Aristoteles Werke: Band 6 Nikomachische Ethik [6., durchgeseh. Aufl., Reprint 2021] 9783112529782, 9783112529775


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Aristoteles Werke: Band 6 Nikomachische Ethik [6., durchgeseh. Aufl., Reprint 2021]
 9783112529782, 9783112529775

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ARISTOTELES NIKOMACHISCHE

ETHIK

ARISTOTELES WERKE IN D E U T S C H E R

ÜBERSETZUNG

BEGRÜNDET

VON

ERNST GRUMACH H E R A U S G E G E B E N VON

HELLMUT FLASHAR

BAND 6

NIKOMACHISCHE ETHIK

AKADEMIE -VERLAG • BERLIN 1974

ARISTOTELES NIKOMACHISCHE ETHIK

Ü B E R S E T Z T UND KOMMENTIERT VON

FRANZ

DIRLMEIER

Sechste, durchgesehene Auflage

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1974

Erschienen im A k a d e m i e - V e r l a g , 108 B e r l i n , L e i p z i g e r S i r . 3—4 Copyright 1969 by Akademie-Verlag, B e r l i n L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/195/74 S a t z : IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried W i l h e l m Leibniz«, 4 4 5 Gräfenhainichen/DDR • 4 3 2 3 Offsetdruck und B i n d u n g : V E B Druckerei „Tlioma-j M ü n t z e r " , 582 B a d Langensalza/DDR B e s t e l l n u m m e r : 7500213 (3022/6) - LSV 0116 Printed iu GDR EVP

42,-

BUCH I 1. J e d e s 1 praktische K ö n n e n 2 und jede wissenschaftliche Unter- 1094 a suchung, ebenso alles Handeln u n d Wählen strebt nach einem C u t , wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von „ G u t " als „ d a s Ziel, zu dem alles s t r e b t " 3 . Dabei zeigt sich aber ein Unterschied zwischen Ziel und Ziel: das einemal ist es das reine Tätigsein, das anderemal darüber hinaus das Ergebnis des Tätig-seins: das Werk. Wo es Ziele über das Tätig-sein hinaus gibt, da ist das Ergebnis n a t u r g e m ä ß wertvoller als das bloße Tätig-sein. Da es aber viele Formen des Handelns, des praktischen Könnens u n d des Wissens gibt, ergibt sich auch eine Vielzahl von Zielen: Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit, der Schiffsbaukunst das Schiff, das Ziel der K r i e g s k u n s t : Sieg, der W i r t s c h a f t s f ü h r u n g : Wohlstand. Überall n u n , wo solche „ K ü n s t e " einem bestimmten Bereich untergeordnet sind - so ist z. B. der Reitkunst untergeordnet das Sattlerhandwerk 4 und andere H a n d werke, die Reitzeug herstellen, während die Reitkunst ihrerseits, wie das gesamte Kriegswesen, unter der Feldherrnkunst steht, und was dergleichen U n t e r o r d n u n g e n 5 mehr sind - , da ist durchweg das Ziel der übergeordneten K u n s t höheren Ranges als das der u n t e r geordneten: u m des ersteren willen wird j a das letztere verfolgt. Hierbei ist es gleichgültig, ob das Tätig-sein selber Ziel des H a n delns ist oder etwas darüber hinaus wie bei den eben aufgezählten Künsten. W e n n es n u n wirklich f ü r die verschiedenen F o r m e n des Handelns ein Endziel gibt, das wir u m seiner selbst willen 6 erstreben, während das übrige n u r in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird, u n d wir nicht jede W a h l im Hinblick auf ein weiteres Ziel treffen - das gibt nämlich ein Schreiten ins Endlose 7 , somit ein leeres u n d sinnlosem Streben - , d a n n ist offenbar dieses Endziel „ d a s G u t " u n d zwar das oberste Gut. H a t n u n nicht auch f ü r die Lebensführung die E r k e n n t n i s dieses Gutes ein entscheidendes Gewicht und können wir d a n n nicht wie Bogenschützen 8 , die ihr Ziel haben, leichter das Richtige 9 treffen? W e n n j a , so müssen wir versuchen, wenigstens u m r i ß h a f t das Wesen

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des obersten Gutes zu fassen u n d (zwar zunächst) in welchem Bereich der Wissenschaften oder der praktischen K ü n s t e es zu finden ist. Man wird zugeben: es gehört in den Bereich der K u n s t , welche dies im eigentlichsten u n d souveränsten Sinne ist. Als solche aber erweist sich die S t a a t s k u n s t 1 . Sie nämlich setzt fest, welche F o r m e n praktischen Könnens in den einzelnen Gemeinwesen unbedingt vertreten ioo4 b sein sollen, ferner, mit welchen und bis zu welchem Grad der einzelne Bürger sich zu beschäftigen h a t . Wir sehen es ja, wie ihr selbst die angesehensten „ K ü n s t e " untergeordnet sind, z. B. Kriegs-, Haushaltsund Redekunst. Da sie es also ist, die sich der übrigen praktischen K ü n s t e als Mittel bedient u n d dazu noch gesetzgeberisch bestimmt, was zu t u n u n d was zu lassen sei, so u m f a ß t ihr Endziel die Ziele aller anderen u n d dieses ihr Ziel ist daher f ü r den Menschen das oberste Gut. Wenn auch somit das Ziel f ü r den einzelnen u n d f ü r das Gemeinwesen identisch ist, so t r i t t es doch am Gemeinwesen bedeutender u n d vollständiger in Erscheinung: im Moment des Erreichens sowohl wie bei seiner Sicherung. Es ist gewiß nicht wenig, wenn der einzelne f ü r sich es erreicht; schöner noch und erhabener ist es, wenn Völkerschaften oder Polis-Gemeinden so weit kommen. Das also ist der Gegenstand unserer wissenschaftlichen Untersuchung. Wir sind damit, wenn m a n so will, in dem Bereich der Wissenschaft vom Staate. Die Darlegung wird d a n n befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene Stoff gestattet. Der E x a k t h e i t s a n s p r u c h 2 darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, genau so wenig wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion. Bei den Erscheinungsformen des Edlen u n d Gerechten, die den Gegenstand der Staatswissenschaft bilden, gibt es so viele Unterschiede u n d Schwankungen, d a ß die Ansicht a u f k o m m e n konnte, sie b e r u h t e n n u r auf K o n v e n t i o n 3 , nicht aber auf natürlicher Notwendigkeit. Ahnliches Schwanken herrscht aber auch bei den Lebensgütern, weil schon so manchem Schaden daraus erwachsen i s t : es ist schon vorgekommen, d a ß der eine durch Reichtum, der andere d u r c h Tapferkeit zugrunde ging. Man m u ß sich also damit bescheiden, bei einem solchen T h e m a u n d bei solchen Prämissen die W a h r h e i t n u r grob u n d u m r i ß h a f t anzudeuten, sowie bei Gegenständen u n d Prämissen, die n u r im großen u n d ganzen feststehen, in der Diskussion eben auch n u r zu entsprechenden

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Schlüssen zu kommen. Im selben Sinne nun muß auch der Hörer die Einzelheiten der Darstellung entgegennehmen: der logisch geschulte Hörer wird nur insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen Gebiet verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt. Es ist nämlich genau so ungereimt, vom Mathematiker Wahrscheinlichkeiten entgegenzunehmen wie vom Rhetor denknotwendige Beweise zu fordern. Jeder beurteilt das zutreffend, wovon er ein Wissen hat, und ist hierin ein guter Richter. Auf einem begrenzten Gebiet urteilt also der io«5 » darin Geschulte richtig, umfassend aber der allseitig Ausgebildete. Für Vorträge über Staatswissenschaft ist daher als Hörer nicht geeignet der Jüngling. Er hat ja noch keine Erfahrung im wirklichen Leben. Gerade von diesem aber gehen die Vorträge aus und dieses haben sie zum Gegenstand. Da der junge Mann ferner noch ganz zu Gefühl und Leidenschaften neigt, kann er nur zweck- und nutzlos zuhören, denn das Ziel ist hier nicht Erkenntnis 1 , sondern Handeln. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob er an Jahren jung oder dem Charakter nach unfertig ist. Denn nicht an der Zahl der Jahre hängt das Ungenügen, sondern daran, daß die jungen Leute unter dem Einfluß der Leidenschaft leben und unter diesem Einfluß ihre jeweiligen Ziele verfolgen. Solchen bleibt, wie den haltlosen Menschen, die Erkenntnis ohne Frucht. Wer aber sein Streben und Handeln nach klarem Plan einrichtet, dem bringt das Wissen von diesen Gegenständen hohen Nutzen. Soviel als Einleitung über Hörer, Art der Entgegennahme (des Vorgetragenen) und Thema. 2. Nachdem also jede Erkenntnis und jeder Entschluß nach einem bestimmten Gut zielt, wollen wir wieder einsetzen mit der Frage: „Was ist das Ziel der Staatskunst und welches das höchste 2 von allen Gütern, die man durch Handeln erreichen kann?" In seiner Benennung stimmen fast alle überein. „Das Glück" 3 - so sagen die Leute und so sagen die feineren Geister, wobei gutes Leben 4 und gutes Handeln in eins gesetzt werden mit Glücklichsein. Aber was das Wesen des Glückes sei, darüber ist man unsicher und die Antwort der Menge6 lautet anders als die des Denkers. Die Menge stellt sich etwas Handgreifliches und Augenfälliges darunter vor, z. B. Lust, Wohlstand, Ehre: jeder etwas anderes. Bisweilen wechselt 6 sogar ein und derselbe Mensch seine Meinung: wird er krank, so sieht er das Glück in der Gesundheit, ist er arm, dann im Reichtum. Im Bewußt-

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sein aber der eigenen Unwissenheit bestaunen die Leute jene, die etwas vortragen, was bedeutsam klingt und über ihre Fassungskraft hinausgeht. Einige 1 aber dachten, es gebe neben den vielen greifbaren Gütern noch ein Gut, von selbständiger Existenz, das zugleich für all die genannten Güter die Ursache dafür sei, daß sie Güter sind. Alle vorgetragenen Ansichten zu prüfen ist wohl nicht sehr sinnvoll. Wir beschränken uns daher auf solche, die besonders weit verbreitet sind oder immerhin wissenschaftlichen Charakter haben. Wir dürfen dabei nicht den Unterschied übersehen zwischen einer Darstellung, die von Grundgegebenheiten 2 ausgeht und einer anderen, die an sie heranführt. So pflegte z. B. auch Piaton 3 sehr richtig die Frage zu stellen und zu forschen, ob der Weg von den Grundgegeben1095 b heiten her oder zu ihnen hin verlaufe - wie im Stadion von den Preisrichtern zur Wendemarke oder von dieser zurück. Man muß nämlich anfangen bei dem Bekannten. Dieses aber ist zweifach: bekannt für uns und bekannt schlechthin. Wir müssen wohl ausgehen von dem was u n s bekannt ist. Daher muß bereits über eine edle Grundgewöhnung 4 verfügen, wer mit Nutzen eine Vorlesung über das Edle, das Gerechte, kurzum über die Wissenschaft vom Staate hören will. Ausgangspunkt ist nämlich das Daß, und wenn dieses in genügender Klarheit herauskommt, wird das Warum gar nicht mehr nötig sein. Ein Mensch mit sittlicher Grundhaltung kennt entweder schon Grundgegebenheiten oder er kann sie sich leicht geistig aneignen. Wer sie aber weder hat noch erfassen kann, der höre die Verse des Hesiod (Erga 293.295-7): „Der vor allem ist gut, der selber alles bedenket, Edel nenn ich auch jenen, der gutem Zuspruch gehorsam. Aber wer selber nicht denkt und auch dem Wissen des andern Taub sein Herz verschließt, der Mann ist nichtig und unnütz." (Nach v. Scheffer)

3. Doch nun zurück zu der Stelle, wo wir die Gedankenführung unterbrochen 5 haben. Eine Meinung darüber, was oberster Wert und was Glück sei, gewinnt man wohl nicht ohne Grund aus den bekannten Lebensformen 6 . In der Mehrzahl entscheiden sich die Leute, d. h. die besonders grobschlächtigen Naturen, für den Genuß und finden deshalb ihr Genügen an dem Leben des Genusses (a). Es gibt nämlich drei Hauptformen: erstens die soeben erwähnte (a), zweitens das Le-

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ben im Dienste des Staates (b), drittens das Leben als Hingabe an die Philosophie (c). (a) Die Vielen also bekunden ganz und gar ihren knechtischen 1 Sinn, da sie sich ein animalisches Dasein aussuchen. Und doch b e k o m m e n sie einen Schein von Recht, weil es unter den Hochgestellten so manchen gibt, der ähnliche Passionen hat wie Sardanapal. (b) Edle und aktive N a t u r e n entscheiden sich f ü r die Ehre. Denn das ist im ganzen gesehen das Ziel eines Lebens f ü r den S t a a t . Doch ist dieses Ziel wohl etwas äußerlich und k a n n nicht als das gelten, was wir suchen. Hier liegt nämlich der Schwerpunkt mehr in dem der die E h r e spendet als in dem der sie empfängt. Den obersten W e r t aber erahnen wir als etwas was uns zu innerst zugeordnet u n d nicht leicht ablösbar ist. Außerdem ist anzunehmen, d a ß m a n nach E h r e strebt u m sich des eigenen Wertes zu vergewissern. Deshalb sucht m a n von Urteilsfähigen geehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen, u n d zwar auf Grund der Tüchtigkeit. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Verhalten ganz klar, d a ß die Tüchtigkeit der höhere W e r t ist, u n d m a n darf d a n n vielleicht eher in ihr das Ziel des Lebens f ü r den S t a a t erkennen. Und doch ist auch sie noch nicht ganz Ziel im vollen Sinn. Denn m a n k a n n sich die Möglichkeit vorstellen, d a ß j e m a n d die Tüchtigkeit zwar h a t , aber dabei schläft 2 oder ein Leben lang u n t ä t i g , ja darüber hinaus mit größtem Leid und Unglück beladen ist. Wer aber i096a ein solches Leben f ü h r t , den wird niemand als glücklich bezeichnen, außer er möchte eine paradoxe Behauptung u n t e r allen U m s t ä n d e n retten. Doch genug hiervon: auch in den Schriften f ü r weitere Kreise 3 ist das ausreichend behandelt. (c) Die dritte Lebensform ist die Hingabe an die Philosophie. Darüber wird die Untersuchung s p ä t e r 4 zu f ü h r e n sein. Das Leben des Geldmenschen h a t etwas Forciertes 5 an sich u n d der Reichtum ist gewiß nicht das gesuchte oberste Gut. E r ist nur ein N u t z w e r t : Mittel f ü r andere Zwecke. Daher k a n n m a n eher die vorher genannten Dinge (Lust u n d Ehre) als Endziele auffassen, denn sie werden u m ihrer selbst willen geschätzt. U n d doch sieht es so a.us, als seien auch dies keine echten Ziele, obgleich viele Argumente zu ihren Gunsten Gemeingut geworden sind. Diese Gedankengänge wollen wir n u n verlassen. 4. Es wird vielmehr zweckdienlich sein, das oberste Gut, sofern es als allgemeine Wesenheit gedacht wird, zu b e t r a c h t e n u n d zu zergliedern, wie das gemeint sei. Freilich wird dies eine peinliche Aufgabe, weil

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es F r e u n d e 1 von uns waren, welche die „ I d e e n " 2 eingeführt h a b e n . U n d doch ist es zweifellos besser, ja notwendig, zur R e t t u n g der W a h r heit sogar das zu beseitigen, was uns ans Herz gewachsen ist, zudem wir Philosophen sind. Beides ist uns lieb - u n d doch ist es heilige Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben. (1) Die Begründer dieser Lehre haben keine gemeinsamen „ I d e e n " solcher Dinge aufgestellt, bei denen sie von „ f r ü h e r " u n d „ s p ä t e r " sprachen, weshalb sie auch keine die Zahlen umfassende Idee angesetzt haben. N u n wird jedoch „ g u t " ausgesagt in der Kategorie der Substanz, der Qualität und de* Relation, das An-sich aber, die Substanz, ist von N a t u r f r ü h e r als die Relation. Diese gleicht j a einem Seitensproß und Akzidens des Seienden. Folglich k a n n es über den genannten Erscheinungsformen von „ g u t " keine gemeinsame „ I d e e " geben. (2) F e r n e r : Nachdem „ g u t " in ebensoviel Bedeutungen ausgesagt wird wie „ i s t " - es wird in der Kategorie der Substanz ausgesagt, z. B. von Gott und der Vernunft, in der Kategorie der Qualität, z. B. von ethischen Vorzügen, in der Kategorie der Q u a n t i t ä t , z. B. vom richtigen Maß, in der Relation, z. B. vom Nützlichen, in der Zeit, z. B. v o m richtigen Augenblick, in der Kategorie des Ortes, z. B. v o m gesunden A u f e n t h a l t usw. - k a n n „ g u t " unmöglich etwas Ubergreifendallgemeines, u n d n u r Eines sein. D e n n sonst könnte es nicht in allen Kategorien ausgesagt werden, sondern n u r in einer. (3) F e r n e r : Nachdem es von den Dingen, die u n t e r einer einzigen Idee begriffen werden, auch n u r eine einzige Wissenschaft gibt, k ö n n t e es auch f ü r alle Erscheinungsformen von „ g u t " n u r eine einzige Wissenschaft geben. N u n gibt es aber in Wirklichkeit eine Vielzahl von Wissenschaften, sogar in dem Falle, wo die Aussage „ g u t " u n t e r eine einzige Kategorie fällt. So ist beispielsweise die Wissenschaft des recht e n Augenblickes: im Kriege die Feldherrnkunst, in der K r a n k h e i t die Heilkunst. Oder die des richtigen Maßes: bei der Diät die Heilkunst, beim Sport die Gymnastik. (4) Man k a n n sich auch fragen, was sie denn n u r damit meinen, wenn sie dem einzelnen Begriff den Zusatz „ a n sich" beifügen, wo looeb doch z. B. bei dem Begriff „Mensch a n sich" u n d „Mensch" ein und dieselbe Wesensbezeichnung wiederkehrt, nämlich „Mensch". Sofern sie Menschen sind, k a n n j a keinerlei Unterschied zwischen beiden bestehen. Das gilt d a n n aber auch f ü r „ g u t an sich" u n d „ g u t " . (5) Und erst recht nicht ist „ g u t an sich" in höherem Grade „ g u t " ,

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weil es immerwährend ist. Es ist ja auch das Langwährende nicht intensiver weiß als das, was n u r einen T a g b e s t e h t . Ansprechender ist vielleicht die Lehre der Pythagoreer über das „ G u t " , da sie in ihre Güterliste die Eins a u f n e h m e n . Gerade dieser Lehre scheint sich auch Speusippos angeschlossen zu haben. Doch dies soll Gegenstand eines a n d e r e n 1 Vortrags sein. (6) Gegen unsere bisherige Kritik aber k ö n n t e sich ein Bedenken einstellen: die b e k ä m p f t e Theorie beziehe sich nämlich nicht auf jede Erscheinungsform von „ g u t " , sondern im Sinne einer „ I d e e " fasse sie n u r die Güter auf, die m a n u m ihrer selbst willen erstrebt u n d schätzt, während Güter, welche die soeben genannten hervorbringen oder irgendwie deren Dauer gewährleisten oder Gegensätzliches verhindern, n u r als Mittel zu diesen u n d in einem abgeleiteten Sinne so b e n a n n t werden. Von Gütern ist d a n n offenbar in einem doppelten Sinn zu sprechen: Gut an sich u n d Gut als Mittel 2 zu diesem. I n d e m wir n u n m e h r die Güter an sich von dem bloß Zweckdienlichen trennen, wollen wir untersuchen, ob die ersteren im Sinne einer einzigen „ I d e e " zusammengefaßt werden können. Welche Güter können wir aber als Güter an sich ansetzen? Sind das solche, die m a n auch dann erstrebt, wenn sie von anderen isoliert sind, z. B. das E r k e n n e n , das Sehen, gewisse A r t e n von Lust u n d E h r e ? W e n n wir diese gelegentlich auch u m anderer Zwecke willen erstreben, so wird m a n sie j a doch zu den Gütern an sich rechnen. Oder ist es so, daß es doch n u r e i n Gut an sich gibt, nämlich die Idee „ G u t " ? I n diesem Fall wäre sie aber eine F o r m ohne I n h a l t . Gehören aber auch die anderen genannten Dinge zu den Güt e r n an sich, so haben wii zu erwarten, d a ß der Begriff „ G u t " bei ihnen allen als ein und derselbe in Erscheinung t r i t t , wie z. B. beim Schnee u n d beim Bleiweiß der Begriff des Weiß-seins. N u n ist aber bei der E h r e , der Erkenntnis, der Lust, gerade sofern sie Güter sind, dieser Begriff jedesmal ein anderer u n d verschiedenartiger. „ D a s G u t " als etwas Gemeinsames im Sinne einer einzigen „ I d e e " gibt es also nicht. Aber in welchem Sinne sagt m a n n u n schließlich „ d a s G u t " ? Der Ausdruck h a t doch nichts zu t u n mit den Dingen, die aus b a r e m Zufall den gleichen N a m e n haben. Geschieht es vielleicht d a r u m , weil sie von einem einzigen Gut s t a m m e n oder alle zu einem einzigen Gut beisteuern, oder müssen wir es vielmehr i m Sinne der Analogie 3 verstehen? Also etwa so: wie die F u n k t i o n des Auges im Leibe - so die des Geistes in der Seele u n d was dergleichen Analogien mehr sind.

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Doch ist es vielleicht zweckmäßiger, diese Probleme für jetzt zu verlassen. Sie genauer zu fassen gehört vielmehr in einen anderen Bereich 1 der Philosophie. Das gilt auch f ü r das Thema „Ideenlehre". Denn, selbst wenn es „das G u t " gäbe, das e i n e s ist und in übergreifender Weise ausgesagt wird oder das getrennt u n d an sich existierte, so ist doch klar, d a ß ein solches „ G u t " durch menschliches Handeln nicht verwirklicht u n d auch nicht erreicht werden könnte. N u n ist es aber gerade ein solches Gut, das wir suchen 2 . Vielleicht jedoch meint j e m a n d , es sei zweckmäßig, i097 a jenes fragliche absolute Gut zu kennen im Hinblick auf die Güter, die sich tatsächlich erwerben und verwirklichen lassen. Wir besäßen es d a n n gleichsam als Muster und könnten leichter die Güter erkennen, die „ G ü t e r f ü r u n s " sind, und h ä t t e n wir sie n u r erst erkannt, so würden wir sie auch erreichen. Dieses Argument h a t n u n allerdings etwas f ü r sich, aber es steht doch wohl in Widerspruch zu dem Verfahren bei den praktischen K ü n s t e n : sie alle streben nach ihrem „ G u t " und suchen dabei zu verbessern, was an diesem Gut noch mangelhaft ist die Erkenntnis jenes absoluten Gutes spielt da keine Rolle. Es ist aber wenig plausibel, daß die Vertreter der praktischen K ü n s t e alle miteinander ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorierten u n d sich gar nicht d a r u m b e m ü h t e n . Bedenklich stimmt auch folgende Überlegung: welchen Nutzen soll ein Weber oder Zimmermann f ü r sein Gewerbe haben, wenn er jenes absolute Gut k e n n t ? Oder: wie soll j e m a n d eii± besserer Arzt oder Feldherr sein, wenn er sich in die Schau der fraglichen „ I d e e " versenkt h a t ? H a t doch offenbar auch der Arzt nicht die „Gesundheitan-sich" im Auge, sondern die des Menschen, vielmehr die seines Patienten. Denn seine K u n s t gilt dem einzelnen. Soviel über diese Pro* bleme. 5. Wenden wir uns nun wieder zurück 3 zu dem Gut, dem unser Fragen gilt, u n d suchen sein Wesen zu bestimmen. Sicherlich ist es jeweils ein anderes bei jeder H a n d l u n g u n d bei jedem praktischen K ö n n e n : ein anderes in der Heilkunst, in der Feldherrnkunst, in den übrigen Künsten. Welches ist nun das eigentliche Gut einer jeden? Ist es nicht jenes, u m dessentwillen alles andere u n t e r n o m m e n wird? Bei der Heilk u n s t ist es die Gesundheit, bei der Feldherrnkunst der Sieg, bei der B a u k u n s t das Haus, bei anderen jeweils etwas anderes. K u r z u m : bei jeder H a n d l u n g u n d bei jedem Entschluß ist es das Ziel. I h m gilt das gesamte sonstige Handeln der Menschen. W e n n es also f ü r alle denkbaren Handlungen ein einziges Ziel gibt, so ist dies das Gut, das der

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Mensch durch sein Handeln erreichen kann. Gibt es dagegen mehrere Ziele, so sind diese die erreichbaren Güter. Auf anderen Wegen ist somit der Gedankengang an derselben Stelle 1 angelangt. Wir müssen nun versuchen, dies noch weiter zu klären. Es gibt offenkundig mehrere Ziele. Manche wählen wir um weiterer Ziele willen, z. B. Geld, Flöten 2 , überhaupt Werkzeuge. Nicht alle Ziele also sind Endziele. Das oberste Gut aber ist zweifellos ein Endziel 3 . Daher der Schluß: wenn es nur ein einziges wirkliches Endziel gibt, so ist dies das gesuchte Gut, wenn aber mehrere, dann unter diesen das vollkommenste. Als vollkommener aber bezeichnen wir ein Gut, das rein für sich erstrebenswert ist gegenüber dem, das Mittel zu einem anderen ist. Ferner das, was niemals im Hinblick auf ein weiteres Ziel gewählt wird gegenüber dem, was sowohl an sich als auch zu Weiterem gewählt wird. Und als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das, was stets rein für sich gewählt wird und niemals zu einem anderen Zweck. Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck. Die Ehre dagegen und die Lust und die Einsicht und jegliche Tüchtigkeit wählen wir einmal um ihrer selbst willen - denn auch ohne weiteren Vorteil würden wir jeden dieser Werte für uns erwählen - sodann aber auch 4 um des Glückes willen, indem wir annehmen, daß sie uns zum Glück führen. Das Glück aber wählt kein Mensch um jener Werte - und überhaupt um keines weiteren Zweckes willen. Zu demselben Ergebnis 5 aber führt offenbar auch der Begriff der Autarkie 6 . Denn bekanntlich genügt das oberste Gut für sich allein. Den Begriff „für sich allein genügend" wenden wir aber nicht an auf das von allen Bindungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben, sondern auf das Leben in der Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der Frau, überhaupt den Freunden und Mitbürgern; denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft 7 . Für diese Verflochtenheit muß aber eine bestimmte Grenze gezogen werden. Denn wenn man sie ausdehnt auf Vorfahren und Nachfahren und auf die Freunde der Freunde, so kommt man ins Endlose. Doch dies ist erst später 8 zu untersuchen. Unter dem Begriff „für sich allein genügend" verstehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert macht und nirgends einen Mangel offen läßt. Wir glauben, daß das Glück dieser Begriffsbestimmung entspricht und ferner, daß es

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erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf eine Linie m i t den anderen gereiht. D e n n es ist k l a r : bei einer solchen E i n r e i h u n g 1 würde sich sein Wert f ü r uns durch das H i n z u t r e t e n auch n u r des geringsten Gutes aus dieser Reihe erhöhen. Denn dieses Hinzutreten bedeutet ein Plus an W e r t u n d das größere G u t ist jeweils erstrebenswerter. So erweist sich denn das Glück als etwas Vollendetes, f ü r sich allein Genügendes: es ist das Endziel des uns möglichen H a n delns. 6. Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück u n d oberstem Gut n u r ein Gemeinplatz u n d es wird eine noch deutlichere A n t w o r t auf die Frage nach seinem Wesen gewünscht. Dem k a n n entsprochen werden, indem m a n zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigentümliche Leistung 2 ist. Wie nämlich f ü r den Flötenkünstler u n d den Bildhauer u n d f ü r jeden Handwerker oder Künstler, kurz überall da, wo Leistung u n d Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie m a n a n n e h m e n darf, der Wert u n d das Wohlgelungene beschlossen liegt, so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es ü b e r h a u p t eine ihm eigentümliche Leistung gibt. Sollte es n u n bestimmte Leistungen u n d Tätigkeiten f ü r den Z i m m e r m a n n oder Schuster geben, f ü r den Menschen als Menschen aber keine, sondern sollte dieser zu s t u m p f e r Trägheit geboren sein? Sollte nicht vielmehr so wie Auge, H a n d , F u ß , kurz jeder Teil des Körpers seine besondere F u n k t i o n h a t , auch f ü r den Menschen über all diese Teilfunktionen hinaus eine b e s t i m m t e Leistung anzusetzen sein? Welche n u n könnte das sein? Die bloße F u n k t i o n des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen. 1098* Gesucht wird aber, was nur dem Menschen eigentümlich ist. Auszuscheiden h a t also das Leben, soweit es E r n ä h r u n g u n d W a c h s t u m ist. Als nächstes k ä m e d a n n das Leben als Sinnesempfindung. Doch teilen wir auch dieses gemeinsam mit Pferd, Rind u n d jeglichem Lebewesen. So bleibt schließlich n u r das Leben als Wirken des rationalen Seelenteils 3 . - D i e s e r aber ist anzusehen teils als Gehorsam übend gegenüber dem Rationalen, teils als das rationale Element besitzend u n d geistige A k t e vollziehend. - Da aber auch dieses (auf dem rationalen Seelenteil beruhende) Leben in doppeltem Sinn zu verstehen ist, so müssen wir uns d a f ü r entscheiden, d a ß das Leben als eigenständiges Tätig-sein gemeint ist, denn dies trifft offenbar den Sinn des Begriffes „ L e b e n " schärfer. Wir nehmen n u n an, d a ß die dem Menschen eigentümliche Leistung i s t : ein Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder jeden-

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falls nicht ohne dieses, und nehmen ferner an, daß die Leistung eine: bestimmten Wesenheit und die einer bestimmten hervorragenden Wesenheit der Gattung nach dieselbe ist, z. B. die eines Kitharaspielers u n d die eines hervorragenden Kitharaspielers u n d so schlechthin in allen Fällen - es wird hierbei einfach das Plus, das in der Vorzüglichkeit der Leistung liegt, zu der Leistung h i n z u g e f ü g t : Leistung des Kitharaspielers ist das Spielen des I n s t r u m e n t e s , Leistung des hervorragenden Künstlers das vortreffliche Spielen. I s t das n u n richtig u n d setzen wir als Aufgabe u n d Leistung des Menschen eine b e s t i m m t e Lebensform u n d als deren I n h a l t ein Tätigsein u n d Wirken der Seele, gestützt auf ein rationales Element, als Leistung des hervorragenden Menschen dasselbe, aber in vollkommener u n d b e d e u t e n d e r Weise, u n d nehmen wir an, d a ß alles seine vollkommene F o r m gewinnt, wenn es sich im Sinne seines eigentümlichen Wesensvorzugs e n t f a l t e t , so gewinnen wir schließlich als Ergebnis: das oberste dem Menschen erreichbare G u t stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im S i n n e 1 der ihr wesenhaften Tüchtigkeit. Gibt es aber mehrere F o r m e n wesenhafter Tüchtigkeit, d a n n im Sinne der vorzüglichsten u n d vollendetsten. Beizufügen ist n o c h : „in einem vollen Menschenleben" 2 . Denn eine Schwalbe m a c h t noch keinen Frühling u n d auch nicht ein Tag. So m a c h t auch nicht ein T a g oder eine kleine Zeitspanne den Menschen glücklich u n d selig. Dies also sei eine erste Skizze 3 des obersten Gutes. 7. Man m u ß j a doch wohl zuerst die R o h f o r m herausarbeiten u n d d a n n kommen die feineren Linienzüge. Dabei k a n n wohl jeder leicht das voranbringen u n d schärfer gliedern, was in der G r u n d f o r m richtig dasteht. Auch ist die Zeit bei solchem W e r k eine treffliche Erfinderin u n d Helferin - auch bei K u n s t u n d H a n d w e r k sind auf diese Weise Fortschritte zustande gekommen - denn das k a n n j e d e r : hinzufügen was noch fehlt. Doch wollen wir uns auch der f r ü h e r 4 ausgesprochenen W a r n u n g erinnern u n d Genauigkeit nicht in gleicher Weise bei allen Gegenständen erstreben, sondern in jedem Fall n u r so, wie der gegebene Stoff es gestattet u n d bis an die Grenze hin, die dem Gang der wissenschaftlichen Untersuchung gemäß ist. E i n Zimmermann z. B. u n d ein Mathematiker beschäftigen sich mit dem rechten Winkel in verschiedenem Sinn. Der eine, soweit er ihm zur Arbeit nützlich ist, der andere dagegen u n t e r s u c h t sein Wesen oder die Wesenseigenschaften, denn der ist hingegeben an die S c h a u 5 der W a h r h e i t . Genau so m u ß auch auf

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den a n d e r e n Gebieten v e r f a h r e n w e r d e n , auf d a ß n i c h t das Beiwerk u m f a n g r e i c h e r werde als das W e r k . io»8b A u c h die F r a g e n a c h der Ursache darf n i c h t überall in gleicher Weise gestellt w e r d e n , sondern es genügt auf m a n c h e n Gebieten, w e n n das D a ß richtig aufgezeigt wird, z. B. bei den G r u n d g e g e b e n h e i t e n - das D a ß a b e r ist ein E r s t e s oder eine G r u n d g e g e b e n h e i t . Von d e n G r u n d gegebenheiten werden die einen d u r c h I n d u k t i o n e r k a n n t , die a n d e r e n d u r c h I n t u i t i o n , die d r i t t e n d u r c h eine A r t v o n G e w ö h n u n g 1 u n d andere w i e d e r u m auf andere Weise. An die einzelnen Grundgegebenh e i t e n a b e r m u ß m a n h e r a n z u k o m m e n 2 suchen auf d e m W e g , der ihrer N a t u r e n t s p r i c h t , u n d m u ß sich b e m ü h e n , sie richtig in ihrer Besonderheit zu b e s t i m m e n . D e n n sie h a b e n großes Gewicht f ü r alles W e i t e r e , m e i n t m a n doch, der A n f a n g sei m e h r als die H ä l f t e 3 des G a n z e n u n d es falle v o n i h m h e r viel Licht auf die b e h a n d e l t e n F r a g e n . 8. Die U n t e r s u c h u n g ü b e r unsere Grundgegebenheit (das Glück) m u ß m a n indes nicht n u r v o m F o r m a l e n her f ü h r e n , auf G r u n d unserer Schlußfolgerung u n d unserer P r ä m i s s e n 4 , sondern a u c h auf G r u n d der traditionellen Meinungen, die d a r ü b e r existieren. D e n n m i t der W a h r h e i t sind alle T a t s a c h e n i m E i n k l a n g , zwischen I r r t u m u n d W a h r h e i t dagegen gibt es alsbald Mißklang. N u n gibt es, wie b e k a n n t , eine D r e i t e i l u n g 5 der G ü t e r : m a n spricht v o n ä u ß e r e n , v o n seelischen u n d v o n leiblichen, wobei wir die seelischen als G ü t e r i m strengsten u n d h ö c h s t e n Sinne bezeichnen. U n d zwar ist es seelisches H a n d e l n u n d Tätig-sein, das wir d e m Bereich der Seele zuweisen 6 . Also ist unsere Definition des obersten Gutes richtig, z u m m i n d e s t e n sofern sie m i t der g e n a n n t e n T r a d i t i o n ü b e r e i n s t i m m t , die sich d u r c h ihr Alter empfiehlt u n d a u c h v o n d e n Philosophen' geteilt w i r d . Richtig ist sie a u c h deshalb, weil sie (gerade) ein b e s t i m m t e s H a n deln u n d Tätig-sein als Endziel aufstellt. D e n n auf diese Weise erscheint das Endziel u n t e r den seelischen W e r t e n u n d n i c h t e t w a u n t e r den äußeren Gütern. F e r n e r ist m i t unserer Definition i m E i n k l a n g der b e k a n n t e Satz, d a ß der Glückliche g u t lebe u n d g u t h a n d l e , d e n n p r a k t i s c h h a t t e n wir j a das Glück d e m Sinne n a c h als gutes L e b e n u n d W o h l v e r h a l t e n bezeichnet. 9. Aber a u c h die üblicherweise geforderten E l e m e n t e des Glücks schein e n alle m i t e i n a n d e r in unserer Definition v o r z u k o m m e n . D e n n f ü r die einen ist Glück so viel wie sittliche Vortrefflichkeit, f j i r a n d e r e ist es die E i n s i c h t u n d f ü r die d r i t t e n e t w a die Weisheit des Philosophen.

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Wieder andere fügen den genannten Elementen oder einzelnen davon das Moment bei: ,,in Verbindung mit der Lust" oder machen die Lust zur unerläßlichen Bedingung 1 . Und endlich nehmen manche noch das äußere Gedeihen mit hinzu. Von diesen Ansichten ist ein Teil vielfach verbreitet und stammt aus alter Tradition, teils sind ihre Vertreter gering an Zahl, aber von ausgezeichnetem Rufe. In beiden Fällen ist es unwahrscheinlich, daß die Meinungen ganz und gar verfehlt sind, vielmehr werden sie wenigstens in einer, unter Umständen sogar in sehr vielen Beziehungen das Richtige treffen. Mit denen nun, die das Glück als sittliche Vortrefflichkeit oder irgendeinen der sittlichen Vorzüge bezeichnen, stimmt unsere Definition überein, denn zu sittlicher Trefflichkeit gehört das Tätigsein in ihrem Sinn. Der Unterschied ist gewiß nicht klein: ob man das oberste Gut im Besitzen oder Benützen, in einem Zustand oder in aktiver Verwirklichung erkennt. Denn ein Zustand kann vorhanden 1099a sein, ohne daß etwas Wertvolles dabei herauskommt, z. B. bei einem Menschen, der schläft 2 oder sonstwie in völliger Dumpfheit vegetiert. Beim aktiven Verwirklichen dagegen kann das nicht vorkommen, denn dies heißt: mit Notwendigkeit handeln, wertvoll handeln. Wie bei den Festspielen von Olympia nicht die den Siegeskranz erringen, die am schönsten und stärksten aussehen, sondern die Kämpfer - denn aus ihren Reihen treten die Sieger -, so gelangen auch zu den Siegespreisen des Lebens nur die Menschen, die richtig handeln. Deren Leben ist auch in sich selbst voll Freude. Die Freude gehört nämlich zu den seelischen Zuständen. Gegenstand der Freude aber ist für jeden das wovon er „Liebhaber" ist. Zum Beispiel ein Pferd für den Pferdeliebhaber, ein Schaustück für den Liebhaber solcher Darbietungen. Genau so gerechtes Handeln für den Freund der Gerechtigkeit, generell gesagt: sittliches Handeln für den Freund sittlicher Trefflichkeit. Für die gewöhnlichen Leute liegen die einzelnen Freuden miteinander im Streite, weil sie nicht von Natur Freuden sind. Der Freund des Edlen dagegen hat seine Freude nur an Dingen, denen der Charakter des Freudebringenden von Natur zukommt. Das ist der Fall bei den sittlich wertvollen Handlungen: sie sind daher freudevoll sowohl für die Freunde des Edlen als auch in sich. Deren Leben bedarf somit in keiner Weise der Freude wie eines Schmuckstücks zum Umhängen, sondern es hat die Befriedigung in sich selbst. Dem Gesagten ist nämlich noch beizufügen, daß von „sittlich wertvoll" überhaupt nicht die Rede sein kann, wenn jemand keine Freude

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an edlem Handeln h a t : niemand kann als gerecht bezeichnet werden, wenn er nicht Freude hat an gerechtem Tun, und niemand als großzügig ohne Freude an großzügigem Handeln. Und so ist es auch in den übrigen Fällen. I s t dies aber richtig, so sind sittliche Handlungen in sich freudevoll. Aber nicht nur dies, sondern auch wertvoll und schön und zwar beides im höchsten Grade, wenn anders der vollendete Repräsentant 1 edlen Lebens zutreffend hierüber urteilt. E r tut es aber tatsächlich im eben ausgesprochenen Sinn. So ist also das Glück höchstes und schönstes und freudevollstes Gut und diese drei Begriffe lassen sich gar nicht trennen, wie es die bekannte Inschrift 2 auf Delos möchte: „Schönster Schmuck ist gerecht sein. Bester Besitz die Gesundheit. Süßeste Freude ist dies: wenn man gewinnt, was man l i e b t . " All diese Bestimmungen nämlich sind den höchsten Formen des Tätigseins eigen. In diesen Formen aber, oder falls eine von ihnen die alleredelste ist, in dieser einen, erkennen wir das Glück. Indes gehören zum Glück doch auch die äußeren Güter, wie wir gesagt 3 haben. Denn es ist unmöglich, zum mindesten nicht leicht, durch edle Taten zu glänzen, wenn man über keine Hilfsmittel verio»9b fügt. L ä ß t sich doch vieles nur mit Hilfe von Freunden, von Geld und politischem Einfluß, also gleichsam durch Werkzeuge, erreichen. Ferner : es gibt gewisse Güter, deren Fehlen die reine Gestalt des Glückes trübt, zum Beispiel edle Geburt 4 , prächtige Kinder, Schönheit; denn mit dem Glück des Mannes ist es schlecht bestellt, der ein ganz abstoßendes Äußeres oder eine niedrige Herkunft hat oder ganz allein im Leben steht und kinderlos 6 ist. Noch weniger kann man von Glück sprechen, wenn jemand ganz schlechte Kinder oder Freunde besitzt oder gute durch den Tod verloren hat. Wie gesagt, gehören also zum Glück doch auch solch freundliche Umstände, weshalb denn manche die Gunst der äußeren Umstände auf eine Stufe stellen mit dem Glück - während andere der sittlichen Trefflichkeit diesen Platz geben. 10. Daraus erwächst nun auch die Frage, ob man glücklich werden kann durch Lernen 6 oder Gewöhnen oder sonstwie durch Übung oder ob uns das Glück zuteil wird durch eine Gabe der Gottheit oder etwa gar durch Zufall. Wenn es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, so kann folgerichtig auch das Glück eine Gabe der Gottheit sein und zwar um so eher, als es unter den menschlichen Gütern das wertvollste ist. Die Antwort darauf gehört allerdings mehr in eine andere Untersuchung. Doch ist soviel klar: selbst wenn uns das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethi-

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sches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampfpreis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchster Wert, göttlich und selig. Das Glück ist aber gewiß auch ein Gemeingut für viele, denn allen steht die Möglichkeit dazu offen, wenn sie nur in bestimmter Weise lernen und sich sorgfältig bemühen - mit Ausnahme allerdings derer, die für sittliche Vollkommenheit gleichsam verstümmelt sind. Wenn es aber wertvoller ist auf diese Weise als durch baren Zufall glücklich zu sein, so darf man annehmen, daß es sich tatsächlich so verhält, liegt es doch im Wesen der Dinge, die an das Wirken der Natur gebunden sind, möglichst vollkommen zu sein. Das gilt auch für das, was menschliche Absicht und jede Ursächlichkeit bewußt schafft und ganz besonders für das, was an das Wirken der höchsten Ursächlichkeit 1 gebunden ist. Gerade das Erhabenste und Herrlichste dem Zufall anheimzustellen wäre ein arger Mißgriff. Auch aus unserer Definition des Glücks fällt übrigens einiges Licht auf die vorliegende Frage. Wir haben es ja bezeichnet 2 als eine genau charakterisierte „Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit". Dazu müssen dann von den übrigen Gütern die einen mit Notwendigkeit als Grundbedingung des Glücks vorgegeben sein, die anderen sind ihrem Wesen nach als Hilfsmittel und Werkzeug von Nutzen. Dies deckt sich denn auch mit dem eingangs Gesagten. Dort 3 haben wir ja das Ziel der Staatskunst als das höchste erkannt. Diese aber trifft ganz besonders Anstalten dafür, die Bürger zu formen, d. h. sie gut zu machen und fähig zu edlem Handeln. Natürlich können wir nun weder Rind noch Pferd noch sonst ein Tier als „glücklich" bezeichnen, denn keines kann Anteil bekommen uooa an einem Tätigsein, wie wir es beschrieben haben. Aus demselben Grund kann auch ein Kind nicht „glücklich" heißen, denn es ist noch gar nicht fähig in solchem Sinne zu handeln, weil es zu jung ist. Und wenn man Kinder dennoch glücklich nennt, so geschieht dies, weil man hofft. Denn wie gesagt 4 : das Glück setzt ethische Vollkommenheit voraus und ein Vollmaß des Lebens. Denn mancherlei Wandel stellt sich ein im Laufe eines Lebens und Zufall in jeder Gestalt und es kann, wer eben noch in blühendem Glücke war, im Alter in schweres Unheil stürzen, wie das Heldenepos über Priamos zu berichten weiß. Wer aber solche Laune des Glücks erfahren und in Jammer geendet hat, den wird niemand als glücklich bezeichnen.

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11. Darf man auch sonst keinen Menschen glücklich nennen, solange er lebt? 1 Muß man vielmehr nach dem Satze des Solon 2 auf das Ende sehen? Und lassen wir den Satz einmal gelten, - wäre daraus der Schluß zu ziehen, daß man nach dem Tode dann auch wirklich glücklich ist? Oder ist dies nicht völlig widersinnig, besonders für uns, die wir das Glück doch als ein Tätigsein erklären? Wenn wir aber den Toten nicht glücklich nennen und der Sinn des solonischen Satzes nicht dies ist, sondern daß man erst dann einen Menschen mit Sicherheit glücklich preisen darf, wenn er endlich der Einwirkung von Unheil und Mißgeschick entzogen ist, so stellt uns auch dies noch vor ungeklärte Fragen. Es ist nämlich eine verbreitete Ansicht, daß es auch für den Toten noch Böses und Gutes gibt, im selben Sinne wie für einen Lebenden, dem es nicht zum Bewußtsein kommt: z. B. persönliche Ehre und Unehre oder Wohlergehen und Mißgeschick der Kinder, allgemein ausgedrückt, der Nachkommen. Und auch hier ist eine ungelöste Frage. Wer nämlich bis ins Alter hinein im Vollbesitz des Glückes gelebt und einen Tod gefunden hat, der diesem Leben entsprach, der kann noch in seinen Nachkommen von mancherlei Unglück getroffen werden: die einen können wohl geraten und ein Leben finden, wie sie es verdienen, den andern kann es gerade umgekehrt ergehen - wobei natürlich auch im Hinblick auf den Generationenabstand starke Verschiedenheiten in deren Schicksal auftreten können. Da wäre es nun in der Tat eine merkwürdige Vorstellung, wenn der Tote dieses ganze Hin und Her noch mitzumachen hätte und also bald glücklich, bald unglücklich würde. Merkwürdig wäre es aber auch andererseits, wenn das Geschick der Nachfahren überhaupt nicht, auch nicht für eine gewisse Zeitspanne, auf die Vorfahren zurückwirken sollte. Doch nun zurück zu unserer Ausgangsfrage 3 . Vielleicht bringt deren Lösung auch Klarheit für unser gegenwärtiges 4 Bedenken. Man muß also „auf das Ende sehen" und darf dann von niemandem sagen „er ist glücklich", sondern ,,«r war glücklich". Dabei ist aber folgendes unbegreiflich: während ein Mensch sich tatsächlich im Glück befindet, lioo b soll die Aussage „er ist glücklich" nicht gestattet sein, nur weil man sich scheut einen Lebenden glücklich zu nennen mit Rücksicht auf mögliche Veränderung und weil es als Grundsatz gilt, daß echtes Glück etwas Dauerhaftes und nur schwer ins Wanken Geratendes ist, während Zufallsglück sich um den einzelnen oft in förmlichem Kreislauf dreht. Denn soviel ist klar: wenn wir dieses Wechselspiel des

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Glücks mitmachten, so hätten wir häufig ein und denselben Menschen bald als glücklich bald als unglücklich anzusprechen und wir machten den Glücklichen zu einer Art von Chamäleon und zu einer Figur, die auf brüchiger Basis steht. Oder ist es überhaupt schief, sich an das Wechselspiel des Glücks zu kehren? Denn nicht darauf beruht das Wohl oder Wehe: das Leben "des Menschen bedarf dessen zwar zusätzlich, wie wir gesagt 1 haben, aber entscheidend für das echte Glück ist die Verwirklichung sittlicher Vollkommenheit, während das Gegenteil zum Unglück führt. Unsere Definition des Glücks wird nun bestätigt durch die Lösung der eben behandelten Frage. Denn bei keiner menschlichen Leistung ist soviel ruhige Beständigkeit gewährleistet wie bei den Betätigungen sittlicher Trefflichkeit - diese gelten sogar noch als dauerhafter denn die Wissenschaften - und von den erwähnten Betätigungen haben die höchsten 2 Formen die unbeschränkteste Dauer, denn in ihnen erfüllt der Glückselige ganz besonders tief und unablässig den Sinn seines Lebens. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß es hier kein Absinken in das Vergessen gibt. Der Glückliche wird also in der Tat die gesuchte Beständigkeit des Glücks besitzen und wird so wie er ist sein ganzes Leben bleiben. Denn wenn nicht immer, so doch meistens, wird er in Tat oder geistiger Schau die sittlichen Werte verwirklichen. Und die Wechselfälle des Lebens wird er am edelsten tragen, gemessenen Sinnes in jedem Betracht, durch und durch: ein wahrhaft wertvoller Mann steht er da, „vierkantig 3 , ohne Tadel". Vieles bringt der Zufall, unterschiedlich, Großes und Kleines. Das Kleine, sei es ein Glücksfall, sei es das Gegenteil, greift das Gleichgewicht des Lebens gewiß nicht an. Dagegen kann Großes und häufig Auftretendes, sofern es sich zum Guten entwickelt, das Leben noch glücklicher machen - es ist ja nicht nur als solches dazu geschaffen, das Leben verschönern zu helfen, sondern es kann auch der Gebrauch, den man davon macht, Edles und Wertvolles zeitigen - schlägt es aber zum Gegenteil aus, so drückt und trübt es die Glücksempfindung; denn es bringt Kummer und hemmt so manchen Ansatz zur Tat. Und dennoch bricht auch darin der Glanz edler Haltung durch, wenn der Mensch zahlreiche schwere Schläge des Schicksals gelassen trägt, nicht aus stumpfem Sinn, sondern weil er edlen Blutes ist und großgesinnt. Wenn aber das Tätigsein dem Leben seinen Charakter gibt, wie wir gesagt haben, so kann ein glücklicher Mensch nicht ins Elend kommen, denn niemals, so dürfen wir erwarten, tut er etwas, was zu verab-

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lioi» scheuen u n d minderwertig ist. Wir denken, daß der wirklich tüchtige u n d besonnene Mann jedwede W e n d u n g des Lebens in vornehmer H a l t u n g t r ä g t und aus dem jeweils Gegebenen das denkbar Beste gestaltet. E r handelt wie etwa der große F e l d h e r r : dieser holt aus dem Heer, das ihm zur Verfügung steht, das Beste heraus f ü r die Entscheidung des Krieges, der tüchtige Schuster fertigt aus dem Leder, das er zur H a n d h a t , das schönste Schuhwerk, u n d so machen es die H a n d werker alle. I s t das richtig, so k a n n der Glückliche allerdings niemals ins Elend kommen, freilich aber auch nicht zur Vollform des Glückes, wenn ihn nämlich ein Los trifft wie König Priamos. Sein Wesen ist aber auch nicht fahrig u n d anfällig f ü r Veränderung. Aus dem festen Zustand des Glücks wird ihn so leicht nichts verdrängen, und wenn, d a n n nicht ein gewöhnlicher Schlag des ScLicksals, sondern n u r ein harter u n d wiederholter. Andererseits k a n n er aus solchem Unglück auch nicht in kürzester Frist wieder zurückfinden zum Glück, sondern wenn ü b e r h a u p t , d a n n n u r nach vielen u n d erfüllten J a h r e n , wenn ihm in ihrem Verlauf Erfolg und E h r e zuteil geworden ist. Was hindert also zu sagen: Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit t ä t i g u n d dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausges t a t t e t ist — und zwar nicht in einer zufälligen Zeitspanne, sondern so lange, d a ß das Leben seinen Vollsinn erreicht? Oder m u ß der Zusatz l a u t e n : „ U n d wer diese Lebensform beibehalten u n d einen entsprechenden Tod haben wird", da uns j a die Z u k u n f t verschleiert ist u n d wir das Glück als Endziel setzen, als etwas in jedem B e t r a c h t , durch und durch Voll-endetes ? Steht dies fest, so werden wir als glückliche Menschen jene Lebenden bezeichnen dürfen, bei denen die gen a n n t e n Elemente vorhanden sind u n d vorhanden sein werden - wir sagten „glückliche Menschen": der N a c h d r u c k liegt allerdings auf „Menschen". Soviel über diese Probleme. D a ß jedoch die Schicksale der Nachk o m m e n u n d der ganzen Schar unserer Freunde auch nicht das geringste f ü r das Glück ausmachen sollen, das zeugt von wenig G e m ü t u n d widerspricht der üblichen Anschauung. N u n sind aber die Dinge, die dem Menschen zustoßen können, zahlreich und zeigen alle möglichen Unterschiede. Die einen kommen näher an uns heran, die anderen weniger. So ist eine Diskussion der Sonderfälle langwierig u n d möchte sich im Uferlosen verlieren. Es genügt wohl im allgemeinen Umriß davon zu sprechen. Wenn nun von den persönlichen Schick-

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salsschlägen die einen mit drückender Wucht auf dem Leben lasten, die anderen dagegen verhältnismäßig erträglich scheinen, es genau so unterschiedlich auch bei Unglück im gesamten Freundeskreise ist, und wenn da ein Unterschied besteht, ob eine schmerzliche Erfahrung jeweils einen Lebenden oder einen Toten trifft - ein Unterschied, viel stärker als z. B. der, ob bei Tragödienaufführungen ungesetzliche und grauenvolle Geschehnisse der eigentlichen Handlung vorausliegen oder wirklich auf die Bühne kommen -, so muß auch ein derartiger Unterschied entsprechend gewürdigt werden oder eher vielleicht noch die Tatsache, daß Zweifel darüber möglich sind, ob die Abgeschiedenen an irgendeinem Gut oder irgendeinem Übel Anteil haben können, noib Denn das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein: selbst wenn etwas bis zu den Toten dringt, Gutes oder das Gegenteil, so kann es, absolut genommen oder in der Beziehung auf die Toten, nur Schwaches und Geringfügiges sein. Ist es dies aber nicht, so kann es nach Menge und Art nur so sein, daß es weder Unglück in Glück verwandeln noch einen bestehenden Glückszustand wegnehmen kann. Also: irgendeinen Einfluß auf die Abgeschiedenen scheint das Wohlergehen der Freunde, desgleichen auch deren Mißgeschick, zu haben. Art und Grad dieses Einflusses ist aber so, daß weder der Glückliche unglücklich gemacht noch irgendeine andere derartige Änderung bewirkt wird. 12. Nach der Behandlung dieser Probleme wenden wir uns zu einer neuen Frage 1 . Gehört das Glück zu den Werten, die wir nur lobend anerkennen oder vielmehr zu denen, die höchsten Preises würdig sind ? Zu den bloßen Möglichkeiten gehört es ja ohnehin nicht. Nun ist doch offenbar alles lobend Anerkannte kraft einer bestimmten Beschaffenheit oder Bezogenheit anerkannt. Denn wir loben den Gerechten2, den Tapferen, kurz den ethisch wertvollen Menschen und die ethische Hochwertigkeit auf Grund der Handlungen und Leistungen, den Athleten hinwiederum und den Wettläufer und so weiter, weil er von Natur eine bestimmte Beschaffenheit hat und in bestimmter Beziehung zu Wert und Leistung steht. Dies wird klar auch aus den Lobreden auf die Götter. Macht es doch einen komischen Eindruck, daß die Götter in Beziehung zu uns gesetzt werden. Gerade das tritt aber ein, weil Lob durch ein In-Beziehung-setzen zustande kommt, wie wir gesagt haben. Bezieht sich nun das Lob in der Tat auf Dinge wie wir sie genannt haben, so ist klar, daß es bei obersten Werten kein Loben geben kann, sondern nur etwas Höheres und Besseres. Und dies lehrt auch die Erfahrung. Denn es sind ja eben die Götter, die wir selig und glücklich

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preisen, und selig preisen wir auch jene Menschen, bei denen das Göttliche ganz besonders in Erscheinung t r i t t . Ähnlich halten wir es bei den obersten Werten. Denn niemandem fällt es ein, das Glück zu loben so wie m a n etwa die Gerechtigkeit lobt, sondern m a n zollt ihm höchsten Preis, weil es in besonderem Sinne göttlich u n d wertvoll ist. Auch E u d o x o s 1 gilt als ein trefflicher Anwalt f ü r den Anspruch, den die Lust auf den Siegespreis erhebt. D a ß sie nämlich, obgleich zu den Gütern gehörig, nicht gelobt werde, sah er als Hinweis darauf an, d a ß sie über die Dinge erhaben sei, denen m a n Lob spendet, u n d von solcher Art sei die Gottheit u n d der oberste W e r t , denn in Beziehung auf diese (die Gottheit u n d den obersten Wert) werde auch alles andere gewertet. Das Lob gilt nämlich der sittlichen Trefflichkeit (nicht dem Glück), denn von ihr her wird m a n befähigt sittlich zu handeln, und das E n komion gilt den Leistungen des Leibes wie des Geistes. Doch sind hier f ü r genauere Unterscheidungen eher die Spezialisten der E n k o m i e n 2 1102a Technik zuständig - uns ist aus dem Gesagten klar geworden, d a ß das Glück zu dem gehört, was höchsten Preises würdig u n d vollkommen ist. Dies ist auch deshalb richtig, weil das Glück eine Grundgegebenheit darstellt, denn auf das Glück richten wir alle all unser sonstiges T u n . Was aber Grundgegebenheit ist u n d Ursache der Güter, dem erkennen wir höchsten Preis u n d göttlichen R a n g zu. 13. Nachdem das Glück ein Tätigsein der Seele ist im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit, haben wir nunmehr die „Tüchtigkeit" zu betrachten. Auf diese Weise werden wir dann wohl auch eine noch bessere Einsicht in das Wesen des Glücks gewinnen. Bekanntlich widmet auch der echte S t a a t s m a n n 3 der Tüchtigkeit seine besondere Mühe. Denn sein Anliegen ist, die Bürger tüchtig u n d gehorsam gegen die Gesetze zu machen. Als Beispiel d a f ü r haben wir die Gesetzgeber der Kreter u n d S p a r t a n e r 4 - u n d es mag auch noch einige andere dieser Art gegeben haben. Wenn aber dieses Anliegen (des Staatsmanns) zur Wissenschaft vom Staat gehört, so entwickelt sich die Untersuchung offenbar gemäß dem ursprünglichen Plan. Es ist aber ohne weiteres klar, d a ß u n t e r der Tüchtigkeit, von der wir zu sprechen haben, nur die des Menschen zu verstehen ist. Denn das Gut, das wir suchten, war ja das Gut für den Menschen u n d das Glück menschliches Glück. „Tüchtigkeit des Menschen" bedeutet nicht die des Leibes, sondern die der Seele, und auch das Glück bezeichnen wir als ein Tätigsein der

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Seele. Dann muß aber selbstverständlich der Staatsmann in gewissem U m f a n g vom Seelischen Kenntnis haben, genau so wie der A r z t 1 , der die Augen heilen will, den Körper als Ganzes kennen soll, - der erstere um so mehr, je weiter die Staatskunst an Geltung und Wert die K u n s t des Arztes überragt. I n den Reihen der Ärzte bemühen sich übrigens häufig gerade die geistig hochstehenden um theoretische Kenntnis des Leibes. Also: auch der Staatsmann muß sich eine theoretische Vorstellung v o n der Seele schaffen, er muß es tun um des genannten Zieles willen und bis zu einem Grade, der für unsere Probleme genügt, denn ein genaueres Eindringen in die Einzelheiten erfordert vielleicht mehr Arbeit, als f ü r die gegenwärtige Aufgabe notwendig ist. Über Seelenkunde findet man einiges auch in den exoterischen 2 Schriften gesagt. Das ist ausreichend und man soll es benützen: in erster Linie die Teilung 3 der Seele in ein irrationales und ein rationales Element. Freilich, ob diese beiden von einander geschieden sind wie die Teile des Körpers oder Teilbares überhaupt oder ob dies eine rein definitorische Zweiheit ist, während sie von N a t u r untrennbar sind, wie etwa beim Kreisbogen konvex und konkav - diese Frage ist f ü r den gegenwärtigen Zweck unerheblich. E i n Teil nun des Irrationalen ist (allem Lebenden) gemeinsam und hat vegetative Wirksamkeit, ich meine die Ursache von Ernährung und Wachstum, denn eine solche W i r k k r a f t der Seele muß man wohl bei allen Organismen voraussetzen, die Nahrung aufnehmen, auch bei den E m b r y o s , und 1102b ebendieselbe auch bei ausgebildeten Organismen - dieselbe, denn, das ist logischer als letzteren irgendeine andere K r a f t zuzuschreiben. Die „ T ü c h t i g k e i t " dieser Wirkkraft scheint (allem Lebenden) gemeinsam zu sein, sie ist nicht spezifisch menschlich, denn dieser Teil, diese K r a f t , wirkt erfahrungsgemäß vor allem im Schlaf, gerade in diesem aber zeigt sich am wenigsten deutlich, ob ein Mensch tüchtig oder minderwertig ist. Daher das Dictum, daß ihr halbes Leben lang der Glückliche und der Unglückliche sich gar nicht unterscheiden lassen. Ganz k l a r : denn eine Indolenz der Seele ist der Schlaf in Hinsicht auf die Prädikate „ g u t " oder „schlecht". E s kann höchstens vorkommen, daß in beschränktem U m f a n g irgendwelche Bewegungsvorgänge doch zur Seele durchdringen, und da sind nun freilich die Traumvorstellungen 4 der Guten besser als die der gewöhnlichen Leute. Doch nun genug davon. Wir dürfen das Ernährungsvermögen auf sich beruhen lassen, da es seinem Wesen nach an dem Wertcharakter des Menschen keinen Anteil hat.

