff u. Struktur des R. 97, und in JherJ. 55. R. Löning, Uber Wurzel und Wesen des R. 07. Stammler. Wirtschaft und R. nach d. Materialist. Geschichtsauffassung, 2. A. 05; Die Lehre von dem richtigen R. 02 (dazu Mayer, ZStW. 25; Makarewicz, eod. 26, Kantoro­ wicz, ArchRPHilos. 2; auch Weber, Arch.Sozialwiss.6); Wesen u^ Zukunfts­ aufgaben des R. u. der R.wissenschaft, in „Kultur der Gegenwart" 06; Theorie der R.wissenschaft 11 (dazu Leonhard in DLittZ. 1912 Nr. 20 f.; Berolzheimer in ArchRPHilos. 5). Kohler, Das R. als Kuliurerscheinung 85; Einleitung in die „Enz. der R.wissenschaft", 7. A.; R.phil. des 20. Jh., JZ. 04, 27; Arch. f R.- und Wirtsch.phil. 1; Lehrb. der R.phil. 09 (gegen d. Kritik Merkels s. die treffenden Bemerkungen Jellinek- in s. Besprech, d. 4. A. dieser Enzykl. im ArchÖfsR. 09). Klein, D. psychischen Quellen d. R.gehorsams u. d. R.geltung 12. Berolzheimer, („Neuhegelianer") System der R.- u. Wirtsch.phil. 02ff.; Die d. R.phil. im 20. Jh. im Arch.RPHilvs. 1; Grundprobteme, ArchRPHilos. 3. Lask, in Festschrift s. K. Fischer, II. Rechtsphil, im Beginn des 20. Jh. 05. — Archiv für R.- u. Wirtsch.philosophie, seit 07. Altere Werke, welche noch gewissen Einfluß im Kreise der heutigen Wissenschaft äußern: Hegel, Grundlinien der Philosophie des R. 21, später Hrsg, von Gans 33, neu hrög. und eingeleitet von Laffon 11 (dazu Landsberg, Geschichte der d. R.wissenschaft III, 2, 345, spez. „DaS Strafrecht unter Hegel" 668; Berolzheimer, H. u. Kant in d. mod. R.phil., JZ. 07,1005; Windelband, Die Erneuerung des Heg.'ismus 10). Stahl, Philosophie des R. nach geschichtl. Ansicht (auf d. Grundlage christl. Welt­ anschauung) 30ff., 5. A. 78 (dazu Landsberg, 1. eit. 370). Vgl. ferner: Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, 4. A..97fs. . Windelt» and, dgl. 4. A. 07; Lehrb. der Gesch. d. Philvs. 6. A. 12. Überweg-Heinze, Grundriß der Gesch. der Phil., Bd. 4, 10. A. 06. Simmel, Einleitung in die Moralwiffenschaft, 3. A. 11.

Das Recht als Lehre.

25

Erster Abschnitt.

Seine Merkmale. I. Das Recht als Lehre und Macht. § 22. Das Recht ist charakterisiert durch seine Wirksamkeit.

ES

wirkt aber (§ 15): 1. als Lehre,

2. als Macht. Als Lehre, indem es Auskunft darüber gibt, wie dir Grenzen

menschlicher Machtgebiete sich bestimmen sollen. Als Macht, indem es die Beachtung dieser Grenzen fordert

und verbürgt.

§ 23. Welche Gesichtspunkte beherrschen diese Lehre?

Wie äußert sich diese Macht? Jene Frage soll hier sub 1, diese sub 2 ihre Beantwortung finden.

1.

Itecht als /ehre. § 24.

Wenn das Recht darüber Auskunft gibt, wie die Macht­

gebiete der Nachbarn, der Familienangehörigen, der in Handel

und Wandel Zusammentreffenden, der Bürger und der Behörden, der verfchiedenen Behörden, des Staates und der Kirche, der ver­

schiedenen Staaten re. ?c. sich im Verhältnis zueinander begrenzen sollen, so erscheint der Inhalt dieser Auskunft abhängig:

1. von dem Zwecke, welchem das Recht dient,

2. von den herrschenden Vorstellungen über daS Gerechte (f. § 9).

26

Erste« Kapitel. Erster Abschnitt. 8 25. Das Recht ist Mittel zum Zweck, es dient der Herstellung

einer befriedeten Ordnung und den Interessen, welche innerhalb

derselben die Möglichkeit einer freien Betätigung finden, und

richtet sich nach diesem Zweck. Sein Inhalt läßt sich demjenigen von Friedensverträgen

vergleichen, welche die Machtsphären verschiedener Staaten gegen­

einander obgrenzen und dies in solcher Weise tun, wie es dem Friedensbedürfnis der beteiligten Staaten und den Bedingungen

seiner nicht bloß momentanen Befriedigung entspricht.

Der Inhalt des Rechts unterliegt aber zugleich einem Ein­

fluß iu bet Richtung einer Herstellung oder Wahrung seiner Übereinstimmung mit herrschenden ethischen Anschau­ ungen, speziell den Anschauungen über das Gerechte, und nimmt

überall neben der Eigenschaft der Zweckmäßigkeit diejenige der

Gerechtigkeit für sich in Anspruch. Die Feststellung des Verhältnisses beider zueinander ist eines der Grundprobleme der allgemeinen Rechtslehre.

Elemente § 9 s. (Recht nicht Selbstzweck. -- Organ gesellschaftlich er Interessen). 8 26. Die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und der Gerechtigkeit

fallen logisch nicht zusammen.

Es besteht jedoch unter den Bedingungen, unter welchen der

Inhalt deS Rechts dem einen und dem anderen Gesichtspunkte entspricht, ein bestimmtes Verhältnis, kraft desien jener Inhalt sich im ganzen und großen nur insoweit als ein zweckmäßiger dar­

stellt, als et zugleich ein gerechter ist. Wir betrachten hier diese Qualitäten des Rechts: I. in ihrer logischen Selbständigkeit (§ 27ff.),

II. in ihren» kausalen Zusammenhänge (§ 35ff.).

§ 27. L Der Inhalt jeder Rechtsbestimmung läßt sich von zwei verschiedenen Standpunkten betrachten: 1. von dem Standpunkte des in ihr sich äußernden Subjekts und seines Zweckes, und 2. von dem Standpunkte der von ihr Betroffenen, der passiv Beteiligten, deren Verhältnisse ihre Ordnung von ihr empfangen und welchen daran liegt, daß dieS nicht nach einem willkürlich an diese Verhältnisse herangebrachten Maßstabe geschehe und nicht auf Grund unwahrer Voraussetzungen bezüglich ihrer tatsächlichen und moralischen Beschaffenheit. Dort fragen wir, ob die Rechtsbestimniung den Zwecken ihreS Subjekts dienlich fei; hier, wie sie sich zu ihrem Gegen­ stände verhalte und zu dem, was unS in bezug auf ihn alWahrheit gilt. DaS letztere aber ist die Frage nach ihrer Gerechtigkeit. In gleicher Weise können wir in bezug auf jede menschliche Meinung«und Willensäußerung, welche dritte Personen zum Gegenstände hat, unter­ scheiden. Wir können dieselbe einerseits mit dem Zwecke vergleichen, um dessen willen sie erfolgt, und andererseits untersuchen, ob sie ihrem Gegen­ stände gerecht sei Wenn jemand j. B. da« politische oder moralische Ver­ halten eines anderen einer öffentlichen Kritik unterzieht, so wird niemand die Verschiedenheit dieser beiden Fragen verkennen: Ist die Kritik zweckmäßig, d. h. sühn sie die von dem Kritiker be­ zweckte Wirkung (z. B. Diskreditierung eines politischen Gegner«) herbei? Ist die Kritik gerecht, d. h. entspricht sie der tatsächlichen und moralische» Beschaffenheit de« beurteilten Verhalten. Don dem Subjekte aber, welche« im Rechte zu un« spricht, wird im § 43 spezieller die Rede sein.

§ 28. Man denke an die ehedem verbreiteten Rechtsinstitute der Sklaverei und der Leibeigenschaft. Man hat diese vielfach einer Prüfung unterzogen: 1. Vom Standpunkte des Subjekts aus, welche- in den betreffenden Rechtssätzen sich äußerte, daS ist hier des im Staate herrschenden Willens, indem man untersuchte, ob die Aufrecht­ erhaltung dieser Institute dem dabei vorschwebenden Zwecke wirk-

Erste- Kapitel.

28

Erster Abschnitt.

lich entspreche, ob nicht vielleicht der gleiche Zweck sich auch in anderer Weise erreichen lasse.

2

Bom Standpunkte der passiv Beteiligten auS, derer,

welche als Sklaven oder Leibeigene, d. L gleich Sachen oder als ein Zube^r zu Sachen behandelt wurden, indem man untersuchte, ob diese Behandlung ihrer menschlichen Natur gemäß sei.

Man

hielt sich hierbei an die in solcher Behandlung zum Ausdruck

gelangenden Urteile und prüfte deren Wahrheit. Von dem letzteren Standpunkte geht z. V. Aristoteles bei seiner bekannten Erörterung über die Sklaverei au-.

§ 29.

Man denke ferner an dre Wirksamkeit unserer Gerichte. Steht deren Zweckmäßigkeit in Frage,

so prüfen wir ihre

Ergebnisse mit Rücksicht auf den Zweck des Rechts, dessen Organ

die Gerichte sind,

oder, waS aus das gleiche hinausläust,

mit

Rücksicht auf den Zweck des Subjekts, das im Rechte sich äußert.

Steht dagegen deren Gerechtigkeit in Frage, die Beschaffenheit

der Personen,

Handlungen

so vergleichen wir und Verhältnisse,

welche den Gegenstand der gerichtlichen Urteile bilden, mit diesen

Urteilen.

In welchem Sinne aber diese Beschaffenheit hier überall in Betracht komme, daS ist näher darzulegen.

$ 30. Untersuchen

wir

die Gerechtigkeit eines Rechtssatzes

oder

eines richterlichen Urteils, so richtet sich die Prüfung: a) aus ihre tatsächliche Wahrheit, b) auf ihre moralische Wahrheit.

§ 31. So würde uns ein Strafurteil, das etwa jemanden wegen

Diebstahls zum Tode verurteilte, nur dann als ein gerechtes gelten: ad a) wenn wir annähmen,

daß die Tat, welche seinen

Gegenstand bildet, wirklich von dem Verurteilten begangen worden

Das Recht als Lehre.

29

sei, und zwar in der Weise, wie es im Urteile vorausgesetzt wird; ad b) wenn der Inhalt deS Strafurteils mit unserer mo­ ralischen Schätzung solcher Handlungen, oder anders auSgedrückt, mit unseren ethischen Werturteilen im Einklang stünde. § 32. So gilt unS die ehedem häufige Verurteilung alter Frauen­ zimmer wegen Hexerei als ungerecht, weil es keine Hexerei gibt, den Urteilen also die tatsächliche Wahrheit mangelte; die ehe­ dem ebenfalls häufige Verurteilung von Ketzern zum Feuertode als ungerecht, weil sie unseren ethischen Werturteilen wider­ streitet, weil den betreffenden Urteilen also nach unseren An­ schauungen die moralische Wahrheit fehlte. Die ethische Beurteilung von Handlungen, Verhältnissen und Per­ sonen zeigt bei verschiedenen Böllern wie bei verschiedenen Jndwidne» grohe Verschiedenheiten und unterliegt bei dem einzelnen Bolte ebenso wie bei dem einzelnen Individuum einer Entwicklung. Da« Recht ist von den ethischen Werturteilen abhängig, welche sich bei einem gegebenen Bolte zu einer gegebenen Zett al« di« herrschenden erweisen. S. § 39 ff., 8 49 Sännt.

8 33. Die Merkmale der Gerechtigkeit erscheinen unS ferner nur in einem Rechte verwirklicht, welches gegenüber den kollidierenden nnd konkurrierenden Interessen, deren Machtansprüche seinen Ent­ scheidungen unterliegen, eip gleiches und für sie gleichmäßig gül­ tige- Maß zur Anwendung bringt. Mit anderen Worten: zur Gerechtigkeit des Recht- gehört es, daß es sich a>S den bestehenden gesellschaftlichen und indivi­ duellen Gegensätzen und Rivalitäten an sich fremd, al- ihnen gegenüber neutral erweist, den Beteiligten aber und dem, waihnen als Wahrheit gilt, als gleichmäßig nahestehend. § 34. Demgemäß würde un- eine Justiz al- ungerecht erscheinen, welch« ein verschiedene- Maß an die Handlungen und Ansprüche

30

Erste- Kapitel.

Erster Abschnitt.

Von Prozeßgegnern oder an die Verschuldungen verschiedener Personen vor den Gesetzen anlegte. Ebenso eine Gesetzgebung, welche ihren Maßstab den religiösen Überzeugungen eines bloßen Bruchteils der Bevölkerung entnähme, den Trägern abweichender Überzeugungen daher sich als parteiliche und ihrem Geiste nach fremde Macht erweisen würde. Hinsichtlich des neutralen und für alle gültigen Matze- ist Übrigen­ iw heurigen Staate ein Unterschied zwischen den Feststellungen de» Gesetz­ geber- und denjenigen de- Richters. Für jenen ist die- Maß in den Semeinsamen Überzeugungen und Interessen gegeben, dagegen für den Lichter in der Verkörperung dieser Überzeugungen und Jntereffen in Gestatt der Gesetze. S. den 3. Abschnitt. — Der Begriff de- Gerechten ist von denen, die ihn überhaupt in seiner Selbständigkeit anerkannten (§ 41 Anm.), meist zu eng gefaßt worden. Man hat lediglich einzelne Anwendungen desselben hervorgehoben. Hierher gehört eS, wenn man jein Wesen in der gleichen Behandlung deGleichen, der ungleichen Behandlung de- Ungleichen gegeben fand. Daß damit diese- Wesen nicht erschöpfend charakterisiert sei, ist leicht zu zeigen. Mr finden die strafgerichtliche Verurteilung eine- Unschuldigen ungerecht, ganz ohne Rücksicht auf da-, was in gleichartigen Fällen geschehen ist, einfach weil sie ihrem Gegenstände uicvt entspricht, ihm nicht „gerecht­ wird, weil sie unwahre Vorstellungen über ihn zu einem prakttsch bedeut­ samen, für den Betroffenen empfindlichen Ausdruck bringt. Gerechtig­ keit ist praktische Wahrhaftigkeit, wa- die Sprachen der Kultur­ völker erhärten. indem sie in mannigfachen Wendungen die Worte für die Begriffe de- Gerechten und Wahren bzw. de- Rechts und der Wahr­ heit promiscue zu gebrauchen gestatten. Den hervorgehobeuen Merkmalen der Gerechtigkeit entspricht die populäre Vorstellung von einer Göttin, welche mit verbundenen Äugen (Neutralität) in deyelben untrüglichen Wage (Gleichheit und Gültigkeit de- angelegten Maße-, Wahrheit der Entscheidung) die Handlungen und Ansprüche der Träger konkunierender Jntereffen gegen einander abwägt.

§ 35.

II. Der kausale Zusammenhang aber zwischen Zweck­ mäßigkeit und Gerechtigkeit im Bereiche des Rechts bestimmt sich so, daß der im Rechte sich äußernde Wille seine Zwecke im all­ gemeinen nur unter der Voraussetzung erreicht, daß seine Be­ stimmungen der Natur der geordneten Berhältnisse entsprechen und den darin stehenden Menschen als gerecht erscheinen. Dieser Wille bringt das Recht hervor als ein Mittel zum Zweck, weil von ihm die Befriedigung der Interessen, deren

DaS Recht al- Lehre.

Organ er ist, abhängt.

31

Aber dies Mittel ist ein zum Zwecke

taugliches nur, weil und sofern an ihm die Merkmale der Ge­ rechtigkeit hervortreten ff. tz 8 und 9). Die Klarstellung und Sicherung der Grenzen menschlicher Macht­ gebiete erfolgt nicht um der Gerechtigkeit willen, aber sie erfüllt jhren Zweck nur als eine gerechte. Der treibende Grund liegt in den Übeln

des Streit-, der Unordnung und Unsicherheit, aber dauernd abzuhelfen vermag diesen Übeln nur eine Ordnung, welche nach Maßgabe der herrschenden Anschauungen jedem das Seine zuerkenut, und jene Grenzen nach einem Maßstabe sestfteüt, der allen als ein gültiger erscheint. Ähnlich

verhält sich im Bereiche bet Wissenschaft die Richtigkeit der angewendeten Methode zu dem Zweck einer Untersuchung, verhält sich die Richtigkeit einer Behauptung oder Mitteilung in praktischen Angelegenheiten zu ihrem Zweck, verhält sich im ganzen Bereiche deS gesellschaftlichen Verkehr- die Wahrheit zu bem Motor der praktischen Leben-interessen und den von ihm Ölen Zwecken. Me hier die Wahrheit ihr eigene- Maß hat und sich ollieren laßt ohne Rücksicht aus die Frage der Zweckmäßigkeit, so auch die Gerechtigkeit der Funktionen de- Rechts. Ob jemand gerechter­ weise wegen eine- Verbrechen- verurteilt oder freigesprochen worden ist, da- läßt sich seststellen, ohne daß man die Wirkungen des Urteil- auf den Bestand deS öffentlichen Frieden-, auf die Macht deS Recht- und der ihm anvertrauten Interessen, hin seine Bedeutung für die Zwecke der Justiz in Erwägung zieht, ganz so wie die Wahrheit der Behauptungen eine- Redner- ohne Rücksicht auf deffen Zwecke beurteilt werden kann. Aber wie hier Wahrheit uud Zweckmäßigkeit durch ein kausale- Band verknüpft sind, so im Gebiete de- Rechts Gerechtigkeit uud Zweckmäßigkeit. § 36.

Diesen Merkmalen kommt aber zugleich eine selbständige

Bedeutung gegenüber unseren moralischen Anschauungen und Ge­ fühlen zu, indem die Ungerechtigkeit einer Maßregel unabhängig

von allen ZweckmäßigkeitSerwägungen unser Mißfallen erregt, die

Gerechtigkeit dagegen einen uninteressierten Beifall findet. Die geistige Kraft, welche durch diese Äußerungen charakterisiert

ist — die Gerechtigkeit als eine menschliche Eigenschaft — macht sich im Recht-leben

in einer selbständigen Weise zugunsten der Be­

wahrung und bzw. Ausbildung der besprochenen Merkmale des Recht-, sowie zugunsten seiner Herrschaft geltend (s. § 47—49). Der Einfluß dieser Kraft tritt in der Geschichte des Recht- selten, ungemischt hervor. Wo irgend eine Reform im Namen der Gerechtigkeit durchaeführt wird, da pflegen neben ihr andere Faktoren beteiligt zu sei«. Gleichwohl ist diese Geschichte, wenn wir von jenem Einfluß absehen, nicht

Erstes Kapitel.

32

Erster Abschnitt.

zu verstehen. So ist bei den Kämpfen gegen Sklaverei und Leibeigen» schast, wo immer dieselben siegreich durchgesührt worden sind, dieser Faktor zwar nicht allein im Felde und wohl meist nicht einmal die stärkste Kraft gewesen, gleichwohl ist sein Einfluß aus der Geschichte dieser Kämpfe gar nicht wegzudenken. (Die psychologischen sowie die eutwicklungsgeschichtlichen Fragen, welche sich hier anknüpfen lassen, müssen unerörtert bleiben.)

§ 37. Dir Gerechtigkeit des Rechts ist jedoch überall und notwendig

eine unvollkommene. Die Bedingungen seiner Wirksamkeit, sowie diejenigen seiner

Entstehung und Fortbildung bringen es mit sich, daß es stetmit einem gewissen Maße von Ungerechtigkeit behaftet ist, deren Formen sich verändern lassen, deren Wesen aber nicht zu bewältigen ist.

§ 38. Zu den Bedingungen einer bestimmungsgemäßen Wirksam­

keit des Rechts gehört:

1. hinsichtlich der Rechtssätze die Ausbildung eines tun­ lichst einheitlichen und stabilen Systems durchgreifender, scharf bestimmter und unschwer anwendbarer Regeln;

2. hinsichtlich der Feststellungen im einzelnen Fall Be­ stimmtheit und Unanfechtbarkeit, auch dort wo die Wahr­

heit nicht mit Sicherheit erkennbar ist.

Denn nur bestimmte, klare, gleichmäßige und jeden Wider-

spruch ausschließende Regeln und Entscheidungen sind geeignet,

KonfMen vorzubeugen und für ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben sichere Grundlagen herzustellen. Bei der Kompliziertheit, Vielgestaltigkeit und Veränderlich­

keit der Lebensverhältnisse ergibt sich hieraus als unvermeidlich, daß der Inhalt des Rechts vielfach das Ungleiche als gleich, daS

Unwahre als wahr behandeln und so die Gerechtigkeit ver­

leugnen muß. Stirn z. B. die deutsche Reichsverfassung den Deutschen männlicheu Geschlechts das Wahlrecht zum Reichstage zuerkennt, sobald sie das

Das Recht als Lehre.

33

26. Lebensjahr überschritten haben, so liegt darin eine Ignorierung grober und erheblicher Verschiedenheiten in bezug auf geistige Reise und Selb­ ständigkeit. Gleichwohl leuchtet es von selbst ein, daß wir eine durch­ greifende Regel solcher Art nicht wohl entbehren können. Das Maß, in welchem diese Seite des Rechts zur Ausbildung ge* langt ist und hierbei Opfer in bezug aus Wahrheit und Gerechtigkeit gebracht sind, kann indesien ein sehr verschiedenes sein. Man unterscheidet in dieser Hinsicht „strenges" und „billiges" Recht (ins Striatum und aequum). Bon dem ersteren gilt das „summum jus summa injuria“, insofern die Vollkommenheit, welche dasselbe in den im Texte hervor­ gehobenen Beziehungen zeigt, notwendig eine Unvollkommenheit in bezug auf gerechte Behandlung der einzelnen Verhältnisse und Konflikte zur Kehrseite hat. —

Die hier in Kauf zu nehmende Ungerechtigkeit bezeichnet übrigens eine Unvollkommenheit auch unter dem utÜitäreu sZweckmäßigkeits-) Ge­ sichtspunkte. Denn ohne Zweifel würde das P ^cht die ihm gesetzten Zwecke vollkommener erfüllen können, wenn die Natur der Dmge ihm gestattete, Kraft und Klarheit überall mit individuellster Wahrheit zu ver­ binden. Aber es muß, wie die Dmge liegen, will es seine Zwecke nicht gänzlich verfehlen, aus ihr vollkommenes Erreichen verzichten.

§ 39.

Di« Gerechtigkeit des Rechts könnte ferner ein« vollkommene

nur sein, wenn eine allgemeine Übereinstimmung der Anschauungen

über die tatsächliche Beschaffenheit und moralische Qualifikation der Berhältniffe, Personen und Handlungen existierte, welche einer

Beurteilung und Einwirkung seitens des Rechts unterliegen. Denn nur unter dieser Voraussetzung würde der von dem Rechte an­

gelegte Maßstab die gleiche Gültigkeit für alle besitzen (§ 33 ff.). § 40. Eine solche Übereinstimmung besteht jedoch überall nur inner­

halb veränderlicher Grenzen, und die Verschiedenheit der mensch­

lichen Individuen und der Bedingungen, unter welchen fick ihre

Anschauungen entwickeln, schließt die Möglichkeit aus, daß dieselbe jemals eine vollkommene sein werde (§ 122 ff.).

Bedeutsam für die Geschichte des Rechts sind hier inslesondere gewisse allgemeinere Gegensätze, z. B. bezüglich des VerhältniffeS

der Autorität des überlieferten Rechts zu dem neuen Inhalte,

äXtrlet, Juristische SujsMpädte. Ii. Stuft.

3

34

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

welcher im Leben eines Volkes hervortritt; bezüglich des Verhältnisses der Einzelpersönlichkeil und der Geltung ihres Willens zu

dem staatlichen Ganzen, seinem Einheitsbedürsnis und dem Recht seiner Repräsentanten; bezüglich der allgemeinen Eigenschaften und

Ansprüche des menschlichen Individuums in ihrem Verhältnis zu den unter den Menschen und ihren Leistungen bestehenden Ver­

schiedenheiten und deren Bedeutung für das Gemeinleben. In mannigfaltigen Äußerungsformen, aber ihrem Wesen nach beharrend, machen diese Gegensätze sich in immer wieder aufs neue

entbrennenden Kämpfen um den Inhalt des Rechts geltend, und

unter dem Einfluß dieser Kämpfe nimmt das Recht, indem es bald der einen, bald der anderen Anschauungsweise einen über­

wiegenden Einfluß gestattet, Elemente der Parteilichkeit und also

Ungerechtigkeit in sich auf. Der bezeichnete Sachverhalt bringt eS mit sich, daß der Inhalt des Recht- überall in zahlreichen Bestandteilen die Natur eines Kompromisses ztmschen kollidierenden Interessen und Überzeugungen an sich trägt, und

zwar eines KompromisieS, der gegenüber den im gesellschaftlichen Zustande sich beständig vollziehenden Änderungen immer aufS neue Modifikationen und Revisionen fordert. Diese aber vollziehen sich in Abhängigkeit, von Machtentscheidungen zwischen den Trägern jener Interessen und Über­

zeugungen, welche, wie hoch immer daS Machtelement im Leben der Gesellschaft geschätzt werden mag, doch nur eine unvollkommene Bürgschaft für die Gerechtigkeit dieser Modifikationen bieten. Merkel, Recht und Macht, in SchmollerSJ.V, 1 (Sammlung bes. 420). Elemente § 11 („Über die Kompronnßnatur d. Rechts").

§ 41. Aus dem bisher Ausgeführten erhellt, daß bezüglich aller

Teile und Bestimmungen des Rechts folgende Fragen sich auf­ werfen und unterscheiden lasten: Welche Zwecke oder welche Interessen liegen ihnen zugrunde,

und inwiefern entsprechen sie denselben?

Inwiefern sind sie gerecht, d. h. inwiefern entsprechen sie der Beschaffenheit der Verhältnisse, welche ihren Gegenstand bilden, und dem, was uns in tatsächlicher und ethischer Beziehung als

Wahrheit bezüglich derselben gilt?

Dys Recht als Lehre.

35

Eine Durchführung dieser dualistischen Betrachtung ist hier

jedoch nicht beabsichtigt.

Vielmehr soll regelmäßig nur auf die

Jnteresien hingewiesen werden, welche für die Gestaltung der

einzelnen Teile des Rechts maßgebend sind.

Nachdem das Ver­

hältnis zwischen dem utilitären und dem ethischen Gesichtspunkt im allgemeinen bestimmt worden ist, erscheint es nicht als er­

forderlich, im einzelnen überall daraus zurückzukommen. In bezug auf das Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Ge­ rechtigkeit zueinander und bzw. daS Verhältnis der letzteren zum Rechte lassen sich, von der hier entwickelten Ansicht abgesehen, die nachfolgend be­ zeichneten Auffassungen unterscheiden: 1. Die Identifizierung beider Begriffe. Genauer wird hierbei das Gerechte als das der Gesellschaft Nützliche betrachtet und der Inhalt des Rechts in allen seinen relevanten Eigenschaften restlos unter diesen Begriff gezogen. Hierbei kommt die Verschiedenheit und selbständige Bedeutung der Beziehungen, in welchen das Recht steht, nämlich einerseits zu seinem Subjekte (§ 43), andererseits zu seinem Objekte (§ 27 ff.), und waS damit zusammenhängt, die Verschiedenheit der an seinem Äben teilhabenden

Faktoren nicht zu gebührender Beachtung. Die Gesellschaft, welche mittels des Rechts einen beherrschenden Einfluß ansübt, fällt nicht einfach zu­ sammen mit denjenigen, welche diesem beherrschenden Einfluß unterliegen. Den letzteren aber ist eS natürlich, danach zu fragen, wie sie dazu kommen, in einer gegebenen Weise beeinflußt zu werden, und wie sich diese Weise zu dem in entwickelteren Menschen lebendigen Verlangen verhalte, nicht als ein bloßes Mittel für fremde Zwecke zu dienen und nicht nach einem Maßstabe behandelt zu werden, der ihrem eigenen Wesen ftemd ist und in ihrem Bewußtsein keine Sanktion findet. Diese Betrachtungsweise aber gewinnt eine selbständige Bedeutung gegenüber den Zwecken deS in der Gemeinschaft herrschenden Willens, weil das diesen Zwecken Ent­ sprechende keineswegs notwendig mit ihr in allseitiger Harmonie steht (§ 37 ff.), und weil Volk-teile, welche fie gegenüber den jeweils herrschen­ den Faktoren nicht zu vertreten wissen, stets Gefahr laufen, zu einem bloßen Mittel für fremde Zwecke herabzufinken. Demgemäß gehen in der Geschichte der Rechtsinftitute die Erörterungen über die Frage, was als zweckmäßig, und über die Frage, was als gerecht zu betrachten sei, neben­ einander her oder folgen fich auch, wie z. B. hinsichtlich der Sklaverei die Gerechtigkeit des Instituts früher in Zweifel gezogen worden ist als dessen Zweckmäßigkeit. Und diese Erörterungen stehen unter dem Einfluß verschiedener psychischer Faktoren. So lassen sich in der Gegenwart hinfichtlich der Frage, ob unschuldig Verurteilten von Staat- wegen der materielle Schaden zu ersetzen sei, welchen sie erlitten haben (§ 708), leicht die Äußerungen des Gerechtigkeitsgefühls, welche die Frage bejahen, unter­ scheiden von den. auf andere Faktoren hinweisenden Zweckmäßigkeits­ erwägungen der Staatsmänner, welche die Frage lange Zeit verneint haben.