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Nun gibt es aber eine zweite Naturanlage der Seele, irrational auch sie, aber irgendwie doch teilhabend an dem rationalen Element. Wir treffen sie an bei Sern beherrschten wie auch bei dem unbeherrschten Menschen. Bei ihnen sprechen wir nämlich mit Anerkennung von dem Rationalen und von dem Seelenteil, der das rationale Element besitzt: dieses gibt nämlich richtige Antriebe und leitet zu wertvollen Zielen. Es zeigt sich aber bei beiden noch eine weitere Kraft, die wesenhaft wider das rationale Element gerichtet ist, die mit ihm kämpft und sich dagegenstemmt. Ein passendes Beispiel sind die gelähmten Glieder eines Leibes: will man sie nach rechts bewegen, so geraten sie entgegengesetzt nach links. Geradeso ist es bei der Seele: da wenden sich die Triebe des Unbeherrschten in die dem Rationalen entgegengesetzte Richtung. Nur daß wir beim Leibe die verkehrte Richtung wahrnehmen, bei der Seele aber nicht. Trotzdem zwingt sich uns die Erkenntnis auf, daß genau so auch in der Seele etwas waltet, was wider das rationale Element ist, ein Gegensätzliches, Widerspenstiges. In welschem Sinn dies freilich etwas anderes ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Am Rationalen scheint auch dieses teilzuhaben, wie wir oben 1 sagten. Jedenfalls leistet es beim beherrschten Menschen dem rationalen Elemente Gehorsam. Und noch williger ist es dazu bereit bei dem Besonnenen und Tapferen: hier ist volle Harmonie mit dem rationalen Element. So hat sich denn erwiesen, daß (gleich der ganzen Seele) auch das Irrationale zweifacher Art ist: da ist erstens die vegetative Grundlage, die keinerlei Anteil hat am Rationalen, und zweitens das Begehrungsvermögen - mit einem umfassenden Ausdruck: das Strebevermögen. Dieses hat in bestimmter Weise Anteil am rationalen Element, insofern es auf dieses hinzuhören und ihm Gehorsam zu leisten vermag. In diesem Sinne sagen wir denn auch: „ich habe ein rationales Verhältnis zum Rate des Vaters oder der Freunde" (= ich gehorche ihm), meinen das also nicht so wie: „ich habe ein rationales Verhältnis zu Gegenständen der Mathematik" (= ich beherrsche sie intellektuell). Daß übrigens das Irrationale sich in gewissem Sinne vom Rationalen bestimmen läßt, darauf weist schon die Tatsache des Mahnens 2 hin so1103a wie jegliche Form des Zurechtweisens und Aufmunterns. Wenn man nun also sagen muß, daß auch diese seelische Kraft (das Strebevermögen) ein rationales Element in sich trägt, so muß auch jener (zweite) Teil der Seele, nämlich der rationale, einen Doppelcharakter haben: ein Teil hat das Rationale im eigentlichen Sinn und in sich selbst

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während ein zweiter das Vermögen besitzt „hinzuhören" so wie ein Kind auf den Vater hört. Nach dieser Unterscheidung wird nun auch die sittliche Trefflichkeit untergeteilt. Wir sprechen nämlich teils von Vorzügen des Verstandes (dianoetische 1 ), teils von Vorzügen des Charakters (ethische). Die Weisheit (des Philosophen), Intelligenz und sittliche Einsicht sind Verstandesvorzüge, Großzügigkeit und Besonnenheit sind Charakterwerte. Wenn wir nämlich den Charakter eines Menschen bezeichnen, so sagen wir nicht, er ist weise oder intelligent, sondern, er ist von vornehm-ruhigem Wesen oder besonnen. Allerdings loben 2 wir auch den Weisen wegen seiner (geistigen) Haltung. Haltungen aber, die uns zu Lob veranlassen, nennen wir Wesensvorzüge.

BUCH II 1. Die Tüchtigkeit 1 ist also zweifach: es gibt Vorzüge des Verstandes (dianoetische) u n d Vorzüge des Charakters (ethische). Die ersteren n u n gewinnen Ursprung und W a c h s t u m vorwiegend durch Lehre, weshalb sie E r f a h r u n g und Zeit 2 brauchen, die letzteren sind das E r gebnis von Gewöhnung. Daher auch der Name (ethisch, von ethos), der sich mit einer leichten V a r i a n t e 3 von dem Begriff f ü r Gewöhnung (ethos) herleitet. Somit ist auch klar, daß keiner der Charaktervorzüge uns von N a t u r 4 eingeboren ist. Denn kein N a t u r d i n g läßt sich in seiner A r t umgewöhnen. Es ist in der N a t u r des Steines 5 zu fallen. Keine Gewöhnung wird ihn zum Steigen bringen, selbst wenn m a n ihn d a r a n gewöhnen wollte, indem m a n ihn unzähligemale in die H ö h e wirft. U n d das Feuer läßt sich nicht nach unten zwingen u n d keinem Ding, das von N a t u r in bestimmter Richtung festgelegt ist, k a n n m a n ein anderes Verhalten angewöhnen. Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die N a t u r , sondern es ist unsere N a t u r , fähig zu sein sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung. F e r n e r : was von N a t u r in uns anwesend ist, davon bringen wir zunächst n u r die Anlage 6 mit u n d lassen dies dann erst später aktiv in Erscheinung treten. Ein klares Beispiel bietet die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung. Wir haben j a nicht durch wiederholte A k t e des Sehens oder Hörens die Fähigkeit der W a h r n e h m u n g bekommen, sondern u m g e k e h r t : die Fähigkeit war da und dann haben wir sie ben ü t z t - nicht etwa infolge der Benützung erst erhalten. Die sittlichen W e r t e dagegen gewinnen wir erst, indetai wir u n s ' t ä t i g bemühen. Bei K u n s t u n d H a n d w e r k 7 ist es genau so. Denn was m a n erst lernen m u ß , bevor m a n es ausführen k a n n , das lernt man, indem m a n es a u s f ü h r t : Baumeister wird man, indem m a n b a u t und Kitharakünstler, indem 1103 b m a n das I n s t r u m e n t spielt. So werden wir auch gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen, indem wir besonnen, und t a p f e r , indem wir t a p f e r handeln. Dies wird auch bestätigt durch eine Tatsache des staatlichen Leb e n s : die Gesetzgeber suchen die Bürger durch Gewöhnung zu ver-

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edeln und dies ist die Tendenz eines jeden Gesetzgebers. Wenn er dabei nicht richtig verfährt, so verfehlt er sein Ziel und so kommt es zu dem Unterschied zwischen guter Verfassung und verfehlter Verfassung. Ferner: aus denselben Ursachen und durch dieselben Mittel entsteht jeweils die sittliche Tüchtigkeit und vergeht sie auch wieder. Desgleichen Geschicklichkeit in Kunst und Handwerk. Durch das Spielen der Kithara entstehen die guten und die schlechten Musiker. Entsprechend ist es bei den Baumeistern und allen übrigen Berufen. Werkgerechtes Bauen wird gute, das Gegenteil schlechte Baumeister hervorbringen. Wäre dem nicht so, so wäre der Lehrer überflüssig und es gäbe nur geborene Könner und geborene Stümper. So ist es denn auch bei den sittlichen Werten. Denn durch das Verhalten in den Alltagsbeziehungen zu den Mitmenschen werden die einen gerecht, die andern ungerecht. Und durch unser Verhalten in gefährlicher Lage, Gewöhnung an Angst oder Zuversicht, werden wir entweder tapfer oder feige. Dasselbe trifft zu bei den Regungen der Begierde und des Zorns: die einen werden besonnen und gelassen, die anderen hemmungslos und jähzornig, je nachdem sie sich so oder so in der entsprechenden Lage benehmen. Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung. Darum müssen wir unseren Handlungen einen bestimmten Wertcharakter 1 erteilen, denn je nachdem sie sich gestalten, ergibt sich die entsprechende feste Grundhaltung. Ob wir also gleich von Jugend auf 2 in dieser oder jener Richtung uns formen - daraufkommt nicht wenig an, sondern sehr viel, ja alles. 2. Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht wie die anderen 3 rein theoretisch 4 - wir philosophieren nämlich nicht um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden. Sonst wäre dieses Philosophieren 5 ja nutzlos. Daher müssen wir unser Augenmerk auf das Gebiet des Handelns richten, auf die Frage, wie wir die einzelnen Handlungen gestalten sollen, denn diese beeinflussen, wie wir gesagt 6 haben, in entscheidender Weise das Wie der sich herausbildenden ethischen Grundhaltungen. Nun ist der Satz: „nach der richtigen Planung 7 handeln" allgemein anerkannt und sei (somit vorläufig) vorausgesetzt. Später soll dann darüber gesprochen werden, was das ist: „richtige Planung" und in welcher Beziehung sie zu den (ethischen) Wesensvorzügen steht. Uber das eine möge hierbei im vorhinein Übereinstimmung festgestellt sein, liwa daß von einer Untersuchung über ethische Fragen nur umrißhafte

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Gedankenführung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefordert werden darf. Wir haben j a schon eingangs 1 ausgesprochen, d a ß die F o r m der Untersuchung, die wir verlangen dürfen, dem Erkenntnisgegenstand entsprechen m u ß . I m Bereiche des Handelns aber und der Nützlichkeiten gibt es keine eigentliche Stabilität - übrigens auch nicht in Fragen der Gesundheit. Wenn dies aber schon bei übergreifenden Aussagen (in der Ethik) zutrifft, so k a n n E x a k t h e i t noch viel weniger bei der Darstellung von Einzelfällen des Handelns vorhanden sein: diese fallen weder u n t e r eine bestimmte „ T e c h n i k " noch Fachtradition. Der Handelnde ist im Gegenteil jeweils auf sich selbst gestellt u n d muß sich nach den Erfordernissen des Augenblicks richten, m a n denke n u r an die K u n s t des Arztes und des Steuermanns. Indes, auch wenn die gegenwärtige Untersuchung Schwierigkeiten dieser A r t bietet, so m u ß man doch versuchen (ihr) Hilfe zu leisten. Als erste Erkenntnis n u n ist festzuhalten die, daß alles was irgendwie einen W e r t darstellt, seiner N a t u r nach durch ein Zuviel 2 oder ein Zuwenig zerstört werden k a n n . Wir sehen es - u m weniger Augenfälliges durch greifbare Tatsachen zu klären - an der K r a f t u n d der Gesundh e i t 3 : die Körperstärke wird durch ein Zuviel an Sport genau so geschädigt wie durch ein Zuwenig. Ü b e r m a ß in Speise u n d T r a n k richtet die Gesundheit ebenso zugrunde wie Unterernährung, während ein richtiges Maß sie erzeugt, steigert u n d erhält. Dasselbe ist n u n der Fall bei der Besonnenheit, der Tapferkeit u n d den übrigen Wesensvorzügen. Wer vor allem davonläuft u n d sich f ü r c h t e t u n d nirgends ausharrt, wird ein Feigling. Wer ü b e r h a u p t vor nichts Angst h a t u n d auf alles losgeht, der wird ein sinnloser Draufgänger. Wer sich in jeden Genuß stürzt u n d sich nichts versagt, wird haltlos, wer jeden meidet wie die Spießer, wird stumpfsinnig. So wird denn besonnenes u n d m a n n h a f t e s Wesen durch das Zuviel u n d das Zuwenig zerstört, dagegen bewahrt, wenn m a n der rechten Mitte folgt. Es k o m m t aber nicht n u r ihr E n t s t e h e n u n d ihr Wachsen, sowie anderseits ihr Vergehen aus denselben Ursachen u n d von denselben Wirkungen, sondern es wird sich auch ihre Verwirklichung im Einzelfall im selben Umkreis bewegen, denn so ist es auch bei den mehr sinnenfälligen Dingen, z. B. bei der körperlichen K r a f t . Sie entsteht, indem m a n reichlich N a h r u n g a u f n i m m t u n d ein hartes Training durchhält - u n d es ist d a n n gerade der gestählte Sportsmann, der so e t w a s 4 a m besten bewältigt. So ist es n u n auch bei den sittlichen W e r t e n : indem wir uns sinnliche Genüsse versagen, werden wir beherrscht u n d

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sind wirs einmal geworden, so haben wir am ehesten die K r a f t uns ihrer zu enthalten. Bei der Tapferkeit ist es nicht anders: indem wir 1104b uns d a r a n gewöhnen Gefahren zu verachten u n d sie zu meistern, werden wir t a p f e r und sobald wir es sind, können wir ihrer am sichersten H e r r werden. Als Anzeichen, ob m a n bereits eine feste G r u n d h a l t u n g erlangt h a t , m u ß m a n das Gefühl von Lust oder Unlust nehmen, das sich bei den einzelnen Akten einstellt. Wer Sinnengenuß von sich fernhält u n d eben darüber Freude empfindet, der ist besonnen; wer sich n u r widerwillig überwindet, ist haltlos. Wer die Gefahren durchsteht u n d zwar mit Freude oder doch wenigstens ohne Mißstimmung, der ist t a p f e r ; wer sich verstimmen läßt, feige. I n den Bereichen von Lust und Unlust nämlich entfalten sich die Vorzüge des Charakters; denn (1) die Lust ist Anlaß, d a ß wir das Schlechte t u n , der Unlust folgend unterlassen wir das Gute. Daher m u ß schon von f r ü h e r J u g e n d an, wie P i a t o n 1 sagt, eine bestimmte F ü h r u n g da sein, die Lust u n d Unlust da empfinden lehrt, wo es am Platze i s t ; denn dies ist die richtige Erziehung. Ferner (2): Sittliche Tüchtigkeit h a t es mit T a t e n u n d Affekten 2 zu t u n : jedem Affekt aber u n d jeder T a t folgt Lust u n d Unlust. Auch aus diesem Grunde also steht sittliche Tüchtigkeit im Zusammenhang mit Lust u n d Unlust. (3) Darauf weisen auch die Formen des Strafens hin, die mit diesen Mitteln arbeiten. Sie sind j a in gewissem Sinne Heilverfahren. Diese aber wirken grundsätzlich durch Kontraste. F e r n e r : (4) Wie wir vorhin 3 gesagt haben, zeigt jede G r u n d h a l t u n g der Seele ihr eigentliches Wesen in der Bezogenheit auf dieselben Dinge u n d in dem Bereich derselben Dinge, von denen her sie den Anstoß zum Besser- oder Schlechterwerden empfängt. N u n werden aber die Menschen minderwertig durch Lust und Unlust, indem sie diese gierig erstreben oder meiden, u n d zwar jeweils die Arten, die m a n nicht soll, oder wann m a n es nicht soll oder wie m a n es nicht soll - oder wie immer die Kategorien 4 des Verkehrten hier lauten mögen. Daher sind bei Wesensbestimmungen der sittlichen Tüchtigkeit auch schon Begriffe aufgetaucht wie „ U n a b h ä n g i g k e i t 5 von Lust- u n d Schmerzempfind u n g " oder „Stille der Seele". Diese Definitionen sind aber nicht gut. weil sie das so einfachhin aussprechen, ohne beizufügen: „so wie me u soll" oder „wie m a n nicht soll" oder „ d a n n wann m a n soll" u n d was dergleichen Zusätze mehr sind. Als Grundlage gilt uns also n u n m e h r

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der S a t z : die Trefflichkeit des Charakters ist grundsätzlich abgestellt auf hochwertiges Handeln in der Auseinandersetzung mit L u s t u n d Unlust, die Verderbtheit auf das Gegenteil. (5) Auch aus folgendem T a t b e s t a n d können wir noch Klarheit über dasselbe T h e m a gewinnen: es gibt drei Gegenstände, die wir erstreben u n d drei 1 , die wir meiden: das Schöne, das Nützliche und das Angenehme einerseits - das Häßliche, das Schädliche u n d das Unangenehme andererseits. Hier wird dem trefflichen Manne stets die richtige Entscheidung gelingen, der Minderwertige wird sie verfehlen. Dies gilt besonders f ü r das Verhalten gegenüber der Lust. Denn diese ist allen Lebewesen zugänglich u n d sie ist im Gefolge aller Gegen1105a stände, die u n t e r unsere W a h l fallen. Auch das Wertvolle u n d Nützliche erscheint ja als lustvoll. (6) F e r n e r : die Lust ist von frühester Kindheit an mit uns aufgewachsen, wie eine F a r b e 2 so tief ist die Empfänglichkeit d a f ü r in das Gewebe unseres Lebens eingedrungen. D a r u m ist es so schwer, sie wieder herauszureiben. (7) Außerdem legen wir alle, die einen mehr, die anderen weniger, auch an unser Handeln den Maßstab von Lust oder Unlust an. So m u ß denn unsere ganze Untersuchung sich notwendig u m diesen P u n k t bewegen, denn auf das Handeln wirkt es sich b e d e u t s a m aus, ob m a n Freude u n d Unlust in der rechten oder in der falschen Weise erlebt. (8) U n d schließlich ist es schwerer gegen die Lust a n z u k ä m p f e n als gegen den Zorn, wie H e r a k l i t 3 sagt. Aber gerade an der härteren Aufgabe pflegt sich sowohl K u n s t und H a n d w e r k als auch (charakterliche) Trefflichkeit zu erproben, denn es h a t j a auch der Erfolg in h a r t e r Aufgabe höheren R a n g . Also auch deshalb ist dies das ganze Anliegen sowohl der E t h i k als auch der S t a a t s k u n s t 4 : Lust und Unlust. Denn wer diese beiden richtig in sein Leben einbezieht, wird ein trefflicher Mann - wer es falsch m a c h t , wird schlecht. 3. Folgendes sei als Ergebnis 5 ausgesprochen: (a) sittliche Trefflichkeit entfaltet sich im Bereich von Lust und Unlust, (b) Sie wird durch dieselben Akte, aus denen sie entsteht, auch gemehrt u n d - wenn diese Akte sich nicht in derselben Weise 6 wiederholen - auch zerstört. (c) Sie verwirklicht sich in demselben Umkreis, aus dem sie ihren Ursprung gewonnen h a t . N u n k ö n n t e die Frage gestellt werden, wie es denn gemeint sei, wenn wir sagen, m a n müsse gerecht werden durch gerechtes H a n d e l n u n d

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besonnen durch, besonnenes Handeln. Denn gerechtes und besonnenes Handeln setze j a schon voraus, daß man gerecht und besonnen sei, genau so wie Leistungen in Grammatik und Musik bereits Vertrautheit damit voraussetzen. Oder trifft diese Annahme schon bei den fachlichen Leistungen gar nicht zu? Es ist ja immerhin möglich, in der Grammatik etwas zustande zu bringen aus Zufall oder mit fremder Hilfe, so daß man als wirklicher Könner erst dann gelten darf, wenn man (selbständig) auf grammatischem Gebiet etwas geleistet hat und zwar in sachgerechter Weise. Das aber bedeutet: gemäß der Grammatikkenntnis, über die man eigenständig verfügt. Und ferner: es gibt gar keine Ähnlichkeit zwischen fachlichem Können und sittlichen Vorzügen. Denn was durch fachliches Können hervorgebracht wird, hat seinen Wert in sich selbst: da genügt es also, wenn das Werk einfach in charakteristischer Beschaffenheit schließlich da ist. Dagegen haben Handlungen im Bereich des Sittlichen nicht dann ohne weiteres den Charakter des Gerechten oder Besonnenen, wenn sie selbst einfach in charakteristischer Erscheinungsform auftreten, sondern es muß auch der handelnde Mensch selbst in einer ganz bestimmten Verfassung wirken. Er muß erstens wissentlich 1 , zweitens auf Grund einer klaren Willensentscheidung handeln, einer Entscheidung, die um der Sache selbst willen gefällt ist und drittens muß er mit fester und unerschütterlicher Sicherheit handeln. Für den Besitz fach- 1105 b liehen Könnens spielen diese Forderungen keine Rolle: da ist nur klares Wissen vonnöten. Für den Besitz sittlicher Vorzüge dagegen bedeutet das Wissen 2 wenig oder nichts, wogegen auf die anderen Bedingungen nicht wenig, sondern schlechthin alles ankommt, jene Bedingungen, die verwirklicht werden, indem man häufig gerechte und besonnene Handlungen vollzieht. Man bezeichnet also Handlungen als gerecht und besonnen, wenn sie so sind, wie sie der gerechte oder besonnene Mensch vollbringen würde. Indes, gerecht und besonnen ist nicht ohne weiteres jeder, der solche Handlungen vollbringt: er muß sie auch im selben Geiste 3 vollbringen wie die gerechten und besonnenen Menschen. Es ist also richtig, zu sagen, daß ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt, und besonnen, wenn er besonnen handelt. Ohne solches Handeln aber hat niemand auch nur die leiseste Aussicht, jemals ein sittlich wertvoller Mensch zu werden. Und dennoch handeln die meisten Menschen nicht so, sondern sie nehmen ihre Zuflucht zur Theorie, glauben „Philosophen" 4 zu sein

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und so zur sittlichen Tüchtigkeit zu gelangen. Sie halten es wie jene Kranken, die mit Eifer auf den Arzt hinhören, aber nichts von dem tun, was er anordnet. So wenig nun letztere durch ein solches Verfahren zur Gesundheit des Leibes kommen werden, so wenig die ersteren durch ein derartiges „Philosophieren" zur Gesundheit der Seele. 4. Unsere nächste Frage lautet nunmehr: was ist 1 die sittliche Tüchtigkeit? Es gibt bekanntlich dreierlei seelische Phänomene: irrationale Regungen, Anlagen und feste Grundhaltungen. Zu einer dieser drei Klassen wird die sittliche Tüchtigkeit wohl gehören. Als „irrationale Regungen" bezeichne ich 2 die Begierde, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft 3 , des Hasses, die Sehnsucht 4 , die Mißgunst, das Mitleid - kurz, Empfindungen, die von Lust oder Unlust begleitet werden. „Anlage" ist das, wodurch wir als fähig bezeichnet werden, die irrationalen Regungen zu fühlen: wodurch wir z. B. fähig sind in Zorn oder Unlust zu geraten oder Mitleid zu fühlen. „Feste Grundhaltung" ist etwas, kraft dessen wir uns den irrationalen Regungen gegenüber richtig oder unrichtig verhalten. Einer Zornesregung gegenüber ist z. B. unser Verhalten dann unrichtig, wenn wir sie zu heftig oder zu schwach empfinden, dagegen richtig, wenn es in einer gemäßigten Weise geschieht. Bei den anderen Regungen ist es ähnlich. Nun: irrationale Regungen sind weder die sittlichen Vorzüge noch die Fehler, denn erstens werden wir nicht auf Grund der irrationalen Regungen gut oder schlecht genannt, sondern auf Grund der sittlichen Vorzüge oder Fehler. Und wir werden auch nicht wegen solcher Regungen gelobt oder getadelt - man lobt ja nicht einen, der Angst oder 1106 a Zorn fühlt, und getadelt wird andererseits nicht das Zornigwerden schlechthin, sondern eine gewisse Form des Zornigwerdens - Lob und Tadel werden uns vielmehr zuteil nach Maßgabe unserer sittlichen Vorzüge oder Fehler. Zweitens: Zorn und Angst kommen über uns ohne unsere vorherige Entscheidung, sittliche Handlungen dagegen sind eine Form von Entscheidung oder enthalten jedenfalls ein Element der Entscheidung. Und drittens spricht man bei den irrationalen Regungen von einem Bewegtwerden, bei den sittlichen Vorzügen und Fehlern dagegen ist nicht die Rede von Bewegtwerden, sondern von einem bestimmten Dauerzustand. Aus diesen Gründen sind die sittlichen Vorzüge aber auch keine ,,Anlage". Denn wir werden nicht als gut oder als schlecht bezeichnet, weil wir die nicht weiter bestimmte Anlage haben irrationale Regun-

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gen empfinden zu können, und werden auch nicht deshalb gelobt oder getadelt. Und ferner: die Anlagen sind uns angeboren, gut oder schlecht zu werden dagegen ist uns nicht angeboren. Wir haben darüber vorher schon gesprochen1. Wenn nun also die sittlichen Werte weder irrationale Regungen noch Anlagen sind, so verbleibt nur noch, daß sie feste Grundhaltungen sind. 5. Was die sittliche Tüchtigkeit der Gattung nach ist, haben wir somit festgestellt. Es gilt jedoch nicht nur einfach so auszusprechen, daß sie eine feste Grundhaltung ist, sondern auch zu bestimmen, von welcher Art 2 diese Haltung ist. Man darf nun behaupten, daß jede Trefflichkeit ihrem Träger und dessen Leistung Rang verleiht. So macht z. B. die Trefflichkeit des Auges 3 sowohl das Auge als auch dessen Leistung hervorragend. Denn die Trefflichkeit des Auges ist es ja, die bewirkt, daß wir gut sehen. Ähnlich bewirkt die Trefflichkeit des Pferdes einerseits, daß das Pferd hervorragend ist, andererseits, daß es tüchtig ist im Laufen und im Tragen des Reiters und im Standhalten gegen die Feinde. Wenn dies nun in jedem Falle gilt, so auch gewiß beim Menschen. Dessen Trefflichkeit ist dann jene feste Grundhaltung, von der aus er tüchtig wird und die ihm eigentümliche Leistung in vollkommener Weise zustande bringt. Wie dies möglich ist, haben wir schon gesagt und es wird auch dadurch noch klarer werden, daß wir betrachten, welches das artbildende Merkmal der sittlichen Tüchtigkeit ist. Nun, man kann bei allem was ein Continuum4 und (in infinitum) teilbar ist, ein Mehr, ein Weniger und ein Gleiches fassen und zwar in der Beziehung auf das Ding selbst 5 oder in der Beziehung auf uns, wobei unter „das Gleiche" das Mittlere zu verstehen ist zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das, was von den beiden Enden gleichen Abstand 6 hat und für alle Menschen eines ist und dasselbe. Mittleres dagegen in Hinsicht auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies jedoch ist nicht eines und dasselbe für alle. Ein Beispiel: wenn der Wert 10 zu viel ist und der Wert 2 zu wenig, so gilt 6 als das mittlere in bezug auf die Sache, denn es übertrifft den einen Wert um denselben Betrag, um den es hinter dem anderen zurückbleibt. Das ist das arithmetische Mittel. Das Mittlere jedoch in Hinsicht auf uns darf nicht so verstanden werden, denn wenn eine Eßration von 10 Minen nosb für einen Einzelnen zu viel, eine solche von 2 Minen aber zu wenig ist, so wird deshalb der Trainer nicht gerade 6 Minen anordnen. Denn

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auch dieses Quantum könnte je nachdem zu groß oder zu klein sein. Für einen Milon 1 ist das zu wenig, für einen Anfänger in KörperÜbungen dagegen zu viel. Ähnliches gilt für Wettlauf und Ringkampf. So meidet also jeder Sachkundige das Übermaß und das Zuwenig und sucht nach dem Mittleren und dieses wählt er, allerdings nicht das rein quantitativ Mittlere, sondern das Mittlere in der Beziehung auf uns. Wenn also jede „Kunst" ihr Werk zur Vollendung dadurch bringt, daß sie auf das Mittlere blickt und ihr Werk diesem annähert - man pflegt daher beim Anblick vollendeter Kunstwerke zu urteilen: „hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen", erkennt also an, daß ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mitte dagegen sie erhält - wenn also die bedeutenden Künstler bei ihrem Schaffen auf dieses Ausgewogene blicken, die sittliche Tüchtigkeit aber, hierin der Natur vergleichbar, genauer und besser waltet als jede Kunst, dann müssen wir schließen: sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere 2 ab. Ich meine natürlich die Tüchtigkeit des Charakters. Denn diese entfaltet sich im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns und da gibt es das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere. Bei der Angst z. B. und beim Mut, beim Begehren, beim Zorn, beim Mitleid und überhaupt bei den Erlebnissen von Lust und Unlust gibt es ein Zuviel und Zuwenig und keines von beiden ist richtig. Dagegen diese Regungen zur rechten Zeit zu empfinden und den rechten Situationen und Menschen gegenüber, sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise — das ist jenes Mittlere, das ist das Beste, das ist die Leistung der sittlichen Tüchtigkeit. Ahnlich (wie bei den irrationalen Regungen) treffen wir das Zuviel, das Zuwenig und das Mittlere auf dem Gebiet des Handelns. Die sittliche Tüchtigkeit aber entfaltet sich eben auf dem Gebiet der irrationalen Regungen und des Handelns 3 , wobei das Zuviel ein Fehler ist und das Zuwenig getadelt wird, das Mittlere aber ein Treffen des Richtigen ist und gelobt wird. Die beiden eben genannten Momente aber sind bezeichnend für die sittliche Tüchtigkeit. So ist denn die sittliche Tüchtigkeit eine Art von Mitte, insofern sie eben wesenhaft auf das Mittlere abzielt. Weiter: fehlen kann man auf vielfache Weise, gehört doch das Schlechte, wie schon die Pythagoreer 4 vermuteten, auf die Seite des Unbegrenzten, das Gute auf die des Begrenzten - das Richtige dagegen kann man nur auf eine einzige 5 Weise treffen, weshalb denn

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auch das eine leicht, das andere schwer ist: leicht ist es, das Ziel zu verfehlen, schwer, es zu treffen. Auch aus diesem Grunde ist also das Zuviel und das Zuwenig der sittlichen Minderwertigkeit, dagegen die Mitte der sittlichen Tüchtigkeit zugeordnet. „Edle sind einfacher Art, hundertfach schillert der Böse." 1 6. So ist also 2 sittliche Werthaftigkeit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jener Mitte, die die Mitte in bezug 1107a auf uns ist, jener Mitte, die durch den richtigen Plan festgelegt ist, d. h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde. Sie ist Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind, und weiter: sie ist es dadurch, daß das Minderwertige teils hinter dem Richtigen zurückbleibt, teils darüber hinausschießt und zwar im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns - wohingegen die sittliche Tüchtigkeit das Mittlere zu finden weiß und sich dafür entscheidet. Wenn wir daher auf ihr immanentes Wesen und die begriffliche Darstellung 3 dieses Wesens schauen, so ist die sittliche Vortrefflichkeit eine Mitte, fragen wir jedoch nach Wert und gültiger Leistung, so steht sie auf höchster Warte 4 . Indes kann unsere Theorie der Mitte nicht auf jedes Handeln 5 und auf alle irrationalen Regungen angewendet werden, denn letztere schließen bisweilen schon in ihrem bloßen Namen das Negative ein, z. B. Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid - und auf der Seite des Handelns: Ehebruch, Diebstahl, Mord. All diese und ähnliche Dinge werden ja deshalb getadelt, weil sie in sich negativ sind und nicht nur dann, wenn sie in einem übersteigerten oder unzureichenden Maße auftreten. E s ist also unmöglich, hier jemals das Richtige zu treffen: es gibt nur das Falschmachen. Und es ist auch über den sittlichen oder unsittlichen Charakter solchen Tuns kein Schwanken möglich, etwa ob es Ehebruch mit der richtigen Frau oder zur rechten Zeit oder in der richtigen Weise gebe - sondern das einfache Vollziehen irgendeiner derartigen Handlung bedeutet falsches Handeln. Ähnlich sinnlos ist ferner die Annahme, es gebe beim ungerechten, feigen und wollüstigen Handeln Mitte, Übermaß und Unzulänglichkeit, denn auf diese Weise käme man zu dem Ansatz einer Mitte auch für Übermaß und Unzulänglichkeit und weiter zum Übermaß des Übermaßes und zur Unzulänglichkeit der Unzulänglichkeit. Wie aber ein Akt der Besonnenheit oder Tapferkeit nicht aufgespalten werden kann in ein übersteigertes und ein unzulängliches Tun, weil ja das Mittlere im

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Grunde ein Äußerstes ist, so gibt es auch bei den vorher aufgezählten Beispielen kein Übermaß u n d keine Unzulänglichkeit; m a n handle hier wie m a n wolle, es ist falsches Handeln. Denn gemeinhin gilt: es k a n n bei Ü b e r m a ß und Unzulänglichkeit keine Mitte geben u n d bei der Mitte kein Ü b e r m a ß u n d keine Unzulänglichkeit. 7. Es genügt jedoch nicht diese allgemeine Feststellung: m a n m u ß sie auch auf den Einzelfall anwenden. Denn bei ethischen Diskussionen sind allgemeine Aussagen verhältnismäßig leer, während die konkreten der W a h r h e i t näherkommen. Denn das H a n d e l n b e s t e h t aus Einzelakten u n d mit diesen müssen die Aussagen im Einklang sein. Wir wollen das Einzelne n u n m e h r unserer Tabelle 1 e n t n e h m e n . Aus ihr sehen wir: in Hinsicht auf die Anwandlungen von Angst u n d Verne« b wegenheit ist Tapferkeit die Mitte. Mit den Übersteigerungen steht es so: f ü r das extreme Fehlen jeder Furchtempfindung gibt es keinen eigenen Ausdruck - ein solcher f e h l t 2 übrigens häufig. Wer maßlos verwegen ist, heißt sinnloser Draufgänger, wer übersteigerte Angst u n d ein Zuwenig an Mut h a t , heißt feige. I n Hinsicht auf die Empfindungen von Lust und Unlust - nicht alle sind gemeint, vor allem nicht alle Unlustempfindungen - ist Besonnenheit die rechte Mitte. Die Übersteigerung heißt Zügellosigkeit. Menschen mit mangelhafter Lustempfindung gibt es eigentlich nicht. D a h e r haben auch sie keinen eigenen N a m e n erhalten. Man m a g sie als stumpfsinnig bezeichnen. I n Hinsicht auf das Geben u n d Nehmen von Geld ist Großzügigkeit die Mitte. Das Zuviel u n d das Zuwenig heißt Verschwendungssucht u n d kleinliches Knausern. I n beiden Fällen aber zeigt sich das Überm a ß in entgegengesetzter R i c h t u n g : der Verschwender ist maßlos im Ausgeben und kärglich im Nehmen, der Knauserige ist maßlos im Nehmen u n d kärglich im Geben. Übrigens reden wir jetzt von den Dingen n u r im Umriß und zusammendrängend und b e g n ü g e n 3 uns absichtlich d a m i t . S p ä t e r 4 sollen genauere Bestimmungen folgen. Unser Verhältnis zum Geld k a n n auch noch andere F o r m e n haben. Ein Mittleres ist die Großgeartetheit. Man bemerke den Unterschied zwischen großgeartet u n d großzügig. I m ersteren Fäll handelt es sich u m große Beträge, im letzteren um kleinere. Das übersteigerte Verhalten heißt Großmannssucht u n d Geschmacklosigkeit, das unzulängliche ist Engherzigkeit. Diese Formen des Übermaßes decken sich nicht mit denen, die bei der Großzügigkeit genannt worden sind. Über den Unterschied s p ä t e r 5 .

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In Hinsicht auf Ehre und Unehre ist Hochsinnigkeit die Mitte. Das Zuviel pflegt man dummen Stolz zu nennen, das Zuwenig Engsinnigkeit. Wir haben nun soeben 1 bemerkt, daß die Großzügigkeit in einem bestimmten Verhältnis zur Großgeartetheit steht: sie unterscheidet sich lediglich durch die kleineren Summen, die bei ihr in Frage stehen. Genau so aber verhält sich eine bestimmte Eigenschaft zur Hochsinnigkeit : diese letztere ist auf Ehre im großen gerichtet, erstere dagegen ist es nur im kleinen. Nach Ehre kann man nämlich in der richtigen, in übersteigerter, und in unzulänglicher Weise verlangen. Wer das Maß dabei überschreitet, heißt geltungssüchtig, wer es unterschreitet, ist gegen Ansehen gefühllos. Für den Mittleren aber gibt es keinen eigenen Begriff. Auch für die entsprechenden Grundhaltungen fehlt ein solcher. Nur die des Geltungssüchtigen heißt Geltungssucht. Daher erheben die Träger des extremen Verhaltens Anspruch auf den Platz in der Mitte und auch wir selbst nennen den Mittleren bisweilen geltungssüchtig, bisweilen gleichgültig und loben das einemal den Gel- 1108 a tungssüchtigen, ein andermal den Gleichgültigen. Aus welchem Grunde wir dies tun, werden wir im folgenden 2 klären. Jetzt wollen wir die Untersuchung nach der Methode fortsetzen, die uns bisher geführt hat. Auch in Hinsicht auf die Zornesregung gibt es ein Zuviel, ein Zuwenig und die Mitte. Besondere Namen gebraucht man dafür eigentlich nicht. Doch wollen wir den Mittleren als ruhig und die Mitte als ruhiges Wesen ansprechen. Bei der Benennung der Extreme wollen wir für den Maßlosen den Begriff jähzornig und für das entsprechende falsche Verhalten den Begriff Jähzorn prägen. Der Unzulängliche aber heiße phlegmatisch und das falsche Verhalten Phlegma. Es gibt noch drei weitere Erscheinungsformen der Mitte. Bei mancher Ähnlichkeit sind sie voneinander doch verschieden. Sie beziehen sich nämlich alle drei auf unser Reden und Tun im Verkehr mit dem Mitbürger, sind aber insofern verschieden, als die eine (a) die Aufrichtigkeit im Leben zum Gegenstand hat, die beiden anderen dagegen das Angenehme. Dieses hinwiederum kann erlebt werden (b) bei geselliger Kurzweil im besonderen, dann aber auch (c) in allen Lebenslagen. Auch davon ist also noch zu sprechen, damit wir noch besser einsehen, wie überall die Mitte unser Lob verdient, während die Extreme weder richtig sind noch Lob verdienen, sondern Tadel. Zwar fehlen auch in diesem Fall fast durchweg gängige Begriffe, wir müssen aber doch, wie schon bisher, versuchen, sie selber zu prägen 3 , denn unser Ziel ist Klarheit und leichte Faßlichkeit für die Hörer.

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So gelte d e n n (a) in H i n s i c h t auf die Aufrichtigkeit folgendes: wer die Mitte einhält, m a g aufrichtig heißen u n d die Mitte A u f r i c h t i g k e i t . Die Absicht der Verstellung ist, w e n n sie ü b e r t r e i b t , Aufschneiderei u n d der Träger dieser E i g e n a r t ein Aufschneider. W e n n sie dagegen verkleinert, spricht m a n v o n geheuchelter Bescheidenheit u n d v o n heuchlerisch bescheiden, (b) I n H i n s i c h t auf das A n g e n e h m e bei geselliger Kurzweil ist, wer die Mitte einhält, gesellschaftlich g e w a n d t u n d seine E i g e n a r t die gesellschaftliche G e w a n d t h e i t . D a s Zuviel ist die H a n s w u r s t e r e i u n d der T r ä g e r dieser U n a r t der H a n s w u r s t . Bei d e m Zuwenig spricht m a n vielleicht v o n R ü p e l u n d R ü p e l h a f t i g k e i t , (c) I n H i n s i c h t auf die zweite F o r m des A n g e n e h m e n , soweit sie in d e n sonstigen L e b e n s u m s t ä n d e n erscheint, h e i ß t j e m a n d , der sich in der richtigen Weise a n g e n e h m m a c h t , freundlich u n d die Mitte F r e u n d lichkeit; der ü b e r t r i e b e n Freundliche aber ist liebedienerisch, falls keine N e b e n a b s i c h t dabei ist. W e n n er n u r seinen eigenen Vorteil verfolgt, ist er ein kriecherisches S u b j e k t . Der ü b e r t r i e b e n U n f r e u n d l i c h e u n d in allen L a g e n Widerwärtige heiße e t w a S t r e i t h a h n u n d W i d e r b o r s t . Aber a u c h bei den irrationalen R e g u n g e n u n d in deren Bereichen gibt es ein Mittleres, (a) So ist z. B. das F e i n g e f ü h l zwar kein sittlicher Vorzug u n d doch wird auch ein feinfühliger Mensch gelobt. D e n n a u c h in diesen Fällen sagt m a n v o n einem Menschen, er h a l t e die Mitte oder überschreite das Maß, wie z. B. der Schüchterne, der v o r allem zur ü c k s c h e u t . U n d der Mann des Zuwenig, der ü b e r h a u p t keine Scheu k e n n t , h e i ß t u n v e r s c h ä m t , der Mittlere aber feinfühlig. 1108 b (b) Ehrliche E m p ö r u n g ist die Mitte v o n M i ß g u n s t 1 u n d Schadenf r e u d e . Alle drei gehören zu U n l u s t u n d L u s t , soweit m a n sie ü b e r das E r g e h e n des N ä c h s t e n e m p f i n d e t : der ehrlich E m p ö r t e ä r g e r t sich ü b e r das Glück der a n d e r e n , w e n n es u n v e r d i e n t ist. Der Mißgünstige g e h t d a r ü b e r h i n a u s , i n d e m er sich ü b e r alle ärgert, die glücklich sind. D e r S c h a d e n f r o h e dagegen ist v o n Ärger weit e n t f e r n t : er f r e u t sich vielmehr. Doch d a r ü b e r zu sprechen wird noch a n d e r s w o 2 passende Gelegenheit sein. Bei der Gerechtigkeit a b e r - der Begriff wird nämlich n i c h t n u r in einer B e d e u t u n g g e b r a u c h t - wollen wir n a c h der U n t e r s u c h u n g dieser D i n g e 3 eine Begriffsteilung v o r n e h m e n u n d d a n n v o n b e i d e n F o r m e n der Gerechtigkeit sagen, inwiefern sie M i t t e 4 sind. Ahnlich sollen d a n n a u c h die Vorzüge des V e r s t a n d e s 5 u n t e r s u c h t w e r d e n . 8. E s gibt also drei G r u n d h a l t u n g e n : zwei f e h l e r h a f t e , d u r c h Ü b e r m a ß u n d Unzulänglichkeit gekennzeichnet, u n d eine r i c h t i g e : die Mitte.

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Dabei stehen in gewissem Sinne alle zueinander in Gegensatz 1 . Die Extreme stehen im Gegensatz zur Mitte und zu sich selbst, die Mitte wiederum zu den Extremen. Wie nämlich das Gleiche im Verhältnis zum Kleineren als größer erscheint, im Verhältnis zum Größeren dagegen als kleiner, so weisen die Grundhaltungen der rechten Mitte gegenüber dem Zuwenig ein Mehr, gegenüber dem Zuviel ein Weniger auf und zwar im Bereiche des Handelns wie in dem der irrationalen Regungen. So erscheint der Tapfere gegenüber dem Feigen als sinnloser Draufgänger, gegenüber dem Draufgänger als feige. Ähnlich ist es bei dem Besonnenen: dem Stumpfsinnigen gegenüber erscheint er als zügellos, dem Zügellosen gegenüber als stumpfsinnig und der Großzügige erscheint dem Knauserigen gegenüber als Verschwender und dem Verschwender gegenüber als knauserig. So stoßen 2 denn auch die Vertreter der Extreme den Mann der Mitte von seinem Platz, jeweils in die Richtung des anderen Extrems: den Tapferen bezeichnet der Feige als sinnlosen Draufgänger, der Draufgänger dagegen als feige und in den anderen Fällen ist das Verfahren entsprechend. So sind also hier die jeweiligen Gegensatzverhältnisse. Dabei ist am schärfsten der Gegensatz zwischen den Extremen ausgebildet, viel stärker als ihr Gegensatz zur Mitte. Denn die Extreme sind voneinander weiter entfernt als von der Mitte, so wie der Abstand von groß und klein, klein und groß beträchtlicher ist als beider Abstand vom Gleichen. Ferner gilt: zwischen der Mitte und einigen Extremen ist immerhin eine Ähnlichkeit vorhanden, so zwischen dem sinnlosen Draufgängertum und der Tapferkeit oder zwischen Verschwendungssucht und Großzügigkeit ; zwischen den Extremen dagegen ist größte Verschiedenheit. Nun wird aber als konträr entgegengesetzt das bezeichnet, was den größten Abstand voneinander hat und so muß denn, je größer der Abstand ist, um so stärker der konträre Gegensatz heraustreten. Zur Mitte steht manchmal das Zuwenig, manchmal das Zuviel in noa» schärferem Gegensatz. So ist nicht das sinnlose Draufgängertum, d. h. ein Übermaß, der größere Gegensatz zur Tapferkeit, sondern die Feig.heit, d. h. die Unzulänglichkeit. Bei der Besonnenheit dagegen ist es nicht der Stumpfsinn, also das Unzulängliche, sondern die Zügellosigkeit, also das Übermaß. Aus zwei Gründen ist dies so. (a) Einer ergibt sich aus der Sache selbst. Da das eine der beiden Extreme der Milte näher und ähnlicher ist, bringen wir nicht dieses, sondern das gegenteilige Extrem in größeren Gegensatz (zur Mitte). Der Tapferkeit z.B.

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- so n i m m t m a n a n - ist das sinnlose D r a u f g e h e n ähnlicher u n d n ä h e r , die Feigheit dagegen u n ä h n l i c h e r u n d so bringen wir die letztere in s t ä r k e r e n Gegensatz (zur Mitte). D e n n das was den größeren A b s t a n d v o n der Mitte h a t , bildet doch wohl den a u s g e p r ä g t e r e n Gegensatz zu i h r . D a s ist der eine G r u n d , der sich a u s der Sache selbst ergibt. (b) D e r a n d e r e ergibt sich aus u n s e r e m W e s e n : das n ä m l i c h , wozu u n s ein b e s t i m m t e r n a t ü r l i c h e r H a n g s t ä r k e r hinzieht, erweist sich als schärferer Gegensatz zur Mitte. So zieht u n s v o n H a u s e aus ein n a t ü r l i c h e r H a n g s t ä r k e r z u m Erlebnis der L u s t . Die Folge ist, d a ß wir u n s leichter zur Zügellosigkeit t r e i b e n l a s s e n 1 als z u r G e o r d n e t h e i t 2 . W i r bezeichnen als Gegensatz also eher die Seite, n a c h der wir u n s leichter entwickeln u n d deshalb s t e h t die Zügellosigkeit - als Ü b e r m a ß - in einem schärferen Gegensatz z u r Besonnenheit. 9. D a ß also sittliche T ü c h t i g k e i t eine Mitte ist u n d in welchem Sinne sie dies ist u n d d a ß sie M i t t e zwischen zwei falschen Z u s t ä n d e n ist, n ä m l i c h zwischen d e m des Ü b e r m a ß e s u n d d e m der Unzulänglichkeit u n d d a ß sie solcher A r t ist, weil ihr W e s e n s m e r k m a l eben d a r i n b e s t e h t , bei irrationalen R e g u n g e n u n d b e i m H a n d e l n n a c h d e m Mittleren zu zielen - das ist n u n genügend festgestellt. D a r a u s folgt freilich auch, d a ß es keine leichte S a c h e 3 ist ein wertvoller Mensch zu sein; d e n n in j e d e m einzelnen F a l l die Mitte z u fassen ist keine leichte S a c h e : den M i t t e l p u n k t des Kreises findet n i c h t u n t e r schiedslos ein j e d e r , sondern n u r der Wissende. So ist das Zornigwerden leicht, das k a n n jeder, ebenso Geld herschenken u n d v e r s c h w e n d e n allein das Richtige 4 zu b e s t i m m e n in H i n s i c h t auf Person, A u s m a ß , Zeit, Zweck u n d Weise, das ist n i c h t j e d e m gegeben, das ist nicht leicht. D a h e r ist richtiges V e r h a l t e n s e l t e n ; es ist des Lobes w e r t u n d es ist edel. W e r n a c h der Mitte zielt, m u ß d a h e r z u v ö r d e r s t (a) v o n d e m abr ü c k e n , dessen Gegensatz zu ihr der größere ist - n a c h d e m R a t e der K a l y p s o 5 : „ D o r t aus d e m d a m p f e n d e n Gischt u n d d e m Wogenschwall s t e m m e h e r a u s dein Schiff!" D e n n der G r a d des F e h l e r h a f t e n ist bei d e m einen E x t r e m größer, b e i m a n d e r e n geringer. N a c h d e m es n u n e x t r e m schwer ist, die M i t t e zu t r e f f e n , so m u ß m a n n a c h d e m volkstümlichen S p r u c h 6 , als zweitlioeb beste F a h r t , das kleinste Übel wählen u n d das wird sich a m einfachsten so verwirklichen lassen, wie wir es schildern. S o d a n n (b) müssen wir die R i c h t u n g e n ins Auge fassen, in die wir a u c h unsererseits d u r c h einen n a t ü r l i c h e n H a n g g e d r ä n g t w e r d e n : des

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einen Anlage 1 neigt dahin, die des anderen dorthin. Dies aber läßt sich an unseren Lust- und Unlusterlebnissen feststellen: da müssen wir uns dann zum entgegengesetzten Extrem zwingen, denn zur Mitte werden wir gelangen, indem wir kräftig von der falschen Linie abdrängen - so wie die Leute tun, die krummes Holz 2 zurechtbiegen. In jedem Falle aber (c) muß man sich vor dem Lustvollen und der Lust hüten, denn ihr gegenüber sind wir keine unbestechlichen 3 Richter. Was die ehrwürdigen Greise im Angesichte Helenas 4 empfanden, das müssen auch wir der Lust gegenüber empfinden und in allen Lagen deren Worte nachsprechen. Denn wenn es uns gelingt, die Lust auf solche Art von uns zu weisen, werden wir weniger leicht fehlgehen. Durch solches Handeln werden wir, um es abschließend zu sagen, am ehesten fähig sein, die Mitte zu treffen. Das ist allerdings schwer und besonders schwer im Einzelfall, denn es ist nicht leicht festzulegen, wie, wem, worüber und wie lange man zürnen soll. Und tatsächlich kommt es auch bei uns vor, daß wir das einemal die Phlegmatischen loben und sie als „ s a n f t " bezeichnen, ein anderes Mal dagegen die Bösartigen gelten lassen und sie „mannhafte Charaktere" nennen. Indes: wenn jemand von der richtigen Linie - nach der Seite des Zuviel oder des Zuwenig - nur um ein geringes abirrt, wird er noch nicht getadelt, wohl aber wenn er sich 'weiter entfernt, denn dann fällt er auf 5 . Aber begrifflich scharf festzulegen, bei welchem Punkte und bei welchem Grad der Abweichung der Tadel einzusetzen hat, das ist nicht leicht - wie ja bei allen Gegenständen der Erfahrung. Erscheinungen wie die genannten gehören zum Bereich der Einzeltatsachen: da entscheidet das unmittelbare Erfassen®. Soviel also ist klar geworden, daß die mittlere Grundhaltung in allen Lagen unser Lob verdient, daß es jedoch unvermeidlich ist gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen.

BUCH III 1. Nachdem die sittliche Tüchtigkeit, wie wir n u n m e h r wissen, sich im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns entfaltet u n d nachdem es L o b 1 u n d Tadel nur bei dem gibt, was freiwillig geschieht, während das Unfreiwillige Nachsicht 2 und manchmal auch Mitgefühl findet, so ist es wohl f ü r den, der über E t h i k philosophiert, notwendig, die Begriffe „freiwillig" und „unfreiwillig" gegeneinander abzugrenzen. Es ist überdies auch nützlich f ü r den Gesetzgeber, wenn er E h r e n oder Strafen anordnet. moa Als unfreiwillig gilt, was unter Zwang oder aus Unwissenheit geschieht. Gewaltsam ist ein Vorgang, dessen bewegendes Prinzip von außen her eingreift, und zwar so, daß bei seinem Einwirken die handelnde oder die erleidende Person in keiner Weise m i t w i r k t : wenn z . B . j e m a n d durch einen Sturmwind irgendwohin e n t f ü h r t wird, oder durch Menschen, fn deren Gewalt er sich befindet. T a t e n aber, die aus Angst vor noch größerem Unheil oder f ü r ein edles Ziel ausgeführt werden - wenn z. B. ein T y r a n n j e m a n d e m ein Verbrechen zu t u n befiehlt, dessen Eltern u n d Kinder er in seiner Gewalt h a t u n d wenn diesen im Falle der Ausführung der T a t das Leben geschenkt, sonst aber verwirkt wäre - lassen die Streitfrage entstehen, ob sie unfreiwillig oder freiwillig sind. Ähnlich ist es, wenn im Sees t u r m Teile der L a d u n g 3 über Bord geworfen werden, denn an sich wirft m a n Güter nicht aus freien Stücken weg. Jedoch u m sich u n d die anderen zu retten, t u t es jeder, der einen gesunden Menschenverstand h a t . Solche Handlungen haben also einen Mischcharakter, stehen aber näher dem Freiwilligen, denn im Augenblick des Vollzugs besteht die Freiheit der Wahl, u n d das Ziel der H a n d l u n g wechselt je nach den U m s t ä n d e n 4 . Also m u ß m a n von „freiwillig" u n d „unfreiwillig" sprechen im Hinblick auf den Z e i t p u n k t des Handelns. Der Mensch handelt dber freiwillig. Denn das Prinzip, das die dienenden Glieder des Leibes bei solchem H a n d e l n bewegt, ist im Menschen, u n d immer da, wo das bewegende Prinzip im Menschen liegt, steht es auch in der Macht des Menschen zu handeln oder nicht zu handeln. So ist denn dieses Handeln freiwillig. An sich 5 freilich b e t r a c h t e t , wohl un-

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freiwillig, denn niemand würde sich für Handlungen, wie wir sie oben beschrieben haben, an sich entscheiden. Wegen solcher Taten werden die Handelnden bisweilen auch gelobt: wenn sie nämlich Schande oder Schmerz auf sich genommen haben, um Ziele zu erreichen, die groß und edel sind. Fehlt diese Voraussetzung, so werden sie getadelt. Denn Erbärmlichstes auf sich zu nehmen und damit keinerlei edles oder nur angemessenes Ziel zu verfolgen, das ist die Art des Minderwertigen. In manchen Fällen wird lobende Anerkennung versagt, dafür aber Nachsicht gewährt: wenn man nämlich etwas tut was man zwar nicht soll, was aber die Grenzen der menschlichen N a t u r 1 übersteigt und dem kein Mensch gewachsen wäre. In manchen Fällen indes darf man keinem Zwange weichen, sondern muß eher schwerstes Leid und den Tod auf sich nehmen. Denn die Gründe, die z. B . den Alkmaion 2 des Euripides zum Muttermord gezwungen haben, erweisen sich doch offenbar als lächerlich. Manchmal ist es schwer 3 , das so oder so einer Handlung und Einsatz gegen Gewinn genau abzuwägen, noch schwerer aber bei dem Entschluß fest zu verharren. Denn im großen und ganzen ist das was man erwarten darf, unangenehm und das wozu man gezwungen wird, häßlich. Und so wird Anerkennung oder Ablehnung zuteil, j e nachdem, ob man dem Zwang unterlegen ist oder nicht. niob In welchen Fällen nun darf man von Gewalt sprechen? In undifferenzierter Weise doch wohl dann, wenn die Ursache in den äußeren Umständen liegt und die handelnde Person in keiner Weise mitwirkt. Ein Handeln aber, das an sich unfreiwillig ist, zu dem man sich jedoch in einem bestimmten Zeitpunkt und zu einem bestimmten Zweck entschließt - und dessen bewegendes Prinzip im Handelnden liegt - ein solches Handeln ist zwar an sich unfreiwillig, jetzt aber und zu dem bestimmten Zweck freiwillig. Eher gleicht es freilich dem freiwilligen Tun. Denn unsere Handlungen vollziehen sich im Bereiche der Einzelfälle, diese aber sind (hier) durch das Moment des Freiwilligen gekennzeichnet. Wie eine Möglichkeit des Handelns gegen die andere abzuwägen ist, das ist schwer anzugeben, denn innerhalb der Einzelfälle zeigen sich große Unterschiede. Sollte jedoch jemand behaupten, das Lustvolle und das Schöne 4 übten Zwang aus, denn sie nötigten als Mächte, die außerhalb des Handelnden stehen, dann geschähe auf diese Weise alles Handeln unter Zwang, denn die genannten Werte sind für jeden das Ziel jeglichen Handelns. Und wer unter Zwang und wider sein Wollen handelt, tut es unfroh, während das Handeln um des Lustvollen und Edlen willen

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von F r e u d e begleitet ist. Es ist also lächerlich, wenn m a n den äußeren U m s t ä n d e n die Schuld gibt u n d nicht sich selbst, da m a n so leicht durch solche Reize zur Strecke g e b r a c h t 1 wird, u n d wenn m a n eine schöne T a t sich selbst, ein schimpfliches Versagen dagegen den Lockungen der Lust zuschreibt. So bleibt denn als Ergebnis: gewaltsam ist ein Vorgang, dessen bewegendes Prinzip von außen her eingreift, ohne daß der Bezwungene irgendwie m i t w i r k t . 2. (a) W a s aus Unwissenheit geschieht, gehört seinem ganzen U m f a n g nach zum „Nichtfreiwilligen", „unfreiwillig" aber ist es n u r dann, wenn sich danach Mißbehagen u n d B e d a u e r n 2 einstellt. Denn wer irgend etwas aus Unwissenheit getan h a t und d a n n keinerlei unangenehmes Gefühl wegen der T a t empfindet, h a t es gewiß nicht freiwillig getan, da ihm gar nicht b e w u ß t war, was er t a t - aber andererseits auch nicht unfreiwillig, insofern jedenfalls, als sich kein nachträgliches Mißbehagen einstellte. Bei denen, die aus Unwissenheit handeln, ist also zu unterscheiden: wer die Sache nachträglich bedauert, gilt als unfreiwillig Fehlender, wer kein solches Bedauern empfindet, werde - da er sich von ersterem unterscheidet - als „nichtfreiwillig" 3 Fehlender bezeichnet. Denn da er sich unterscheidet, ist es zweckmäßiger, wenn er eine eigene Benennung h a t . (b) Sodann sind zwei verschiedene Dinge das Handeln auf Grund von Unwissenheit und das Handeln in (vermeidbarem) Nichtwissen. Denn ein B e t r u n k e n e r 4 z. B. oder ein Zorniger handelt nicht - so nehmen wir an - auf Grund von Unwissenheit, sondern auf Grund eben von Trunkenheit oder Zorn, aber nicht mit Bewußtsein, sondern ohne ein Wissen zu haben (von dem was er t u t ) . (c) Übrigens ist jeder minderwertige Mensch in Unwissenheit darüber, was er zu t u n oder zu lassen habe und auf Grund dieses Fehlers bekommen die Menschen einen ungerechten und ü b e r h a u p t einen verwerflichen Charakter 5 . Der Begriff „unfreiwillig" will aber nicht geb r a u c h t sein, wenn j e m a n d kein Wissen h a t von dem was zu seinem Vorteil ist. Denn die Unwissenheit bei der Entscheidung ist nicht Ursache der Unfreiwilligkeit, sondern der Minderwertigkeit, u n d auch nicht die Unwissenheit im allgemeinen Sinn - f ü r diese nämlich werden die Menschen getadelt sondern die Unwissenheit über das Konkretniia Einzelne, d. h. über Umstände u n d Gegenstände des Handelns. Von diesen beiden Faktoren hängt es nämlich ab, ob m a n Mitgefühl u n d Nachsicht findet, denn wer davon etwas nicht k e n n t , handelt unfreiwillig.

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Es ist also nicht unnütz, diese Umstände genauer abzugrenzen: welcher Art sie sind und in wie vielen Formen sie auftreten, also (nach der Unwissenheit darüber) zu fragen, wer (1) denn handelt und was (2) er tut und welches (3) der Gegenstand oder die Person ist, auf die sich sein Handeln richtet; gelegentlich ferner zu fragen, womit (4) er handelt, etwa mit welchem Werkzeug und zu welchem (5) Zweck, etwa um Hilfe in Lebensgefahr zu bringen; und auf welche (6) Weise, ob ruhig oder heftig. Daß nun ein Mensch über all diese Umstände nicht Bescheid weiß, ist ausgeschlossen, außer er ist wahnsinnig 1 . Selbstverständlich kann er auch nicht in Unwissenheit sein (1') über die handelnde Person: wie könnte er sich selbst nicht kennen? Dagegen ist es möglich (2') in Unwissenheit darüber zu sein, was man tut. So sagt man z. B., es sei einem während einer Rede ein unbedachtes Wort entwischt oder man habe nicht gewußt, daß etwas nicht ausgesprochen werden dürfe - man denke an Aischylos 2 und die Mysterien - oder man habe etwas nur zeigen wollen und es sei einem dabei losgegangen man denke an den Mann mit der Wurfmaschine 3 . Es kann jemand auch (3') in den Wahn kommen, der eigene Sohn sei ein Feind, z. B. Merope4, oder (4') der Wurfspieß mit Spitze habe vorn einen Knauf oder ein bestimmter Stein sei ein Bimsstein 5 . Und es könnte j emand (5') einen Trunk reichen um zu heilen und damit den Tod verursachen. Oder es möchte jemand (6') (seinem Partner) nur die Griffe zeigen, so wie die Ringer 6 , die einander auf Armlänge abtasten, schlägt ihn aber dabei nieder. Bezüglich all dieser Umstände, unter denen Handeln denkbar ist, kann es Unwissenheit geben, und wer über einen davon in Unwissenheit gewesen ist, von dem nimmt man an, daß er unfreiwillig gehandelt hat, namentlich dann, wenn die Unwissenheit sich auf die wesentlichsten Faktoren bezogen hat. Und die wesentlichsten sind eben die Umstände einer Handlung und ihre Zielsetzung. Wir fügen hinzu: der Vollzug einer Handlung, die also auf Grund derartiger Unwissenheitsformen als unfreiwillig bezeichnet wird, muß Mißbehagen und nachträgliches Bedauern mit sich bringen. 3. Als unfreiwillig gilt also, was unter Zwang und auf Grund von Unwissenheit geschieht. Dementsprechend darf als freiwillig das gelten, dessen bewegendes Prinzip 7 in dem Handelnden selbst liegt, wobei er ein volles Wissen von den Einzelumständen der Handlung hat. Die Bestimmung des Unfreiwilligen als das, was infolge von Zorn oder Begierde geschieht, ist ja doch kaum richtig 8 . Beweis: (a) Erstens könnte

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d a n n keines der übrigen L e b e w e s e n 1 freiwillig h a n d e l n , a u c h n i c h t die K i n d e r , (b) S o d a n n : h a t d e n n nichts v o n d e m was wir infolge v o n Begierde oder Zorn t u n , den C h a r a k t e r der Freiwilligkeit? Oder gilt hier die T e i l u n g : die edle H a n d l u n g ist freiwillig, die verwerfliche unfreiwillig? Ist diese Teilung n i c h t lächerlich, wo doch die U r s a c h e ein u n d dieselbe i s t ? E s ist doch gewiß sinnlos das als unfreiwillig anzusprechen, worauf unser Streben eigentlich gerichtet sein m u ß : m a n m u ß sich j a ü b e r m a n c h e s zornig erregen u n d m a n c h e s begehren, z . B . G e s u n d h e i t u n d E r w e r b v o n Wissen, (c) E i n weiterer Beweis: Unfreiwilliges b r i n g t b e k a n n t l i c h Mißbehagen, was dagegen m i t d e m Begehren z u s a m m e n s t i m m t , gilt als lustvoll, (d) U n d schließlich: ist das M o m e n t der Unfreiwilligkeit anders, wenn m a n m i t b e w u ß t e r Überlegung falsch h a n d e l t als wenn m a n es in einer G e m ü t s e r r e g u n g t u t ? 1111 b Beides ist zu meiden, aber es sind die irrationalen S t r e b u n g e n b e k a n n t lich in unserer M e n s c h e n n a t u r nicht weniger v e r a n k e r t 2 (als die vern ü n f t i g e n ) , folglich also a u c h unsere H a n d l u n g e n , die aus Zorn u n d Begehren entspringen. Somit ist es nicht sinnvoll, solches H a n d e l n als unfreiwillig anzusetzen. 4. N a c h d e m wir die Begriffe „freiwillig" u n d „unfreiwillig" genauer b e s t i m m t Laben, ist unsere n ä c h s t e A u f g a b e , die E n t s c h e i d u n g 3 zu u n t e r s u c h e n . Sie s t e h t j a in ganz besonders engem Verhältnis zur sittlichen T ü c h t i g k e i t u n d gilt f ü r einen noch besseren P r ü f s t e i n der Char a k t e r e als die T a t e n . - Die E n t s c h e i d u n g scheint n u n etwas Freiwilliges zu sein, ist aber m i t diesem Begriff nicht identisch, sondern das Freiwillige h a t einen weiteren U m f a n g , d e n n (a) a m Freiwilligen h a b e n a u c h K i n d e r u n d die sonstigen Lebewesen Anteil, a n d e m Vermögen der E n t s c h e i d u n g dagegen n i c h t . U n d (b) plötzliches 4 H a n d e l n n e n n e n wir zwar freiwillig, a b e r n i c h t vollzogen auf G r u n d einer E n t scheidung. Manche fassen sie auf (a) als Begehren oder (b) als A u f w a l l u n g oder (c) als ein W ü n s c h e n oder (d) als eine A r t Meinung 5 , aber das alles ist offenbar n i c h t richtig. D e n n (a') a n der Fälligkeit der E n t s c h e i d u n g h a b e n nicht e t w a a u c h die v e r n u n f t l o s e n Lebewesen A n t e i l : d a findet sich n u r Begehren u n d A u f w a l l u n g . U n d der U n b e h e r r s c h t e 6 h a n d e l t , i n d e m er seinem Begehren n a c h g i b t , nicht aber i n d e m er sich entscheidet. Der B e h e r r s c h t e h i n w i e d e r u m h a n d e l t , i n d e m er sich entscheidet, nicht jedoch i n d e m er n u r b e g e h r t . U n d : E n t s c h e i d u n g u n d Begehren stehen zueinander i m Gegensatz, Begehren u n d Begehren jedoch n i c h t . U n d : das Be-

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gehren ist auf Lustvolles u n d Unangenehmes bezogen, die Entscheidung weder auf Unangenehmes noch auf Lustvolles. Eine Aufwallung (b') ist die Entscheidung noch weniger, denn am wenigsten haben bekanntlich Handlungen, die aus Gemütswallungen hervorgehen, m i t Entscheidung zu t u n . Aber auch ein Wünschen (c') ist die Entscheidung keineswegs, wenn sie ihm auch recht nahezustehen scheint. Es gibt nämlich kein Sichentscheiden f ü r das Unmögliche, und wollte j e m a n d sagen, er habe sich doch d a f ü r entschieden, so ist er offenbar schwach im Geiste. Unsere Wünsche dagegen können sich durchaus auf das Unmögliche 1 richten, z. B. auf das Nicht-sterben. Und die Wünsche kreisen auch u m Dinge, die m a n von sich aus gar nicht bewirken könnte, z. B. d a ß ein bestimmter Schauspieler oder W e t t k ä m p f e r den Siegespreis erringt. Aber niemand „entscheidet" sich für derartiges, sondern n u r f ü r das, wovon er erwarten darf, es werde ihm aus eigener K r a f t gelingen. Und ferner richtet sich das Wünschen mehr auf das Ziel 2 , die Entscheidung dagegen auf die Mittel zum Ziel. So wünschen wir gesund zu sein, wir entscheiden uns jedoch f ü r das, was die Gesundheit fördert. Und glücklich zu sein wünschen wir und sprechen dies auch aus, dagegen zu sagen: „ I c h entscheide mich d a f ü r glücklich zu sein" - das geht nicht an. Denn durchwegs k a n n - so darf m a n annehmen - den Gegenstand der Entscheidung n u r das bilden, was in unserer eigenen Macht steht. U n d schließlich folgt daraus, d a ß die Entscheidung auch nicht eine Meinung (d') sein kann. Denn Meinungen richten sich bekanntlich auf alles: auf das Ewige und auf das Unmögliche nicht weniger als auf das, was in unserer Macht steht. Und m a n unterscheidet sie nach dem Maßstab von falsch und wahr, nicht nach dem von schlecht u n d gut, die Entscheidung dagegen mehr nach letzterem. N u n : daß die E n t scheidung einfach mit jeglichem Meinen identisch sei, das sagt j a auch 1112a wohl kein Mensch. Sie ist aber auch nicht identisch mit irgendeiner A r t des Meinens: denn (1) danach, ob wir uns f ü r W e r t oder Unwert entscheiden, bestimmt sich unser ethischer Rang, nicht danach, ob wir in einem W ä h n e n (über Wert oder Unwert) befangen sind. U n d (2): unsere Entscheidung richtet sich auf Ergreifen oder Meiden u n d dergleichen, die Meinung dagegen auf Fragen wie: was ist das, wem n ü t z t es oder wie n ü t z t es - Ergreifen jedoch oder Meiden k a n n nicht wohl Gegenstand des Meinens sein. Und (3): unsere Entscheidung wird eher deshalb gelobt, weil sie dem gilt, was sein soll oder 3 sagen wir: weil die Relation zu ihrem Objekt den Charakter des Richtigen h a t , die

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Meinung dagegen deshalb, weil die Relation zu ihrem Objekt den Charakter des Wahren h a t . Und (4): wir entscheiden uns f ü r Dinge, deren Wert wir genau kennen, dagegen haben wir eine Meinung über Dinge, deren Wert wir nicht so ganz kennen. Man k a n n auch (5) die E r f a h r u n g machen, d a ß eine sehr zutreffende Meinung und beste E n t scheidung 1 nicht bei ein u n d derselben Person vereint sind, sondern d a ß manche zwar ihre Meinung in ganz brauchbare Richtungen lenken, infolge ihres fehlerhaften Charakters sich d a n n aber doch f ü r das entscheiden, was nicht sein sollte. Ob übrigens die Meinungsbildung der Entscheidung voraufgeht oder sie begleitet, das ist unwichtig. Denn nicht dies untersuchen wir, sondern ob sie mit irgendeiner Art der Meinung identisch ist. Was also ist G a t t u n g oder was die differentia specifica der E n t scheidung, nachdem sie nichts von dem bisher Genannten ist? Sie ist doch wohl etwas Freiwilliges 2 - aber nicht alles Freiwillige k a n n Gegenstand einer Entscheidung werden. Ist sie d a n n etwa jener frei-willige Akt, dem Überlegung voraufgegangen ist? Denn dies steht f e s t : E n t scheidung ist mit (richtiger) P l a n u n g 3 u n d mit dem Durchdenken (des Sachverhalts) verbunden. Schon der Name („pro-haireton") scheint a n z u d e u t e n : wofür m a n sich vor anderen Dingen entscheidet. 5. Gilt unser Überlegen 4 jedem Gegenstand ohne Ausnahme, k a n n alles ein Objekt des Überlegens sein, oder ist in manchen Fällen kein Überlegen möglich? Unter „Gegenstand der Überlegung" ist natürlich nicht das zu verstehen, worüber ein Einfältiger oder ein Wahnsinniger sich den Kopf zerbricht, sondern womit sich der vernünftige Mensch beschäftigt. - Die zeitlosen Dinge bezieht niemand ein in das Hin u n d Her einer Überlegung, z. B. das All oder die Inkommensurabilität von Diagonale u n d Seite des Quadrats. - Es gibt aber auch kein überlegendes Hin und Her über das was in Bewegung 5 ist, Bewegung im Sinne des unabänderlichen Ablaufs verstanden, mag dieser n u n durch Notwendigkeit oder N a t u r oder sonstwie b e s t i m m t sein, also z. B . ü b e r Sonnenwenden und Gestirnaufgänge. - Ferner auch nicht über Dinge, die bald so bald anders 6 eintreten, z. B. Dürre oder Regenfälle. - Und auch nicht über bare Fügungen des Zufalls, z. B. das Auffinden eines Schatzes 7 . - Aber nicht einmal die menschlichen Angelegenheiten können ausnahmslos Gegenstand des Hin- u n d Herüberlegens werden, z . B . wie die Skythen zur bestmöglichen Staatsverfassung kommen könnten, das überlegt sich kein Bürger aus S p a r t a 8 . Denn nichts von alledem könnte von uns zustande gebracht werden.

Kapitel 4-5

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Wir überlegen uns das, was in unserer Macht 1 steht und verwirklicht werden kann - denn dies allein bleibt noch übrig. Das sind nämlich die bekannten Ursachen: Natur, Notwendigkeit und Zufall, dazu Geist und alle menschliche Wirkenskraft. Im Einzelfalle freilich wird von den Menschen nur das hin und her erwogen, was durch eines jeden eigene Kraft verwirklicht werden kann. - Ferner: Bei den genau fest- niib gelegten und in sich geschlossenen Wissensgebieten gibt es kein Hin und Her der Überlegung, z. B. bei den Schriftzeiehen, denn wir sind nicht im Zweifel, wie sie zu schreiben sind. Aber was von uns selbst ins Werk gesetzt wird und in seinem Verlauf nicht unabänderlich feststeht, das überlegen wir uns, z. B. ein Verfahren der Heilkunst oder des Geschäftemachens. Und wir überlegen stärker in Fragen der Nautik als in Fragen des Sportwesens, denn erstere sind noch nicht so sehr in ein System gebracht. Und in den anderen Fällen halten wir es ähnlich. Ebenso überlegen wir häufiger auf dem Gebiete von Handwerk und Kunst als auf dem Gebiete der Wissenschaften, denn auf jenem ist eher eine Unsicherheit möglich. Man überlegt eben bei allem, was zwar im großen und ganzen 2 konstant, aber im Endeffekt unsicher ist, und bei allem, wo sich das Element des unscharf Begrenzten findet. Zu Entscheidungen von großer Tragweite ziehervn-

Kapitel 1-3

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dern infolge von Unwissenheit. Nun, diese Theorie widerspricht ganz augenscheinlich den Erfahrungstatsachen und man muß eben bei dieser seelischen Gegebenheit, falls das Handeln infolge von Unwissenheit geschieht^ untersuchen, auf welche Weise diese Unwissenheit hier zustande kommt. Denn dies ist klar: wer ein unbeherrschtes Leben führt, ist nicht schon der Meinung so handeln 1 zu müssen, bevor er in diesen Zustand gerät. Manche allerdings geben dem Sokrates nur zum Teil recht, zum Teil aber bestreiten sie seine Ansicht. Daß nichts so große Bedeutung 2 habe wie klares Wissen, das geben sie zu. Daß aber niemand dem entgegenhandle, wovon er gemeint hat, es sei richtig, das geben sie nicht zu. Deshalb sagen sie: wenn der Unbeherrschte von der Lust überwältigt wird, so ist er dabei nicht im Besitze klaren Wissens, sondern er hat nur eine Meinung. Wenn es aber wirklich nur Meinung und nicht klares Wissen, wenn es nicht ein entschiedenes3 Urteil, sondern n « « ein nachgiebiges ist, welches sich der Lust entgegenstellt - wie bei den schwankenden Naturen - so hat man nachsichtiges Verständnis dafür, daß jemand diesen Meinungen nicht treu bleibt, wenn das Begehren übermächtig herandrängt. Aber für wirkliche Yerderbtheit haben wir keine Nachsicht, auch nicht für irgendein anderes Verhalten, das allgemeine Ablehnung findet. So würde denn folgen, daß die sittliche Einsicht - die ja das Kraftvollste in uns ist - sich (der Lust) entgegenstellt (und dabei unterliegt) ? Doch dies ist ein Unding, denn auf diese Weise wäre ein und derselbe4 Mensch zugleich mit sittlicher Einsicht begabt und unbeherrscht. Kein Mensch aber wird behaupten, es sei für den sittlich-Einsichtigen charakteristisch, aus freien Stücken die verwerflichsten Dinge zu tun. Dazu kommt der vorher 5 geführte Nachweis, daß der sittlich-Einsichtige ein Mann des Handelns ist - denn das letztlich-Einzelgegebene ist sein Bereich und daß er auch die anderen sittlichen Vorzüge besitzt. (2, zu d) Ferner: wenn es zum Wesen des Beherrschten gehört, starke und schlechte Begierden zu haben, so kann der Besonnene nicht beherrscht und der Beherrschte nicht besonnen sein, denn zum Wesen des Besonnenen passen weder extreme noch schlechte Begierden. Und doch müssen beim beherrschten Menschen solche Begierden vorausgesetzt werden. Denn wenn die Begierden etwas Gutes sind, so ist eine Grundhaltung schlecht, die uns hindert, ihnen zu folgen. Und somit wäre die Beherrschtheit nicht in jedem Falle etwas Gutes. Sind die Begierden jedoch schwach, aber nicht eben schlecht, so ist es nichts

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Großartiges, ihnen zu widerstehen; sind sie indes schlecht, aber dabei schwach, so ist nichts Besonderes dabei. (3, zu a, b) F e r n e r : wenn die Beherrschtheit bewirkt, d a ß m a n grundsätzlich bei jeder Meinung v e r h a r r t , so ist sie etwas Schlechtes, wenn sie nämlich ein Verharren bei einer falschen Meinung zur Folge h a t . Und wenn die Unbeherrschtheit bewirkt, d a ß m a n grundsätzlich jeder Meinung abtrünnig wird, so k a n n u n t e r U m s t ä n d e n auch einmal eine gute Unbeherrschtheit herauskommen. Der Neoptolemos in dem Phil o k t e t 1 des Sophokles ist d a f ü r ein Beispiel: der Jüngling ist unserer Anerkennung sicher, weil er bei seiner Abmachung mit Odysseus nicht verbleibt, denn es t u t ihm leid täuschen zu sollen. (4, z u a , c) F e r n e r : auch der sophistische 2 Schluß enthält eine Schwierigkeit: die Sophisten wollen mit ihren Schlüssen paradoxe E r gebnisse vorführen, u m d a n n , wenn ihnen der Trick gelungen ist, als Geisteshelden dazustehen - u n d so f ü h r t der vollzogene Schluß zu einer Denkschwierigkeit, denn der Verstand fühlt sich wie geknebelt, wenn er einerseits bei dem Ergebnis nicht stehenbleiben will, weil es ihm widerstrebt, andererseits aber nicht vorankommen k a n n , weil ihm die Widerlegung nicht gelingt. So f ü h r t ein bestimmtes Schlußverfahren zu dem E r g e b n i s 3 : „ U n v e r s t a n d in Verbindung mit Unbeherrschtheit ist ein sittlicher Vorzug". Nämlich: j e m a n d t u t das Gegenteil von dem, was ihm sein Urteil sagt - aus Unbeherrschtheit. Sein Urteil aber sagt ihm, d a ß das Wertvolle ein Übel ist u n d nicht getan werden dürfe. Folge: er wird das t u n , was wertvoll, u n d nicht das, was ein Übel ist. (5, z u b , d) F e r n e r : wer das Lustvolle t u t und erstrebt u n d wählt, weil er von seinem T u n überzeugt ist, der könnte f ü r besser gelten als der, welcher es nicht auf Grund einer erwägenden Reflexion, sondern aus Unbeherrschtheit t u t , denn er ist leichter zu heilen, weil m a n ihn u n t e r U m s t ä n d e n von etwas anderem überzeugen k a n n . Auf den Unbeherrschten dagegen l ä ß t sich das Sprichwort 4 a n w e n d e n : „ W e n n Wasser in der Kehle würgt, was soll m a n nachtrinken ?" Wäre er n ä m ii46b lieh zu seinem Handeln durch Überzeugung veranlaßt worden, so h ä t t e er auch wieder, eines Besseren belehrt, davon ablassen können. Indes, so wie der Fall n u n einmal beim Unbeherrschten liegt, t u t er das Gegenteil von dem, was sein sollte, obwohl er sich als überzeugt gibt. ( 6 , z u f ) F e r n e r : wenn sich Unbeherrschtheit u n d Beherrschtheit auf alle Bereiche des Lebens beziehen, wer ist d a n n unbeherrscht schlechthin, das heißt ohne näheren Zusatz? Niemand h a t ja alle

Kapitel 3 - 5

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F o r m e n der Unbeherrschtheit in sich, wir gebrauchen aber doch von m a n c h e m den Ausdruck „unbeherrscht schlechthin". 4. Dies etwa sind die a u f t a u c h e n d e n Probleme. An ihnen ist einiges (Widersprüchliche) zu beseitigen, anderes (da richtig) zu belassen. Denn das Auflösen von Problematischem ist ein F i n d e n 1 (von Wahrheit). Nun, (1) unsere erste Frage m u ß l a u t e n : handelt der Unbeherrschte wissentlich oder nicht, u n d in welchem Sinne wissentlich ? (2) S o d a n n : in Hinsicht auf welche Bereiche ist von beherrscht oder unbeherrscht zu sprechen, ich meine ob in Hinsicht auf den Gesamtbereich von L u s t u n d Unlust oder n u r in Hinsicht auf b e s t i m m t e Erscheinungsformen, u n d : ist beherrscht u n d kraftvoll-ausdauernd identisch oder verschieden? In ähnlicher Weise ist dann auch nach den Dingen zu fragen, die mit dieser Untersuchung in einem inneren Z u s a m m e n h a n g stehen. Der Ausgangspunkt 2 unserer Untersuchung ist (a) die Frage, ob der Beherrschte und der Unbeherrschte sich voneinander durch den Gegenstand ihres Begehrens oder durch die Art u n d Weise ihres Verhaltens unterscheiden 3 : ich meine, ob der Unbeherrschte n u r deshalb unbeherrscht ist, weil sich sein Begehren auf dieses oder jenes richtet, oder nicht deshalb, sondern wegen der Art und Weise seines Verhaltens oder auch deshalb nicht, sondern aus beiden Gründen zusammen, (b) Die weitere Frage l a u t e t : bezieht sich die Unbeherrschtheit u n d die Beherrschtheit auf alle Gebiete oder nicht? Wer „ u n b e h e r r s c h t " ohne nähere Bestimmung ist, ist es ja weder in Hinsicht auf alle Gebiete, sondern eben da, wo der Zuchtlose es i s t ; noch auch d a d u r c h , d a ß sein Begehren ohne nähere Bestimmung einfach darauf bezogen ist - denn d a n n wäre Unbeherrschtheit u n d Zuchtlosigkeit identisch sondern dadurch, d a ß sein Begehren darauf in einer b e s t i m m t e n , besonderen Weise bezogen ist. Denn der eine (der Zuchtlose) wird durch seine willentliche Entscheidung angetrieben, indem er überzeugt ist, er müsse jeweils dem Genuß des Augenblicks nachjagen, der andere (der Unbeherrschte) h a t diese Überzeugung nicht, j a g t ihm aber gleichwohl nach. 5. (1) Die Theorie, daß es wahre Meinung 4 u n d nicht Wissen sei, was durch ein unbeherrschtes Verhalten verletzt werde, ist f ü r unseren Gedankengang ohne Gewicht, denn manche h a b e n n u r eine Meinung u n d schwanken doch nicht, sondern wähnen sich im Besitze sicheren Wissens. Wenn n u n gelten soll, d a ß Leute m i t bloßen Meinungen wegen der Schwächlichkeit ihrer Überzeugung in höherem Grade als die

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Wissenden gegen ihr Urteil verstoßen, so braucht doch das Wissen deswegen nicht etwas anderes zu sein als die bloße Meinung. Denn manche bauen auf ihre Meinung nicht weniger entschieden als andere auf ihr Wissen: man sieht es an Heraklit 1 . Aber (a) wir verstehen ja den Begriff „Wissen" in einem doppelten8 Sinn: wer es hat, aber nicht gebraucht, wie auch wer es gebraucht, wird als wissend bezeichnet — und so wird doch ein Unterschied sein, ob jemand, wenn er das Ungehörige tut, ein Wissen hat, es aber nicht wirksam3 werden läßt, oder ob er es hat und auch wirksam werden läßt. Denn letzteres erscheint unbegreiflich, nicht aber das erstere: wenn er also handelt, ohne das Wissen wirksam werden zu lassen. t iu7» (b) Ferner 4 : es gibt zwei Arten von Vordersatz (Obersatz und Untersatz). Nun kann es ohne weiteres geschehen, daß jemand beide gegenwärtig hat und doch entgegen seinem Wissen handelt: indem er wohl von dem allgemeinen (dem Obersatz) Gebrauch macht, nicht aber von dem besonderen (dem Untersatz). Gegenstand des Handelns ist ja jeweils das letztlich Einzelgegebene. Aber auch beim Allgemeinen sind zwei Arten zu unterscheiden: das eine betrifft die handelnde Person, das andere die Sache. Zum Beispiel „Trockene Nahrung ist gut für jeden Menschen" und „Ich bin ein Mensch", oder „Diese so beschaffene Nahrung ist trocken". Indes, ob „diese bestimmte Nahrung eine solche Beschaffenheit h a t " - davon hat der Unbeherrschte entweder keine Kenntnis oder er läßt sie nicht wirksam werden. Es muß also zunächst, diesen verschiedenen Formen der Vordersätze entsprechend, einen beträchtlichen 5 Unterschied (in den Arten des Wiesens) geben, weshalb es nicht unverständlich erscheint, wenn der Unbeherrschte in dem einen Sinn „weiß", während es ganz merkwürdig wäre, wenn er ein Wissen in dem anderen Sinn hätte. (c) Und ferner 6 besteht für die Menschen außer den schon genannten noch eine weitere Art und Weise Wissen zu haben. Denn in Fällen, wo jemand ein Wissen h a t , es aber nicht gebraucht, sehen wir, daß dieses „ H a b e n " einen ganz anderen Sinn hat: es ist in gewissem Sinn ein „ H a b e n " und zugleich ein „Nicht-haben". Beispiel: der Schlafende, der Wahnsinnige und der Betrunkene. Gerade in einem solchen Zustande aber befinden sich in der Tat die Menschen, die in ein Leben der Leidenschaft versunken sind. Denn Zornesausbrüche und Liebesbegierden und noch einige verwandte Leidenschaften bringen ganz augenscheinlich 7 auch körperliche Veränderungen hervor. In manchen Menschen bewirken sie sogar Wahnsinnsanfälle. Man darf also zweifei-

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los feststellen, daß unbeherrschte Menschen sich in einem ähnlichen Zustand befinden wie die in dem vorigen Beispiel Genannten. Daß man Sätze ausspricht, die so klingen wie Sätze, die aus Wissen stammen, ist kein Zeichen dafür, daß man es wirklich hat. Denn auch die Menschen, die in den genannten Leidenschaften verfangen sind, sprechen wissenschaftliche Deduktionen aus oder rezitieren Verse des E m pedokles. Und wer eben begonnen hat, etwas zu lernen, der reiht die Lehrsätze zwar aneinander, aber er hat noch kein Wissen. Vielmehr muß der Gegenstand erst ganz mit dem Menschen verwachsen und das braucht Zeit. Was also ein Mensch im Zustand der Unbeherrschtheit spricht, braucht nicht anders aufgefaßt zu werden als die Rede eines Schauspielers 1 . (d) Weiterhin aber läßt sich die Ursache (der Unbeherrschtheit) auch in ihren natürlich-seelischen 2 Gegebenheiten betrachten 3 , und zwar so: es gibt einerseits die Meinung, die auf das Allgemeine geht, und andererseits die, welche das Einzelgegebene umfaßt - wo bereits die Sinnes Wahrnehmung in ihre Rechte tritt. Wenn sich aus beiden Formen der Meinung eine einzige ergibt, so muß die Seele in dem einen Fall (bei theoretischem Verhalten) notwendig das zustande gekommene Ergebnis bejahen, dagegen in dem anderen Fall, wo die Meinung auf das Handeln zielt, es augenblicklich in die T a t umsetzen. Wenn z. B . gilt: „Von allem Süßen muß man kosten", und wenn gilt „Dies hier - als Einzelgegenstand - ist süß", so muß, wer dazu in der Lage und nicht gehindert ist, dies gleichzeitig auch in die T a t umsetzen. Wenn sich nun in unserem Inneren die auf das Allgemeine gehende Meinung findet, welche uns hindern 4 möchte vom Süßen zu kosten, und wenn daneben eine zweite Meinung i s t : „Alles Süße ist angenehm" - mit dem Untersatz „dies hier ist s ü ß " - und diese zweite Meinung wirksam wird: und wenn außerdem in unserem Inneren gerade eine B e gierde ist - so fordert die eine Meinung von uns dies zu meiden, während die Begierde, die j a die Kraft hat jedes unserer Organe zu bewegen, uns treibt. So ist das Ergebnis: man gerät in das unbe- 1147 b herrschte Verhalten unter der Wirkung, wenn man so will, eines überlegenden Elementes - und einer Meinung. Und zwar steht diese Meinung nicht an sich - denn es ist die Begierde, die den wahren Gegensatz bildet, nicht die Meinung - sondern nur in einer akzidentellen Weise im Gegensatz zur richtigen Planung. Es ergibt sich weiterhin, daß aus diesem Grunde ein T i e r 5 nicht unbeherrscht sein kann: es

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h a t n i c h t d a s V e r m ö g e n ein a l l g e m e i n e s U r t e i l z u b i l d e n , s o n d e r n n u r Eindrücke u n d Erinnerungsbilder von Einzeldingen. W i e d i e U n w i s s e n h e i t b e h o b e n w i r d u n d wie d e r U n b e h e r r s c h t e w i e d e r i n d e n B e s i t z seines W i s s e n s k o m m t , d a f ü r gilt die n ä m l i c h e E r k l ä r u n g w i e i n d e m F a l l e des B e t r u n k e n e n u n d des S c h l a f e n d e n u n d sie i s t in d e r T a t n i c h t n u r a u f d e n v o n u n s b e t r a c h t e t e n Z u s t a n d a n w e n d b a r . M a n m u ß sie sich v o n e i n e m V e r t r e t e r d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t 1 v o r t r a g e n lassen. D e r l e t z t e V o r d e r s a t z eines S c h l u ß v e r f a h r e n s h a t als I n h a l t e i n e „ M e i n u n g " ü b e r d a s s i n n l i c h W a h r n e h m b a r e u n d g i b t zugleich u n s e r e m H a n d e l n A n s t o ß u n d R i c h t u n g . S o m i t h a t j e m a n d , w e n n er i n d e r L e i d e n s c h a f t b e f a n g e n i s t , diese „ M e i n u n g " ü b e r h a u p t n i c h t i n sich, o d e r er „ h a t " sie in e i n e r F o r m , in d e r dieses „ H a b e n " n i c h t , wie o b e n g e s a g t , ein W i s s e n b e d e u t e t , s o n d e r n n u r ein S p r e c h e n , wie w e n n ein B e t r u n k e n e r E m p e d o k l e s r e z i t i e r t . U n d d a d a s l e t z t e Glied des S c h l u s s e s n i c h t s A l l g e m e i n e s a u s s a g t u n d n i c h t i n ä h n l i c h e r W e i s e in d e n B e r e i c h w i s s e n s c h a f t l i c h e r E r k e n n t n i s zu g e h ö r e n s c h e i n t wie d a s a l l g e m e i n a u s s a g e n d e G l i e d , so s c h e i n t i n d e r T a t d a s h e r a u s z u k o m m e n , was Sokrates zur Geltung zu bringen versucht h a t . D e n n n i c h t w e n n d a s in u n s g e g e n w ä r t i g i s t , w a s als W i s s e n i m e i g e n t l i c h e n S i n n e 2 gilt, e r l i e g e n w i r d e r L e i d e n s c h a f t - dieses W i s s e n w i r d a u c h n i c h t i n f o l g e d e r L e i d e n s c h a f t in W i r r n i s h i n u n d h e r g e r i s s e n - , s o n d e r n n u r d a n n , w e n n „ W i s s e n " b l o ß als W a h r n e h m u n g s - W i s s e n in u n s i s t . Soviel ü b e r das P r o b l e m : „ m i t W i s s e n " oder „ o h n e W i s s e n " u n d i n w e l c h e m S i n n e „ w i s s e n d " m a n u n b e h e r r s c h t sein k a n n . 6 . (2) D a r a n s c h l i e ß t sich die F r a g e 3 , o b i r g e n d j e m a n d o h n e n ä h e r e B e s t i m m u n g s c h l e c h t h i n u n b e h e r r s c h t i s t o d e r o b alle es j e w e i l s a u f e i n e m speziellen G e b i e t e s i n d , u n d w e n n e r s t e r e s d e r F a l l i s t , a u f w e l c h e B e r e i c h e sich die U n b e h e r r s c h t h e i t b e z i e h t . D a ß L u s t u n d U n l u s t 4 die G e b i e t e s i n d , a u f d e n e n b e h e r r s c h t e s u n d k r a f t v o l l ausdauerndes Wesen oder unbeherrschtes u n d weichliches in E r s c h e i n u n g t r i t t , d a r ü b e r i s t k e i n Zweifel. N u n sind a b e r die D i n g e , die L u s t h e r v o r b r i n g e n , teils n o t w e n d i g 5 , teils i n sich w ä h l e n s w e r t - w o b e i a l l e r d i n g s ein Z u v i e l m ö g l i c h i s t : n o t w e n d i g i s t alles K ö r p e r b e d i n g t e - i c h v e r s t e h e d a r u n t e r D i n g e wie die, w e l c h e m i t d e m N a h r u n g s - u n d L i e b e s g e n u ß z u s a m m e n h ä n g e n : all d a s K ö r p e r l i c h e a l s o , d a s w i r als W i r k u n g s b e r e i c h d e r Z u c h t l o s i g k e i t u n d d e r B e s o n n e n h e i t zugewiesen8 h a b e n . Auf der anderen Seite steht das, was zwar nicht n o t w e n d i g , a b e r i n sich w ä h l e n s w e r t i s t - i c h v e r s t e h e d a r u n t e r Sieg,

Kapitel 5 - 6

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A n s e h e n , R e i c h t u m u n d ähnliche wertvolle u n d a n g e n e h m e D i n g e . W e r n u n (a) in den z u l e t z t g e n a n n t e n D i n g e n e n t g e g e n d e m in i h m v o r h a n d e n e n r i c h t i g e n P l a n e n das M a ß ü b e r s c h r e i t e t , v o n d e m sagen wir n i c h t , er sei o h n e n ä h e r e B e s t i m m u n g s c h l e c h t h i n u n b e h e r r s c h t , s o n d e r n wir setzen die n ä h e r e B e s t i m m u n g h i n z u : „ u n b e h e r r s c h t in H i n s i c h t auf Geld, Gewinn, A n s e h e n oder Z o r n e s r e g u n g " - s p r e c h e n also n i c h t v o n „ u n b e h e r r s c h t s c h l e c h t h i n " , d a solche Menschen d o c h eine a n d e r e A r t d a r s t e l l e n u n d n u r auf G r u n d einer Ä h n l i c h k e i t so g e n a n n t w e r d e n . - M a n m a g hier a n j e n e n A n t h r o p o s 1 (Mensch) d e n k e n , der in O l y m p i a einen Siegespreis e r r u n g e n h a t ; bei i h m w a r 2 es ii48a d o c h so, d a ß der Allgemeinbegriff „ M e n s c h " sich wenig v o n d e m individuellen N a m e n u n t e r s c h i e d , u n d doch w a r d e r U n t e r s c h i e d d a . B e w e i s : die U n b e h e r r s c h t h e i t , ganz gleich, ob in der u m f a s s e n d e n oder in einer T e i l f o r m , wird n i c h t n u r , sofern sie falsches H a n d e l n i s t , a b g e l e h n t , s o n d e r n a u c h als eine F o r m c h a r a k t e r l i c h e r M i n d e r w e r t i g k e i t , w ä h r e n d M e n s c h e n , die in d e n a n d e r e n g e n a n n t e n W e i s e n u n b e h e r r s c h t sind, n i c h t (in d i e s e m Sinn) a b g e l e h n t w e r d e n . (b) Auf der a n d e r e n Seite s t e h t die U n b e h e r r s c h t h e i t i m S i n n e n g e n u ß , d e m Bereiche also, in d e m sich n a c h u n s e r e r A u f f a s s u n g der B e s o n n e n e u n d der Z u c h t l o s e b e w e g t : hier w i r d ein M a n n , d e r d a s U b e r m a ß des A n g e n e h m e n s u c h t u n d das Ü b e r m a ß des U n a n g e n e h m e n m e i d e t - z . B. ein U b e r m a ß v o n H u n g e r u n d D u r s t , W ä r m e u n d K ü h l e 8 u n d allen E m p f i n d u n g e n des T a s t - u n d G e s c h m a c k s i n n e s - , u n d z w a r n i c h t auf G r u n d einer b e w u ß t e n E n t s c h e i d u n g , s o n d e r n i m G e g e n s a t z zu seiner E n t s c h e i d u n g u n d seinem r e f l e k t i e r e n d e n D e n k e n , als u n beherrscht bezeichnet, u n d zwar nicht mit dem erläuternden Z u s a t z : „ i n dieser b e s t i m m t e n H i n s i c h t . . . " , z. B. „ i n d e r Z o r n e s ä u ß e r u n g " 4 , s o n d e r n als u n b e h e r r s c h t s c h l e c h t h i n (ohne Z u s a t z ) . B e w e i s : in H i n sicht auf die l e t z t g e n a n n t e n 5 G e n u ß f o r m e n s p r i c h t m a n a u c h v o n „ w e i c h l i c h " , d a g e g e n n i c h t in H i n s i c h t auf i r g e n d e i n e der v o r h e r gen a n n t e n . U n d d a s ist a u c h der G r u n d , w e s h a l b wir d e n U n b e h e r r s c h t e n u n d d e n Z u c h t l o s e n , desgleichen d e n B e h e r r s c h t e n u n d d e n B e s o n n e n e n i n dieselbe K a t e g o r i e stellen - dagegen v o n j e n e n v o r h e r G e n a n n t e n k e i n e n - deifn n u r sie sind i m großen u n d g a n z e n a u f d i e s e l b e n 6 F o r m e n der L u s t u n d U n l u s t eingestellt. O b w o h l sie a b e r auf d a s s e l b e O b j e k t eingestellt sind, sind sie es doch n i c h t in d e r gleichen W e i s e , sond e r n die e i n e n 7 vollziehen eine E n t s c h e i d u n g , die a n d e r e n d a g e g e n n i c h t . D a h e r 8 k ö n n e n wir als z u c h t l o s eher d e n b e z e i c h n e n , d e r o h n e Beg e h r l i c h k e i t oder n u r lässig d a s U b e r m a ß a n s t r e b t u n d m ä ß i g a u f -

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tretende Unlust meidet, als den, der sich dabei durch überaus starke Begierde leiten läßt. Denn was alles würde der erstere t u n , wenn bei ihm noch jugendlich-stürmische Begehrlichkeit u n d starkes Unbehagen über das Fehlen des Notwendigen hinzukäme? Es ist n u n so, d a ß manches Begehren u n d mancher Genuß zu den Dingen gehört, die ihrer G a t t u n g nach edel u n d wertvoll sind - denn das Lustvolle ist zum Teil von N a t u r wählenswert, zum Teil das Gegenteil davon, zum Teil liegt es in der Mitte, entsprechend unserer f r ü h e r e n 1 Einteilung; so z. B. Geld, Gewinn, Sieg u n d Ansehen. Und soweit alle derartigen Dinge, wie auch das in der Mitte Liegende, in Frage stehen, wird niemand deshalb getadelt, weil diese Dinge auf ihn einwirken oder weil er sie begehrt und liebt, sondern weil er sich auf sie in einer bestimmten, u n d zwar maßlosen Weise einstellt - aus diesem Grund (ist niemand charakterlich schlecht), der im Gegensatz zur planenden K r a f t gegenüber einem Gegenstand, der von N a t u r edel und wertvoll ist, die Beherrschung verliert oder ihn a n s t r e b t : wer sich z. B. mehr als richtig 2 ist u m E h r e oder u m Kinder u n d E l t e r n m ü h t ; denn auch dies ist wertvoll, u n d wer sich d a r u m m ü h t , e r f ä h r t Anerkennung: u n d doch ist ein Übermaß auch hier möglich, wenn j e m a n d sich z. B. wie Niobe 3 gegen die Götter stellen oder in einem Maße 1148 b wie Satyros 4 mit dem Beinamen „der Mustersohn" dem Vater ergeben sein wollte: der ging zu weit, so d a ß sein T u n albern erschien - auf diesem Gebiet also ist keine Rede von charakterlicher Schlechtigkeit. Der Grund ist g e n a n n t : weil jedes einzelne davon von N a t u r zu dem gehört, was an sich wählenswert ist, und weil n u r das Ü b e r m a ß hierbei verwerflich u n d zu meiden ist. Aus ähnlichem Grund k a n n hier aber auch nicht von Unbeherrschtheit die Rede sein - die Unbeherrschtheit ist j a nicht n u r zu meiden, sondern auch tadelnswert. Aber weil der Erlebnisvorgang Ähnlichkeiten aufweist, spricht m a n hier von Unbeherrschtheit, jeweils jedoch mit dem Zusatz, worauf sie sich bezieht. Das ist so gemeint wie der Ausdruck „schlechter A r z t " , „schlechter Schauspieler": hier würde m a n doch nicht ohne nähere Bestimmung einfach von „schlechter Mensch" sprechen. Wie wir n u n den Ausdruck in diesem Fall nicht ohne nähere Bestimmung gebrauchen, weil keines dieser Urteile (schlechter Arzt, schlechter Schauspieler) charakterliche Schlechtigkeit, sondern n u r „Schlechtigkeit" im analogen Sinne meint, so ist klar, d a ß in dem anderen Fall n u r das als Unbeherrschtheit u n d Beherrschtheit angesehen werden darf, was sich auf dasselbe Gebiet bezieht, auf dem

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Besonnenheit und Zuchtlosigkeit in Erscheinung treten. Bei der Zorneeregung aber gebrauchen wir den Ausdruck nur analog. Und daher sagen wir, indem wir einen Zusatz machen: „unbeherrscht in der Zornesregung" - genauso wie „unbeherrscht im Streben nach Ansehen oder Gewinn". (1) Manches 1 ist von Natur lustbringend, und zwar (a) zum Teil schlechthin ohne nähere Bestimmung, (b) zum Teil hängt dies davon ab, auf welche besonderen Arten von Tier oder Mensch es sich bezieht. Auf der (2) anderen Seite steht das, was nicht von Natur lustbringend ist, sondern (a) dazu erst durch eine Störung des Organismus oder (b) durch Gewöhnung oder (c) eine ursprünglich minderwertige Naturanlage gemacht wird. Infolgedessen kann man bei diesen letzteren Fällen genauso (wie bei den erstgenannten) jeweils entsprechende Formen des Verhaltens beobachten. Ich meine (2c') das bestialische 2 Wesen, wie z. B. bei jenem Weibstück, von dem man erzählt, es schlitze die Schwangeren auf und verzehre die Kinder, oder was man vereinzelt von den verwilderten Stämmen am Schwarzen Meer berichten hört, daß sie ihre Lust darin finden, rohes Fleisch oder Menschenfleisch zu verschlingen oder sich gegenseitig die Kinder zum festlichen Fraß auszuleihen, oder die Geschichte von Phalaris. Das sind Formen von tierischem Wesen, andere (2 a') entstehen infolge von Krankheiten - oder in manchen Fällen aus geistiger Umnachtung, z. B. bei dem Mann, der seine Mutter 3 als Opfergabe geschlachtet und verzehrt hat, oder bei dem Sklaven, der die Leber seines Mitsklaven aufgegessen hat - andere Entartungen sind krankhaft, (2 b') eine Folge von Gewöhnung, z. B. das Ausrupfen der Haare oder das Kauen von Nägeln oder sogar von Kohle und Erde. Und dazu die Päderastie 4 . Denn dies sind Dinge, die bei manchen aus der Naturanlage, bei manchen aber aus der Gewöhnung stammen, letzteres z.B. bei denen, die von früher Kindheit an zur Lust mißbraucht worden sind. Da nun, wo die Ursache in der Naturanlage liegt, wird niemand von Unbeherrschtheit sprechen, genausowenig wie bei den Frauen, weil ihnen bei der Vereinigung der Geschlechter nicht der aktive, sondern der passive Anteil zufällt. Und bei denen, die infolge der Gewöhnung in einen krankhaften Gesamtzustand gekommen sind, ist es nicht anders. So gilt denn: wenn man mit einer dieser Entartungen behaftet ist, dann steht das außerhalb der Grenzen der sittlichen Minderwertig- ii4«a keit, genauso wie auch das tierische Wesen. Ist man aber damit

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b e h a f t e t , so bedeutet Herr- oder nicht Herr darüber werden nicht etwa (Beherrschtheit oder) Unbeherrschtheit schlechthin, sondern n u r etwas d a m i t Verwandtes. Wie wenn m a n in Hinsicht auf den Zorn in dieser Weise anfällig i s t : hier darf nur von („unbeherrscht") im Zorn, nicht aber von „unbeherrscht (schlechthin)" gesprochen werden. Denn jedes Ü b e r m a ß von Unverstand, Feigheit, Zuchtlosigkeit u n d übler Laune ist entweder tierisch oder k r a n k h a f t : wer von N a t u r dazu neigt, vor allem u n d jedem Angst zu haben, selbst vor dem Rascheln einer Maus 1 , der h a t eine Feigheit, die tierisch i s t ; ein anderer h a t t e Angst vor einem Wiesel: da k a m es von einer K r a n k h e i t . Unter den D u m m e n gibt es solche, die von N a t u r gedankenlos sind und n u r ihren I n s t i n k t e n leben - z. B. manche B a r b a r e n s t ä m m e in entlegenen Zonen: das ist tierisch. Bei anderen wiederum k o m m t es von einem Leiden, z. B. von einem epileptischen oder von Geistesstörung: das ist krankh a f t . Solche Anwandlungen k a n n m a n bisweilen n u r in sich haben, ohne davon überwältigt zu werden; z. B. ist es denkbar, d a ß sich ein Phalaris 2 in der Begierde etwa nach Kinderfleisch oder nach u n n a t ü r licher Liebeslust zurückhielt. Es ist aber auch möglich, daß m a n überwältigt wird, solche Anwandlungen also nicht lediglich nur in sich spürt. Wie es n u n bei der Minderwertigkeit eine F o r m gibt, die sich in den Grenzen der Menschennatur hält und schlechthin, ohne nähere Bestimmung, als Minderwertigkeit bezeichnet wird, und eine andere F o r m m i t dem Zusatz „tierisch" oder „ k r a n k h a f t " , die also nicht schlechthin so heißt - im selben Sinn gibt es selbstverständlich auch bei der Unbeherrschtheit eine tierische u n d eine k r a n k h a f t e F o r m , während als Unbeherrschtheit schlechthin n u r jene gilt, die sich in ihrem Erscheinungsbild mit der Zuchtlosigkeit der normalen Menschenn a t u r deckt. 7. Es ist also klar, daß Unbeherrschtheit und Beherrschtheit n u r auf den gleichen Gebieten in Erscheinung t r e t e n wie Zuchtlosigkeit u n d Besonnenheit und d a ß wir es auf den anderen Gebieten mit einem Verhalten zu t u n haben, da6 seiner Art nach von der Unbeherrschtheit verschieden ist, wo dann der Begriff im übertragenen Sinn und nicht schlechthin gebraucht wird. N u n 3 wollen wir unser Augenmerk darauf richten, d a ß Unbeherrschtheit weniger 4 verabscheuenswert ist, wenn sie sich auf den Zorn als wenn sie sich auf die Begehrlichkeit bezieht. (1) Es läßt sich nämlich beobachten, d a ß der Zorn in gewissem Grad auf die Stimme sachlicher Reflexion hinhört, aber sie nicht richtig® hört. Es ist wie bei den vor-

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eiligen D i e n e r n 1 : noch ehe sie alles gehört haben, was man ihnen sagt, rennen sie davon und bringen dann den Auftrag durcheinander; oder wie bei den H u n d e n 2 : wenn (draußen) ein Geräusch ist, bellen sie und schauen gar nicht, ob es ein B e k a n n t e r ist. So stürmt der Zorn wegen der ihm eigentümlichen Hitzigkeit und Übereiltheit zur Verg e l t u n g 3 : dabei h a t er zwar etwa6 gehört, aber das Gehörte mit einem (tatsächlichen) Auftrag 4 verwechselt. Denn Reflexion oder Einbildungskraft zeigen uns an, daß uns etwas Verletzendes oder Geringschätziges angetan ist - worauf der Zorn gleichsam zu dem Schluß k o m m t , daß so etwas bekämpft werden m ü s s e , und sofort in Wallung gerät. Bei der Begierde dagegen brauchen Reflexion oder die Sinne nur anzudeuten, daß etwas angenehm sei - und schon s t ü r m t sie los auf den Genuß. Man sieht: der Zorn folgt in gewissem Sinn der Reflexion, die n « b Begierde dagegen n i c h t 5 . Diese ist also verabscheuenswerter. Denn wer den Zorn nicht beherrschen kann, wird in gewissem Sinn von der Reflexion überwältigt, der andere dagegen von der Begierde und nicht v o n der Reflexion. (2) Und weiter: den natürlichen Strebungen zu folgen tri fit eher a u f verständnisvolle Nachsicht, wie es auch nachsichtiger beurteilt wird solchen Begierden nachzugeben, die allen Menschen gemeinsam sind und insofern sie gemeinsam sind. Nun ist aber doch Zorn a u f der einen und üble Laune a u f der anderen Seite ein natürlicherer Vorgang als die Begierde nach dem Ü b e r m a ß , also nach dem, was nicht zu den Notwendigkeiten des Lebens gehört. Denken wir beispielsweise 6 an den Mann, der sich gegen die Anklage verteidigte, daß er seinen V a t e r prügle. E r s a g t e : „ G u t , aber der hat den seinen auch geprügelt und dieser wieder den U r g r o ß v a t e r ! " und, indem er auf seinen Kleinen d e u t e t e : „ U n d der wird mich prügeln, wenn er groß geworden ist. Das ist bei uns so in der F a m i l i e . " Oder der Mann, der von seinem Sohn aus dem Haus geschleift wurde; der rief: „ H a l t , nur bis zur T ü r ! denn weiter h a b ' ich meinen V a t e r auch nicht geschleift." (3) F e r n e r : j e verschlagener 7 ein Mensch ist, desto mehr ist er im Unrecht. Nun ist aber der Leichterregbare nicht verschlagen und auch der Zorn selbst ist nicht hinterhältig, sondern offen. Die Begierde aber ist wie Aphrodite, von der es heißt „listenwebende T o c h t e r von K y p r o s " 8 und von deren gesticktem Gürtel Homer (rühmt, es sei in ihn gewoben) „Holdes, berückendes W o r t , das den festesten Sinn überwältigt". Wenn also diese F o r m der Unbeherrschtheit ein größeres Unrecht

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darstellt, so ist sie auch verabscheuenswerter als das Nichtbeherrschen des Zornes. Und sie ist Unbeherrschtheit schlechthin und in gewissem Sinn sittliche Minderwertigkeit. (4) Ferner 1 : wenn jemand aus Arroganz Unrecht verübt, so hat er dabei kein Gefühl von Unbehagen, während jegliches Handeln aus Zorn von Unbehagen begleitet ist: wer aber aus Arroganz verletzt, der handelt mit Lust. Wenn nun jene Handlungen, über die man sich mit dem höchsten Grad von Recht empört, ein stärkeres Unrecht darstellen, so ist die aus der Begehrlichkeit stammende Unbeherrschtheit das größere Unrecht: denn Zorn schließt kein arrogantes Tun in sich. Daß also Unbeherrschtheit verabscheuenswerter ist, wenn es sich um Begierden als wenn es sich um zornige Erregung handelt, und daß sich Beherrschtheit und Unbeherrschtheit auf körperliche Begierde und Lust beziehen, ist uns klar geworden: wir müssen nun aber die Unterschiede eben dieser letzteren zu fassen suchen. Denn wie wir anfangs 2 festgestellt haben: einige sind sowohl ihrer Gattung als ihrer Größe nach normal und mit der Naturanläge gegeben, andere sind tierisch und wieder andere sind die Folge von organischen Störungen 3 und Krankheiten. Nur auf die ersten unter den eben genannten (die normalen und natürlichen) beziehen sich Besonnenheit und Zuchtlosigkeit. Daher nennen wir die Tiere weder besonnen noch zuchtlos, es sei denn im übertragenen Sinn, und wenn im ganzen gesehen eine Tiergattung sich vor der anderen, sagen wir 4 , durch Geilheit, Zerstörungswut und Gefräßigkeit hervortut. Denn hier ist keine freie Willensentscheidung und kein Reflexionsvermögen, sondern das sind Entii50a artungsformen wie unter den Menschen die Geistesgestörten. Tierisches Wesen ist (ein) geringeres Übel) als sittliche Minderwertigkeit, wenn es auch erschreckender ist. Denn (im Tier) ist nicht das Edelste zerstört wie im Menschen - es hat ja dieses Edelste gar nicht. Es ist also etwa so, wie wenn man Lebloses mit Lebendem vergleichen und (fragen) wollte, welches minderwertiger ist. Denn die Minderwertigkeit eines Wesens, das kein bewegendes Prinzip in sich hat, richtet jeweils weniger Schaden an - der Verstand aber ist ein solches Prinzip. Es ist also so, wie wenn man „Ungerechtigkeit" 5 und „ungerechter Mensch" nebeneinanderhält: jedes von beiden ist in gewissem Sinn minderwertiger, denn ein minderwertiger Mensch kann tausendmal mehr Unheil anrichten als ein Tier. 8. In der Auseinandersetzung mit Lust und Unlust 6 , Begierde und Abneigung, die durch den Tast- und Geschmacksinn verursacht wer-

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den - sie sind die Bereiche von Zuchtlosigkeit und Besonnenheit, wie im vorhergegangenen festgelegt 1 wurde - , k a n n der Fall eintreten, d a ß m a n auch da unterliegt, wo die Vielen Sieger bleiben, m a n k a n n aber auch da stark sein, wo sich die Vielen als schwach erweisen. Bei denen n u n , welche diese Möglichkeiten in sich tragen, läßt sich, falls die Lust in Frage steht, der T y p u s des Unbeherrschten u n d des Beherrschten unterscheiden; falls die Unlust in Frage steht, der des Weichlichen und des kraftvoll Ausdauernden. Die überwiegende Mehrzahl hält sich in der Mitte, wenngleich ein Zug 2 zum schlechteren Verh a l t e n u n v e r k e n n b a r ist. Da manche Formen der Lust notwendig sind - manche wiederum nicht - , und zwar notwendig bis zu einem gewissen Grade, während das Zuviel an Lust u n d das Zuwenig nicht diesen Charakter des Notwendigen h a t ; und da sich dies bei den F o r m e n der Begierde u n d der Unlust ähnlich verhält, so gilt: wenn j e m a n d dem U b e r m a ß der Lust n a c h j a g t oder (notwendige Lustempfindung) im U b e r m a ß verfolgt, mit freier Willensentscheidung, u m des Übermaßes selbst willen, keineswegs zu irgendeinem Zweck, der davon verschieden wäre, so ist er ein zuchtloser Mensch. I h m m u ß ja die Fähigkeit fehlen über sein T u n nachzudenken u n d es zu b e d a u e r n 3 , weshalb er unverbesserlich ist, denn wer kein nachdenkliches Bedauern k e n n t , ist unverbesserlich. Wer hinter dem Normalen zurückbleibt, bildet das Gegenstück 4 (zum Zuchtlosen), wer die rechte Mitte innehält, ist besonnen. Ähnliches gilt auch von dem, der körperlichen Schmerz meidet, nicht weil er i m K a m p f mit ihm unterlegen ist, sondern aus freiem Willensentschluß. Von denen, die zu einem freien Willensentschluß nicht kommen, lassen sich die einen durch die Lustempfindung treiben, die a n d e r n 5 dadurch, d a ß sie die aus der Begehrlichkeit entspringende Unlust zu meiden suchen. Zwischen beiden Arten ist also ein Unterschied. Nach dem Urteil jedes Menschen ist j a j e m a n d d a n n , wenn er ohne den Antrieb der Begehrlichkeit oder n u r lässig etwas Verabscheuenswertes t u t , minderwertiger als wenn er von starker Begehrlichkeit getrieben wird; u n d wenn er ohne aufgeregt zu sein j e m a n d e n schlägt, minderwertiger als wenn er dies in der Aufregung t u t . Denn was t ä t e er erst, wenn er in leidenschaftlicher Erregung gewesen wäre? Aus diesem Grund ist der Zuchtlose minderwertiger als der Unbeherrschte. Von den genannten Verhaltensweisen stellt also die letztere eher eine Art von Weichlichkeit dar, während der Vertreter des ersteren T y p u s zuchtlos ist.

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Zu d e m Unbeherrschten bildet der Beherrschte das Gegenstück, zu d e m Weichlichen der kraftvoll Ausdauernde. Denn das kraftvolle Aush a r r e n 1 zeigt sich i m S t a n d h a l t e n u n d die B e h e r r s c h t h e i t i m H e r r w e r d e n . S t a n d h a l t e n u n d H e r r - w e r d e n a b e r i s t zweierlei, g e n a u s o U50b wie N i c h t - u n t e r l i e g e n u n d Siegen. D a h e r ist die B e h e r r s c h t h e i t d e m bloßen Ausdauern vorzuziehen. • W e r in L e b e n s l a g e n zu geringe K r a f t zeigt, in d e n e n die M e h r z a h l d e r Menschen W i d e r s t a n d leistet, u n d leisten k a n n , der ist weichlich u n d e n t n e r v t — d e n n a u c h die liederliche E n t n e r v t h e i t ist eine F o r m der Weichlichkeit — er l ä ß t z. B . d a s G e w a n d nachschleifen 2 , u m sich die M ü h e des H o c h n e h m e n s zu s p a r e n . U n d i n d e m er K r a n k s e i n simuliert 3 , g l a u b t er gar k e i n e n so e r b ä r m l i c h e n E i n d r u c k zu m a c h e n , wo d o c h d e r K r a n k e , d e n er n a c h a h m t , e r b a r m u n g s w ü r d i g ist. B e i B e h e r r s c h t h e i t u n d U n b e h e r r s c h t h e i t i s t es n i c h t v i e l a n d e r s . D e n n nicht das ist .auffallend, wenn j e m a n d einer heftigen u n d überm ä ß i g e n L u s t oder U n l u s t erliegt - wir sind d a in d e r T a t g e r n z u r N a c h s i c h t b e r e i t , w e n n dies t r o t z t a p f e r e n W i d e r s t a n d e s g e s c h i e h t ; m a n d e n k e a n d e n P h i l o k t e t des T h e o d e k t e s 4 , als er v o n d e r S c h l a n g e g e b i s s e n w o r d e n w a r , o d e r a n d e n K e r k y o n in d e r A l o p e des K a r k i n o s 5 u n d a n die, w e l c h e sich m ü h e n d a s L a c h e n z u r ü c k z u h a l t e n u n d d a n n d o c h p l ö t z l i c h l o s b r e c h e n , wie es d e m X e n o p h a n t o s 6 p a s s i e r t e - sond e r n ( a u f f a l l e n d i s t es) w e n n j e m a n d i n d e n F ä l l e n , wo die M e h r z a h l d e r M e n s c h e n s t a n d h ä l t , (der L u s t o d e r U n l u s t ) erliegt u n d n i c h t w i d e r s t e h e n k a n n , u n d w e n n die U r s a c h e d a f ü r n i c h t i n V e r e r b u n g o d e r K r a n k h e i t liegt - wie z. B . b e i d e n S k y t h e n k ö n i g e n 7 die W e i c h l i c h k e i t e r b l i c h ist u n d wie d a s w e i b l i c h e 8 ( d u r c h M a n g e l a n K r a f t ) sich v o m männlichen Geschlecht unterscheidet. A u c h w e r i m m e r n u r S p a ß 9 h a b e n m ö c h t e gilt als z u c h t l o s , in W i r k l i c h k e i t a b e r i s t er w e i c h l i c h . D e n n S p a ß i s t E n t s p a n n u n g , s o f e r n er E r h o l u n g von der Arbeit i s t ; wer darin a b e r das Maß überschreitet, z ä h l t z u d e n e n , die i m m e r n u r S p a ß h a b e n m ö c h t e n . U n b e h e r r s c h t h e i t ist e i n e r s e i t s (a) ü b e r s t ü r z t e s 1 0 , a n d e r e r s e i t s (b) k r a f t l o s e s W e s e n . D e n n die e i n e n (b) g e h e n m i t sich zu R a t e , v e r h a r r e n a b e r d a n n n i c h t bei i h r e r E r k e n n t n i s , weil die L e i d e n s c h a f t ü b e r sie k o m m t , die a n d e r e n (a) w i e d e r u m w e r d e n v o n d e r L e i d e n s c h a f t f o r t g e r i s s e n , weil sie ü b e r h a u p t n i c h t m i t sich zu R a t e g e g a n g e n s i n d . D e n n 1 1 b e i m a n c h e n ist es j a so wie b e i d e n e n , die sich a u f K i t z e l v o r b e r e i t e t h a b e n u n d i h n d a n n n i c h t m e h r e m p f i n d e n . Sie s p ü r e n v o r a u s u n d s e h e n v o r a u s w a s k o m m e n w i r d , sie b r i n g e n sich u n d i h r

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Reflexions vermögen in einen Zustand der wachen Bereitschaft und so werden sie dann von der Leidenschaft nicht überwältigt - ganz gleich, ob sie lustvoll oder unangenehm ist. Vor allem sind die scharfen und reizbaren 1 Naturen dieser überstürzten Unbeherrschtheit preisgegeben : die einen warten nicht auf klares Uberlegen, weil sie ein lebhaftes, die anderen nicht, weil sie ein unheimlich brodelndes Temperament haben, denn sie neigen ganz dazu ihrer Einbildungskraft zu folgen. 9. Der zuchtlose Mensch hat, wie wir festgestellt 2 haben, keine Fähigkeit sein Tun zu bedauern; denn er bleibt bei seiner Entscheidung. Dagegen ist der Unbeherrschte stets zu nachdenklichem Bedauern fähig. Daher ist der wirkliche Sachverhalt nicht so, wie es in dem früher 3 als Einwand formulierten Problem hieß, sondern der Zuchtlose ist unverbesserlich, der Unbeherrschte dagegen der Besserung fähig. Denn sittliche Minderwertigkeit ist wie eine Krankheit, z. B. Wassersucht oder Schwindsucht, die Unbeherrschtheit dagegen gleicht epileptischen Anfällen: die erstere ist eine chronische, letztere eine intermittierende Störung. J a mehr noch: Unbeherrschtheit und Schlechtigkeit sind total verschiedene Gattungen: die Schlechtigkeit ist der Zustand, der (dem Träger) gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt, wohl aber ist dies bei der Unbeherrschtheit der Fall. Unter den Unbeherrschten selbst stehen die 4 höher, die leicht ein- n6i» mal außer sich geraten, als jene, die zwar klare Überlegung haben, aber nicht bei ihr verharren. Denn die letzteren werden bereits von einer kleineren Leidenschaft überwältigt - sie handeln auch nicht ohne 5 vorhergegangene Überlegung wie die erateren d(ies)er Unbeherrschte gleicht ja denen, die rasch und von einer geringen Menge Weines betrunken werden, jedenfalls von einer kleineren Menge als der Durchschnitt. Man sieht klar: die Unbeherrschtheit ist nicht Schlechtigkeit - wenngleich sie es natürlich in einem bestimmten Sinne doch ist 6 denn die Unbeherrschtheit hält sich nicht an die Willensentscheidung, wohl aber die Schlechtigkeit. Allerdings ist zwischen beiden Ähnlichkeit vorhanden, wenn man an die Handlungen denkt, die dabei herauskommen. So paßt hier das Wort des Demodokos 7 zu den Milesiern: „Die Milesier sind nicht ohne Verstand, aber sie handeln wie Leute ohne Verstand". Und im selben 8 Sinne gilt, daß der Unbeherrschte zwar nicht mit dem Ungerechten gleichzusetzen ist, wohl aber Dinge tut, die ungerecht sind.