8*

36

Erms KapileL.

Erster Abschnitt.

Der Einfluß der Gesellschaft aus die Entwicklung der Vorstellungen und Empfindungen, aus welche das Wort Gerechtigkeit hinweist, ist allerdings ebensowenig zu bestreiten wie der Zusammenhang dieses Einflusses mit den Zwecken der Gesellschaft. Aber die letztere ist nicht ein so einheitliche- Wesen, wie manche annehmen, und ihre Kräfte machen sich vielfach von einander entgegengesetzten Standpunkten aus und im Streite mit einander geltend. 2. Eine Auffassung, für welche kein Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit besteht, ein Zusammentreffen ihrer Merk­ male daher als zufällig erscheint. Diese Auffassung macht sich in r.nserem Gebietern zweierlei Formen geltend: e.) Marr stellt das gesamte Recht entweder einseitig unter den Ge­ sichtspunkt der Zweckmäßigkeit und lehnt denjenigen der Gerechtigkeit vollständig ab, oder umgekehrt ganz unter den Gesichtspunkt der Ge­ rechtigkeit mit Ablehnung des utilitären Gesichtspunktes. b) Man nimmt eine äußerliche Koordination der beiden Gesichts­ punkte in der Beherrschung des Rechtsinhaltes an, entweder derart, daß gewisse Teile des Rechts ganz unter den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit fallen sollen, andere ganz unter den der Gerechtigkeit, z. B das Ver­ mögensrecht unter den ersteren, das Strafrecht unter den zweiten — oder in der Art, daß die Elemente der einzelnen Einrichtungen, Rechts­ sätze unb Entscheidungen überall unter die beiden Gesichtspunkte aufzureilen sein würden. Eine zweijährige Gefängnisstrafe, weiche jenland wegen eines Diebstahls zu verbüßen hätte, würde z B. zu V's aus daS Konto der Zweckmäßigkeit, zu ’/s aus das der Gerechtigkeit zu setzen fein. — ES würde dem ähnlich sein, wenn man die Forschungen, welche zur Lösung einer Preisaufgabe führen sollen, zur einen Hälfte unter den Gesichtspunkt der Wahrheilsergründung, zur anderen unter den der Zweckmäßigkeit stellen wollte. Oder wenn man den Tadel, den man gegen ein faules Kind ausspricht, zu 2/.3 mit dem (erziehlichen) Zweck, zu Vs mit der Wahrheit und Gerechtigkeit des Tadels begründen wollte, während doch der Tadel ganz und gar zweckmäßig sein will, dies aber vollständig nur sein kann, wenn er zugleich ganz und gar wahr und gerecht ist. Merkel, Uber vergeltende Gerechtigkeit (Anhang zu seinen „Krimi­ nalistischen Abhandlungen", I 67. — Sammlung S. 1). Elemente § 13 (Geschichte der Anschauungen vom Gerechten), 14 (Begriff des Gerechten). Äehrbuch § 69 f. (die Strafe als gerechte Vergeltung). Vergeltungsidee

und Zmeckgedauke im Strafrecht (Festgabe für Jhering) 92. Besprechung des Lehrb des Strafrechts von H. Meyer (in GrünhZ 5 u. Samm­ lung 361). Die Idee der Gerechtigkeit bei Schiller 70 (Sammlung 148). — Jhering. Zweck im Recht I, 234. G. Rümelin. Über die Idee der Gerechtigkeit, in „Reden u. Aussätze" N. F. 61 (auch in ^Kanzler­ reden" 07). Jelliuek, Sozialethische Bedeutung von R., Unrecht und Strafe 2. A. 08 („Das R. ist .. das ethische Minimum"). Laas, Ver­ geltung u. Zurechnung, in BJSchr f. wissensch. Philos V, 137, 296, 448. Vf, 187, 295 Heymans ooä. VII, 439. VIII, 95. H. Meyer, Die Gerechtigkeit im Strafrecht 81. Heimberger, desgl. 03. GareiS, Vom Begriff Gerechtigkeit 07. Lotmar, Bom R., das mit uns geboren

DaS Recht als Macht.

37

ist rc. 93. Beling, Vergeltungsidee u. ihre Bedeutung f. d. Straft. 08. Köhler, Vergeltungsgedanke u. s. prakt. Bedeutung 09. Schmoller, Grundfragen des R. u. der Volkswirtschaft, im Jahrb. f. Nat.ök. 74s.; Die Gerechtigkeit in d. Volkswirtschaft, in s. Jahrb. 81. — § 797.

2e

Aas Aecht ate Macht. § 42.

Die Satzungen des Rechts sind Willensäußerungen, tvelche unserem Handeln zur Richtschnur dienen wollen, auch dort, wo sieunser Denken nicht beherrschen: „stat pro ratione voluntas“.

Über die Willensnatur des Rechts und die Ursachen der irrigen An­

sicht, daß irgendwelchen Teilen desselben das „imperative Element" fehle, s. auch ß 100, Elemente § 4, Lehrbuch S. 18f. Rechtsnorm und sub­ jektives R. 1. cit Thon in den zu § 21 zit. Schriften. Bierling, Kritik, II, 307; Prinzipienlehre III, .178. Hold von Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, 03, S. 104.

§ 43. In ihnen äußert sich ein Wille, der in einer Gemeinschaft sich

als Macht bewährt, und der den Gliedern der Gemeinschaft Beweg­

gründe. zu einem seinen Weisungen entsprechenden Verhalten auch

in dem Falle gibt, wo der Inhalt dieser Weisungen ihren indi­ viduellen Interessen nicht entspricht.

Wer spricht zu uns in den Satzungen des Rechts? Wer ist mit anderen Worten das Subjekt des Rechts? 1. Ein Wille. Nur ein solcher kann gebieten nnd erlauben, binden und gewährleisten. 2. Ein Wille, welcher nicht identisch ist mit dem Willen desjenigen, dem geboten oder erlaubt, eine Schranke gezogen oder Schutz verheißen wird. Der eigene Wille kann mir anderen gegenüber keine Befugnisse und bzw. Rechte verleihen, und meine Pflichten jenen gegenüber nicht zu Rechtspflichten erheben. 3. Ein Wille, der über die im weiteren zu charakterisierenden ethischen und materieklen Machtmittel verfügt, ein Wille, dessen Gebote denjenigen, an welche sie sich wenden, in der zu bezeichnenden Weise Motive zu einem entsprechenden Verhalten geben, und zwar unabhängig davon, ob ihr Inhalt mit ihren Sonderint"-essen im Einklang steht. Im übrigen kann dieser Wille sich sehr verschieden bestimmen. Ebenso verschieden wie die Bedingungen, unter welchen eine Wirksamkeit der bezeichneten Art möglich ist. Bon dem Subjekte des Rechts laßt sich keine andere allgemeine Charakterisierung gebot, als daß eS der Wille ist, welcher in einem, gleichviel toic näher bestimmten, Gebiete des gesell­ schaftlichen Lebens eine Wirksamkeit äußert, welche die in diesem Abschnitt

38

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

(unb bzw dem entsprechenden Abschnitt bH 2. Kap.) besprochenen Merk male an sich trägt ES sann dies in einer gegebenen Gemeinschaft der Dille eines ein­ zelnen, z. B. in einer unbeschränkten Monarchie der Ville des Monarchen, sein; oder der Wille einer Mehrzahl bestimmter und in bestimmten Formen sich äußernder Personen, z. B. der Mitglieder eines Kollegium- oder emer Körperschaft; oder der Gesamtheit der Bollbürger eine- Staates, insofern diese in gewissen Formen tätig wird; oder auch der Wille einer un­ bestimmten Vielzahl, der sich formlos, jedoch konstant in einer den ein­ zelnen zu einem gewissen Verhalten nötigenden Weife geltend macht (f. über da- Gewohnheitsrecht § 112f). Uber die Machtqualität des R., deren Elemente und deren Lntwicklung vgl. Elemente § 7. Merkel, Recht und Macht 1. c. Jhering, Zweck im R. I, Kap. 7f.; II, Kap. 9. Der Kamps ums R. 18. A. 1913. (dazu Merkel, Sammlung 747). Thon, Der Recht-begriff, GrünhZ. 7. Binding, Der Rechiszwang, Anhang zu den „Wonnen*.

§ 44. Da- Recht bewährt sich als Macht in doppelter Richtung : in der Richtung seines Schutze- und in der Richtung seiner Gebote;

in der Richtung, in welcher es Befugnisse begründet und in der­ jenigen, in welcher eS Pflichten auferlegt. In der einen Richtung verleiht es Kraft, in dec anderen bindet eS.

So stärkt eS im Verhältnis vom Gläubiger und Schuldner

den ersteren und bindet den letzteren. So verleiht es im Verhältnis von Obrigkeit und Verbrecher der ersteren Macht und bindet den letzteren. So verleiht e- dem Kaiser den Armeebefehl und bindet

die Armee seinem Befehle gegenüber.

§ 45. In beiden Richtungen übt es eine unmittelbare Wirksamkeit aus.

Aber seine Machtnatur kommt am greifbarsten zum Ausdruck in der

Richtung seiner Gebote.

Nur in dieser Richtung, nur denjenigen

gegenüber, welchen es Pflichten auferlegt, geht eine Nötigung von ihm auS. Man hat behauptet (Thon), daß das Recht unmittelbar überall nur durch seine Gebote wirksam werde und also nur ans diejenigen einen Einfluß ansübe, welchen e- Pflichten auferlegt, niemals in der Richtung, in welcher es Befugnisse begründet. Dies aber ist ein Irrtum. Viel­ fach wirkt da- R. in einer unmittelbaren Weise gleichzeitig in beiden Richtungen auf denjenigen, dem e- Vefugnifle zuerkennt und auf do«-

Da» Recht nl» Macht.

SS

jemgen, welchem e» Pflichte» auferlegt. Erstere» in evidentester Weise dort, wo e* jemanden zu einer Machtstellung (z. B. zum Throne) oder einer Wirksamkeit beruft, die der Betreffende nicht einnehmen oder an»* üben würde, wenn ihm nicht da» R. den Weg dazu eröffnete und Beweg­ gründe zum Beschreiten de»selben gäbe. Man denke an die Stellung, welche die ReichSverfaffung dem Kaiser, oder den Deutschen männlichen Geschlecht» in bezug auf die Wahlen zum Reichstage einräumt. Da» R. aibt hier Bestimmung»gründe zu einem bestimmten Berhalten, ohne zu demselben zu verpflichten und zu nötigen. — Merkel, Recht»norm und subjekt. R 1. c.

§ 46.

Die vom Rechte ausgehende Nötigung ist im allgemeinen zweifacher Art.

Bon seinen Geboten leitet sich nämlich im allgemeinen: 1. ein Sollen her: diejenigen, an welche die Gebote sich

richten, sehen sich moralisch genötigt, ihnen zu gehorchen (ethische Macht des Recht», § 47ff.);

2. ein Müssen, eine sinnliche Notwendigkeit zu einem ent­ sprechenden Berhalten (materielle Macht, § 50ff).

§ 47.

ad. 1.

Das Recht findet kraft der ihm zukommenden Eigen­

schaften (§ 24 ff.) eine Stütze in dem Gewissen derer, welchen eS sich gebietend und beschränkend zuwendet. Dieses adoptiert seine Gebote,

verleiht ihnen so eine moralische Sanktion und wird zugunsten

einer freiwilligen Erfüllung dieser Gebote wirksam. Mr erfüllen im allgemeinen die Gebote de» Recht» freiwillig, und zwar auch dort, wo unsere selbstischen Interessen auf ein entgegengesetzte» Verhalten Hinweisen. 6» geschieht die», weil da» Recht, Gehorsam von un» fordernd, eine Unterstützung feiten» der moralische» Faktoren unserer Natur findet. Die- aber ist nur möglich, well und sofern das Recht seinerseit» dem Gesamtcharakter seiner Wirksamkeit nach im Einklang steht mit de«, va» unsere moralische Natur a» die Hand gibt. E» ist also von den Änderungen der letzteren abhängig. Jedoch ist die Abhängigßett eine wechselseitige, wsofän die moralischen Gefühle und Urtelle jeder

neue» Generation unter dem Einflnffe de» überlieferte» Recht» sich entwickln. — Bgl. im übrigen § 49 Anm.

8 48.

DaS Recht findet diese Stütze auch für solche Vorschriften, welche

al» ungerechte die moralische» Empfindungen verletzen

Erste- Kapitel. Erster Abschnitt.

40

(8 37 ff.), solange der Gesamtcharakter seiner Wirksamkeit im Ein­

klang mit den moralischen Urteilen und Empfindungen der Be­ teiligten steht, d. h. solange es Recht ist (§ 24 ff.).

*§ 49.

In dem bezeichneten Einklänge des Rechts mit den moralischen

Faktoren begründet sich, und in der Art, wie die letzteren zu seinen Gunsten wirksam werden, liegt die ethische Macht oder,

was dasselbe: „die verpflichtende Kraft" der Rechtsvorschriften.

Die Rechtsvorschriften können eine verpflichtende, d. i. moralisch bindende Wirksamkeit nur äußern, sofern gewisse Eigenschaften bei ihnen vorausgesetzt und anerkannt sind, die ihnen unsere Achtung-gefühle zu­ wenden und die moralischen Kräfte unserer Natur für sie tätig werden lasten. Bon den Eigenschaften, welche hierbei in Betracht kommen, ist oben gehandelt und zugleich darauf hingewiesen worden, daß für verschiedene Völker wie für verschiedene Individuen und resp, für die gleichen Völker und Individuen aus verschiedenen Entwicklungsstufen bezüglich dieser Eigenschaften nicht durchaus das gleiche gelte (§ 32 Anm,). Hier ist beizufügen, daß auch die gleichen Momente, welche bei verschiedenen Völkern usw. sich wirksam zeigen, im Bewußtsein der Beteiligten sich ver­ schieden spiegeln können. Daher ist die Rechenschaft, welche Völker und einzelne sich selbst über den Grund und die Voraussetzungen der verpfltchtcnden Kraft der Rechtsnormen gegeben haben, sehr verschieden aus­ gefallen. Im Kindheitsalter der Völker hängt die moralische Nötigung, welcher dieselben bestimmten Normen gegenüber unterliegen, also die verpflichtende .Kraft dieser Normen, im allgemeinen davon ab, daß sie von einem be­ stimmten Subjekte herrühren oder als herrührend vorgestellt werden. Man sieht in der Vorschrift etwa eine Willensäußerung der Gottheit oder der berufenen Organe und Interpreten des göttlichen Willen-: der Priester, ober des durch den göttlichen Willen eingesetzten Herrschers, oder der einen Gegenstand der Verehrung bildenden Vorfahren, und leitet aus solchem Ursprünge ihre Verbindlichkeit her. Die Achtung, welche jene emflößeu, überträgt sich aus die von ihnen wirklich oder vermeintlich ausgehenden Satzungen. Das Individuum findet bei den betreffenden Völkern in sich nicht leicht die Kraft und nicht die Aufforderung, die tat­ sächliche und ethische Wahrheit (§ 30 ff.) besten, was bei ihnen als Recht, Sitte, Religion usw. Geltung in Anspruch nimmt, einer Prüfung nach eigenen Maßen zu unterziehen. Ähnlich wie Kinder die verpflichtende Kraft einer Vorschrift auS dem Willen der Eltern herleiten, wie bei ihnen zwischen dem Gebote und dem objektiven Maße seines Wertes, dieses ver­ tretend, die Autorität einer bestimmten Persönlichkeit steht, also können jene Völker auf die Frage nach dem Grunde, aus welchem sie sich an irgendeine Nornt gebunden fühlen, nur mit einem Hinweis auf irgend-

Das Recht als Macht.

41

eine Autorität antworten. Kein stärkeres Argument existiert hier, als das von einem Indianerhäuptling gegen die Annahme der christlichen Religion geltend gemachte: „eS würde lächerlich und schändlich sein, wollte ich anders glauben und anders handeln wie meine Vorfahren". Bei Völkern, in welchen ein Geist der Untersuchung und Kritik lebendig ist, gestaltet sich die Sache minder einfach. Der Hinweis auf ein bestimmtes Subjekt, von welchem die Rechtsvorschriften ausgegangen seien, erledigt hier die Frage ihrer Verbindlichkeit und der Quelle dieser letzteren im allgemeinen nicht. Man unterwirft den Inhalt dieser Vor­ schriften einer Prüfung, und meint, daß der Wert, welchen sie in An­ spruch nehmen, irgendwie in diesem Inhalte selbst eine Begründung finden müsse, so gewiß ein verkehrter Inhalt nicht dadurch gut und weise werde, daß er von einem bestimmten Subjekte herrühre. Hierbei gelangt man bewußt oder unbewußt dazu, das eigene Gefühl und Urteil als eine zu obersten Entscheidungen berufene Instanz geltend zu machen. Die Vorstellungen aber, welche sich hinsichtlich jenes Wertes und der für ihn entscheidenden fachlichen Merkmale entwickeln, verdichten sich in der Theorie von einem „natürlichen" Rechte, welches von dem geltenden ^positiven" Rechte zu unterscheiden sei, und in der dem letzteren gegen­ über zu einer selbständigen Bedeutung gelangenden Idee der Gerechtigkeit. Es wird die Frage möglich, ob das vom Rechte, d. i. von den maß­ gebenden Autoritäten Gebotene, denn auch das Gerechte sei. Fortan tritt die ethische Macht des Rechts in eine Abhängigkeit von den Urteilen über das den Verhältnissen in tatsächlicher und moralischer Beziehung Entsprechende, welche im Volk-bewußtsein Macht gewinnen, und mit welchen es sich in Einklang halten muß. Daraus ergibt sich, daß aus Unrecht (Gewalt) Recht hervorgehen, ebenso aus Recht Unrecht werden kann; letzteres, wenn das Recht in seiner Entwicklung derjenigen der ethischen Anschauungen bei einem Volke nicht folgt und die letzteren so in einen feindlichen Gegensatz zu jenem geraten im Sinne des Goetheschen „Vermmft wird Unsinn, Wohltat Plage". Das Gesagte gilt auch hinsichtlich der Stellung jener Autoritäten selbst und hinsichtlich der obersten Rechtsgrundsatze, welche die Frage be­ antworten, wer berufen sei, neues Recht zu schaffen und das überlieferte zu reformieren. Auch hier überwiegt von Haus aus die dem ersterwähnten Standpunkte entsprechende Ableitung. Bon den Autoritäten geringeren Ranges geht man auf eine höhere Autorität zurück, bis man bei dem göttlichen Willen anlangt und bei diesem stehen bleibt. Entwickelteren Kulturverhältnissen entsprechen dagegen die Versuche, sachliche Gründe für die Geltung jener obersten Grundsätze aufzufinden, solche, welche dem in ihnen zum Ausdruck kommenden Willen unsere Achtungsgefühle zuwenden unabhängig davon, welchen Namen dieser Wille führe, oder auf welchehöhere Subjekt er seine Autorität zurückführen möge. Wenn etwa der oberste Recht-grundsatz lautet: „als Recht ist anzusehen, waS der König dafür erklärt", so entspricht eS einem naiven Standpunkte, sich bei dem Glauben zu beruhigen, daß dieser Grundsatz einer irgendwie kuudgewordenen göttlichen Sanktion teilhaft sei, während ein kritischerer Sinn nach objektiven Gründen für die Geltung des Grundsatzes forschen und einen solchen etwa darin finden wird, daß der König als ein Über den Partei-

42

Erste- Kapitel.

Erster Abschnitt.

Gegensätzen des gesellschaftlichen Lebens stehender neutraler Faktor die meisten Garantien dafür biete, daß von ihm ausgehende Rechtssätze den neutralen Charakter gerechter Normen an sich trügen. — Vielfach hat man die verpflichtende Kraft der Rechtsnormen her­ leiten wollen auS einem Vertrag oder einem, gleichviel wie sich voll­ ziehenden Akte der Anerkennung seitens derjenigen, für welche sie gellen sollen (s. Bierling, Kritik). Aber der Begriff der verpflichtenden Kraft enthält daS Moment der Anerkennung. „Eine Vorschrift hat verpflichtende Kraft für mich" heißt soviel wie: „ich erkenne ihr Etgeufchaften zu, welche sie zu einer Richtschnur für mein Verhalten erheben". Selbstverständlich kann von dieser Anerkennung jene verpflichtende Kraft nicht hergeleitet werden, so gewiß man eine Erscheinung nicht von sich selbst herleiten kann. Nicht weil die Einzelnen die Rechtsnormen algültig anerkannt haben, empfinden sie eine moralische Nötigung, ihnen zu gehorchen, sondern umgekehrt finden die Rechtsnormen die ihnen wesent­ liche Anerkennung, weil ihnen ein aus anderer Quelle fließender Werl und Gehorsam-anspruch beigemessev wird. Von einer solchen Anerkennung sind solche Tatsachen zu unter­ scheiden, welche dafür bestimmend sein können, daß eine Regel die ver­ pflichtende Kraft, welche sie bi- dahin nicht besaß, pro futuro erlangt. Zu diesen Tatsachen gehören auch Willensäußerungen derer, welchen die betreffende Regel Pflichten auferlegt, Willensäußerungen, welche eine aus­ drückliche oder stillschweigende Zusage künftiger Befolgung der Regel oder, wenn man will, eine Anerkennung derselben als einer Richtschnur für die Zukunst enthalten. (Vgl. über die Entstehung von Recht-sätzen auVerträgen § 121, auch 129). Aber diese Willensäußerungen sind weder die einzigen noch die wichtigsten Tatsachen dieser Art. Und sie setzen ihrerseits, sollen sie die bezeichnete Bedeutung haben, die Existenz von Grundsätze«, welche eine verpflichtende Kraft besitzen, bereits voraus. So kann durch Vertrag eine Regel zu einer verpflichtende« RechtSregel nur erhoben werden, sofern unter den Vertragschließenden der Grundsatz be­ reit- Geltung (oder, wä- hier dasselbe, verpflichtende Kraft) hat, daß Verträge gehalten werden foBcit. Fragt man aber, woher denn dieser Grundsatz feine Geltung herleite, so sehen wir uns wieder auf die oben besprochene Alternative hmgewieseu. Vgl. Elemente § 8,13. Besprechung von Schuppe, „Gewohnheits­ recht", Sammlung 66ö; von Bierlrug, „Kritik", Sammlung 481. § 50.

ad 2. Neben der ethischen besitzt daS Recht eine materielle Macht. Gegen Einzelne, welche in sich nicht genügende, sei es moralische sei es egoistische, Beweggründe für ein den Vorschriften des Rechts entsprechendes Verhalten finden, hält es physische Machtmfttel bereit, durch welche die Erfüllung dieser Gebote, soweit dies mög­ lich ist, erzwungeu werden soll.

43

DaS Recht als Macht. 8 51.

Wo eine Verletzung seiner Vorschriften durch diese Mittel

nicht verhütet werden konnte, da

verbindet das Recht mit der

begangenen Verletzung in der Regel solche Folgen, welche geeignet

und dazu bestimmt sind, ihre Bedeutung für seine Herrschaft und

deren Zwecke aufzuheben oder zu verringern. § 52. Hierher gehört es, wenn derjenige,

dessen Diebstahl nicht

verhindert werden konnte, sich durch das Recht verpflichtet und

gezwungen sieht, den Bestohlenen schadlos zu halten und eine

Strafe über sich ergehen zu lassen. § 53. Diese Folgen heißen „ R e ch t s f o l g e n " der begangenen Rechts­

verletzung. Es sind Machtäußerungen des Rechts, welche den Charakter

von Gegenwirkungen haben gegen die in Gestalt der Rechtsver­ letzung gegen eS selbst und die von ihm Geschützten sich richtende

Wirksamkeit, und welche der letzteren inhaltlich entgegengesetzt, nach Energie und Tragweite (so weit dies erreichbar ist) pro­ portional sind.

Spezielleres über diese Rechtsfolgen begangenrr Rechtsverletzungen f. 8 274-»10, 239-243. *§ 54. Das Recht bezeichnet bei der Aufstellung seiner Gebote im

voraus die Rechtsfolgen, welche mit deren Verletzung verbunden werden sollen.

Daher leflen sich an seinen Vorschriften in der Regel zwei Bestandteile unterscheiden.

Der eine gibt an die Hand, wie wir

in bestimmten Verhältnissen im Einklang mit dem Rechte bleiben;

der zweite, welche Folgen mit einem gegenteiligen Verhalten sich verknüpfen sollen. Mau nenßt jenen die „primäre- ober „Haupt­ bestimmung", diesen die „sekundäre* oder „Rebenbestim-

mung" oder auch die „Sanktion" der ersteren.

44

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

Primäres Gebot: Du sollst nicht stehlen. — Du sollst das

empfangene Darlehn zurückerstatten. Sanktion: Wer stiehlt, soll Gefängnisstrafe erleiden usw.

Elemente § 5. — Der Gegensatz zwischen beiderlei Bestimmungen ist kein absoluter. Die sekundären Gebote können ihrerseits wieder Sanktionen haben, mit Beziehung (üif welche sie sich als primäre Be­ stimmungen darstellen. So findet z. B. das sekundäre Gebot: wer stiehlt, soll den Bestohlenen entschädigen, eine Sanktion in Strafbestimmungen gegen denjenigen, der sich der Erfüllung von Entschädigung-pflichten solcher Art aus betrügerische oder gewaltsame Weise zu entziehen sucht. Auch ist die Bezeichnung „Sanktion" insofern nicht völlig zutreffend, als die primären Gebote ihre Gültigkeit Überhaupt nicht, und ihre psycholo­ gische Kraft nur zum Teil aus dieser Sanktion herleiten (§ 57). Man hat die primären Gebote im Gegensatze zu den sekundären Geboten (bzw. einem Teile der letzteren) „Normen" genannt. Diese Bezeichnungsweise empfiehlt sich jedoch nicht, weil der Begriff, welcher üblicherweise mit dem Worte Normen verbunden wird (§ 12), beide Arten von Geboten umfaßt. — Sämtliche Rechtsnormen wenden sich an alle diejenigen, deren Ver­ hältnisse sie ordnen, nicht lediglich an die Organe der Staatsgewalt (an­ ders Jhering, Zweck I, 333 und neuerdings inSbes. Mayer, Rechts- und Kulturnormen 03). Anderenfalls würden die primären Gebote, sowie sie sich an die Einzelnen wenden (s. ob. Beispiele) Rechtsnormen an sich gar nicht sein, sondern nur die Anweisungen an die staatlichen Organe, im Falle deS Ungehorsams nötigend einzugreifen. Damir wäre aber das Sekundäre, das bloße BekräfttgungSmittel, zur Hauptsache gemacht. (Ele­ mente § 6 über die „Adresse der Rechtsnormen". — Thon in JherJ. 50.)

§ 55. Diese Sanktionen,

welche im

voraus die Folgen etwaiger

Rechtsverletzungen feststellen, verstärken im allgemeinen die Beweg­ gründe zur Vermeidung von Rechtsverletzungen und wirken so in

dieser Richtung vorbeugend. So verbinden sich moralische und sinnliche, mechanische und psychologische Nötigung, vorbeugende und ousgleichende Maßregeln

zugunsten der Herrschaft des Rechts

und

der Erfüllung seiner

Zwecke. § 56.

Das Recht zeigt jedoch nicht überall und nicht in allen seinen

Teilen die gleiche Kraft, und seine äußere Macht nicht überall eine gleich vollkommene Organisation.