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D e r U n b e h e r r s c h t e j a g t seiner N a t u r e n t s p r e c h e n d d e i n ü b e r m ä ß i g e n , der richtigen P l a n u n g entgegengesetzten Sinnengenuß n a c h , ist aber d a b e i n i c h t g r u n d s ä t z l i c h ü b e r z e u g t 1 , d e r Z u c h t l o s e d a g e g e n t u t es a u s g r u n d s ä t z l i c h e r U b e r z e u g u n g , weil es i n s e i n e m W e s e n l i e g t , d e m Sinn e n g e n u ß n a c h z u j a g e n . T r o t z d e m m ü s s e n wir s c h l i e ß e n , d a ß d e r e r s t e r e l e i c h t u m g e s t i m m t 2 w e r d e n k a n n , d e r l e t z t e r e d a g e g e n n i c h t . D e n n wie die s i t t l i c h e T r e f f l i c h k e i t d a s G r u n d p r i n z i p des H a n d e l n s i n u n s e r h ä l t , so w i r d es v o n d e r s i t t l i c h e n M i n d e r w e r t i g k e i t z e r s t ö r t . B e i m H a n d e l n a b e r ist d e r b e a b s i c h t i g t e E n d z w e c k d a s G r u n d p r i n z i p , wie es i n d e r M a t h e m a t i k die G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n s i n d . W i r s e h e n : w e d e r d o r t noch hier ist es ein syllogistisches V e r f a h r e n , das die G r u n d p r i n z i p i e n l e h r t , s o n d e r n 3 es ist die T r e f f l i c h k e i t , e n t w e d e r die m i t d e r N a t u r a n l a g e g e g e b e n e o d e r die d u r c h G e w ö h n u n g 4 e n t w i c k e l t e , w e l c h e f ü r die r i c h t i g e A u f f a s s u n g 5 b e z ü g l i c h des G r u n d p r i n z i p s m a ß g e b e n d i s t . E i n M a n n m i t s o l c h e m W e s e n ist b e s o n n e n , sein G e g e n s t ü c k i s t d e r Zuchtlose. E s k o m m t aber auch vor, d a ß j e m a n d infolge leidenschaftlicher E r regung, entgegen d e m richtigen P l a n e n aus seiner ursprünglichen Wes e n s h a l t u n g g e r ä t : die L e i d e n s c h a f t b e h e r r s c h t i h n z w a r so w e i t , d a ß er n i c h t m e h r g e m ä ß d e m r i c h t i g e n P l a n e n h a n d e l t , a n d e r e r s e i t s a b e r d o c h n i c h t so w e i t , d a ß er n u n w e s e n s m ä ß i g d a v o n ü b e r z e u g t w ä r e , m a n müsse solcher L u s t ohne j e d e H e m m u n g 8 n a c h j a g e n . D a s ist der U n b e h e r r s c h t e , d e r b e s s e r als d e r Z u c h t l o s e u n d n i c h t e i n f a c h s c h l e c h t i s t . D e n n d a s B e s t e i n i h m , d a s G r u n d p r i n z i p (des H a n d e l n s ) , b l e i b t g e w a h r t . D a s G e g e n s t ü c k d a z u b i l d e t ein a n d e r e r T y p u s : d e r M e n s c h , d e r sich t r e u b l e i b t u n d n i c h t w e g e n e i n e r L e i d e n s c h a f t a u s s e i n e r Wesenshaltung gerät. Jedenfalls ist uns d a r a u s klar geworden, d a ß l e t z t e r e s e i n e w e r t v o l l e u n d e r s t e r e s eine m i n d e r w e r t i g e C h a r a k t e r h a l t u n g ist. 10. I s t m a n n u n b e h e r r s c h t , w e n n m a n b e i 7 j e d e r A r t v o n p l a n e n d e r Überlegung oder E n t s c h l u ß oder n u r wenn m a n bei dem rechten E n t schluß v e r h a r r t ? U n d ist m a n unbeherrscht, w e n n m a n jede A r t von E n t s c h l u ß u n d jede Art von planender Überlegung aufgibt, oder n u r d a n n , falls m a n die n i c h t f a l s c h e Ü b e r l e g u n g u n d d e n r e c h t e n E n t s c h l u ß p r e i s g i b t ? So l a u t e t e f r ü h e r 8 die A p o r i e . O d e r i s t es so, d a ß m a n n u r a k z i d e n t e l l b e i j e d e r A r t v o n E n t s c h l u ß , a n sich a b e r b e i der zutreffenden Überlegung u n d bei d e m r e c h t e n E n t s c h l u ß v e r h a r r t , beziehungsweise n i c h t v e r h a r r t ? D e n n w e n n j e m a n d eine b e s t i m m t e 1151b S a c h e u m e i n e r b e s t i m m t e n a n d e r e n willen w ä h l t o d e r e r s t r e b t , so

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erstrebt und wählt er „an sich" diese zweite, die erstere aber nur akzidentell. „An sich" aber bedeutet in unserer Ausdrucksweise „schlechthin" („ohne näheren Zusatz"). So ergibt sich: in einem gewissen Sinn verharrt man bei jeder Art von Meinung oder gibt sie preis, schlechthin jedoch, ohne näheren Zusatz, gilt dies von der zutreffenden Meinung. Es gibt übrigens Menschen, die sehr dazu neigen, bei ihrer Meinung zu verharren: man nennt sie starrsinnig 1 . Das sind also Leute, die man nur schwer überzeugen und nicht leicht dazu bringen kann, ihre Meinung zu ändern. In gewissem Sinn - so wie z. B. zwischen verschwenderisch und großzügig, zwischen sinnlos-draufgängerischem und draufgängerischem Wesen - besteht zwischen ihnen und dem beherrschten Menschen eine Ähnlichkeit. In Wirklichkeit aber sind sie doch in vieler Hinsicht verschieden. Denn der eine, der Beherrschte, ändert sich nicht unter dem Druck von Leidenschaft und Begierde, wohl aber wird er unter Umständen durchaus bereit sein umzulernen (auf Grund eines sachlichen Arguments). Die andern dagegen ändern sich nicht auf Grund eines sachlichen Arguments, wohl aber durch Begierden, denen sie zugänglich 2 sind - und viele lassen sich von der Lust treiben. Starrsinnig sind die Eigensinnigen 3 , die Unwissenden und die Rüpel; die Eigensinnigen lassen sich dabei von Lust- oder Unlustempfindungen bestimmen: sie freuen sich über ihren Sieg, wenn ein Versuch sie umzustimmen mißlungen ist, und sie ärgern sich, wenn ihr Wille sich nicht durchsetzt - wie es bei Volksbeschlüssen4 passiert. So gleichen sie doch mehr dem Unbeherrschten als dem Beherrschten. Es gibt aber auch Leute, die ihren Entschluß nicht deshalb preisgeben, weil sie unbeherrscht wären. Beispiel: Neoptolemos 6 im Philoktet des Sophokles. Freilich war der Grund, weshalb er seine Meinung preisgab, eine Lustempfindung, aber es war eine edle: er hielt es für edel bei der Wahrheit zu bleiben, während Odysseus ihn verleitet hatte, die Unwahrheit zu sagen. Denn nicht jeder, der etwas unter dem Einfluß einer Lustempfindung tut, ist zuchtlos oder minderwertig oder unbeherrscht, sondern nur wer unter dem Einfluß einer häßlichen Lustempfindung handelt. 11. Nun gibt es 6 aber auch Menschen, die ihrem Wesen nach weniger Freude an der Sinnenlust empfinden als normal wäre und die, eben insofern sie dieses Wesen haben, nicht bei ihrer Planung bleiben: in der Mitte zwischen diesen und dem unbeherrschten Menschen steht der beherrschte Mensch. Denn der Unbeherrschte bleibt nicht bei

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seiner Planung, weil er an der Sinnenlust zuviel, der andere nicht, •weil er zu wenig Freude daran h a t : der Beherrschte dagegen ist beständig und ändert sich weder aus dem einen noch aus dem anderen Grund. Ist aber Beherrschtheit etwas sittlich Wertvolles, so folgt, d a ß beide ihr entgegengesetzten Formen des Verhaltens minderwertig sein müssen, was ja auch die E r f a h r u n g lehrt. Weil aber das eine der beiden E x t r e m e nur bei wenigen 1 Menschen u n d selten zu beobachten ist, so gilt als der eigentliche Gegensatz zur Unbeherrschtheit nur die Beherrschtheit - wie zur Zuchtlosigkeit die Besonnenheit. Viele Ausdrücke werden bekanntlich in einem analogen Sinne geb r a u c h t u n d so h a t es sich eben ergeben, daß m a n in analoger Weise von einer „ B e h e r r s c h t h e i t " des Besonnenen spricht, denn so wenig wie der Beherrschte handelt auch der Besonnene seinem Wesen ent1152 a sprechend u n t e r dem Einfluß sinnlicher Lustempfindung gegen seine Planung. Aber während der Beherrschte dabei schlechte Begierden h a t , h a t sie der Besonnene nicht, u n d während der Besonnene seinem ganzen Wesen nach niemals im Gegensatz zu seiner P l a n u n g Lust empfindet, empfindet sie der Beherrschte durchaus, n u r d a ß er sich von ihr nicht bestimmen läßt. Und ebenso ist Ähnlichkeit auch zwischen dem' Unbeherrschten und dem Zuchtlosen. Bei allem Unterschied ihres Wesens verfolgen sie doch beide den Genuß der Sinne aber während der eine dabei überzeugt ist, d a ß dies in Ordnung sei, ist es der andere nicht. Und es k a n n auch nicht derselbe Mensch %ur gleichen Zeit sittliche Einsicht 2 haben und unbeherrscht sein. Denn es ist ja dargestellt 3 worden, d a ß sittliche Einsicht zugleich einen hochwertigen Charakter bedeutet. Ferner h a t m a n sittliche Einsicht nicht nur soferne m a n ein Wissen besitzt, sondern soferne m a n es grundsätzlich im Handeln verwirklicht. Der Unbeherrschte aber ist unfähig es zu verwirklichen. Dagegen steht nichts im Wege, d a ß der intellektuell gewandte Mensch unbeherrscht ist. Daher denn auch die Ansicht, d a ß es u n t e r Ums t ä n d e n möglich sei, sittliche Einsicht zu haben und dabei unbeherrscht zu sein: weil eben die intellektuelle Gewandtheit 4 von der sittlichen Einsicht in der bei unserer ersten 5 Darstellung bezeichneten Weise verschieden i s t : sie steht ihr nahe, was die erwägende Reflexion, unterscheidet sich jedoch, was die freie Entscheidung betrifft. Und es ist auch in der T a t das Verhalten (des Unbeherrschten) nicht so wie das eines Mannes, der Wissen h a t und davon Gebrauch m a c h t 6 , sondern wie das eines Schlafenden oder Betrunkenen. Und er handelt

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freiwillig - denn er hat dabei irgendwie doch ein Wissen um sein T u n und den Sinn seines Tuns - ist aber kein schlechter Charakter; denn seine Willensrichtung 1 ist gut. Er ist also nur halb-schlecht. E r verstößt auch nicht gegen das Recht 2 , denn heimtückische Absicht liegt ihm ferne. Solche Menschen haben ja teils gar nicht die Fähigkeit, bei ihren Plänen zu verharren, teils fehlt ihnen, soweit sie ein brodelndes Temperament haben, die Fähigkeit des Planens überhaupt. Und so gleicht denn der Unbeherrschte einer Polis 3 , die lauter richtige Beschlüsse faßt und treffliche Gesetze hat, aber davon keinen Gebrauch macht, wie es in der spottenden Bemerkung des Anaxandrides 4 über eine Polis heißt: „ S i e meint es gut, doch Recht und Satzung schiert sie nicht." Ein schlechter Charakter aber gleicht der Polis, die sich an Recht und Satzung hält - nur daß sie schlecht sind. Unbeherrschtheit und Beherrschtheit beziehen sich auf das, was über die Durchschnittshaltung hinausgeht, denn der Beherrschte zeigt größere, der Unbeherrschte geringere Beständigkeit als sie in der K r a f t der meisten liegt. Von den Formen der Unbeherrschtheit ist die, welche den brodelnden Temperamenten eignet, leichter zu bessern als die von Menschen, die zwar Überlegungen anstellen, aber nicht bei ihnen verharren, und leichter sind die zu bessern, die unter dem Einfluß von Gewohnheit unbeherrscht sind als solche, denen es angeboren ist. Denn leichter ist es, eine Gewohnheit umzuformen 5 , als das Angeborene. Aber auch Gewohnheit ist nur schwer umzuformen, gerade deshalb, weil sie wie eine zweite Natur ist. So sagt denn auch E u e n o s 6 : „Dauerndes Üben, mein Freund, so sag' ich dir, schafft die Gewöhnung; Diese verfestigt sich schließlich im Menschen und wird zur Natur i h m . " Was das Wesen der Beherrschtheit und der Unbeherrschtheit, der kraftvollen Ausdauer und der Weichlichkeit ist und wie diese Grundhaltungen zueinander stehen, das ist nun dargestellt. 12. Sodann muß man über Lust und Unlust 7 zur Klarheit kommen: 1152b das ist Aufgabe des Denkers, der sich mit dem Leben der Polis 8 befaßt. Denn er richtet wie ein Baumeister das Ziel auf, zu dem wir unseren Blick wenden, um so ein jedes Ding unmittelbar, (ohne Zusatz), als Nicht-Wert oder Wert ansprechen zu können. Dieses Thema zu behandeln gehört ferner zu den notwendigen Aufgaben. Denn wir haben

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als Ergebnis 1 niedergelegt, daß Trefflichkeit u n d Minderwertigkeit des Charakters auf dem Gebiete von Unlust und Lust in Erscheinung treten, u n d außerdem sagen die meisten, daß Glück 2 und Lust zusammengehören. Daher ist auch der Glückselige (makar) mit einem Ausdruck bezeichnet, der sich von dem Begriff f ü r frohe Lustempfindung (chairo *charjo) herleitet. Über die Lust gibt es folgende Ansichten 3 : (1) Die einen sagen: Keine Lust ist ein Wert, weder an sich noch akzidentell, denn „ W e r t " u n d „ L u s t " schließen sich aus. (2) Andere meinen: Manche Formen der Lust sind ein Wert, aber die meisten sind schlecht. (3) Und eine dritte Ansicht l a u t e t : Selbst wenn alle Formen der Lust einen Wert darstellen, so k a n n die Lust doch nicht der oberste Wert sein. (1') Die Ansicht, daß die Lust überhaupt kein Wert sei, wird so beg r ü n d e t : (a) Jegliche Lust ist ein sinnlich wahrnehmbares Werden, das zum naturgemäßen Zustand strebt, kein Werden aber deckt sich mit dem Endzustand, also beispielsweise kein H a u s b a u 4 mit dem fertigen Haus, (b) Ferner: Der Besonnene 5 meidet die Lust, (c) F e r n e r : Der Einsichtige 6 strebt nach der Freiheit von Unlust, nicht nach dem was lustvoll ist. (d) Ferner: Die Lust ist ein Hindernis 7 f ü r das klare Denken u n d zwar u m so mehr, je stärker die Lustempfindung ist, z. B. beim Liebesgenuß, wo jemand k a u m eines Gedankens fähig sein dürfte, während er ihm hingegeben ist. (e) Ferner: Es gibt keine bewußte „ T e c h n i k " 8 der Lust, während doch alles Wertvolle ein Werk bewußter „Technik" ist. (f) Ferner: Kinder® und Tiere streben nach Lust. (2') Die Ansicht, daß nicht alle Formen 1 0 der Lust gut sind, wird so begründet: (a) Es gibt auch Lust, die gemein macht u n d f ü r schimpflich gehalten wird, u n d (b) außerdem gibt es schädliche Lust, denn so manches, was Lust bereitet, ist ungesund. (3') Die Ansicht, daß die Lust nicht den obersten Wert darstellt, wird so begründet: Sie ist kein Endziel 1 1 , sondern nur ein Werden. Dies etwa sind die Ansichten, die m a n geltend macht. 13. Sie führen aber nicht zu dem Ergebnis, daß die Lust kein Wert oder daß sie nicht der oberste Wert sei. Dies wird sich durch die folgenden Gedankengänge erweisen lassen. ( I : zu l ' a u n d 3') Erstens (a): Da m a n von einem „ W e r t " in doppeltem Sinn spricht: Wert an sich 1 2 u n d Wert für eine bestimmte Person, so wird sich eine entsprechende Zweiteilung auch bei den N a t u r anlagen und Grundhaltungen ergeben u n d folglich auch bei deren

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Veränderungen 1 und Werdeprozessen. Und es sind also von denen, die als minderwertig gelten, die einen minderwertig an sich, nicht aber für eine bestimmte Person, sondern im Gegenteil für sie wählenswert; andererseits sind manche auch nicht für eine bestimmte Person wählenswert, sondern nur zu einem gewissen Zeitpunkt und für eine kurze Zeitspanne, nicht aber dauernd 2 . Und wieder andere sind nicht einmal wirkliche F o r m e n der L u s t , sondern nur scheinbare, nämlich alle die mit Unlust verbunden sind und einen Heilungsprozeß als Ziel haben, z. B . die Heilungsvorgänge bei K r a n k e n . (b) F e r n e r 3 : man wendet den Begriff „ w e r t v o l l " entweder an a u f eine aktive Entwicklung oder auf einen Endzustand. Somit folgt, d a ß die Werdeprozesse, welche uns in den naturgemäßen Endzustand gelangen lassen, akzidentell lustvoll sind. Und es verläuft hier die aktive Entwicklung in dem Bereich des Begehrens als A k t i v i t ä t des naturgemäßen Endzustandes, soweit er i n t a k t geblieben ist - wobei aber nicht übersehen werden darf, daß es auch Formen der Lust ohne B e i mischung von Unlust und Begehren gibt, z. B . die Lust der betrach- m s * tenden Erkenntnis, wo die Natur in keiner Weise einen Mangel 4 h a t . E i n Beweis (dafür, daß es akzidentelle Lustgefühle gibt) liegt darin, daß die Menschen nicht dasselbe lustvolle Erlebnis haben, wenn ihr natürliches Bedürfnis befriedigt wird und wenn die Natur sich in ihrem erfüllten Zustand® befindet. I n letzterem F a l l genießen sie das Lustvolle an sich, in ersterem auch das Gegenteil davon: sie h a b e n ihre Lust z. B . an Scharfem und B i t t e r e m , also an Dingen, von denen keines weder von Natur noch an sich lustvoll ist. Folglich sind auch die (daraus entspringenden) Lustgefühle weder von N a t u r noch an sich lustvoll. Denn so wie die lustvollen Dinge zu einander stehen, so auch die Lustempfindungen, die daraus entspringen. (c) F e r n e r 6 : E s muß nicht so sein, daß etwa6 anderes einen höheren W e r t darstellt als die L u s t - wie manche sagen, daß das Ziel wertvoller ist als das Werden hin zum Ziel. Denn L u s t ist kein Werdeprozeß und es ist nicht jede Lust mit einem Werden verbunden, sondern sie ist aktive E n t f a l t u n g und Endziel. Und die L u s t stellt sich auch nicht als Folgeerscheinung dann ein, wenn wir in einem Werden begriffen sind, sondern wenn wir unsere K r ä f t e gebrauchen. Und n i c h t jede Lust h a t ein Endziel, das von ihr selbst verschieden wäre, sondern nur d a n n 7 , wenn es sieb um Menschen handelt, die sich a u f dem Wege zur Vollendung ihrer Wesensform befinden. D a h e r 8 ist es auch nicht recht zu sagen, die Lust sei ein sinnlich wahrnehmbares Werden,

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sondern m a n sollte sie besser als aktive E n t f a l t u n g des n a t u r g e m ä ß e n Endzustandes bezeichnen u n d an Stelle von „sinnlich-wahrnehmbar" sollte m a n von „ u n g e h i n d e r t " 1 sprechen. Übrigens halten sie gewisse 2 Denker f ü r ein Werden, weil sie der eigentlich gültige Wert sei: sie sehen eben „ a k t i v e E n t f a l t u n g " als „ W e r d e n " an, während sie doch in Wirklichkeit etwas anderes ist. ( I I : zu 2 ' b u n d l ' d ) Die Ansicht, d a ß die Lust etwas Schlechtes sei, weil manche angenehmen Dinge die Gesundheit schädigen, l ä u f t auf dasselbe hinaus wie die Meinung, daß manches Gesundheitsfördernde (schlecht sei, weil es) schlecht ist f ü r die Mehrung 3 des Besitzes. I n der bezeichneten Hinsicht sind allerdings beide schlecht. Aber dies ist noch kein Beweis dafür, d a ß sie (an sich) schlecht sind, k a n n doch sogar das D e n k e n 4 u n t e r U m s t ä n d e n f ü r die Gesundheit schädlich sein. Es wird aber weder das Denken noch irgendein Zustand beeint r ä c h t i g t durch die Lust, die aus ihm selber s t a m m t , sondern n u r durch solche, die von a u ß e n 6 h e r a n k o m m t : Lust, die aus Denken und Lernen s t a m m t , wird unser Denken und Lernen n u r noch intensivieren. ( I I I : zu l ' e ) D a ß keine Lust das Werk einer bewußten „ T e c h n i k " ist, ist n u r n a t ü r l i c h : denn es gibt ja keine bewußte „ T e c h n i k " f ü r irgendeine andere Aktivität, sondern nur f ü r deren Grundlagen. Allerdings : die K ü n s t e des Salbenbereiters 6 u n d des Kochs gelten doch als bewußte „ T e c h n i k " der Lust. ( I V : zu l ' b c f) D a ß der Besonnene die Lust meidet, d a ß der mit sittlicher Einsicht Begabte nach einem Leben strebt, das frei von Unlust ist, d a ß Kinder u n d Tiere nach der Lust streben - all diese Einwände erledigen sich durch dieselbe Überlegung. Wir h a b e n dargestellt 7 , in welchem Sinn die verschiedenen Formen der Lust ein W e r t schlechthin sind u n d in welchem Sinn manche nicht ein W e r t (schlechthin) sind. Es ergibt sich, daß Kinder u n d Tifere die letzteren erstreben - u n d d a ß der sittlich Einsichtige Freiheit von letzteren haben m ö c h t e : gemeint ist Lust, die mit Begehren u n d Ulilust verb u n d e n ist, sinnliche L u s t ; denn diese h a t das fragliche Merkmal - u n d das Ü b e r m a ß an dieser Lust, woran der Zuchtlose seine Zuchtlosigkeit erweist. Aus diesem Grund meidet der Besonnene diese Lust - wobei freilich nicht zu übersehen ist, d a ß es auch für den Besonnenen 8 Lustempfindungen gibt. H5sb 14. (V) Man s t i m m t n u n aber weiterhin 9 auch darin überein, d a ß die Unlust ein Unwert u n d zu meiden ist, denn zum Teil stellt sie einen

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Unwert an sich dar, zum Teil ist sie ein Unwert dadurch, daß sie in dieser oder jener Beziehung für uns ein Hemmnis bildet. Was aber zu dem, was man meiden muß, insofern es gemieden werden muß und ein Unwert ist, den Gegensatz darstellt, ist ein Wert. Also ist die Lust notwendig ein Wert. Denn so wie Speusippos die Lösung versuchte: „(Das Gegensatzverhältnis bei der Lust ist so) wie das des Größeren zum Kleineren und zum Gleichen" - so stimmt es nicht, denn er wird wohl kaum behaupten wollen, daß die Lust wesenhaft eine Art von Unwert sei. (VI: zu 2'a) Und die Annahme, daß der oberste Wert 1 eine bestimmte Form von Lust sei, begegnet keiner Schwierigkeit, mag auch manche Lust minderen Wertes sein; der oberste Wert könnte genau so eine bestimmte Form wissenschaftlicher Erkenntnis sein, obwohl manches Wissen minderen Wertes ist. Ja, folgende Annahme drängt sich wohl sogar mit Notwendigkeit auf: wenn 2 es bei jedem Zustand unbehinderte Formen der aktiven Entfaltung gibt, dann muß, mag nun die Aktivität aller Zustände zusammen das Glück ausmachen, oder immer vorausgesetzt, daß sie sich ungehindert entfalten kann - die Aktivität nur e i n e s bestimmten Zustandes, diese für uns das Wählenswerteste sein. Das aber ist die Lust. So stellt sich also der oberste Wert doch wohl als eine bestimmte Form von Lust dar, selbst wenn die meisten Formen der Lust etwas Minderwertiges, ja, wenn man will 3 , sogar etwas schlechthin Minderwertiges sind. Und aus diesem Grund ist, nach allgemeiner Überzeugung, das glückliche Leben ein lustvolles Leben und man verflicht 4 die Lust mit dem Begriff des Glückes, mit gutem Grund, denn keine Form der Aktivität ist vollendet, wenn sie sich nicht ungehindert entfalten kann. Das Glück aber gehölt zu den Dingen, die vollendet sind. Daher braucht der Glückliche auch die Güter 5 des Leibes und die äußeren, die Güter des freundlichen Zufalls, damit ihm hier keine Behinderung erwachse. Wenn aber manche Philosophen6 sagen, der Mensch auf der Folter oder der von schwerem Mißgeschick Getroffene sei glücklich, wofern er nur die innere Trefflichkeit habe, so sprechen sie, mit oder ohne Absicht 7 , einfach Unsinn. Weil aber auch der freundliche Zufall vonnöten ist, halten manche die Gunst 8 der äußeren Umstände für gleichbedeutend mit Glück: das ist aber nicht richtig, denn gerade auch ein Übermaß äußerer Glücksumstände ist ein Hindernis und man hat vielleicht gar kein Recht, so etwas noch als „Gunst der äußeren Umstände" zu bezeichnen, denn die Bedeutung dieser „Gunst" ist durch das begrenzt, was sie zum Glück beiträgt.

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Und auch die Erfahrungstatsache, daß alle 1 Lebewesen, Tier und Mensch, die Lust erstreben, ist eine Art Anzeichen dafür, daß sie irgendwie doch der oberste Wert ist. ,,Menschenrede 2 ist nie ganz nichtig, wenn viele sie reden Unter dem Volk; (ein Gott ist wahrlich auch diese)."

(Nach Schadewaldt)

Da jedoch nicht ein und dieselbe Wesensform oder Grundhaltung (für alle) die beste ist und als solche gilt, so streben auch nicht alle 3 nach derselben Lust, aber nach Lust streben sie alle. Vielleicht kann man sogar sagen : die Menschen streben gar nicht nach der Lust, die sie zu erstreben vermeinen und wohl auch (als Ziel) bezeichnen würden, sondern im Grunde nach ein und derselben Lust. Denn alles Seiende trägt von Natur etwas Göttliches 4 in sich. Aber es ist dazu gekommen, daß die sinnliche Lust von dem Namen ausschließlich Besitz 5 ergriffen hat, weil die Menschen so überaus häufig auf sie verfallen und alle daran teilhaben. Und weil also nur diese ii64* Form der Lust bekannt und vertraut ist, hält man sie für die einzig vorhandene. Es ist auch folgendes 6 klar: wenn die Lust, die aktive Entfaltung, kein Wert ist, dann kann der Glückliche kein Leben führen, das lustvoll ist. Denn zu welchem Zweck bedürfte er der Lust, wenn sie kein Wert ist, sondern Venn er sogar ein Leben der Unlust führen kann? Denn die Unlust ist weder ein Wert noch ein Unwert, wenn es die L u f t nicht ist. Warum also sollte er die Unlust meiden? Und es ist auch in der Tat das Leben des hervorragenden Menschen nicht lustvoller (als das des gewöhnlichen), wenn nicht zugleich auch die Formen seiner Aktivität lustvoller sind. ( V I I : zu 2') Wer behauptet 7 , daß zwar manche Formen.der Lust, nämlich die edlen, ganz besonders wählenswert sind, dagegen nicht die sinnlichen, also die des Zuchtlosen, der muß sich genauer mit der sinnlichen Lust befassen. Warum 8 sind denn eigentlich die der Sinnenlust entgegengesetzten Unlustgefühle etwas Schlechtes ? Das Gegenteil von schlecht ist doch gut? Sind die notwendigen Lustgefühle in dem Sinne gut, in dem das „Nicht-schlechte" soviel wie „ g u t " ist? Oder sind sie bis zu einem gewissen Grade gut? Denn d a 9 , wo die Zustände und Veränderungsvorgänge ein Hinausgehen über den Vollkommenheitsgrad nicht zulassen, da gibt es auch bei der entsprechenden Lust kein Übermaß, wo es aber ein solches Hinausgehen gibt, da gibt es auch ein

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Übermaß der entsprechenden Lust. Nun gibt e6 aber bei den Gütern des Leibes ein Übermaß und ein minderwertiger Mensch ist deshalb minderwertig, weil er das Übermaß, nicht deshalb, weil er die Lust erstrebt, die notwendig 1 ist. Denn an Leckerbissen, an Wein- und Liebesgenuß haben alle Menschen irgendwie Freude, nur nicht (immer) so wie es sein sollte. Bei der Unlust ist es umgekehrt:.der Minderwertige meidet hier nicht das Übermaß, sondern die Unlust überhaupt. Die Unlust steht nämlich nicht im Gegensatz zum Übermaß an Lust, es sei denn für den, der das Übermaß an Lust erstrebt. 15. Es ist unsere Aufgabe, nicht nur die Wahrheit festzustellen, sondern auch 2 die Ursache des Irrtums, denn dies trägt dazu bei, daß eine feste Überzeugung entsteht. Wenn nämlich eine wohlbegründete Erklärung gegeben werden kann, warum etwas als wahr erscheint, ohne es in Wirklichkeit zu sein, so fuhrt dies eher zum Überzeugtsem von der Wahrheit. Folglich müssen wir erklären, warum die sinnliche Lust allgemein als wählenswerter gilt. (a) Der erste Grund nun ist der, daß sie die Unlust vertreibt. Ist die Unlust übermäßig geworden, so suchen die Menschen ein Übermaß von Lust, und zwar durchweg sinnliche Lust, weil sie als Betäubungsmittel angesehen wird. Solche Mittel aber gelangen eben darum zu einer heftigen Wirkung, um derentwillen sie ja auch erstrebt werden, weil sie sich (sehr stark) von ihrem Gegenteil abheben. - In der Tat gilt die Lust als etwas Nicht-wertvolles aus diesen beiden Gründen, wie wir sie ausgesprochen3 haben: weil die einen Formen der Lust Auswirkungen einer minderwertigen Naturanlage sind, entweder von Geburt an gegeben wie bei einem Tier oder aus Gewöhnung stammend wie die der Minderwertigen, während die anderen Formen Betäubungsmittel (und ebenfalls schlecht) sind; denn sie sind Auswirkungen einer geschwächten Naturanlage, und Gesundheit haben ist besser als Gesund-werden. uMb Diese stellen sich übrigens nur während der allmählichen Rückkehr zum vollkommenen Zustand ein, sind also akzidentell etwas Wertvolles. - (b) Ferner: die sinnliche Lust wird, weil sie so heftig ist, von denen erstrebt, die an keiner anderen ein Vergnügen finden können. So gibt es Menschen, die in sich selbst ein künstliches 4 Durstgefühl hervorrufen. Falls sie sich nun Lustgefühle verschaffen, die harmlos 5 sind, so ist nichts dagegen einzuwenden, sind es aber schädliche, so ist das Tun verwerflich. - Denn sie haben nichts anderes, worüber sie Freude empfinden können, und außerdem ist für viele ein Zustand, in dem es weder 6 Lust noch Unlust gibt, schon gleichbedeutend mit

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U n l u s t : das liegt so in der Besonderheit unserer N a t u r . Denn Leben ist ständige Mühsal 1 , wie auch die Werke der Naturforscher bezeugen, indem sie lehren, d a ß Sehen und Hören Mühe bereite, aber wir seien schon d a r a n gewöhnt, meinen sie. Ähnlich geht es dem Menschen in der J u g e n d 2 : wegen der Entwicklung (des Organismus) sind sie gleich Trunkenen und J u g e n d ist j a voller Lust. Leute m i t b r o d e l n d e m 3 T e m p e r a m e n t dagegen brauchen ständig ein B e t ä u b u n g s m i t t e l : ihr Leib ist ja in einem dauernden Reizzustand 4 wegen des (besonderen) Mischungsverhältnisses und sie befinden sich stets in hektischer Begehrlichkeit. Unlust aber wird durch Lust vertrieben, durch die ihr entgegengesetzte oder durch eine beliebige 5 : wenn sie n u r stark genug ist. Und das sind die Gründe f ü r die Entwicklung zur Zuchtlosigkeit u n d zur Schlechtigkeit. Eine Lust, die ohne Beimischung von Unlust ist, läßt kein Ü b e r m a ß z u : sie gehört zu dem von N a t u r , nicht etwa n u r akzidentell Lustvollen. U n t e r „akzidentell lustvoll" verstehe ich aber das, was als Heilmittel wirkt - es gilt aber ein Heilvorgang deshalb als lustvoll, weil als Endergebnis die Heilung h e r a u s k o m m t , wenn nämlich der i n t a k t 6 bleibende gesunde Teil in uns eine bestimmte Wirkung ausübt - , u n t e r dem Ausdruck „von N a t u r lustvoll" dagegen verstehe ich das, was auf die völlig i n t a k t e N a t u r aktivierend 7 einwirkt. Ein u n d dasselbe Ding ist niemals ununterbrochen lustvoll, weil unsere N a t u r keine einfache, unzusammengesetzte ist. Vielmehr ist in ihr noch etwas anderes 8 , auf Grund dessen der Keim des Vergänglichen in uns steckt. Die Folge i s t : wenn der eine Teil unseres Wesens etwas t u t , so ist dies f ü r den anderen Teil ein wesenswidriger Vorgang; wenn aber beide Teile in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht sind, so e n t h ä l t der Vorgang weder Unlust noch Lust. Wäre dagegen die N a t u r eines Wesens einfach 9 , (unzusammengesetzt), dann m ü ß t e immer ein u n d dasselbe T u n am lustvollsten sein. So wird es verständlich, d a ß G o t t 1 0 stets an der einen einfachen, (unzusammengesetzten) Lust seine Freude h a t , denn es h a t nicht n u r der Zustand der Bewegung seine Aktivität, sondern auch der Zustand der Unbewegtheit, u n d Lust findet sich eher in der R u h e als in der Bewegung. Doch „ I m m e r sich ändern ist süßester G e n u ß " sagt der Dichter 1 1 : dies ist die Folge einer gewissen Minderwertigkeit. Wie nämlich der Mensch, u n d zwar der minderwertige, leicht dem Anders-werden verfällt, so ist eine N a t u r , die des Anders-werdens bedarf, minderwertig, denn sie ist nicht einfach u n d nicht gut.

Kapitel 15

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Ü b e r das T h e m a : B e h e r r s c h t h e i t u n d U n b e h e r r s c h t h e i t , L u s t u n d U n l u s t ist n u n gesprochen u n d g e k l ä r t , was j e d e s s e i n e m W e s e n n a c h ist u n d in w e l c h e m Sinn sie teils einen W e r t , teils einen U n w e r t d a r stellen. E s b l e i b t u n s die A u f g a b e , a u c h v o n der F r e u n d s c h a f t zu sprechen.

BUCH VIII Iiis» s

1. In organischer Folge wird nun von der Freundschaft 1 zu sprechen sein, denn sie ist irgendwie eine Trefflichkeit menschlichen Wesens oder 2 eng mit ihr verbunden. Und weiter: sie ist in Hinsicht auf das Leben (in der Gemeinschaft) höchst notwendig 8 . Denn ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße: gerade auch den reichen Leuten und denen, die Amt und Herrschaft haben, t u n Freunde bekanntlich ganz besonders not. Denn wozu ist solcher Wohlstand nütze, wenn die Möglichkeit des Wohltuns genommen ist, das doch vor allem und in seiner preiswürdigsten Form dem Freunde gegenüber sich entfaltet? Oder wie ließe der Wohlstand sich behüten und bewahren ohne Freunde? J e größer er ist, desto gefährdeter 4 ist er. Und in Armut und sonstigem Mißgeschick gelten Freunde als die einzige Zuflucht 8 . Freundschaft ist Hilfe: den Jüngling bewahrt sie vor Irrtum, dem Alter hietet sie Pflege und Ersatz für die aus Schwäche abnehmende Leistung, den Mann auf der Höhe des Lebens spornt sie zu edlen Taten. „Zwei 6 miteinander vora n " : dann gewinnt das Erkennen wie das Handeln an Kraft. Sie findet sich offenbar als Naturtrieb zwischen Erzeuger und Erzeugtem einerseits, zwischen Erzeugtem und Erzeuger andererseits, nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Vögeln und fast allen Lebewesen 7 , auch bei Wesen gleicher Abstammung, als Zusammengehörigkeitsgefühl; ganz besonders allerdings bei den Menschen, weshalb wir die allgemeine Menschenliebe 8 lobend'anerkennen. Man kann auch in (den Unbilden) der Fremde erleben, wie nahe ein jeder Mensch dem anderen steht und wie befreundet er ihm ist. Die Erfahrung lehrt auch, daß Freundschaft die Polisgemeinden 9 zusammenhält und die Gesetzgeber sich mehr um sie als u m die Gerechtigkeit bemühen, denn die Eintracht 1 0 hat offenbar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Freundschaft. Nach ihr aber trachten sie vor allem, während sie die Zwietracht, als das feindliche Element, vor allem auszutreiben suchen. Sind die Bürger einander freund, so ist kein Rechtsschutz nötig, sind sie aber gerecht, so brauchen sie noch außerdeni die Freundschaft, und der höchste Grad gerechten Wesens trägt die sichtbaren Merkmale der Freundschaft.

Kapitel 1-2

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Sie ist übrigens nicht nur etwas Notwendiges, sondern auch etwas Edles, denn wir loben den, der seiner Freunde Freund 1 ist, und eine Freundesschar um sich zu haben gilt als etwas Edles. Und manche 2 sind überzeugt, ein trefflicher Mann und ein Freund sei ein und dasselbe. 2. Es gibt aber bei der Freundschaft nicht wenige Probleme 3 . Die einen 4 bestimmen sie als eine Art Wesensgleichheit und sagen: Menschen von gleicher Art sind Freunde. Daher das Sprichwort 5 : „Gleich und gleich gesellt sich gern" und „Krähe hält sich zu Krähe" und dergleichen. Andere sagen im Gegenteil, die Gleichen seien einander allesamt (feind wie) „Töpfer dem Töpfer". Und bei demselben Thema sucht man auch noch nach höheren 6 und mehr naturphilosophischen Argumenten. So Euripides 7, wenn er sagt: „Es sehnt die dürre Erde sich nach Regen, es sehnt der hohe Himmel, regenschwer, zur Erde sich zu stürzen". Und Heraklit: „Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie" und „Alles Leben entsteht durch Streit". Wiederum im Gegensatz zu diesen steht'unter anderen Empedokles mit der Ansicht, daß Gleiches zu Gleichem strebe. Soweit nun die Probleme naturphilosophisch sind, wollen wir sie beiseite lassen, denn sie passen nicht zu der jetzigen Untersuchung. Dagegen wollen wir all das untersuchen, was zum menschlichen Bereich gehört und mit Charakter und Gefühlsregung zusammenhängt, z. B. 8 also: ob Freundschaft bei allen entsteht oder ob sie unter Minderwertigen unmöglich ist, und ob es nur eine Art der Freundschaft gibt oder mehrere. Wer nämlich glaubt, es gebe nur eine einzige, weil sie ein Mehr 9 und ein Weniger zuläßt, verläßt sich auf ein unzureichendes Merkmal, denn ein Mehr und ein Weniger lassen auch Dinge zu, die der Art nach verschieden sind. Dazu haben wir schon im Vorhergehenden gesprochen. Vielleicht kommen wii zur Klarheit hierüber, sobald uns das Liebens-werte 10 bekannt geworden ist. Denn offenbar kann nicht alles Gegenstand der Liebe sein, sondern nur das Liebens-werte und als solches gilt 1 1 das, was wertvoll, lustvoll oder nützlich ist. Als nützlich nun kann das gelten, was zu irgendeinem Wert oder einer Lust verhilft, und demnach wären als Endziele nur der Wert und das Luswolle liebens-wert. Lieben nun die Menschen den Wert oder das für sie Wertvolle? Das ist nicht immer im Einklang und dasselbe 18 gilt auch vom Lustvollen. Es ist wohl so, daß jeder einzelne das für ihn Wertvolle

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Buch VIII

liebt u n d d a ß zwar der W e r t Gegenstand der Liebe schlechthin ist, f ü r den einzelnen aber das f ü r ihn Wertvolle. Es liebt aber der einzelne n i c h t d a s , w a s w i r k l i c h f ü r i h n ein W e r t i s t , s o n d e r n w a s i h m als W e r t e r s c h e i n t . D a s m a c h t w o h l k e i n e n U n t e r s c h i e d 1 . D a n n i s t e b e n (als) G e g e n s t a n d d e r L i e b e (das a n z u s e t z e n ) w a s (als G e g e n s t a n d ) erscheint. D r e i G r ü n d e also g i b t es, w e s h a l b die M e n s c h e n l i e b e n u n d sich b e f r e u n d e n . Bei der Vorliebe f ü r leblose2 Gegenstände spricht m a n n i c h t v o n „ F r e u n d s c h a f t " . D e n n d a ist w e d e r G e g e n l i e b e d e n k b a r n o c h d e r W u n s c h , es m ö g e d e r a n d e r e G u t e s h a b e n . D e n n es w ä r e g e w i ß l ä c h e r l i c h , d e m W e i n e G u t e s zu w ü n s c h e n . W e n n h i e r v o n „ W u n s c h " d i e R e d e i s t , so i s t es d e r , d e r W e i n m ö g e sich g u t h a l t e n - d a m i t m a n i h n f ü r sich b e s i t z e . D e m F r e u n d e d a g e g e n soll m a n , n a c h v e r b r e i t e t e r A n s i c h t , d a s G u t e w ü n s c h e n u m d e r P e r s o n des F r e u n d e s willen. W e n n e i n e r d a s G u t e i n d i e s e r W e i s e w ü n s c h t , so s p r i c h t m a n v o n „ W o h l w o l l e n " - falls n ä m l i c h d e r a n d e r e n i c h t m i t g l e i c h e m W u n s c h erw i d e r t : w e n n n ä m l i c h W o h l w o l l e n g e g e n s e i t i g i s t , so i s t dies F r e u n d schaft. Oder m u ß m a n mit einem Zusatz sagen: „sichtbares3 Wohlw o l l e n " ? D e n n viele e m p f i n d e n ein W o h l w o l l e n g e g e n M e n s c h e n , die sie g a r n i c h t g e s e h e n h a b e n , v o n d e n e n sie n u r d e n E i n d r u c k h a b e n , ii5fia d a ß sie g u t o d e r n ü t z l i c h s i n d . U n d d e r s e l b e E i n d r u c k k a n n a u f d e r G e g e n s e i t e sein. D i e s e M e n s c h e n s i n d e i n a n d e r also a u g e n s c h e i n l i c h w o h l w o l l e n d . W i e a b e r k ö n n t e m a n sie F r e u n d e n e n n e n , w o die g e g e n seitige G e s i n n u n g n a c h a u ß e n g a r n i c h t h e r v o r t r i t t ? F r e u n d e m ü s s e n also - so d a ß es n a c h a u ß e n h e r v o r t r i t t - W o h l w o l l e n f ü r e i n a n d e r e m p finden u n d sich d a s G u t e a u s e i n e m d e r g e n a n n t e n G r ü n d e w ü n s c h e n . 3. D i e d r e i M o t i v e , a u s d e n e n F r e u n d s c h a f t e n t s t e h t , u n t e r s c h e i d e n 6ich v o n e i n a n d e r d e r A r t n a c h , folglich a u c h die F o r m e n 4 des L i e b e n s u n d d e r F r e u n d s c h a f t . E s g i b t also d r e i A r t e n v o n F r e u n d s c h a f t - sie e n t s p r e c h e n 5 d e n d r e i A r t e n des L i e b e n s - w e r t e n denn in d e m Ber e i c h e e i n e r j e d e n i s t G e g e n l i e b e m ö g l i c h , die n a c h a u ß e n h e r v o r t r i t t , u n d die e i n a n d e r f r e u n d s c h a f t l i c h G e s i n n t e n w ü n s c h e n sich g e g e n seitig d a s G u t e e n t s p r e c h e n d d e m M o t i v e i h r e r G e s i n n u n g . W o a l s o N u t z e n d a s M o t i v d e r B e f r e u n d u n g b i l d e t , d a l i e b e n 6 sich die M e n s c h e n n i c h t u m i h r e s W e s e n s willen, s o n d e r n n u r s o w e i t sie e t w a s v o n e i n a n d e r h a b e n k ö n n e n , u n d e b e n s o i s t es b e i d e n e n , die u m d e r L u s t willen b e f r e u n d e t s i n d . D e n n n i c h t w e g e n s e i n e r C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n l i e b e n sie d e n i n d e r G e s e l l s c h a f t G e w a n d t e n 7 , s o n d e r n weil sie i h n u n t e r h a l t s a m finden.

Kapitel 2-3

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Wo also Nutzen das Motiv der Befreundung bildet, da lieben sich die Menschen, weil sie f ü r sich einen Vorteil erstreben, und wo L u s t das Motiv ist, geschieht es, weil sie f ü r sich Lust erstreben, also nicht insofern der P a r t n e r eben (schlicht) der Befreundete ist, sondern insofern er nützlich oder angenehm ist. Und so sind das also Freundschaften im akzidentellen Sinn. Denn nicht deshalb, weil er der ist, der er ist, wird der Befreundete geschätzt, sondern insofern er irgendein Gut oder eine Lust verschafft. Solche F r e u n d s c h a f t e n gehen also leicht 1 auseinander, wenn sich die Freunde nicht gleich bleiben. Denn wenn der eine P a r t n e r nicht mehr angenehm oder nützlich ist, so hört m a n auf ihn zu lieben. Das Nützliche aber hält nicht stand, sondern stellt sich bald so bald anders d a r . Fällt n u n der Grund weg, weshalb sie sich befreundet h a t t e n , so geht auch die F r e u n d s c h a f t auseinander, da sie nur mit Rücksicht darauf geschlossen war. E r f a h r u n g s g e m ä ß entsteht solche Freundschaft vor allem im Alter 2 - denn auf dieser Stufe erstrebt m a n nicht (mehr) die Lust, sondern den Nutzen - aber auch auf der Höhe des Lebens und in der J u g e n d , soweit m a n eben auf Vorteil aus ist. Solche Leute sind aber auch gar nicht besonders auf ein Zusammenleben eingestellt, denn u n t e r Ums t ä n d e n finden sie sich gegenseitig nicht einmal angenehm. So brauchen sie denn auch zur Ergänzung gar keine solche Gemeinschaft, außer es k o m m t ein Nutzen dabei heraus. Denn angenehm finden sie sich gegenseitig nur, soweit Aussicht auf einen Vorteil besteht. Zu dieser Art von F r e u n d s c h a f t zählt m a n übrigens auch die Gast-Freundschaft3. Dagegen h a t Freundschaft unter Jünglingen erfahrungsgemäß die L u s t zum Ziel, denn die Jugend lebt der Leidenschaft 4 u n d strebt vor allem nach dem f ü r sie Lust vollen und dem, was sie u n m i t t e l b a r reizt. Mit den zunehmenden J a h r e n wechselt aber, was ihnen Lust bereitet. D a h e r schließen sie rasch Freundschaft u n d machen ebenso rasch wieder ein E n d e : mit der Lust wechselt die Freundschaft und bei sol- nssb «her Lust ist rascher Wechsel. Jugend neigt auch sehr zur Sinnenliebe 5 , denn sinnliche Liebe ist vorwiegend Leidenschaft u n d J a g d nach Lust. Daher verlieben sich die jungen Menschen - u n d machen rasch wieder ein E n d e : das ändert sich nicht selten am gleichen T a g . Dagegen möchten sie den ganzen Tag beisammen sein u n d zusammen leben, denn so verwirklicht sich f ü r sie der Sinn der Freundschaft.

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Bach VIII

4. V o l l k o m m e n e 1 F r e u n d s c h a f t ist die der trefflichen C h a r a k t e r e u n d a n Trefflichkeit• einander Gleichen. D e n n bei dieser F r e u n d s c h a f t w ü n s c h e n 2 sie einer d e m a n d e r e n i n gleicher Weise das G u t e , a u s k e i n e m a n d e r e n G r u n d e als weil sie eben trefflich sind, u n d trefflich sind sie „ a n s i c h " , wesensmäßig. N u n sind a b e r Menschen, die d e m F r e u n d e u m des F r e u n d e s willen das G u t e w ü n s c h e n , die e c h t e s t e n F r e u n d e : d e n n sie sind es n i c h t i m akzidentellen Sinn, s o n d e r n weil j e d e r des a n d e r e n W e s e n s a r t liebt. U n d so w ä h r t ihre F r e u n d s c h a f t so lange wie sie trefflich sind, Trefflichkeit aber ist ein W e r t , der d a u e r t 3 . U n d es-ist j e d e r der beiden P a r t n e r „ a n s i c h " u n d f ü r d e n F r e u n d trefflich. D e n n die Trefflichen sind sowohl trefflich a n sich als a u c h f ü r e i n a n d e r v o n N u t z e n 4 . U n d in gleicher Weise sind sie einander a u c h a n g e n e h m , d e n n sowohl a n sich sind die Trefflichen a n g e n e h m als a u c h f ü r e i n a n d e r . J e d e m Menschen sind j a sowohl die H a n d l u n g e n , die aus seinem eigenen W e s e n k o m m e n , als a u c h solche, die d i e s e n 5 ähnlich sind, eine Quelle der L u s t , treffliche Menschen a b e r h a b e n die gleiche A r t zu h a n d e l n - oder doch eine ähnliche. F r e u n d s c h a f t dieser A r t ist, so darf m a n m i t g u t e m G r u n d sagen, ein W e r t der d a u e r t , d e n n i n i h r t r e f f e n alle G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n der F r e u n d s c h a f t zus a m m e n : jede F r e u n d s c h a f t h a t j a einen W e r t oder eine L u s t z u m Ziel - beides e n t w e d e r a n sich oder auf den bezogen, der die F r e u n d s c h a f t erlebt - u n d 6 b e r u h t auf einem gewissen Grad v o n Wesensgleichheit. Bei der v o l l k o m m e n e n F r e u n d s c h a f t aber sind die genannt e n G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n alle z u s a m m e n gegeben u n d zwar k r a f t des ureigenen Wesens der F r e u n d e ; d e n n bei dieser F r e u n d s c h a f t sind a u c h die a n d e r e n c h a r a k t e r i s t i s c h e n Gegebenheiten gleich, u n d d a s was wertvoll a n sich ist, ist a u c h lustvoll a n sich. Dies a b e r ist in d e r h ö c h s t e n F o r m liebens-wert u n d so i s t d e n n Liebe u n d F r e u n d s c h a f t u n t e r diesen Menschen in der h ö c h s t e n u n d edelsten F o r m zu t r e f f e n . Solche F r e u n d s c h a f t ist n a t ü r l i c h selten, d e n n Menschen dieser A r t gibt es n u r wenige. F e r n e r b r a u c h t sie ajich Zeit u n d gegenseitiges V e r t r a u t - w e r d e n . D e n n wie das Sprichwort s a g t , l e r n t m a n sich e r s t k e n n e n , w e n n m a n d e n b e k a n n t e n „Scheffel S a l z " 7 m i t e i n a n d e r gegessen h a t . A u c h k a n n m a n sich erst d a n n gegenseitig a n e r k e n n e n u n d F r e u n d sein, w e n n sich einer d e m a n d e r e n als liebens-wert erwiesen h a t u n d das V e r t r a u e n befestigt ist. Menschen a b e r , die rasch die Süßeren F o r m e n der F r e u n d s c h a f t b e k u n d e n , m ö c h t e n zwar F r e u n d e sein, sind es aber n i c h t , a u ß e r sie sind liebens-wert u n d wissen d a r u m : d e r W u n s c h n a c h F r e u n d s c h a f t e n t s t e h t rasch, die F r e u n d s c h a f t aber n i c h t .

Kapitel 4-5

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5. Diese Freundschaft also ist vollkommen, sowohl was ihre Dauer als auch was das übrige 1 betrifft, und hier erhält jeder in jeder Hinsicht das, was er gibt, in derselben oder in ähnlicher Form von anderen zurück, wie es bei Freunden ja sein soll. Die Freundschaft um der Lust willen hat Ähnlichkeit mit der voll- 1157» kommenen, denn auch die trefflichen Menschen gewähren sich gegenseitig Lust. Und ebenso ist es bei der Freundschaft um des Nutzens willen, denn auch von Nutzen sind sich die Trefflichen. Am ehesten aber ist auch bei diesen (gewöhnlicheren) Freunden die Beziehung von Dauer, wenn sie voneinander die gleiche Gegengabe empfangen, z. B. Lust - und nicht nur dies, sondern auch Gegengabe aus dem gleichen2 Bereich: bei den gesellschaftlich Gewandten3 ist das z. B. der Fall, dagegen nicht bei Liebhaber und Geliebtem. Denn hier ist nicht das gleiche Erlebnis Ursache der Lust: der eine freut sich am Anblick des Geliebten, dieser aber an den Aufmerksamkeiten des Liebhabers. Das Ende der Jugendblüte 4 aber bedeutet nicht selten auch das Ende der Freundschaft: dem einen ist der Anblick schal geworden, dem anderen wird die gewohnte Aufmerksamkeit nicht (mehr) zuteil. Andererseits halten viele die Freundschaft aufrecht, wenn sie als Folge langen Vertrautseins ihre Wesensart liebgewonnen haben und (nun5) gleichen Wesens sind. Wenn man aber nicht Lust, sondern Vorteile bei den Liebesbeziehungen austauscht, so ist die Freundschaft schwächer und hält weniger nach. Freunde, die den Nutzen als Zweck verfolgen, trennen sich, sobald der Nutzertrag aufhört, denn nicht miteinander waren sie befreundet, sondern mit dem Gewinn. Man sieht: um der Lust und um des Nutzens willen können auch (a) Minderwertige miteinander befreundet sein und (b) Gute mit Minderwertigen und (c) Leute, die weder das eine noch das andere sind, mit Menschen von gleichgültig welchem Charakter. Jedoch um ihrer selbst willen offenbar allein die Guten. Denn Menschen minderen Wertes können sich aneinander nicht freuen, außer es käme irgendwie ein Nutzen dabei heraus. Auch hält keine andere als die Freundschaft der Guten der Verleumdung stand. Denn man hört nicht leicht auf ein Gerede über den Freund, der in langen Jahren von einem selbst erprobt ist. Und unter den Guten gilt: »Ich vertraue ihm" und „Nie würde er mir Unrecht tun" und was sonst noch in einer echten und wahren Freundschaft gefordert wird - während es bei den anderen Freundschaftsformen ohne weiteres zu solchen Störungen kommen kann.

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Buch VIII

( „ F r e u n d s c h a f t s f o r m e n " s a g t e i c h ) , d e n n die M e n s c h e n b e z e i c h n e n e i n e r s e i t s a u c h solche als „ F r e u n d e " , die sich u m des N u t z e n s willen z u s a m m e n g e t a n h a b e n , B e i s p i e l : die P o l i s g e m e i n d e n ; d e n n S t a a t e n b ü n d n i s s e w e r d e n b e k a n n t l i c h u m des V o r t e i l s willen g e s c h l o s s e n , u n d a n d e r e r s e i t s a u c h solche, die sich u m d e r L u s t willen l i e b e n , B e i s p i e l : die K i n d e r 1 . Also m ü s s e n w o h l a u c h wir solche B e z i e h u n g e n als „ F r e u n d s c h a f t " b e z e i c h n e n u n d d a n n m e h r e r e A r t e n d e r F r e u n d schaft feststellen: in erster Linie u n d im eigentlichen Sinn sprechen wir v o n einer F r e u n d s c h a f t der G u t e n a l s G u t e n , s o d a n n v o n d e n übrigen Arten gemäß ihrer Ähnlichkeit mit der ersten. D e n n insofern sie e i n e n W e r t , u n d z w a r e i n e n ( d e m e c h t e n ) ä h n l i c h e n l i e b e n , i n s o f e r n s i n d sie b e f r e u n d e t , b e d e u t e t j a d o c h a u c h d a s L u s t v o l l e f ü r die F r e u n d e 2 d e r L u s t e i n e n W e r t . Diese b e i d e n F r e u n d s c h a f t s f o r m e n t r e f f e n ü b r i g e n s n i c h t so l e i c h t z u s a m m e n , u n d es b e f r e u n d e n sich n i c h t d i e s e l b e n M e n s c h e n u m des N u t z e n s u n d z u g l e i c h u m d e r L u s t willen. D e n n w a s n u r a k z i d e n t e l l b e i e i n a n d e r i s t , v e r s c h m i l z t 3 n i c h t leicht zur Einheit. 1157 b 6. I n diese A r t e n i s t also die F r e u n d s c h a f t e i n g e t e i l t , u n d es w e r d e n m i n d e r w e r t i g e 4 M e n s c h e n b e f r e u n d e t sein u m d e r L u s t o d e r d e s N u t z e n s willen, d a sie i n dieser H i n s i c h t e i n a n d e r gleichen, die G u t e n a b e r s i n d F r e u n d e u m i h r e s e i g e n e n W e s e n s willen, e b e n weil sie g u t s i n d . Sie sind F r e u n d e „ a n s i c h " , j e n e a b e r n u r a k z i d e n t e l l u n d weil sie d e n ersteren ähnlich sind. Wie m a n im Bereiche der sittlichen Wesensvorzüge von „ g u t " teils i m H i n b l i c k a u f die f e s t e G r u n d h a l t u n g d e s C h a r a k t e r s , teils i m H i n blick a u f die l e b e n d i g e V e r w i r k l i c h u n g s p r i c h t 5 , so a u c h i m B e r e i c h d e r F r e u n d s c h a f t . D e n n F r e u n d e , die i h r L e b e n g e m e i n s a m v e r b r i n g e n , f r e u e n sich a n e i n a n d e r u n d v e r s c h a f f e n e i n a n d e r D i n g e v o n W e r t . W e n n sie a b e r s c h l a f e n o d e r r ä u m l i c h g e t r e n n t s i n d , so w i r k e n sie z w a r die W e r k e d e r F r e u n d s c h a f t n i c h t , s i n d a b e r w e g e n i h r e r G r u n d h a l t u n g ( j e d e r z e i t ) d a z u i n d e r L a g e . D e n n r ä u m l i c h e E n t f e r n u n g h e b t die Freundschaft nicht einfach auf, sondern nur deren Verwirklichung. A l l e r d i n g s , w e n n die T r e n n u n g l a n g e d a u e r t , so l ä ß t sich b e o b a c h t e n , d a ß sie d o c h a u c h die F r e u n d s c h a f t i n V e r g e s s e n h e i t 6 b r i n g t . D a h e r heißt7 es: „ O f t s c h o n h a t f e h l e n d e r A u s t a u s c h des W o r t e s die F r e u n d s c h a f t vernichtet". E r f a h r u n g s g e m ä ß mögen weder a l t e 8 noch mürrische L e u t e eine F r e u n d s c h a f t e i n g e h e n . D e n n es i s t n u r k ä r g l i c h e r L u s t g e w i n n b e i

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ihnen zu holen und niemand kann seine Tage mit einem trübseligen und unangenehmen Partner verbringen. Man sieht ja, daß die Natur vor allem die Unlust meidet, dagegen die Lust erstrebt. Leute, die sich freundschaftlich anerkennen, aber nicht zusammenleben, zeigen eher die Merkmale des Wohlwollens als die der Freundschaft. Denn nichts kennzeichnet die Freundschaft stärker als das Zusammenleben: nach Nutzen verlangt der Hilfsbedürftige, nach Gemeinschaft aber gerade auch der Mann auf der höchsten Stufe des Glücks. Denn er darf am wenigsten aufsein Ich 1 beschränkt sein. Gemeinsames Verbringen der Tage ist aber unmöglich, wenn die Partner sich nicht angenehm sind und nicht am Gleichen Freude haben, (also nicht so sind) wie es offenbar bei der Kameradschaft 2 der Fall ist. 7. Am echtesten also ist die Freundschaft der Guten, wie wir wiederholt gesagt haben 3 . Denn liebenswert und wählenswert ist bekanntlich da» an sich Wertvolle und Angenehme, und für den einzelnen das, was sich gerade ihm als solches darstellt. Der Gute aber ist für den Guten liebenswert und wählenswert aus diesen beiden Motiven. Nun sieht es aber so aus, als sei Lieben ein leidenschaftliches Gefühl, Freundschaft dagegen eine Grundhaltung des Charakters. Denn das Lieben kann sich genauso gut auf Lebloses beziehen, Gegenseitigkeit der Liebe aber ist nur mit einem Willensentschluß denkbar, der Entschluß aber entspringt einer charakterlichen Grundhaltung. Denen, die man liebt, wünscht man das Gute um ihretwillen, indem man nicht dem Gefühl der Leidenschaft, sondern der klaren Grundhaltung folgt. Und indem man den Freund liebt, liebt man das, was für einen selbst ein Wert ist. Denn indem der Gute zum Freund wird, wird er zum Wert für seinen Freund. Jeder der beiden Partner liebt also das, was für ihn ein Wert ist und gibt ein Gleiches als Gegenleistung, indem er (dem anderen das Gute) wünscht und Freude bereitet; es heißt j a : „Freundschaft ist Gleichheit" 4 . Am echtesten finden sich natürlich diese Merkmale nssa bei der Freundschaft der Guten. Bei mürrischen und ältlichen 6 Personen entsteht Freundschaft nicht so leicht, insofern sie schlechter bei Laune sind und weniger an Geselligkeit Freude haben. Denn dies gilt ganz besonders als Merkmal und Ursache der Freundschaft. Daher befreundet sich die Jugend rasch, das Alter dagegen nicht, denn man schließt keine Freundschaft mit Leuten, an denen man keine Freude hat. Und ähnliches gilt auch für die mürrischen Typen. Doch können solche Menschen einander immerhin wohlwollend sein, denn sie wünschen sich das Gute und sind

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im Notfall zur Stelle, freund aber sind sie einander nicht eigentlich, denn sie verbringen ihre Tage nicht gemeinsam und haben keine Freude aneinander - was doch beides für die Freundschaft besonders charakteristisch ist. Freundschaft mit vielen ist im Sinne vollkommener Freundschaft nicht möglich: man kann ja auch nicht gleichzeitig mit vielen ein Liebesverhältnis haben - denn sinnliche Liebe gleicht einer Übersteigerung (der Freundschaft) und so etwas ist seiner Natur nach nur einem einzigen Menschen gegenüber denkbar - und daß viele zur gleichen Zeit demselben Menschen ausnehmend sympathisch sind, kann man sich nur schwer vorstellen, schwer wohl auch, daß diese (vielen lauter) wertvolle Menschen sind. Aber auch Erfahrung muß man gewonnen haben und zu gegenseitiger Vertrautheit gelangt sein, was sehr schwierig ist. Dagegen ist es möglich, um des Nutzens und der Lust willen vielen sympathisch zu sein, denn solche Menschen gibt es genug, und was man sich gegenseitig zu bieten hat, ist rasch erledigt. Von diesen beiden Formen gleicht die um der Lust willen eher der (echten) Freundschaft, wenn beide voneinander die gleiche Leistung empfangen und sie Freude aneinander oder an den gleichen Dingen haben. Von dieser Art sind die Freundschaften der jungen Leute: hier tritt eher etwas Großzügiges in Erscheinung, während die Nutzfreundschaft für geschäftstüchtige Leute ist. Übrigens haben auch die vollkommen glücklichen Menschen kein Bedürfnis nach nützlichen, wohl aber nach angenehmen Freunden, denn sie möchten Menschen um sich haben, mit denen sie leben; Unlust aber ertragen sie nur kurze Zeit - als Dauerzustand könnte ja kein Mensch die Unlust, ja nicht einmal die Idee 1 des höchsten Gutes ertragen, falls sie ihm Unlust brächte deshalb sind sie auf der Suche nach Freunden, die angenehm sind, wenn aber nach angenehmen, dann wohl nach solchen, die auch gut sind, und weiterhin: (gut und angenehm) in der Bezogenheit auf sie: erst so werden sie alles haben, was als Grundlage der Freundschaft gilt. Hochgestellte 2 Leute halten sich, wie man beobachten kann, ihre Freunde in getrennten Gruppen bereit: die einen bieten ihnen da» Nützliche, die anderen das Angenehme, dagegen kaum je ein und dieselben beides. Denn ihr Suchen gilt nicht denen, die das Angenehme mit der Trefflichkeit deB Charakters verbinden oder f ü r edle Zwecke von Vorteil sind, sondern in ihrem Verlangen nach dem Angenehmen

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suchen sie sich gewandte Gesellschafter und andererseits besonders Begabte für den Vollzug ihrer Befehle. Dies aber findet sich nicht leicht in ein und derselben Person vereint. Nun ist es aber der sittlich hochstehende Mensch, wie wir gesagt haben, der angenehm und nützlich zugleich ist. Aber der befreundet sich nicht mit einem (an Macht) Höhergestellten, es müßte denn sein, daß dieser auch an sittlichem Wert über ihm 1 stünde. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, gäbe es keine Proportion 2 in diesem Übertroffen-werden (durch den Machthaber) und damit keine Gleichheit. Solche (in jeder Richtung überlegene) Machthaber kommen aber so leicht nicht vor. 8. Jedenfalls 3 bestehen die bisher genannten Freundschaften auf der nssb Grundlage der Gleichheit. Beide Partner empfangen voneinander und wünschen einander das Gleiche und tauschen eines gegen das andere aus, z. B. Lust gegen Nutzen. Daß es sich hier um geringere und weniger dauerhafte Formen der Freundschaft handelt, ist festgestellt 4 worden. Weil aber sowohl Ähnlichkeit wie auch Unähnlichkeit mit ein und demselben Vergleichsgegenstand besteht, kommt es, daß sie als Freundschaften gelten und doch auch nicht gelten: infolge ihrer Ähnlichkeit mit der auf sittlichem Wert beruhenden erscheinen sie als Freundschaft - bei der einen ist das Angenehme, bei der anderen das Nützliche zu finden, und beides ist auch bei der vollkommenen Freundschaft vertreten. Weil indes die vollkommene Freundschaft der Verleumdung standhält und dauerhaft ist, während diese rasch wechseln und auch noch sonstige Unterschiede genug aufweisen - deshalb gelten sie nicht als Freundschaften: eben wegen der Unähnlichkeit mit der vollkommenen. Eine andere Art der Freundschaft ist die, welche auf Überlegenheit 6 (des einen Partners) beruht, z. B. die des Vaters zum Sohn und allgemein: die des Älteren zum Jüngeren; ferner die des Mannes zur Frau und allgemein: die des Gebieters zum Gehorchenden. Diese Freundschaftsformen sind aber auch untereinander verschieden: das Verhältnis der Eltern zu den Kindern ist nicht dasselbe 6 wie das des Gebieters zum Gehorchenden; auch das des Vaters zum Sohn ist nicht dasselbe wie das des Sohnes zum Vater, und das des Mannes zur Frau nicht dasselbe wie das der Frau zu ihrem Manne. Denn jedem von ihnen eignet ein anderer Wesensvorzug und eine andere Leistung, auch unterscheiden sie sich durch den Grund ihrer Zuneigung. Folglich unterscheiden sie sich auch durch die Art ihres Liebens und ihrer Freundschaft und selbstverständlich empfängt der eine Partner vom anderen

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weder die gleiche Leistung, noch darf er sie fordern. Wenn aber die Kinder d e n .Eltern den Anteil geben, der ihren Erzeugern gebührt, u n d die E l t e r n den Söhnen, was den Kindern gebührt, d a n n m u ß die F r e u n d s c h a f t u n t e r solchen Menschen d a u e r h a f t und wohlbestelit sein. Bei allen F r e u n d s c h a f t e n , die durch das Übergewicht des einen P a r t ners charakterisiert sind, m u ß auch der Grad der Zuneigung proportional sein, n ä m l i c h : der wertvollere Teil m u ß mehr Zuneigung empfangen als selber schenken u n d der nützlichere auch, u n d jeder von den übrigen in der gleichen Weise. Denn wenn die Zuneigung dem anderen entsprechend seiner Würdigkeit entgegengebracht wird, d a n n e n t s t e h t in gewissem Sinne Gleichheit, die ja bekanntlich als Merkmal der Freunds c h a f t gilt. 9. I n d e s 1 b e d e u t e t „Gleichheit" in Dingen des Rechts und in der F r e u n d s c h a f t nicht dasselbe. Denn in Dingen des Rechts ist „gleich" in erster Linie Rücksicht auf Würdigkeit, während die Rücksicht auf das e x a k t e Maß an zweiter Stelle k o m m t . I n der F r e u n d s c h a f t a b e r 2 steht das exakte Maß an erster, die Würdigkeit an zweiter Stelle. Dies t r i t t klar hervor, wenn ein beträchtlicher Abstand in Hinsicht auf charakterliche Trefflichkeit oder Minderwertigkeit oder Wohlstand usw. gegeben ist. Denn d a n n sind sie keine F r e u n d e mehr, j a , F r e u n d schaft zu beanspruchen k o m m t ihnen gar nicht in den Sinn. Am schärfsten fällt dies in die Augen bei den Göttern®, denn sie stehen am weitesten über uns, da ihnen alle Güter zu eigen sind. Aber auch iiööa bei den Königen t r i t t es klar hervor. Denn auch hier k o m m t - d e m viel tiefer Stehenden nicht der Gedanke an F r e u n d s c h a f t , so wenig wie der völlig Unbedeutende seine Gedanken zu den Besten erhebt oder zu denen, die an Geist überragend sind. Eine scharfe begriffliche Festlegung, bis zu welcher Grenze Freunde noch Freunde sind, gibt es in solchen Fällen allerdings nicht. Es k a n n (von der einen Seite) vieles weggenommen werden u n d es ist immer noch F r e u n d s c h a f t , ist aber der Abstand sehr groß geworden, z. B. bei der Gottheit, so ist es keine mehr. Daraus konnte die Frage entstehen, ob F r e u n d e wohl wirklich ihren Freunden das Höchste wünschen, z. B. G ö t t e r 4 zu sein, denn (würden sie dies), d a n n könnten sie ihnen nicht länger mehr Freunde bleiben u n d also auch nicht mehr ein wertvoller Besitz, denn F r e u n d e sind ein wertvoller Besitz. Wenn es n u n richtig w a r 5 zu sagen, d a ß der F r e u n d dem Freunde Gutes wünscht u m der Person des Freundes willen, so m u ß dieser wohl im Wesen das bleiben, was er ist. U n d

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ihm, dem Menschen also, wird er dann allerdings das Höchste wünschen. Aber immerhin wohl nicht alles, was überhaupt denkbar ist. Denn jeder wünscht in erster Linie für sich selbst 1 Gutes. E s läßt sich feststellen, daß die Vielen eher den Wunsch haben geliebt zu werden als zu lieben - weil dies ihrem Geltungstrieb entgegenkommt. Daher die Vorliebe der Vielen für Schmeichler. Denn der Schmeichler 2 ist ein Freund, über dem man steht, oder er gibt sich den Anschein eines solchen und tut, als ob er mehr Zuneigung schenken al6 empfangen wolle. Freundschaftliche Zuneigung genießen gilt a b e r 3 fast als gleichbedeutend mit Geltung genießen und eben danach streben die Vielen. Es läßt sich indes beobachten, daß die Geltung nicht um ihrer selbst willen gewählt wird, sondern nur akzidentell. Denn den Vielen macht es Freude, sich von Hochgestellten geschätzt zu sehen, weil sie dadurch Aussichten haben - sie hoffen nämlich, wenn sie etwas brauchen, es von ihnen zu bekommen, und so freuen sie sich ihrer Geltung als eines Vorzeichens kommender W o h l t a t 4 . Wer nach Geltung bei sittlich und geistig 6 hochstehenden Menschen verlangt, der möchte die persönliche Meinung, die er von sich hat, bestätigt wissen, und so freut man sich (an der Geltung), indem man sich bezüglich des eigenen Wertes auf das Urteil derer verläßt, die davon sprechen. Freundschaftliche Zuneigung zu genießen begrüßt man aber als Wert an sich, weshalb man dies für etwas Höheres halten darf als den Genuß von Geltung und die Freundschaft als Selbstwert erscheint. Sie scheint sich aber mehr im Schenken 6 als im Empfangen der Freundesliebe zu verwirklichen. Ein Zeichen dafür sind die Mütter 7 , deren ganze Freude darin besteht, Liebe zu schenken. Manche lassen nämlich ihre Kinder von anderen aufziehen und wissen von ihnen und lieben sie; aber E r widerung ihrer Liebe verlangen sie nicht - falls beides zusammen nicht möglich ist - , sondern offenbar genügt es ihnen zu sehen, daß es den Kindern gut geht; und sie lassen es ihrerseits an Liebe nicht fehlen, auch wenn die Kinder, aus Unkenntnis, nichts von dem geben, worauf eine Mutter Anspruch hätte. 10. Da nun 8 die Freundschaft mehr in dem Schenken der Freundesliebe verwirklitht wird und man die preist 9 , die ihren Freunden freund sind, so darf als Wesensvorzug der Freunde das Erweisen der Freundesliebe gelten. Und so sind Freunde, bei denen dies nach Verdienst und Wert geschieht, als Freunde beständig und ihre Freundschaft ist es auch, i 159 b Auf diese Weise könnten noch am ehesten auch ungleiche Partner Freunde sein: sie können einander angeglichen werden. Äußere und

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innere Gleichheit aber bedeutet Freundschaft und ganz besonders die Gleichheit an sittlichem Wert. Denn da solche Freunde in sich selbst beständig sind, sind sie es auch zueinander. Und weder erbitten sie noch leisten sie unpassende Freundesdienste; ja man kann geradezu sagen, sie suchen Unrechtes 1 durchwegs zu verhüten. Es ist ja für den sittlich Hochstehenden charakteristisch, weder selbst etwas falsch zu machen noch es beim Freunde zuzulassen. Die Minderwertigen dagegen kennen keine Beständigkeit, sie bleiben ja nicht einmal sich selbst gleich 2 . Sie befreunden sich nur für die kurze Zeit, da sie an ihrer Minderwertigkeit gegenseitig Gefallen finden. Freunde, die sich nützlich oder angenehm sind, bleiben länger beisammen, nämlich so lange sie einander Lust oder Vorteile verschaffen können. Aus Gegensätzen 9 , z. B. arm und reich, ungebildet und gebildet, entsteht erfahrungsgemäß am ehesten die Freundschaft um des Nutzens willen. Denn was man gerade braucht, darum bemüht man sich und gibt etwas anderes dafür. In diesen Zusammenhang ließe sich auch die Freundschaft zwischen Liebhaber und Geliebtem, zwischen dem Schönen und dem Häßlichen einbeziehen. Daher machen denn die Liebhaber bisweilen einen lächerlichen Eindruck, indem sie verlangen, daß ihre Leidenschaft im selben Maß erwidert werde. Nun, wenn sie im gleichen Grad liebens-wert sind, kann man ein solches Verlangen vielleicht noch stellen, ist aber von solcher Gleichheit keine Rede, so wirkt es lächerlich. Vielleicht strebt übrigens Gegensätzliches zu Gegensätzlichem gar nicht an sich, sondern nur akzidentell, und das wirkliche Ziel des Begehrens ist das Mittlere. Das Mittlere 4 stellt nämlich einen Endwert dar: so ist es z. B. für das Trockene nicht Endziel feucht zu werden, sondern zu einem mittleren Zustand zu gelangen, und für das Heiße und alles übrige gilt das Gleiche. Diese 6 Dinge wollen wir nun beiseite lassen, denn sie gehören in der Tat nicht hierher. 11. Die Erfahrung lehrt, wie eingangs 6 gesagt, daß sich Freundschaft und Recht auf demselben Gebiet und unter denselben Personen entfalten, denn in jeder Gemeinschaft gibt es, so nimmt man an, ein Recht 7 und auch Freundschaft. Jedenfalls ist es üblich, seine Reiseund Kriegsgefährten 8 als „Freunde" anzusprechen, und ebenso die, welche mit uns irgendeine andere Form von Gemeinschaft teilen. Und soweit Gemeinschaft ist, soweit ist Freundschaft, denn soweit ist auch Recht. Und das Sprichwort 9 : „Freundesgut, gemeinsam' G u t " ist richtig. Denn Freundschaft setzt Gemeinschaft voraus. Brüder und

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Kameraden haben alles gemeinsam, die anderen 1 nur abgegrenzte Dinge, und zwar die einen eine größere, die anderen eine geringere Anzahl (davon), denn auch die Freundschaften unterscheiden sich nach größerer oder geringerer Intensität. Aber auch das Recht zeigt sich in verschiedenen Formen. Denn es bestehen nicht dieselben Rechtsver- usoa hältnisse zwischen Eltern und Kindern wie zwischen Brüdern untereinander, auch zwischen Kameraden und Bürgern einer Polis sind es nicht die gleichen, und dasselbe gilt bei den übrigen Freundschaftsformen. Entsprechend sind auch die Formen des Unrechts, das gegen jedes Glied der genannten Gemeinschaften denkbar ist, verschieden. Und zwar nimmt die Schwere zu, je näher uns der Freund steht, gegen den sich das Unrecht richtet. Schwerer wiegt es den Kameraden um sein Geld zu bringen als einen Mitbürger, schwerer dem Bruder nicht zu Hilfe zu kommen als einem Fremden, schwerer den Vater zu schlagen als irgendeinen andern. Es wächst eben organisch mit der Freundschaft auch die Verbindlichkeit des Rechts: Freundschaft und Recht bestehen im selben Personenkreis und haben die gleiche Ausdehnung. Die Gemeinschaftsformen aller Art sind nichts anderes als Teile der (großen) Polisgemeinschaft. Denn die Partner ziehen zu gemeinsamer Unternehmung aus, indem sie auf einen bestimmten Nutzen rechnen, und um Güter des täglichen Bedarfs zu besorgen. Und so hat sich um des Nutzens2 willen bekanntlich einst auch die Gemeinschaft der Polis zusammengeschlossen und bleibt als solche bestehen. Dies ist ja auch das Ziel3 der Gesetzgebung, und als Recht wird das bezeichnet, was das Gemeinwohl fördert. Es ist nun so, daß die anderen* Gemeinschaften ihren Vorteil auf einem Teilgebiet erstreben. Wer zur See fährt, sucht Gewinn, wie er der Seefahrt entspricht, in Richtung auf Gelderwerb" und dergleichen; Kriegsgefährten suchen Gewinn, wie Cr dem Kriegshandwerk entspricht: ihr Ziel ist Reichtum, Sieg oder die Eroberung einer Stadt, und ähnlich ist es bei den Genossen einer Phyle oder eines Demos. Manche Gemeinschaften entstehen übrigens, wie man annimmt, um der Lust willen, z. B. Kult- 8 und Schmausgenossenschaften. Deren Zweck sind Opferfeste und geselliges Beisammensein - alle 7 diese Gemeinschaften sind offenbar der umfassenden Polisgemeinschaft untergeordnet, denn diese strebt nicht nach dem Vorteil des Augenblicks, sondern nach dem, was das Leben als Ganzes voranbringt - sie feiern Opfer, um die sie eine Festgemeinde scharen, sie erweisen den Göttern Ehre und verschaffen sich selbst frohe Er*Spannung. Es läßt sich nämlich beobachten, daß in alter Zeit die

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Opferfeste mit ihren Versammlungen gerade nach der E r n t e , gleichsam als Erstlingsopfer gefeiert wurden. Denn das war die Jahreszeit, wo das Volk am ehesten Muße dazu h a t t e . So zeigt sich denn, daß alle Gemeinschaftsformen Sonderteile der großen Polisgemeinschaft sind. Diesen Sondergemeinschaften aber werden auch Sonderformen der F r e u n d s c h a f t entsprechen. 12. Es gibt drei 1 Arten von Polisverfassung u n d eine gleiche Anzahl von A b a r t e n 2 , m a n k a n n auch sagen Zerstörungen (der Grundform). Die Grundformen sind: das Königtum, die Aristokratie u n d an dritter Stelle die auf der Einstufung nach dem Vermögen beruhende, f ü r die der N a m e T i m o k r a t i e 3 angebracht erscheint, obwohl die meisten sie einfach als Politie (Verfa6sungsstaat) zu bezeichnen pflegen. Von diesen dreien ist die beste das Königtum, die schlechteste 4 die Timokratie. lieob Die Abart des Königtums ist die Tyrannis, denn beide bedeuten die Herrschaft eines einzigen, aber der Unterschied ist außerordentlich groß: der T y r a n n schaut n u r auf seinen Vorteil, der König aber auf das Wohl der U n t e r t a n e n , denn König ist nur, wer allseits unabhängig und an allen Gütern überlegen ist. I n solcher Stellung aber h a t er nichts weiter v o n n ö t e n : auf persönlichen Vorteil wird er nicht schauen, dagegen auf das Wohl derer, die u n t e r seiner Herrschaft leben - sind nämlich diese Voraussetzungen nicht gegeben, so wäre er (nur) eine Art erlöster® König. Die Tyrannis ist das Gegenstück zum (echten) K ö n i g t u m : der T y r a n n verfolgt n u r seinen persönlichen Vorteil. Und bei ihr ist es noch eindeutiger (als bei der Timokratie), d a ß sie die schlechteste Abart ist, denn am schlechtesten ist, was dem Besten entgegengesetzt ist. Vom Königtum verläuft die E n t w i c k l u n g 6 zur Tyrannis, denn die Tyrannis ist eine E n t a r t u n g der Alleinherrschaft u n d ein schlechter König wird zum Tyrannen. Aus der Aristokratie entwickelt sich die Oligarchie durch die Verderbtheit der herrschenden Schicht. Sie verteilen, was in der Polis zu teilen ist, nicht nach der W ü r d i g k e i t : die Güter geben sie - alle oder zum größten Teil - sich selbst, die Ämter dauernd den gleichen Personen, denn oberstes Ziel ist ihnen der Reicht u m . So wird die herrschende Schicht kleingehalten, u n d es sind nicht die Besten, die ihr angehören, sondern die Schlechten. Aus der Timokratie entwickelt sich die Demokratie: die beiden grenzen 7 aneinander. Eine Herrschaft der Mehrheit will ja ihrem Wesen nach auch die Timokratie sein, u n d alle Angehörigen der Vermögensklassen gelten als gleich. Am wenigsten 8 tief steht (unter den Abarten) die Demokratie,

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da sie nur in einem geringen Grade von der Form der Politie abweicht. Das also sind die Hauptformen der Veränderung von Polis-Verfassungen, denn so entwickeln sich die Etappen des Ubergangs ganz unmerklich und ohne besondere Gewaltsamkeit. Analogien zu den Verfassungsformen, sozusagen Musterfälle, kann man auch an den Hausgemeinschaften beobachten. So hat die Gemeinschaft des Vaters zu den Söhnen die Gestalt einer Königsherrschaft, denn die Sorge um die Kinder ist Aufgabe des Vaters, weshalb j a auch Homer 1 den Zeus „ V a t e r " nennt. Das Königtum will eben seinem Wesen nach ein väterliches Regiment sein. Bei den Persern dagegen gleicht die väterliche Gewalt einer Tyrannis; die Söhne 2 6ind dort gleich Sklaven. Einer Tyrannis gleicht auch das Verhältnis des Herrn zum Sklaven, denn es ist der Vorteil des Herrn, um den es sich hier handelt. Dieses Verhältnis nun erscheint als richtig, der persische Brauch dagegen als falsch, denn je nach den Partnern ist auch die Herrschaftsform verschieden. Das Verhältnis des Mannes zur Frau hat die Merkmale einer Aristokratie. Denn hier herrscht der Mann gemäß dem (ihm eigentümlichen) Rang, und er herrscht in den Dingen, für die er zuständig i s t ; was aber in den Bereich der Frau gehört, das überläßt er ihr. Wenn aber der Mann im ganzen Hauswesen Herr sein will, so macht er (aus der Aristokratie) eine Oligarchie, denn sein Tun ist eine Verletzung des richtigen Rangverhältnisses, und er herrscht nicht kraft seines (natürlichen) Vorranges. E s kommt auch 1101» vor, daß die Frau das Regiment führt, weil sie ein reiches E r b e 3 mitgebracht hat, aber dieses Regiment entspricht dann nicht dem charakterlichen Wert, sondern beruht auf Reichtum und Einfluß wie in den Oligarchien. Das Verhältnis von Brüdern 4 zueinander gleicht der Timokratie: zwischen ihnen ist Gleichheit - bis auf den Altersunterschied. Wenn daher dieser Abstand sehr groß ist, so bleibt ihre Freundschaft nicht mehr die von Brüdern. „ D e m o k r a t i e " ist vor allem da zu finden, wo es ein Zusammenhausen ohne jedes Oberhaupt gibt - denn da ist die Basis für alle gleich - , oder in Gemeinschaften, wo die Führung schwach 5 ist und jeder tun kann, was er will. 13. In jeder 6 der (genannten) Polisformen tritt nun auch Freundschaft in Erscheinung, und zwar im selben Ausmaß wie das Recht 7 . Bei dem Verhältnis des Königs zu seinen Untertanen zeigt sie sich in dem weiten Vorsprung seines Wohltuns. Denn er tut den Untertanen Gutes - falls 8 er als guter (König) um ihr Wohl besorgt ist, damit es ihnen gut gehe besorgt wie ein Hirt für seine Schafe, weshalb Homer 9

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den Agamemnon als „ H i r t e n der M a n n e n " gepriesen h a t . Von solcher Axt ist auch die F r e u n d s c h a f t des Vaters, n u r daß sie sich durch die Größe der W o h l t a t e n (von der des Königs) unterscheidet. Denn er ist Ursache des Daseins, also dessen, was als Höchstes 1 gilt, sowie der N a h r u n g u n d der Erziehung. Auch den Vorfahren erkennt m a n übrigens diese Leistung zu. Und das Herrschaftsverhältnis: Vater - Sohn, Vorfahre - Nachfahre, König - U n t e r t a n ist in der N a t u r begründet. Grundlage dieser Freundschaftsformen ist die Überlegenheit (des einen P a r t n e r s ) : deshalb werden die E l t e r n j a auch durch E h r - e r b i e t u n g ausgezeichnet. U n d so ist d e n n das Recht bei diesen Verhältnissen nicht das gleiche, sondern richtet sich je nach dem Rangverhältnis, denn auch bei der Freundschaftsbeziehung ist es so. Das Freundschaftsverhältnis zwischen Mann u n d F r a u ist dasselbe wie in der Aristokratie: seine Grundlage ist der persönliche W e r t : dem wertvolleren (Partner) wird größerer Gewinn zugeteilt: jedem das f ü r ihn Passende - u n d so auch das Recht. Die F r e u n d s c h a f t zwischen B r ü d e r n gleicht der zwischen K a m e r a d e n . Sie sind einander gleichgestellt u n d Altersgenossen: dies aber bedeutet in der Regel Gleichheit des Empfindens 2 u n d Gleichheit des Charakters. Dieser F r e u n d s c h a f t ist auch die ähnlich, die es in der Timokratie g i b t : das Wesen dieser Verfassung erfüllt sich in Bürgern, die gleichgestellt u n d trefflich sind. So f ü h r e n sie die Herrschaft abwechselnd u n d auf gleicher Basis u n d dementsprechend gestaltet sich auch ihre Freundschaft. Dagegen ist in den e n t a r t e t e n Verfassungen entsprechend dem geringen U m f a n g des Rechts auch n u r wenig "Freundschaft zu finden, a m wenigsten natürlich in der schlechtesten: in der Tyrannis gibt es wenig oder gar keine F r e u n d s c h a f t , denn wo zwischen Herrscher u n d Beherrschtem keinerlei Gemeinsamkeit besteht, da gibt es auch keine F r e u n d s c h a f t : es gibt hier j a auch kein Recht. Das Verhältnis ist wie das des Handwerkers zum Werkzeug, der Seele zum Leib, des H e r r n n«ib z u m Sklaven: all das erfährt zwar vom Benutzer eine gewisse Aufm e r k s a m k e i t 3 , aber Freundschaft k a n n es zum Leblosen nicht geben u n d auch keine Rechtsbeziehung. Aber auch nicht zu einem Pferd oder einem Ochsen u n d nicht zu einem Sklaven als Sklaven, denn hier ist keinerlei Gemeinsamkeit. Denn der Sklave ist ein lebendes Werkzeug u n d das Werkzeug ein lebloser Sklave. Zum Sklaven als Sklaven gibt es also keine F r e u n d s c h a f t , wohl a b e r 4 sofern er Mensch ist. Denn bekanntlich gibt es f ü r jeden Menschen eine A r t Rechtsbeziehung zu

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jedem Wesen, das an Satzung und vertraglichem Übereinkommen Anteil haben kann, und deshalb alsp ist auch Freundschaft denkbar sofern dieses Wesen ein Mensch ist. In bescheidenem Umfang gibt es also auch unter der Tyrannenherrschaft freundschaftliche Beziehungen und Rechte, in der Demokratie dagegen in weiterem Ausmaß, denn wo die Bürger einander gleichgestellt sind, gibt es viele Gemeinsamkeiten. 14. Freutadschaft bedeutet also immer Gemeinschaft, wie wir festgestellt 1 haben; die Freundschaft von Blutsverwandten 2 und die Kameradschaft darf man indes als Sonderformen betrachten, während die Beziehungen, die sich aus dem Polisleben oder aus der Gemeinschaft der Phyle 3 oder einer Reise ergeben, mehr die Merkmale der Freundschaft im Sinne einer (äußeren) Gemeinschaft haben; denn sie beruhen offenbar auf einer Art von Übereinkommen. Zxf ihnen darf man wohl auch die Gastfreundschaft rechnen. Die Freundschaft unter Blutsverwandten ist, wie das Leben zeigt, sehr vielgestaltig 4 , doch lassen sich alle Variationen mit dem Verhältnis des Vaters zu seinen Kindern in Verbindung bringen. Denn die Eltern lieben ihre Kinder als einen Teil ihres eigenen Wesens, die Kinder ihre Eltern als ein Teil aus deren Wesen. Die Eltern haben aber (1) ein tieferes Bewußtsein von dem Zusammenhang mit ihren Kindern als umgekehrt die Kinder von dem Zusammenhang mit ihren Eltern. Und stärker ist (2) das Band der Zugehörigkeit zwischen Verursachendem und Erzeugtem als zwischen dem Gewordenen und seiner Ursache: das aus etwas Entstandene gehört wesensmäßig zu dem, woraus es entstanden ist - Zähne, Haare oder sonst etwas gehören dem, der sie hat, während das, woraus etwas entstanden ist, keineswegs oder nur in minderem Grade dem „gehört", was entstanden ist. Es besteht auch (3) ein zeitlicher Unterschied: die Eltern lieben das Kind gleich bei der Geburt, das Kind aber zeigt erst mit der Zeit Gegenliebe, wenn es zum Gebrauch des Verstandes oder der Sinne gekommen ist. Daraus erklärt sich auch, warum die Mutterliebe 5 größer ist. Man sieht also: die Eltern lieben das Kind wie sich selbst - was aus ihnen entstanden ist, existiert j a nach dem Akt der Loslösung gleichsam als zweites Ich weiter - , das Kind aber liebt seine Eltern, weil es von ihnen stammt. Brüder* lieben sich wegen der Identität des Ursprungs. Denn das Identitätsverhältnis in bezug auf den Ursprung macht sie auch gegen-

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seitig zu etwas Identischem. Daher die Ausdrücke: „gleichen Blutes", „ a u s gleicher W u r z e l " 1 usw. Sie sind somit in gewissem Sinn etwas Identisches, n u r in getrennten Existenzen. Großen Einfluß auf die F r e u n d s c h a f t h a t das Moment des gemeinsamen Aufwachsens und der Gleichaltrigkeit. D e n n : „Gleiche J a h r e 2 , gleiche F r e u d e n " u n d gegenseitige Vertrautheit f ü h r t zu K a m e r a d schaft. D a r u m ist auch das Verhältnis der Brüder dem der K a m e r a d e n 3 lieia ähnlich. Zwischen Vettern aber und den sonstigen Blutsverwandten besteht aus diesem Grunde - weil sie ja vom selben Stamme k o m m e n ein B a n d der Zugehörigkeit, u n d zwar stehen sie einander näher oder ferner, je n a c h d e m , ob der S t a m m v a t e r des Geschlechts nahe oder fern ist. Die F r e u n d s c h a f t der Kinder zu den Eltern und der Menschen zu den G ö t t e r n 4 bedeutet F r e u n d s c h a f t zu etwas Wertvollem u n d Überlegenem. Denn sie (die Eltern) sind die Spender der größten Wohlt a t : ihnen verdanken die Kinder Leben u n d N a h r u n g u n d d a n n auch Erziehung. Außerdem bietet solche Freundschaft auch L u s t u n d N u t z e n in höherem Grade als die zu f r e m d e n 6 Menschen, insofern eben die gemeinsame Lebensgrundlage breiter ist. F e r n e r 6 sind in der F r e u n d s c h a f t von Brüdern dieselben Elemente zu finden wie in .der von K a m e f a d e n , und zwar noch ausgeprägter bei Brüdern, die gut sind - u n d es sind, allgemein gesagt, dieselben Elemente wie in der F r e u n d s c h a f t von Gleichen, insofern nämlich Brüder noch enger zusammengehören und von Geburt auf eine festgegründete Liebe zueinander h a b e n ; u n d weiterhin, insofern die charakterliche Verwandtschaft bei denen stärker ist, die von gleichen E l t e r n s t a m m e n u n d miteinander aufgewachsen u n d gleichartig erzogen worden sind. Dazu k o m m t die E r p r o b u n g durch die Zeit, die (bei Brüdern) besonders eindringlich u n d zuverlässig ist. - Dem Verwandtschaftsgrad entsprechen die Freundschaftsverhältnisse auch bei den übrigen Blutsverwandten. Die Freundschaft zwischen Mann u n d F r a u ist n a c h allgemeiner Annahme eine Naturgegebenheit. Denn der Mensch ist von N a t u r ein Wesen, das eher auf die Gemeinsamkeit zu zweien 7 , als auf die (umfassende) der Polis eingestellt ist, und zwar u m so mehr als die Hausgemeinschaft ursprünglicher als die Polis ist und mehr den Charakter der Notwendigkeit h a t u n d der Trieb nach Fortpflanzung dem Lebewesen in umfassenderer Weise eingepflanzt ist. W ä h r e n d n u n bei den Tieren die Gemeinschaft n u r so weit (nämlich bis zur P a a r u n g ) reicht, schließen die Menschen nicht n u r wegen der Fortpflanzung eine H a u s -

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gemeinschaft, sondern auch wegen der Bedürfnisse des täglichen Lebens. Denn von vornherein sind die Aufgaben geteilt: die Arbeit des Mannes ist eine andere als die der Frau. Und so helfen sie sich gegenseitig, indem jedes das Seine zum Ganzen beisteuert. Daher ist bekanntlich auch Nutzen und Lust in dieser Freundschaft zu finden. Sie kann aber auch 1 sittliche Vortrefflichkeit als Fundament haben, wenn beide Partner gut sind. Denn jedes hat seinen Wesensvorzug, und an solchem Verhältnis mögen sie dann ihre Freude 2 haben. Kinder sind, wie die Erfahrung zeigt, ein festes Band. Daher tritt bei Kinderlosen 3 rascher die Entfremdung ein. Kinder sind j a ein gemeinsames Gut für die E l t e r n : das Gemeinsame aber verbindet. Die Frage aber, w i e die Form des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau, allgemein gesagt, zwischen Freund und Freund sein soll, ist nichts anderes als die Frage nach der Verwirklichung der Gerechtigkeit. Denn es zeigt sich, daß das Recht nicht das gleiche ist, wenn man das Verhältnis eines Freundes zu einem Freund oder einem Fremden oder einem Kameraden oder zu einem Schulgefährten ins Auge faßt. 15. Dreifach ist also, wie eingangs gesagt 4 , die Freundschaft gegliedert. Dabei sind innerhalb einer jeden Art die einen auf der Grundlage der Gleichheit miteinander befreundet, die anderen im Sinne einer Überlegenheit der einen Seite. Denn Freundschaft ist einmal möglich zwischen Menschen, die an sittlichem Wert gleich sind, aber auch zwischen einem Besseren und einem minder Guten; ebenso (besteht ii62b die zweifache Möglichkeit) bei denen, die sich Lust, und bei denen, die sich Nutzen bieten; (bei beiden letzteren), indem sie in der Gewährung der Vorteile entweder einander gleich oder voneinander verschieden sind. Diese Gliederung vorausgesetzt, gilt: Freunde, die gleich sind, müssen die Gleichheit nach Maßgabe einer exakten Gleichheit in Zuneigung und den sonstigen Beziehungen verwirklichen, ungleiche Freunde dagegen müssen sich gegenseitig das leisten, was ihrer Überlegenheit 5 proportional ist. Die (üblichen) Vorwürfe und Beschwerden entstehen allein oder vorwiegend in der Nutzfreundschaft, wie nicht anders zu erwarten; denn wo die Freundschaft auf sittlichem Wert beruht, da sind die Freunde darauf bedacht, sich gegenseitig wohlzutun - dies ist j a für (jede) Trefflichkeit und für die Freundschaft charakteristisch - , und bei Freunden, die h i e r i n wetteifern, kann es keine Vorwürfe und Streitigkeiten geben. Denn Freundesgesinnung und Wohltun zu erfahren ist für niemanden Anlaß zu Verdruß, im Gegenteil: ein fein empfindender

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Mensch, „ r e v a n c h i e r t 1 s i c h " d u r c h Gegengabe. W e r andererseits d u r c h die größere L e i s t u n g (seinen F r e u n d ) ü b e r t r i f f t , k a n n diesem eigentlich k e i n e n Vorwurf m ä c h e n : er erreicht j a eben das, was er m ö c h t e ; d e n n j e d e r 2 Mensch s t r e b t n a c h d e m , was ein W e r t ist. Aber a u c h bei F r e u n d e n , die u m der L u s t willen z u s a m m e n sind, ( k o m m e n Vorwürfe) nicht gerade häufig (vor), d e n n beiden wird zur gleichen Zeit das zuteil, w o n a c h sie s t r e b e n , w e n n es das Z u s a m m e n leben ist, w o r a n sie ihre F r e u d e h a b e n . U n d a u ß e r d e m w i r k t es n u r lächerlich, w e n n j e m a n d d e m a n d e r e n v o r w i r f t , sein U m g a n g sei n i c h t erfreulich - wo es i h m doch f r e i s t e h t , auf d a s Z u s a m m e n s e i n 3 m i t i h m zu v e r z i c h t e n . Dagegen b i e t e t die N u t z f r e u n d s c h a f t reichen A n l a ß zu Beschwerden. D e n n da sie n u r wegen des eigenen Vorteils beieinander sind, v e r l a n g t j e d e r stets d e n größeren Anteil u n d f ü r c h t e t , es k ö n n e i h m v o n d e m g e b ü h r e n d e n M a ß etwas e n t g a n g e n sein. Sie beschweren sich a u c h , n i c h t soviel zu e r h a l t e n , als sie zu b e a n s p r u c h e n h a b e n , obwohl sie es v e r d i e n t e n . Die L e i s t u n g e n des Gebenden a b e r k ö n n e n m i t d e n A n f o r d e r u n g e n des E m p f a n g e n d e n gar n i c h t Schmitt h a l t e n . W i e es n u n b e i m R e c h t zwei A r t e n gibt, das ungeschriebene u n d das S a t z u n g s r e c h t , so l ä ß t sich a u c h wohl bei der N u t z f r e u n d s c h a f t eine G e s i n n u n g s - 4 u n d eine S a t z u n g s f r e u n d s c h a f t u n t e r s c h e i d e n . U n d so k o m m t es zu gegenseitigen V o r w ü r f e n d a n n vor allem, w e n n die P a r t n e r i h r e Beziehung nicht i m Sinne derselben F r e u n d s c h a f t s a r t beginnen u n d lösen. S a t z u n g s f r e u n d s c h a f t ist die auf (genaue) F e s t l e g u n g e n 5 g e g r ü n d e t e . U n d zwar gibt es d a einen ganz geschäftsm ä ß i g e n T y p u s , ein M a r k t e n „ a u s der H a n d 6 in die H a n d " , u n d einen großzügigeren T y p u s m i t längeren T e r m i n e n , doch n i c h t o h n e ein Ü b e r e i n k o m m e n bezüglich Leistung u n d Gegenleistung. Bei diesem T y p u s ist die Verbindlichkeit d u r c h a u s klar umrissen u n d n i c h t zweifelh a f t , doch ist d u r c h die Möglichkeit einer T e r m i n v e r l ä n g e r u n g 7 ein freundschaftliches E l e m e n t gegeben. D a h e r ist m a n c h e r o r t s keine R e c h t s e n t s c h e i d u n g f ü r solche Fälle vorgesehen. Man ist v i e l m e h r d e r M e i n u n g : wer auf T r e u u n d G l a u b e n 8 eine G e s c h ä f t s b e z i e h u n g eingegangen ist, müsse sich d a n n a u c h d a m i t a b f i n d e n . Die N u t z f r e u n d s c h a f t , welche auf Gesinnung b e r u h t , k e n n t k e i n e g e n a u e n Festlegungen, sondern w e n n hier (A d e m B) ein Geschenk m a c h t oder sonst einen Gefallen erweist, so gilt d a s d e m P a r t n e r (B) insofern er als F r e u n d angesehen wi»J, n u r d a ß der G e b e n d e (A) d a m i t r e c h n e t ' , gleich viel oder m e h r als Gegenleistung zu e r h a l t e n , so, als

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habe er nickt etwas geschenkt, sondern geliehen. Und wenn er (A) nicht unter denselben günstigen Umständen die Freundschaft lösen kann, unter denen er sie geknüpft hatte, so wird er Beschwerden (gegen B) vorbringen. Dazu muß es aber kommen, weil alle, oder doch die meisten, das Gute und Edle wünschen, (im praktischen Verhalten) sich aber für das Nützliche entscheiden: es ist gut und edel Wohltaten zu erweisen ohne Gegenleistung zu erwarten, aber nützlich ist es, sich nas» von anderen Gutes t u n zu lassen. B also 1 soll, wenn er dazu in der Lage ist, mit entsprechender Gegenleistung das Empfangene vergelten (und damit die Sache beenden); und zwar aus freien Stücken, denn man soll ein Freundschaftsverhältnis nicht forcieren. Die Beilegung der Angelegenheit (durch B) muß schließlich von der Einsicht ausgehen, daß er sich von. allem Anfang an geirrt und die Wohltat von jemandem (von A) angenommen habe, von dem er sie nicht hätte annehmen dürfen - nämlich von einem Mann, der kein (echter) Freund war und der eben nicht aus (echter) Freundschaft und aus keinem anderen Grunde so handelte - , kurz: B muß die Angelegenheit so beilegen, wie wenn er eine Freundschaftsleistung unter genau festgelegter Bedingung empfangen hätte. Und B hätte sich ja auch (wenn A es gleich anfangs verlangt hätte) verpflichtet, eine Gegenleistung zu machen, vorausgesetzt, daß er dazu in der Lage wäre. Im Falle des Unvermögens aber h ä t t e nicht einmal der Geber (also A) die Gegenleistung beansprucht. Also: wenn man dazu in der Lage ist, soll man Leistung mit Gegenleistung beantworten. Von Anfang an aber muß man zusehen, von wem man die Wohltat •annimmt und unter welcher Bedingung sie geleistet wird, damit man sich unter dieser Voraussetzung die Wohltat gefallen lassen oder sie ablehnen kann. Eine offene Frage ist, ob man bei der Festsetzung des Maßes von dem Nutzen des Empfängers ausgehen und die Gegenleistung darnach einrichten soll - oder von der Leistung des Gebers. Denn der Empfänger verkleinert grundsätzlich: er sagt, was er vom Geber erhalten habe, sei für diesen eine Kleinigkeit gewesen, das habe er auch von anderer Seite bekommen können; der Geber dagegen behauptet, das Äußerste, was ihm möglich war, getan zu haben - was von anderer Seite unmöglich (zu bekommen) war - und dies in Gefahr oder ähnlichem Notstand. H a t nun, da es sich um Nutzfreundschaft handelt, der Nutzen des Empfängers den Maßstab zu bilden? Denn er ist es, der etwas braucht,

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u n d der andere hilft ihm in der E r w a r t u n g , ein Gleiches zurückzuerhalten. Die Höhe der Hilfeleistung 1 ergibt sich also aus der Größe des von ihm empfangenen Nutzens u n d so m u ß er so viel zurückerstatten, als er Vorteil genossen h a t , oder noch mehr, denn das wäre edler. I n der auf sittlichen Wert gegründeten F r e u n d s c h a f t dagegen gibt es zwar keine gegenseitigen Vorwürfe, aber es gibt einen Maßstab. Als solcher darf die I n t e n t i o n des Gebers gelten, denn f ü r die ethische Trefflichkeit sowohl wie f ü r den Charakter ist das entscheidende Element die I n t e n t i o n . 16. Zu Zerwürfnissen k o m m t es auch in den Freundschaften, die auf der Überlegenheit 2 des einen Teils beruhen. Denn jeder der beiden (ungleichen Partner) beansprucht mehr zu erhalten. Sobald dies aber geschieht, geht die Freundschaft auseinander. Denn einerseits meint der Tüchtigere, ihm .komme der größere Anteil zu, denn es sei üblich, dem Trefflichen mehr zu geben - und andererseits rechnet der Nützlichere in. ähnlicher Weise. Denn wer keinen N u t z e n 3 bietet, darf nach allgemeiner Ansicht nicht den gleichen Anteil haben (wie der Nützliche). Es laufe j a auf eine offizielle Pflichtleistung 4 hinaus und sei keine Freundschaft mehr, wenn der E r t r a g der F r e u n d s c h a f t nicht in einem gebührenden Verhältnis zu den Leistungen (der P a r t n e r ) stehe. Man meint nämlich: wie bei einem Geldgeschäft d e r P a r t n e r mehr an Gewinn herausbekommt, der mehr beisteuert 5 , so müsse es auch in der Freundschaft sein., Der Hilfsbedürftige u n d der geringere P a r t n e r dagegen denkt u m g e k e h r t : ein guter Freund h a b e dem zu helfen, der in Not ist. Denn was n ü t z t es, sagen sie, mit einem tüchtigen Menschen oder einem Machthaber befreundet zu sein, wenn nichts dabei herausspringen soll? neab Es sieht so aus, als h ä t t e n beide Teile recht mit ihrem Anspruch u n d als m ü ß t e m a n beiden P a r t n e r n einen größeren Gewinn aus der Freundschaft zuteilen - freilich nicht Gewinn von der gleichen Art, sondern dem Überlegenen mehr Ehre, dem Hilfsbedürftigen mehr äußeren Vorteil. Denn E h r e 4 ist der Lohn der Tüchtigkeit u n d des Wohltuns Gewinn ist Hilfe in der Not. D a ß es so ist, k a n n m a n auch im Leben der Polisgemeinde beobachten : wer zum Wohle der Gesamtheit gar nichts beiträgt, genießt keine Ehre. Denn ein Gut der Gesamtheit wird nur dem gegeben, der das Wohl der Gesamtheit f ö r d e r t : die E h r e aber ist ein Gut, das die Gesamtheit verleiht. Es ist nämlich unvereinbar, auf K o s t e n 7 der Ge-

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samtheit Geschäfte zu machen u n d (von der Gesamtheit) E h r e aju empfangen. Denn niemand findet sich d a m i t ab, in allen Stücken im Hintertreffen zu sein: wer also bei äußerem Gewinn zurücksteht, d e m gibt die Polis E h r e , u n d wer auf Bezahlung 1 W e r t legt, e m p f ä n g t Geld. Denn das Zuteilen je nach der Würdigkeit wirkt ausgleichend u n d erhält die F r e u n d s c h a f t , wie wir festgestellt 2 h a b e n . So also müssen auch ungleiche P a r t n e r ihre gegenseitigen Beziehungen gestalten. Wer in Hinsicht auf äußeren Besitz oder persönliche TrefP : .chkeit Förderung erfährt, m u ß dem Freunde als Gegenleistung E h r e bieten, -ind zwar so gut er dazu in der Lage ist. Denn die Freundschaft verlangt n u r das Mögliche 3 , nicht was (exakt) d e m Verdienste entspricht. Dieses letztere läßt sich j a auch gar nicht in allen Fällen verwirklichen, so bei den Ehren, die m a n den Göttern oder den Eltern e n t b i e t e t : hier k a n n man niemals dem Verdienst entsprechend vergelten. Doch wer ihnen nach besten K r ä f t e n 4 dient u n d sie verehrt, gilt als gut. Daher gilt es auch als unerlaubt, daß ein Sohn sich von seinem Vater, nicht aber d a ß ein Vater sich von seinem Sohn lossagt 5 . Wer in Schuld steht, h a t Gegenleistung zu bieten. Aber ein Sohn, auch wenn er a k t i v gewesen ist, h a t nichts zustande gebracht, was die Vor-Leistung des Vaters gebührend abdingen k ö n n t e : er bleibt also immer in Schuld. Aber dem Gläubiger steht es frei, (jemanden aus einer Bindung) zu entlassen, und so auch dem Vater. Zugleich allerdings gilt, d a ß wohl niemand sich von seinem Sohne wendet, außer er wäre ganz ungewöhnlich verkommen. Denn auch abgesehen von der natürlichen Zuneigung (zwischen Vater u n d Sohn) ist es im menschlichen Wesen begründet, Hilfe 6 (des Sohnes) nicht von sich zu stoßen. Der Sohn allerdings, wenn er wirklich verkommen ist, wird sich gerne der Hilfeleistung entziehen oder ihr ohne besonderen Eifer nachkommen. Denn Gutes empfangen möchten die meisten, aber Gutes t u n - das scheuen sie: sie sehen darin keinen Vorteil. Soviel zu diesem T h e m a .

BUCH IX 1. I n allen 1 ungleichartigen 2 Freundschaften schafft das proportionale Verfahren den Ausgleich u n d erhält die F r e u n d s c h a f t , wie wir festgestellt 3 haben. I n der Gemeinschaft der Polis z. B. erhält der Schus t e r 4 f ü r seine Schuhe den entsprechenden Gegenwert und ebenso der na« a Weber" u n d die übrigen Handwerker. N u n ist in der Polis ein allgemein verbindliches Maß bereitgestellt, nämlich das Geld: somit wird alles darauf bezogen u n d an ihm gemessen. I n der sinnlichen 6 Gemeinschaft aber m a c h t der Liebhaber manchmal den Vorwurf, d a ß das Ü b e r m a ß seiner Leidenschaft nicht entsprechend erwidert werde, obwohl u n t e r U m s t ä n d e n gar nichts Liebens-wertes an ihm ist, u n d andererseits beschwert sich der Gehebte nicht selten, d a ß sein Freund zuvor alles mögliehe verheißen habe und nun nichts einlöse. Zu so unerquicklichen Dingen m u ß es immer d a n n kommen, wenn der eine seinen Geliebten u m der Lust, und dieser den Liebhaber u m des Nutzens willen liebt, die entsprechenden Möglichkeiten jedoch nicht beiden zu Gebote stehen. Ist nämlich dies der Grund ihrer F r e u n d s c h a f t , so k o m m t es immer d a n n zur Trennung, wenn sich nicht erfüllt, was der Zweck der Befreundung war. Denn ihre Neigung h a t t e nicht der Person des anderen gegolten, sondern dem, was sie einander zu bieten h a t t e n ; das aber war vergänglich - u n d so war es auch die F r e u n d s c h a f t . Die F r e u n d s c h a f t dagegen, welche der Wesensart des Partners gilt, ist, wie gesagt 7 , beständig, weil sie in sich gründet. Zu Zerwürfnissen k o m m t es auch 8 , wenn die P a r t n e r etwas anderes als Gegenleistung erhalten und nicht das, was sie erstreben. Denn es bedeutet soviel wie gar nichts bekommen, wenn m a n nicht das erreicht 9 , was m a n im Sinne h a t . Man denke an die Geschichte 1 0 von dem Kitharasänger. Dem versprach einer u m so höheren Lohn, je schöner er singen werde. Als er aber am Morgen darauf den versprochenen Lohn erbat, sagte der andere, sie seien q u i t t : er habe Lust f ü r Lust gegeben. Wenn es nun dies gewesen wäre, was beide wollten, so wäre alles gut gewesen. Wenn aber der eine den Genuß, der andere den Gewinn im Auge h a t t e , u n d der eine seinen Teil bekam, der andere aber nicht, so ist der Sinn der gemeinsamen Abmachung nicht eben g u t

lies b 82

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getroffen worden. Denn was jemand in einer bestimmten Lage haben möchte, darauf stellt er sich ein, und um dies zu erreichen wird er geben, was er zu geben hat. Wer soll nun den Wert der Leistung festsetzen? Wer freimütig 1 etwas hingibt oder wer die Gabe schon vorweg empfangen hat ? (Doch wohl der letztere), denn es sieht so aus, als überlasse es der erstere dem Empfänger. Protagoras soll es so gehalten haben. Am Ende seiner Lehrgänge - ganz gleich, welches Thema behandelt worden war - ließ er stets den Schüler abschätzen, wieviel das wohl wert sei, was er gelernt habe, und diesen Betrag nahm er dann entgegen. In solchen Fällen halten es aber manche lieber mit dem Spruch 2 : (Man gebe) „dem Manne sein Fixum". Wer im voraus das Geld (für seine Lehrtätigkeit) entgegennimmt, dann aber infolge der Maßlosigkeit der Ankündigung nichts von dem Verheißenen ausführt, setzt sich natürlich Vorwürfen aus, deim er erfüllt nicht, was vereinbart war. Zu solcher Praxis sind die Sophisten vielleicht (geradezu) gezwungen, weil wohl kein Mensch für das, was sie (wirklich) können, Geld zahlen würde. Diese also, wenn sie nicht ausführen, wofür sie Bezahlung erhalten haben, sehen sich dann begreiflicherweise in der Situation gegenseitiger Vorwürfe 3 . Wo aber kein gegenseitiges Übereinkommen über die (erwartete) Leistung 4 getroffen wird, da steht es so: wer freimütig um der P e r son 5 des Freundes willen gibt, ist, wie gesagt 6 , frei von Vorwurf dies geschieht in der auf ethischer Trefflichkeit beruhenden Freund- ne-i b schaft - und die Gegenleistung muß so erstattet werden, daß sie im rechten Verhältnis zur Intention (der Partner) steht: die Intention 7 ist ja gerade das Charakteristische bei Freundschaft und ethischer Trefflichkeit. Und so müßte es 8 eigentlich auch in der Gemeinschaft (von Lehrer und Schüler) der Philosophie gehalten werden: denn die Leistung (des Lehrers) kann nicht am Maßstab des Geldes gemessen werden und auch Ehre würde das Gleichgewicht nicht herstellen, aber es kann vielleicht Genüge geschehen, wenn der Schüler, wie in dem Verhältnis zu den Göttern und den Eltern, (dem Lehrer) das gibt, was in seinen Kräften steht. Wenn aber die Gabe nicht in dem bezeichneten 9 Sinn gemeint ist, sondern eine Gegenleistung bezweckt, so wäre die Hauptsache, daß die Gegenleistung in einer Form erfolgt, die beide Partner als angemessen empfinden. Sollte dies jedoch nicht möglich sein, so ist es nicht nur notwendig, daß der (den Wert) festsetzt, welcher die Gabe vor-

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weg entgegengenommen h a t , sondern es ist auch gerecht. Denn der Betrag, den e r , der E m p f ä n g e r , als tatsächlichen Nutzen behalten h a t oder den er f ü r den Genuß hinzugeben bereit gewesen wäre, diesen Bet r a g m u ß der Gebende wieder bekommen u n d d a n n wird er den vom E m p f ä n g e r zu erwartenden Gegenwert besitzen. Die E r f a h r u n g zeigt, d a ß es a u c h 1 auf dem offenen Markt so ist. Und mancherorts gibt es Gesetze, die bei freiwilligen Geschäftsa b m a c h u n g e n 2 eine Bereinigung durch Prozeß nicht zulassen, und zwar deshalb, weil m a n die Verbindung mit einem Geschäftspartner, mit dem m a n sich auf Treu u n d Glauben zusammengetan h a t t e , dann auch gemäß den Eingangsbedingungen wieder lösen sollte. Denn im Sinne des Gesetzes 3 ist es gerechter, wenn d e r die Entscheidung über den Wert trifft, dem etwas im Vertrauen überlassen 4 worden ist, als der, welcher dem andern die Sache mit Vertrauen überlassen h a t . Denn meistens 6 fällt die Schätzung einer Sache nicht gleich aus, wenn sie vom Besitzer u n d wenn sie vom Interessenten vorgenommen wird. J e d e m erscheint nämlich gerade das besonders wertvoll, was ihm vert r a u t e r Besitz ist u n d was er daranzugeben gedenkt, und doch geschieht der Austausch nach Maßgabe des Betrags, den der E m p fänger festsetzt. Es sollte aber der E m p f ä n g e r den Wert nicht so hoch einschätzen, wie er ihm als (nunmehrigem) Besitzer angemessen erscheint, sondern so, wie er ihn einschätzte, bevor er Besitzer geworden war. 2. Es gibt weitere Probleme«, wie z. B. dies (1), ob m a n seinem Vater alles gewähren und ihm in allem gehorchen solle oder ob m a n im K r a n k heitsfalle sich dem Arzte 7 fügen u n d bei einer Strategen wähl dem F a c h m a n n seine Stimme geben müsse. Desgleichen (2), ob m a n lieber dem Freunde oder lieber einem ausgezeichneten Manne gefällig sein u n d eher einem Wohltäter D a n k b a r k e i t bezeugen als einen Gefährten beschenken soll, falls die Mittel nicht f ü r beides ausreichen? Dies alles e x a k t gegeneinander abzugrenzen, ist das nicht schwierig 8 ? Denn im einzelnen gibt es da viele u n d verschiedenartige Abstufungen je nach der Größe oder Geringfügigkeit oder nach dem sittlichen Wert u n d der Notwendigkeit. Das eine (1') ist jedenfalls nicht zweifelhaft, d a ß m a n nicht alles auf ein u n d dieselbe Person zu häufen habe. Und (2') f ü r W o h l t a t e n den D a n k a b s t a t t e n geht in der Regel einer Gefälligkeit vor, die m a n dem Freunde erweisen könnte, wie m a n denn auch eher ein Darlehen an den Gläubiger zurückgeben sollte, bevor m a n einem Freunde ein Ge-

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schenk macht. Aber vielleicht gilt nicht einmal dies unter allen Umständen. Zum Beispiel 1 : ein Mann ist durch ein Lösegeld aus Räuberhand befreit worden: müßte der nun seinerseits seinen Befreier loskaufen, ganz gleich, wer es gewesen ist, oder müßte er ihm das Lösegeld zurückzahlen, auch wenn dieser nicht in Räuberhand gefallen ist, aber die Summe zurückhaben möchte - oder müßte er eher seinen lies» Vater loskaufen? Hier gilt doch, daß er seinen Vater loszukaufen hätte, sogar eher als sich selbst. Im allgemeinen also soll man, wie schon festgestellt 2 , eine Schuld zurückerstatten (2'). (Kommt man aber in die Lage, nach einer Seite hin geben zu können), wo das Geben durch sittlichen Wert oder durch Dringlichkeit (die ursprüngliche Rückerstattungspflicht) überragt, (so) soll man (nicht zuvor seine Schuld an den anderen abtragen, sondern) nach der Seite des Wertvollen oder Dringlichen hin (von der Regel) abweichen 3 . Denn manchmal bedeutet die Vergeltung für ursprünglich Empfangenes gar nicht Wiederherstellung der Gleichheit. Zum Beispiel: jemand (A) erweist einem anderen (B), dessen ausgezeichnete Art ihm bekannt ist, einen Dienst, empfängt dann aber von B Gegenleistung, obwohl B die Meinung hat, A sei ein minderwertiger Mensch. Es ist auch nicht immer nötig, dem, der Geld ausgeliehen hat, nun ebenfalls zu leihen. Denn es kann sein, daß A sein Geld an B, einen ordentlichen Menschen, ausgeliehen hat, weil er meinen durfte, er werde es wiederbekommen, während B keine Aussicht hat, es von A, einem minderwertigen Typ, wiederzubekommen. Diese Meinung kann nun den Tatsachen entsprechen: dann ist der Anspruch nicht gleich; sie kann aber auch nicht zutreffen, so daß es sich nur um feine Vermutung handelt: dann muß immerhin anerkannt werden, daß solches Handeln nicht unverständlich 4 ist. Im übrigen haben wir schon wiederholt 5 festgestellt, daß die wissenschaftliche Behandlung menschlichen Empfindens und Handelns nur eben den Exaktheitsgrad erreichen kann, den der Stoff zuläßt. Soviel nun ist allerdings klar, daß man nicht jedem Menschen gegenüber dieselben Verpflichtungen hat und auch seinem Vater (1') nicht alles zu gewähren braucht, wie ja auch dem Zeus nicht unterschiedlos jegliche 6 Opfergabe gespendet wird. Sondern, da Eltern, Brüder, Freunde und Wohltäter jeweils verschiedenes zu beanspruchen haben, so muß man jedem das bieten, was seiner Eigenart entspricht und zusagt. Und so ist es auch im Leben: zur Hochzeit 7 ladet man die Blutsverwandten, denn sie gehören zur Familie und somit zu den Familien-

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ereignissen. Auch bei der Leichenfeier 1 wünscht m a n in erster Linie die Blutsverwandten zu sehen - aus eben diesem Grund. U n d ferner gilt, d a ß m a n in erster Linie den Eltern zu ihrem Lebensunterhalt verhelfen soll, weil wir in diesem P u n k t e ihre Schuldner sind u n d es edler ist, die Urheber unseres Daseins damit zu versorgen als uns selbst. Auch E h r e sollen wir den E l t e r n entbieten, wie wir es den Gött e r n gegenüber t u n , freilich nicht wahllos 2 . Denn es soll ja auch nicht die gleiche E h r e dem Vater u n d der M u t t e r 3 erwiesen werden, u n d wiederum auch nicht eine E h r e wie sie dem Philosophen oder dem Strategen, sondern wie sie gerade dem Vater u n d wie sie gerade der Mutter gebührt. Und jedem älteren Manne soll m a n die E h r e geben, die seinen J a h r e n e n t s p r i c h t : sich vor ihm erheben 4 , ihm bei Tisch (den besseren) Platz anweisen und dergleichen. D e m Gefährten und dem Bruder gegenüber soll m a n sich offen u n d frei bewegen u n d alles mit ihnen teilen 8 . Und schließlich soll m a n versuchen, den Blutsverwandten, den Phylengenossen, den Mitbürgern u n d allen übrigen jeweils das zu geben, was ihrer Eigenart entspricht, u n d die Grundlage abzuwägen, die bei den einzelnen gegeben ist im Hinblick auf den Grad der Verwandtschaft, Trefflichkeit des Charakters oder Nützlichkeit. Das Urteil hierüber ist nicht allzu schwierig, wenn die Personen aus dem gleichen Kreise s t a m m e n ; wenn aus verschiedenen, ist es m ü h s a m e r 6 . Doch d a r u m jedenfalls sollten wir noch nicht davon abstehen, sondern so gut es geht die Abgrenzungen treffen. 3. Ein weiteres P r o b l e m 7 liegt darin, ob m a n bei einem P a r t n e r , der sich nicht gleich geblieben ist, die Auflösung der F r e u n d s c h a f t einlies b leiten soll oder nicht. Bei Freundschaften, die u m des Nutzens oder der Lust willen geschlossen waren - ist da die Auflösung zu dem Zeitp u n k t , wo diese Möglichkeiten nicht mehr gegeben sind, noch irgendwie befremdlich? Diesen (greifbaren) Dingen h a t t e j a die F r e u n d s c h a f t gegolten; wenn sie nicht mehr da sind, so h a t m a n guten Grund, die Freundschaft einzustellen. Dagegen ist Anlaß zum Vorwurf, wenn j e m a n d in der Zeit, wo er es auf N u t z e n oder Lust abgesehen h a t t e , so t a t , als gelte die Zuneigung dem Wesen des Freundes. Denn wie schon a n f a n g s 8 gesagt, entstehen u n t e r F r e u n d e n die meisten Zerwürfnisse, wenn sie nicht in dem Sinn Freunde s i n d , in dem sie es zu sein vermeinen. W e n n j e m a n d also sich getäuscht u n d gemeint h a t , er werde wegen seines (guten) Wesens geliebt - während der andere keinen aktuellen Anlaß zu dieser Meinung b o t , so h a t er sich selbst die Schuld zuzuschreiben. Ist er aber durch die bewußte Verstellung 9 des

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anderen getäuscht worden, so ist er im Recht, wenn er es dem Heuchler vorhält, und zwar mehr noch als wenn es sich u m einen Falschm ü n z e r 1 h a n d e l t e : je höher eben das im W e r t e stand, was durch die Gemeinheit verletzt wurde. Wenn aber j e m a n d , den m a n wegen seines ethischen Wertes als Freund angenommen h a t , minderwertig wird u n d sich dies nach außen zeigt, darf d a n n die F r e u n d s c h a f t noch fortgesetzt werden? Oder ist dies nicht vielmehr unmöglich, weil ja nicht alles liebens-wert ist, sondern n u r das Wertvolle? Das Minderwertige 2 aber ist weder liebenswert, noch darf es geliebt werden. Denn ein Freund der Minderwertigkeit darf m a n nicht sein, noch dem schlechten Freunde sich angleichen, nach dem schon zitierten 3 Satze, d a ß Gleiches dem Gleichen bef r e u n d e t ist. Soll m a n also die Freundschaft sofort auflösen oder nicht in jedem Fall, sondern n u r , wenn sie in ihrem Zustand unverbesserlich 4 sind? Wenn sie dagegen der Besserung 5 zugänglich sind, d a n n sollte m a n ihnen eher zur Besserung ihrer Wesensart als zu der ihrer äußeren Verhältnisse verhelfen, weil das (erstere) edler ist u n d mehr dem Wesen der Freundschaft entspricht. Allerdings, wer die Freundschaft auflöst, t u t damit offenbar nichts Befremdliches, denn sie galt dem anderen nicht insofern er diesen (veränderten) Charakter h a t t e . Da sein Freund also ein a n d e r e r 6 geworden ist und er ihn nicht mehr r e t t e n k a n n , t r e n n t er sich von ihm. Wenn aber A so bleibt wie er war, während B vollkommener und schließlich an ethischem Wert überragend 7 wird, soll B d a n n die Freundschaft noch weiter pflegen oder ist das nicht mehr möglich? Ist der A b s t a n d 8 sehr groß geworden, so t r i t t dies besonders deutlich hervor, z. B. bei J u g e n d f r e u n d s c h a f t e n . W e n n der eine an Verstand ein Kind geblieben, der andere aber zur Höhe seines Mannestums gelangt ist, wie könnten sie da noch Freunde sein ohne gemeinsame Neigung, gemeinsame Freuden u n d Leiden? Denn nicht einmal mehr in dem Verhältnis zueinander wird ihnen dies(e Einmütigkeit des Sichgefallens) gegeben sein; ohne diese aber schien 9 uns Freundschaft undenkbar, da (ohne sie) kein Zusammenleben möglich ist. Darüber h a b e n wir schon gesprochen 9 . Soll n u n das Verhalten zu ihm kein bißchen anders sein als wenn er niemals unser F r e u n d gewesen wäre? Oder sollte m a n doch die E r innerung an die Vertrautheit von einst bewahren und sollte man, wie m a n Freunden eher als F r e m d e n eine Gefälligkeit zu schulden glaubt, so auch den einstigen Freunden gelegentlich einen guten Dienst