Das Recht als Macht,

45

WaS die letztere bei höherer Ausbildung charakterisiert, ist in den Abschnitten über das Verhältnis deS Rechts zum Staate (§ 64 ff.) und zu Sitte. Moral und Religion 70) näher dargelegt (vgl. auch § 115 ff., 136 ff.). In dieser Hinsicht wie in mancher anderen lassen sich vollkommenere und minder vollkommene Rcchtssysteme und Teile von solchen unter­ scheiden. Auf derartige Abstufungen und Verschiedenheiten in der Aus­ bildung der dem Rechte eigentümlichen Merkmale wird mehrfach hinzu­ weisen sein (f. Völkerrecht § 870). Es besteht die Aufgabe, diese inner­ halb der Peripherie des RechtsbegrifsS liegenden Differenzen zu unter­ scheiden von den zwischen dem Rechte einerseits, der bloßen Sitte und den übrigen ethischen Potenzen andererseits bestehenden Verschiedenheiten. Zu ihrer Lösung sollen in diesem Abschnitt sub III diese letzteren Verschieden­ heiten bestimmt werden. Was speziell die äußere Macht des Rechts be­ trifft, so ist für das Maß ihrer Ausbildung vor allem das Verhältnis de- Rechts zum Staate entscheidend; hierüber Spezielleres sub II.

•9 57. Einer einzelnen Vorschrift, welche getragen wird durch die

Herkunft von dem in der Gemeinschaft herrschenden Willen und

den Zusammenhang der Bestimmungen, welchem sie angehört, ist um deswillen nicht der Charakter der Rechtsvorschrift abzustreiten,

weil ihr etwa die Sanktion fehlt. U a. fehlt wichtigsten Bestimmungen unseres Verfassungsrechts jegliche Sanktion. (So der Bestimmung, daß der Reichstag alljährlich vnrch den Kaiser zu berufen ist.) Gleichwohl zweifelt niemand an ihrem Recht-charakter. — Gleichgültig für diesen Charakter ist eS selbstverständ­ lich,. ob jemals Anlaß gegeben ist, die Sanktion einer Rechtsnorm zu praktischer Anwendung zu bringen. In einem idealen Rechtszustande würde dieser Anlaß überhaupt entfallen und die gesamte materielle Macht des Recht- butter seiner ethischen zurücktreten. Ein Begriffsmerkmal des Rechts würde dadurch nicht (wie manche angenommen haben) in Weg­ fall gebracht. Wie nicht jeder Rechtssatz eine Sanktion hat, so ist auch nicht jeder durch physische DLachtmittel gesichert. Die Eigenschaft einer einzelnen Norm, Rechtsfatz zu sein, ist nicht davon abhängig, daß gerade für ihre Durchführung mechanische Machtmittel bereitgestellt und deren Anwendung für den Ungehorsamsfall geregelt ist (Elemente § 7). —

§ 58. Fassen wir zusammen, was über das Recht als Lehre und

als Macht gesagt worden ist, so ergibt sich:

Das Recht stellt sich einerseits dar als ein Ganzes von Ur­ teilen über das, was in bezug auf die Grenzverhältnisse deS

46

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

gesellschaftlichen Lebens al- zweckmäßig und gerecht zu erachten

ist.

ES zeigt in dieser Hinsicht einen theoretischen Charakter und

läßt ein Bestreben erkennen, unter diesen Urteilen eine möglichst vollkommene Harmonie zu verwirklichen.

Da- Recht stellt sich andererseits dar als ein System von Willen-- und Machtäußerungen, bei welchen es in letzter Linie nicht darauf abgesehen ist, Wahrheiten zu verkündigen und Lehrmeinungen zu einer Geltung zu verhelfen, sondern darauf,

die reale gesellschaftliche Welt in bestimmter Weise zu gestalten, und deren Ziel und Ursprung nicht auf theoretischem, sondern

auf praktischem Gebiet liegt. Elemente § 3f., 12 (Recht-gedanke und Recht-wille in ihrem Ver­ hältnis zueinander). Regelsberger, Pandekten S. 59 („Die Rechtsordnung ist nicht bloß Herrscherin und zwingende Macht, auch Lehrmeisterin und Erzieherin"). — Die Zweiheit von logischer und realer Seite, Wissen und Wollen, Inhalt und imperativischer Form des Recht» prägt sich im Leben und in der Wiffenschaft in mannigfachster Weise au-. 1. Die Faktoren, welche an der Bildung und Anwendung der Rechts­ sätze teilhaben, stehen vielfach in einem verschiedenen Verhältnisie zu den bezeichneten Seiten. Während einige al- berufen erscheinen können, das­ jenige, wa- al- Recht-inhalt Geltung erlangen soll, zu erforschen, zu be­ zeugen oder in autoritativer Weise festzuftellen, können andere berufen fehl, das von jenen Gefundene, Bezeugte, Festgestellte in der Form des Gebotes dem Volke zu verkündigen und ihm zu machtvoller Wirksamkeit zu verhelfen. Die Geschichte des Recht- kennt Sonderungen dieser Art von verschiedenster Form und Bedeutung. So ist im modernen Staat die Volksvertretung bei der Feststellung des Inhalts eine- Gesetze- be­ teiligt, während seine Sanktion und Publikation nicht ihr (sondern in der Regel dem Monarchen, - 518) zusteht. Ebenso kommt es vor, daß der Inhalt eines richterlichen Urteils von anderen Personen festgestellt wird als denjenigen, welchen seine Verkündigung und Vollziehung obliegt. ES ist jedoch zu beachten, daß dem Wissen hier nirgend- eine selb­ ständige Bedeutung -ukommt, und die Feststellung de- Inhalte-, welchen da- zu bildende Recht haben soll, immer zugleich einen Willen-entscheid enthält, und nur kraft diese- eine maßgebende Bedeutung besitzt. Der­ jenige, der mit dieser Feststellung betraut ist, erscheint daher al- ein Organ des herrschenden Willens (desjenigen, der im Berfafsungsrechte der staatUchen Gemeinschaft seinen obersten Ausdruck findet), ganz eben sowie der­ jenige, dem es obliegt, da- von jenem Festgestellte in die Form de- Ge­ botes zu kleiden und für seine praktische Verwirklichung Sorge zu tragen. — 2. In der Wissenschaft sind sehr verschiedene Auffaffungen hervor­ getreten über da- Verhältnis der unterschiedenen Seiten des Rechts zu­ einander und die Bedeutung, welche der einen und der anderen beizn-

47

Da» Recht al» Macht.

messen fei Einerseits Unterschätzung bei logischen Momente» (vgl. v. Kirchmann, Grundbegriffe bei Recht»). Diese hängt zusammen mit einer Verkennung bei logischen Elemente» in ben Anschauungen über da» Gerechte (J 30ff.) und resp, mit einer Verkennung der Bedeutung dieser Anschauungen für die Bestimmung de» Rechtsinhaltes und für dessen verpflichtende Kraft. Andererseit» die weitaus,häufigere und im Bereiche der Wifienschaft unendlich viel einflußreichere Überschätzung bei

logischen Momente» hängt teil» mit einer Verkennung de» Wesen» der in jenen Anschauungen hervortreten den „ethischen Wahrheit" zusammen — ihrer geschichtlichen Bedingtheit, subjektiven Natur, unvollkommenen Einheitlichkeit usw. —, teil» mit einer Verkennung der Kompliziertheit und Veränderlichkeit der sonstigen Faktoren, unter deren Einfluß der im Rechte zum Ausdruck kommende Wille fich Ml bet, teil» und vor allem mit einem Ignorieren der Gegensätze, welche unter den Faktoren bei Recht» bestehen, und welche ei au-schiießen, daß da» letztere jemals ben logisch anstößigen Kompromißcharakter (§ 4ü) abstreife, und die geschloffene Ein­ beit eine» die Konsequenzen eine» obersten Prinzips rein und restlos um söffen ben logischen Ganzen erlange. Vgl. gegen diese einseitige Be­ tonung bei logischen Element» (die „Begriffsjurisprudenz") Jhering, Geist HI, 303ff. Scherz und Ernst in d. Jurisprudenz 9. A. 05. (S. auch ©eiter, Ernst u. Scherz 92 S. 123ff) Der Vefitzwille, zugleich e. Kritik der herrsch. Methode 89.

§ 59. Auf dieses Verhältnis, auf das Primat de» Willens im

Rechte, wird hingewiesen, wenn von der „Pvsitivität" oder der

„positiven Natur" deS Rechts die Rede ist.

Wir drücken damit

aus, daß seine Bestimmungen Geltung in Anspruch nehmen als

Äußerungen eines bestimmten Willen», unabhängig davon,

ob

die in ihnen enthaltenen Urteile im einzelnen mit unseren Über­ zeugungen im Einklang stehen; zugleich aber, daß es so in Ord­

nung ist, weil die Wirksamkeit diese- Willen- weder entbehrt, noch überall in Einklang gebracht werden kann mit Wahrheit und

Gerechtigkeit und den bestehenden Meinungen über das, was ge­ schehen sollte.

II. Sein Verhältnis zu« Staate. *§ 60. Recht kann sich in jeder Gemeinschaft bilden, welche die

Macht und die Organe besitzt, ihre Verhältnisse den chrer Existenz

Erstes Kapitel.

48

Erster Abschnitt,

zugrunde licgenbcn Interessen gemäß in selbständiger Weise zu

ordnen.

Die eigentliche Heimat des Rechts aber ist der Staat. Bgl. die Ausführungen über Kirchenrecht und Völkerrecht im be­ sonderen Teile. — Elemente § 2.

8 61.

Die vornehmste Aufgabe, deren Lösung dem Staat oblieg^

ist diese: innerhalb seiner Machtsphäre für die Existenz einer rechtlichen Ordnung und eines obersten Richteramtes zu sorgen.

Was ihn in anderen Beziehungen charakterisiert, daS wird im besonderen Teile § 365 ff. dargelegt werden.

§ 62. Bestimmt wird diese Machtsphäre durch die Beziehung des

Staates auf ein bestimmtes Volk — den Inbegriff seiner An­ gehörigen —, und durch seine Beziehung auf ein bestimmte- Ge­

Wie das moderne Volk, so steht der moderne Staat samt

biet.

der von ihm getragenen Crbnung in einem festen Verhältnis zu

einem bestimmten Lande. § 63. Was sich innerhalb seines Gebietes befindet, das steht unter

der von ihm getragenen rechtlichen Ordnung: Territorialitäts­ prinzip.

Mit seinen Angehörigen aber ist er zugleich durch em persön­ liches Band verknüpft, dessen Bestand und Bedeutung nicht davon

abhängt, wo der Einzelne sich jeweils befindet: Personalität-Prinzip. Die Herrschaft des Staate- über seine Angehörigen wird durch einen Aufenthalt derselben im Ausland an und für sich nicht in Wegfall gebracht. Es ist daher nicht richtig, wenn man da- Territorialität-prinzip, wie ebi-weilen geschieht, al- da- bei Abgrenzung der rechtlichen Machtsphären der Staaten allein entscheidende behandelt. Modifikationen erleidet indessen jene Herrschaft de- Staate- seinen im AuSlaude befindlichen Angehörigen gegenüber dadurch, das diese kraft de- Territorialität-prinzip- zugleich unter der Herrschaft de- Aufenthalt-staates stehen. Bgl. § §26 ff., 429 ff.

§ 64. Jene Aufgabe, für die Existenz einer rechtlichen Ordnung und eine- höchsten Richteramtes innerhalb feiner Sphäre zu sorgen, kann vom Staat gelöst werden, weil und sofern er die höchste Macht innerhalb dieser Sphäre besitzt.

8 65. Dieser Aufgabe dient der Kern seiner Einrichtungen, welcher eine Organisation zum Zwecke geordneter Fortbildung, Anwendung und zwangsweisen Geltendmachung der Rechtsnormen darstellt. § 66. DaS Recht, welche- andere Gemeinschaften (z. B. die Kirche») für ihr eigenes Leben-bereich entwickeln, ist, soweit dieses letztere in das Gebiet eines Staates hineinreicht, von dem Rechte und der Macht diese- Staate- hinsichtlich der Abgrenzung seiner Herrschastssphäre sowie hinsichtlich seiner kraftvollen Verwirklichung abhängig. *§ 67. Gliedern des Staates iProvin;en, Kreise», Genteinden) und unter seiner Herrschaft stehenden Verbänden (Familien de- ehe­ mals ReichSständischen, sog. hohen 21 bete; Innungen) kann die Befugnis gewährt sein, für bestimmte Verhältnisse Recht-sätze auf­ zustellen, deren Befolgung der Staat gewährleistet. Man spricht hier von einer „Autonomie" dieser Verbände. Auf privatrechtlichem Gebiet (§ 85) sind solche autonomen Satzungen heute nur von geringer Bedeutung, im Gegensatz »um deutschen Mittel­ alter. Auch privatrechtl. Bestimmungen (z. B. über Wohnung-miete, Gewerberechtf enthalten oft Ort-statute der Städte.

111. Sein Verhältnis zu Moral, Religion und Sitte.

8 68. Die vom Rechte geordneten Verhältnisse unterliegen dem Eia« flusse noch anderer, dem Rechte ihrem Ursprünge nach verwandter Mächte. Merkel. Jurlsttsche r»i,a»»«»ie. 1. Must.

4

Erstes Kapitel.

50

Erster Abschnitt.

Dahin gehören Moral, Religion und Sitte, welche sich mit

dem Rechte als „ethische Mächte" zusammenfafsen lassen.

Jhering, Zweck im R. II. (Auch die populäre Studie „Das LnnkLeld" ü. A. 02.) G. RümeLin, Über das RechtSgefühl. Das Wesen der Gewohnheit. Eine Definition deS R. („Reden u. Aufsätze" 75/81. Gierke, Deutsches Privatrechl 1,112 ff. (Auch: D. Humor im deutschen R. 71. An­ knüpfend an Grimm, Bon der Poesie im R., Z. f.gesch.R.wisseuschastL.) Jacobi, R., Sitteu. Sittlichkeit, ArchBürgR. 41. Niemeyer, R. n. Sitte 02. Tönnies, Die Sitte („Die Gesellschaft") 09. § 69. Diese Mächte stehen untereinander in mannigfacher Wechsel­

wirkung: zugleich ergänzen sie sich in der Herstellung von Be­ dingungen eines friedlichen Neben- und Miteinanderlebeus. Eine besondere Abhängigkeit besteht auf der Seite deS Rechts

gegenüber den herrschenden moralischen Überzeugungen und Emp« stndungen bezüglich der verpflichtenden Kraft seiner Vorschriften ß 49).

§ 70. Fragen

wir, von diesem Zusammenhänge absehend,

waS

das Recht von seinen ethischen Geschwistern unterscheide, so laben wir

1. seinen Inhalt,

2. die Formen, in welchen derselbe zur Erscheinung und Verwirklichung gelangt,

M Inhalt und Formen der Moral usw. zu vergleichen. Hierbei handelt es sich um den Stand der Dinge bei den

modernen Kulturvölkern, in welchem wir das Resultat eines viel­

hundertjährigen Prozesses der Entwicklung und Auseinandersetzung der Elemente einer ursprünglich einheitlichen geistigen Macht vor unS haben (s. § 125 ff.).

§ 71. 1. In bezug aus den Inhalt seiner Wirksamkeit ist für das

Recht gegenüber jenen anderen Mächten charakteristisch: jene Doppelseitigkeit, kraft deren es sich überall nach einer

Seite hin als eine Schranke nach einer anderen als eine Schutz-

Sein Verhältnis zu Moral, Religion und Sitte.

51

wehr darstellt und einerseits Pflichten, andererseits karrespon-

dierende Befugnisse bzw. Rechte begründet (§ 16, 146 ff.); sowie der Umstand, daß jene Pflichten sich als das Sekundäre darstellen, und stch nach den Interessen bemessen, welche in jenen

Bcfugnisien zum Ausdruck kommen (§ 6, 17, 25). § 72. Die Satzungen der Religion und Moral dagegen wenden sich im allgemeinen nur nach einer Seite, sie gebieten und be­ schränken, und ihre Gebote und Beschränkungen stellen sich nicht

als eine bloße Konsequenz einer Dritten zugewendeten Gewähr­

leistung dar.

Ihr Kardinalbegriff ist derjenige der Pflicht, und

die von ihnen begründeten Pflichten sind nicht die bloßen Schatten von Befugnissen.

§ 73.

Wenn z. B. Religion und Moral das Gebot aufstellen: „Liebe deinen Nächsten", so sagen sie nicht dem letzteren: „Du hast ein

Recht auf diese Liebe."

Sie wenden sich nur der einen Seite

zu, derjenigen, für welche eine Pflicht begründet wird.

So entspricht ferner dem Gebote, die linke Wange darzureichen, wenn die rechte geschlagen wird, keine Gewährleistung zugunsten

des Schlagenden!

Das „du sollst" ist hier nicht die Kehrseite

eines einem anderen zugewendeten: „du darfst", „ich verleihe dir die Macht zu solchem Tun".

Wenn das Recht dagegen dem Schuldner befiehlt: „Bezahle deine Schulden", so geschieht dies im Hinblick auf ein Recht drS

Gläubigers und lediglich um der in diesem Rechte direkt und indirekt

geschützten Interessen willen.

Der an den Schuldner gerichtete

Befehl ist hier die bloße Kehrseite einer dem Gläubiger zugewen­ deten Gewährleistung. 8 74. Das Recht sagt: beachtet die Grenzzeichen, die zwischen euch

von mir gesetzt, sind, damit Friede unter euch bestehen und jeder der ihm zukommenden Macht und Freiheit sich erfreuen könne.

4*

52

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

Die Moral: seid redlich, barmherzig und treu, erweiset euch

als achtungswert und gut. Ihre Forderungen zielen auf die Über­

einstimmung des persönlichen Wesens und Wollens mit einem be­ stimmten Ideale, für welches jene Freiheit und Macht nur die

Bedeutung von Bedingungen besitzen. Für die moralischen Werturteile und Achtungsgefühle, wie sie in der modernen Kulmrwett sich geltend machen, ist im allgemeinen das un­ mittelbar Entscheidende nicht die Beziehung der konkreten Handlung auf die Interessen Dritter bzw. des Bolts oder der menschlichen (Gesellschaft überhaupt, sondern die Beziehung der Handlung auf eine bestimmte Ge­ sinnung. Mildtätigkeit z. B. erzeugt unsere Achtung, insofern sie uns als ein Ausdruck humaner Gesinnung erscheint; unsere Achtungsgesühle schwinden, wenn die Voraussetzung einer solchen Gesinnung sich als hin­ fällig erweist. Unser moralisches Interesse geht hier Über die einzelne Tat hinaus, auf ihre im Grunde der Persönlichkeit liegende und als etwas Konstantes vorgestellre Quelle zurück, und seine Befriedigung ist von den Eigenschaften dieser letzteren abhängig. Das juristische Interesse dagegen haftet an dem, waS die einzelne Tat für die anderen bedeutet. — Dies ist der faktische Sachverhalt, über dessen Charakterisierung hier nicht hinaus­ gegangen werden soll. Der Ethik und bzw. .der Soziologie liegt es ob, zu erforschen, unter welchen Einflüssen derselbe sich in der Entwicklungs­ geschichte des geistigen Lebens in dieser Weise gestaltet hat. Bedeutsame Anfänge find in dieser Richtung gemacht. Daß nur von solchen gesprochen werden kann, hat seinen Grund darin, daß die Wissenschaft in dieser Sphäre nur sehr allmählich zu der Selbstbescheidung gelangt ist und resp, gelangt, sich vor allem mit der Wirklichkeit vertraut zu machen und nicht ihr obliegenden Erforschung dessen, was ist, beständig — Theorien über ein angeblich Seinsollendes zu substituieren.

§ 75. Mit dem bezeichneten Gegensatze hängen Verschiedenheiten in der

Abgrenzung der von diesen Mächten auserlegten Pflichten zusammen. § 76.

Die vom Rechte auferlegten Pflichten bemessen sich nach den Jntereflen Dritter, um derentwillen sie begründet werden.

Was

dgher diese Interessen und bzw. die Befugnisse, in welchen sie ihren Ausdruck finden, nicht berührt, daS liegt außerhalb jener Pflichten,

und ist Nicht geeignet, im Sinne des Rechts eine Verschuldung, und ebensowenig ein Verdienst, zu begründen. So ist für die Frage, ob ein Schuldner seiner Rechtspflicht

Genüge getan habe, sein inneres Verhalten für den Standpunkt

Sein Verhältnis zu Moral, Religion und Sitte.

53

des Rechts gleichgültig, da durch dieses die Interessen und An­

sprüche des Gläubigers weder befriedigt noch verletzt werden. Hat

er rechtzeitig gezahlt, so ist er seiner Pflicht ledig, gleichviel aus

welcher Gesinnung heraus er gehandelt hat, und ob er etwa zuvor den Vorsatz gefaßt hatte, sich seiner Verpflichtung zu entziehen.

Umgekehrt sind gute Vorsätze, welchen nicht die Tat nachfotgt, für

den Rechtsstandpunkt ein absolutes Nichts. § 77.

Die von Moral und Religion begründeten Pflichten dagegen schließen ein bestimmtes inneres Verhalten des Verpflichteten in sich, und der Wert einer Leistung desselben bemißt sich von ihrem

Standpunkte aus unmittelbar nicht nach der Bedeutung der Leistung für die Interessen und Ansprüche Dritter, sondern nach der Ge­

sinnung. welche in ihr sich ausspricht. So hat vor ihrem Forum die Zahlung des Schuldners einen höheren Wert, wenn sie aus Pflichtgefühl, als wenn sie aus

Furcht vor Zwangsmaßregeln erfolgte, und der böse Vorsatz eines Schuldners, sich seiner Verbindlichkeit zu entziehen, eine Bedeutung

bereits vor mtd unabhängig von dem Versuche seiner Verwirklichung.

§ 78. Zwischen den Normen des Rechts und denjenigen der Sitte oder

des Herkommens besteht in den hervorgehobenen Beziehungen eine geringere Verschiedenheit.

Doch überwiegt auch bei den letzteren,

soweit sie sich nicht zu Rechtsvorschriften erheben (§ 122 ff.), im allgemeinen das beschränkende Element, und es ist für sie die scharfe Ausprägung jener Doppelseitigkeit,

die

beständige Gegenüber­

stellung von Sollen und Dürfen, Pflichten und Befugnissen nicht in ber Weise charakteristisch wie für die Rechtsvorschriften. Man denke etwa an die Anforderungen, welche die Sitte an den Ein­ zelnen in bezug auf sein Erscheinen in der Gesellschaft (Kleidung. Reiw lichtest) und in bezug aus die Formen des geselligen Verkehrs (Art M Grußes) stellt. Dem: „Du sollst diesen Anforderungen entsprechen", steht hier zwar ebenfalls gegenüber ein den anderen zu gewendetes: „Ihr dürft

64

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

die Erfüllung dieser Anforderungen verlangen", aber der Schwerpunkt liegt auf jenem Sollen, nicht auf diesem Dürfen. Vgl. im übrigen über das Verhältnis von Sitte und Herkommen zum Rechte § 125f — (Uber „Die Sitte als Sicherheitspolizei des Sittlichen" Jheriug, Zweck II.)

8 79.

2. Hinsichtlich der Formen, in welchen sein Inhalt zur Er­ scheinung und Verwirklichung gelangt, ist für das Recht gegenüber jenen anderen Mächten charakteristisch:

die geregelte Weise der Beteiligung bestimmter Organe der

Gemeinschaft an der Feststellung und Verwirklichung jenes Inhalts;

und bei entwickelterem Rechtsleben: — bestimmter Organe für die Feststellung der Rechtssätze, für ihre richterliche Anwendung und

für die Ausübung des Zwangs, der

sich als erforderlich zur

Wahrung der Herrschaft des Rechts und zur Erfüllung seiner Zwecke darstellt (§ 64, 102-121).

§ 80. Mit der Eigentümlichkeit seines Inhalts und seiner Formen

hängt die ausgeprägte Positivität (§ 59) des Rechts zusammen. Auch den Satzungen jener anderen Mächte läßt sich eine

positive Natur zuerkennen, aber sie sind doch nicht in der gleichen Weise abhängig von den bewußten Äußerungen eines menschlichen Willens, der sich als maßgebendes Prinzip geltend macht und

hierbei auf eine Äußere Macht stützt. Die Eigentümlichkeiten des Rechts gegenüber den anderen elbischen Mächten sowie sonstigen Elementen des gesellschaftlichen Lebens werden selten korrekt bestimmt. Hauptirrtümer: 1. Das Recht ordne das äußere Zusammenleben der Menschen, während das innere Leben jenen anderen Mächten zufalle. Jenes ist wahr. Aber übersehen ist erstlich, daß die Sitte ebenfalls, und zwar aus­ schließlich das äußere Dasein zum Gegenstand hat; man denke etwa an die Regeln und Formen des geselligen Verkehrs, welche von der Sitte bestimmt werden. Zweitens, daß die Normen der Moral auch ihrerseits sich auf daS äußere Zusammenleben erstrecken und mit den Geboten des Rechts hier meist Zusammentreffen, ja diesem eine im großen geradezu wesentliche Kraft zuführen (§ 47 ff.). Auch sie fordern die Erfüllung rechtlicher Verbindlichkeiten, die Nichtbegehung von Verbrechen, Gehorsam der rechtmäßigen Obrigkeit gegenüber!

Sein Verhältnis zu Moral, Religion und Sitte.

tzH

2. Das Recht sei durch das Element der äußeren Macht von jenen? anderen Potenzen unterschieden (so z.B. Cohn, „Grundlegung der National» ökonomie" 85). Aber auch die Sitte macht sich vielfach als eine äußere Macht geltend, von welcher nicht selten eine unwiderstehliche Nötigung zu einem bestimmten Verhalten ausgeht. Die Verletzungen ihrer Vorschriften werde« durch die Gesellschaft gerügt z. B. durch Ausschluß de- Schuldigen aubestimmten Kreisen oder Vereinen, also durch eine Verwirklichung äußerer Nachteile. Selbst bei den Geboten einer herrschenden Religion und hzw. Moral ist ein derartiges Machlelement vielfach zu konstatieren. Das Unterscheidende liegt nicht in dem Vorhandensein, sondern in der Organi­ sation dieses Elementes. 3. Das Recht sei ausreichend charakjerisiert als eine „gemeinsame Überzeugung der in Gemeinschaft Lebenden". Aber einerseits gibt eg gemeinsame Überzeugungen, und zwar das Handeln betreffende, welche mit dem Rechte nichts zu tun baden. So diejenigen, welche in der Sitte, der herrschenden Moral und Religion einen , Ausdruck finden. Gemetnsame Überzeugungen können auch die Unentbehrlichkeit der Erwerbung von Kolonien, die Notwendigkeit eines Krieges u. a. betreffen. Andezsrseits entspricht der Inhalt des Rechts keineswegs überall gemeinsamen Überzeugungen. Vielfach zeigt dieser vielmehr die Merkmale eines Kom­ promisses zwischen einander bekämpfenden Überzeugungen, Vielfach auch entspricht er lediglich der Überzeugung einer Mehrheit, fef es im Volke, sei es unter denjenigen, welche an der Macht find. Wesentlich ist ibm nur, daß es bezüglich seines obersten Imperativs („gehorche meinen Vorschriften") und, waS hiersttr entscheidend ist, bezüglich., des Gesamtcharakters seiner Wirksamkeit im Einklang mit herrschenden Überzeugungen und durch die moralischen Faktoren unterstützt ist. 4. Das Recht sei ausreichend charakterifiert als „Allgemeiner Wille", oder als „Volkswille" oder endlich als „StaatSwive". Abgesehen davon, daß der im Rechte sich äußernde Wille durch keinen dieser Ausdrücke exakt bezeichnet ist (vgl. § 43), lasten sich jedem dieser Willen Äußerungen zu­ schreiben, welche mir dem Rechte offenbar nichts zu schaffen haben. So äußert sich der StaatSwille u. a. in Krieg und Frieden dem Auslande gegenüber, ohne daß fein, sei es feindliches, sei es fteundlicheS Wollen tu dieser Richtung sich als Recht bezeichnen ließe. Wenn ferner der Wille eines Staates sich in dem Betriebe von Bergwerken oder in der Fabrikation und dem Verkaufe von Zigarren äußert, so hqt dies ohne Zweifel eine Bedeutung auch für daS objektive Recht. Aber eS ist leicht einzusehen, daß der Gehalt und die Bedeutung dieser WillenSbetätiguug nicht ausgehe in dem, waS daran Juristisches ist. DaS Recht läßt sich nicht definieren mit Beiseite­ lassung der Funktionen, welche ihm im vorhergehenden beigelegt wordeu sind. Will man das Willensmoment in seiner Definition voranstellen, so läßt sich nur sagen: Recht ist der Wille, der sich in jenen Funktionen äußert. 5. Das Recht sei durch die Form der Gesetzgebung von jenen anderen Mächten unterschieden. Hierüber vgl. den 3. Abschnitt. 6. Das Recht sei der Inbegriff derjenigen Normen, deren Befolgung die fortdauernde Existenz eines bestimmten Gesellschaft-zustandes möglich mache, also das „ethische Minimum", oder daS Ganze der ErhaltungSdedinguugen der Gesellschaft, soweit diese vom menschlichen Willen ab-

56

Erstes Kapitel.