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erweisen, um der früheren Freundschaft -willen - immer vorausgesetzt, daß die Trennung nicht wegen zu großer Minderwertigkeit erfolgt ist? iiB8a 4. Das freundschaftliche Verhalten zu Menschen, die uns nahestehen, und die bekannten Wesensmerkmale der Freundschaft stammen, wie man annimmt, aus dem Verhältnis des Menschen zu sich 1 selbst. Denn 2 als Freund gilt, (1) wer das Gute oder was als solches erscheint, um der Person des Freundes willen wünscht und tut, oder (2) wer das Dasein und Leben des Freundes um des Freundes willen wünscht, was mit dem Gefühl der Mutter gegenüber dem Kinde vergleichbar ist oder mit dem Gefühl von Freunden, die aneinandergeraten 3 waren. (3) Andere erkennen als Freund den der das Leben mit uns teilt und (4) sich für dieselben Dinge entscheidet wie wir, oder (5) den der Leid und Freud mit dem Freunde teilt - und auch dies trifft am meisten bei den Müttern 4 zu. Durch eines dieser Merkmale also bestimmt man auch das Wesen der Freundschaft. Das Verhältnis zu sich selbst nun ist beim Menschen durch jedes dieser Merkmale charakterisiert, falls er ein guter Mensch ist, bei den übrigen, soweit sie sich für gut halten - ethische Trefflichkeit übrigens und der ethisch hochstehende Mensch dürfen j a , wie gesagt 5 , als Maßstab für jegliches Ding gelten - denn (4') der Treffliche ist mit sich selber einig 6 und strebt mit seiner Gesamt-Seele nach Zielen, die nicht auseinanderfallen. Und so (1') wünscht er sich selbst das Gute und was ihm als solches erscheint und vollbringt es - denn der Gute wirkt 7 wesensmäßig und mit Kraft das Gute - und zwar um seines eigenen Selbst 8 willen - er tut es j a um des denkerischen Teiles willen, der als das eigentliche Selbst des Menschen gilt. Und (2') er wünscht für sich Leben und Erhaltung des Lebens: er wünscht dies vor allem für die (oberste) geistig-sittliche Kraft 9 , die in ihm ist. Denn das Dasein ist für den ethisch hochstehenden Mann eiÄ Wert. (Es wünscht sich selber aber nicht nur der Hochstehende das Gute, sondern) jeder Mensch wünscht sich selbst das Gute und kein Mensch entscheidet sich dafür, erst ein anderes Wesen 1 0 (nämlich Gott) zu werden, und daß dann dieses (neu)entstandene Wesen alles (Gute) habe - denn Gott hat schon jetzt das Gute-sondern (jeder Mensch wünscht sich das Gute) als der, der er (gegenwärtig) ist, mag er sein, was er will (ethisch hochstehend oder nur angenehm oder nützlich). Man darf aber wohl sagen, daß es der denkende Teil ist, der das Wesen des einzelnen Menschen, ganz oder doch in erster Linie, ausmacht. Wer so ist, (3') der wünscht in "dauernder Lebensgemeinschaft mit sich selbst zu sein, denn er ver-

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wirklicht sie mit F r e u d e : das Vergangene ist ihm erfreuliches Gedenken 1 , die Z u k u n f t gute u n d somit angenehme E r w a r t u n g , und in seinem Geiste ist reicher Stoff f ü r nachdenkliche B e t r a c h t u n g . (5') Schmerz u n d Freude empfindet er vor allem in der Gemeinschaft mit sich selbst. Denn zu allen Zeiten ist ihm dasselbe unangenehm, dasselbe angenehm, u n d nicht das eine Mal dies, d a n n wieder das. Nachträgliches Bedauern ist bei ihm sozusagen gar nicht denkbar. Weil sich n u n bei dem Guten jedes der genannten Merkmale in dem Verhältnis zu sich selbst findet u n d er sich zu seinem Freunde so verhält wie zu sich selbst - der Freund ist ja ein zweites Ich so wird auch die Freundschaft (mit anderen) mit diesem oder jenem der genannten Merkmale gleich gesetzt und gelten als Freunde die, bei denen sich diese Merkmale finden. Ob es aber Freundschaft mit sich selbst gibt oder nicht, diese Frage soll z u n ä c h s t 2 beiseite bleiben. Die Annahme, es gebe eine solche F r e u n d s c h a f t , ist insofern möglich als (im Menschen) zwei oder mehrere (Seelenteile) zu unterscheiden sind, was auf Grund der vorher genannten Freundschaftsmerkmale naheliegt und weil der höchste nesb Grad der Freundschaft (zu anderen) dem Verhältnis ähnlich wird, in dem der Mensch zu sich selber steht. Es läßt sich beobachten, d a ß die genannten Freundschaftsmerkmale auch auf die Menschen sonst zutreffen, selbst wenn sie minderen Wertes sind. H a b e n sie n u n daran Anteil, sofern sie sich selbst gegenseitig gefallen und sich f ü r gute Menschen h a l t e n ? Bei den ganz minderwertigen und v e r k o m m e n e n 3 Charakteren finden sich diese Merkmale natürlich nicht, auch nicht so, daß der Eindruck (nach außen) erweckt wird. Und sicher 4 auch bei den Minderwertigen (gewöhnlichen Grades) nicht. Denn (4") sie sind mit sich uneins: ihre Begehrlichkeit geht nach der einen, ihr Wünschen u n d Wollen nach der anderen Richtung. Das ist wie bei den Unbeherrschten: a n s t a t t f ü r das, was ihnen als wertvoll (und nützlich) erscheint, entscheiden sie sich f ü r das Angenehme, wenngleich es schädlich ist. Andere wieder stehen aus Feigheit u n d T r ä g h e i t 5 davon ab, das zu verwirklichen, worin sie f ü r sich den größten W e r t erblicken. Andere, die eine Reihe gemeiner U n t a t e n v e r ü b t haben u n d wegen ihrer Schlechtigkeit v e r h a ß t sind, werden (2") des Lebens überdrüssig und t ö t e n 6 sich selbst. Auch suchen sich die Schlechten Genossen, u m mit ihnen die Tage zu verbringen, sich selbst aber (3") meiden sie. Denn es kommen ihnen viele üble Erinnerungen u n d entsprechende Vorahnungen, wenn sie mit sich allein sind, w ä h r e n d

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sie im Kreise von F r e u n d e n Vergessen finden. Da an ihnen nichts Liebens-wertes ist, so können sie (1") kein freundliches Gefühl f ü r sich selbst e m p f i n d e n . ' U n d so können solche Menschen (5") auch keine F r e u d e und kein Leid in der Gemeinschaft mit sich selbst erleben: es ist (eine Art) Parteienzwist 1 in ihrer Seele; ein Teil leidet infolge seiner Verderbtheit, weil er an irgendwelchen Dingen nicht teilhaben k a n n , der andere f r e u t sich d a r ü b e r ; der eine Teil zieht hierhin, der andere dorthin, als wollten sie (den Unglücklichen) in Stücke reißen 2 . Und wenn es (einem solchen Menschen) nicht möglich ist, zu gleicher Zeit Schmerz u n d Freude zu empfinden, so k o m m t doch jedenfalls nach einer kurzen Weile schon der Arger, d a ß er froh gewesen war, u n d es wäre i h m lieber, diese Freude nicht gehabt zu haben. Denn der Minderwertige s t e c k t 3 voller Komplexe. Man sieht also: der Minderwertige kennt nicht einmal sich selbst gegenüber ein freundschaftliches Gefühl, weil gar nichts Liebenswertes an ihm ist. W e n n also ein solcher Zustand so überaus elend ist, so m u ß m a n 4 alle K r a f t a n s p a n n e n 6 , u m der Schlechtigkeit aus dem Wege zu gehen u n d m u ß versuchen, ein guter Mensch zu sein. Denn n u r so k a n n m a n zu sich selbst ein freundschaftliches Verhältnis h a b e n u n d einem anderen Menschen Freund werden. 5. Das Wohlwollen 6 h a t etwas an sich von einem freundschaftlichen Verhältnis, ist aber nicht eigentlich F r e u n d s c h a f t . Denn Wohlwollen ist auch gegenüber U n b e k a n n t e n möglich u n d so, d a ß es nach außen gar nicht hervortritt, Freundschaft dagegen nicht. Das haben wir schon f r ü h e r festgestellt 7 . Wohlwollen ist aber auch keine F o r m des Liebens, denn es h a t nicht jene belebende S p a n n u n g 8 und jenes Streben, das die Liebe begleitet. Liebe bedeutet ferner gegenseitige Vert r a u t h e i t , das Wohlwollen aber entsteht auch aus dem Erlebnis des Augenblicks. So geht es uns z. B. m i t den K ä m p f e r n bei Wettspielen: ii67a m a n wendet ihnen seine Gunst zu u n d begleitet 9 sie m i t seinen W ü n schen, denkt aber keineswegs d a r a n , m i t ihnen mitzuwirken; denn, wie gesagt 1 0 , das Wohlwollen entsteht aus dem Augenblick u n d die Zuneigung bleibt an der Oberfläche. So darf das Wohlwollen als Anfang der F r e u n d s c h a f t gelten, wie es f ü r die sinnliche Liebe die Lust des Sehens ist. Denn niemand liebt, ohne sich zuvor 1 1 an der Gestalt (des Geliebten) entzückt zu h a b e n . Aber wer sich an der Gestalt (eines anderen) f r e u t , ist deswegen noch keineswegs ein Liebender: dies wird er erst dann, wenn er nach d e m Abwesenden Sehnsucht h a t u n d seine Nähe begehrt. So ist es denn

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auch nicht möglich, Freund zu sein, wenn nicht das Wohlwollen vorhergegangen ist* Der Wohlwollende aber ist noch keineswegs ein F r e u n d , denn er beschränkt sich darauf dem anderen, dem er sein Wohlwollen schenkt, das Gute zu wünschen, aber m i t i h m ans Werk gehen oder f ü r i h n sich anstrengen, das möchte er nicht. Und so k ö n n t e m a n den N a m e n der Freundschaft auf das Wohlwollen übertragen u n d von einer passiven F r e u n d s c h a f t sprechen, die d a n n allerdings, wenn sie lange d a u e r t 1 u n d das Stadium der V e r t r a u t h e i t erreicht, zur F r e u n d s c h a f t wird - freilich nicht zu der auf Nutzen oder Lust beruhenden, denn es ist auch beim Wohlwollen nicht so, d a ß es u n t e r dieser Bedingung entsteht. Denn wer eine W o h l t a t empfangen h a t , schenkt als E n t g e l t sein Wohlwollen u n d t u t d a m i t nichts anderes als was recht ist. Wer aber den anderen n u r deshalb in günstigen äußeren U m s t ä n d e n sehen möchte, weil er sich von i h m Bereicherung erhofft, richtet sein Wohlwollen offenbar nicht auf den anderen, sondern auf sich selbst 2 - genau so wie j e m a n d auch kein echter F r e u n d ist, wenn er dem anderen u m eines Vorteils willen A u f m e r k s a m k e i t e n erweist. I m allgemeinen l ä ß t sich sagen, d a ß sich das Wohlwollen auf Grund eines besonderen Vorzugs oder einer G ü t e des Wesens entwickelt, wenn j e m a n d von einem anderen den Eindruck h a t , d a ß er edel oder t a p f e r oder sonstwie ausgezeichnet ist - wie wir das bei den W e t t k ä m p f e r n v o r h i n 8 ausgesprochen h a b e n . 6. Auch die E i n t r a c h t 4 stellt sich als freundschaftliches Verhältnis dar. Sie bedeutet d a h e r 5 nicht eine Gleichheit n u r in (irgendwelchen) Meinungen, denn dies könnte auch bei solchen zutreffen, die sich gegenseitig gar nicht kennen. Auch spricht m a n nicht von E i n t r a c h t , wenn es n u r irgendeine beliebige Tatsache ist, worüber die L e u t e das Gleiche denken, z. B. über die Himmelsphänomene - denn solche Meinungsgleichheit h a t nichts mit freundschaftlichem Verhältnis zu t u n sondern m a n s a g t : in Polisgemeinden ist E i n t r a c h t , wenn die Bürger über die gemeinsamen Interessen eines Sinnes sind, wenn sie sich zu einmütigem H a n d e l n entschließen u n d die gemeinsamen Beschlüsse durchfuhren. Es sind also Dinge der politischen Praxis, auf die sich die E i n t r a c h t bezieht, u n d zwar Probleme von großer Tragweite, die außerdem eine Lösung zulassen, die beide (Parteien) oder alle Bürger befriedigt. Zum Beispiel ist eine Polisgemeinde einträchtig, wenn alle den Beschluß fassen, d a ß die Ä m t e r durch W a h l verteilt werden sollen oder d a ß mit Sparta ein Bündnis zu schließen sei oder d a ß P i t t a k o s 6 regieren solle zu einer Zeit, wo dies m i t dessen eigenem W u n s c h

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zusammentraf. Wenn sich aber von zwei P a r t n e r n jeder an der Spitze sehen will, wie die beiden H a u p t h e l d e n in den Phoenissen 1 , so ist Zwiet r a c h t . Denn nicht das ist E i n t r a c h t , wenn zwei P a r t n e r dieselbe Sache, was es auch sein mag, im Sinne haben, sondern wenn sie dasselbe in derselben Person verwirklicht wissen wollen. Wenn also z. B. ii87 b das gewöhnliche Volk und die Vornehmen den gemeinsamen Wunsch haben, d a ß die Besten herrschen sollen; denn n u r so wird allen zuteil, wonach sie streben. Wie m a n sieht, ist also die E i n t r a c h t die der Polis eigentümliche Freundschaftsform - im Sinne von „ P o l i s - F r e u n d s c h a f t " wird das Wort auch gebraucht - , denn sie bezieht sich auf das öffentliche Wohl und die Dinge, welche sich auf die Gestaltung des Lebens auswirken 2 . Die von uns gekennzeichnete E i n t r a c h t findet sich u n t e r den Guten. Denn diese sind mit sich 3 selbst sowohl wie auch untereinander in E i n t r a c h t . Sie sind,.wenn m a n so will, auf demselben festen Boden 4 . Denn ihr Wollen ist beständig, es strömt nicht hin und her wie die Fluten im Euripos 5 . Sie wollen, was recht u n d was nützlich ist, und darnach t r a c h t e n sie auch gemeinsam. Minderwertige Menschen können nicht eines Sinnes u n d ebensowenig Freuiide sein, außer in ganz geringem U m f a n g : wo Gewinn winkt, sind 6ie n u r auf einseitigen Vorteil aus, wo ernste Mühe u n d öffentliche Leistungen in Frage stehen, m u t e n sie sich zu wenig 6 zu. Und indem jeder seinen persönlichen Vorteil sucht, h a t er ein wachsames Auge auf seinen Nachbarn und wirkt h e m m e n d . Denn wenn die sorgliche Anteilnahme fehlt, geht das Gemeinwesen zugrunde. Die Folge ist innerer Zwiespalt, indem sie gegenseitigen Zwang 7 ausüben, selbst aber keine Neigung verspüren, zu t u n , was Rechtens ist. 7. Es sieht so aus 8 , als ob der Spender einer W o h l t a t den E m p f ä n g e r mehr liebe als der Beschenkte den Geber. Das klingt paradox und daru m sucht m a n eine Erklärung. Die meisten n u n erblicken den Grund darin, d a ß der eine Schuldner, der andere Gläubiger sei. Und wie n u n bei einem Darlehen der Schuldner den Gläubiger am liebsten aus der Welt h a b e n möchte, der Gläubiger dagegen u m das Wohl des Schuldners geradezu besorgt ist, so sei es auch hier: der Wohltäter habe alles Interesse am Leben des Beschenkten, d a m i t ihm der D a n k nicht entgehe, dem anderen dagegen liege die Gegenleistung nicht sonderlich am Herzen. E p i c h a r m 9 würde sagen, dies Urteil komme „ v o n einem pessimistischen Blick" (auf die Menschen) - und doch entspricht dieses Verhalten durchaus der menschlichen N a t u r , denn die meisten sind

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vergeßlich und mehr darauf aus 1 , Wohltaten zu empfangen als zu erweisen. Indes, die Ursache liegt wohl tiefer 2 und h a t nichts mit dem Beispiel von den Geldverleihern zu t u n . Denn diese haben kein freundschaftliches Verhältnis gegenüber dem Schuldner, sondern n u r den Wunsch, er möge g e s u n d 3 bleiben - um der Einholung des Gewinnes willen. Der Spender der W o h l t a t hingegen ist dem E m p f ä n g e r freundschaftlich gesinnt und liebt ihn, auch wenn aus ihm kein Vorteil zu holen und auch nie zu erwarten ist. So ist es auch bei den H a n d w e r k e r n u n d K ü n s t l e r n : jeder liebt das W e r k 4 seiner H ä n d e mehr, als dieses ihn lieben würde, wenn es Leben gewinnen könnte. Doch das beste Bei- 1168» spiel hierfür sind wohl die Dichter: sie hängen mit I n b r u n s t 5 an ihren Schöpfungen u n d lieben sie wie Kinder. So etwa h a b e n wir uns die Empfindungen des Wohltäters vorzustellen. W a s er wohltätig gefördert h a t , das ist sein Werk u n d dieses also liebt er mehr als das Werk den Schöpfer. Der Grund dafür ist, daß das Dasein 6 f ü r alle ein wählenswertes Gut und ein liebenswertes ist. Das Dasein aber erfüllen wir, indem wir uns unserer Wirkungskraft bewußt werden, indem wir also leben u n d handeln. Das Werk n u n i s t gewissermaßen der Schöpfer, sofern er wirkend ist, u n d deshalb liebt er sein Werk - weil er das (wirkende) Leben liebt. Und dies ist tief in der N a t u r begründet. Denn die im Schöpfer gegebene Möglichkeit wird durch das Werk als Wirklichkeit 7 erwiesen. Und zugleich bedeutet f ü r den Wohltäter das Erleben seines H a n delns etwas Schönes u n d Edles: er f r e u t sich also über den anderen, an dem dieses Schöne in Erscheinung t r i t t ; der E m p f ä n g e r der W o h l t a t aber vermag keinen solchen W e r t an seinem W o h l t ä t e r zu erkennen, sondern höchstens ein Moment der Nützlichkeit. Dies aber ist weniger lustvoll u n d liebenswert. Lustvoll i s t 8 die lebendige Wirklichkeit des Gegenwärtigen, die Hoffnung auf das Zukünftige u n d die Erinnerung an da6 Vergangene. Höchste Lust aber ist das Erleben der Wirkungsk r a f t und das ist in gleichem Maße auch liebenswert. Wer Gutes geschaffen h a t , dem bleibt das Werk bestehen; denn das Schöne u n d Edle h a t lange Dauer 9 , wer aber das Gute nur passiv entgegengenommen h a t , für den ist der Nutzen bereits eine Sache der Vergangenheit. U n d die Erinnerung an das Schöne und Edle ist angenehm, die an das Nützliche ist es gar nicht oder n u r in geringerem Grade, bei der. E r w a r t u n g scheint das Verhältnis umgekehrt zu sein. Und weiterhin: Lieben ist wie ein schöpferisches T u n , Geliebtwerden

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wie das Erleiden (dieses Tuns). Daher gehören das Lieben und seine Ausdrucksformen als wesenhafte Eigenschaften zu dem, der dadurch überlegen ist, daß fer der Handelnde ist. Und ferner: alle Menschen lieben das mehr, was mit Anstrengung 1 zustande gekommen ist, z. B . sein H a b und Gut liebt stärker, wer es sich erarbeitet als wer es geerbt 2 hat. Und das Hinnehmen der Wohlt a t gilt als mühelos, das Erweisen dagegen als beschwerlich. Auf diesem Grund hängen auch die Mütter inniger an ihren Kindern, denn das Gebären ist mühevoller - und sie empfinden stärker, daß das K i n d i h r 3 Werk ist. Eben dies aber scheint auch auf den Wohltäter zu passen. 8. Ein Problem 4 ist auch, ob man in erster Linie sich selbst oder einen anderen lieben soll. Denn (a) man spricht abfällig von dem, der in erster Linie sich selbst lieb hat und gebraucht von ihm das Wort „selbstliebend"' in schlechtem Sinn 8 . Und (b) von dem Minderwertigen gilt, daß er alles u m seines eigenen Ichs willen tut, und zwar um so einseitiger je schlechter er ist - m a n macht ihm also z. B . den Vorwurf, daß er sich für niemanden engagiere — der wertvolle Mensch aber, (c) so sagt man, handelt um des Schönen und Edlen willen, und je höher er steht, desto mehr um des Schönen und Edlen willen, und wegen der Person des Freundes, sein eigenes Interesse aber läßt er beiseite. Mit diesen Argumenten stimmen jedoch die Tatsachen nicht überein - was seine guten Gründe hat. Denn, so heißt 6 es, man muß in erster Linie seinen besten Freund lieben; bester Freund aber ist, wer das Gute dem, welchem er es wünscht, u m dessen Person willen wünscht, auch wenn dies niemandem bekannt würde. Dies aber, und dann auch alle übrigen Freundschaftsmerkmale, ist in erster Linie in der Haltung sich selbst gegenüber verwirklicht. E s ist j a festgestellt 7 , daß sich aus der Wurzel der Selbstliebe das freundschaftliche Verhalten auch auf die anderen Menschen erstreckt 8 . Und auch die Sprichwörter stimmen alle damit überein. Zum Beispiel: „ ( E i n Herz und) eine Seele", „ F r e u n d e s g u t gemeinsam 9 G u t " , „ F r e u n d s c h a f t istGleichh e i t " und „ D a s Knie ist näher als die W a d e " . Denn all dies trifft a m unmittelbarsten auf unser Verhältnis zum eigenen Ich z u : man ist sich selbst der beste Freund und folglich muß man sich selbst auch am meisten lieben. E s ist somit eine verständliche Frage, welcher von beiden Ansichten man folgen soll, da beide etwas Überzeugendes an sich haben.

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Wenn (zwei) Argumentationen so aussehen, so muß man sie präzise voneinander abheben 1 und scharf abgrenzen, wie weit jede von beiden und in welchem Sinne sie die Wahrheit enthält. Wenn wir nun erfassen könnten, welchen Sinn beide mit dem Begriff der „Selbstliebe" verbinden, so werden wir zur Klarheit kommen. Es steht nun so: wer dem Begriff eine negative Wendung 2 gibt, bezeichnet es als Selbstliebe, wenn jemand sich von Geld 3 , Ehre und sinnlicher Lust den größeren Teil zuwendet. Denn das sind die Ziele, nach denen die Menschen gewöhnlich streben und um die sie sich am intensivsten 4 , als um die höchsten Werte, bemühen - und deshalb streiten sie sich auch darum. Wer also diese Gier in sich trägt, der lebt seiner Begehrlichkeit und, allgemein gesagt, seiner Leidenschaft und dem irrationalen Teil 5 der Seele. So aber macht es die Mehrzahl - weshalb ja auch der Begriff zu seiner üblichen Bedeutung gekommen ist: von dem Bild wie es der Durchschnitt 6 bietet, und das ist kein gutes - Selbstliebe in dieser Form wird also mit Recht verurteilt. Wer sich aber solche Dinge zu verschaffen sucht, wird gemeinhin als egoistisch bezeichnet; dies ist durchaus verständlich. Denn wenn jemand sein ganzes Trachten darauf richtet, in seinem persönlichen Tun vor allen Dingen das zu verwirklichen, was recht oder besonnen oder sonst mit sittlichem Wesen in Einklang ist, kurz, wenn er stets das Schöne und Edle für sich zu haben wünscht, so wird ihn deshalb kein Mensch als egoistisch bezeichnen oder Mißfallen äußern. Und doch gewinnt man von einem solchen Manne stärker (als von dem anderen Typ) den Eindruck, daß er Selbstliebe hat: was er sich zuteilt, ist ja auf jeden Fall das Edelste und der oberste Wert, und es ist gerade der entscheidende Bereich seines Wesens, für dessen Pflege er lebt, und nach diesem richtet er sich in allem. Wie nun als eigentliche Polis 7 und überhaupt als Gemeinschaftsorganisation 8 das zu gelten hat, was ihr entscheidender Teil ist, so ist es auch beim Menschen. Und so hat denn die größte Selbstliebe, wer d i e s e n Teil liebt und für ihn lebt. Und von beherrscht und unbeherrscht spricht man, je nachdem, ob der Geist im Menschen herrscht oder nicht - da der Geist als der eigentliche Mensch 9 gilt. Und das gilt als eigentlich ii69a menschliche und freiwillige Tat, was mit dem richtigen Plan 1 0 getan ist. Daß dies also, oder in erster Linie 1 1 dies, das eigentliche Selbst des Menschen ausmacht, ist ohne Zweifel, und daß es der Gute ist, der diesen Bereich seines Wesens vor allem liebt. Er hat folglich die echteste Selbstliebe, nur daß sie einen anderen Typus darstellt als die

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negative: der Unterschied ist kein geringerer als der zwischen dem Leben nach dem richtigen Plan und einem Leben der Leidenschaft, oder zwischen dem Streben nach dem Edlen und dem nach dem scheinbar Nützlichen. Wer also sein ganz besonders ernstes Mühen auf schöne und edle Tat richtet, wird allgemein anerkannt und gepriesen. Und würden alle 1 Menschen nach dem Schönen und Edlen wetteifern und ihre Kraft anspannen, das Edelste zu tun, dann wäre der allgemeine Zustand so, wie er sein sollte, und jedem einzelnen würden die höchsten Güter zuteil, nachdem ja ethische Trefflichkeit den höchsten Wert darstellt. Der ethisch hochstehende Mensch soll sich also selbst lieben - denn von seinem edlen Handeln wird er selbst Gewinn haben und auch die anderen fördern -, der minderwertige dagegen darf keine Selbstliebe haben, denn er wird sich selbst und auch den anderen schaden, da er seinen schlechten Trieben folgt. Beim Minderwertigen ist also der Mißklang zwischen dem, was er tun sollte und was er wirklich tut, aber was der Gute tun soll, das tut er auch wirklich. Denn stets entscheidet sich geistige Kraft für das, was für sie höchster Wert ist, der Gute aber gehorcht der geistigen Kraft. Von einem hervorragenden Mann gilt auch die schlichte Wahrheit, daß er für Freund und Vaterland sich immer wieder einsetzt und wenn es nottut, für sie sein Leben 2 gibt. Auch Geld und hohe Stellung wird er hingeben, kurz, die im Leben so umkämpften Güter, indem er für sich nur eines will: das Edle. Ein kurzes Leben, erfüllt mit kraftvoll tiefer Freude, ist ihm lieber als langer, bequemer Genuß; ein Jahr im Vollgefühl des Edlen lieber als lange Jahre einer leeren Geschäftigkeit; eine einzige edle, großartige Tat lieber als eine Vielzahl ohne Bedeutung. Dem Manne, der sein Leben hingibt, wird dies alles volle Wirklichkeit : so wählt er sich hohe Ehre als Lohn. Auch seine Habe gibt er mit freier Geste, damit sich den Freunden der Gewinn erhöhe. So bekommt denn der Freund den äußeren Gewinn, er selbst aber die Ehre der schönen Tat und somit gibt er sich das größere Gut. Und bei den Ehrenstellen und Ämtern ist es nicht anders: r.ll das wird er dem Freunde überlassen; denn für ihn ist dies dann Ehre und Anerkennung. So ist es nur natürlich, daß er als Mann von hohem Wert erscheint, da er vor allem anderen das Schöne und das Edle wählt. Es mag sogar geschehen, daß er, wenn eine (edle) Tat in Frage steht, vor dem Freund zurücktritt und daß es schöner ist, dem Freund die Möglichkeit zu geben, als selbst zu handeln. So zeigt sich denn, daß der her-

Kapitel 8-9

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v o r r a g e n d e M a n n sich bei allem Preiswürdigen d e n größeren Anteil a m R u h m e edlen H a n d e l n s g i b t . I n dieser Weise also, wie wir sie e b e n dargestellt h a b e n , soll m a n Selbstliebe h a b e n , n i c h t a b e r i n d e m Sinn, wie es die Vielen t u n . 9. E s gibt a u c h eine S t r e i t f r a g e 1 , die sich auf den Glücklichen bezieht, n ä m l i c h , o b er w o h l F r e u n d e b r a u c h t oder n i c h t ; d e n n , so s a g t m a n , der vollendet Glückliche u n d in sich U n a b h ä n g i g e h a t g a r keine F r e u n d e v o n n ö t e n . W a s es a n G ü t e r n gebe, das h a b e er j a schon, u n d d a er somit i n sich u n a b h ä n g i g sei, so b r a u c h e er nichts m e h r d a z u ; der F r e u n d a b e r , als zweites I c h 2 , verschaffe eben das, wozu d e r a n d e r e aus sich n i c h t i m s t a n d e sei. D a h e r das W o r t 3 : „ W e n n d u d e r G o t t h e i t Segen h a s t , was soll ein F r e u n d ? " I n d e s : es w ä r e gewiß u n begreiflich, d e m Glücklichen alle G ü t e r zuzuweisen, i h m a b e r keine F r e u n d e zu geben, was doch u n t e r den ä u ß e r e n G ü t e r n als das g r ö ß t e gilt. U n d w e n n es eher zu d e n Merkmalen des F r e u n d e s g e h ö r t , G u t e s zu erweisen als es h i n z u n e h m e n , u n d w e n n es f ü r d e n t r e f f l i c h e n M a n n wie f ü r 4 die Trefflichkeit charakteristisch ist, d e m a n d e r e n w o h l z u t u n , u n d w e n n es schöner ist, d e m F r e u n d e G u t e s z u erweisen als e i n e m F r e m d e n , so m u ß ein h o c h s t e h e n d e r Mensch j e m a n d e n h a b e n , d e m er w o h l t u n k a n n . D a h e r die weitere F r a g e , ob m a n eher i m Glück oder i m Unglück der F r e u n d e b e d a r f , weil j a der Unglückliche einen W o h l t ä t e r b r a u c h e u n d der Glückliche j e m a n d e n h a b e n müsse, d e m er wohltun kann. E s ist a u c h gewiß unbegreiflich, den vollendet Glücklichen auf sein I c h zu b e s c h r ä n k e n 6 , d e n n n i e m a n d wird es vorziehen, allein f ü r sich alle d e n k b a r e n G ü t e r zu besitzen. D e n n der Mensch ist f ü r die Gem e i n s c h a f t der P o l i s 8 u n d v o n N a t u r f ü r das Z u s a m m e n l e b e n b e s t i m m t . U n d so ist das a u c h bei d e m Glücklichen, d e n n er h a t die n a t ü r l i c h e n G ü t e r . A u ß e r d e m ist es offenbar besser, sein L e b e n m i t F r e u n d e n u n d g u t e n Menschen als m i t F r e m d e n u n d zufälligen B e k a n n t e n zu v e r b r i n g e n . U n d so e r g i b t sich, d a ß der Glückliche F r e u n d e b r a u c h t . W a s m e i n t n u n eigentlich die erste 7 R i c h t u n g u n d i n welchem Sinne ist ihre Ansicht r i c h t i g ? I s t es e t w a so, d a ß die Vielen m e i n e n , F r e u n d sei der Nützliche? Solche F r e u n d e b r a u c h t der vollendet Glückliche n a t ü r l i c h n i c h t , d e n n was es a n G ü t e r n gibt, das h a t er schon. A b e r a u c h F r e u n d e , die m a n sich u m der L u s t willen s u c h t , b r a u c h t er n i c h t , oder n u r in geringem A u s m a ß . D e n n d a sein L e b e n lustvoll ist, so b r a u c h t er keine L u s t , die v o n a u ß e n 8 h e r a n g e t r a g e n wird. Weil er also solche F r e u n d e n i c h t b r a u c h t , so m e i n t m a n , er b r a u c h e ü b e r h a u p t keine.

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D a s a b e r i s t sicherlich n i c h t w a h r . W i r h a b e n zu A n f a n g 1 ausges p r o c h e n : Glück ist ein Tätig-sein; Tätig-sein aber ist offenbar e t w a s W e r d e n d e s u n d ist nicht (einfach) d a - wie etwas Fertiges, das m a n b e s i t z t . W e n n sich aber (a) das Glück i m Dasein u n d W i r k e n e n t f a l t e t , das W i r k e n des w e r t v o l l e n Menschen a b e r , wie zu A n f a n g 2 gesagt, g u t u n d in sich lustvoll ist, u n d w e n n weiterhin (b) a u c h das in u n s e r e m Wesen V e r a n k e r t e etwas Lustvolles ist, wir a b e r (c) leichter den and e r e n als u n s selbst u n d l e i c h t e r 3 dessen H a n d l u n g e n ins volle Bew u ß t s e i n h e b e n k ö n n e n als die eigenen, u n d w e n n schließlich (d) f ü r gute Menschen die H a n d l u n g e n h o c h s t e h e n d e r Menschen, eben ihrer uro» F r e u n d e , etwas Lustvolles b e d e u t e n - weil diesen H a n d l u n g e n j a die b e i d e n 4 v o n N a t u r lustvollen Momente eignen - , so m u ß der vollendet Glückliche F r e u n d e solcher A r t h a b e n , n a c h d e m er j a gesonnen ist, g u t e u n d in seinem Wesen v e r a n k e r t e H a n d l u n g e n ins volle B e w u ß t sein zu h e b e n , u n d n a c h d e m die H a n d l u n g e n eines trefflichen Mannes, eben seines F r e u n d e s , diese beiden M o m e n t e aufweisen. F e r n e r : m a n ist ü b e r z e u g t , d a ß das L e b e n des Glücklichen lustvoll sein müsse. W e r n u n auf sein eigenes I c h b e s c h r ä n k t bleibt, dessen L e b e n ist d r ü c k e n d . D e n n es ist n i c h t leicht, allein auf sich gestellt, in d a u e r n d e m W i r k e n zu verbleiben, dagegen z u s a m m e n m i t a n d e r e n u n d in der A u s d e h n u n g auf andere ist es leichter. So wird das W i r k e n , a n sich schon lustvoll, stetiger u n d so m u ß es f ü r den sein, der volle n d e t glücklich ist. D e n n der wertvolle Mensch h a t als solcher seine F r e u d e a n e i n e m H a n d e l n , welches die N o r m der Trefflichkeit verwirklicht, w ä h r e n d i h n ein schlechtes 5 H a n d e l n b e d r ü c k t . I m selben Sinn e m p f i n d e t der Musikalische a n h a r m o n i s c h e n K l ä n g e n L u s t , a n disharmonischen dagegen U n l u s t . - E i n e gewisse Ü b u n g i n ethischer T r e f f l i c h k e i t k a n n übrigens a u c h aus d e m Z u s a m m e n s e i n m i t trefflichen Menschen erwachsen, wie a u c h Theognis 6 sagt. W e n n m a n t i e f e r 7 , auf die wesentlichen Z u s a m m e n h ä n g e , blickt, so wird m a n s a g e n : der sittlich h o c h s t e h e n d e F r e u n d ist f ü r einen ebenfalls h o c h s t e h e n d e n M a n n ein n a t ü r l i c h e r G e g e n s t a n d der W a h l . D e n n ein naturgegebenes G u t , so s t e l l t e n 8 wir fest, ist f ü r d e n hochs t e h e n d e n M a n n W e r t u n d L u s t a n sich. N u n b e d e u t e t der Begriff „ L e b e n " bei den Tieren die F ä h i g k e i t der S i n n e s e m p f i n d u n g 9 , bei d e n Menschen die der Sinnesempfindung u n d des D e n k e n s . Der Begriff der F ä h i g k e i t aber e r h ä l t seinen Vollsinn in der Z u r ü c k f ü h r u n g 1 0 auf das W i r k e n : das e n t s c h e i d e n d e Moment liegt i m W i r k s a m w e r d e n (der F ä h i g k e i t ) . U n d so e r g i b t sich 1 1 , d a ß L e b e n w e s e n h a f t gleich E m p -

Kapitel 9

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finden u n d Denken ist. Und das Leben gehört zu den Gütern, die an sich einen W e r t oder eine Lust darstellen, denn es ist etwas (klar) Umgrenztes, alles (klar) U m g r e n z t e 1 aber gehört zu dem Naturbereich des Wertvollen. Das naturgegebene Wertvolle aber ist wertvoll auch f ü r den Guten, weshalb das Leben erfahrungsgemäß f ü r alle Menschen etwas Lustvolles ist. Doch dürfen wir „ L e b e n " n i c h t 2 im Sinne eines schlechten u n d verderbten Daseins auffassen und auch nicht als einen Zu6tand der U n l u s t : einem solchen Leben würde, genau so wie seinen Grundlagen, die klare Umgrenzung fehlen. - I n der folgenden 3 Darstellung wird übrigens das Wesen der Unlust noch deutlicher hervortreten. W e n n aber das Leben selbst wertvoll und lustvoll ist - m a n sieht es j a auch d a r a n , d a ß alle nach i h m streben u n d ganz besonders die Guten u n d vollendet Glücklichen; denn diesen ist das Leben höchster Gegenstand der W a h l u n d ihr Dasein ist ein Z u s t a n d h ö c h s t e n 4 Glücks - u n d wenn der Sehende sich des Sehens, der Hörende sich des Hörens, der Gehende sich des Gehens b e w u ß t ist u n d wenn es bei den anderen Funktionen in gleicher Weise eine E m p f i n d u n g d a v o n gibt, d a ß wir die F u n k t i o n ausüben, so d a ß uns also eine E m p f i n d u n g 6 des Empfindungsvorgangs u n d ein Denken des Denkvorgangs gegeben ist, u n d wenn die Tatsache des Empfindens oder Denkens uns auch die Tatsache unseres Daseins vermittelt - Dabein b e d e u t e t uns j a E m p f i n d e n oder Denken - u n d wenn die E m p f i n d u n g des Lebens zu dem gehört, was lustvoll an sich ist - denn das Leben ist ein n a t u r gegebener W e r t u n d das Vorhandensein eines solchen Wertes in sich zu fühlen ist lustvoll - und wenn das Leben ein Gegenstand (selbstverständlicher) W a h l f ü r uns u n d ganz besonders f ü r hochwertige Menschen ist, weil j a das Dasein f ü r sie ein Wert ist u n d eine Lust - denn indem sie den W e r t an sich als in sich anwesend empfinden, genießen sie Lust - u n d wenn das Verhalten des hochwertigen Menschen zu sich selbst gleich dem Verhalten zu seinem Freunde ist - denn der F r e u n d ist ein zweites I c h 6 - wenn all dies zutrifft, so ist f ü r jeden Menschen das Dasein des Freundes genau so sehr oder f a s t 7 so sehr Gegenstand einer (selbstverständlichen) W a h l wie das eigene Dasein. Das Dasein aber galt uns als Gegenstand der Wahl, weil wir das Bewußtsein des eigenen Wertes h a t t e n , u n d ein solches Bewußtsein ist lustvoll an sich. Man m u ß also ein einbeziehendes Bewußtsein auch von dem Dasein des Freundes haben u n d dies k a n n Wirklichkeit werden durch das Beisammensein i m täglichen Leben u n d die Gemeinschaft von W o r t

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u n d G e d a n k e 1 . D e n n so ist gemeinhin der Begriff des Z u s a m m e n lebens zu verstehen, w e n n er v o m Menschen ausgesagt wird, u n d n i c h t wie b e i m Vieh als Grasen auf derselben Weide. W e n n also d e m volle n d e t Glücklichen das Dasein ein G e g e n s t a n d der W a h l a n sich ist, ein Wtert u n d eine L u s t , die v o n N a t u r gegeben sind, u n d w e n n f a s t in demselben G r a d e das Dasein des F r e u n d e s f ü r i h n wählenswert ist, d a n n i s t a u c h der F r e u n d ein G e g e n s t a n d seiner W a h l . W a s f ü r i h n a b e r G e g e n s t a n d der W a h l ist, das m u ß i h m a u c h zu Gebote s t e h e n andernfalls wird er in dieser H i n s i c h t einen Mangel aufweisen. U n d wir gewinnen als E r g e b n i s : der Mensch, der glücklich sein soll, b r a u c h t wertvolle F r e u n d e . 10. Soll m a n 2 sich n u n möglichst viele zu F r e u n d e n m a c h e n oder soll - wie ein b e k a n n t e r , wohlgelungener Spruch 3 ü b e r die G a s t f r e u n d s c h a f t empfiehlt, m a n solle „ w e d e r zu viel, noch keinen G a s t f r e u n d i m H a u s " h a b e n - a u c h bei der F r e u n d s c h a f t die Regel gelten, m a n solle n i c h t ohne F r e u n d sein, aber a u c h nicht i m Ü b e r m a ß F r e u n d e u m sich s c h a r e n ? F ü r F r e u n d e , die n u r z u m N u t z e n d a sind, p a ß t der S a t z d u r c h a u s . D e n n einer Vielzahl Gegendienste zu erweisen ist eine m ü h s a m e A u f g a b e u n d das L e b e n w ä r e nicht lange genug, u m d a m i t fertig zu w e r d e n . U n d so sind F r e u n d e ü b e r die f ü r das eigene L e b e n ausreichende Anzahl h i n a u s überflüssig u n d ein H i n d e r n i s f ü r ein schönes u n d edles L e b e n : m a n b r a u c h t sie also n i c h t . U n d a u c h F r e u n d e , die das Leben a n g e n e h m m a c h e n , sind n u r wenige v o n n ö t e n , g e n a u so wie (ein bißchen) W ü r z e a n der Speise schon genug ist. Wie a b e r s t e h t es m i t d e n F r e u n d e n v o n h e r v o r r a g e n d e m C h a r a k t e r ? Sollen es soviel wie möglich sein oder gibt es ein b e s t i m m t e s Maß, wie f ü r die Anzahl der Polismitglieder so a u c h f ü r die F r e u n d e s s c h a r ? D e n n 10 Menschen ergeben noch keine Polisgemeinschaft, 1 0 x 1 0 0 0 0 a b e r sind keine Polis m e h r 4 . Die Q u a n t i t ä t a b e r ist hier doch wohl keine festgelegte E i n h e i t , sondern jeder Zahlenwert k o m m t in F r a g e , ii7ia der sich i n n e r h a l b b e s t i m m t e r G r e n z p u n k t e h ä l t . U n d so gibt es eine b e s t i m m t e Grenze a u c h f ü r die Größe einer F r e u n d e s s c h a r : vielleicht wird sie d u r c h die größte Anzahl derer dargestellt, m i t d e n e n ein Zus a m m e n l e b e n n o c h d e n k b a r ist - gerade d a r i n h a t t e n wir j a ein besonders wichtiges M o m e n t der F r e u n d s c h a f t e r k a n n t 6 . D a ß es a b e r unmöglich ist, m i t vielen z u s a m m e n z u l e b e n u n d sich u n t e r sie a u f zuteilen, d a r ü b e r ist kein Zweifel. F e r n e r m u ß auch jene Schar u m u n s u n t e r sich b e f r e u n d e t sein, falls sie alle z u s a m m e n das L e b e n gemeins a m v e r b r i n g e n sollen. Dies a b e r ist bei einer Vielzahl eine schwierige

Kapitel 9-11

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Sache. Schwer läßt sich auch Freud und Leid in der Weise mit vielen teilen, daß sie gleichsam unser eigen werden, denn es könnte natürlich vorkommen, daß man zur gleichen Zeit mit dem einen Freund sich freuen, mit dem anderen dagegen trauern müßte. So ist es doch wohl das Richtige, nicht so viel Freunde wie nur irgend möglich zu wollen, sondern nur so viele, als für das gemeinsame Leben ausreichen. Denn es erscheint ja auch undenkbar, mit vielen eine tiefe und starke Freundschaft zu pflegen. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, mit mehreren ein Liebesverhältnis 1 zu haben, denn Liebe ist ja ihrem Wesen nach eine Übersteigerung der Freundschaft und somit kann man sie nur einem einzigen entgegenbringen. Daher ist auch tiefe und starke Freundschaft nur möglich, wenn es wenige sind. Und das Leben 2 lehrt uns, daß es so ist. Denn es gibt nicht viele Freunde im Sinne eines (dauernden) kameradschaftlichen Verhältnisses. Und bei den klassischen Freundschaften der Vergangenheit handelt es sich immer um Freundespaare. Menschen, die einen ganzen Schwärm von Freunden um sich haben und mit allen auf vertrautem Fuße stehen, sind - außer in dem weiten Sinne der PolisFreundschaft - erfahrungsgemäß niemandem Freund. Sie heißen auch liebedienerisch 3 . Im Sinne der Polis-Freundschaft kann jemand allerdings mit vielen befreundet sein, auch wenn er nicht liebedienerisch, sondern ein echter, tadelloser Charakter ist. Dagegen ist ein auf sittlicher Höhe und dem persönlichen Wert des anderen beruhendes Freundschaftsverhältnis nicht mit vielen möglich, sondern man muß sich damit bescheiden4, auch nur einen kleinen Kreis solcher Freunde zu finden. 11. Und nun die Frage 6 , ob Freunde mehr im Glück oder im Unglück vonnöten sind. Man sucht sie jedenfalls in beiden 6 Fällen. Denn im Unglück braucht der Mensch Hilfe, im Glück braucht er Gefährten 7 seines Daseins und Menschen, denen er Gutes tun kann, denn er hat das Verlangen, wohltätig zu sein. Notwendiger8 ist die Freundschaft also im Unglück, weshalb in solcher Lage ein Freund zur Stelle sein soll, der uns nützen kann; schöner und edler aber ist sie im Glück, weshalb man sich in diesem Falle denn auch Freunde sucht, die gut sind, denn ihnen wohlzutun und mit ihnen das Leben zu teilen ist ein größerer Wert. Es ist ja allein schon die Gegenwart des Freundes angenehm, im Glück genau so wie im Unglück, denn für die Bedrückten ist es eine

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E r l e i c h t e r u n g 1 , w e n n die F r e u n d e das Leid teilen. Man k ö n n t e in diesem Z u s a m m e n h a n g die F r a g e 2 stellen, ob F r e u n d e gleichsam die B ü r d e m i t t r a g e n helfen oder ob dies zwar n i c h t der Fall ist, wohl a b e r i h r e Gegenwart, als etwas Lustvolles, u n d das B e w u ß t s e i n ihrer Mite m p f i n d u n g das Leid v e r r i n g e r t . Ob n u n die E r l e i c h t e r u n g gerade deshalb oder aus einem anderen G r u n d e e i n t r i t t , m a g auf sich ber u h e n . T a t s a c h e ist jedenfalls, d a ß die geschilderte W i r k u n g eintritt. I n d e s h a t es den Anschein, als vereinige die Gegenwart des F r e u n des verschiedenartige Momente in sich. Der bloße Anblick des F r e u n 1171b des ist a n g e n e h m , besonders in T a g e n des Unglücks, u n d a u ß e r d e m wird er zur Hilfe gegen n i e d e r d r ü c k e n d e Gefühle, d e n n der F r e u n d h a t etwas Tröstliches 3 a n sich, d u r c h seinen Anblick u n d d u r c h sein W o r t , wenn er t a k t v o l l ist, d e n n er k e n n t die W e s e n s a r t seines F r e u n d e s u n d weiß, was i h m F r e u d e u n d was i h m Schmerz b e r e i t e t . Aber auf der a n d e r e n Seite ist es ein drückendes Gefühl, den F r e u n d wegen unseres Unglücks n u n seinerseits n i e d e r g e d r ü c k t zu sehen, d e n n es ist j e d e m unlieb, d e m F r e u n d e A n l a ß zu schmerzlicher E m p f i n d u n g zu w e r d e n . Deshalb suchen es m ä n n l i c h - s t a r k e N a t u r e n zu v e r m e i d e n , d a ß F r e u n d e i n ihr Leid hereingezogen werden, u n d ein solcher M a n n b r a u c h t gar n i c h t ü b e r t r i e b e n u n e m p f i n d l i c h gegen Leid zu sein, u m das f ü r d e n F r e u n d (aus dem Mit-leiden) e n t s t e h e n d e Leid u n t r a g b a r zu finden. Ü b e r h a u p t l ä ß t er keine L e u t e a n sich h e r a n , die bereit sind, m i t z u l a m e n t i e r e n 4 ; d e n n er selbst will a u c h nichts wissen v o m Lam e n t i e r e n . Weiber dagegen u n d weibische Männer h a b e n ihre F r e u d e a n Menschen, die m i t i h n e n seufzen, u n d lieben sie als F r e u n d e u n d t e i l n e h m e n d e Seelen. Unser Vorbild m u ß aber n a t ü r l i c h in allen Dingen der Bessere sein. Auf der a n d e r e n Seite b e d e u t e t die G e g e n w a r t des F r a u n d e s in T a g e n des Glücks ein gehobenes Verbringen der Zeit u n d das B e w u ß t sein, d a ß sie sich ü b e r unser Wohlergehen f r e u e n . U n d so erscheint es geboten, die F r e u n d e zur T e i l n a h m e a n u n s e r e m Glück m i t f r o h e r B e r e i t s c h a f t einzuladen - d e n n m i t freier Geste zu s p e n d e n 6 ist schön u n d edel - doch sie in unser Unglück m i t hereinzuziehen, d a r i n sollten wir z u r ü c k h a l t e n d sein, d e n n a n seinem E l e n d soll m a n a n d e r e so wenig wie n u r möglich teilhaben lassen. D a h e r das W o r t 6 : „ G e n u g ist's, d a ß i c h leide". Vor allem sollte m a n Freundeshilfe d a n n e r b i t t e n , w e n n sie den F r e u n d n u r wenig b e l a s t e t 7 , u n s a b e r v o n b e s o n d e r e m N u t z e n ist.

Kapitel 11-12

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Umgekehrt erscheint es angebracht, den Freund dann aufzusuchen, wenn er im Unglück ist, und zwar ungerufen 1 und mit freudiger Bereitschaft - denn zum Wesen des Freundes gehört das Wohltun und zwar besonders dann, wenn jemand in Not ist; ferner das Wohltun, wenn 2 der andere die Hilfe gar nicht verlangt hat. Denn dies ist für beide Teile edler und angenehmer. Ist der Freund aber im Glück, so ist zwar freudige Bereitschaft am Platz, wenn man kommt, um bei einer (guten) Tat mitzuwirken, denn auch dazu sind Freunde nötig, dagegen gelassene Zurückhaltung, wenn man kommt, um mitzugenießen; denn es ist nicht gerade schön, so bewußt auf seinen Vorteil aus zu sein. Indes sollte man, wenn man (die Einladung zum Mitgenuß) von sich weist, den Eindruck schroffer Unverbindlichkeit, der in solchen Fällen manchmal entsteht, doch wohl vermeiden. So ist also die Gegenwart von Freunden in jeder Lebenslage erwünscht. 12. Folgt nun 3 aus der Tatsache, daß Jünglinge, die sich aus Leidenschaft 4 lieben, größte Befriedigung an ihrem gegenseitigen Anblick haben und diesen Sinneseindruck jedem anderen vorziehen - weil an ihm zumeist Sein und Ursprung der Liebe haftet -, daß es auch für Freunde das Liebste ist, wenn sie zusammen leben können? Denn Freundschaft ist Gemeinschaft. Und wie jemand zu sich selbst steht, so steht er auch zu seinem Freunde. Nun ist aber das Bewußtsein des eigenen Daseins für uns wertvoll und somit auch das Bewußtsein des Daseins unserer Freunde. Lebendige Wirklichkeit 6 aber wird dieses Bewußtsein durch das Zusammenleben. Und so ist es ganz natürlich, daß sie darnach streben. Und was für den einzelnen den Sinn des Lebens darstellt oder den Grund6, weshalb ihm das Leben ein Wert ist, damit wollen sie, in der Gesellschaft ihrer Freunde, das Leben verbringen. Und so sehen wir sie gemeinsam 7 beim Gelage oder beim Würfelspiel, auch gemeinsam beim Körpertraining und auf der Jagd oder 8 gemeinsam der Philosophie hingegeben: jeder verbringt seine Tage in der Gesellschaft der Freunde mit der Beschäftigung, die ihm von den Inhalten des Lebens die meiste Befriedigung gewährt. In dem Wunsche nämlich, mit den Freunden zusammen zu leben, richten« sie ihr Tun und ihre Gemeinschaft auf das, wodurch sie das Zusammenleben gewährleistet glauben. Also9 entwickelt sich die Freundschaft der Minderwertigen zum Bösen - ihre Haltlosigkeit verführt sie zur Gemeinschaft im Minderwertigen und überdies werden sie schlecht, indem sie sich aneinander angleichen - Freundschaft der Guten aber ist etwas Gutes: sie wächst

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stetig d u r c h den v e r t r a u t e n U m g a n g . U n d wie die E r f a h r u n g zeigt, n e h m e n die F r e u n d e zu a n sittlichem G e h a l t : es ist eine F r e u n d s c h a f t der T a t u n d der gegenseitigen V e r v o l l k o m m n u n g . D e n n sie bilden gleichsam die Vorzüge in sich a b , a n denen sie Gefallen finden, i n d e m sie v o n e i n a n d e r das Modell 1 n e h m e n . D a h e r das W o r t 2 : „ G u t e s lernst du vom Guten". Soviel also ü b e r die F r e u n d s c h a f t . D a r a n schließt sich a m b e s t e n eine U n t e r s u c h u n g ü b e r die L u s t .

BUCH X 1. Darauf folgt organisch eine Untersuchung über die Lust. Denn von 1172 «19 ihr gilt, daß sie mit unserer Menschennatur durch ein ganz besonders inniges Band der Zugehörigkeit verknüpft 1 ist. Dies ist der Grund, weshalb die Erziehung der Kinder durch Lust- und Unlustempfindungen gesteuert 2 wird. Auch wird es als sehr wichtig für die Vollendung des Charakters angesehen, Freude und Ablehnung da zu zeigen, wo es am Platze ist. Denn dieses Stellungnehmen zieht sich durch das ganze Leben hindurch: es hat Gewicht und Einfluß auf die Charakterbildung und das Glück, da ja der Mensch das Lustvolle will und das Unangenehme meidet. Ein so bedeutender Gegenstand aber verdient es am allerwenigsten, beiseite 3 gelassen zu werden, noch dazu, wo er so viele ungelöste Fragen enthält. Denn die einen (I) sehen in der Lust den höchsten Wert, andere (II) im Gegensatz dazu etwas durch und durch Verwerfliches. Dabei sind von diesen letzteren (II') wohl manche wirklich davon überzeugt, daß dies so sei, während ein Teil glaubt, es wirke sich für die Lebensführung der Menschen günstiger aus, die Lust als etwas Verwerfliches hinzustellen 4 - auch wenn sie es tatsächlich nicht ist - , denn die Mehrzahl sei dem Hang zur Lust verfallen und diene ihr sklavisch, weshalb man die Menschen in die entgegengesetzte 5 Richtung lenken müsse, da sie auf diese Weise am ehesten den mittleren Zustand erreichen könnten. Indes ist diese Ansicht bestimmt nicht richtig. Es sind nämlich theoretische Aussagen über Dinge des menschlichen Empfindens und Handelns weniger zuverlässig als die Tatsachen: wenn sie daher der Erfahrung widersprechen 6 , so ist ihre Geltung dahin und sie zerstören 7 1172b noch dazu, was objektiv richtig ist. Denn wenn so ein Gegner der Lust einmal beobachtet wird, wie er doch eine bestimmte Lust erstrebt, so schließt man aus diesem Hinneigen, daß die Lust in jedem Falle etwas Erstrebenswertes ist, denn scharfe Unterscheidungen zu machen ist nicht Sache der Vielen. Man sieht also: objektiv richtige Aussagen sind nicht nur von größtem Nutzen für die Erkenntnis, sondern auch ftir das Leben. Da sie mit den Tatsachen übereinstimmen, schenkt man ihnen Vertrauen und so sind sie denen, die sie mit Verständnis auf-

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nehmen, ein Ansporn, ihr Leben nach ihnen einzurichten. Doch genug 1 von solchen Gedankengängen. Wir wollen nun die über die Lust vorgetragenen Ansichten prüfen. 2. Da ist zunächst (I') die Ansicht des Eudoxos 2 , daß die Lust der oberste Wert ist, weil er sah, daß alles, Vernunftbegabtes 3 und Vernunftloses, darnach strebe und weil in allen denkbaren Verhältnissen der Gegenstand der Wahl das Wertvolle und der Gegenstand der unbedingtesten Wahl das Wertvollste sei. Die allgemeine Bewegung auf dasselbe Ziel hin zeige 4 an, daß eben dies für alle Wesen der oberste Wert sei - denn jedes Wesen finde das, was für es selbst wertvoll sei, genau so wie es die ihm passende Nahrung finde - und somit stelle das, was für alle ein Wert ist und wonach alles® strebt, den Wert dar. Diese seine Lehre fand aber mehr wegen der Lauterkeit 6 seines Charakters Glauben als um ihrer selbst willen. Denn er war bekanntlich ein Mann von ungewöhnlicher Besonnenheit. Und so hatte man den Eindruck, als trage er seine Lehre nicht als Freund der Lust vor, sondern als seien die Dinge in Wirklichkeit so. Er meinte 7 auch, (a) die Richtigkeit seiner Lehre ergebe sich nicht weniger deutlich aus dem Gegensatz (der Lust) : Unlust an sich werde grundsätzlich von allen Wesen gemieden, und gleicherweise müsse demnach der Gegensatz grundsätzlich wählenswert sein. Ferner (b) sei Gegenstand der unbedingtesten Wahl, was wir nicht auf Grund eines anderen und nicht um eines anderen willen wählen: von solcher Art aber sei nach allgemeiner Übereinstimmung die Lust, denn niemand frage darüber hinaus noch 8 , wozu man sich freue, weil eben die Lust ein Wert an sich sei. Ferner: (c) Wenn sie zu irgendeinem Wert noch hinzugefügt werde, z. B. zu gerechter und besonnener Handlungsweise, so mache sie diesen noch wählenswerter. Ein Wert aber könne nur durch etwas eine Steigerung erfahren, was selber ein Wert sei. Dieses letztere Argument beweist offenbar, daß die Lust ein Wert n e b e n 9 anderen, aber durchaus nicht ü b e r anderen ist, denn jeder Wert ist in Verbindung mit einem anderen wählenswerter als wenn er allein 10 steht. Durch ein solches Argument beweist denn auch Piaton, daß die Lust n i c h t der oberste Wert ist. Er sagt, das lustvolle Leben sèi zusammen mit sittlicher Einsicht wählenswerter als ohne 6ie ; wenn aber die Mischung besser sei, so sei die Lust nicht der oberste Wert, denn der oberste Wert könne durch keinerlei Hinzufügen noch wählenswerter gemacht werden. Dann 1 1 ist aber klar, daß auch nichts anderes den obersten Wert darstellen kann, wenn es zusammen mit

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einem der an sich gültigen Werte noch wählenswerter würde. Wo ist nun ein Wert, der diese Bedingung erfüllt und an dem wir als Menschen teilhaben können? Einem solchen gilt ja unser Suchen. (II') Wer aber einwendet 1 , das, wonach alle streben, brauche nicht unbedingt ein Wert zu sein, sagt etwas Unhaltbares 2 . Denn (1) daran halten wir fest 3 : einer Überzeugung, die alle Menschen teilen, ent- msa spricht wirkliches Sein. Wer aber diese Überzeugung beseitigen möchte, wird kaum Überzeugenderes zu sagen haben. Wenn nämlich nur die vernunftlosen Wesen darnach strebten, so könnte etwas daran sein an dem, was sie behaupten; wenn aber auch die vernunftbegabten

es tun, wie könnte ein Sinn in ihrer Behauptung sein ? Aber vielleicht ist sogar in den primitiveren Lebewesen eine Art von natürlichem Instinkt 4 , der sich stärker als sie selbst erweist und nach jenem Werte strebt, der ihnen wesensmäßig 6 zugeordnet ist. (2) Aber auch was über das Argument (des Eudoxos) vom Gegensatz (zur Lust) gesagt wird 6 , ist kaum richtig. Die Gegner (des Eudoxos) sagen nämlich: wenn die Unlust ein Übel ist, so folgt deswegen noch nicht, daß die Lust ein Wert ist, denn zu einem Übel könne wiederum ein Übel den Gegensatz bilden und beide Übel können dem entgegengesetzt sein, was weder ein Wert noch ein Übel sei. Diese Argumentation ist zwar an sich nicht schlecht, aber im vorliegenden Fall trifft sie leider nicht zu. Denn wenn beide (Lust und Unlust) ein Übel wären, so müßten auch beide gemieden werden; gehören sie aber beide zu dem, was weder ein Wert noch ein Übel ist, so wäre keines von beiden, oder eines genau so wie das andere zu meiden. Nun aber lehrt die Erfahrung, daß die Menschen die Unlust als Übel meiden, die Lust dagegen als Wert erwählen. Und in diesem Sinn stehen sie denn zueinander in Gegensatz. (3) Und weiter: es ist keineswegs 7 so, daß, wenn die Lust nioht zu den „ Qualitäten" gehören sollte, sie deswegen auch nicht zu den Werten gehört. Auch die ethische Trefflichkeit ist ja, als lebendiges Tun, keine „Qualität", sowenig wie das Glück. (4) Ferner sagen sie: ein Wert ist etwas scharf Umgrenztes 8 , die Lust aber ist etwas Grenzenloses, weil sie ein Mehr oder Minder zuläßt. (a) Wenn sie sich nun ein solches Urteil auf Grund der Luste m p f i n d u n g bilden, so muß das Gleiche auch für die Gerechtigkeit und die anderen Formen ethischer Trefflichkeit gelten, wo man ganz eindeutig von einem Mehr oder Minder der ethischen Qualität und einem Mehr oder Minder des ihnen gemäßen Handelns spricht, denn