Erster Abschnitt.

hüngig sind. Verkannt ist hier zunächst, daß auch jene anderen ethischen Mächte Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft verwirklichen. Rom und Griechenland würden sich keinen Tag auf der von ihnen erreichten Höhe nationalen Lebens behauptet haben, wenn nicht über daS Mab der vom Rechte formulierten Pflichten hinaus Vaterlandsliebe, Opferwilligkeit usw. sich geltend gemacht hätten, und wenn nicht dem Rechte die Sitte und die Religion in bezug aus die Wahrung der Bedingungen jenes Leben­ zugesellt gewesen wären. Nicht einmal für die Fortdauer der gegebenen Zustände innerhalb einer einzelnen, eine gewisse Höhe geistigen Lebenvertretenden Familie stellt das Recht für sich allein die sämtlichen Be­ dingungen her, geschweige denn für die Fortexistenz des gesamten GesellschaftSzustandes! Ignoriert ist hier ferner der geschichtliche Differeuzierungsprozeß, welcher qualitative Verschiedenheiten zwischen jenen Mächten zur Ausbildung aebracht und dem gesellschaftlichen Interesse, welches am Leben aller teilhat, nicht bloß verschiedene Träger und ver­ schiedene Sonnen der Betätigung, sondern auch verschiedene Ziele und einen verschiedenen Inhalt (§ 126) gegeben hat. Dem Verhältnis der besprochenen Mächte entspricht das Verhältnis der betreffenden Wissenschaften zu einander. Speziell ergibt sich auS jenem, wie die Wissenschaft des Rechts, und bzw. ihr allgemeiner Teil (die all­ gemeine Rechtslehre oder Rechtsphilosophie) mit der Wissenschaft der Moral oder Ethik im engeren Sinne dieses Worts zusammenhangt. Insoweit spezifisch moralische. Kräfte an der Ausbildung und dem Bestände der dem Rechte wesentlichen Eigenschaften teilhaben (§ 36, 47 ff.), ist ein für beide Wissenschaften gemeinsames Objekt gegeben und in der Erforschung des Wirkens dieser Kräfte eine beiden gemeinsame Aufgabe. Insoweit sie auf diese Bezug hat, ist Ml)er die ethische Litteratur derjenigen zur allgemeinen Recht-lehre beizugesellen. Aus jener seien hervorgehoben. Herbert Spencer, Die Tatsachen der E.(thik), deutsche Ausg. v, Better 79. v. Hartmann, Das sittliche Bewußtsein, 2. A. 86. Laas, Idealst u. positivistische E. 82. Schopenhauer, Grundprobleme der E., 2. A. 60. Landman n (Herbartianer), Hauptfragen der E. 74. Lazarus, Ursprung der Sitte, 2. A. 67. Pfleiderer, Die Religion, Wesen u. Geschichte 69. v. Oettingen, Moralstatistik in ihrer Bedeutung f. e. christl. Sozlalethik, 3. A. 82. Baumann, Handb. der Moral nebst Abriß d. R.phitos. 79. Sig. Exn er, Moral als Waffe im Kampf ums Dasein 92. J. St. Mill. Utilitarianism, 7. 91. 64. Jodl, Gesch. der E. in d. neueren Philvs 82/9. Guy au, La morale Anglaise contemporaine etc., Paris 78f. Gaß, Gesch. d christl. E. 81/6. Ziegler, desgl., 2. A. 92. Lemme, Christl. E. 09. Wund t, E, Untersuchung der Tat­ sachen u. Gesetze des iittl. Lebens, 4. A. 12. Syst. d. Philos., 3. A. 07. Völkerpsychologie, II (Mythus u. Religion) 05 f. Elemente der Bölkerpsychol. 12. Paulsen, Syst. d. E. mit e. Umriß der Staats- u Gesell­ schaftslehre, 7. A. 06. Adickes, Eth Prinzipienlehre, Z. f. Philos. 116f. Simmel, Einleitung i. d. Moralwissenschaft, 3. A. 11. Soziologie 08. Vorträge über Kant. 3. A. *2. Cohen (Neukantianer), Syst. der Philos.il, 2. A. 07. Kauls Begründung der E. nebst ihren Anwendungen auf R, ReUg , Gesellschaft, 2. A. 10 Hensel, Hauptprobleme der E 03. Hoff-

57

Seine Einteilungen.

Zweiter Abschnitt.

Leine Einteilungen. § 81. Man unterscheidet die Rechtssätze:

1. mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Subjekte, von welchen sie ausgehen,

2. mit Rücksicht auf die Verschiedenheit ihres Inhaltes, 3. mit Rücksicht auf die verschiedene Weise ihrer Ent­ stehung.

I. Einteilungen mit Rücksicht auf die Subjette. § 82. Mit Rücksicht ans die Subjekte, von welchen die RechtS-

sätze ausgeheu, scheidet sich das Recht jedes Staates von dem Rechte jedes anderen Staates, von dem Rechte jeder selbständigen kirch­

lichen Gemeinschaft, und von dem Völkerrechte; sondert sich m Deutschland das von der Reichsgewalt ausgehende Recht von dem

Rechte der deutschen Gliedstaaten. *§ 83.

In einem größeren Gemeinwesen können mehrere rechtSbildende (insbes. gesetzgebende)

Subjekte

derart

nebeneinander

existieren, daß eines von ihnen für das Ganze, die anderen nur für bestimmte Glieder desselben (z. B. für Provinzen eines Staates oder Gliedstaaten eines Bundesstaates) Rechtssätze zu schaffen be­

rufen sind. Die von jenem ausgehenden Rcchtssätze heißen „gemeines

Recht",

die anderen „partikuläres Recht" dieses Gebietes

(s. § 466, 556).

58

Erste- Kapitel.

Zweiter Abschnitt.

II. Einteilungen mit Rücksicht aus den Inhalt. I. ^ffentNche» «ab ztrinatrecht.

§ 84.

Der Inhalt der Rechtssitze ist abhängig von der Beschaffen­

heit der BerhLltniffe, welche ihre Ordnung von ihnen empfangen. Hierbei kommen vor allem die Beschaffenheit der Jntereffrn und der Interessenten in Betracht, welche fich in diesen Ber­

hLltniffe« gegenüberstehen und deren Machtgebiete gegen einander abzugrenzen sind. Bgl. zu II: Eavigny, System bH heutigen röm. R. 1,40. Thöl, Einleitung in da» deutsche Privatr. 51. Thon, Rechtsnorm usw., S. 108. Bierling, KritikII, 149. Jelliuek, Staatslehre371, System 54.

§ 85.

Einen wichtigen Gegensatz bilden biet PrivatverhLltnisse und öffentliche Verhältnisse. Dort stehen individuelle Jntereffen und Machtgebiete eben

solchen gegenüber.

Man denke an BerhLltniffe zwischen GntK-

nachbarn, Käufern und Verkäufern aus dem Markte, Mietern und Vermietern, den Mitgliedern einer Handelsgesellschaft.

Hier stehen zum mindesten auf einer Seite öffentliche Jntereffen (Jntereffen deS Staates, der Kirche rc.), welchen auf der anderen Seite wiederum öffentliche Interessen oder auch indivi­

duelle Jntereffen gegenüberstehen können.

Man» denke an die

BerhLltniffe zwischen Staat und Kirche, König und Parlament, Gemeinde und Staat, Staat

und Verbrechern, Gerichten und

Angeklagten, Polizei und Bürgern. § 86.

Diesem Gegensatze entspricht die Scheidung deS Privat­ rech tS (Zivilrechts oder bürgerlichen Recht-), welche- die Privat-

verhSltniffe, vom. öffentlichen Rechte, welches die öffentlichen BerhLltniffe zum Gegenstände hat und zu RechtSverhältniffeu erhebt.

Öffentliche« tut! Privatrecht. Diese Einteilung ist um

ihrer

69

fundamentalen Bedeutung

willen näher zu betrachten.

§ 87. Für das öffentliche Recht ist charakteristisch, daß an ihm öffentlich« und gemeinsame Interessen in einem zweifachen Sinn« und zwar unmittelbar teilhaben.

Erstlich in der aktiven Rolle, welche diesen Interessen nach der Ratnr des Rechts in dessen gesamten Gebiete zufällt, als dem

für seine Funktionen überall maßgebenden Prinzip.

Zweitens aber als ein Gegenstand dieser Funktionen, in der passiven Rolle von Interessen, deren Machtgebirte durch daS Recht einerseits beschirmt, andererseits begrenzt- werden.

§ 88. Die Bestimmungen

des

öffentlichen Rechts über die Be­

strafung von Berbrechen — man denke etwa an Hoch- oder Landes­

verrat — mögen zum Beispiel dienen. An ihnen haben einerseits diejenigen öffentlichen und gemein­

samen Jnteresien (und bzw. Überzeugungen) Anteil, welche in allem

Rechte wirksam find und diesem seinen spezifischen Charakter ver­ leihen alS einer über den Gegensätzen und Kollisionen des gesell­ schaftlichen LebenS stehenden und einem jeden einerseits Schranken

ziehenden, andererseits daS Seine zuerknnenden Macht,

öffentliche und gemeinsame Jntereffen kommxn hier aber

zugleich als ein Gegenstand dieser schützenden und beschränkendm Funktionen des Rechts in Betracht.

In dem Streitverhältnis,

welches durch diese Funktionen seine Ordnung empfängt, fordern öffentliche Jntereffen alS unmittelbar beteiligte Faktoren ihr Recht dem Verbrecher gegenüber.

Sie erscheinen hier gleichsam alS die

klagende Partei, deren Ansprüche in den Recht-bestimmungen ihre Anerkennung und zugleich ihre Begrenzung finden.

(Ihnen stehen

andere öffentliche Jntereffen gegenüber, welche in der häufig obli­ gatorischen Verteidigung zum Ausdruck kommen, dgl. § 839.]

60

Erstes Kapitel.

Zweiter Abschnitt.

In dem einzelnen Prozeßfall erscheint der Richter als daS Organ jene- zuerst charakterisierten, der öffentliche Kläger (der Staatsanwalt) als das Organ des zuletzt charakterisierten öffentlichen Interesses. In dem bezeichneten Sachverhalte findet es zum Teile seine Erklärung, daß das öffentliche Recht langsamer zu doller und gesicherter Ausbildung gelaugt und die dem Rechte zukommende Eigenschaft einer überparteilichen Macht nicht in dem Maße zu reiner Entfaltung zu bringen vermag, als da- Privatrecht.

§ 89.

Im Privatrechte dagegen treten öffentliche Interessen im allgemeinen nur in der ersterwähnten aktiven Rolle in unmittelbarer Weise hervor, als Seele der ordnenden und friedenverbürgenden Funktionen der Schiedsmacht, welche das Recht heißt.

Als passiv beteiligte Faktoren, auf welche diese Funktionen sich beziehen, stellen sich hier Privatinteressen vor Augen.

8 90. Diesem Gegensatze entsprechen Verschiedenheiten in der Art und Weise, in welcher das Recht seine an sich überall gleiche

Aufgabe einerseits gegenüber den Privatverhältniffen, andererseits gegenüber den öffentlichen Berhältniffen zur Lösung bringt.

8 91. Privatverhältniffen gegenüber beschränkt sich das Recht vielfach

daraus, den Beteiligten die gleiche Geltung ihres Willens und die Bedingungen einer freien Wirksamkeit im Verhältnis zu einander

in einer Sphäre des Friedens zu verbürgen. Die Voraussetzung dabei ist, daß die beteiligten Jntereffen im übrigen ihre natürlichen Sachwalter in den beteiligten Privat­

personen haben, und daß sie ihre Befriedigung (entweder allein oder am besten) durch die freie Betätigung der individuellen Kräfte

zu finden vermögen.

§ 92. Öffentlichen Verhältnissen gegenüber macht sich im allgemeinen die entgegengesetzte Voraussetzung geltend, daß nämlich die Ver­ tretung der beteiligten Interessen nicht in die Willkür einzelner ge-

Öffentliche- und Privatrecht.

61

stellt und von deren freien Vereinbarungen abhängig gemacht werden

könne, daß diese vielmehr einer allseitigen und bindenden Regelung bedürfe.

So sind gemäß dieser Voraussetzung die Beziehungen staat­ licher Behörden zueinander und deren Tätigkeit Allseitiger durch bindende Rechtsnormen bestimmt als etwa die Beziehungen zweier

Geschäftshäuser zu einander und deren geschäftliche Wirksamkeit. Genauere Auskunft darüber, waS hiernach für die privatrechtlichen Verhältnisse einerseits, die öffentlich-rechtlichen andererseits charakteristisch sei, in dem von den Rechtsverhältnissen handelnden Teile, § 191 ff.

§ 93.

Der Gegensatz zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht ist jedoch kein absoluter.

Bei der Ordnung der Privatverhältnisie er­

scheinen überall neben den Jntereffen der Einzelnen, welche unmittel­ bar durch dieselbe betroffen werden, zugleich, in näherer oder ent­ fernterer, in bald mehr, bald minder fühlbarer Weise, die gemein­

samen Jntereffen als passiv beteiligt.

Damit hängt:

1. der gemischte Charakter mancher Teile des Rechts, 2. die Veränderlichkeit der Grenzen zwischen Privatrecht und

öffentlichem Recht zusammen. Die Ordnung aller Privatverhültniffe berührt die Gesamtheit nicht bloß insofern, als es für sie bedeutsam ist, daß diese der allgemeinen Friedensordnung eingefügt seien, sondern auch kraft der fördernden oder hemmenden Einwirkung, welche diese Ordnung aus die beteiligten Privatintereffeu auSübt, da ja daS Wohl des Ganzen nicht unabhängig fft von dem Wohle der Einzelnen, seiner Glieder. Insofern hat das Recht in keinem seiner Teile den Charakter eines Privatinstituts. Man nehme etwa die Verhältnisse zwischen Arbeitern und Unternehmern. Die Ge­ samtheit hat hier nicht bloß daS formale Interesse, datz diese in friedlicher Weise sich regeln, und daß bei etwaigem Streit eine unparteiische richter­ liche Entscheidung gefunden werden kann, sondern auch daS sachliche Ju­ tereffe, datz diese Verhältnisse überall inhaltlich so geordnet werden, wie es dem Wohle der Beteiligten am besten entspricht. Wenn gleichwohl die nähere Regelung solcher Verhältnisse im allgemeinen den freien Verein­ barungen der beteiligten Privaten überlassen wird fund früher in noch weit höherem Matze überlasten toar !J, und wenn überhaupt irgendwelche Verhältnisse, trotz des überall bestehenden Zusammenhangs mit den öffent­ lichen Jntereffen, als Privatverhältnisse geordnet werden, so kann der Grund davon liegen und lag nicht selten:

Erstes Kapitel.

62

Zweiter Abschnitt.

a) darin, daß hinsichtlich deS Zusammenhangs dieser Verhältnisse mit den öffentlichen Interessen kein deutliches Bewußtsein existiert, b) darin, daß man annahm, die zweckmäßigste Gestaltung dieser Verhältnisse sowohl für die nächstbeteiltgten Privaten wie für die Gesamtheit werde am ehesten erreicht werden, wenn man sie d?n freien Entscheidungen und Vereinbarungen jener Nächst­ beteiligten überlasse, c) in dem Selbständigkeitsstreben der Einzelnen und der Bedeutung, welche demselben auch für die Gesamtheit zukommt. Diese Gründe geben, wie leicht einzusehen, keine allgemeine Ent­ scheidung der Frage an die Hand, wie die Grenze zwischen Privat- und öffentlichem R. zu ziehen sei, erklären aber die in den folgenden Para­ graphen hervorgehobenen Erscheinungen. -.. „Über die soziale Aufgabe deS PrivawechtS" vgl. Gierke, 89. Sohrn, Über den Eutw. eines B. 95.

Menger, R.it die besitzlosen Volk-klassen, 3. 91.04. Planck, B. u. die arbeitenden Klaffen, tn 5$. 09,23. Riezler, Arbeitskraft u. -freiheit in privattechtl. Bedeutung, ArchBR. 27. de la Grasserie, Principes sociologiques du dr. civil 06. — Kleiner, Umbildung zivilrechtl. Institute durch oaS öffentl. R. 06.

8 94.

ad 1.

Bei der Ordnung solcher Verhältnisse, welche im

übrigen als Privatverhältnisse gelten, werden vielfach doch hinsicht­

lich einzelner Fragen öffentliche Interessen als direkt beteiligt er­

achtet und zum Maßstab für deren Behandlung genommen.

Das

Ganze der auf diese Verhältnisse bezüglichen Rechtsnormen erhält hierdurch einen gemischten Charakter. Einen solchen hat insbesondere das Familienrecht (f. § 195, 697 ff.). § 95.

ad 2.

Änderungen in den Verhältnissen sowie Änderungen

in der bloßen Auffassung von solchen können dahin führen, daß Ver­

hältnisse, welche bis dahin als Privatverhältnifle behandelt worden

waren, jetzt als öffentlich-rechtliche normiert werden, weil nach der zur Herrschaft gelangten Auffassung gemeinsame Interessen als direkt

und in bedeutsamer Weise beteiligt erscheinen; oder auch umgekehrt, daß bisherige öffentlich-rechtliche Verhältnisse unter die Herrschaft des Privatrechts gerückt werden.

§ 96.

So sind die Gegenwirkungen gegen zahlreiche Verbrechen, z. B. gegen Diebstähle, bei vielen Völkern zuerst im Sinne des

Ergänzendes und zwingendes Recht.

63

Privatrechts, erst später im Sinne des öffentlichen Rechts geregelt worden.

Die Gesamtheit sah sich hier zuerst nicht als direkt beteiligt an, sondern die verletzten Privaten als die natürlichen und allein

berufenen Sachwalter der in Frage stehenden Interessen, während sie gegenwärtig sich selbst als unmittelbar in ihren Jntereffen getroffen und als den Hauptintereffenten bei der Bestrafung beS

Verbrechers betrachtet (§ 291 ff.). § 97.

Umgekehrt ist bei vielen Völkern die Bebauung des Bodens in bestimmten Perioden im Sinne einer gemeinsamen Angelegen­ heit, und also den Grundsätzen deS öffentlichen Rechts gemäß,

geregelt gewesen, später aber dem privaten Betrieb überlasse» und unter die Herrschaft privatrechtlicher Grundsätze gezogen worden. Vgl. über die Relativität des Gegensatzes zwischen Privat- und Sffentlichem Recht auch die § 195f„ 252- 59, 281, 287ff., 305f. § 98.

Die Teile des

öffentlichen Rechts — Staats- und Ber-

waltungs-, Straf-, Prozeß-, Kirchen-, Völkerrecht —, sowie die­

jenigen des Privatrechts — Vermögens-, Familienrecht — werden im besonderen Teile charakterisiert werde».

2. KrgLnzend,» und zwingend« Mecht. *§ 99.

Man unterscheidet Rechtssätze, welche diejenigen, deren Ver­ hältnisse sie ordnen, nut binden wollen, sofern dieselben nichts Abweichendes vereinbaren — „ergänzendes, nachgiebiges" Recht,

„ins dispositivum“, und

Rechtssätze, welche unbedingt zur Anwendung kommen wollen — „zwingendes",

„absolutes"

Recht,

„ius cogens“

in dem

engerm Sinne dieser Worte. Das Privatrecht besteht gemäß dem vorher bezeichneten Cha-

64

Erstes Kapitel.

Zweiter Abschnitt.

ratter vorzugsweise aus „ergänzenden" Rechtssätzeu, das osfente liche Recht wesentlich aus lus cogens. Diese Einteilung fällt jedoch keineswegs vollkommen zusammen mit derjenigen von Privatrecht und öffentlichem Recht. Die meisten auf Kauf, Tausch, Miete und überhaupt aus die Vermögensverhältnisse bezüglichen Rechtsbestimmungen sind zwar bloß ergänzender Natur. (Beispiele im Abschnitt über den Kauf § 672 ff.) Jedoch fordern nicht wenige Privatrechtssätze eine unbedingte Anwendung, indem sie den beteiligten Indivi­ duen einen Schutz unabhängig von ihrer eigenen Einsicht und ihrem Willen gewähren wollen. So die Bestimmungen über die Förmlichkeiten mancher Geschäfte (§ 248); über den Anspruch aus Schadensersatz bei bös? williger rechtswidriger Schädigung; so zahlreiche Sätze des FamilienrechtS (§710); manche im B. über den Dienstvertrag. Andererseits finden sich auch im öffentl. (z. B. dem Prozeß-) Recyr mancherlei Bestimmungen diSpoflttver Natur. Bülow und Stammler in ZivPr. 64 und 69. Ehrlich, Zwingendes und nicht zwingendes 9t. tm B. 99. Ehrenberg, Frei­ heit und Zwang auf dem Gebiete des Berkehrsrechts 05.

3. Heöieteudes und ertaubendes Itecht. *§ 100. In der wörtlichen Fassung der Nechtssätze tritt bald die

gebietende, befehlende, bald die erlaubende, gewährleistende, Be­

fugnisse begründende Funktion des Rechts einseitig hervor?)

Mit

Rücksicht hierauf hat man „gebietende" und „erlaubende" Rechts­ sätze unterschieden.

Aber soweit hier nicht eine Zufälligkeit der Ausdrucksweise vorliegt?) hat die einseitige Fassung ihren Grund lediglich darin, daß in der einen ober anderen Richtung das dringlichere Interesse

an der Klarstellung des dem Rechte Gemäßen besteht?)

Oder

auch darin, daß ein Rechtsverhältnis sich kürzer und einfacher

durch die Bezeichnung der zu gewährenden Befugnisse als durch diejenige der korrespondierenden Pflichten (ober umgekehrt leichter

burch die Bezeichnung der Pflichten) charakterisieren läßt?)

Ein Gegensatz bezüglich des Inhalts hier in Wahrheit nicht vorhanden.

der Rechtssätze ist

Weder gibt es einen gebieten­

den Rechtssatz, der für niemanden bedeutsam wäre bezüglich der Frage, was ihm erlaubt sei, noch einen erlaubenden, der für nie-

65

Gebietendes und erlaubendes Recht.

ntanben direkt oder indirekt Beschränkungen mit sich führte und

für niemanden eine imperative Bedeutung hätte. 1. Häufig wird aber auch einfach der entscheidende Vorgang be­ schrieben. durch welchen die Befugnis auf der einen Seite, die Beschrän­ kung auf der anderen zur Erscheinung gelangt. Ein Beispiel: „die Be­ leidigung wird mit Geldstrafe . . . bestraft". 2. Vielfach kann mau die gebietende Form in eine erlaubende (zu­ erkennende) umwandeln, oder die erlaubende in eine gebietende, ohne daß dies irgendeine Bedeutung hätte. Z. B. statt: „dem Auslande gegenüber haben alle Deutschen gleichmäßig Anspruch auf den Schutz des Reiche-", könnte man ebensogut sagen: „dem Auslande gegenüber ist allen Deutschen der Schutz deS Reiches gleichmäßig zu gewähren". 3. Man denke an die Auferlegung von Steuern, an die Verpflich­ tung desjenigen, der fremde Sachen unbefugt zerstört, dem Eigentümer Ersatz zu leisten, an polizeiliche Beschränkungen des Straßenverkehrs, des Verkaufs von Gift usw. Hier überall kommt es vor allem darauf an, denjenigen, welchen Beschränkungen auferlegt werden, dies zu wissen zu tun. 4. Beispiele: „dem Kaiser steht eS zu^ Bundesrat und Reichstag zu berufen". „Der Reichstag hat daS Recht. . . Gesetze vorzuschlagen". Wollte man hier die Form des Zuerkeuneus durch die Form von Ge­ boten ersetzen, also die den Befugnissen korrespondierenden Pflichten be­ schreiben, so würde dies zu großen Weitläufigkeiten und stilistischen Sonderbarkeiten führen. Außerdem macht sich hier der zuvor bezeichnete Gesichtspunkt geltend. — Schließlich wird die Form des Erlaubens häufig dort angewendet, wo man besonders hervorheben will, daß ein Verbot fich auf bestimmte Fälle nicht erstrecke. Es subsumiert sich dies entweder dem ad 3 oder dem ad 4 erwähnten Gesichtspunkte.

III. Einteilungen mit Rücksicht auf die Entstehungs­ formen. § 101.

Mit Rücksicht auf die Entstehungs- und bzw. Er­ scheinungsformen der Rechtssätze unterscheidet man „Ge­ setzesrecht", „Gewohnheitsrecht" usw.

Hierüber Spezielleres im

nächsten Abschnitt. Es handelt fich hierbei nicht Hof), wie angenommen zu werden pflegt, um eine verschiedene Entstehungsweise. Vielmehr entsprechen der ver­ schiedenen Entstehung Verschiedenheiten der Merkmale, an welchen wir da- Vorhandensein der Normen und ihre Eigenschaft, verbindliche Rechts­ normen zu sein, erkennen. So besteht der im Wege der Gesetzgebung entstandene Rechtssatz in der Form des Gesetzes fort, und diese Form ist bestimmend für die Art seiner Auslegung (s. § 104).

Merkel, Juristische Eu-yklopüdie.

5. Aufi.

5

66

Erstes Kapitel.

Dritter Abschnitt.

Dritter Abschnitt.

Leine Entstehung.

L EnlstehungSformen (Lehre von den „Rechtsquellen"). § 102. Die normale Weise, in welcher im heutigen Rechtsleben

Rechtssätze zur Entstehung kommen, ist die der Gesetzgebung.

In ihr äußert sich der in der Gemeinschaft herrschende Wille mittels besonderer Organe und in bestimmten Formen nach Maß­ gabe der in der Gemeinschaft bestehenden Verfassung. Zur Lehre von den R.quellen überhaupt: Savigny, Vom Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung und R.wissenschafr 14. System des heut, römischen R. I, 40. Blnhme, Übersicht der in D. geltenden R.quellen, 2. A. 54 (1. T. der in §2 zit.Enz.). Thöl, Einleitung in das d. Privatr. 51. AdickeS, Zur Lehre von d. R.q. 72. E. Meier, Rechtsbilduug iu Staat und Kirche 61. Sturm, R. und R.quellen 83. Kohler, R. und Prozeß, GrünhZ. 13. Schultze, Pcivan. u. Prozeß in ihrer Wechselbeziehung 83. Bergdohm, Naturrecht der Gegenwart 92 (behcnlptet die begrifflich not­ wendige Lückenlosigkeit jedes R.; dazu Merkel, Sammlung 729). Da* gegen Jung, Bon der „logischen Geschlossenheit" des R. 00; „Positives R." 07; Problem des natürlichen R. 12. Ehrlich, Beitr. z. Theorie der R.q. 02. Zitelmann, Lücken im R. 03. — Zur L. von der Gesetz­ gebung Laband, Staatsrecht § 54ff. Zitelmann, Kunst der Gesetz­ gebung 04 und in GrünhZ. 33. Kohler, Technik der G., ZivPr. 96. Wach, Legislative Technik 08. Hedemann, Die Kunst, gute Gesetze zu machen 11. Eisele, Unverbindlicher Gesetzesinhalt, ZivPr. 69. — S. 8418s.

8 103.

Zu diesen Formen gehört überall eine Aufzeichnung und Kundbarmachung des Rechtssatzes.

DaS so-entstandene Recht — das Gesetzesrecht — ist da­ her seiner wesentlichen Erscheinungssorm nach „geschriebenes Recht"

(ins scriptum). § 104. Aus dem Gesagten folgt:

1. Nur das ist Gesetz oder ein Bestandteil eines solchen, was

in einer verfassungsmäßig zustande gekommenen und publizierten

EntsLehungssormen (Lehre von den „Recht-quellen").

67

Urkunde einen (gleichviel ob vollkommenen oder unvollkommenen) Ausdruck gesunden hat. 2. Was der Wortlaut der publizierten Urkunde an die Hand

gibt, ist nur unter der Voraussetzung Gesetz, daß es der Willens­ meinung des Gesetzgebers zum Ausdruck dient, nicht etwa aus

bloßem Versehen in die Urkunde gelangt ist.

Wir können an den Gesetzen wie an allen Rechtsbepimmungen eine äußere und eine innere Seite, corpus und animus unterscheiden. Fehlt eines dieser Momente, so ist kein Gesetz vorhanden. Hiernach ist u. a. die Bedeutung der bei der Redaktion von Gesetzen vorkommenden Ver­ sehen zu beurteilen. Zu unterscheiden von dem Falle, wo die Willensmeinung des Gesetz­ gebers keinen Ausdruck gefunden hat oder der vorliegende Wortlaut mcht gewollt war, ist der andere, wo das Gewollte und richtig zum Ausdruck Gebrachte in der Anwendung Konsequenzen hervortreten laßt, welche nicht vorgesehen waren, oder in seinen Wirkungen den Voraussetzungen, Wünschen und Endabsichten des Gesetzgebers nicht entspricht. Derartige Mängel schließen das Vorhandensein eines verbindlichen Gesetzes nicht aus, sondecn enthalten nur ein Motiv für den Gesetzgeber zur Korrektur seiner Arbeit. S. die „sehr feinen Reflexionen" Merkels über „Analogieund Auslegung des Gesetzes, im Handb. des d. Strafrechts", Hrsg, von Holtzendorff II, 65; IV, 73 (z T. abgedr in „Verbrechen" als § 104).

§ 105. Die gesetzgeberische Tätigkeit bringt aber zugleich Rechtssätze zur Entstehung, welche nicht selbst Bestandteile eines Gesetzes sind und für welche die aufgestellten Sätze keine Geltung haben, Rechts­ satze, für deren Existenz nicht der Inhalt der gesetzgeberischen

Willensäußerungen, sondern deren Voraussetzungen entscheidend

sind.

Merkel, 1. c. Jhering, Geist des röm.«. (3. A.) 1,28ff., II, 334 ff. v. Wächter, Gesetzes- u. RechtSanalogir im Strafr., GvltdArch. 44. § 106. Eine gesetzliche Bestimmung nämlich stellt sich, logisch be­ trachtet, als eine Anwendung eines allgemeineren, als gültig

vorausgesetzten, Urteils auf besondere Verhältnisse dar.

Dieses

allgemeinere Urteil nun — der Obersatz in dem Syllogismus,

welcher jener Bestimmung zugrunde liegt — nimmt unter ge­ b'

(Erftfl Kapitel.

68

Dritter Abschnitt,

wissen Bedingung«» selbst die Bedeutllng eine- Recht-satze- bzw.

einer Quelle von Recht-sitzen in Anspruch. § 107.

Ein Beispiel!

Die Unterscheidung von Mord und Totschlag

im deutschen Strafgesetzbuch (f. § 772) erhält eine Anwendung de- allgemeineren Urteil-, daß da- mit Überlegung au-geführte Delikt unter sonst gleichen Voraussetzungen eine höhere Strafbar­

keit begründe, al- da- ohne Überlegung (in heftiger Gemüt-erregung) au-geführte.

Diese- Urteil ist in seiner Allgemeinheit zu keinem gesetzlichen Au-druck gelangt; gleichwohl wird ihm eine allgemeine Bedeutung

zuerkannt, und da- hervorgehobene Moment demgemäß auch bei Delikt-arten berücksichtigt, bei welchen der Gesetzgeber seiner nicht

gedankt, sofern nur da- gesetzliche Strafmaß dafür Spielraum läßt. 8 108.

Man spricht hier von einer

„analogen Anwendung­

sAnalogie) derjenigen Bestimmungen, in welchen jene- allgemeinere

Urteil zur Anwendung gelangt ist, also in unserem Beispiele von einer analogen Anwendung der Bestimmungen über Mord und

Totschlag. § 109.

Diese analoge Anwendung gegebener Gesetze ist jedoch nur

insoweit zulässig, «16 nicht der Inhalt oder die Voraussetzungen anderweitiger Gesetze sich entgegenstellen, also nur mit Beziehung

aus solche Verhältnisse, die nicht in anderer Weise bereit- durch da- Recht okkuppiert sind, und für welche sich de-halb ohne sie

eine Lücke im Recht-systeme herau-stellen würde. § HO. Z. B. sind dem allgemeinen Urteil, welche- dem Strafgesetze

über vorsätzliche und rechtswidrige Beschädigung fremder Sachen

Entstehung-formen (Lehre Den den .Recht-quellen").

69

zugrunde liegt, auch gewisse andere Arte« vorsätzlicher und rechts­ widriger Beschädigung eine- fremde« BermögenS zu subsumieren, und es würden demgemäß die Bedingungen einer analoge« An­

wendung jene- Gesetzes auf diese anderen Beschädigungsarten vor­ liegen, wenn nicht der wichtige Grundsatz deS geltenden Recht- sich

rntgegenstellte (§ 758), daß nur solche Handlungen bestraft werden dürfe», welche der Inhalt eineS Gesetze- für strafbar erklärt. 8 HlDie RechtSsütze, welche in dieser Form einer analogen Air­

wendung gegebener Gesetze wirksam werden,

Gültigkeit

au-

allgemeinen,

gesetzlich

leiten ihre positive

oder gewohnheitsrechtlich

sanktionierten Grundsätzen her. Wo ein besonderer,

die Gültigkeit

statuierender RechtSsatz

nicht vorhanden ist, da ergibt sie sich au- den Grundsätzen, welche für die Stellung der Gerichte zum objektiven Rechte bestimmend

sind, und nach welchen diese die Entscheidung von Rechtsfragen nicht mit Berufung aus Lücken im Inhalte der Gesetzgebung ab­

lehnen dürfen, den Maßstab für die Entscheidung dieser Fragen

aber soweit immer möglich dem geltenden Rechte entnehmen sollen.

Diesen Maßstab vermögen sie, wo der Inhalt der Gesetze versagt,

auf dem bezeichneten Wege zu gewinnen. 8 112.

Rechtssätze

können sich ferner bilden, und bildeten sich in

älterer Zeit zumeist, in der Form deS Herkommens, d. i. in der Form einer konstanten und übereinstimmenden Befolgung einer Regel, worin die Tatsache ihrer verpflichtenden Kraft zum Vor­

schein kommt.

*§ 113. Ein solches Herkommen erhebt sich zum Recht,

sobald die

Merkmale an ihm hervortreten, welche al- für di« Wirksamkeit de- Rechts charakteristisch bezeichnet worden find, speziell sobald

70

Erstes Kapitel.

Dritter Abschnitt.

es als eine verbindliche Norm für gerichtliche Entscheidungen an­ gerufen werden kann. Dies ist das „Gewohnheitsrecht". Das formale Merkmal des R. (§ 79) wird hier stets in der hervor­ gehobenen Weise zur Verwirklichung kommen. Wo aber dieses gegeben ist, da sind auch die sachlichen Merkmale des R. (§71 ff.) vorhanden. Gewohnheitsrecht kann sich als ein das Gesetzesrecht ergänzendes praeter legem, grundsätzlich aber auch als ein dasselbe abÄnderndes contra legem bilden (derogatorisches G., desuetudo; s. jedoch § 115). Erlangt eine Regel nur für eine begründete Gruppe (Gemeinde, Staub) Geltung, so spricht man von Observanz. Puchka, Das Gewohnheitsrecht 28/37. Beseler, Volks- u. Juristenrecht 43. Zitelmann, G. und Irrtum in ZivPr. 66. Eisele, eod. 69. G. Rümelin,JherF. 27. Schuppe, Das Gewohnheitsrecht 90. Besprechung dieses Werkes von Merkel in den.„Philosoph. Monats­ heften- 27 (Sammlung 648). Gierke, D. Privatrecht § 20. Esser, Derogator. Kraft des G. 88. Danz, in JherJ. 38. Crome, eod. 39. Br. Schmidt, G. als Form des Gemeinwillens 99. Sturm, Revision der gemeinrechtl. L. 00. Ehrlich, Die Tatsachen des G. 07. Örtmann,

Volks- und Gesetzesrecht 08. Brie, Geschichtliche Grundlagen 99; Stel­ lung der d. R.gelehrten der Rezeptionszeit 05.

*§ 114.

Die Bedeutung einer verbindlichen Norm für gerichtliche Ent­ scheidungen kann einer Regel des Herkommens durch ein Gesetz, ins­

besondere aber auch durch die Macht des Herkommens und der in ihm wirksamen Überzeugungen selbst zuerkannt sein. Die Unterscheidung zwischen Gewohnheitsrecht und bloßem Herkommen oder bloßer Sitte hat eine praktische Bedeutung wesentlich nur bezüglich der Frage, ob die betreffenden Regeln eine bindende Richtschnur für gerichttiche Entscheidungen enthalten. Wenn zu Gunsten des Herkommens: Trinkgelder zu geben, die Gerichte angerufen werden könnten, so wäre dies Herkommen Recht. Die erwähnte Frage aber kann ihre Beantwortung in der doppelten Weise finden, welche im Texte bezeichnet ist. Es gab Zeiten in Deutschland und in anderen Ländern, wo nur dürftige Bruchstücke des Rechts in der Form der Gesetzgebung existierten, während das Herkommen in der Hauptsache die das Leben beherrschende Macht war. Niemand zweifelte hier, daß gewisse Teile dieses Herkommens auch für die Gerichte eine verbindliche Kraft besäßen, daß diese die be­ treffenden Regeln gegebenenfalls ihren Entscheidungen zugrunde zu legen hätten. Soweit nun diese Überzeugung bestand und in einem entsprechen­ den Verhalten der Gerichte ihre verpflichtende Kraft bewährte, war das Herkommen Recht. Das Herkommen umfaßt in solchen Fällen die An­ wendung bestimmter Regeln nicht bloß seitens derer, auf deren Verhält-

Entstehung-formen (Lehre von den „Recht-quellen").

71

nisse sie ihrem Inhalte nach Bezug haben, sondern zugleich ihre Anwen­ dung seilens der Gerichte. Das Gewohnheitsrecht ist seit lange ein Gegenstand zahlreicher Kon­ troversen. Während die einen (zumal die „historische Recht-schule" § 360) in ihm die vollkommenste Erscheinungsform des Rechts gegeben finden, bestreiten andere, daß eS überhaupt al- „Recht" anzusehen sei. Die ersteren verkennen die Bedeutung der Tatsache, daß die fortschreitende Entwicklung und Verselbständigung des Recht- (den anderen ethischen Mächten gegenüber) überall zu einer Zurückdrängung des Gewohnheits­ rechts durch das Gesetzesrecht geführt bat; die letzteren die Bedeutung der Tatsache, daß bei vielen, vermutlich bei allen, Völkern während langer Zeiträume das Gemeinleben beherrschende und für da- Verhalten der Organe der Gemeinschaft bestimmende Normen beinahe nur oder auch ausschließlich in der Form des Gewohnheitsrechts existiert haben. Will man diese- als Recht nicht gelten lasten, so fragt eS sich, ob man auch daS von ihnen beherrschte Rechtsleben nicht als Rechlsleben, die auS ihnen sich herleitenden subjektiven Rechte nicht als Rechte gellen lassen will? Ob man etwa ftir jene Perioden die Existenz von Rechtsverhältnissen, subjektiven Rechten und Rechtsverbindlichkeiten, außer den durch gerichtliche Urteile festgestellten, überhaupt leugnet?! Wahr ist nur, daß da- Empor­ kommen des Gesetzesrechts u. a. die Bedeutung der Erreichung einer höheren Stufe der „Positivierung" des Rechts besitzt, d. i. der Ausbildung seiner technischen Seite und überhaupt derjenigen Momente, welche dem Rechte den anderen ethischen Mächten gegenüber eigentiimlich sind. — Manche endlich nehmen an, daß die Normen des Gewohnheitsrechts den Charakter verpflichtender Rechtsnonnen überall mir auf Grund einer gesetzlichen oder sonstigen obrigkeitlichen Anerkennung besäßen und besitzen könnten. Aber auch" diese Ansicht verträgt sich nicht mit dem geschicht­ lichen Tatbestands. Abgesehen davon, daß in der Beherrschung deRechtslebens das Gewohnheitsrecht im allgemeinen dem Gesetzesrechte vorangehl, fehlt es an geschichtlichen Zeugnissen dafür, daß die verbindliche Kraft des Gewohnheitsrechts von den Völkern, bevor bei ihnen umfassende Gesetzeswerke zur Entstehung gelangten, irgendwo au- Akten der Gesetz­ gebung oder obrigkeitlicher Anerkennung hergeleitet worden sei. Vielmehr ist das normale Verhältnis zwischen der Autorität der Obrigkeiten und derjenigen des Herkommens von Haus au- diese-, daß die Abhängigkeit auf seilen der ersteren, nicht der letzteren, besteht. Auch für das heutige Rechrsleben ist diese Theorie nur mittels der keinerlei Begründung ent­ haltenden Fiktion einer „stillschweigenden Genehmigung des Gesetzgebers" zu vertreten. Im übrigen ist hinsichtlich der Theorie des Gewohnheitsrechts die Auseinanderbaltung der folgenden Fragen wichtig: 1. Was ist und wie entsteht das Herkommen? 2. Welche Merkmale müssen zu demselben hin­ zukommen, damit es als Gewohnheitsrecht erscheine? 3. WaS ist und worin begründet sich die verpflichtende Kraft des Herkommens und des Gewohnheitsrechts? Die Fragen sub 1 mögen hier auf sich beruhen. Die zweite Frage hat im Texte ihre Beantwortung gefunden. Wir er­ kennen da- R. an seinen Funktionen. Ein Herkommen, welches die Lebensverhältniffe in der Weise des R. beeinflußt, aus welchem Befugnisse und

72

Erstes Kapitel.

Dritter Abschnitt.

Pflichten derselben Art sich Herleiren, wie sie aus Gesetzen entspringen, ist Recht. Die- aber ist überall der Fall, wo eS jemandem Uefugnisie oder Ansprüche zuerkennt, zu Gunsten welcher die Gerichte angerusen werden können. ack 3 ist zu bemerken, daß bezüglich der verpflichtenden Kraft deS SewohnheitSrechrS alle- gilt, waS in § 49 über die verpflichtende Kraft de- R. überhaupt au-gefühn worden ist. Die verpflichtende Kraft bei Herkommen- aber ist der letzteren verwandt; sie erführt nur bet der Er­ hebung deS Herkommens zu Gewohnheitsrecht eine Steigerung.

*§ 115. Wie jene Anrufung des Herkommens und seine Berücksich­ tigung seitens der Gerichte durch ein Gesetz gutgeheißen ober ge­ boten werden kann, so kann sie auch durch ein solches überhaupt oder für bestimmte (inSb. die von diesem Gesetz selbst geregelten) Rechtsgebiete ausgeschlossen werden. Letzteres ist in neueren Gesetzen häufig geschehen, entweder schlechthin (so im sächsischen und lvesentlich auch im französischen Ge­ setzbuche) oder durch Verfügung der derogatorischen Wirkung gegen­ über dem Gesetze (so preuß. Landrecht). Überhaupt hat die Form des Gewohnheitsrechts ihre Bedeutung für die Fortbildung des Rechts mehr und mehr eingebüßt. Man hat gegen eine solche gesetzliche Ausschließung des Gewohn­ heitsrechts Prinzipielle Bedenken geltend gemacht, die gleiche Verbindlichkeit von Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht angerusen. Allein mit Unrecht.

ES kann dem in der Gemeinschaft zu höchst maßgebrnben Willen nicht nerwehrt sein, die Formen im voraus zu bezeichnen, in welchen er Recht-jätze produzieren will, und für seine Organe sestzustellen, unter welchen Voraus­ setzungen sie eine Norm al- für sie verbindlich anzusehen haben und bzw. ansehen dürfen. Schließt er hierbei daS Herkommen aus, so ist damit ein Hemmnis für die Erhebung des letzteren zu Gewohnheitsrecht ge­ schasst n — freilich nur insolange alS das betreffende Gesetz seine Geltung behauptet und nicht etwa selbst der Macht deS Herkommens erliegt. iSo sind mancherlei Bestimmungen des preuß. Landrechts gewohnheit-rechtlich außer Anwendung gekommen.) Wenn aber auch auS einer möglichen revolutionären Kraft der Gewohnheit sich die Bedeutungslosigkeit einer gegen diese Kraft gerichteten GesetzeSvorschrist ergeben kann, so darf man doch daran* nicht schließen auf die Bedeutungslosigkeit jeder gesetzlichen Be­ stimmung über da- Verhalten der Gerichte zu den Gewohnheiten des Rechtsleben- — ebenfürocidg wie ans der Tatsache, daß neue Gesetze unter Um­ ständen nicht dnrchgesührt werden können, aus die Bedeutungslosigkeit bei Erlasse- von Gesetzen überhaupt! (Besprechung von Schuppe „G." 662 f.) — Im Gegensatz zum 1. Entwurf, welcher G. nur insoweit gelten lassen wollte, als das Gesetz selbst darauf verweise, enthalt B. sich jeder Be-

Entstehung-formen (Lehre von den „Rechtsquellen•).

73

stimmnng darüber (während die Zivilprozeßordnung es ausdrücklich er­ wähnt.) Um derogatorische Kraft gegenüber deffeu Vorschriften zu er­ langen, müßte sich jedenfalls eine gewohnheitSrechtl. Norm für da- ganze Keich auSbilden, da bloß partikuläre- (§ 83) G. das Reich-recht ebenso­ wenig ändern kann, wie partikuläre- Gesetzesrecht die- vermag (§ 468). § 116.

Diese Beschränkung der Bedeutung des Gewohnheitsrechts in moderner Zeit steht im Zusammenhänge mit einer Erhöhung der Macht und Ausbildung der staatlichen Organisation. Die letztere Tatsache findet einen Ausdruck darin, daß der in der Gemeinschaft maßgebende Wille sich normalerweise mittels der von ihm hierzu geschaffenen Organisation in den im voraus von ihm festgestellten Formen betätigt. Ein Wiederhervortreten deS Gewohnheitsrechts in unserem Gemeinleden würde ein Zurücksinken des letzteren auf eine niedrigere OrgauisationSstufe anzeigen. Über das geschichtliche Verhältnis von Gesetzes- und GewohnhenS-

recht vgl. Ihering, Geist des römischen R. II, § 25.

*§ 117. Wo eine den Richter bindende, aus einen gegebenen Fall an­ wendbare Rechtsnorm nicht vorhanden ist, da sieht sich der Richter berufen, die seiner Entscheidung zugrunde zu legende Norm direkt au- den allgemeinen CueHen des Rechts zu entnehmen: aus den­ selben, auS welchen der Gesetzgeber schöpft. Die betreffende Norm erlangt durch die richterliche Ent­ scheidung dem einzelnen Fall und zunächst nur diesem gegenüber die Bedeutung einer Rechtsnorm Während da- geltende Österreich bürgerl. Gesetzbuch von 1803 unter den Einfluß des Naturrechts (§ 3) den Richter zur Ausfüllung von Lücken aus „die natürlichen Rechtsgrundsätze- verweist (ähnlich da­ badische Landrecht von 1810), und der später gestrichene § 1 deS 1. Ent­ wurfes deS B. den Richter ausschließlich auf den Inhalt bzw. „Geist" der geltenden Recht-ordnung verwies, ermächtigt ihn das neue Schweizer Zivilgesetzbuch in letzter Linie, d. h. wenn dem Gesetz „nach Wortlaut oder Aü-legung" keine Vorschrift entnommen werden tarnt und auch ein Gewohnheitsrecht fehlt, „nach der Regel zu entscheiden, die er alS Gesetz­ geber aufstellen würde", wobei er jedoch „bewährter Lehre und Uber-

74

Erste» Kapitel.

Zweiter Abschnitt.

Ucherung fp(gen soll, also nicht etva lediglich seinem subjektive» Er­ messen-. (Uber diesen vielbesprochenen a. 1: Gmür, 08 und gut Egger, Komm. XXX ff.) - §120.

§ 118. Wird aber die gleiche Norm in konstanter Weise richterlichen

Entscheidungen zugrunde gelegt, so ist ein „Gericht-gebrauch"

vorhanden, der die Bedeutung de- Gewohnheitsrecht- erlangen, oder auch durch Gesetz eine verpflichtende Bedeutung pro futuro

deigelegt erhalten kann. 8 119.

Im modernen Staate ist für die bezeichnete schöpferische Tätig­ keit der Gerichte nur ein geringer Spielraum gegeben.

Diese sehen

sich hier einem au-gebildeten, in umfassenden Gesetze-werken (Kodi­ fikationen) fixierten Rechte gegenüber, dessen Fortbildung dem Ge­

setzgeber zusällt, nicht ihnen.

Sie sind Organe der Anwendung,

nicht der „Setzung" (Schaffung) der Recht-sätze. S. § 342ff. — Diese scharfe Scheidung von Recht-setzung und Recht-anwendung, und die Beschränkung der Gerichte auf die letztere, bezeichnet eine wichtige Seite de- geschichtlichen Fortschritt- in unserem Gebiete. Sie fetzt eine hohe Entwicklung de- objektiven R. und der staat­ lichen Einrichtungen voraus, speziell da- Vorhandensein eine- Gesetzgeber-, der befähigt und bereit ist dem etwa hervortretenden Bedürfnis einer Vervollständigung oder Reform de- geltenden R. zu entsprechen. Wo diese Bedingungen fehlen, da erscheinen die Gerichte al- berufen, neben der Anwendung de- geltenden R. zugleich in weiterem oder engerem Umfange seine Vervollständigung und Reform zu übernehmen. Sie haben hier erforderlichenfalls die ihre» Entscheidungen zugrunde zu legenden Regeln fich erst zu bilden. Diese aber gewinnen durch jede «tscheiduug, für welche sie maßgebend waren, eine höhere Bedeutung, und erlangen auf solchem Wege leicht die Kraft eine- auch die Gerichte selbst binden­ den Gewohnheitsrecht-. I» solchen Fälle» geht der Schaffung de- Recht»satze- die Anwendung der in ihm enthaltenen Reget voran. Die Ent­ scheidung konkreter Recht-fragen bezeichnet hier den Weg der Bildung de- abstrakten Recht-, und der Richter ist in beiderlei Beziehung da» vornehmste Werkzeug der Recht-bildung, die „viva vox juria“. Die deutsche wie die römische Recht-geschichte enthalten hierfür bedeutsame Belege.

§ 120. Auch heute indessen findet die gesetzgeberische Tätigkeit eine beständige Ergänzung durch die richterliche.

Die Anwendung M

von der Gesetzgebung geschaffenen Recht- durch die Gerichte geht

Entstehung-formen (Lehre Von den „RechtSguelleu").

75

nicht spurlos an diesem selbst vorüber, vielmehr gewinnt e- vielfach

erst durch die richterliche Wirksamkeit die ihm zukommende Be­ stimmtheit, sowie die volle Entfaltung seine- Inhalte-, u. a. in

der Form der analogen Anwendung (§ 105 ff. und 348 ff). — t§ 120a. Eine sogen, „freirechtliche" Bewegung der neueren Zeit

verficht eine Neugestaltung der recht-wissenschaftlichen Methode und für die Rechtsprechung in verschiedenem Grade eine „Emanzipation

des Richters von den gesetzlichen Normen" und damit eine weiter­ gehende richterliche Rechtsschöpfung nach freiem Ermeffen.

Indem sie aber so der Subjektivität deS Richters Tür und Tor öffnet, unterschätzt sie den außerordentlich hohen Wert einer gleichmäßigen Rechtsanwendung für die Rechtssicherheit und für

das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Über diesen auch unter den Schlagworten Interessent- und ^socio­ logische" Jurisprudenz gegenüber der bisherigen angeblich reinen ^Be­ griffs- und KoustruktionSjuriSprudenz" lebhaft geführten Streit (zu de« aber zutreffend Spitzer im ÖftAGZ. 57 Nr. 15: Die Konstruktion ist die Form, die Jntereffenabwägung da» Agens der Rechtsfindung!): GniiuS FlaviuS (Kantorowicz), Kampf um oie R.Wissenschaft 06; aber auch in DRichtZ. III; R.wiffenschaft u. Soziologie 11. Ehrlich, Freie Rfindung u. freie R.wiffenschaft 03; SchmollerSJ 35. Stampe, in JZ. 05; Unsere R - und Begriffsbildung 07; Die Freirechtsbewegung rc. 11 (Radiziert dem Richter eine gewiffe Befugnis zur Änderung deS bestehenden R., z. B. zur Eins, der von B. verworfenen Mobiliarhypothek! s. auch j. Aus­ legung des § 1 GBG.'.). Rumpf, Gesetz u. Richter 06; in IherJ 49; Volk u. Recht 10. Müller-Erzbach, Grd.sätze der mittelb. Stellvertretung au» d. Jntereflenlage entwickelt 05; JZ. 06; JheiJ. 53. Sinzheimer, Soziolog. Methode in d. Privatr.wisiensch. 09. Gmelin, Quousque? 10. Sternberg, Einführung § 12. Am schroffsten u. übertriebensten wohl Fuchs, R. und Wahrheit in unserer heut. Justiz 08; Gemeinschädltchkeil bei tonftruktiven IuriSprdz. 09; in ZZ. 10; Jurist. Kulturkampf 12. Andrerseits Unger in JZ. 06, GrünhZ 31 u. 36 („Der Richter bat R. zu finden, nicht zu erfinden- — „praeter legem mub er R. finden, aber nie darf er contra legem judizieren"). Klein in ÖftAGZ. 57 Nr. 34 („Richter!. R.schöpsung eine antisoziale Juristenüberhebnng u. e. antikonstitutionelle, die verfaffungSmäbigen Gesetzgebung-faktoren ent­ thronende Doktrin"). Dernburg im Vorwort deS „Bürgert. R." I 3 A. Eohm in JZ. 09 u. 10; Mittels 09; BierhauS 09 und Methode der R.sprechung 11 („Gefahr de- unbewuhten Unrecht- durch e. „freie" Entsch. viel., gröber al- die einer einmal formalistisch ausfallenden un­ billigen-.) Örtmann, GefetzeSzwang u. Richrerfreiheit 09; Komm, zum

76

Erstes Kapitel.

Dritter Abschnitt.

B. Allg. T. XVII; JLDl. 24, 4 (zu Börugen „Reformbestrebgen im R.leben"). Neukamp, JLBl.20 u JZ. 1912. Gareis, Münch. Nekt.rede!2. („WaS an der Lehre richtig, ist nicht neu, und waS neu, ist nicht richtig"). Auch der 2. d. Richtertag 1911 sprach sich für das Festhalten au der bisher. Methode derR.anwendung aus(s. Beschluß u. Referat von Staffel in DRichtZ. III). — M. Rümelin, ZivPr. 98 und 103 (Fortbildung unter möglichstem Anschluß an die im Gesetz bereits niedergelegten Interessen abwägungen). Heck, JZ. 05 und 09, das Problem der R.gewinnung 12 (für „teleologische, aber gesetzeSrreue Jurisprdz., welche auch den milteldaren Gesetzesinhalt beachtet u. bei ihren Ergänzungen sich nach den gesetzt. Werten richtet"). Die von H. in maßvoller Weise vertretene „Jnteressenjurisprdz." wird bekämpft von Berolzheimer, Gefahren einer GefühlSjurisprdz., ArchRPHilos. 4 (weil die Jntereffenabwägung" regelmäßig aus dem Gefühl, besonder­ reicht aus Senümerttalitätsgesühlen heraus erfolge). RegelSberger, BayRpflZ. 04 und JherJ. 58 (unterscheidet zwischen „starren" und durch die Jurisprdz. „ausbaufähigen" Gesetzesnormen). Weiter geht in der Aner­ kennung einer rechtschöpfenden Judikatur Danz, Auslegung derR.geschäfte з. A. 11; JherJ. 54: R.sprechung nach Bolksansch. u. Gesetz; JZ. 1911; Richterrecht 12. (Der Richter müsse die Lücken des Ges. durch Bildung von „Richterrechtssätzen" ausfüllen, sei also „Gesetzgeber für den konketenFall", wozu er spez. durch die § 157 u. 242 B. berechtigt n. verpflichtet sei. Aber z, B. „Auslegung" S. 128 spricht D. wohl zutreffender von „durch daS Gesetz (B.) sanktionierten Gewohnheitsrechtssätzen".) Ähnlich Düringer, Richter и. Rechtsprechung 09 (insb. gegen Fuchs). K iß, Gesetzesauslegung u. „un­ geschriebenes R." in JherJ. 58; ArchRPHilos. 3; ArchBürgR. 38. S. auch Hedemann in „Civilist. Rundschau" im ArchBürgR. 31 u. 34; Werden u. Wachsen im bürgerl. R. 1913. Enneeeerus, Lehrb. § 53f. Daß auch Th. u. Pr. der Antike vor Eins, eines „souv. RichterkönigtumS" warnen: Wenger in österr. Festschr. I. Zu den erörterten Fragen überhaupt und z. T. längst vor Auftreten der „Freirechtsschule": Jherings „hohes Lied vom Zweck im Recht"(s. zu § 21), seine Verspottung des „jurist. BegriffShimmelS", und s. Betonung des subj. Rechts als „rechtlich geschützten Interesses". Bülow, Gesetz u. Richteramt 85; Heitere u. ernste Betrachtungen über die R.wiffensch. 01; Verh. der R.sprechung zum Gesetzesr., im „Recht" 1910. G. Rümelin, Werturteile u. Willensentscheidgen im Eivilr. 91 (2. A. 12). Zitelmann, Lücken im R. 03. Ferner Hellwig, Lehrb. des Zivilprozeßr. II, § 93. Rich. Schmidt, Die Richtervereine 11, insb. S. 70ff. Auch Ie llin ek, Staatslehre 2. A.347. An schütz, Lücken in den Berfaffgs.- rc. Ges., BerwArch. 14. Stier-Somlo, Freies Ermessen in R.sprechung u. Berwaltg.08. Triepel, Kompetenzen des Bundesstaats 08 S. 318 (Zulässig keit der Ana­ logie auch im Berfassgsr.). Kühne, Freie R.findung u. Sozialpolitik, SozPr. 9, 257 (Gegner).