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es ist bei der Gerechtigkeit oder der T a p f e r k e i t ein höherer G r a d d e n k b a r u n d m a n k a n n a u c h m e h r oder minder gerechte oder b e s o n n e n e H a n d l u n g e n vollziehen, (b) W e n n sie sich aber ihr Urteil auf G r u n d der verschiedenen F o r m e n der L u s t bilden, so bezeichnen sie d a m i t sicher nicht die richtige Ursache, falls es u n v e r m i s c h t e u n d Mischf o r m e n der L u s t gibt, (c) W a s sollte aber auf der a n d e r e n Seite d a gegen sprechen, d a ß , so wie die G e s u n d h e i t 1 , die doch begrifflich scharf u m g r e n z t ist, ein Mehr oder Minder z u l ä ß t , a u c h die L u s t es t u t ? E s ist nämlich nicht in allem Seienden ein u n d derselbe ausgeglichene G e s a m t z u s t a n d u n d auch n i c h t in ein u n d demselben Seienden i m m e r n u r ein u n d derselbe G r a d v o n Ausgeglichenheit, sondern diese k a n n nachlassen u n d doch bis zu einem gewissen P u n k t b e s t e h e n bleiben u n d G r a d u n t e r s c h i e d e zulassen. Derartiges k a n n n u n wohl a u c h bei der L u s t der Fall sein. (5) I n d e m m a n ferner den obersten W e r t als etwas Vollendetes 2 , Bewegung u n d W e r d e n als etwas Unvollendetes a n s e t z t , sucht m a n die L u s t als eine Bewegung u n d ein W e r d e n zu erweisen. Aber es scheint, d a ß n i c h t e i n m a l 3 die These, L u s t sei Bewegung, richtig ist. D e n n 4 b e k a n n t l i c h gehören zu jeder Bewegung wesensmäßig Schnelligkeit u n d L a n g s a m k e i t , u n d w e n n 5 eine Bewegung, z. B. die des Alls, n i c h t a n sich schnell oder l a n g s a m ist, so ist sie es doch in der Beziehung auf etwas anderes. Aber bei der L u s t findet sich weder das eine noch das andere. D e n n n a t ü r l i c h k a n n m a n schnell in L u s t , wie 1173b a u c h in Zorn, g e r a t e n , aber i m aktuellen Z u s t a n d der L u s t gibt es keine Schnelligkeit, auch nicht in Beziehung a u f einen a n d e r e n : d a s gibt es etwa b e i m Gehen, W a c h s e n u n d dergleichen. W ä h r e n d es also möglich ist, in die L u s t schnell oder l a n g s a m hinüberzuwechseln, l ä ß t sich das lebendige W i r k e n , ich meine, der aktuelle Z u s t a n d der L u s t , nicht als schneller Vorgang auffassen. U n d wie soll die L u s t ein W e r d e p r o z e ß sein? E s gilt doch n i c h t d e r S a t z : „Wahllos e n t s t e h t alles aus a l l e m " , s o n d e r n : „ W o r a u s 6 e t w a s e n t s t e h t , in das hinein vergeht e s " . U n d die U n l u s t wäre d a n n d e r U n t e r g a n g jener E l e m e n t e , deren W e r d e p r o z e ß die L u s t ist. (6) F e r n e r sagen sie, die Unlust sei ein Mangel 7 a n d e m , was n a t ü r licherweise v o r h a n d e n sein m ü ß t e , die L u s t aber sei „Auffüllung*' (mit dem, was v o n N a t u r da sein m u ß ) . Hierbei h a n d e l t es sich a b e r u m körperliche Vorgänge. W e n n d e m n a c h die L u s t die „ A u f f ü l l u n g " n a t ü r l i c h e r Bedürfnisse ist, so m ü ß t e jenes Ding i m Z u s t a n d der L u s t sein, an welchem die A u f f ü l l u n g s t a t t f i n d e t , also der K ö r p e r . Ab«r

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dies meint doch niemand 1 . Also ist die Lust nicht eine „Auffüllung", sondern es ist so, daß man Lust empfindet, während sich die Auffüllung vollzieht, und Unlust, während man (z. B.) einer Operation unterzogen wird. Diese Ansicht hat ihren Ursprung wohl in den Unlust* und Lustempfindungen, die mit dem Ernährungsvorgang zusammenhängen ; denn wenn man in den Zustand des Mangels gekommen sei und zunächst Unlust empfunden habe, genieße man die Wiederauffüllung als Lust. Dies aber trifft nicht bei allen Lustempfindungen zu. Denn die Lust der Erkenntnis und unter den sinnlichen Lustempfindungen die des Geschmacks, ferner eine Reihe von Hörund Seheindrücken sowie Erinnerungen und Erwartungen vollziehen sich ohne (vorherige) Unlustempfindung. Wessen Werdeprozesse also sollen diese Empfindungen darstellen, wo doch gar kein Mangel aufgetreten ist, dessen Wiederauffüllung sie sein könnten? (7) Wenn jemand die ekelhaften Formen der Lust als Argument 2 vorbringt, so ließe sich erwidern, (a) daß diese in Wirklichkeit gar nicht lustvoll sind. Wenn sie nämlich für verderbte Menschen eine Lust bedeuten, so muß man deswegen noch nicht annehmen, daß sie von diesen abgesehen auch sonst noch jemandem lustvoll sind, wie ja auch die Dinge, die für kranke Menschen gesund oder bitter oder süß sind, (dies nicht auch für andere sind) und wie auch kein anderer das als weiß ansieht, was einem Augenleidenden so vorkommt, (b) Oder man könnte erwidern: die Lust ist zwar wählenswert, nur darf sie keine derartige 3 Herkunft haben - wie auch der Reichtum wählenswert ist, aber nicht als Lohn für Verrat, und die Gesundheit, aber nicht als Folge eines wahllosen Verschlingens von Nahrung. - (c) Oder: bei der Lust gibt es Artunterschiede 4 , denn (a) es ist etwas anderes, ob die Lust eine edle oder eine schmutzige Herkunft hat, und man kann nicht die Lust des gerechten Menschen genießen ohne gerecht 5 zu sein und nicht die des Musikers ohne musikalisch zu sein usw. (ß) Auch scheint die Tatsache, daß ein Freund etwas anderes ist als ein Schmeichler 6 , deutlich zu machen, daß die Lust kein Wert ist oder daß bei ihr mehrere Arten zu unterscheiden sind. Denn die Gesellschaft des einen hat bekanntlich den sittlichen Wert zum Zweck, die des anderen die Lust, und von dem letzteren redet man mit Verachtung, während der erstere gepriesen wird, weil der Zweck seiner Gesellschaft ein anderer ist. in*& (y) Und weiterhin: niemand würde zu leben wünschen, wenn er mit seinem Verstand zeitlebens auf der Stufe eines Kindes 7 verharren müßte, selbst wenn er dabei kindliche Freuden in höchstem Maße

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genießen k ö n n t e , n o c h 1 w ü r d e er sich Vergnügen w ü n s c h e n u m d e n Preis einer h ö c h s t v e r a b s c h e u e n s w e r t e n T a t , selbst w e n n er niemals d a r ü b e r U n l u s t zu e m p f i n d e n b r a u c h t e . - U n d schließlich b e d e u t e n u n s doch viele Dinge ein e r n s t e s 2 Anliegen, a u c h w e n n sie u n s gar keine L u s t b r ä c h t e n , z. B. Sehen, E r i n n e r n , E r k e n n t n i s , der Besitz ethischer Vorzüge. W e n n aber m i t diesen W e r t e n n o t w e n d i g L u s t e m p f i n d u n g e n v e r b u n d e n sind, so m a c h t das keinen Unterschied, d e n n wir w ü r d e n sie f ü r u n s erwählen, a u c h w e n n u n s v o n i h n e n keine L u s t käme. Somit wird k l a r geworden sein, d a ß die L u s t weder der oberste W e r t , n o c h d a ß jede L u s t wählenswert i s t ; ferner, d a ß m a n c h e F o r m e n der L u s t a n sich wählenswert sind, F o r m e n , die sich der A r t u n d der H e r k u n f t n a c h v o n e i n a n d e r u n t e r s c h e i d e n . Soweit die D a r s t e l l u n g der L e h r m e i n u n g e n , die ü b e r L u s t u n d U n l u s t v e r t r e t e n w e r d e n . 3. W a s a b e r das W e s e n 3 oder die Wesenseigenschaften der L u s t sind, das wird a m ehesten zu endgültiger K l a r h e i t 4 k o m m e n , w e n n wir wieder v o n v o r n einsetzen. Der V o r g a n g 5 des Sehens ist, wie m a n a n n e h m e n d a r f , in j e d e m beliebigen Z e i t p u n k t in sich vollendet, d e n n es f e h l t i h m nichts, was d u r c h späteres H i n z u t r e t e n seine Wesensgestalt erst zur Vollendung bringen m ü ß t e . V o n dieser A r t n u n scheint a u c h die L u s t zu sein. D e n n sie ist etwas Ganzheitliches u n d zu k e i n e m Z e i t p u n k t wird m a n einer L u s t begegnen, die erst bei längerer D a u e r eine vollendete Wesensgestalt b e k ä m e . Dies ist a u c h der G r u n d 6 , wesh a l b sie keine Bewegung ist. D e n n j e d e Bewegung vollzieht sich i n d e r Zeit u n d h a t einen E n d z w e c k - z. B. der V o r g a n g 7 des B a u e n s - u n d 6ie ist vollendet, w e n n sie das b e w i r k t h a t , wonach sie s t r e b t e . Volle n d e t also w ä h r e n d ihres ganzen Ablaufs oder in diesem Augenblick (des Abschlusses). I n d e n einzelnen Z e i t a b s c h n i t t e n 8 dagegen sind alle (Einzelbewegungen) u n v o l l e n d e t u n d der A r t n a c h v o n d e m Ges a m t v e r l a u f (der Bewegung) u n d v o n e i n a n d e r verschieden. D e n n die Z u s a m m e n s e t z u n g der Steine ist etwas anderes als die K a n n e l i e r u n g der Säulen u n d beide Bewegungen sind etwas anderes als die Herstellung des T e m p e l g a n z e n . U n d zwar ist die H e r s t e l l u n g 9 des Tempelg a n z e n eine vollendete Bewegung, d e n n in H i n s i c h t auf das vorgesetzte Ziel f e h l t nichts m e h r a n ihr, die Herstellung der Tempelbasis dagegen oder der T r i g l y p h e n ist eine unvollendete Bewegung, d e n n beide Bewegungen beziehen sich n u r auf ein Teilglied (des Baus). E s i s t also ein A r t u n t e r s c h i e d bei den Bewegungen u n d es ist n i c h t möglich, zu i r g e n d e i n e m Z e i t p u n k t eine der A r t n a c h vollendete Bewegung f e s t z u -

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stellen, es sei denn, m a n schaut auf den Gesamtablauf. Entsprechend verhält es sich beim Gehen u n d den übrigen Bewegungsformen. W e n n nämlich „Ortsbewegung" soviel bedeutet wie Bewegung von einem P u n k t zu einem a n d e r n 1 , so gibt es auch bei ihr Artunterschiede: Fliegen 2 , Gehen, Springen u n d dergleichen. Aber d a m i t nicht genug: auch beim Gehen selbst gibt es wieder Unterschiede, denn das Woher u n d Wohin ist nicht dasselbe auf der ganzen Stadionbahn u n d in einem Teile davon, auch nicht dasselbe in dem einen Teil u n d in einem anderen. Und wiederum ist es nicht das Gleiche, diese Strecke oder jene zu durchlaufen. Denn es handelt sich nicht n u r d a r u m , irgendeine 1174 b Strecke zu durchlaufen, sondern eine Strecke, die örtlich festgelegt ist, u n d da ist die eine an diesem, die andere an jenem Platze festgelegt. Nun, die genaue Darstellung der Bewegung findet sich in einer and e r e n 3 Schrift. Es sieht aber so aus, als sei die Bewegung nicht in jedem beliebigen Z e i t p u n k t vollendet, sondern als seien die vielen Teilbewegungen u n v o l l k o m m e n 4 und der Art nach voneinander verschieden, nachdem das Woher u n d Wohin artbildend ist. Die Lust aber h a t zu jeder beliebigen Zeit ihre vollendete Wesensgestalt. Somit ist klar, d a ß Lust u n d Bewegung voneinander verschieden sind u n d d a ß die L u s t zu den Dingen gehört, die ein Ganzes u n d Vollendetes darstellen. Dies darf m a n übrigens auch der Tatsache entnehmen, d a ß zwar keine Bewegung möglich ist, die sich nicht in der Zeit vollzöge, wohl aber die Lustempfindung. Denn das, was liier und j e t z t Wirklichkeit gewinnt (wie die Lust), ist ein Ganzes. Aus dieser Einsicht heraus wird aber auch klar, d a ß m a n zu Unrecht b e h a u p t e t , es gebe eine Bewegung oder ein Werden der L u s t . Denn dies k a n n nicht von allem gesagt werden, sondern n u r von dem, was teilbar u n d nicht ein Ganzes i s t : es gibt kein Werden des Sehens u n d auch kein Werden des mathematischen P u n k t e s oder der Einheit u n d es i s t auch nichts von dem Genannten weder Bewegung noch Werden. Folglich gibt es auch keine Bewegung u n d kein Werden der Lust, denn sie ist eben ein Ganzes. 4. Da j e d e s 5 Sinnesvermögen 6 seine Wirksamkeit im Bezogensein auf das Objekt e n t f a l t e t u n d dies in vollkommener Weise da geschieht, wo das Sinnesvermögen in guter Verfassung auf das edelste, seinem Bereich zugehörige Objekt bezogen ist - denn so vor allem stellt sich vollkommenes Wirken in seinem Wesen d a r : ob m a n dabei übrigens sagt, das Sinnesvermögen selbst wirke oder der T r ä g e r 7 dieses Ver-

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mögens, mag als unwesentlich beiseite bleiben - so ergibt sich, daß in jedem Einzelfall jenes Wirken das vorzüglichste ist, wo das Organ in bester Verfassung auf das hervorragendste der zu seinem Bereich gehörigen Objekte bezogen ist. Dieses Wirken ist das vollkommenste und auch das lustvollste. Denn jedem einzelnen Sinnesvermögen ist Lust zugeordnet 1 , ebenso auch dem Verstände und der erkennenden Schau. Höchste Lust aber bereitet das vollkommenste Wirken, am vollkommensten aber ist es dann, wenn ein Organ in guter Verfassung auf das wertvollste aller zu seinem Bereich gehörigen Objekte bezogeji ist. Und es ist die Lust, die das Wirken zu einem vollkommenen Akte erhebt. Aber nicht 2 auf die gleiche Weise macht die Lust (das Wirken) vollkommen wie es das Objekt des Sinnes Vermögens und das Sinnesvermögen tun, vorausgesetzt natürlich, daß beide hochwertig sind, genau so wie auch die Gesundheit und der Arzt nicht in gleicher Weise Ursache des .Gesundseins sind. Daß jedem einzelnen Sinnesvermögen Lust zugeordnet ist, ist klar 3 , denn wir stellen ja fest, daß Gesichts- und Gehöreindrücke lustvoll sind, und klar ist ferner, daß dies im höchsten Grade der Fall ist, wenn das Sinnesvermögen ein ganz vorzügliches ist und in der Bezogenheit auf ein entsprechendes Objekt wirksam wird. Und wenn Objekt und Subjekt der Sinnesempfindung von dieser (vollkommenen) Art sind, so wird immer Lust da sein: natürlich; denn die Grundvoraussetzung ist ja gegeben: ein Element, das bereit ist einzuwirken, und ein anderes, das bereit ist, die Wirkung aufzunehmen. Die Lust erhebt das Tätig-sein zu einem vollkommenen Akt nicht so, wie 4 die zu ihm gehörende immanente Grundverfassung, sondern als eine am Tätig-sein sich entwickelnde Vollendung, so wie in der Blüte der Jahre sich die Schönheit einstellt. Solange nun das Denk- 6 ii75a und das Sinnesobjekt, und ebenso das beurteilende oder betrachtende Subjekt so sind, wie sie sein sollen, wird die Lust in dem Tätig-sein enthalten sein; denn indem das aufnehmende und das einwirkende Element gleichartig und aufeinander in stets gleicher Weise bezogen sind, entsteht naturgemäß dasselbe Ergebnis. Wie kommt es nun 6 , daß niemand Lust als Dauerzustand genießt? Ist es deshalb, weil wir müde werden? Haftet doch allem menschlichen Wesen das Unvermögen an dauernd aktiv zu sein. Und so gibt es auch keine Lust (als Dauerzustand), denn sie begleitet 7 ja das Tätig-sein. Manches ergötzt uns, solange es neu ist, später aber nicht mehr so stark - aus demselben Grund. Denn anfangs ist unser gei-

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stiges Vermögen sehr angeregt 1 und beschäftigt sich angespannt mit seinem Objekt - auf dem Gebiet des Sehvermögens z. B., wenn man etwas scharf ins Auge faßt - hernach aber ist unser tätiges Interesse nicht mehr so (lebhaft), sondern es hat bereits nachgelassen 2 . So verliert dann auch die Lust an Intensität. Daß alle Menschen nach Lust begehren, wird man sich damit erklären dürfen, daß auch alle zu leben begehren. Leben aber ist Tätigsein und jeder ist aktiv auf dem Gebiet und mit den Fähigkeiten, die er am meisten liebt: der Musiker 3 wirkt mit seinem Gehör auf dem Gebiet der Melodien, der Freund der Erkenntnis mit seiner Denkkraft auf dem Gebiete wissenschaftlicher Probleme und so auch alle übrigen. Nun ist es aber die Lust, die jedes Wirken zu einem vollkommenen Akt erhebt und somit auch das Leben, wonach die Menschen begehren. Es ist also wohl verständlich, wenn sie auch nach der Lust trachten, denn sie erhebt jedem das Leben - das (selber) ein wählenswertes Gut ist - zu einem vollkommenen Zustand. 5. Ob wir aber das Leben um der Lust willen oder die Lust um des Lebens willen wählen, das sei im Augenblick dahingestellt. Denn offenbar ist beides eng miteinander verbunden und läßt keine Trennung zu. Denn ohne lebendiges Wirken gibt es keine Lust und jedes Wirken wird durch die Lust zu etwas Vollkommenem gemacht. Dies mag auch als Grund gelten, weshalb es verschiedene Arten 4 der Lust gibt. Denn, (a) so nehmen wir an, Dinge, die der Art nach verschieden sind, werden auch durch (Art-)Verschiedenes zur Vollendung erhoben: das zeigt sich bei den Gebilden der Natur, wie auch bei denen der bewußten Kunst (oder Kunstfertigkeit), z. B, bei Tieren und Bäumen, bei einem Gemälde, einer Statue, einem Haus, einem Gerät. Und ähnlich gilt von den Formen des Tätig-seins, daß artverschiedene Formen wiederum durch Artverschiedenes zur Vollendung gebracht werden. Nun sind aber die Tätigkeiten des geistigen Vermögens von denen der Sinnesorgane und beide wieder untereinander der Art nach verschieden: folglich aber auch die Formen der Lust, die ihnen Vollendung geben. Das mag übrigens auch (b) daraus deutlich werden, daß jede Form der Lust durch ein besonderes Band der Zugehörigkeit mit der Form des Wirkens verbunden ist, welcher sie Vollendung gibt. Denn die Intensität des Wirkens wird durch die zugehörige Lust erhöht. Denn wer sein Werk mit Lust und Liebe tut, der gewinnt in jeder Einzelheit das bessere Urteil und die größere Genauigkeit. So wird der die

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Geometrie beherrschen, der seine Freude an geometrischen Problemen hat; auch wird sein Verständnis 1 in jedem Einzelnen gründlicher. Und wer mit Lust und Liebe der Musik oder der Baukunst ergeben ist, macht entsprechende Fortschritte in seinem eigensten Bereich, indem er daran seine Freude hat. Also: Lust intensiviert; das Intensivierende aber ist wesensmäßig (dem Intensivierten) zugeordnet. 1175 b Was aber der Art nach verschieden ist, für das ist auch das wesensmäßig Zugeordnete etwas der Art nach Verschiedenes. Dies läßt sich (c) noch mehr durch die Beobachtung verdeutlichen, daß Lust, die aus einer Tätigkeit b entsteht, die Tätigkeit a stört. So ist ein begeisterter Flötenspieler nicht imstande, seine Aufmerksamkeit einer philosophischen Diskussion zu schenken, falls gerade Flötenmusik an sein Ohr dringt, denn seine Freude an der Flötenkunst ist größer als die an der augenblicklichen Form seiner Beschäftigung. E s ist also so, daß die Lust an der Flötenkunst die auf philosophische Diskussion gerichtete Aktivität aufhebt. Und ähnliches tritt auch in den übrigen Fällen ein, wenn die Aktivität zwei Aufgaben gleichzeitig gilt: das lustvollere Tun verdrängt 2 das andere, und wenn der Unterschied an Lustgehalt sehr groß ist, dann um so entschiedener, so daß man das minder Angenehme sogar aufgibt. Wenn wir daher an irgend etwas eine ausnehmende Freude haben, so fällt uns gar nicht ein, etwas anderes zu tun; auf „anderes" verfallen wir nur dann, wenn uns etwas nicht sonderlich zu fesseln vermag. Man sieht es z. B. im Theater an den Leuten, die gerne Süßigkeiten essen: sie tun es mit besonderer Hingabe dann, wenn die Darsteller nichts taugen. Da nun eine Tätigkeit durch die ihr w e s e n s m ä ß i g zugehörige Lust sorgfältiger, stetiger 3 und besser gemacht, durch Lust dagegen, die ihr (nicht wesensmäßig zugehört, also) „ f r e m d " ist, stark beeinträchtigt wird, so ist klar, daß ein sehr großer Abstand diese zwei Arten der Lust trennt. Denn „fremde" Lust bewirkt fast das gleiche wie wesenszugehörige Unlust, denn durch wesenszugehörige Unlust wird eine Tätigkeit aufgehoben. Zum Beispiel, wenn jemandem das Schreiben zuwider und unangenehm ist oder das Rechnen, so schreibt er eben nicht oder er rechnet nicht, da dies eine unangenehme Beschäftigung ist. So erfährt also unser Tätig-sein von Seiten der wesenszugehörigen Lust und Unlust gegensätzliche Einwirkungen - unter „wesenszugehörig" aber ist jene Lust und Unlust zu verstehen, die sich aus eben dem Ablauf der Tätigkeit selbst (und aus keinem anderen Grunde) ergeben.

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Daß aber „ f r e m d e " Lust so ziemlich dasselbe zuwege bringt wie die Unlust, das haben wir festgestellt 1 : sie hebt die Tätigkeit auf, nur nicht ganz in der gleichen Weise. (d) Wie sich nun die Formen von Tätigkeit durch Wert 2 und Unwert unterscheiden und die einen wählenswert, die andern dagegen zu meiden, und wieder andere weder das eine noch das andere sind, so ist es auch bei den Formen der L u s t ; denn jede Tätigkeit ist von einer wesenszugehörigen Lust begleitet. Die der hochwertigen Tätigkeit wesensmäßig zugeordnete Lust ist gut, die der minderwertigen zugeordnete schlecht: wie j a auch die Begierde 3 nach dem Edlen Anerkennung, die nach dem Verwerflichen Ablehnung findet. Indes ist die Lust, die im Tätig-sein enthalten ist, diesem in höherem Grade 4 zugehörig als das strebende Verlangen (welches Ursache der Tätigkeit wird), denn das Verlangen ist der Zeit und seiner Natur nach scharf (von der Tätigkeit) getrennt, während die Lust der Tätigkeit ganz nahe und so wenig von ihr zu scheiden ist, daß man sogar zweifeln kann, ob Tätig-sein und Lust nicht identisch sind. In Wirklichkeit aber kann man natürlich nicht annehmen, daß Lust dasselbe 5 wie Denk- oder Sinnestätigkeit sei: das wäre Unsinn; nur weil keine (faktische) Trennung vorhanden ist, erscheinen sie für manche identisch. Wie also die Formen des Tätig-s« ins verschieden sind, so auch die (entsprechenden) Formen der Lust. (e) Nun ist aber das Sehen 6 dem Tasten, Gehör und Geruch dem i m » Geschmack an Reinheit der Funktion überlegen. Folglich sind dabei auch die Lustempfindungeft überlegen und diesen wiederum ist die Lust überlegen, welche mit der Denktätigkeit 7 verbunden ist, und innerhalb der beiden Arten ist die eine Form der anderen (an Reinheit) überlegen 8 . (f) Für jedes Lebewesen gibt es, so darf man annehmen, eine ihm wesenseigene L u s t wie auch eine ihm eigene Leistung 9 - jene Lust nämlich, die der ihm eigentümlichen Tätigkeit entspricht. Und wenn man die Lebewesen im einzelnen beobachtet, so tritt dies auch klar in Erscheinung: für das Pferd, den Hund, den Menschen ist die Lust je etwas anderes, wie Heraklit 1 0 s a g t : „ E s e l mögen lieber Tennenkehricht als Gold", denn Futter macht dem Esel mehr Freude als Gold. Bei Wesen, die artverschieden sind, weist also auch die Lust Artunterschiede auf, während dies, wie wir mit gutem Grund annehmen, bei artgleichen Wesen nicht der Fall ist. Die Mannigfaltigkeit aber, die hier beim Menschen zu beobachten ist, ist natürlich nic'it

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gering: ein u n d dasselbe ist d e m einen F r e u d e , d e m a n d e r e n Leid, ist d e m einen u n a n g e n e h m u n d hassenswert, d e m a n d e r e n a n g e n e h m u n d liebenswert. - Auch b e i m Süßen ist es s o : n i c h t ein u n d dasselbe wird v o n d e m F i e b e r k r a n k e n u n d d e m G e s u n d e n als s ü ß e m p f u n d e n u n d n i c h t dasselbe als heiß v o n d e m Z a r t g e b a u t e n u n d d e m , der eine gute K o n s t i t u t i o n h a t . U n d ähnliches begegnet a u c h sonst. - E s ist a b e r b e k a n n t l i c h in all diesen Fällen die A u f f a s s u n g des hochwertigen Menschen m a ß g e b e n d . T r i f f t a b e r dieser Satz zu, wie es d e n A n s c h e i n 1 h a t , u n d bildet in j e d e m F a l l der ethische W e r t u n d der ethisch h e r v o r r a g e n d e Mensch als solcher d e n M a ß s t a b , so ist es a u c h bei der L u s t so: was der hervorr a g e n d e Mensch als solche e m p f i n d e t , das i s t L u s t , u n d a n g e n e h m ist das, w o r a n e r seine F r e u d e h a t . W e n n aber, was i h m widerwärtig ist, v o n einem a n d e r e n als lustvoll e m p f u n d e n wird, so ist das n i c h t verwunderlich, d e n n 2 vielfache Z e r s t ö r u n g u n d Verderbnis geschieht a n der M e n s c h e n n a t u r . Aber wirklich lustvoll sind die(se) O b j e k t e n i c h t : sie sind es n u r f ü r diese u n d f ü r Menschen dieses Schlages. N u n ist klar, d a ß jene L u s t , ü b e r deren Verwerflichkeit volle Übere i n s t i m m u n g h e r r s c h t , n i c h t als L u s t angesprochen w e r d e n d a r f . Sie ist es n u r f ü r v e r d o r b e n e N a t u r e n . U n t e r d e n F o r m e n der L u s t a b e r , die als g u t gelten - welche A r t v o n L u s t oder welche b e s t i m m t e L u s t k a n n d a als d i e L u s t des Menschen angesprochen w e r d e n ? I s t es n i c h t k l a r , w e n n m a n auf die F o r m e n menschlichen W i r k e n s b l i c k t ? D e n n diese w e r d e n v o n e n t s p r e c h e n d e n F o r m e n der L u s t begleitet. Mag sich n u n das W i r k e n des vollendeten u n d glückseligen Menschen in einer einzigen F o r m , m a g es sich in m e h r e r e n 3 e n t f a l t e n : die L u s t , welche dieses W i r k e n z u r Vollendung e r h e b t , m u ß i m eigentlichen Sinn als die d e m Menschen eigentümliche L u s t bezeichnet werden. W a s sonst n o c h a n L u s t d e n k b a r ist, zeigt dieselben A b s t u f u n g e n wie die (entsprechenden) T ä t i g k e i t e n : es ist L u s t zweiten u n d n o c h 4 m i n d e r e n Grades. 6. Unsere G e d a n k e n ü b e r die verschiedenen F o r m e n der Trefflichkeit, der F r e u n d s c h a f t u n d der L u s t h a b e n wir n u n ausgesprochen u n d so bleibt noch die A u f g a b e , das Wesen des Glücks i m U m r i ß 5 darzustellen, n a c h d e m uns das Glück als Endziel def M e n s c h e n n a t u r gilt. Unsere D a r s t e l l u n g k a n n a b e r a n präziser K n a p p h e i t n u r gew i n n e n , w e n n wir d a s f r ü h e r Gesagte wieder a u f n e h m e n . W i r h a b e n g e s a g t 6 : das Glück ist kein Z u s t a n d (der R u h e ) , d e n n sonst k ö n n t e es a u c h d e m gehören, der ein L e b e n l a n g schläft, der das L e b e n einer Pflanze lebt, oder dem, der sich i m größten U n g l ü c k 7 be-

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findet. Wenn uns also diese Folgerungen nicht befriedigen, wenn das ii7«b Glück vielmehr, wie früher 1 gesagt, als ein Tätig-sein zu bestimmen ist, die Formen dieses Tätig-seins aber teils 2 notwendig und als Mittel zum Zweck wählenswert, teils an sich wählenswert sind, so ist das Glück offenbar unter die an sich, nicht etwa als Mittel zum Zweck, wählenswerten Tätigkeiten zu setzen, denn das Glück ist frei von Mangel: es genügt 3 sich selbst. Nun ist aber jenes Tätig-sein wählenswert an sich, dem man außer der Funktion des Tätig-seins nichts weiter abverlangt. Als solches aber gilt das ethisch wertvolle Handeln, denn das Edle und Wertvolle tun, das gehört zu den Werten, die wählenswert an sich sind. Zu ihnen rechnet man nun allerdings auch die genießerische Verspieltheit, die man ja nicht als Mittel zu einem Zweck erwählt - ist sie uns doch eher 4 ein Schaden als ein Nutzen, da man ihr zuliebe Leib und Besitz verkommen läßt. Von denen, die für glücklich gelten, laufen die meisten solchem Zeitvertreib nach. Leute, die bei solchen Gelegenheiten gesellige Gewandtheit zeigen, stehen daher bei den Tyrannen 5 in hohem Ansehen: in allem, was Tyrannenlaune wünscht, verstehen sie es ja sich angenehm zu machen. Und solche Leute kann man da brauchen. Nun scheint es freilich, als habe solches Treiben etwas mit Glück zu tun, weil 6 die Mächtigen ganz darin aufgehen 7 . Aber solche Menschen sind schwerlich ein Beweis dafür, denn nicht auf äußerer Macht beruht ethische und geistige Höhe, von denen die Aktivität wertvollen Handelns ausgeht. Und man darf nicht meinen, wenn solche Leute, die niemals reine 8 und großgeartete Freude gekostet haben, der sinnlichen Lust nachlaufen, daß diese dann den Vorzug verdiene. Meinen doch auch die Kinder, daß Dinge, die in ihrem kindlichen Bereich etwas gelten, das Höchste seien. Es ist also wohlverständlich, daß, wie Kindern und Erwachsenen, so auch den Schlechten und den Guten je anderes 9 als wertvoll gilt. Wie wir nun schon wiederholt 10 gesagt haben, i s t wertvoll und i s t lustvoll das, was dem hochwertigen Menschen wertvoll und lustvoll ist. Jeder aber gibt der Tätigkeit den unbedingten Vorzug, die dem Grundzug seines Wesens entspricht: der hochwertige Mensch also dem Handeln, das im Sinne ethischer Trefflichkeit Form gewinnt. Folglich besteht das Glück nicht in Verspieltheit. Es wäre ja auch unverständlich, daß das Endziel ein Spiel und das ganze Leben ein Arbeiten und Ertragen 1 1 von Härten sein soll - um des Spieles willen. Wir wählen doch, kurz gesagt, alles und jedes als Mittel zum Zweck, nur nicht das Glück, denn das Glück

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ist Endziel. Ernste Tätigkeit und Mühe um des Spieles willen erscheint töricht und überaus kindlich. Dagegen „spielen u m des Ernstes fähig zu sein" - dieser Spruch des Anacharsis 1 darf als richtig gelten. Denn das Spiel 2 ist soviel wie Erholung, Erholung aber braucht der Mensch, 1177« weil er außerstande ist ohne Unterbrechung zu arbeiten. Erholung ist somit kein Endziel, denn man gönnt sie sich u m der Tätigkeit willen. Ferner gilt, daß das glückliche Leben ein ethisch hochstehendes Leben ist. Ein solches aber erfordert Anstrengung und ist kein Spiel. Und wir stellen fest, daß ernste Dinge wertvoller sind als lächerliche und spielerische, und daß jeweils das Wirken des wertvolleren Teils oder des wertvolleren Menschen ernsthafter ist. Das Wirken des Wertvolleren aber ist überlegen und schließt schon mehr von Glück in sich. Sinnliche Lust kann übrigens der nächste beste, auch ein Sklave, nicht minder genießen als der höchstwertige Mensch. Anteil am Glück aber weist niemand dem Sklaven 3 zu, außer er gibt ihm auch die Möglichkeit, ein eigenständiges Leben zu führen. Denn nicht in dem erwähnten Treiben besteht das Glück, sondern in einem Tätig-sein im Sinne der Trefflichkeit, wie wir schon f r ü h e r 4 ausgesprochen haben. 7. Wenn das Glück 6 ein Tätig-sein im Sinne der Trefflichkeit ist, so darf darunter mit gutem Grund die höchste 6 Trefflichkeit verstanden werden: das aber kann nur die der obersten K r a f t in uns sein. Mag n u n der Geist oder 7 etwas anderes diese K r a f t sein, die man sich gewiß als wesenhaft herrschend, führend s , auf edle und göttliche Gegenstände gerichtet vorstellt - mag diese K r a f t selbst auch göttlich oder von dem, was in uns 9 ist, das göttlichste Element sein - das Wirken dieser K r a f t gemäß der ihr eigentümlichen Trefflichkeit ist das vollendete Glück. Daß dieses Wirken aber ein geistiges Schauen ist, haben wir bereits festgestellt 1 0 . Das ist in Übereinstimmung, so dürfen wir behaupten,- mit den früheren 1 1 Erkenntnissen und mit der Wahrheit. Denn einmal ist das die oberste Form menschlichen Wirkens: es h a t ja auch der Geist von dem, was in uns ist, den obersten Rang, und obersten Rang unter den Erkenntnisobjekten haben die des Geistes. Sodann aber h a t dieses Wirken auch die größte Stetigkeit, denn in stetiger 1 2 geistiger Schau können wir leichter verharren als in irgendeiner Tätigkeit (nach außen). Wie wir ferner annehmen, m u ß Glück mit Lust vermischt sein; am lustvollsten aber unter den Formen hochwertiger Tätigkeit ist zugestandenermaßen das lebendige Wirken des philosophischen Geistes. Jedenfalls gilt von der Philosophie, daß sie eine durch ihre Reinheit

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und Dauer großartige 1 Lust gewährt. Und es ist wohl begründet, daß dem aus seiner Erkenntnis heraus Wirkenden ein lustvolleres 2 Dasein beschieden ist als dem, der den Weg dazu erst sucht. Auch das, was man „sich selbst genügende Unabhängigkeit" (Autarkie) nennt, ist vor allem bei der Verwirklichung der geistigen Schau zu finden. Denn was zum Leben notwendig ist, das braucht der Weise so gut wie der Gerechte und die übrigen (hochwertigen Menschen). Sind sie dann aber mit diesen Dingen zur Genüge versehen 3 , so braucht der Gerechte 4 immer noch Menschen, an denen und mit denen er gerecht handeln kann, und dementsprechend der Besonnene und der Tapfere und alle übrigen - der Weise dagegen kann sich der geistigen Schau hingeben, auch wenn er ganz für sich ist, und je weiser er ist, desto eindringlicher. Vielleicht gelingt es noch besser, wenn er Freunde 6 hat, die mitwirken, aber gleichwohl wäre er der Unabhängigste. 1177 b Ferner gilt, daß diese Tätigkeit des Geistes die einzige 6 ist, die um ihrer selbst willen geliebt wird, denn außer dem Vollzug der geistigen Schau erwartet man von ihr nichts weiter, während wir vom praktischen Wirken mehr oder minder großen Gewinn noch neben dem bloßen Handeln haben. Ferner gilt 7 , daß das Glück Muße voraussetzt. Denn wir arbeiten, um dann Muße zu haben, und führen Krieg, um dann in Frieden zu leben. Alle praktische Trefflichkeit nun entfaltet ihre Aktivität entweder in den Aufgaben des öffentlichen Lebens oder den Aufgaben des Kriegs. Das Handeln in diesem Bereiche verträgt sich aber erfahrungsgemäß nicht mit der Muße, kriegerisches Tun schon gar nicht - niemand wählt j a den Krieg um des Krieges willen, und niemand rüstet deshalb zum Krieg. Denn als durch und durch blutdürstig 8 müßte der gelten, der sich Freunde zu Feinden machen wollte, damit Kampf und Blutvergießen entstehe - aber auch wer im öffentlichen Leben steht hat keine Muße. Das Ziel ist hier, über die öffentliche Tätigkeit selbst hinaus 9 Macht und Ansehen zu gewinnen oder jedenfalls das Glück für die eigene Person und die Polisgemeinde, ein Glück, das etwas anderes ist als öffentliche Tätigkeit, und das wir offenbar eben deshalb suchen, insofern es etwas anderes ist. Wenn nun (a) unter den hochwertigen Tätigkeiten das Handeln im öffentlichen Leben und im Krieg durch Glanz und Größe 10 zwar hervorragt, aber der Muße entbehrt, nach einem (außerhalb liegenden) Ziel strebt und nicht an sich wählenswert ist, und wenn (b) andererseits gilt, daß das Tätig-sein des Geistes, als ein Akt des Schauens, durch seine ernste Würde sich auszeichnet,

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nach keinem außerhalb gelegenen Ziele strebt, ferner vollendete Lust - die ihrerseits \yieder die Tätigkeit intensiviert 1 - wesensmäßig in sich schließt; und wenn (c) das Selbstgenügsame, das Ruhevolle 2 und, innerhalb der menschlichen Grenzen, das Unermüdbare 3 und alles, was sonst noch dem Menschen auf der Höhe des Glücks zugeschrieben wird, an d i e s e m Tätig-sein in Erscheinung tritt, so folgt, daß d i e s e s Tätigsein das vollendete Menschenglück darstellt, falls es ein Vollmaß 4 des Lebens dauert - denn kein Teilaspekt des Glücks darf unvollkommen sein. Ein solches Leben aber wäre übermenschlichdenn man kann es in dieser Form nicht leben, sofern man Mensch ist, sondern sofern ein göttliches Element in uns wohnt. Und so groß der Unterschied zwischen diesem göttlichen Element und unserer zusammengesetzten Wesenheit ist, so weit ist auch das Wirken des göttlichen Elements von den übrigen Formen wertvoller Tätigkeit entfernt. Ist also, mit dem Menschen verglichen, der Geist etwas Göttliches, so ist auch ein Leben im Geistigen, verglichen mit dem menschlichen Leben, etwas Göttliches 6 . Wir sollen aber nicht den Dichtern folgen 7 , die uns mahnen, als Menschen uns mit menschlichen und als Sterbliche mit sterblichen Gedanken zu bescheiden, sondern, soweit wir können, uns zur Unsterblichkeit erheben 8 und alles tun, um unser Leben nach dem einzurichten, ii78a was in uns das Höchste ist. Denn obgleich von bescheidener 9 Ausdehnung, ragt es doch an Wirkungsmacht undWerthaftigkeit bei weitem über alles hinaus. Man darf aber geradezu sagen, daß dieses Höchste unser wahres Selbst 1 0 ist, nachdem es den entscheidenden 11 und besseren Teil unseres Wesens darstellt. Und so wäre es also unverständlich, wenn wir uns nicht für unser ureigenes Leben, sondern für das eines fremden 1 2 Wesens entscheiden wollten. Und was wir früher 13 festgestellt haben, wird auch jetzt passen: was dem einzelnen wesenseigen ist, das stellt für den einzelnen von Natur das Höchste und das Lustvollste dar. Für den Menschen ist dies also das Leben des Geistes, nachdem dieser vor allem 14 das wahre Selbst des Menschen darstellt, und dieses Leben ist denn also auch das glücklichste. 8. In einer zweitrangigen 15 Weise ist das Leben im Sinne der anderen Formen werthaften Tuns ein glückliches Leben. Denn ein Tätigsein in diesem Sinn hält sich im Bereiche des Menschlichen. Gerechtigkeit nämlich und Tapferkeit und die anderen ethischen Werte verwirklichen wir von Mensch zu Mensch, indem wir in Geschäftssachen, in der Stunde der Not, in den verschiedenartigsten Situationen und auch bei den

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Regungen des Irrationalen 1 das beachten, worauf jeder billigerweise Anspruch hat. Das alles aber sind rein menschliche Dinge. Manches ist auch bekanntlich die Folge davon, daß wir einen Körper haben, und in mancherlei Hinsicht scheint ein enger Zusammenhang 2 zu bestehen zwischen der Tüchtigkeit des Charakters und den Regungen des Irrationalen. Aber auch die sittliche Einsicht ist mit der Tüchtigkeit des Charakters untrennbar verbunden und diese wiederum 3 mit der sittlichen Einsicht, nachdem j a die Grundprinzipien der sittlichen Einsicht aus der Tüchtigkeit des Charakters erwachsen 4 und das Richtungssichere der charakterlichen Tüchtigkeit von der sittlichen Einsicht abhängt. Indem aber die Tüchtigkeit des Charakters (mit der sittlichen Einsicht und) auch mit den Regungen des Irrationalen zusammenhängt, gehört sie in den Bereich unserer zusammengesetzten Natur. Deren Wesensvorzüge aber halten sich im Bereiche des Menschlichen. Und dies gilt dann auch von einem Leben und einem Glück, das auf der Tüchtigkeit des Charakters beruht. Der Geist aber hat seinen R a n g 5 in der Absonderung (von körperbedingten Beimischungen). Nur soviel sei darüber angedeutet, denn eine genauere 6 Behandlung ginge über die gegenwärtige Aufgabe hinaus. Man darf aber annehmen, daß der Sonderrang des Geistes die äußeren Güter nur in geringem Ausmaß nötig macht oder in geringerem als das auf der Trefflichkeit des Charakters beruhende Glück. Nehmen wir ruhig an, daß beide die lebensnotwendigen Dinge brauchen, und zwar in gleichem Umfang - denn der Unterschied ist hier nicht allzu groß wenn auch der Mann des öffentlichen Lebens mehr mit den Dingen des Leibes und dergleichen beschäftigt ist. Aber was die Entfaltung der Aktivität anbetrifft, so ist der Unterschied allerdings beträchtlich. Denn der Großzügige muß Geld zur Hand haben, um großzügig handeln zu können, und der Gerechte ebenso wegen der Gegenleistungen - denn der bloße Wunsch ist etwas Verschwommenes, und auch Leute, die gar nicht gerecht sind, tun so, als hätten sie den Wunsch, gerecht zu handeln - und der Tapfere bedarf der Macht, wenn er etwas Tapferes zum erfolgreichen Ende bringen will, und der Besonnene braucht entsprechende Gelegenheit. Denn wie sollte er oder von den anderen einer (in seinem Werte) sonst erkennbar 7 sein? E s ist übrigens eine Streitfrage, ob der (gute) Wille oder die T a t entscheidend für die ethische Trefflichkeit ist, da j a beides für sie konstitutiv zu sein scheint. Zur meb Vollendung kommt sie natürlich erst durch beides, dies ist klar. Für

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das Zustandekommen der sittlichen Tat sind viele (äußere) Gegeben« heiten nötig, und je bedeutender und edler sie ist, desto mehr. Für das Leben des Geistes dagegen ist nichts von alledem vonnöten, jedenfalls nicht für die reine Tätigkeit, ja man möchte sagen, dieses Äußere ist sogar ein Hindernis 1 - auf jeden Fall für die reine Schau. Sofern er jedoch ein Mensch ist und in einer Gemeinschaft von Vielen lebt, entscheidet er sich doch für die Tat im Sinne ethischer Trefflichkeit, und so ergibt sich, daß ihm dies Äußere doch nötig ist, damit er „Mensch" sein 2 kann. Daß aber das vollkommene Glück ein Leben der aktiven geistigen Schau ist, wird auch von folgender Überlegung her deutlich: wir stellen uns vor, daß die Götter 3 im höchsten Sinne selig und glücklich sind. Nun, welche Art von Handlungen haben wir ihnen beizulegen? Etwa Akte der Gerechtigkeit? Wird es nicht ein lächerliches Bild ergeben: die Götter bei Handelsgeschäften, bei der Rückgabe von hinterlegtem Gut und so weiter ? Oder Akte der Tapferkeit, Aushalten in Gefahr und Wagnis um des Ruhmes willen? Odsr Akte der Großzügigkeit? Wem sollten sie denn etwas schenken? Ein unmöglicher Gedanke, daß die Götter Geld oder dergleichen in Händen haben. Und wie sollten wir uns bei ihnen Akte der Besonnenheit vorstellen? Wäre es nicht geschmacklos sie zu preisen, wo sie doch keine schlechten Begierden haben? Und wenn wir alles der Reihe nach durchgehen, so zeigt sich, daß Detail-Vorstellungen von einem Handeln der Götter kleinlich und ihrer unwürdig sind. Und doch ist es eine allgemeine Annahme, daß die Götter leben und folglich auch daß sie wirken. Denn man kann sich nicht denken, daß sie schlafen wie Endymion. Wenn man nun aber einem lebenden Wesen das Handeln und mehr noch das Hervorbringen nimmt, was bleibt dann anderes übrig als die reine Schau? So muß denn das Wirken der Gottheit, ausgezeichnet durch höchste Seligkeit, ein reines Schauen sein. Und folglich hat jenes menschliche Tun, das dem Wirken der Gottheit am nächsten kommt, am meisten vom Wesen des Glücks in sich. Ein deutliches Zeichen dafür ist auch die Tatsache, daß die übrigen 4 Lebewesen keinen Anteil am Glück haben, indem ihnen ein Wirken solcher Art völlig versagt ist. Denn während für die Götter das ganze Leben einen Zustand der Seligkeit bedeutet und für die Menschen, soweit ihnen ein gewisser Abglanz 5 solch erhabenen Wirkens gegeben ist, kann von den anderen Lebewesen keines glücklich sein, da sie in keiner Weise an geistiger Schau teilhaben. Wie umfassend sich also die

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geistige Schau e n t f a l t e t , so weit auch das Glück, u n d je eindringlicher der A k t des S chauens, desto tiefer ist das Glücklichsein - ein Z u s t a n d , der nicht den Ch arakter eines Begleitumstandes h a t , sondern auf der Schau (unmittelbar) b e r u h t , denn diese t r ä g t ihren W e r t u n d ihre W ü r d e in sich. Wir dürfen also das Glück als ein geistiges Schauen bezeichnen. 9. Es wird aber auch die G u n s t 1 der äußeren U m s t ä n d e v o n n ö t e n sein, da wir Menschen sind. Denn unsere N a t u r ist f ü r sich allein nicht ausreichend die geistige Schau zu verwirklichen. Es ist auch Gesundheit des Leibes vonnöten sowie N a h r u n g u n d sonstige Pflege. Indes i m » b r a u c h t m a n sich nicht vorzustellen, daß ein beträchtlicher A u f w a n d erforderlich ist u m glücklich zu werden, wenn es schon nicht möglich ist, ohne die äußeren Güter das Glück zu erreichen. Denn nicht ein Ü b e r m a ß ist f ü r allseitige Unabhängigkeit u n d f ü r das H a n d e l n vorausgesetzt, im Gegenteil: auch ohne Herrschaft über L a n d u n d Meer ist edles Handeln möglich; auch von einer maßvollen Grundlage aus k a n n m a n wertvoll handeln. Man k a n n dies deutlich beobachten, denn bekanntlich handelt der einfache Bürger nicht minder rechtlich als der M a c h t h a b e r 2 : er übertrifft ihn sogar. Und es genügt, wenn das Äußere in dem bezeichneten U m f a n g zu Gebote steht, denn das Leben des Mannes, der wertvoll handelt, wird glücklich sein. Solon 3 h a t wohl die richtige Vorstellung von einem glücklichen Menschen gegeben, indem er als glücklich den ansprach, der (nur) in maßvoller Weise mit äußeren Gütern versehen dennoch 4 das n a c h seiner Anschauung 5 Edelste getan u n d ein besonnenes Leben geführt habe. Denn es ist möglich mit mäßigem Besitz das zu t u n , was sich gehört. Auch Anaxagoras 6 h a t sich offenbar u n t e r einem glücklichen Menschen nicht einen Reichen u n d nicht einen Machthaber vorgestellt, da er sagt, er wundere sich nicht, wenn der Glückliche in den Augen der Vielen als eine merkwürdige Figur erscheine. Denn die Vielen urteilen nach dem Äußeren, da *sie f ü r nichts anderes Sinn h a b e n . So stimmen also die Ansichten der Weisen mit unserer A r g u m e n t a t i o n überein, u n d eine solche Übereinstimmung 7 h a t auch in der T a t eine gewisse Überzeugungskraft. Aber die W a h r h e i t wird in Dingen des menschlichen Handelns aus der Wirklichkeit des Lebens gewonnen, denn diese gibt den Ausschlag. Das bisher Festgestellte m u ß also an der Wirklichkeit des Lebens 8 ü b e r p r ü f t werden, u n d wenn es mit den Tatsachen übereinstimmt, m u ß m a n es gelten lassen, ist es aber d a m i t nicht in Einklang zu bringen, so dürfen wir es n u r als (dialektische) Argumentation auffassen.

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Wer aber 1 ein aktives Leben des Geistes führt und den Geist pflegt 2 , von dem darf man sagen, sein Leben sei aufs beste geordnet und er werde von den Göttern am meisten geliebt. Denn wenn 3 die Götter, wie man glaubt, sich irgendwie um menschliches Tun und Treiben kümmern, so darf man mit Grund annehmen, daß sie sich nicht nur über das freuen, was den höchsten Wert darstellt und ihnen am verwandtesten 4 ist - das aber ist der Geist -, sondern auch daß sie dem Menschen, der dieses Höchste am meisten liebt und schätzt, mit Gutem vergelten 5 , weil er sich um das bemüht, was ihnen, den Göttern, nahesteht und weil sein Handeln richtig und wertvoll ist. Daß dies aber im höchsten Grade bei dem Philosophen zu finden ist, darüber besteht kein Zweifel. Und so wird er von den Göttern am meisten geliebt. Als Liebling der Götter aber genießt er auch das höchste Glück. Und so ist also der philosophische Mensch auch von dieser Seite her in höchstem Maße glücklich10. Dürfen wir nun, nachdem diese Dinge und die Wesensvorzüge des Menschen, ferner Freundschaft und Lust im Umriß hinreichend dargestellt sind, unsere Aufgabe als beendet 6 ansehen? Ist es nicht n"9b bekanntlich 7 so, daß beim menschlichen Handeln das Ziel nicht darin besteht, die einzelnen Dinge zu betrachten und zu erkennen, sondern vielmehr sie handelnd zu verwirklichen? Und auch bei den ethischen Werten reicht es nicht aus, von ihnen zu wissen, sondern man muß versuchen sie zu haben und in die Tat umzusetzen oder 8 auf irgendeine Weise ein trefflicher Mensch zu werden. Wenn nun dialektische Argumente allein 9 schon genügten, um die Hörer zu rechtlichen Menschen zu machen, so wäre ihnen nach Theognis10 vielfacher und reicher Lohn gewiß und man sollte sich diese (Argumente) beschaffen11. Leider aber scheint das gesprochene Wort zwar die Kraft zu haben, junge Leute von freiem Wesen anzuregen und zu begeistern und einen edelgeborenen und das Edle wahrhaft liebenden Charakter so weit zu fördern,, daß er in der Trefflichkeit befestigt 12 werden könnte, dagegen die Vielen zu edler Wesensbildung anzuregen, dazu scheint es nicht imstande zu sein. Denn diese sind von Natur dazu geneigt, sich nicht dem Ehrgefühl, sondern nur der Furcht 13 zu beugen und nicht dazu, das Minderwertige von sich zu weisen, weil es Schande, sondern weil es Strafe bringt. Denn da sie dem Gefühl und der Leidenschaft 14 leben, vjerfolgen sie nur solche Lust, die ihrem Wesen zugeordnet ist und die Mittel dazu, während sie das Gegenteil, die Unlust, meiden. An das Edle und wahrhaft Lustvolle verschwenden sie keinen Gedanken, da sie es nie ge-

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kostet haben. Welche Argumentation (über Ethik) aber könnte solche Menschen umformen 1 ? E s ist j a nicht möglich, jedenfalls nicht leicht, das, was so lange mit dem Wesenskern verhaftet war, durch das Wort zu wandeln. Wir müssen uns wohl bescheiden, wenn wir uns, falls alles vorhanden ist, was als Voraussetzung für das Entstehen der Rechtlichkeit gilt, (wenigstens) einen Teil der ethischen Tüchtigkeit sichern können. Wie man zu einem wertvollen Menschen wird, dafür gibt es drei 2 Ansichten: durch Naturanlage, durch Gewöhnung oder durch Belehrung. Nun ist klar, daß die Gabe der Natur nicht in unsere Macht gegeben ist, sondern den wahrhaft vom Glück Begünstigten durch göttliches Walten zukommt. Das belehrende Wort aber hat wohl kaum bei allen entscheidenden Einfluß, sondern die Seele des Hörers muß erst durch vorherige Gewöhnung dazu bereitgemacht werden, sich in Zuneigung und Haß vom Edlen leiten zu lassen, bearbeitet 3 wie ein Stück Land, das den Samen nähren soll. Denn wer dem Gefühl und der Leidenschaft lebt, hört nicht auf das abratende Wort und wenn, so würde er es wiederum nicht verstehen. Wie aber sollte man einen solchen Menschen umstimmen können? J a , man kann ganz allgemein sagen: Irrationaler Trieb weicht nicht dem Wort, sondern nur der Gewalt. E s muß also eine charakterliche Grundstruktur gewissermaßen schon von vornherein 4 da sein, der ethischen Hochform schon verwandt sein; ein Charakter, der das Edle liebt und das Unedle verabscheut. Indes, von Jugend auf eine richtige Führung 5 zu ethischer Höhe zu bekommen, ist schwer, wenn man nicht unter einer entsprechenden Gesetzgebung aufwächst, denn die Vielen haben keine Neigung zu einem Leben der Besonnenheit und harten Ausdauer, besonders nicht in der Jugend. Daher muß schon die früheste Erziehung und müssen die Beschäftigungen festgelegt werden durch das Gesetz; denn wenn sie einem ganz vertraut werden, empfindet man sie nicht mehr als drückend. E s genügt aber wohl kaum, nur in der Jugend die richtige liso» Erziehung und Betreuung zu erhalten, sondern: da mab auch als Mann diese Dinge treiben und mit ihnen vertraut werden muß, brauchen wir Gesetze, die auch dieses regeln und damit überhaupt Gesetze, die das ganze Leben erfassen, denn die Vielen beugen sich eher dem Zwang als dem Wort und eher der Strafe als dem Vorbild edlen Handelns. Daher sind manche 6 der Ansicht, die Gesetzgeber sollten zur Trefflichkeit auffordern und anregen, indem sie auf das Schöne und Edle

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verweisen - wobei zu erwarten wäre, daß solche, die durch Gewöhnung schon ein tüchtiges Stück auf dem Wege (zur Trefflichkeit) vorangekommen sind, auf die Anregungen hören; den Ungehorsamen aber und den wenig bildsamen Naturen sollten sie mit Züchtigung und Strafe beikommen und die Unverbesserlichen schließlich ganz aus der Gemeinschaft stoßen 1 . Denn der Treffliche, dessen Leben auf das Edle gerichtet ist, werde sich dem Worte beugen, der Minderwertige aber, der nur nach Lust verlangt, werde durch Unlust gebändigt wie ein Tier, das unter dem Joch geht. Daher auch die Forderung, die Unlust müsse so gewählt sein, daß sie zu der Lust, die solche Menschen lieben, im schärfsten Gegensatz 2 stehe. Wenn also, wie gesagt 3 , der Mensch, der sich.zur Trefflichkeit entfalten soll, die richtige Erziehung und Gewöhnung erhalten und sodann sein Leben mit gehaltvoller Beschäftigung erfüllen muß und weder unfreiwillig »noch freiwillig das Schlechte tun darf, und wenn sich dies unter der Voraussetzung verwirklichen läßt, daß man das Leben nach einer gewissen Sinnhaftigkeit und einer zweckmäßigen Ordnung einrichtet, einer Ordnung, die sich durchzusetzen die Kraft hat - so ist zu sagen: das Gebot des Vaters 4 hat nicht jenes Kraftvolle und Zwingende, überhaupt nicht das Gebot eines einzelnen, außer er wäre ein König® oder etwas ähnliches. Das Gesetz aber hat jene zwingende Gewalt: es ist ein Ordnungsprinzip 6 , da» auf sittlicher Einsicht und Vernunft beruht. Und während Menschen, die den Wünschen ihrer Mitbürger opponieren, auch wenn sie mit dieser Opposition im Recht sind, gehaßt werden, wird das Gesetz nicht 7 als drückend empfunden, wenn es befiehlt, was recht und billig ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist es nur das Gemeinwesen der Spartaner 8 , wo der Gesetzgeber bekanntlich für die Erziehung und für Beschäftigungsformen 9 Vorsorge getroffen hat. In der überwiegenden Mehrzahl der Gemeinwesen dagegen ist das gänzlich vernachlässigt worden und es lebt jeder dahin, wie es ihm gefällt, nach Kyklopenweise 10 „des Rechtes waltend über Weib und Kind". Am besten wäre es nun, wenn eine öffentliche, und zwar eine zweckgerechte Vorsorge getroffen werden und wenn die Aufgabe bewältigt werden könnte. Wenn aber öffentliche Vorsorge ganz vernachlässigt 11 wird, so tritt offenbar an den einzelnen die Pflicht heran, seinen Kindern und Freunden zur Erlangung der Tüchtigkeit behilflich zu sein oder wenigstens einen Entschluß (in dieser Richtung) zu fassen. Und dazu ist er, nach

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dem Gesagten, wohl dann vor allem imstande, wenn er gesetzgeberische 1 Fähigkeiten in sich herangebildet hat; denn öffentliche Vorsorge wird natürlich durch Gesetze geschaffen, und sie ist gut, wenn dies durch gute Gesetze geschieht. Ob durch geschriebene oder ungeschriebene, xisob darauf kommt wohl nicht viel an; und auch nicht darauf, ob es sich um Gesetze zur Erziehung eines einzelnen oder einer Mehrheit handelt: es ist wie bei der Musik, der Gymnastik und den übrigen Erziehungsgegenständen. (Einzelerziehung ist wirksam), denn wie in den Polisgemeinden Gesetz und Sitte eine Macht darstellen, so in den Familien die Mahnworte des Vaters und die Familiengewohnheiten, und die Wirkung wird noch erhöht durch die Blutsverwandtschaft und die Wohltaten, denn die Zuneigung der Kinder ist von vornherein gegeben und ferner sind sie von Natur bereit zu gehorchen. Überdies ist die Einzelerziehung der öffentlichen überlegen 2 : auch bei der Heilkunst 3 ist es so. Im allgemeinen nämlich ist dem Fieberkranken Ruhe und Enthaltung von Speisen zuträglich, im Einzelfall aber vielleicht nicht, und auch der Boxlehrer * läßt nicht alle seine Schüler dieselbe Kampfesart üben. Man darf also annehmen, daß es auf einem Einzelgebiet zu schärferer Profilierung kommt, wenn die Fürsorge individuell ist; denn der einzelne gelangt dabei leichter zu dem, was zweckdienlich ist. Am besten aber kann der Arzt oder Gymnastiklehrer oder sonst jemand die Vorsorge für das Einzelne treffen, wenn er die Kenntnis des Allgemeinen 6 hat: daß also etwas gut ist für alle von einem bestimmten Typus. Denn daß die Wissenschaft als Gegenstand das Allgemeine hat, das wird behauptet und ist eine Tatsache. Indes ist es wohl ohne weiteres möglich, daß jemand in einem Einzelfall brauchbare Fürsorge trifft, auch wenn er keine wissenschaftliche Erkenntnis* hat. Er muß sich nur an Hand der Erfahrung eine genaue Vorstellung davon gebildet haben, was im besonderen Falle erfolgt, so wie bekanntlich manche Leute ganz gut ihr eigener Arzt sind, während sie einem anderen gar nicht zu helfen vermöchten. Gleichwohl aber wird man zu erwarten haben, daß jemand, der in Praxis oder Theorie ein Fachmann werden will, die Richtung auf das Allgemeine einschlägt und es so vollkommen wie möglich erkennt, denn, wie gesagt 7 , die Wissenschaft hat als Gegenstand das Allgemeine. Und so muß gewiß auch der, welcher die Menschen, mögen es viele, mögen es wenige sein, durch seine Maßnahmen besser zu machen beabsichtigt, versuchen sich die Fähigkeiten eines Gesetzgebers anzueignen, wenn 8 es so ist, daß wir durch Gesetze wertvolle Menschen

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werden können. Denn irgendeinen Menschen - ganz gleich auch wer er sei - , dessen Erziehung uns als Aufgabe gestellt ist, in eine gute Verfassung zu bringen, dazu ist nicht der nächste beste fähig, sondern, wenn ü b e r h a u p t j e m a n d , d a n n der Wissende: genauso wie bei der Heilk u n s t und den übrigen Dingen, die Gegenstand von bessernden Maßnahmen oder praktischer Klugheit sein können. Wir h a b e n hernach nun ins Auge zu fassen, von welcher Grundlage aus u n d mit welchen Mitteln m a n gesetzgeberische Fähigkeiten in sich entwickeln k a n n . Können wir es wie bei den übrigen Dingen von den Männern des Staates lernen? D e n n die Gesetzgebung g a l t 1 uns doch als ein Teil der Staatskunst. Oder t r i t t uns bei der S t a a t s k u n s t etwas anderes entgegen als bei den sonstigen Formen des Wissens u n d Könnens? Denn bei letzteren ist es augenscheinlich so, d a ß dieselben Männer ihr Können an Schüler weitergeben und es selber im Leben praktisch verwerten, z. B. Äizte und Maler. Bei der Staatskunst a b e r 2 ist es lisia anders: da kündigen die Sophisten an sie zu lehren, aber im öffentlichen Leben wirkt keiner von ihnen. Das ist d e n (berufsmäßigen) Politikern überlassen, die dies anscheinend auf Grund eines sozusagen n a t ü r l i c h e n 3 Könnens t u n und sich mehr durch die E r f a h r u n g als durch theoretische Einsicht bestimmen lassen. Denn m a n sieht j a , d a ß sie über solche Dinge weder schreiben noch öffentlich sprechen - obwohl ihnen dies sicherlich mehr R u h m einbrächte als Gerichts- u n d Volksversammlungsreden zu verfassen - u n d d a ß sie weder ihre Söhne noch auch den einen oder anderen ihnen Nahestehenden zu Politikern gem a c h t haben. U n d doch wäre dies n u r konsequent gewesen - u n t e r der Voraussetzung freilich, d a ß sie über die Fähigkeit (zum Erziehen) verfügten. Denn weder h ä t t e n sie ihrer Polis ein besseres E r b e (als ebenso tüchtige Politiker) hinterlassen können noch konnten sie f ü r sich persönlich - u n d folglich auch nicht f ü r ihre nächsten Freunde - etwas Besseres aussuchen als diese (erzieherische) Fähigkeit. Allerdings: m a n darf die Rolle der E r f a h r u n g 4 (in der Politik) nicht unterschätzen. Denn sonst wäre es ja gar nicht möglich, d a ß j e m a n d durch bloße (praktische) Vertrautheit (mit den Dingen des öffentlichen Lebens) zum Politiker wird. Und so liegt nahe, d a ß Jünglinge, die ein Wissen von der Staatskunst haben wollen, noch dazu auch E r f a h r u n g brauchen. Die Sophisten 8 aber, soweit sie ihre Lehrgänge ankündigen, sind, wie sich zeigt, weit davon e n t f e r n t (wirkliche) Lehrer zu sein. Denn m a n k a n n rundheraus sagen: sie wissen gar nicht, welche Art von Ding

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die S t a a t s k u n s t ist, noch welcher Art ihre Gegenstände sind. D e n n sonst k ö n n t e n sie sie nicht mit der Rhetorik auf gleiche Stufe oder noch tiefer stellen u n d k ö n n t e n nicht meinen, es sei leicht Gesetze zu geben; m a n brauche n u r eine Auswahl der a n e r k a n n t guten Gesetze zusammenzustellen. Sie sagen nämlich, m a n könne die besten Gesetze einfach auswählen, als ob nicht auch die Auswahl Verständnis erforderte u n d ein richtiges Urteil von entscheidender Bedeutung wäre, wie z. B. in Fragen der Musik. Denn die in den Einzelheiten erfahrenen Fachleute h a b e n das richtige Urteil über ein Werk u n d sie verstehen, durch welche Mittel oder auf welche Weise ein W e r k vollendet wird u n d inwieweit Teil mit Teil zusammenstimmt. Wer dagegen keine E r f a h r u n g h a t , m u ß sich damit bescheiden, wenn i h m wenigstens ein Gesamteindruck über Güte oder Nicht-Güte eines Werkes nicht versagt bleibt, z. B . bei der Malerei. Die Gesetze aber sind sozusagen „ W e r k e " der S t a a t s k u n s t . Und auf Grund dieser , W e r k e " sollte m a n usib sich zum Gesetzgeber entwickeln oder beurteilen können, welches die besten Gesetze sind? Denn offenkundig entwickelt m a n sich ja auch nicht zum Arzt auf Grund von (medizinischen) H a n d b ü c h e r n . U n d doch versuchen die Verfasser nicht n u r die Heilmethoden (im allgemeinen) darzustellen, sondern auch, wie i m Einzelfall Gesundung erzielt werden k a n n u n d wie der Einzelfall b e h a n d e l t werden m u ß , wobei sie die verschiedenen Körperkonstitutionen klassifizieren. Dies aber m a g f ü r Männer m i t E r f a h r u n g nützlich sein; f ü r den, der keine praktische Einsicht h a t , ist es nutzlos. Und so mögen gewiß die Sammlungen von Gesetzen u n d Polisverfassungen recht wohl f ü r solche b r a u c h b a r sein, die befähigt sind sie zu studieren u n d kritisch zu sichten, was richtig oder unrichtig d a r a n ist, u n d welche Teile f ü r welche besonderen U m s t ä n d e passen: wer aber solche Bücher ohne festbegründete (kritische) H a l t u n g liest, d e m wird, vom reinen Zufallstreffer natürlich abgesehen, ein richtiges Urteil versagt bleiben, wenngleich nicht ausgeschlossen ist, d a ß er vielleicht zu einem größeren Verständnis 1 f ü r solche Dinge gelangt. Da uns n u n 2 die f r ü h e r e n Denker die F r a g e n der Gesetzgebung unerforscht 3 hiifterlassen h a b e n , so ist es wohl a m zweckmäßigsten, wenn wir selbst sie genauer ins Auge fassen u n d uns m i t dem Problem der Polisverfassung in seinem ganzen U m f a n g beschäftigen, u m so n a c h unseren besten K r ä f t e n die Wissenschaft vom menschlichen L e b e n 4 abzurunden.