§ 121.

Schließlich können auch aus Vereinbarungen — Verträgen zwischen selbständigen und von einander unabhängigen Subjekten, insbesondere zwischen Staaten, — Rechtssätze hervorgehen.

Beteiligte Faktoren.

77

Beispiele bieten die internationalen Verträge, aus welchen der ehemalige Deutsche Bund mit seinem Rechte hervorging (§ 449);

diejenigen, welche für die Zeit eines Krieges die Rechte der neu­ tralen Mächte näher bestimmt haben rc.

Zu unterscheiden ist hier die Gültigkeit der betreffenden Rechtssätze für die Angehörigen der betreffenden Staaten einerseits, für die vertragschließenden Staaten selbst andererseits. Für die erstgenannten ist die Publikation der Verträge durch die gesetzgebende Gewalt der betreffenden Staaten maßgebend. Für diese Staaten selbst dagegen die verbindliche Kraft der zwischen ihnen geschlossenen Verträge. Diese bilden daher die Entstehung-form oder Quelle der erwähnten Recht-sätze, soweit deren Existenz für die Staaten in Frage kommt. Die verpflichtende Kraft der Verträge setzt natürlich ihrerseits die Existenz einer Norm voraus, auS welcher sie sich herleitet. Diese Norm kann hier, da über den Staaten keine gesetzgebende Gewalt existiert, nur gewohnheitsrechtlicher Natur sein. Nähere- und Litt. s. im Völkerrecht.

II. Beteiligte Faktoren.

§ 122. Das Leben der Menschheit schließt in allen Gebieten Keime

von Zwietracht und ein tatsächliches Gegeneinanderwirken von In­

dividuen, Parteien, Gesellschaftsklassen usw. in sich ein, wovon der letzte Grund in der Verschiedenheit der Menschen sowie der Be­ dingungen liegt, unter welchen sie sich zu behaupten, zu entwickeln

und das Leben ihrer Eigenart entsprechend zu gestalten vermögen. Vgl. § 40. — Aus den verschiedenen Kategorien wiffenschaftlicher Arbeiten, welche auf die sub II und III behandelten Materien Bezug haben, seien als Repräsentanten hervorgehoben: Merkel, Über den Begriff der Entwicklung in s. Anwendung auf R. und Gesellschaft, in GrünhZ. III, 626, IV, 1 (ausgenommen u. ergänzt in den „Fragmenten" S. 36ff.). Recht und Macht (s. § 40). Zitate zu § 144. Jhering, Geist des röm. R.; Zweck im R.; das Schuldmoment im röm. Privatrecht 67 (auch in „Vermischte Schriften" 79); aus dem Nachlaß hrsgeg.: Borgesch. der Jndoeuropäer 94 und EntwicklungSgesch. d. röm. R. 94. Arnold, Kultur u. Rechtsleben 65; Kultur u. R. d. Römer 68. Bernhöft, Grd.lagen der R.entwicklung bei d. indogerm. Völkern, ZVglR. 2; Staat u. R. der röm. König-zeit. Leist, Gräko-italische R.geschichte 84. Altarische-ins gentium und i. civile 89/96. Schrader, Sprachvgleichg. u. Urgesch. 2. A. 90. Post, Bausteine (§ 21). Ursprung des R. 76. Anfänge de- St.- u. Rlebens 78. Grd.lageu d. R. u. Grd.züge s. EntwicklungSgesch. 84. Aufgaben e. allgem.R.wiffenschaft91. (DazuMerkel,DLittZtg. 12,1652.) Grd.riß d. ethnol. Jurisprudenz 94. Harum, Bon d. Entstehg. d. R. 63. Tylor>

78

Erstes Kapitel.

Dritter Abschnitt.

Primitive culture71,b.75. Morgan, AncientSociety,b.91. Maine, Ancientlawetc. 11 ed.87. Dachosen, Mutterrechl 61. Dargun,Mu. Barerrecht 92. Ursprung u Entwicklung deS Eigentums, ZBglR. 5 Laveleye, Uretgentum, deutsch von Bücher, 79. Zum älteste» Strafr. der Kulturvölker, Frage» zur R.vergleichung von Mommsen, Brunner u. (L 05. Makarewicz, Tins, in die Philos. deS Sttasr. aus eutwicklgSaesch. Grd.lage 06. Meili, Jnstitutioue» d. vergleich. R Wissenschaft 98. Kohler, R.philos. u. Universalr.gesch. in s. Enz.; R.philos. u. R-Vergleichuug in ArchRphil. 1; R- u. Kulturgesch. in GrüuhZ. 12; R., Glaube u. Sitte eod. 19; Ideale im R., im ArchBR. 5; Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz 83f.; Zahlr. Aufsätze in ZBalR. Wenger, Ergebniffe der Papvrnekunde s. R.vergleichung u. R.geschichte, ArchsKultura^ch. X — Lope, Mikrokosmus, Ideen zur Raturgefch. u Gefch. der Menschheit III, 78. Lecky, Sittengesch. Europas, deutsch von Jolowiez 70. Comte, Cours de philos. positive, VI. 42. Laurent. Etudes sur lliistoire de l’humanitä, 51 ff. Du Boys, Histoire au dr. crim. des penples anciens 45, modernes 54/74. Lambert, La fonction du dr. civil compard 03. Taylor, the science of Junsprudence 08. —■ Stammler, Wirtschaft und R. (§ 21). Biermann, Staat u. Wirt­ schaft I, 05. Roscher, Gesch. d. Nationalökonomik2. A.91. Schäsfle, Bau u. Leben de- sozialen Körper- 2. A. 96. Jnama-Sternegg, Deiltsche Wirtschaftsgeschichte 2. 21. 09. Schmoller, Grd riß der allgem. BolkSwirtschastSlehre I, 2. A. 09, II, 04. — Lehrbücher der R.geschichte, fi 571 f. — Zeitschrift für vergleichende R.wisseuschaft, seit 77.

§ 123.

Überall aber, wo Menschen in konstanten Verhältnissen sich

berühren, da regen sich auch Kräfte und treten Bestrebungen her­ vor, welche auf die Vermeidung oder Schlichtung von Konflikten gerichtet sind, aus die Erhebung gemeinsamer Autoritäten, auf die Ausbildung und Handhabung außerparteilicher Maßstäbe für

die Entscheidung der hervortretenden Grenz- und Streitfragen, und auf die Herstellung und Behauptung neutraler geistiger Gebiete.

8 124.

Ihre Kraft schöpfen diese Bestrebungen au8 den mit dem Streite verbundenen Übeln, sowie auS der Ergänzungsbedürftigkeit

der menschlichen Persönlichkeit, welche die Bedingungen zuerst ihrer Entwicklung zu vollem Menschentum, dann der Befriedigung der

höchsten Interessen des entwickelten Menschen nur in dem Zu­ sammenhang« eines befriedeten

findet.

und einheitlichen Gemeinlebens

Beteiligte Safteten.

79

§ 125. Eine uralte Macht, welche, von den bezeichneten Kristen und Bestrebungen abhängig, eine Wirksamkeit in ihrem Sinne äußert»

ist das Herkommen oder die Sitte.

Ihr beherrschender Einfluß

stützt sich ursprünglich auf die Autorität der Vorfahren, sowie der

zu Repräsentanten und Hütern der Sitte sich erhebenden Götter,

und zu allen Zeiten auf die Gewohnheit. § 126.

Von der Sitte zweigen sich ab im Sinne einer eigentümlichen Ausbildung bestimmter Elemente derselben einerseits Religion und

Moral, andererseits das Recht. Jene repräsentieren eine eigentümliche Entwicklung vornehmlich in bezug auf den I n h a l t der aufgestellten Normen, diese- eine

solche vornehmlich in bezug auf die Form en, in welchen dieselben

sich bilden und wirksam werden (§ 69 ff..) Die letztere Entwicklung steht im engsten Zusammenhänge mit

der Ausbildung der staatlichen Organisation und vornehmlich des staatlichen Richteramtes (§ 64, 79, 112 ff.).

8 127.

Rach der Seite seines Inhaltes verharrt da? Recht unter dem

Einfluß heterogener Jnteresien und Mächte und de- zwischen ihnen

bestehenden Widerstreites (8 40, 121, 122).

Ein dahin gehöriger Gegensatz sei hier spezieller hervor­ gehoben.

§ 128.

DaS Recht steht überall einerseits unter dem Einstuß eineWillens, welchem Herkommen, Glaube, die bestehende Verfassung oder überlegene Macht eine höhere Geltung sichern, und ohne

welchen die auS den bestehenden Gegensätzen erwachsende« Hem­ mungen nur im Wege stete erneuter Kämpfe überwunden werden

könnten.

Mit Rücksicht hierauf können wir von einem „autori­

tären" Element alle- Rechte» sprechen.

Erst«- Kapitel.

80

Dritter Abschnitt.

§ 129. Da- Recht steht andererseits unter dem Einfluß der von ihm

Beherrschten, welcher in der Form des Vertrags, der Anerkennung oder Zustimmung, der Wahl von Mitgliedern eines gesetzgebenden

Körper- oder in verwandten Formen sich äußert, einem Einflüsse also, kraft dessen jener Inhalt von deni Willen derjenigen abhängt,

deren Machtgebiete er begrenzt. Mst Rücksicht aus ihn können wir von einem autonomen,

oder, wenn wir unS an diejenige Form halten, in welcher dieser Einfluß seinen prägnantesten Ausdruck findet, von einem ver­ tragsmäßigen Elemente im Rechte sprechen.

§ 130.

Bei verschiedenen Völkern zeigt das Recht in bezug auf In­ halt und Formen seiner Wirksamkeit trotz der Gleichheit ihreS

Endzwecks zahlreiche und tiefgehende Verschiedenheiten.

Diese sind in der Hauptsache auf die im folgenden bestimmten Gründe zurückzusühren. 8 131.

Erstlich übt die besondere Natur der äußeren LebenSbedin-

gungen, unter welchen rin Volk existiert, überall einen weitreichenden Einfluß auf den Inhalt seines Rechts aus, weil sie die für ihn

maßgebenden Interessen, Verhältnisie und Werturteile beeinflußt. U. a. hat ein vom Ackerbau lebendes, seßhaftes Volk not­

wendig in vielen Beziehungen andere- Recht als ein wanderndeHirtenvolk.

§ 132.

Zweitens bedingt der Charakter eines Volkes im Zusammen­ hang mit seiner Geschichte und dem Ganzen seiner diesen Charakter

auSprägenden Kultur Eigentümlichkeiten im Inhalte seine- Recht-.

Daher werden Türken oder Chinesen niemals ganz nach demselben Rechte leben wie Deutsche und Franzosen.

Die «llgemelngeschichte bei Recht».

81

§ 133.

Drillen- prägt in Inhalt und Formen des Rechts die Stufe sich au-, welche da- Volk in seiner Gesamtentwicklung, und welchc speziell daS Recht selbst erreicht hat. (Hierüber Speziellere» aub IIL)

IIL Die Allgemetngeschichte de- Rechts. § 134.

Da» Recht höher entwickelter Völker hat Eigenschaften, welche dem Rechte minder entwickelter Völker fehlen.

So zeigt das Recht

der modernen „Kulturvölker* Merkmale, welche dem Rechte der

sog. Raturvöller fehlen. § 135.

Völker, welche im übrigen in bezug auf die Entwicklungsstufe ihres Kulturleben» einander nah« stehen, können ein Recht von

verschiedener spezifischer Ausbildung und LeistungSsähigkell besitzen. So erreichte daS Recht des römischen Volks eine höhere Stufe

solcher Befähigung, als das Recht der griechischen Stämme. § 136. Der Fortschritt von dem Recht« unentwickelter zu demjenigen hochentwickelter Völker und von einem unvollkommen ausgebildeten

zu einem vollkommener ausgebildeten Rechte bezeichnet, samt den ihn bedingenden und kausal mit ihm verbundenen Vorgängen, den

Inhalt der Allgemeingeschichte de- Rechts. Dieser Fortschritt ist nicht dahin zu deuten, daß da- höher ent­ wickelte Recht überall mehr und bessere- für di« gegebenen Verhältnisse

leiste, al« da- unentwickelt« Recht für die ihm vorliegenden Verhältnisse. Dieser Fortschritt emhält in wichtige» Beziehungen vielmehr nur eine Anpassung an kompliziertere Leben-verhältniffe. Die Lösung der dem Rechte gefegten Ausgabe setzt diese» Berhältutssen gegenüber eine höhere Leistungsfähigkeit und ein höhere» Mab absoluter Leistungen voran-, al» sie etnsachere» Verhältnisse» gegenüber erforderlich find, und mtt Rücksicht aus btt Steigerung jener können wir von einem Fortschritt spreche», ohn« damit di« Frage zu entscheiden, ob relativ mehr oder nur da- gleiche für ein gegebene- Gemetnlebm geleistet »»erd«. — Vgl. Gierke, über Jugend und Alter de» Recht-, in der D. Rundschau 1879.

Merkel, Juristische Gnestklopöbte. S. Hust

6

82

Erste- Kapitel.

Dritter Abschnitt.

8 137. An diesem Fortschritte können wir unterscheiden:

1. eine äußere Seite, d. i. die Steigerung des Maßes der

für das Recht charakteristischen Leistungen für daS Ge­ samtleben der Völker, und gewisse damit teils als Be­

dingungen, teils als Folgen zusammenhängende Verände­ rungen seiner äußeren Existenzformen (§ 138 ff.);

2. eine innere Entwicklung, d. i. die Erhöhung des Wertes jener Leistungen unter dem Gesichtspunkte der Gerechtig­ keit (§ 142 ff.). Die hier unterschiedeneu Setten des Fortschritte- im Rechte stehen in dem logischen und praktischen Verhältnis zu einander, welches bezüglich der Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit des R. oben dargelegt wurde (A 24 ff.). *§ 138.

ad 1. Zu jener äußeren Seite des Fortschritts gehört: a) die Erweiterung des Bereichs der Verhältnisse, welche im

Neben- und Nacheinander des gesellschaftlichen Lebens einer rechtlichen Ordnung teilhaftig und damit zu Rechts­

verhältnissen erhoben werden.

Ein Beispiel gibt die

langsam vorschreitende Ausdehnung jenes Bereichs auf die internationalen Verhältnisse. Die Berhältniffe eines Staates und der Angehörigen diese- Staates zu den ihm fremden Individuen sind einer Ordnung im Sinne des Recht­ in umfassenderer Weise erst innerhalb der christlichen Zeitrechnung teil­ haftig geworden. Die Verhältnisse von Staat zu Staat haben ein gleiches Ziel im Ganzen später noch als jene, zum Teile bis jetzt überharrpt nicht erreicht (s. Völkerrecht). Bon Verhältnissen zwischen Angehörigen desselben Staates und resp. Volkes mögen die durch Mord, Raub unb andere Missetaten begründeten hervorgehoben sein, welche erst allmählich in.da- Machtbereich des Rechtes gezogen worden sind. — Vgl. das über den „Rechtsstaat" tu § 411 eub a Gesagte.

§ 139. Zu jener äußeren Seite gehört ferner: b) die Ausbildung der Funktionen, durch welche jene Berhältnisfe die Eigenschaft von Rechtsverhältnissen erlangen,

83

Die Allgemeingeschichte des Recht».

und was damit zusammenhängt, die Erhöhung hxr Be­

deutung dieser Eigenschaft. 8 140.

Unter den letzteren Gesichtspunkt fällt:

in betreff der Rechtssetzung: Fortgang vom Gewohnheits­ recht zum Gesetzesrecht (§ 116), die Ausbildung des Systems der

primären und sekundären Gebote (§ 54 ff.), die Regelung der gesetz­

geberischen Tätigkeit im Sinne einer Wahrung der Kontinuität des Rechtslebens;

in betreff der Rechtsanwendung: die Ausbildung des Ge­ richtswesens im Sinne des Grundsatzes, daß, wo Rechtsnormen vorhanden sind, auch die Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts

zur Verwirklichung dieser Normen gegeben sein soll; im Sinne einer umfaffenden Regelung deS hierbei zu beobachtenden Ver­ fahrens und im Sinne einer Erhöhung der Macht und Unab­

hängigkeit der Gerichte; ferner die scharfe Sonderung der genannten Funktionen der

Rechtssetzung einerseits, der richterlichen Rechtsanwendung anderer­ seits (§ 119);

sowie die Organisation des gegen Widerstrebende sich richten­ den Zwangs zur Unterwerfung unter die Rechtsvorschriften und bzw. die auf Grund derselben ergehenden richterlichen Urteile und

als Konsequenz dieser Fortschritte die Verdrängung der Selbst­

hilfe durch die obrigkeitliche Rechtshilfe. (§ 169f.) Die Bedeutung der Fortschritte, welche unter diesen Gesichtspunkt fallen, kann man sich veranschaulichen, wenn man daS Völkerrecht mit dem innerstaatlichen Rechte, speziell mit Privatrecht und Zivilprozeßrecht vergleicht. S. die bezüglichen Kapitel. Vgl. auch § 31? ff., 411 sub b.

§ 141. Mit der charakterisierten Seite des Fortschritts steht in Zu­ sammenhang:

6*

Erstes Kapitel.

84

Dritter Abschnitt.

das Emporkommen eines besonderen Juristenstandes als be­ rufenen Interpreten des Rechts und hauptsächlichsten Trägers seiner Fortbildung, und

die Entwicklung der Rechtswissenschaft.

§ 142. ad 2.

Mit der sub 1 charakterisierten Entwicklung ist die­

jenige der ethischen Seite des Rechts aufs engste verbunden.

Sie enthält a) eine Annäherung an das überall vorschwebende Ideal, nach welchem das Recht sich als eine den b-stehenden Gegen­

sätzen an sich fremde, den Beteiligten aber befreundete Macht er­ weisen und einen Maßstab zur Anwendung bringerr soll, welcher

in Einklang steht mit dem, was jenen in faktischer und ethischer Beziehung als Wahrheit gilt, und so» eine gleichmäßige Gültigkeit

für sie in Anspruch nimmt; b) eine Entwicklung des als Wahrheit Geltenden und vom Rechte als Wahrheit Vorausgesetzten in einer Richtung, welche, an dem Maße der Einsicht und der Überzeugungen der höchst­

stehenden Völker und Individuen gemessen, als eine Richtung des

Fortschritts sich darstellt. Hinsichtlich des ersteren Momentes mag aus die verschiedene Be­ handlung hingewiesen werden, welche die unteren sozialen Schichten zu verschiedener Zeit seitens des Recht- erfahren haben. — In uahenr. Zu­ sammenhang damit steht da- in § 138 Bezeichnete. Die fortschreitende Ausdehnung de« Bereichs der unter der Herrschaft des Recht- stehenden Leben-verhältntfse ist davon abhängig, dag in den Recht-bestimmungen Anschauungen zum Ausdruck gelangen, zu welch en sich alle bekennen können. So konnte unter der Herrschaft des römischen Recht- seinerzeit eine, viele Völker umfassende, Rechtsgemeinschaft sich nur bilden und Bestand gewinnen im Zusammenhang mit einer Umbildung dieses Rechts in der bezeichneten Richtung, d. i. mir einer Aufnahme und Durchführung allgemein verständ­ licher und einer allgemeinen Urteils- und Empfindungswerse im Bereiche der beteiligten Völker entsprechender Grundsätze. (Umbildung des ius civile zum ius gentium.) Hinsichtlich des zweiten Momente- ist vor allem zu beachten die Geschichte de- Strafrechts und der in seinem Bereiche sich geltend machenden Irrtümer (Gottesurtelle, die Voraussetzungen bei Anwendung der Folter) und Verkehrtheiten (Verbrechen der Hexerei, der Beeidigung Gotte- durch Ketzerei).

Die Allgemeingeschichte deS Rechts.

85

§ 143.

Dieser Fortschritt schließt eine Minderung der Bedeutung

in sich, welche der Verteilung materieller Machtmittel unter den­ jenigen, deren Verhältnisse das Recht ordnet, zukommt, sowie den Schwankungen in dieser Verteilung, der Erprobung einer Über­

legenheit im Punkte dieser Machtmittel und den durch ihre An­

wendung geschaffenen tatsächlichen Zuständen hinsichtlich der Frage, wie jene Verhältnisse rechtlich zu ordnen seien.

Das Recht wird

in höherem Maße ein Hort der Schwachen. Ein instruktives Beispiel gibt u. a. die Geschichte derjenigen Rechtsnormen, welche die Verhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern betreffen (§ 722). Ebenso die Geschichte des Einflusses, welchen Ungleichheiten des Besitzes auf die Rechtsstellung der Einzelnen äußerten (§ 560). Man vergleiche ferner die Bedeutung, welche Entscheidungen im physischen Kampfe unter verschiedenen Völkern für die Gestaltung ihrer Rechts, Verhältnisse besitzen, mit derjenigen, welche bloßen Machtkämpfen und Machtentscheidungen zwischen privaten Nachbarn innerhalb eines Kultur­ staates zukommt. Vgl. § 221—26, 241 f., sowie daS Völkerrecht. —- Hin­ sichtlich der Schranken, welche freilich in dieser Hinsicht dem Fortschritte gezogen sind, s. § 40, § 127 und Merkel, Recht und Macht.

§ 144.

Mit dem zweifachen Fortschritt im Rechte verknüpft sich: eine Annäherung der Rechtssysteme verschiedet«!, aus einer verwandten Entwicklungsstufe stehender Völker,

eine Änderung im Verhältnis des Rechts zu den anderen

Kulturelementcn im Sinne einer schärferen Abgrenzung seines Machtbereichs und einer teilweisen Ausdehnung, teilweisen Ver­ engerung desselben,

«ine Änderung im Verhältnis der Teile deS Rechts (so des Straf- und Privatrechts) zu einander int Sinne einer fortschreiten­

den Differenzierung, und eine Änderung in dem Charakter des von ihm ausgehenden

ZwangS im Sinne einer Verfeinerung seiner Formen und eines Bindens an gesetzlich bestimmte und seinem Zwecke mit wachsender Besonnenheit angepaßte Maße.

86

Erste» Kapitel.

Dritter Abschnitt.

Vgl. Merkel, Zur Besonn der Strafgesetze 68 (Sammlung 130); Der Begriff der Strafe in seinen geschichtl^ Beziehungen 72 (Sammlung 236); Uber Akkre-zeuz und Dekre-zenz de» Strafrecht» und deren Be­ dingungen 73 (Sammlung 269); Uber den Zusammenhang zwischen der Entwicklung de» Strafr. und der GesamteutwilNung der öffentl. Zu­ stande u. de» geistigen Leben» der Bölter, Straßburger Rektorat-rede 89 (Sammlung 556); Lergelttmg»idee und Zweckgedanke hn Sttafrecht, Straßb. Festschrift für Zchering 92 (Sammlung 687); Lehrbuch g 11 u. 72, „Verbrechen u. Straste- § 8 u. 70. — Ferner Hins, de» ersterwähnten Puntte» Jhering, Geist Hins, der anderen Punkte derselbe, Schuldmoment. Löning, Beschicht!, u. uugeschichtl. Behandlung de» Straft., ZStW. 3.

Zweites Kapitel.

Die Rechtsverhältnisse. 8 145.

Mr betrachten die Rechtsverhältnisse: 1. bezüglich ihrer Merkmale, 2. bezüglich ihrer Einteilungen, S. bezüglich ihrer Entstehung.

Erster Abschnitt.

Ihre Merkmale.

I. Im allgemeine» § 146. Rechtsverhältnisse (§ 5, 18 ff.) zeigen in ihrer einfachsten Ge­

stalt eine aktiv« und eine passive Seite: eine Seite rechtlicher Macht

und eine Seite rechtlicher Gebundenheit.

Jem entspricht der schützenden und gewährleistenden, diese der befehlenden und beschränkenden Funktion des Rechts.

Elemente g 20. ghrrtng, Geist III und in JherJ 10,387 (Pas­ sive Wirkungen der 8t), auch 10,245 (Refirxmirkungeu). Thon, R nerm u. snbj. R. Neuner, Wesen u. Arten der PrivatrechtSverhällMe 66.

Zweite- Kapitel.

88

(Erster Abschnitt.

Merke, D.Private. § 27ff. DieLehrb. de« Pandektenrecht« (des. Regel«» berger, § 13ff.) und de« B. Hellwig, Lehrb. d. Zivilprozetzr. § 30ff.

*§ 147. Ein Beispiel: A schuldet dem B eine bestimmte Summe,

die dieser ihm als Darlehn gegeben hat.

die

passive

Recht

eine

Seite

A repräsentiert hier

der Gebundenhest und Pflicht,

bestimmte Handlung,

da

die Zurückzahlung

ihm

da«

des Em­

pfangenen auferlegt; B die aktive Seite deS Verhältnisses, indem das Recht ihm die Macht und Befugnis verleiht, die geliehene

Summe zu bestimmter Zeit zurüchuforderu.

*8 148. In zahlreichen Rechtsverhältnissen ist auf beiden Seiten so­

wohl rechtliche Macht wie in anderer Richtung rechtliche Gebunden­ hest vorhanden.

♦§ 149.

Hierher gehört das Rechtsverhältnis zwischen Vermieter und Mieter einer Wohnung, oder das durch einen Gesellschaftsvertrag begründete.

Jeder ist hier dem anderen zu bestimntten Leistungen

verpflichtet und jeder hat zugleich die Macht, bestimmte Leistungen seinerseits von dem anderen zu fordern.

§ 150. Die Rechtsverhältnisse bieten nach der Natur der in ihnen

geschützten Interessen in verschiedenem Maße Spielraum und An­

laß für eine regelnde und individualisierende Wirksamkeit des ob­ jektiven Recht-.

Wir können demgemäß Rechtsverhältnisse unter­

scheiden, die auf höherer, und solche, die auf niedrigerer Stufe

der Individualisierung und juristischen Ausgestaltung stehen. 8 151

In den individueller gestalteten Rechtsverhältnisien steht die

rechtliche Macht regelmäßig in fester Verbindung mit den Inter­

essen

und bzw. dem Willen bestimmter Subjekte

(vgl. jedoch

§ 179 ff.), und erscheint in bezug auf Entstehung, Fortbestand, Be-

Dir Rechtsverhältnisse hu al!gn»ehren.

gtz

grenzung und Geltendmachung als ein Gegenstand spezialisierender Bestimmungen.

§ 152. So erscheint in dem Rechtsverhältnisse zwischen Mieter und

Vermieter einer Wohnung die aus jeder Seite vorhandene recht­

liche Macht in einer festen Verbindung mit den Interessen und dem Willen dieser Subjekte, in welchen da- Maß für die Be­

tätigung dieser Macht gegeben ist.

Zugleich erhält diese Macht

durch die Bestimmungen deS objektiven Rechts über ihre Ent­ stehung, ihren Fortbestand, ihre Begrenzung und Geltendmachung ein individuelles Gepräge.

§ 153. Eine solche individualisierte rechtliche Macht heißt eia

„subjektives Recht". § 154. Ein Gegensatz zu solchen individuell gestalteten Rechtsver­

hältnissen ist dort gegeben, wo daS objektive Recht sich mit einem menschlichen Interesse nur in der Weise befaßt, daß eS ihm einen

generell bestimmten Schutz angedeihen läßt. *§ 155.

Dies ist u. a. der Fall bezüglich des Interesses der Einzelnen:

Studien machen, geselligen Verkehr pflegen, Ausflüge unternehmen, zu bestimmter Stunde zu Mittag essen zu können. Auch dieses Interesse ist eine- rechtlichen Schutze- teilhaftig,

insoseru willkürliche Störungen seiner Befriedigung unter An­ wendung gewisser Strafgesetze von allgemeinerem Inhalte (wegen

Beleidigung, Freiheitsberaubung usw.) bestraft werden.

ES be­

steht also auch bezüglich seiner Betätigung ein rechtliches Dürfe» und Können.

Aber die rechtliche Macht, die diesem Interesse hieraus er­ wächst, steht nicht in Beziehung zu seinem besonderen Inhalte,

sondern zu Merkmalen, welche eS mit vielen anderen gemeinsam

Zweites Kapitel. Erster Abschnitt.

90 hat.

Daher denn auch die Bedingungen und Modalitäten, unter

welchen jemand der Befriedigung gerade dieses Interesses nach­ gehen darf, keinen besonderen Gegenstand von Rechtsbeftimmungen

bilden. § 156. Ebenso fehlt jene individualisierte rechtliche Macht den ge­ sellschaftlichen Interessen an der Wahrung gewisser Grundlagen unserer Gesittung, unserer Rechtspflege und eines geordneten Ver­

mögensverkehrs.

Das objektive Recht gewährt denselben einen

Schutz teils vermittels allgemeiner Bestimmungen polizeilichen

Charakters, teils durch Strafgesetze gegen gewisse Handlungen wie Blutschande, Sodomie, Meineid, fälschung.

Urkunden-

und Münz­

Aber.die ihnen hieraus erwachsende rechtliche Macht

ist nicht in Beziehung gebracht zu bestimmten Subjekten und kein

Gegenstand spezialisierender Bestimmungen.

Es fehlt hier der

Anlaß dazu, die Bedingungen und Modalitäten speziell zu nor­

mieren, unter welchen diese Interessen zur Geltung zu bringen sind. Ein weiteres Beispiel bieten die Interessen, welche durch

die Strafbestimmungen gegen Tierquälerei geschützt sind. § 157. Die Merkmale der subjektiven Rechte kommen hier überall

erst infolge von Verletzungen der geschützten Interessen zur Er­ scheinung, indem aus solchen Verletzungen dem Staate und viel­

leicht auch dem beteiligten Einzelnen Befugnisse erwachsen, welche diese Merkmale an sich tragen, insbesondere die Befugnis, deoi

Schuldigen eine Strafe von bestimmter Art und Größe aufzuerlegen.

*§ 158. Hinsichtlich dieser Individualisierung der rechtlichen Macht,

welche vom objektiven Rechte zu Gunsten bestimmker Jnteresien

verliehen wird, gibt es zahlreiche Verschiedenheiten und Ab­

stufungen.

Das subjektive Recht insbesondere.

Ql

Dieser Sachverhalt findet einen Ausdruck in der Unsicherheit und dem Schwanken des Sprachgebrauchs bezüglich der Grenzen, innerhalb welcher rechtliche Macht als „Recht im subjektiven Sinne" zu bezeichnen sei, sowie in den Streitfragen, welche sich bezüglich dieser Grenzen in der Wissenschaft erhoben haben. So streitet man z. B. darüber, ob die sogenannten „Grund- und Freiheitsrechte" mit Fug als Rechte bezeichnet würden; vgl. darüber § 442. — Festzuhalten ist 1. daß alle Rechtssätze eine Beziehung auf Rechtsverhältnisse haben und resp. Rechtsverhältnisse hervorbringen, 2. daß an allen Rechtsverhältnissen eine Seite der rechtlichen Macht von einer Seite der Gebundenheit sich unterscheiden läßt. Es gibt keine RechtSverhältniffe, bei welchen nur eine aktive oder nur eine passive Seite existieren würde, wie manche annehmen. Beide sind ebenso unzertrennlich wie die gebietende und die erlaubende Seite des objektiven Rechts (§ 100). 3. Jene rechtliche Macht kann eine mehr oder minder individualisierte Gestalt erhalten. 4. Begriff und Name des subjektiven Rechts haben auf eine Stufe dieser Individualisierung Bezug. Die Frage, wie diese Stufe genauer abzugrenzen sei, hat iddjt die wissenschaftliche Bedeutung, welche man ihr beizumessen pflegt

II. Das subjektive Recht insbesondere.

*§ 159. Das subjektive Recht ist dem Gesagten zufolge ebenso wie das objektive Recht: Macht, und zwar eine Macht, welche um bestimmter —vom objektiven Rechte vorausgesetzter— Inter­ essen willen verliehen und ihnen gemäß als ein Werkzeug für ihre Befriedigung Gestaltet ist. So ist das Recht eines DarlehnsgläubigerS (§ 147) die Macht, welche seinem Interesse an rechtzeitiger Wiedererlangung der geliehenen Geldsumme auS dem objektiven Recht zuflietzt. — Man hat darüber ge­ stritten, ob das Recht Macht fei oder Interesse. An beides ist bei dem Worte zu denken: an eine Macht zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen, Wirken oder Genießen, und an bestimmte Jntereffen, um derenwilleu diese Macht existiert, von welchen sie ihren Wert herleitet, mit Rücksicht auf welche sich ihre Form bestimmt, und welche sie zu geschützten macht. Aber daS Recht an sich ist Macht. Es verhält sich zum Interesse wie die Festung zum geschützten Lande.—Elementes 21. Merkel, Rechts­ norm 1L subj.R., Sammlg. 373. Bespr. von Schuppe „Begriff des subj.R.", Sammlg. 537. Bespr. von Schuppe „Gewohnheitsrecht", Sammlg. 675. Über subj. Rechte im Gebiete des öffentl. R. (Wahlrechte rc.) § 197, 442.

92

Zweites Kapitel.

Erster Abschnitt.

§ 160. Das vorausgesetzte Interesse kann das eines einzelnen In­ dividuums oder das einer, gleichviel unter welchem Namen ver­

bundenen, Vielheit von Personen sein (§ 186 ff.).

§ 161.

Dieses Interesse kann ferner entweder durch sachliche Merk­ male charakterisiert sein, als Interesse an der Erlangung oder Behauptung oder an dem Genusse bestimmter Gegenstände, Zvftfhibe oder Verhältnisse, oder aber es kann die freie Willens­

betätigung und persönliche Machtaußerung an sich zum Gegen­ stände haben.

Häufig werden durch dasselbe Recht Jntereffen von

beiderlei Art geschützt. So bietet das Eigentumsrecht dem Eigentümer die Möglichkeit einer­ seits des Genusses der Sache, andererseits der freien WiÜensbetLttgung AN und mittels derselben. — Bei der Einteilung der Rechte ist die hervor­ gehobene Jnteressenverschiedenheit nicht zu verwenden. Gleichwohl kommt ihr eine große Bedeutung zu, weil bei der Gestaltung der RechtSverhältnifle die Rücksichten auf sachlich bestimmte Jntereffen einerseits, auf daS Interesse steier Selbstbestimmung und Machtaußerung andererseits sich beständig neben- und vielfach gegeneinander geltend machen. S. § 250 ff. § 162.

DaS Recht kümmert sich aber um diese Interessen überall nur insofern, als ihre Befriedigung sich als abhängig von dem

Verhalten Dritter darstellt. *§ 163.

Jedes subjektive Recht hat demgemäß eine Beziehung auf Dritte, von welchen ein bestimmtes Handeln, Dulden oder Unter­ lassen gefordert wird.

Dies ist der im subjektiven Recht enthaltene

„Anspruch" des Inhabers des Rechts auf ein solches Verhalten,

und letzteres ist bei dem anderen Gegenstand einer Pflicht. *§ 164.

So ist die Herrschaft über eine Sache „Recht" nur mit Be­ ziehung auf Dritte, von welchen ihre Respektierung verlangt wird.

Das subjektive Recht insbesondere.

93

Demgemäß ist beim Eigentumsrechte das Verhalten der Sache p ihrem Eigentümer und dessen Interessen an sich für da- Recht gleichgültig. Das Recht kümmert sich nicht darum, daß jemandes Hund ihm nicht entlaufe oder jemandes Pferd seinen Herrn nicht abwerfe. Der Macht, welche eim Eigentumsrechte verleiht, steht keine Gebundenheit der Sache gegenüber, sondern eine solche der Nichteigentümer. Störungen im Genuß oder in der Benutzung unserer Sachen haben daher eine rechtliche Bedeutung überall nut, sofern sie aus ein zu verantwortendes Verhalten Dritter zurückführbar sind. — Das gleiche wie bezüglich dieser Herrschaft über Sachen gilt bezüglich anderer Gegenstände rechtlichen Schutzes, z. B. unserer Ehre, unserer Gesundheit. Bon einem Rechte der Ehre, der körperlichen Integrität sprechen wir nur mit Beziehung auf mögliche Verletzungen dieser Güter oder der in ihnen geschützten Interessen durch Dritte.

z 165.

Die Macht des subjektiven Rechts begründet sich darin, daß das objektive Recht den Anderen jenes Verhalten zur Pflicht macht und die Erfüllung dieser Pflicht, und im Falle ihrer Verletzung eine Ausgleichung, durch die ihm eigentümlichen Machtäußerungen

(ethischer und materieller Art. § 43 ff.) getvährleistet. Jedem subjektiven Recht steht daher irgendeine Rechtspflicht eines anderen Subjektes gegenüber. Es gehört dies zu seinem Begriff. Richt jeder Recht-pflicht steh? dagegen ein subjektives Recht gegenüber, wohl aber

jeder eine irgendwie bestimmte rechtliche Macht. — Man hat ehedem viel über die Frage gestritten, ob das Recht oder die Pflicht als da- frühere, und ob jenes aus dieser oder diese aus jenem als abgeleitet zu betrachten sei. Ein verkehrtes Fragen! Man könnte ebensogut fragen, ob die Winkel in einem Dreieck das frühere seien oder die ihnen gegenüber liegenden Seiten, oder ob in der Monarchie das Herrschen des Monarchen oder daS Beherrschtem der Untertanen als das Prius zu gelten habe. Die Pflicht eine- Darlehnsschuldners ist weder früher noch später als das korrespon­ dierende Recht des DarlehnsgläubigerS, mid es kommen beide gleichzeitig als Elemente eine- durch dieselbe Rechtsnorm an dieselbe Tatsache ge­ knüpften Rechtsverhältnisses zur Entstehung.

§ 166. Zur individuellen Gestaltung dieser Macht gehört es, daß

dem Berechtigten gewisse Mittel an die Hand gegeben find, mittels deren er die verheißene Rechtshilfe herbeiführen kann, insbesondere auf die Verwirklichung der ausgleichenden Rechtsfolgen einer Ver­

letzung seines Rechts Einfluß üben kann. Zu diesen Mitteln ge­

hören die „Klage" und die „Beschwerde".

Zweit«- Kapitel.

94

Erster Abschnitt.

§ 167.

Das wichtigste unter diesen Mitteln ist die „Klage": eine Geltendmachung der Kraft de- subjektiven Recht- vermittel- und

in Form einer Anrufung der Gerichte mit Rücksicht auf eine an­ geblich erlittene oder zu befürchtende Rechtsverletzung. Ein vollkommen ausgerüstetes Recht enthält die Befugnis zu dieser Anrufung, ist also ein „klagbares" oder „gerichtlich ver­

folgbares".

S. jedoch § 665. — In bezug auf da- au- strafbare» Handlungen hervorgehende Recht aus Bestrasung substituiert stch der „Klage" die „«»tlage" (s § 809). Über den römischen Illagebegriff Saviguy, System V. Windscheid, Die actio. Da» löm. ZivUr. v. Staudp. de» heut. 9t. 56. Paud. § 46ff. Better, Die Aktioneu 71 f. Im übrige» s. Litt. z. Prozeßr.

§ 168.

Die „Beschwerde" ist ein Berteidigungsmittel für gewisse Rechte bei deren Verletzungen durch Organe der Gemeinschaft. Sie enthält eine Anrufung übergeordneter Organe um Abhilfe.

*§ 169. Nur innerhalb enger Grenzen darf heute der Berechtigte dem Verpflichteten gegenüber sein Recht eigenmächtig und zwangsweise selbst zur Geltung bringen, und so durch eine vom objektiven

Rechte sanktionierte „Selbsthilfe" die obrigkeitliche Rechtshilfe

entbehrlich machen. •§ 170.

Im modernen Staate ist die Unterscheidung der defensiven Selbsthilfe, d. i. der bloßen Abwehr rechtswidriger Angriste, von

der aus Durchsetzung rechtlicher Ansprüche gerichteten aggressiven

Selbsthilfe wichtig. Die erstere ist, soweit sie zur Abwehr erforderlich, allgemein zugelaffen („Notwehr"; § 764); die letztere grundsätzlich nur in

Notfällen, wenn Gefahr im Verzüge und obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist.

Die Ausübung des subjektiven Recht- insbesondere.

96

Ei» Beispiel aggressiver Selbsthilfe: ein Gläubiger verschafft sich eine Befriedigung seiner Forderung, indem er seinem Schulduer Wertgegen­ stände weguimmt, sie veräußert und den Erlös für fich oehLLt. Diese Handlung ist im allgemeine» strafbar; a»ders nur, wen» der Schuldner etwa im Begriffe stand, ein Schiff nach Amerika zu besteigen, so daß ohne sofortiges Eingreifen die Befriedigung der Forderung wesentlich erschwert worden wäre, auch obrigkeitliche Hilfe nicht zur Stelle war. Ein weitergeheudes Selbsthilserecht hat der Besitzer, indem er fich des widerrechtlich entzogene» Besitze- eigenmächtig (aber nur sofort) wieder bemächtigen darf (s. § 611).

III. Die Ausübung des subjektiven Recht» tnSbefoudere. § 171. Bezüglich der aktiven Seite des Rechtsverhältnisses (§ 146 ff.)

lösten sich überall folgende Fragen aufwerfen:

1. Westen Interessen bilden den Gegenstand deS rechtlichen Schutze-? 2. Wem liegt eS ob, die Handlungen vorzunehmen, von welchen die Befriedigung dieser Interessen abhängt und

in welchen die ihnen gewährte rechtliche Macht zur Er­

scheinung kommt? 8 172. AlS normaler Fall erscheint eS, daß derjenige, dessen Inter­ esse den Gegenstand des Schutzes bildet, zugleich selbst die er­

wähnten Handlungen vornimmt, also der Sachwalter diese- Inter­ esses ist. Hierher gehört eS, wenn der Eigentümer einer Sache, für

welchen

das Recht

an

derselben

vorhanden

ist,

zugleich

die

Handlungen auSführt, durch welche die Sache seinen Interessen dienstbar wird und die Machtseite deS Rechts zur Erscheinung

grlangt. Wir sprechen hier davon, daß daS Recht und .die Ausübungdesselben in der nämlichen Person zusammentreffr».

FrverleS Kapitel.

96

Erster Abschnitt.

8 173. Ju solchem Falle ist die Ausübung des Recht- innerhalb

seiner Grenzen in der Regel eine frei« (f. jedoch § 193 ff ).

Der

Berechtigte bestimmt darüber nach seinem Ermeffen.

So kann hier der Eigentümer die in seinem Rechte liegende Macht nach seinem Ermeffen auSüben, oder auch diese Ausübung

unterlaffen. 8 174.

Jntereffent und Sachwalter sind indesien nicht immer iden-

risch, und'dem Sachwalter fremder Interessen können AuSübungS-

handlungen in verschiedenem Umfange zufallen.

Dabei kann sein

Verhältnis zu den Jntereffenten einen verschiedenen Charakter haben.

8 175. ES gehört hierher, wenn der Berechtigte ein Kind oder ein Geisteskranker ist.

Wichtige unter Len Begriff der Ausübung deS

Recht- fallende Handlungen sind hier von Vertretern der Be­

rechtigten vorzunehmen. 8 176.

Die geschützten Interessen können ferner die einer Vielheit

von Personen sein, z. B. der Angehörigen einer Gemeinde, während die Ausübung deS Rechts einzelnen zufällt, z. B. den Gemeinde-

beamten. 8 177.

Wo eine derartige Scheidung des geschützten Interesses und der Ausübung deS dafür konstituierten Rechts stottfindet, da ist die

letztere regelmäßig nicht in das souveräne Belieben des Handelnden

gestellt, sondern an ein ihm gegenüber objektives Maß gebunden. Diese- Maß kann in Aufträgen derjenigen gegeben fein, um

deren Interessen und Rechte eS sich handelt.

ES kann aber auch

unmittelbar in den zu wahrenden Jntereffen liegen, oder in Rechts­

normen, in welchen diese Jntereffen einen verbindlichen Ausdruck

gefunden haben.

In häufigen Fällen kommt für die Ausübung

Die Ruiibung bet subjektiv« Recht» insbesondere.

97

bestimmter Rechte bald daS eine, bald da- andere dieser Maße in Betracht. So bei dem Gemeindebeamten in bezug auf die Aus­

übung der Rechte, deren Organ er ist, bald unmittelbar da- von ihm zu erforschende Interesse der Gemeinde, bald irgendeine Rechts­ vorschrift, welche feststellt, waS in bcstimmten Angelegenheiten als

daS Interesse der Gemeinde zu betrachten sei. § 178. Der Berus, fremde Rechte zur Ausübung zu bringen, kann fich in der Person des Handelnden selbst wieder zn einem Rechte

gestalten. Dem Rechte deS Interessenten stellt fich hier daS Recht sejueS Sachwalters an die Seite, jene- zur Ausübung zu bringen.

Go hat der ordnungsmäßig eingesetzte Bürgermeister einer Gemeinde das Recht, bestimmte Rechte der Gemeinde auSzuüben.

So der angestellte Richter das Recht, bestimmte staatliche Rechte

zur Ausübung zu bringen. § 179.

Eigentümlichkeiten zeigen derartige Verhältnisse bei den so­ genannten „Stiftungen", d. i. Einrichtungen, welche die im Rechte anerkannte Bestimmung haben, BermägenSobjekte in einer

dauernden und individuellem Belieben entzogenen Weise für be« stimmte Interessen fruchtbar zu machen.

§ 180. Ein Beispiel gibt das „Städel'sche Institut" in Frankfurt a.M. Dasselbe stellt Einrichtungen dar, welche bestimmt sind, ein ge­

gebenes Vermögen in einer dauernden Weise für künstlerische Inter­ essen fruchtbar zu machen. 8 181. Die Interessen, um deren Befriedigung, Schutz und Vertretung

e- sich bei diesen Stiftungen handelt, sind hier nur objektiv be­ stimmt (gleich denjenigen, welche in § 155 und 156 erwähnt sind).

ES sind nicht Interessen dieser oder jene- individuell be7

■trrtel, Juristisch« En-yS»pLvte. 5. Aust.

Zweites Kapitel.

98

Erster Abschnitt.

stimmten Subjektes, sondern die künstlerischen, wissenschaftlichen

oder humanen Interessen, welche sich in einem bestimmten Gebiete und in bestimmten Formen geltend machen.

Eine Scheidung zwischen Interessenten und Sachwaltern ist hier selbstverständlich.

§ 182. Das Besondere aber ist, daß bei diesen Stiftungen subjektive

Rechte zur Ausübung kommen, für welche es an einem Subjekte zu fehlen scheint, da die geschützten Interessen uuo objektiv be^ stimmt sind.

Wer ist hier der Berechtigte?

Wer ist das Subjekt der

Eigentumsrechte, welche bei jener Städel'schen Stiftung für die Interessen einer unbestimmten und unbegrenzten Zahl von Menschen fruchtbar gemacht werden?

Sind es diese ungreifbaren Interessenten (die Gesamtheit der „Destinatäre", so Jhering), oder sind es diejenigen, welche die Rechte ausüben, oder ist das Subjekt der Rechte hier außerhalb des Bereichs der Interessen zu suchen, für welche sie da sind,

und der Handlungen, durch welche sie zur Wirksamkeit gelangen? Hierüber s. § 189 f. Die Rechte haben hier trotz der bloß generellen Bestimmung der in Betracht kommenden Interessen doch die früher bestimmten Merkrnale der individualisierten rechtlichen Macht. So sind die Eigentumsrechte der Stiftungen ein Gegenstand der gleichen individualisierenden Bestimmungen wie die Eigentumsrechte bestimmter Individuen. Fehlt es hier an der individuellen Bestimmung der Interessenten, so haben dafür die Ein­ richtungen, durch welche die Ausübung des Rechts erfolgt, ein um so individuelleres Gepräge.

IV. Die Rechtssubjette insbesondere. *§ 183. Nach modernem Rechte kann jedes menschliche Individuum

Subjekt von Rechten und von Rechtspflichten sein: jedes besitzt

„Rechtsfähigkeit", ist im Rechtssinne „Person".

Person" sagt B.)

(„Natürliche

Die Rechtssubjekte insbesondere.

99

Rechtsunfähige Menschen (Sklaven, Leibeigene, Hörige) kennt daS moderne Recht nicht mehr. — Auch keine Entziehung der R.fähigkeit durch richterliches Urteil als Folge schwerer Verbrechen mehr („bürger­ licher Tod", code civil). Die R.fähigkeit beginnt mit Vollendung der Geburt — wenn daS Recht auch bereits fiir den nasciturus Fürsorge zumal in straf- und erbrechtlicher Beziehung trifft — und bleibt erhalten biS zum Tode. Ist jemand längere Zeit verschollen und deshalb sein Tod ungewiß, so kann er vom Gericht für tot erklärt werden, mit der Wirkung, daß sein Leben und sonnt seine R.fähigkeit als bis zu dem im Urteil bezeichneten Zeitpunkte fortdauernd vermutet wird. 184. In älteren Rechten begründete die Zugehörigkeit zu einem

bestimmten Staate, Stande oder kirchlichen Verbände, das Ge­ schlecht, Alter und andere Eigenschaften erhebliche und allgemeine

Modifikationen der Rechtsfähigkeit.

Heute dagegen ist dieselbe

auf dem Gebiete des Privatrechts (§ 192 ff.) grundsätzlich unab­

hängig von all diesen Montenten, während solche im öffentlichen

Recht auch jetzt Abstufungen bewirken (z. B. für das Wahlrecht).

Auf privatrechtl. Gebiete findet sich von solchen Unterscheidungen z. B. landesrechtlich die Notwendigkeit staatlicher Genehmigung für den Erwerb von Grundeigentum durch Ausländer. *§ 185. In bezug auf ein bestimmtes Recht ist als das berechtigte

Subjekt in der Regel der Träger des Interesses anzusehen, für welches die in jenem Recht enthaltene Macht gewährt ist und

welches die Richtschnur für dessen Ausübung bildet; gleichviel ob

diese Ailsübung durch den Jnteresienten selbst oder durch andere stattfiudet ($ 172 ff.).

Mit dem Folgenden vgl. Jhering, Geist III § 55 u. 60f. (Die Rechte ständen den Genießern zu). Zitelmann, Begriff und Wesen der sog. juristischen Personen 73. Brinz, Pand. 2. A. 8 59 ff. (Theorie des „Zweckvermögens"). Regelsberger, Pand. § 75ff. DemeliuS in JherJ. 4. Better, Z. L. v. Rechtssubjekt, eod. 12. v. Lindgren, Grd.begriffe des Staatsrechts 69. Bierling, Kritik II, 74 ff, u. Prinzipienlehre I. Gierke (gegenüber der älteren romanist. Th. der „fingierten" Personen — s. § 188 91. — Auffassung als „reale" Personen), Das deutsche Genossenschastsrecht, 3 Bde. 68/81. T)ieGenossenschaftstheorie u. died.R.sprechung87. Personengemeimchusten u. VermögeuSinbegriffe 89. D. Privatrecht § 58 ff. Wesen der menschl.Verbünde,Rek.rede 02. Vereine ohne R.fähigkeit,2. A.02.

Zweites Kapitel.

100

Erster Abschnitt.

Laband in ZHR. 30. Rosin, R. der ?ffentl. Genossenschaft 86. Sohm, Die deutsche Genossenschaft 89. Karlowa, in GrünhZ. 15. Burckhard, eod.28. G. Rümelin, MethodischeS.überj. P.91. Zweckvermögenu. Ge­ nossenschaft 92. Bernatzick im ArchÖffR. 5. Meurer, Die j. P. nach ö. Reichsrecht 01. H öld er, Natürlichen. j.P. 05 und in JherJ. 53. Binder, Problem der j. Persönlichkeit 07. (Die beiden letzteren verwerfen die Rechts­ form der j. P. überhaupt.) Stammler, Unbestimmtheit des R.subjekts 07. Schwarz, R.subjekt u.R.zweck, e. Revis, d. L.v. den Personen, ArchBürgR. 32 U..35. Dazu Enneccerus, Lehrb. F96. O. Mayer, Diej. P. u. ihre Verwertbarkeit im öff. R. 08.

*§ 186. Auch Staaten (§ 368), Gemeinden, anerkannte kirchliche Ge­

meinschaften (§ 866), ferner Innungen, Berufsgenossenschaften und zahlreiche andere „Korporationen" (Körperschaften) find

Subjekte von Rechten und Rechtspflichten. Für privatrechtliche Vereine ist nicht daS Prinzip einer „freien Körperfchastsbi!düng" anerkannt, sondern sie bedürfen entweder einer be­ sonderen staatlichen Verleihung der Korporationsrechte und damit der selbständigen Rechtsfähigkeit (röm.-gemeinrechtl. „Konzessionssystem"), oder es ist die Erfüllung gewisser gesetzlicher Normativbestimmungeu, inSbes. Publizität durch Eintragung in ein öffentl. Register, erforderlich und ge­ nügend. Letzteren Standpunkt nimmt die neuere deutsche Reichsgesetz­ gebung überwiegend ein. So Handelsgesetzbuch für Aktiengesellschaften. So B für die sog. Vereine mit idealen Zwecken (alle, deren wesentliche Betätigung nicht auf wirtschaft!. Gebiete liegt; also ein Turn- oder Kunst­ verein, eine studentische Verbindung). Diese erlangen R.fähigkeit durch Ein­ tragung in daS vorn Gericht geführte Bereinsregister, wogegen aber in ge­ wissen Fällen (namentlich bei politischen, sozialpol. u. religiösen B.) die Verwaltungsbehörde Einspruch erheben kann.

8 187.

Gegenstand des Schutzes sind hier die gemeinsamen Inter­ essen, welche in der Korporation und durch deren Wirksamkeit

Befriedigung suchen. § 188. Trägerin dieser Interessen ist die Gesamtheit der Mitglieder in ihrer durch die Berfasiung der Korporation näher bestimmten

Einheit.

Sie ist gemeint, wenn die Korporation genannt und

dieser Rechte zuerkannt werden. Da die Verbindung der Menschen im Staate nichts bloß Gedachtes ist, sondern in der Wirksamkeit vereinter Kräfte, in VerhälMisicn der

Die Recht-subjekte insbesondere.

101

Über- und Unterordnung und gemeinsamer Abhängigkeit von den gleichen

Quellen des Glücks und des Unglücks eine für jeden fühlbare Wirklichkeit besitzt, so ist es töricht, den Staat, wie es vielfach geschieht, als eine bloße Abstraktion, ein bloß fingiertes Wesen zu bezeichnen. Da diese Ver­ bindung ferner eine im Rechte anerkannte und in Gestalt unzähliger subjeknver Rechte individualisierte Macht beständig aufs wirksamste zur Get^ tuug bringt, so ist eS ebenso verkehrt, sie als ein bloß „fingiertes" RechtSsubjekr zu bezeichnen. — Gleichermaßen sind alle übrigen Korporationen nicht fingierte, sondern wirkliche Rrchtssubjekte.

*§ 189. Solche menschliche Verbände, welche Subjekte von Rechten

und Rechtspflichten sind, werden in dieser Eigenschaft „juristische

Personen" genannt (im Gegensatz zu den „natürlichen Versoneu"

8 183).

Den gleichen Ausdruck wendet man auf die „Stiftungen^ (§ 179 ff.) an, welche durch staatliche Genehmigung die Rechts­

fähigkeit erlangt haben.

§ 190. Weil bei den Stiftungen die Interessenten weder korporativ

verbunden noch von vornherein persönlich bestimmt sind, und dem­

gemäß hinter den ihren Interessen dienenden Einrichtungen zurück­ treten, so legt man die Rechte hier kurzweg diesen Einrichtungen selbst ber.

An die Stelle der Interessenten, für welche die Rechte da

find, tritt hier im Sprachgebrauch die Organisation, durch welche diese Rechte wirksam werden. Diese Ausdrucksweise findet ihre zureichende Begründung in Leu hervorgehobenen Umständen. Statt zu sagen: „diese Güter gehören jetzigen und künftigen Armen, bei welchen die und die Voraussetzungen Zusammentreffen und für welche diese Güter fruchtbar gemacht werden solle» durch die Einrichtungen des Armenstifts St. Marx nach Maßgabe der Statuten dieser Stiftung" sagen wir kurzweg, „diese Güter gehören dem Armenstift St. Marx". Das Rechtsverhältnis ist damit nach seiner aktiven Seite hin genügend charakterisiert. In dieser Richtung ist überall zur Kennzeichnung eine- Rechtsverhältnisses nichts weiter erforderlich, als daß wir über die geschützten Interessen, sowie darüber AuSkmrft geben, durch wen und wie dieselben samt der ihnen zukommenden rechtlichen Macht zur Betätigung gelangen. Speziell ist es müßig, hier neben Jntereffenten und Sachwaltern ein weitere- Subjekt ermitteln zu wollen.

welche- al- der Träger des subjektiven Recht- zu betrachten wäre. Man hat die- gleichwohl getan und da sich in der Wirklichkeit ein solches Subjekt nicht entdecken ließ, ein solche- fingieren zu müffen gemeint. Diese Fiktion aber hat hier ebensowenig wie bei den Korporationen unsere Einsicht in die Natur der vorliegenden Verhältnisse und der fie regelnden (besetze gefördert.

Zweiter Abschnitt.

Ihre Einteilungen. I. Privatrechtltche und öffentlich-rechtliche Verhältnisse und bzw. Rechte. § 191. Den Einteilungen der Rechtssätze (§ 81 ff.) entsprechen Ein­ teilungen der Rechtsverhältnisse. Unter diesen ist die wichtigste Einteilung die in: 1. privatrechtliche, d. i. den Privatrechtsnormen, und 2. öffentlich-rechtliche, d. i. den Normen des öffent­ lichen Rechts korrespondierende Verhältnisse. Die unter­ scheidenden Merkmale find im allgemeinen in den § 85 — 97 bezeichnet worden, hier aber in bestimmten Richtungen spezieller zu entwickeln.

§ 192. 1. In den typischen Privatrechtsverhältnissen stehen sich Privatpersonen gegenüber, welchen im Verhältnis zueinander die Wahrung ihrer Interessen im Wege freier Verfügungen und Vereinbarungen überlassen ist. Hierher gehören Mietverhältnisse zwischen Privatpersonen, welche von diesen durch freie Vereinbarungen geordnet werden, des­ gleichen Verhältnisse zwischen Käufern und Verkäufern, Darlehnsgebern unb Darlelmsuehmern unter der gleichen Voraussetzung

Privatrechtlich« unb öffentlich-rechtliche verhLltniffe u. bzw. Rechte.

103

8 193.

Es finden sich jedoch Abweichungen von diesem Typus, ohne daß diese den Begriff der PrivatrechtsverhLltniffe auSschließen. Und zwar in doppelter Richtung: a) Es können die in solchen Verhältnissen stehenden Privat­ personen unter bestimmten Umständen Beschränkungen hin­ sichtlich der Ordnung ihrer Berhältniffe unterworfen sein; b) «S können auch Staaten, Gemeinden rc. in PrivatrechtSverhältniffen stehen. 8 194. ad a) Die betreffenden Personen können Beschränkungen unterliegen: «) weil sie mit Rücksicht auf Alter, Geschlecht, eine ihre Frei­ heit beschränkende Notlage ober andere Umstände nicht als zuverlässige Sachwalter ihrer eigenen Jntereffen vom Rechte angesehen werden. DaS letztere schützt ihre Jnter­ effen hier unabhängig von ihrem eigenen Willen und sogar gegen denselben, indem es ihnen nachteiligen Verfügungen und Vereinbarungen eine rechtliche Wirksamkeit versagt, oder aber diese an besondere Bedingungen knüpft. Hier­ her gehören u. a. Beschränkungen, welchen die Minder­ jährigen in bezug auf die Eingehung privatrechtlicher Ver­ pflichtungen unterliegen (§ 238).

§ 195. ji) Ferner unterliegen sie Beschränkungen in Verhältniffen, bei deren Ordnung in einer unmittelbaren Weise öffent­ liche Interessen als beteiligt erscheinen. Hierher gehören z. B. die Beschränkungen der Ehegatten in bezug auf die Auslösung ihrer Ehe (§ 94, 719). 8 196. ad b) Staaten, Gemeinden, kirchliche Verbände können bei PrivatrechtSverhältniffen als berechtigte wie als verpflichtete Subjekte

Zweites Kapitel.

104

Zweiter Abschnitt.

in Betracht kommen, z. B. als Mieter oder Vermieter bestimmter Räumlichkeiten, als Käufer oder Verkäufer bestimmter Sachen. Der privatrechtliche Charakter dieser Verhältnisse wird hier­

durch nicht ausgeschlossen, weil und sofern die Beziehungen zwischen den beteiligten Subjekten (Mieter und Vermieter rc.) hierbei nach

denselben Grundsätzen behandelt werden, welche dort Platz greifen, wo lediglich Privatpersonen sich gegenüberstehen.

Hinsichtlich derer, welche die genannten Subjekte hierbei vertreten, gilt da- in § 176 ff. Gesagte. § 197.

2. Auch in den öffentlich-rechtlichen Verhältnissen

hat die vom Rechte gewährte Macht zumeist die Form des subjeküven Rechts. Die Natur dieser Verhältnisse bringt es dabei vielfach mit sich,

daß in Beziehung auf das nämliche Recht in dauernder Weise zwei Subjekte in Betracht kommen, nämlich der Träger des betreffenden. Rechts selbst und derjenige, der die Berechtigung hat, dasselbe aus­

zuüben (§ 174 ff.). Einige haben behauptet, daß es im Bereiche des öffentlichen Rechts keine subjektiven Rechte geben könne. Die Besonderheiten dieses Rechts­ teils, welche früher dargetegt worden sind (§ 87 ff., womit die Ausführungen im Staatsrecht zu vergleichen sind), haben sie zu dieser Annahme ver* leitet. Diese Besonderheiten enthalten jedoch in Wahrheit nichts, waS mit der Natur der subjektiven Rechte in irgendeinem Punkte im Wider­ streit stände. — § 442. § 198.

In diesem Falle ist die Ausübung des Rechts regelmäßig durch besondere Rechtsnormen geordnet und für den damit Betrauten zu einer Pflicht erhoben.

Hierbei stellt sich dieser Gesichtspunkt als

der prävalierende dar: der Betreffende ist zur Vornahme der Aus­ übungshandlungen berechtigt, weil er dazu verpflichtet ist. So ist der richterliche Beamte, der Geschworene, der Schöffe (§ 846) zur Ausübung staatlicher Rechte befugt, weil und insoweit

als er hierzu als verpflichtet erscheint. seite seiner Pflicht.

Sein Recht ist die Kehr­

Absolute (tai6ef. dingliche) und rrlatir« (persönlich«) Rechte.

105

§ 199.

Auch wo Recht und Ausübung im Bereiche der öffentlichrechtlichen Verhältnisse zusammensallen, ist die BerfügnngSgelvalt

deS Berechtigte» wegen der hier überall in Betracht kommenden öffentlichen Jntereffen «ine beschränkte. Hierher gehören z. B. die Rechte deS Angeklagte» im Stras-

prozeste.

Diese können nicht durch Verzicht beseitigt werden und

gelangen zum Teile selbst gegen den Willen deS Angeklagte» zur

Ausübung (f. den Strasprozsß).

II. Absolute (inöbes. dingliche) und relative (persönliche) Rechte. 8 200. Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Verhältniffe lassen sich

mit Rücksicht auf die Richtung der gewährten Ansprüche iu zwei Gruppen sondern. Bei der einen Gruppe steht dem Berechtigten ein einzelnes

bestimmtes Subjekt ober auch eine Mehrzahl bestimmter Subjekte

gegenüber, von welchen ein bestimmtes, den Gegenstand des An­ spruchs bildendes, Verhalten verlangt wird.

Bei der anderen Gruppe stehen dem Berechtigten olle anderen

gegenüber, soweit die schützenden Rechtsbestimmvngen eine ver­ pflichtende Kraft auf sie zu äußern vermögen.

201.

Das erste ist z. B. der Fall bei

dem Darlehnsgläulnger,

der einem bestimmten Individuum gegenüber einen Anspruch auf

Rückzahlung einer ihm geliehenen Geldsumme hat (actio in per-

Bonam). Rechte solcher Art nennt man „relative" oder „persönliche", weit

sie sich im einzelnen Fall überhaupt nicht charakterisieren lasten, ohne

daß auf die Person des Verpflichteten hingewiesen wird (§ 544 f.).

*§ 202. Das zweite ist z. B. der Fall bei dem Eigentümer einer Sacht Der in seinem Recht liegende Anspruch geht gegen alle; alle sind verpflichtet, seine Herrschaft über di« Sache zu respektieren (actio in rem). Rechte solcher Art nennt man „absolute", „unpersönliche", und soweit eine Herrschaft über Sachen in Frage fleht, „dingliche" Rechte, „Sachenrechte" (§ 542, 46, 88). Solche Rechte lassen sich in concreto ohne Bezugnahme auf die Verpflichteten charak­ terisieren. In neuerer Zeit wollen manche neben den relativen (R. „des recht!. Sollens") und absoluten (R „des recht!. Dürfen-") als dritte Gruppe bte sog. .Rechte de» rechtlichen Können»', .Kannrechtr" unterscheiden. (Belsp. Anfechtung»- u. Ausrechnung-recht. § 669 u. 674). Aitrlmaun, Allgem. T de»R. S.22. Iuteruat.Privaii.il.32. Hellwig, Lehrb. §34ff. Seckel, „Gestaltung-rechte" 03. Bierman», Bürger!. R. § 35.

III. Übertragbare und ntchtübertragbare Rechte.

§ 203.

Privatrechtliche sowohl wie öffentlich-rechtliche DerhSltnisie lasten sich ferner mit Rücksicht aus die Übertragbarkeit oder Nicht­ übertragbarkeit der dazu gehörigen Rechte und bzw. Pflichten unterscheiden.

*§ 204. Gewisse Rechte nLmlich sind unlösbar mit dem Subjekte ver­ bunden, für welches sie zur Entstehung gelangt sind. Dahin gehören die Rechte, welche Eltern und Kinder, und diejenigen, toelche die Ehegatten im Verhältnis zueinander haben (z. B. das NnhungSrecht dcS Ehemanns am eingebrachten Gut der Frau bei der Berwaltungsgemeiuschast, § 724). Das gleiche gilt von manchen Verpflichtungen. So sind die gegenseitigen Verpflichtungen der eben genannten Personen unüber-

Entstehung der Rechtsverhältnisse tragbar.

107

So die Pflicht eine- Verbrecher-, sich der im Gesetze für

sein Verbrechen gedrohten Strafe zu unterwerfen. *8 205.

Die meisten Rechte dagegen können auf andere Subjekte über­ tragen werden.

So kann im allgemeinen da- Eigentum an einer

Sache aus einen anderen übertragen werden (§ 601).

Ebenso eint

Forderung (§ 651).

Andererseits kann eine Sukzession im allgemeinen auch in Verpflichtungen eintreten.

So geht die Verpflichtung zur Rück­

zahlung eine- Darlehens von dem Empfilnger auf dessen Erben

über.

Ader auch bei Lebzeiten de- Schuldner- kann (nach heutigem

Rechte) ein anderer in dessen Verpflichtung eintreten (§ 653).

Dritter Abschnitt.

Ihre Entstehung. I. Im allgemeinen. § 206. Soll em Rechtsverhältnis bestimmter Art zur Entstehung

kommen, so müssen gewisse vom objektiven Rechte bezeichnete Tat­ sachen — „juristische Tatsachen" —

gegeben sein.

Den Inbegriff dieser für die Entstehung eine- Rechtsverhält­ nisses bestimmter Art entscheidenden Tatsachen nennt man einen „juristischen Tatbestand", daS entstehende Rechtsverhältnis eine

„Rechtsfolge" oder „Rechttzwirkung" desselben.

ElemeMt § 22f Jhering, Geist III § 53. Zitelmann, Irrtum u Rechtsgeschäft, e. psychol.-jur. Untersuchung 79. Better, Lyft. de« Pandektenr. II, 89. Bierltng, ÄtitiMI, 256. Eltzbacher, Handlungs­ fähigkeit I: DaS recht-wirksame Verhalten 03 (dazu Gierke, in AHR. 55). Manigk, Willenserklärung u. W.geschäft, e. Syst. der jur. Handlgen. 07.

Zweite- Kapitel'

108

Dritter Abschnitt:

8 207.

Die juristischen Tatsachen sondern sich in die zwei Haupt­ gruppen:

L der juristischen Handlungen,

IL der sonstigen juristische» Tatsachen: § 208. I.

Die hierher gehörigen Handlungen zerfallen wieder in

zwei Hauptgruppen, nämlich in:

1. Handlungen derjenigen, welche bei den ent»

stehenden RechtLderhiiltnissenalb Interessenten (oder deren Vertreter) beteiligt sind, und

2. obrigkeitliche Hand lungen — Handlungen einer den Beteiligten übergeordneten Autorität.

§ 209.

1. Die Handlungen der Beteiligten zerfallen in:

a) Rechtsgeschäfte, b) Rechtsverletzungen, c) sonstige Handlungen. § 21Ö.

a) Rechtsgeschäfte

sind Handlungen

der

Beteiligten,

welche darauf gerichtet und dazu geeignet sind, bestimmte RechtS-

verhältmfse im Einklang mit dem objektiven Rechte zur Entstehung

zu bringen (bzw. aufzuheben oder abzuändern). Dei Rechtsgeschäften und ebenso bei Rechtsverletzungen beatm wir zunächst an bestimmte Handlungen derjenigen, in deren Person RechtSpflichteu und bzw. Rechte zur Entstehung kommen. Diese Entstehung ist jedoch stets an gewisse weitere, außerhalb der WillenSbetäligung der Ge­ nannten liegende, Voraussetzungen gebunden. So z. B. beim Kaufgeschäft an dir Existenz eine- Gegenstandes, über welchen durch Saus verfügt werden kann (f. g 677). Die betreffenden Umstünde gehören mit zum „Tatbestands (§ 206) deS betreffenden Geschäfts oder der betreffenden Rechtsverletzung. Streng genommen müßten daher der im Texte aufgestellten Definition bet Rechtsgeschäfte die Worte bei gefügt werden' „samt den Tatsachen, üjn

Entstehung der Rechtiverhöliniste.

109

welchen ei abhLngt, baß He HanbLnngen hierzu geeignet stab*. Der Sprach­ gebrauch gestattet ei indessen, bai Wort „Rechtigeschästk* in bet Weife, wie ei oben geschehen, lediglich auf die Handlungen selbst zu bezieh«. § 211.

Ei» Beispiel bietet die Vereinbarung zwischen Mieter und Ver­ mieter (Mietvertrag).

Sie stellt Handlungen dar, welche daraus

gerichtet find, im Einklang mit dem objektiven Recht« RechtSverhLli nisse bestimmter Art Mischen den Handelnden hervorzubringen, und

welche im Ginne deS Rechts auch als geeignet erscheinen, eine solche Wirksamkeit zu äußern. 212.

b) Rechtsverletzungen sind Handlungen, welche den Ge­

boten des Rechts (und den unter seinem Schutze stehende» Inter­ esten) widerstreiten und um dieser Eigenschaft willen Rechtsverhält­

nisse hervorbringen. Sie stehen im allgemeinen in zweifachem Gegensatz zu den Rechtsgeschäften, indem sie Zwecke des Handelnden im Widerspruch

mit dem Recht« verfolgen, rechtliche Wirkungen aber im Wider­ spruch mit seinen Zwecken entstehen lasten. Der letzte Satz ist nicht anwendbar ans solche Rechtsverletzungen,

welche sich tu bloßen Fahrlässigkeit eu begründen. — Uba Rechtsverletzungen § 260 ff., 668; speziell über di« strafbaren § 758 ff.

8 213.

So ist der Diebstahl darauf gerichtet, Zwecke deS Handelnden

in einer dem Rechte widerstreitenden Weise zu verwirkliche», -die Rechtsverhültnifle aber, die er hervorbringt —

seine „Rechts­

folgen" — sind darauf berechnet, die Zwecke des Rechts im Wider­

spruch mit den Absichten deS DiebS zur Erfüllung zu bringen (§ 53).

*§ 214. c) Mancherlei Handlungen, welche eine Bedeutung für die Jnteresten anderer haben, bringen RechtSoerhältnifl« zwischen diesen

und dem Handelnden hervor, obgleich weder die Merkmale eines

Rechtsgeschäfts noch diejenigen einer Rechtsverletzung vorliegen.

110

Zweites Kapitel.

Dritter Abschnitt.

Z. V. der Betrieb einer Fabrik oder Eisenbahn, oder da- Überbordwerfen der Schiffsladung bei Seegefahr (f. § 701—8); das Finden einer verlorenen Sache. Die Abgrenzung dieser Gruppe von („rechl-geschäfts-

ahnlichen" Regettberger) Handlungen gegenüber den Rechtsgeschäften ist im einzelnen vielfach preitig. Vgl. Manigk, Anwendungsgebiet der Vor­ schriften für R.geschäste 01 und zu § 206. Eltzbacher zu § 206. Diermann, BürgerticheSR. §38. £(etn, Die Rechtshandlungen im e. Sinne 12.

8 215. 2. Die ob rigkeitlichen Handlungen zerfallen in die

zwei Hauptgruppen: a) der RegierungSakte,

b) der richterlichen Entscheidungen. § 216. a) Ein Beispiel eines hierhergehörigen RegierungsakteS

bietet die Übertragung eines richterlichen Amtes auf eine bestimmte Persönlichkeit.

Hierdurch werden einerseits zwischen ihr und dem

Staate, andererseits zwischen ihr und bestimmten Privatpersonen Rechtsverhältnisse hervorgebracht.

§ 217.

b) Richterliche Entscheidung en kommen in der Regel

nur in Verbindung mit Handlungen der bisher erwähnten 91 rt in Betracht, indem sie die durch solche Handlungen hervvrgedrachten

Rechtsverhältnisse feststellen und bzw. denselben ihre feste Gestalt geben.

§ 218. So erhalten die durch Beleidigung, Raub, Brandstiftung be­

gründeten Rechtsverhältnisse ihre feste Gestalt erst durch richter­

lichen Spruch, durch das Urteil (§ 342 ff.). *§ 219.

II. Unter den sonstigen juristischen Tatsachen seien Geburt und Tod als Quellen einer beständigen Bewegung in der

Welt der Rechtsverhältnisse zuerst genannt.

Entstehung der Recht-verhältnisse.

111

Der Mensch ist von seiner Geburt an Subjekt von Rechten. So besitzt der Neugeboren« Unterhalts- und Erbrechte seinen Eltern gegenüber. Der Tod zerstört einen Teil seiner Rechte, den größeren Teil aber läßt er auf Überlebende übergehen ({. § 733). § 220. Eine große Bedeutung kommt hier ferner einer bestimmten tatsächlichen Gestaltung gewisser Verhältnisse, sowie einer bestimmten Dauer ihre- Bestandes zu. 8 221. Besitz- und Machtverhältnisse finden auf verschiedenen Gebieten des Rechts einen Schutz mit Rücksicht auf Merkmale, die an ihnen selbst hervortreten, unabhängig von der Art ihres Zustandekommens. Das Recht gewährt ihnen diesen Schutz gemäß seiner Aus­ gabe, gegebene Zustände, sofern sie hierzu als geeignet erscheinen, zu Elementen einer Friedensordnung zu erheben. Bgl. den Abschnitt über den Besitz § titOss., inSbes. 619.

tz 222.

Der Wert, welcher gegebenen Macht- und Besitzverhältnissen unter dem bezeichneten Gesichtspunkt zukommt, erhöht sich, wenn diese lange Beit hindurch unangefochten bestehen und mit den Gesamtverhältnissen sich in solcher Weise verknüpfen, daß sie ohne weiterreichende Störungen nicht zu beseitigen sind. § 223. So haben im öffentlichen Rechte aller Völker faktische Machtund Besitzverhältnisse, auch solche, welche notorisch durch Gewalt­ akt« begründet worden waren, sich zu Rechtsverhältniffen erhoben und im Laufe der Zeit alle Heiligkeit gewonnen, welche Rechts­ verhältniffen zukommen kann.

Zweites Kapitel

112

Dritter Abschnitt.

Die Geschichte der Privatrechtsverhältnifse schließt bei allen Völkern ebenfalls derartige Vorgänge in sich.

§ 224. Innerhalb einer befestigten Friedensordnung aber gelangen die Vorgänge, welche zur Begründung neuer, zur Abänderung alter Macht- und Besitzverhältnisse führen, samt den zwischen ihnen be­

stehenden Wertunterschieden zu vollerer Würdigung.

Das Recht

gewinnt eine selbständigere Stellung diesen Vorgängen gegenüber

und eine erhöhte Macht, hier ablehnend und bekämpfend, dort be­ günstigend und stärkend einen kritischen Maßstab zur Anwendung

zu bringen.

Auch hier erscheint eS nicht als eine eigentlich produktive Macht. Es erzeugt nicht, sondern regelt die Bewegung des Lebens.

Aber eS erhöhen sich im Fortschritt der Entwicklung seine Fähig­ keit und sein Beruf, diese Bewegung in solchen Formen und

Richtungen festzuhalten, oder auch in solche hineinzuzwingen, welche den allgemeinen Interessen und sittlichen Überzeugungen

entsprechen (§ 243). *§ 225.

So zeigt auf internationalem Gebiete, wo eine befestigte Friedensordnung nicht existiert, das Recht auch heute nur eine

geringe Selbständigkeit gegenüber den gegebenen Macht- und

Besitzverhältnissen und den Formen ihrer Begründung. ES ver­ hält sich zu dem Usurpator nicht anders wie zu dem legitimen Herrscher, und wertet die durch einen Krieg geschaffenen Berhältnisie gleich, mag der Krieg bei dem Sieger den Charakter

mied Raubkriegs oder den einer legitimen Rechtsverteidigung gehabt haben.

Dagegen unterscheidet das Recht im Lebensbereiche deS ein­

zelnen Staates überall zwischen dem faktischen Gewalthaber und dem legitimen Herrscher, zwischen Raub und sonstigem auf den

113

Rechtsgeschäfte ittib Rechtsverletzungen.

Mißbrauch physischer Kraft gegründetem Erwerb einerseits und dem auf Arbeit oder auf Vertrage gegründeten Erwerb anderer­

seits: jener wird mit steigender Energie unterdrückt, dieser geschützt. Merkel, Recht und Macht 1. c.

§ 226. In dem letzteren Bereiche des einzelnen Staates muß der­

jenige, der zu seinen Gunsten nur eine tatsächliche Machtstellung

geltend machen kann, solchen weichen, welche aus Tatsachen, die an dem Maßstabe deS Rechts gemessen einen höheren Wert repräsen­ tieren, einen Anspruch auf diese Stellung für sich herleiten können.

Lassen sich derartige Tatsachen aber nicht gegen ihn geltend machen, so ist der faktische Machthaber oder Besitzer auch hier Gegenstand eines rechtlichen Schutzes.

§ 227. Auch das bestbegründete Recht aber kann untergehen, weit

die in ihm enthaltene Macht während langer Zeit zu keiner An­

wendung gelangt. *§ 228.

Die Bedeutung des Zeitablaufs für die Begründung (§ 222 ff.) und den Untergang (§ 227) von Rechten und Rechtsverhältnissen findet ihren Ausdruck in her Lehre von der „Verjährung".

Diese wird in eine erwerbende (Aquisitivverjährung, Ersitzung) und eine zerstörende (Extinkivverjährung) geschieden. Über eine Hauptart der ersteren (die Ersitzung des Eigentums) §617f. Die Nichterhebung der Klage (§ 167) binnen bestimmter vom Gesetz vor­ geschriebener Frist (meist längstens 30 Jahre) zieht grundsätzlich den Ver­ lust der Möglichkeit nach sich, den Anspruch (§ 163) noch erfolgreich geltend zu machen. Über Verjährung der Strafverfolgung § 786. Auch der Ver­ lust der Staatsangehörigkeit infolge 10jährigen Aufenthaltes im Ausland gehört hierher (§ 433). In den Rechtsnormen über Verjährung und über die Rechtswirkung tatsächlicher Machte und Besitzverhältnisse ton,ml der bloß relative Wert der juristischen Tatsachen gegenüber der vom Rechte zu lösenden Ausgabe zum Ausdruck.

Merkel, Juristische Enzyklopädie. 5. ÄufL

8

Zweites Kapitel.

114

Dritter Abschnitt.

II. Rechtsgeschäfte und Rechtsverletzungen. Was ihnen gemeinsam ist.

§ 229. Rechtsgeschäfte und Rechtsverletzungen werden in wichtigen

Beziehungen nach gleichen Gesichtspunkten behandelt, und zwar 1. hinsichtlich ihres Tatbestandes, 2. hinsichtlich ihrer Rechtswirkungen oder Rechtsfolgen.

1. In betreff de« HaUechmd«. § 230.

Zum Tatbestände gehört bei beiden ein Verhalten, welches

vom Rechte geschützte Jnteresien Dritter, bzw. der Gesamtheit, berührt.

§ 231. Demgemäß sind Gedanken und Vorsätze, Absichten und Ge­ sinnungen in diesem Bereiche gleichgültig, sofern sie nicht durch

ein bestimmtes äußeres und für rechtlich geschützte Interessen

anderer bedeutsames Verhalten einen Ausdruck finden (§ 76).

§ 232. Andererseits kommt eine Einwirkung auf diese Jnteresien

hier nur in Betracht, sofern sie mit dem inneren Verhalten der Person im Zusammenhänge steht und auf ihren Willen zurück­

geführt werden kann.

Rechtsgeschäfte und Rechtsverletzungen sind „Handlungen". Em Vorkommnis, an dem der Wille einer Person keinen Anteil

hat — man denke an eine durch mechanische Gewalt erzwungene körperliche Bewegung (§ 675) — ist keine Handlung dieser Person, auch kein Bestandteil einer solchen. Man wendet das Wort Rechtsverletzung bisweilen inkorrekterweise auch auf Vorgänge an, bei welchen der Wille einer Person nicht beteiligt ist und deshalb keine Handlung vorliegt. S. hierüber § 260 Anm.

Rechtsgeschäfte und Rechtsverletzungen.

115

§ 233.

Die Person muß ferner im Momente der Tat deren faktische und rechtliche Bedeutung zu erkennen imstande gewesen sein: sie muß ,,rechtliche Unterscheidungsfähigkeit" im allgemeinen wie in Beziehung auf das spezielle Vorkommnis gehabt haben.

8 234. Diese Unterscheidungsfähigkeit fehlt allgemein u. a. bei einem

Kinde.

Die im allgemeinen vorhandene kann im gegebenen Fall

durch vollständige Betrunkenheit oder andere Umstände ausge­ schlossen gewesen sein. 8 235.

Die Person muß ferner Herr ihrer geistigen Kräfte und demgemäß imstande gewesen sein, ihrem Charakter entsprechend

wirksam zu sein; sie muß, das gleiche anders ausgedrückt, die „Fähigkeit der Selbstbestimmung" oder die „Freiheit ihres Willens"

besessen haben.

Auch diese Voraussetzung fehlt bei dem Kinde. Auch sie kann

durch besondere Umstände (Trunkenheit, Geisteskrankheit rc.) aus­ geschlossen sein.

Wenn wir von jemandem sagen, daß er mit „freier Selbstbestimmung" ober mit „Willensfreiheit" gehandelt habe, so ist damit behauptet 1. die Abwesenheit von äußeren und inneren Hemmungen für die Betätigung der ihm eigentümltchen Kräfte, und 2. daß in der Handlung eine Macht­ äußerung dieser Persönlichkeit gegeben sei, welche ihre Erklärung in dere« geistigen Eigentümlichkeiten suche.

§ 236.

Liegen die bezeichneten Voraussetzungen bei einer Person vor,

so behandelt das Recht das Geschehene als ihre Tat, welche samt den Konsequenzen auf ihre Rechnung zu setzen, ihr, sei es zum Verdienste, sei es zur Schuld, „zuzu rechn en" ist.

Aus der umfangreichen Litt, zur Zurechnungsfähigkeit (Zf.): Merkel, Elemente § 22. Lehrbuch § 19 ff. („die Macht einer Person, wirksam zu sein nach eigenem Maße"; Verbrechen u. Strafe § 16ff.; Gutachten für t>. 9. Juristenlag 71 (Sammlung 205; iuSbes. für e. besondere Behandlung der „geminderten Zf."; hierüber auch in Holtz. Handb. II, 567 u. ZStW. I). 8*

116

Zweites Kapitel.

Dritter Abschnitt.

ZStW. I, 580 (Sammlg. 430). „Rechtliche Verantwortlichkeit", in der „Aula" 98 (Sammlg. 873). Binding,NormenII. Liepmann,Einleitung in das Strafe. 00, 87ff. Berner, Grd.linien d. kriminal. Imputations­ lehre 43. Wahlberg, Strafrechtl. Z.lehre, Ges. Schr. I u. III, 75f. Gö­ ring, Menschl. Freiheit u. Zf. 76. Hrehorowicz, Grd.lagen u. Grd.begriffe d. Strasr. 2. A. 82 (dazu Merkel, D. LittZtg 2,1454). R6e, Illusion oer WillenSfteiheit (Wft.) 85. Glaser, Zf., Wft., Gewissen, Strafe 87 (dazu Merkel, Sammlg. 554). Bünger, Vorstellung, Wille, Handlung 88. Pfenninger, Grenzbestimmungen zur krim.JmputationSlehre92 Mach, Wft. 2.A. 94. Träger, Wille, Determinismus, Strafe 95. v. Liszt, Strafrecht!.Zf.in ZStW.17u.18 (dazu CalkerJZ.2,25. Stootz,ZSchweizStraft. 9. Lammasch, IZ. 3, 92. Höfler, 7 Thesen zu LtSzts Vortrag 97/9. Liepmann, S. 99). Gretener, Zf. als Gesetzgebungsfrage 97/9; Die neuen Horizonte im Straft. 09; Zf. im VE. zum Strafgesd. 10. v. Hippel (D