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Zuerst also wollen wir prüfen, was etwa frühere1 Forscher an richtigen Einzelheiten ausgesprochen haben, sodann mit Hilfe der Sammlung 2 der Polisverfassungen studieren, welche Momente die Polisgemeinden und welche deren Verfassungen - jede für sich genommen erhalten und zerstören und welches die Ursachen sind, warum die einen gut und die anderen schlecht verwaltet werden. Wenn nämlich diese (kritische) Betrachtung durchgeführt ist, werden wir vielleicht3 besser überschauen können, welche Verfassung am besten ist und welche Ordnung sowie welche Gesetze und Bräuche jeder einzelnen Verfassungsform den besten Zustand gewährleisten. Wollen wir 4 also (davon) sprechen, indem wir den Anfang setzen.

EINLEITUNG l Der 24. Gesang der Ilias enthält eines der ältesten Dokumente europäischer E t h i k . H e k t o r , der Schützling Apollons, ist t o t . In vorweltlicher Grausamkeit schleift Achilleus die Leiche mit seinem Gespann u m das Grabmal des Freundes Patroklos. Die Götter greifen nicht ein. Da erhebt sich ein Gott, Apollon, als Anwalt der Human i t ä t und spricht: „Schrecklich seid ihr, Götter, in eurer Lust am Zerstören. Hektor h a t euch immer geopfert, und ihr laßt ihn liegen in solcher E n t e h r u n g . Ihr steht zu Achilleus, in dem kein Sinn ist f ü r Billigkeit, der starr ist. roh und wild wie ein Löwe, der sich auf die Herde stürzt. E r hat. das E r b a r m e n von sich getan u n d k e n n t keine Scheu. Das ist gar nicht mehr Menschenart, denn die Menschen haben von der N a t u r (von der Moira) ein Wesen bekommen, das sich in manches f ü g t . E r aber schleift die Leiche Hektors. W a h r h a f t i g , das ist nicht schön u n d nicht g u t ; wir sollten ihn unseren Zorn fühlen lassen, auch wenn er adeligen Blutes ist, denn in seinem W ü t e n schändet er sogar die empfindungslose E r d e " (Vers 33-54). Dieses D o k u m e n t kann m a n Satz f ü r Satz in die Sprache des Aristoteles ü b e r t r a g e n : Achilleus handelt nicht richtig (nicht „so wie es sein soll", sagt Aristoteles immer wieder). Und was wäre richtig? Richtig wäre: nicht starres Recht, sondern Billigkeit, den „ T h y m o s " zügeln, maßvoll sein, da wo es sich g e h ö r t ; E h r f u r c h t u n d Scheu haben— und ü b e r h a u p t : ein „Schöner u n d Guter" sein. Diese Urkunde des 8 . J a h r hunderts zeigt also auf den ersten Blick, daß Aristoteles ein „ S a m m e l b e c k e n " (er sammelt aber, wie sich gleich zeigen wird, nicht alles) altgriechischer Traditionen ist. Das h a t m a n oft ausgesprochen, freilich viel zu summarisch, u n d m a n h a t es n u r selten methodisch vorgeführt. Aber sie lehrt noch etwas Wichtigeres, nämlich: wir haben im Bereiche des Ethischen gewiß mit reicher Entwicklung, aber nicht weniger auch mit starken Konstanten zu rechnen. Denn die menschliche Seele — wir wollen diesen Begriff ruhig gebrauchen, denn viele moderne Psychologien n ä h e r n sich j a mit dem überreichen Vokabular ihrer Beschreibungen im Grunde doch dem verpönten Substanz-Begriff - leistet den Entwicklungen ihres jeweiligen 'environment' einen ungemeinen Widerstand. Bei den Griechen noch mehr als bei Völkern m i t poröserem Substrat. Das zeigt z. B. die Konstanz in ihrer Literatursprache v o m 4. J a h r h u n d e r t bis zur sogenannten reinen Sprache des heutigen Griechenland, und das zeigt die Bildniskunst der Byzantiner, die unbegreiflich wäre, wenn m a n nicht wüßte, daß die Künstler auf ein platonisches Eidos blicken, das unveränderlich ist. I m besonderen lehrt dieser Iliastext und lehren weitere Aussagen H o m e r s : die f r ü h e Stufe einer E t h i k des Maßes. Nicht nur der delphische Apollon m a h n t den Besucher seines Tempels: „ E r k e n n e , wer du bist!", sondern schon der Ilias-Apollon r u f t dem Helden im K a m p f e zu: „Mäßige dich, erhebe dich in deinem Sinn nicht zu den Göttern!" (5,440). Ferner: die f r ü h e Gegnerschaft gegen das Irrationale; ferner: die Idee der Billigkeit (der aequitas) gegenüber dem strengen Recht, u n d

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schließlich: die erste Spur jener Idee einer umfassenden Trefflichkeit, f ü r die der Grieche einen Doppelbegriff brauchte, weil sie ihm ein ethisches und ästhetisches Phänomen zugleich war. Sie heißt später „ K a l o k a g a t h i a " ; Piaton u n d Aristoteles nehmen sie in ihre Ethik auf, beiden ist ethische Trefflichkeit immer noch sinnfällige Schönheit. Wenn sie das hervorragende Handeln mit „ s c h ö n " bezeichnen, so ist das nicht mechanische Wiederholung eines alten Terminus. Diese Auffassung wird bei Piaton z. B. allein schon widerlegt durch den Stufenweg des Symposion zur Idee des Schönen. Und Aristoteles wird im 10. Buch der Nikomachischen E t h i k deutlich genug sagen: das Leben nach der Trefflichkeit ist ein freude- u n d lustvolles Leben. Die Freude verleiht einem solchen Leben den Glanz der Schönheit, denn sie entwickelt sich am Handeln als dessen Vollendung „so wie in der Blüte der J a h r e sich die Schönheit einstellt". Plotin t r e n n t später das Schöne und das Gute, aber anwesend ist das Schöne in seinem Kosmos mit voller Macht. Die ehrfürchtige Scheu freilich, von der Apollon in der Ilias spricht, erhält n u r einen bescheidenen Platz in der aristotelischen E t h i k (IV 15), und das E r b a r m e n sogar nur noch in der Rhetorik ( I I 8), beides aus einem Grunde, der uns wieder mit einer Konstanten bekannt macht. I n griechischer Mannestugend dominiert v o n Anfang an das Geistige. Der Gott der bloßen Kampfesgewalt, Ares, ist ein barbarischer und verhaßter Gott, denn m a n m u ß ihn mit Blut sättigen (Ilias 22,267). Und so gilt im 4. J a h r h u n d e r t die todesverachtende Tapferkeit der Barbaren, der Kelten z. B., als minderwertig, weil sie ohne Geist ist. J a schon in der Odyssee sind griechische Helden nicht einfach „ g e r e c h t " , sondern sie sind „verständig u n d gerecht" (3,133), womit das geistige Element in der Trefflichkeit bezeichnet ist. I n derselben Odyssee sagt Athene zu Odysseus: wir sind Freunde, weil wir beide Geist haben (13,296). Das sind die Wurzeln des vielberufenen Intellektualismus der griechischen E t h i k ; daraus erwächst der Geistcharakter des Regenten in Piatons S t a a t u n d die höchste Lebensform am Schluß der Nikomachischen E t h i k . E b e n deshalb, weil sie zu wenig an geistigem Gehalt haben, t r a t e n die beiden homerischen „ T u g e n d e n " der Scheu und des Erbarmens bei Aristoteles zurück. Sie sind zu eng mit dem Körper verbunden (bei der Scheu zeigt dies das Rotwerden, beim E r b a r m e n das Weinen) und haben daher nicht die nötige Festigkeit, u m zu „ T u g e n d e n " erhoben werden zu können. Weiter entnehmen wir der Rede des Apollon ein klares Normbewußtsein. Die Norm ist nicht der Gott als solcher, und er entwickelt sie nicht als E x h o r t a t i o an die Menschen, sondern er spricht zu den Göttern und mißt beide, Götter und Menschen, an der Norm, die einfach da ist, wie das ungeschriebene Gesetz, von dem Sophokles sagt: „ D e n n dies ist nicht von heut und gestern, nein, von Ewigkeit, den Ursprung kennt kein Mensch" (Antigone 456, E. Buschor). Noch Aristoteles wird den modernen Leser in merkwürdiger Unbefriedigtheit lassen, wenn dieser f r a g t , welches eigentlich die letzte Norm in der aristotelischen E t h i k ist. Aber f ü r Aristoteles selber ist das kein Problem. Seine Norm ist „ t h e collective wisdom of t h e r a c e " (Sir D. Ross): letzte Gegebenheiten, oder anders gesehen: erste Prinzipien der Ethik. Diese fraglose Norm also haben die Götter verletzt, eine Norm, die f ü r sie wie f ü r die Menschen gilt u n d die später in den Diskussionen über Recht u n d Freundschaft voll entfaltet wird: sie waren Hektor zur Gegenleistung verpflichtet und haben sie nicht geleistet. Achilleus aber wird an der Norm des Maßes gemessen: er h a t der Trauer u m den Freund zu sehr nachgegeben, obwohl es den Menschen doch v o n

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Natur gegeben sei, dem Schmerze standzuhalten und in der Kundgabe des Leides nicht zu weit zu gehen. Er verdient also das auszeichnende Prädikat „schön und g u t " nicht. Normbewußtsein zeigt sich nicht nur als sofortiges intuitives Erfassen des Richtigen, sondern entwickelt und schärft sich auch am Abscheu vor dem Minderwertigen. Die homerischen Menschen wissen, daß die Manifestation übertriebener Sympathie genauso peinlich ist wie die einer übertriebenen Antipathie. So formuliert Menelaos in der Odyssee (15,69) zuerst das Negative um dann weise zu schließen: „besser ist allewege das gebührende Maß". Und in der Ilias erzielt Homer größeren Eindruck, weil er erst ausspricht, was Achilleus falsch gemacht hat, und dann erst das ideale Verhalten benennt. Noch Aristoteles geht in seiner Ethik fast durchweg von der ,,Schlechtigkeit" aus, bevor er die „Gutheit" beschreibt. Normen werden rasch inhaltsleer, wenn die Gesellschaft, in der sie gelten, nicht mehr von der Dynamik erfüllt ist, das Handeln an die Norm anzugleichen, das Werthafte zu steigern. Menelaos sagt: es ist besser, wenn das Maß waltet, nnd Apollon sagt, wenn wir seine Worte positiv wenden: es wäre schöner und edler gewesen, wenn Achilleus anders gehandelt hätte. Zwar belehrt uns die Grammatik, der Komparativ werde häufig gleich dem Positiv gebraucht, das Moment der Steigerung oder des Vergleichs werde gar nicht mehr empfunden, aber es ist fraglich, ob wir uns damit die Dinge bei Homer nicht etwas zu bequem zurechtlegen. Umfassende Beobachtung könnte leicht zeigen, daß und wie die Griechen ein Volk der Steigerung waren. Weil sie über die Probleme des Wissens, des Formens, des Lebens und des Zusammenlebens nicht leicht hinwegstreiften, zeigt die Geschichte ihres Geistes bis zu seinem Aufgehen in neuen Welten eine kaum je abreißende Bewegung hin zum Vollkommeneren, ja zum Voll-endeten, zum „Telos". Der Neuplatonismus z. B. ist der Versuch, den Gedanken Piatons die vollendetere, das Viele und das Eine umfassende Interpretation zu geben. Auch dies ist eine Konstante. Werner Jaeger hat in der „Paideia" griechisches Wesen als Selbstformung gedeutet. Man hat geltend gemacht, er laufe dabei Gefahr, das teleologische Denken des Aristoteles in die Frühzeit zurückzuprojizieren. Aber es ist gewiß, daß die teleologische Weltsicht des Aristoteles nicht von ungefähr kam, sondern zu einem guten Teil die systematische Fassung althellenischen Erbes ist. Man wird im Ernste nicht bestreiten können, daß die Griechen der Menschheit zwar nicht die Realität, aber den Traum einer vollkommenen Erkenntnis, eines besten Menschen und eines besten Staates hinterlassen haben, und daß die Geschicke der Menschheit davon abhängen, ob der Wille zur Realisierung des Traumes schwindet oder lebendig bleibt. Die Natur, so lehrt Aristoteles, hat die Tendenz, ihre Sache gut zu machen, sie schafft nichts, was zwecklos und nicht auf das Vollkommene hin angelegt wäre. Und auch beim Menschen, der j a ein Teil der Natur ist, ist es so. Aristoteles spricht in der Ethik als etwas Selbstverständliches aus, daß das Arbeiten des Schusters die Herstellung des „schönsten" Schuhwerks zum Ziele habe; allgemeiner: in actu sein heißt handeln, „und zwar gut handeln". Um die griechische Polis vollkommener zu machen, denkt Piaton seine höchsten Gedanken. Das primäre Ziel ist nicht die reine Theorie, die immer größere Abstraktion, der immer klarere Allgemeinbegriff. Nicht ein allgemeines Sittengesett soll gefunden werden, sondern der beste Staat. Auf diesem Wege kommt er dann notwendig zur Ontologie, zu dem unveränderlichen ewigen Seienden, an dam das

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ruhelose Gewoge des Werdens und Vergehens zur Festigkeit kommen kann, indem der philosophische Regent die Norm schaut und sie in das Werdende und Vergehende hineinbildet. Piatons „Gesetze" beweisen mit ihrem überquellenden Detail, daß das letzte Ziel ein praktisches war. Welchen theoretischen Sinn sollte es haben, wenn er in der Ausarbeitung von Rechtssatzungen sogar den Fall berücksichtigt, daß ein lebloser. Gegenstand einen Menschen getötet hat? Und so formuliert auch Aristoteles gleich am Anfang der Ethik, ihr Ziel sei nicht Erkenntnis (gnösis), sondern Handeln (praxis). Dementsprechend auch leitet die Ethik am Schlüsse über zur Politik, genauer: zu dem wissenden Gesetzgeber, der allein, so wie die Dinge liegen, der Polis und dem Einzelnen die Eudaimonia geben kann. Die Eudaimonia aber ist nichts Gefühlsmäßiges, ist nicht „Glückseligkeit", sondern „ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenseigenen Trefflichkeit" oder anders: sie ist seelische „energeia", die den Stempel der Vollkommenheit und der Schönheit trägt. Für wenige aber gibt es darüber hinaus ein Glück, das göttlichen Rang hat: das Geistleben des Denkers; denn unter den Wesensvorzügen der Seele ist eine Rangabstufung: der höchste Vorzug ist der Geist (der „ N u s " ) . Dieser ist der „eigentliche Mensch" und dessen „energeia" somit die vollkommenste. Damit ist freilich der Gehalt der Nikomachischen Ethik nur im alleräußersten Umriß angedeutet. Sie genauer kennenzulernen verlangt, wie alles Bedeutende, die volle „energeia" dessen, der darum weiß, daß Gedanken über Ethik und Politik nicht altern können, weil die Menschheit infolge einer eigentümlichen Widerstandskraft gpgen das Vollkommene bis heute siegreich darin geblieben ist, das schwerste Problem, nämlich Mensch zu sein und mit den anderen Menschen zu leben, ungelöst zu lassen.

2 Über die Notwendigkeit, auch die nur fragmentarisch erhaltenen ethischen Schriften des Aristoteles zur Interpretation der erhaltenen heranzuziehen, hat zuletzt, nachdem die Bahn durch W. Jaeger geöffnet war, O. Gigon, 1951, 27-40 gesprochen und Proben mitgeteilt. Erhalten sind drei Ethiken, ein singulärer und nicht geklärter Fall — man stelle sich vor, wir hätten von Piatons Politeia drei verschiedene Formen! E s sind: die Nikomachische Ethik (EN), die Große Ethik (MM = Magna Moralia) und die Eudemische Ethik (EE). Dazu kommt noch der kleine Traktat De virtutibus et vitiis (bei Susemihl, E E , Lpz. 1884 und im 285. Bd. der Loeb Class. Library, London 1952. Jetzt Gesamtbehandlung von E. A. Schmidt, diese Reihe Bd. 18. I, 1965). — Wie das Corpus Platonicum so enthält auch das Corpus Aristotelicum Unechtes von ungeklärter Herkunft, so den eben genannten kleinen Traktat, den Schmidt Ende des 4. oder Anfang des 3. Jhs. ansetzt. Was die Große Ethik betrifft, die ich vor rund 25 Jahren der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zuweisen zu können geglaubt habe, so wird die Echtheitsfrage in Band 8 erneut zu prüfen sein. Die Echtheit der Eudemischen Ethik ist heute weithin anerkannt; darüber in Band 7. Als später Nachfahre von Friedrich Schleiermacher hat 1940 E. Elorduy neben der Echtheit der Großen Ethik die Unechtheit der Nikomachischen behauptet, doch ist mir nicht bekanntgeworden, ob diese letztere, durchaus unzureichend begründete, These jemanden überzeugt hat (Los MM de Aristoteles, in: Emérita 7, 1940, 6—70). Auf die haltlosen Phantasien von J . Zürcher, Aristoteles' Werk und Geist, Paderborn 1952 (im gesamten Corpus Aristotelicum nur etwa 20—30%

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aristotelische S u b s t a n z , alles ü b r i g e , a u c h die 3 E t h i k e n , v o n T h e o p h r a s t ) , einzug e h e n b e s t e h t kein A n l a ß . Derselbe V e r f a s s e r h a t 1954 a u c h d a s Corpus P l a t o n i c u m i n dieser Weise b e h a n d e l t ( S y m p o s i o n , P h a i d o n u s w . n i c h t v o n P i a t o n , s o n d e r n v o n P o l e m o n ) . D a s m a g genügen. D a ß bei d e r V e r r o t t u n g aller M a ß s t ä b e solche E i n f ä l l e g e d r u c k t w e r d e n , w a r zu e r w a r t e n . D a g e g e n ist schmerzlich, d a ß d e r a r t i g e s in d e r Bibliographie zu B a n d X I I der O x f o r d e r A r i s t o t e l e s - Ü b e r s e t z u n g (1952) i m gleichen A t e m z u g m i t W a l z e r u n d W i l p e r t registriert wird. W a s die Titel d e r drei E t h i k e n b e d e u t e n , ist u n k l a r . D a r ü b e r z u l e t z t E . S c h a c h e r 1940, 1 - 5 . E s sollte j e d e n f a l l s n i c h t als f e s t e T a t s a c h e a u s g e s p r o c h e n w e r d e n , d a ß die N E v o n N i k o m a c h o s , d e m f r ü h i m Kriege gefallenen Sohne des Aristoteles, u n d die E E v o n E u d e m o s , e i n e m Schüler des Aristoteles, h e r a u s g e g e b e n sei. Sollte dies a b e r in der T a t z u t r e f f e n , so k a n n es sich n u r u m h ö c h s t p i e t ä t v o l l e H e r a u s g e b e r g e h a n d e l t h a b e n . Dies w e n i g s t e n s l ä ß t sich d e m T e x t der N E n o c h ablesen. R a t l o s sind wir ü b e r d e n Titel „ G r o ß e E t h i k " . D a r ü b e r z u l e t z t P . M o r a u x , Les listes anciennes des o u v r a g e s d ' A r i s t o t e , L o u v a i n 1951, 87. - E i n P r o b l e m b e s o n d e r e r A r t e r g i b t sich aus der T a t s a c h e , d a ß die B ü c h e r V - V I I der N E in d e n H a n d s c h r i f t e n d e r E E gleich deren B u c h I V - V I gesetzt u n d gar n i c h t m e h r eigens a b g e s c h r i e b e n w e r d e n . Die u r s p r ü n g l i c h e Z u g e h ö r i g k e i t dieser s o g e n a n n t e n m i t t l e r e n B ü c h e r ist bis h e u t e k o n t r o v e r s . E i n e E n t s c h e i d u n g s c h e i n t n u r v o n der sprachlichen B e o b a c h t u n g h e r möglich zu sein. Bis j e t z t h a t a b e r n i e m a n d d u r c h e x a k t e n Vergleich f e s t g e s t e l l t , ob die drei m i t t l e r e n B ü c h e r z u m „ S t i l " der ü b r i g e n e u d e m i s c h e n B ü c h e r p a s s e n u n d s o m i t u r s p r ü n g l i c h deren V e r b a n d a n g e h ö r t h a b e n . Mit allem V o r b e h a l t m ö c h t e ich sagen, d a ß die S p r a c h e einer Z u w e i s u n g a n die E E n i c h t g ü n s t i g ist. F ü r die D a t i e r u n g der N E s t e h e n ä u ß e r e I n d i z i e n n i c h t zur V e r f ü g u n g . S p r a c h s t a t i s t i k wie f ü r P i a t o n gibt es bei Aristoteles n i c h t ; sie d ü r f t e hier auf viel größere Schwierigkeiten s t o ß e n . So bleiben n u r innere K r i t e r i e n . Die N E gilt als A l t e r s w e r k , w a s a u c h m i r wahrscheinlich ist, a b e r beweisbar ist es n i c h t . W . J a e g e r (Diokles v o n K a r y s t o s , Berlin 1938, 56) neigt d a z u , sie als u m 300 v o n N i k o m a c h o s h e r a u s gegeben zu b e t r a c h t e n . Dieser A n s a t z s t e h t i n Z u s a m m e n h a n g m i t seiner DioklesChronologie, w a s hier n i c h t d i s k u t i e r t w e r d e n k a n n . V o n e i n e m e i n g e h e n d e n S t u d i u m der aristotelischen Psychologie her k o m m t F . N u y e n s ( O n t w i k k e l i n g s m o m e n t e n i n d e z i e l k u n d e v a n Aristoteles, N i j m e g e n 1939, 320) zu d e m S c h l u ß , sie müsse i n die v o n i h m als Ü b e r g a n g s p e r i o d e b e z e i c h n e t e n J a h r e v o n e t w a 347-330 g e h ö r e n . E s v e r s t e h t sich b e i n a h e v o n selbst, d a ß ein W e r k wie die N E k e i n Z e i t k o l o r i t h a t , also j e n s e i t s der Zeit s t e h t . Die S c h l a c h t v o n C h ä r o n e a , 338, b e t r a c h t e t d e r H i s t o r i k e r als d e n U n t e r g a n g d e r griechischen Polis, u n d 15 J a h r e s p ä t e r h a t sich die griechische Geschichte z u r W eltgeschichte geweitet. Diesen P r o z e ß h a t Aristoteles v o n 334—323 m i t e r l e b t . A b e r weder die S c h l a c h t v o n C h ä r o n e a n o c h die OrientP e r s p e k t i v e des A l e x a n d e r r e i c h s h a b e n a u c h n u r die geringste S p u r i n der N E gezogen : der wissende Gesetzgeber z. B., i m X . B u c h , t r ä g t n i c h t die Züge eines Monarchen. D e r C h a r a k t e r der Zeitlosigkeit wird noch d a d u r c h v e r s t ä r k t , d a ß Aristoteles das wirkliche L e b e n , das in der E t h i k wissenschaftlich b e w ä l t i g t w e r d e n soll, n i c h t a n s c h a u l i c h w e r d e n l ä ß t . S c h o n die Dialoge scheinen keine eigentliche „ S z e n e r i e " g e h a b t zu h a b e n , u n d der d u r c h das literarische G e n u s gegebene G e s p r ä c h s p a r t n e r n i m m t einen w o h l g e r u n d e t e n L e h r v o r t r a g e n t g e g e n . Zwischen der A k a d e m i e P i a t o n s u n d der A u ß e n w e l t ist ein feines N e t z , das filternde N e t z der K u n s t . Zwischen d e m

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Peripatos und der Außenwelt ist eine Mauer, auch wenn über sie die Tiere und die Pflanzen hereinkommen. Der trunkene Ruf eines Alkibiades dringt nicht mehr durch. Aber sie gibt die große Stille, und für den Mann, der nach langem Verweilen in der „großen Welt" diese Stille schuf, war es leichter, die reine „energeia" des Geistes als Vollendung menschlichen Lebens zu proklamieren aU für Piaton, der noch als beinahe 70jähriger nach Sizilien gefahren ist. Selbst einem Meister der realistischen Verlebendigung wie Wilamowitz könnte es nicht gelingen, aus den Werken des Aristoteles eine Biographie zu gestalten, in der etwa die Interpretation des Kapitels über den hochgesinnten Mann (EN IV 7) sich in der Überschrift kristallisierte: „Ein glücklicher Sommertag". Aristoteles bewegt sich in den Räumen des Geistes auch nicht mit der göttlich-spielerischen Leichtigkeit Piatons, deren Merkmal jener tiefe Humor ist, der über Gedanke und Form souverän verfügt. Es war, wie ich glaube, keine zutreffende Intuition, die den großen Piaton- und Aristoteles-Kenner Burnet in der eben genannten Skizze des Hochsinnigen humorvolle Züge entdecken ließ. In der Tat ist der Übergang von der Lektüre etwa des platonischen Staates zur Nikomachischen Ethik, ja auch noch vom Theaetet und Politikos her etwas Ungeheures. Wenn künftige Forschung noch genauer als bisher die platonischen Wurzeln der aristotelischen Philosophie bloßlegen wird, und die untrennbare, bis zuletzt andauernde Bindung an den Lehrer - allein der Unterschied der Form wird den Wesensunterschied der beiden immer wieder schlagartig erhellen. Dazu kommt, daß Aristoteles die Bewegung des Gedankens einffingt in die Bindung seiner voll ausgebildeten Logik. Auch Piaton spricht als Logiker, und die Schärfe seines Denkens ist nicht minder schneidend als die des Aristoteles. Aber es ist ein großer Unterschied, ob ein Künstler die Logik das innere Gewebe des Denkvorgangs bestimmen läßt, die Explikation des Gedachten aber der schlichten Menschenrede anvertraut, die unmittelbar an ein Du gerichtet wird, oder ob terminologisch bereits verfestigte Logik den Lehrvortrag in die Form syllogistischen Vorwärtsschreitens zwingt. Da mag dann bei erster Entgegennahme, freilich nur bei der ersten, der Eindruck entstehen, daß das Leben seziert wird und dann nur noch als Präparat anwesend ist. Es wäre aber falsch, Aristoteles ausschließlich von Piaton her sehen zu wellen. So sehr sich immer wieder bestätigt, daß er in einzelnen Wendungen „platonisiert" und sie als Schmuck seiner Rede verwendet, so wie Historiker und Redner das Sprachgut des Epos und des Dramas verwenden — die Form der aristotelischen Sprache als Ganzes ist von Isokrates her zu deuten, wie man schon lange weiß. Der Übergang von ausgiebiger Lektüre des Isokrates zur Nikomachischen Ethik führt dann allerdings zu einem zutreffenderen Bild. Während die hohe formale Kunst des Isokrates - wir wollen es trotz neuerer, wohlüberlegter Rettungen des Isokrates aussprechen das Leben tötet, weil sie es nicht an der Wurzel faßt, hebt jeder einzelne isokrateisch getönte Satz des Aristoteles die Dinge in ein höheres Leben, weil er hart errungene Wahrheit sagt. Davon soll nicht weiter gesprochen werden; Form und Gehalt lassen sich bei Aristoteles am wenigsten trennen und keine Deutung kann dem, der den Zugang zu Aristoteles sucht, die Aufgabe abnehmen, sich zuerst die Denkformen (das „Organon") des Mannes zu erarbeiten, der nicht als Künstler, sondern „nur noch" als Denker spricht. Wilamowitz, der sein Aristotelesbuch von 1893 Piaton gewidmet hat und einen gewissen Schauder vor dem „terminologischen Höllenzwang" nicht zu unterdrücken vermag, hat im 10. Kapitel des 1. Bandes E n t -

Einleitung

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scheidendes herausgearbeitet. „Selbst Piaton h a t f ü r die Würde des &ECüQT]T XSVV önO.CBV, OVQ re /U' ovx eSei xravmv. Besonders häufig sind diese Reihungen in der E E . Die Tradition ist auch hier von Piaton aufgefangen: „ L u s t und Schmerz, das sind die beiden von N a t u r strömenden Quellen. Wer aus ihnen schöpft ödev re Sei xai ¿nore xai ÖTtöaov der ist glücklich" (Leges 636d7-e2). I n dem pseudo-platon. Dialog De iusto weiß der Unterredner nicht zu sagen, welche Handlungen gerecht und welche ungerecht seien. In die Enge getrieben zieht er sich zurück: „was ev rqi deovn xai rdj xatgqt geschieht, ist gerecht" (375a2). Zur modernen philos. Diskussion N. H a r t m a n n , E t h i k („Die kantische E t h i k " 88f. „Vom Wesen des Sollens" 154f. „Die Sollensantinomie" 624 f.). Die N E ist keine Ethik der exhortationes und döy/xara, kein Vademecum. I n dem Frage- und Ausrufestil des Marc Aurel und Epiktet, aber auch schon in den Imperativen der Schrift an Nikokles (Isoer. 2, 20ff.), äußert sich eine ganz andere Welt. Doch ist dem Kaiser wie dem Sklaven geblieben die althellenische geistige Tapferkeit. Wenn ich nichts übersehen habe, hebt Ar. nur ein einzigesmal (in „plutonisierender" Umgebung) den Zeigefinger (EN I X 4, 1166b27): „Man m u ß alle K r a f t anspannen, um der Schlechtigkeit zu entkommen (Staretafiiviaq tpevxriov) und m u ß versuchen (neigariov), ein guter Mensch zu sein." Das klingt schon fast wie die moralisierenden (byzantinischen?) Epiloge in Theophrasts Charakteren (ipevxrä rä totavra fj&rj, Char. 1, Epitome). — Auch der piaton. Sokrates intensiviert - im Gegensatz zu dem des Xenophon — nur selten zum Protreptischen. 8,1 „Die S t a a t s k u n s t " (rj noXirixri). Das Problem des Verhältnisses von Ethik und Politik bei Ar. ist wiederholt diskutiert; gut bei Burnet X X I V — X X X I . Stewart neigt im allgemeinen dazu, die Verflechtung der ethischen Positionen in das social Environment sehr stark zu betonen. Das gibt gelegentlich Verzerrungen. Kein Zweifel, daß Ar. die hier ausgesprochenen Gedanken in der N E nicht systematisch weiter verfolgt. Das X . Buch f ü h r t hin zur „Theorie" als höchster Lebensform, und das Schlußkapitel zeigt, daß die Gesetze nur dann menschenbildende Wirkung entfalten, wenn der Wissende über ihnen steht. W a r u m t r i t t dann hier am Anfang f ü r einen Augenblick die Staatskunst so sehr in den Vordergrund? A n t w o r t : weil Piatons Politikos nachwirkt: 304b4—d9 und weiterhin W. Theiler, Plotin u. d. antike Philo; sophie, Mus. Helvet. 1, 1944, 213 Anm. 43. In der tiefsten Schicht h a t Ar. die Einheit von E t h i k und Politik nicht preisgegeben, auch wenn wir zwei Lehrschriften über das ursprünglich e i n e Thema haben. Das Wort Ethik (>)&ixr)) kennt er nicht. Aber die Große Ethik bezeichnet als ihr Tnema: Xeyetv inig i)&ixwv (vgl. An. Post. I 33, 89b 9; Pol. II 2, 1261a 31 usw.). In dem Teil der Politik, der kurz nach Piatons Tod entstanden sein dürfte, steht der Satz: „Die beste Lebensform, für das Individuum wie für den Staat, ist das Leben im

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Anmerkungen

Verein mit der dߣT»y" (VII 1, 1323b 40). Das ist im Kern noch immer die klassische piaton. Parallelisierung von nohreia und noXiTtla iv uvzüt (Rep. 608b 1). I Platonische Sprache zeigt sich weiterhin bis in die Kleinigkeiten. „Wenigstens u m r i ß h a f t fassen" ist platonisch (Burnet) und „die Staatskunst setzt f e s t " : hier sagt Ar. weder rdrrei noch innänsi, sondern öiararret. Dieses Verbum h a t den hohen Ton seit Hesiod. D a r u m gebraucht es Piaton (z. B. Phaedo 115 c7) u n d Ar. im Dialog über die Philosophie (fr. 11 R). — „ E s t r i t t bedeutender (fiei^ov) in Erscheinung": Plato, Rep. 368 e 5 fiel^ov nöXig ¿vdc ävÖQÖg. 6.2 „ E x a k t h e i t s a n s p r u c h " . Teile der Gedankengänge dieses Methodenkapitels finden sich in mehreren arist. Schriften ( S t e w a r t ; es fehlt Met. I I 3, 995a 15). Aber das Ganze und einzelne Teile sind bei Piaton vorgebildet. So die Grundsituation, d a ß sich der Philosoph einem Thema gegenübersieht, das keine eigentliche exakte Darstellung zuläßt. Das h a t Piaton im Timaios entwickelt ( 2 9 b - d ) , und so wie Ar. schließt er damit das Prooimion ab. — Einzelheiten: „Die Ungleichmäßigkeit der Menschen und ihres Handelns, die ewige Ruhelosigkeit alles Menschlichen gestattet nicht, daß irgendeine autoritative Instanz etwas Einfach-Schlichtes f ü r alle Einzelfälle und f ü r die gesamte Dauer der Zeit festsetzt" (Plato, Polit. 294 b 2 - 6 ) ; das bezeichnet Ar. wiederum mit einem bei Piaton beliebten Ausdruck als „Schwank u n g e n " (nXdvrj). - Das Problem der manchmal schädlichen Tapferkeit ist vor Ar. behandelt: Xenophon, Symp. 3, 4; Mem. 4, 2,31-36 und Plato, Meno 8 8 b 3 ; die „Wahrscheinlichkeiten" des Mathematikers stehen im Theaet. 1 6 2 d 5 - 1 6 3 a l ; das Entgegennehmen des Vorgetragenen z. B. Timaeus 2 9 d 2 , Theaet. 162e 2, 8. - Über die Zusammenhänge der arist. Ethik, z. B. auch dieses Methodenkapitels, mit der Medizin des 4. J h . grundlegend W. Jaeger, Diokles von Karystos, Berlin 1938, Paideia 2, 11-58 und H. Diller, Hippokratische Medizin u. attische Philosophie, Hermes 80, 1952, 385-409.. 6.3 „ K o n v e n t i o n " . Gute Vorarbeit f ü r Ar. bei F. Heinimann, Nomos und Physis. H e r k u n f t und Bedeutung einer Antithese im griech. Denken des 5. J a h r h u n d e r t s , Basel 1945 (dazu H. Langerbeck, Gnomon 21, 1949, 105-113). 7,1 „Nicht E r k e n n t n i s " . D a ß das Ziel der Ethikvorlesung nicht Erkenntnis, sond e r n Praxis sei, ist eine radikale Formulierung. Aber Ar. wiederholt sie deutlich ( I I 2, 1103b26-29) und im Schlußkapitel der N E n i m m t er das Problem noch einmal auf, weil es ihn zur Frage der Gesetzgebung f ü h r t . I m I. Buch der E E erfahren wir, d a ß er m i t dieser scharfen Formel auf Sokrates zielte, Tugend sei Wissen, das Wissen der Gerechtigkeit und Gerecht-sein fallen zusammen (I 5, 1216 b 3—25; wie weit dieses Sokratesbild „historisch" richtig ist, ist eine andere Frage). Die Scheidung von ¿marrjfir] TiQaxTixr) und yvaiaztx^ ist platonisch (Polit. 258 d 5, e5); ein Beispiel reiner yvwaig ist die Geometrie (Rep. 5 2 7 a 6 - b 8 ) und die Physik (Phys. I I 3 , 1 9 4 b 17). I n diesem Sinn allerdings ist die E t h i k nicht yv&oig. I n Wirklichkeit will natürlich Ar. seiner neuen DisziplinTiicht den Wissenschaftscharakter nehmen. Die Bemerkung gilt dem unreifen Hörer. Sobald die Leidenschaften ausgeschaltet sind, h a t die theoretische Erkenntnis sogar „hohen N u t z e n " . K u r z : Ar. steht ganz auf der platonischen Basis; Rep. 539d4—6: „ m a n wird nur Jünglingen Anteil am wissenschaftlichen Gespräch geben, die (bereits) besonnen und standfest sind - nicht so wie

I 1-2

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heutzutage, wo der Nächstbeste und Nicht-hergehörige sich an dieses heranmacht". Der Philosophenkönig der Politeia und der wahre Staatsmann des Politikos sind Theoretiker und Praktiker zugleich, nur letzteres in einem speziellen, gehobenen Sinn. Obwohl die königliche Kunst des Staatsmanns yva>orixij ist (Polit. 259 c 10; 305 d l ) , zeigt doch der Schlußteil des Politikos die konkrete Entfaltung der staatsmännischen Kunst als einer Weberkunst (308 d l ff.), so wie auch der Philosophenkönig nicht in der contemplatio verharrt. (Förderliche Diskussion der Probleme des piaton. Politikos bei H. Zeise, Der Staatsmann; Philologus, Suppl. 31,3, Leipzig 1938, und des Problems Theorie-Empirie bei Ar. R. Stark 1954, 4-19). 7.2 „das höchste". Das griech. Wort legt die tîbs. nahe: „Gipfel-Gut" (äxqov). Auch die Tugend ist axiologisch für Ar. eine âtegétjjç (EN I I 6, 1107a7). Piaton und Ar. gebrauchen das auszeichnende Adjektiv gern — weil sie gewiß beide die Verse des Hesiod von dem steilen Gipfelpfad zur Tugend gelernt hatten, Erga 291 (Plato, Prot. 340 d 4). 7.3 „Glück". Über die Nuancen des griech. Wortes „Eudaimonia" siehe Wilamowitz, Der Glaube der Hellenen I, Berlin 1931, 369. Die kürzeste Umschreibung des Begriffes steht bei Euripides: evSaificov = Stav 6 ôaifiœv e$ ôtôœ (Orest 667 = EN I X 9,1169b 8. Ähnlich Bacchylides 14,1). Die Übs. „Glückseligkeit" ist jedenfalls unpassend. Von Wilamowitz stammt das Aperçu: „Der Hellene will eudaimon werden, der Christ daimon" (a. O. I I 530); s. auch Dirlmeier über &eoeiv) sind f ü r den Menschen das w&hlenswerteste Gut". Die N E wird erst im 10. Buch in diese Thematik einmünden. - Joachim 49 hat eine gute Bemerkung über den nunmehr ins Zentrum rückenden Begriff der ¿getj}. E r ist „connected with the notion of work or function"; dazu vgl. man Wilamowitz, Piaton 1, 55-64 und E. Schwartz, Ethik 19-25. 14,3 „Rationaler Seelenteil" (t6 X6yov i%ov)- Sine behelfsmäßige Übersetzung, da die Schwierigkeit, die Nuancen von „logos" in e i n e m Wort auszudrücken, unüberwindlich ist. Über die „primitive Seelenlehre", die Ar. f ü r die Ethik als ausreichend ansieht, sehr gut Jaeger 1923, 355-356. Dazu H. Diels, SB Berlin 1883, 483. Ar. benützt die piaton. Seelendreiteilung nur in der Topik (Arnim 1 , 1927, 6 ff.), sonst aber die Zweiteilung in logikon und alogon. Als seine Quelle nennt er seibat die „exot. logoi", EN I 13, 1102 a 26-28 (Äußerst schlicht die gute und die schlechte Seele bei Xenophon, Cyr. 6, 1, 41), und da er die Zweiteilung ausdrücklich von der piaton. Dreiteilung absetzt (De anima I I I 9, 432a 25—26), so scheint die Große E t h i k zu irren, wenn sie die Zweiteilung einfach Piaton zuschreibt (I 1, 1182a 23; der Protr. stimmt

terminologisch mit der NE überein: Xoyov xal dtdvoiav e_yov fr. 6 W). In den MM steckt

aber doch das Richtige.

Denn im Staat unterscheidet Piaton als H a u p t -

teile deutlich das logistikon (dessen Aufgabe ist xtoiveiv ix Xoyio/ioff) von dem alogiston (43945, 7; c9) und rechnet eigentlich seinen 3. Teil zum zweiten (439e5).

279 Und auch aus 571c 3-572 b l sehen wir, daß der 2. und 3. Teil zusammenrücken gegenüber dem 1. Teil ( = Xoyiazixöv xal ägxov 571 c 4 ; t 6 bt xrjs dxgo7i6Xe)v). Man fragt sich, was soll das sein? Antwort: mit solchen „Gütern" meinen wir seelisches Handeln und Tätigsein. Dies zu sagen war auch deshalb nötig, weil der Grieche sich unter „Gut" zunächst etwas Statisches vorstellt, z. B. Geld. 17.1 „unerläßliche Bedingung" (otbc ävev). Vermutungen, auf wen sich die Andeutungen dieses Abschnitts beziehen, bei Stewart I 121, Burnet 41; doch ist keine Sicherheit zu erlangen, insbesondere nicht darüber, wer die Männer von „ausgezeichnetem Ruf" sind. Immerhin führt uns der Ausdruck „in wesenhafter Verbindung", der in "conditio sine qua non" weiterlebt, auf eine sichere Spur. Es hat offenbar in der piaton. Akademie Diskussionen darüber gegeben, welches die formalen „Teile" des Glücks seien und welches seine unerläßlichen Bedingungen (rkv ovx ävev), denn der Anfangsteil der EE I 2, 1 2 1 4 b 6 - 2 7 schließt mit dem Satz, daß manche die „Teile" mit den notwendigen Bedingungen verwechseln (b 24—27). Xenokrates gehörte nicht zu dieser Gruppe, wie aus dem Bericht des Clemens (Strom. 2, 22; p. 186, 23-29 St. — fr. 77 Heinze) hervorgeht, sondern er schied genau. Ihm galten die körperlichen und die äußeren Güter als sine quibus non, was Polemon leugnete (p. 187, 1). Ob er dies aber in den Termini des Ar. ausdrückte und somit in diesem Punkte dessen Vorläufer war, läßt sich nicht sagen, weil wir bei Clemens kein Originalfragment, sondern, wie schon Bernays, Dialoge 160 erkannte, ein Referat in eindeutig peripatet. Sprache vor uns haben. Wir sehen aber e i n e s : X. ließ die Eudaimonia aus dem Besitz der Tugend und der dieser „dienenden" (vnrjQexovoa.) Potenz bestehen. Dies indes stammt aus dem Timaios (46 c 7fatjQerovoiv)und dieser Ausdruck ist der piaton. Vorläufer für &v ovx ävev; s. Taylor, Tim.-Komm. 291, 299-303, auch 491 zu Tim. 68 e 4. Aber die für Ar. fundamentale Vorstellung von der conditio sine qua non ist nicht nur inhaltlich, sondern auch terminologisch bereits durch Piaton festgelegt. Quellen: Phaedo 9 9 b 3 - 4 , Polit. 2 8 1 d l l , 281 e2, 287d2-3. Für Ar. E E I 2 , 1 2 1 4 b l 3 . 1 4 . 2 6 ; VII 7, 1 2 4 1 a 2 ; EN X 9, 1 1 7 9 a 2 ; Phys. II 9, 1 9 9 b 3 4 - 2 0 0 a 15; IV 1, 208b35 (in der Definition des Raums); Part. anim. I 1, 6 4 2 a 9 ; Met. V 5 u. XII 7, 1072 b 12; Pol. III 5, 1278 a 3 ; IV4, 1291 a 2 ; VII 8, 1328a 23, b 3 ; 9, 1329a34 („Teile" der Polis sind die Hopliten und der Rat, "sine quibus non" die Bauern, Handwerker und Lohnarbeiter). Piaton sagt ävev oi (Phaedo); warum Ar. die Präposition nachstellt, kann ich nicht erklären (die Analogie von ¿¿£g Sei (nochmals 1123b22) ist nichts anderes als oben xaz' a^iav. Auch diese Tugend ist also Übereinstimmung mit der gemeingriech. Tradition. 80.5 „äußere Güter". Interpretation von 1123b 15-24: Das N e u t r u m fisydXa, mit dem Ar. eingesetzt h a t t e , wird n u n konkret. Nebenbei: ich meine das nicht so, als ob Ar. „leider" erst mit einem verschwommenen Begriff angefangen habe und n u n endlich präziser werde. Griech. Neutra sind keine vagen Begriffe; der Grieche, der zuerst TO. ovxa sagte, hat die ganze Welt in dieses N e u t r u m gebannt (sehr gut über Abstraktion: R. Härder, 1949, 38-48). Zusammenpressungen von solcher Fülle können dann zu reicher Explikation gebracht werden. Nächster Anlaß f ü r Ar. vom N e u t r u m auszugehen war der „ N a m e " ¡isyaXo - yrv%Ca. Dahinter aber steht der eigentliche G r u n d : seine E t h i k ist viel weniger induktiv als wir meinen, sondern deduktiv. Dies sehen wir in besonders reiner F o r m n u n auch hier. Zu dem Ergebnis nämlich „ E h r e ist der Bereich des Hochsinnigen" k o m m t er auf zwei Wegen: a) deduktiv: der H . hält sich f ü r ä£iog; ä£ia ist ein TiQÜg rt, das Tt k a n n n u r ¿XTÖQ sein. ¿xz6g ist mancherlei; da der H . sich des Größten f ü r wert hält, m u ß dieses Tt das größte unter den ixrög sein: das ist die Ehre ( = Hochschätzung dprch andere). Also . . . b) i n d u k t i v : Es geht auch, sagt Ar., ohne einen solchen Syllogismus (vgl. Pol. VII4, 1326 a 29; De p a r t . an. 666 a 19), denn die E r f a h r u n g (die „Geschichte") zeigt j a , daß die H . Ehre haben wollen. An dieser Stelle h ä t t e er z. B. von einem Hörer den Abschnitt aus der Kranzrede rezitieren lassen können. Bleiben wir bei den „äußeren Gütern". Die Dreiteilung der Güter kennen wir: 1. des Leibes, 2. der Seele, 3. äußere = außerhalb des Menschen, der ein ovv&erov aus Leib u n d Seele ist. Der H . kann nicht proklamieren: ich bin der Güter des Leibes, z. B. der Gesundheit, wert; auch n i c h t : ich bin der seelischen Güter wert, z. B. der Tugend der Besonnenheit. Also bleibt nur 3. Was der H . proklamiert, ist Selbsteingchätzung. Aber wir dürfen den Satz 1123b2 nicht feiern als E n t deckung des „sittlichen Selbstbewußtseins". Denn wir sind qoeh immer bei der einfachen Tatsache des Lebens: der H. h a t Großes geleistet u n d hält sich daher f ü r wert der Ehre. Wir haben den Bereich des Sittlichen im engeren Sinn noch nicht betreten. Hier beginnt die Fehldeutung von Gauthier, die auf Stewart I 337 zurückgeht. Beide können es nicht ertragen, daß Ar. bisher nichts weiter gesagt haben soll, als — substituieren wir noch einmal Demosthenes — „ E i n bedeutender Mensch wie Dem. beansprucht die E h r u n g durch seine Mitbürger" — was doch gar nichts „ S i t t liches" ist. N u n sagt Ar. u m zu zeigen, daß die Ehre das höchste äußere Gut i s t :

IV 7

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„wir entbieten sie j a auch den Göttern". Das Gewicht dieses Satzes ist genaa d u der plat. Konstatierung: ûeïov yàç âyaûàv nov tJ xijir] (Leges 727a3). St. aberbringt ihn in ungerechtfertigte Verbindung zu I 12, 1 1 0 1 b l l - 2 7 und 3, 1095b22-30, und indem er die später von Ar. eingeführte Distanzierung des Hochgesinnten von der Ehre vorweg nimmt, erkennt er in der Ehre einen „Symbolwert". Gauthier (79) aber läßt den H. deshalb auf ein äußeres Gut bezogen sein, damit er dann, als ein Sokrates, seine „impassibilité devant les vicissitudes de la fortune" beweisen kann. Wir müssen aber den Gedankengang des Ar. geduldig Schritt für Schritt verfolgen; mit raschem Zugriff läßt sich ihm nichts abgewinnen. 81,1 „ein trefflicher Mensch". Nach kurzer Charakterisierung der Extreme (1123 b 24 bis 26) beginnt Ar. die Detailarbeit an dem Bilde des Hochsinnigen (s. Disposition S. 372). Erst der Gedankengang von 1123b27-1124a20, dann Einzelheiten. Wir setzen ein bei dem Ergebnis des ersten Raisonnements: „wer w i r k l i c h hohen Sinnes ist, m u ß also àya&àç sein". Das ist ein Schluß, nicht ein aus der Erfahrung gegriffenes lvdo(ov, und er beruht auf der vorher (1123 b 16), ebenfalls logice gewonnenen, Position. Wir müssen uns sehr wundern. Seit wann muß denn Ar. von dem Träger einer Tugend, sagen wir: der Besonnenheit, das Schlichteste sagen, was es überhaupt zu sagen gibt, nämlich: er ist âyaûàç, d. h. Träger einer „ethischen Tugend"? Erklärung: was bisher entwickelt wurde, hatte mit Tugend am arist. Sinne noch nichts zu tun. Das war — nehmen wir ihn wieder zum Beispiel — Demosthenes. Einen Dem.-Typ aber deshalb, weil er sich großer Dinge für wert hält, als einen Träger ethischer Werthaftigkeit zu bezeichnen, das ging nicht; das wäre ein Rückfall in die Zeit vor Sokrates gewesen. Dieser „Dem." ist noch nicht sokratisiert, d. h. noch nicht zu einem ethischen Subjekt gemacht. Dies geschieht nunmehr, und dies ist der erste Schritt zur Vertiefung des Dem.-Typs. Und es geschieht ganz einfach formalistisch: vom Superlativ (mit dem Ar. in Anknüpfung an das Vorhergegangene anfangen mußte) zum Komparativ - zum Positiv. Der Schritt war gewiß auch deshalb nötig, weil Ar. j a im 1. Buch, bei der Diskussion über die drei Lebensformen, den sekundären Charakter der Ehrung durch andere erkannt hatte: „der Schwerpunkt liegt mehr in dem, der die Ehre spendet, als in dem, der sie empfängt" (1095b25). Ar. hat das nicht vergessen; der Gedanke daran wird ihm eine weitere Vertiefung des ursprünglichen „Demosthenes"-Typs ermöglichen. Vorerst also haben wir einen zweiten Hochsinnigen gewonnen, durch die Gleichung: fieyUrtmv âÇioç SQIOTOÇ, dya&àç. Er unterscheidet sich von dem ersten durch àXrj&càç : jetzt erst = haben wir den „wirklich" Hochsinnigen vor uns, jetzt erst ist die Hochsinnigkeit ein legitimes Glied in der Reihe der ethischen Vorzüge. Die gewonnene Basis wird nun erweitert durch einen zweiten Schritt. Dieser wird nicht logice entwickelt, sondern ist ein êvôoÇov, beruhend auf der geläufigen Vorstellung einer umfassenden Tugend, die ihren adeligen Ursprung im Namen trägt, der Kalokagathia. Wieweit hier die Kai. aus dem Schlußteil d e r E E (1248b8-1249al6) noch einwirkt, kann jetzt nicht untersucht werden. Außerdem fehlt eine umfassende Studie über diese Tugend, die in der E E rêXeioç heißt (auszugehen hätte diese Studie, um nur die ältesten Zeugnisse zu nennen, von II. 24, 52, Sappho 49 D*, Telesilla 9 Bergk, Theognis 933, und zu führen wäre sie etwa bis Dante, Purgatorio 3, 107. 115. 143, vielleicht sogar bis zur Aufklärungsethik. [Nachtrag. Die Literatur ist jetzt vollständig und gründlich verarbeitet von H. Wankel, Kalos kai agathos,

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Anmerkungen

Diss. Würzburg 1961], A. W. Gomme zu Thuc. 4, 40, 2, Class. Quarterly 3, 1953, 65—68). Der Hochsinnige ist also nicht nur trefflich, sondern er hat in jeder Tugend das große F o r m a t ; Beispiele: Tapferkeit und Gerechtigkeit. Durch die Erf a h r u n g kommen wir also wieder zu dem auf log. Wege gewonnenen dgurro; von 1123 b 28 zurück. W e n n ich mich nicht täusche, stellt Ar. nunmehr mit einer gewissen Erleichterung f e s t : es wäre j a lächerlich, wenn der H . nicht d.ya&6q wäre. Von der neuen Basis aus k a n n er dann auch das Thema „ E h r e " wieder aufnehmen u n d damit den offengelassenen zweiten Teil der Def. von 1123b2 befestigen: &£ioe &v. Wir fragten damals: wer sagt denn, daß er des Großen wert ist? N u n haben wir die A n t w o r t : er ist wert, weil g u t ; genau: er wäre der Ehre nicht wert, wenn schlecht. Dies ist noch immer die Ehrung durch nicht weiter bestimmte „ a n d e r e " . Auf diese, die Mitbürger des H., wirft n u n Ar. einen Blick und k o m m t damit zu weiterer Steigerung. An E h r u n g durch x-beliebige ist gar nicht zu denken; selbst wenn sie von Trefflichen gespendet wird, k a n n sie nicht mehr an den Mann heranreichen, der nunmehr j a alle Tugend besitzt. Nachdem also der H . durch das dyadd;-Prädikat erhöht wurde, sinkt das, was f ü r den „Demosthenes"-Typ noch das Höchste gewesen war, herab. Weiterer Schritt: schon vorher h a t t e Ar. vorausdenkend gesagt: der H . h a t es „vorwiegend" mit Ehre zu t u n . J e t z t werden die anderen äußeren Güter nachgeholt und ebenfalls distanziert. J e t z t erst gesellt sich zum „Demosthenes"der „Sokrates"-Typus. Das Ergebnis: f ü r den H., f ü r den selbst die Ehre unwichtig ist, haben auch die anderen äußeren Güter kein entscheidendes Gewicht. Daher k o m m t er in den Ruf ein „Darüber-hinweg-sehender" zu sein. - Einzelnes: 81.2 „ H a l s über K o p f " (nagaaeiaavTi). Hierin sieht Burnet Humor. So gern m a n bereit ist, bei Ar. eine humorvolle Wendung zu genießen (z. B. vielleicht Pol. V I I 1, 1323a29; E N V I I 6, 1149a8), so ist doch zuvor zu fragen, ob wir hier über subjektive Empfindung hinauskommen können. Der griech. Ausdruck b e d e u t e t : laufen indem m a n beide Arme schwingt, was die Schnelligkeit des Läufers erhöht (Zeugnisse bei Stewart, Burnet). Das Theoßhrast-Zeugnis (Char. 3, 6) m u ß , weil unecht (Regenbogen R E 1503, 33), ausscheiden, obwohl es evident zeigt, daß der Ausdruck nicht scherzhaft gemeint ist. Ein Beispiel aus einem Komiker kenne ich nicht. Flucht aus der Gefahr ist ohne nähere Bestimmung noch kein Verstoß gegen die Tapferkeit, die j a eine starke verstandesmäßige Komponente enthält. Also m u ß die Flucht, deren Ziel die R e t t u n g des Lebens ist, hastig sein, also Verletzung des eHoxy/tov. Es p a ß t aber nicht zum Wesen des Hochsinnigen, das decorum zu verletzen. Dies meint Ar. Dazu gibt es eine Parallele. Philipp von Mak., dem Dem. zugesteht, daß er „hohen Sinnes" war (18, 68), h a t t e das Ziel, ganz Griechenland unter seine Macht zu bekommen. Er h a t viele Verwundungen in Kauf genommen „Verlust des Auges, Bruch des Schlüsselbeins, Verstümmelung des Arms, des Beins; j a er war bereit, jeden Teil seines Körpers preiszugeben, den das Schicksal verlangte, u m mit dem Rest in R u h m und Ansehen zu leben" (18, 67). W e n n dies als „humorous t o u c h " angesehen werden kann, dann wäre m a n bereit, es auch b^i Ar. zu konzedieren. I m Staat (487 a 3-5) f a ß t Piaton noch einmal alle Wesensvorzüge zusammen, die sein Philosoph haben muß, und dann schließt er: „Selbst Momos, der Gott der Tadelsucht, fände da nichts zu t a d e l n " (487 a 6). Es ist mir nicht bekannt, daß j e m a n d deshalb Piatons Porträt als half-ironical interpretiert hätte. 81.3

„ g r o ß " . Ar. gebraucht diesen Satz dreimal, hier sowie 1125a2 und a l 5 (dazu

IV 7

377

1124a 19 iuxq6v). An allen drei Stellen h a t p6ya eine andere N u a n c e ; der Reihe nach e t w a : erheblich, überwältigend, verblüffend. Ich habe aber nicht variiert, sondern groß in Anführungszeichen gesetzt. E s ist klar und ergibt sich aus der Gesamtdarstellung, d a ß Ar. nicht m e i n t : er t u t kein Unrecht (aloxgöv), n i m m t also z. B . nicht fremdes Eigentum, weil ihm nichts die Mühe des Einsatzes lohnt. D a n n w&re er also ein Phlegmatiker und, soeben in die Mitgliedschaft der ethischen Tugenden aufgenommen, sofort wieder gänzlich außerhalb der E t h i k gestellt. Nichts berechtigt uns, Ar. als einen Aristoph. anzusehen, der nicht selten disparate Züge in e i n e r „ P e r s o n " versammelt, nicht auf psychologische Wahrscheinlichkeit, sondern allein auf Wirkung bedacht. Oder: „er bewundert nichts", wäre also die Negation jener menschlichen Uranlage, die Ar. im Anfang der Met. preist: dann wäre er ü b e r h a u p t kein Grieche. D a ß dies alles aber humorvoll gemeint sei, h a t nicht einmal Burnet behauptet. Die Lösung ist einfach: Ar. h a t Freude an dem Oxymoron „ d e m G r o ß gesinnten ist nichts g r o ß " . Daher n i m m t er gerade dieses Adjektiv und verwendet den Ausdruck wie eine Formel. Von „Blasiertheit" darf m a n nicht sprechen. 81.4 „ohne sie": der Satz „Einzeltugenden sind die conditio sine qua n o n jener Tugend, die navreAfe ist", ist nur die Umdrehung von 1123b30: „ D e r H . bekundet in jeder einzelnen Tugend das große F o r m a t " . 81.5

„ e r n s t z u n e h m e n d " : das sind die tpqiviiioi, von I 3, 1095b28.

81.6 „sieht hinweg". Der Hochsinnige ist deshalb kein zynischer Menschenverächter. Stellen wir uns vor, Ar. h ä t t e das Gegenteil b e h a u p t e t : „er n i m m t wahllos jede E h r u n g " . Dann wäre der H . ein eitler Geck. Wie sich das Hinwegsehen in concreto äußert, sagt Ar. nicht. So weit geht er nicht an die Realität heran. Wir dürfen annehmen, daß die Distanzierung mit griechischer U r b a n i t ä t geschah. - Uber das Fehlen der „philanthropia" im Bilde des Ar., jener herablassenden Freundlichkeit, die häufig den Hochsinnigen des Isokr. und Xenoph. eignet, s. Kirsche 56—57. — I n der Bittgesandtschaft zu Achilleus bietet Phoinix dem Zürnenden Ehre an, E h r u n g durch die Achäer; greifbare Ehre, durch Geschenke, aber keine alltägliche Ehrung, sondern Ehre wie man sie der Gottheit erweist (II. 9, 603). Ach. lehnt sie aber ab, schaut über sie hinweg. „Nicht diese Ehre brauche ich; ich meine, ich bin schon geehrt durch die gerechte Zumessung des Zeus." Hier spricht also das hohe Selbstbewußtsein (iÄOTi/ita (arist. Neubildung) steht, wird durch den Einleitungssatz als eine Art Appendix zur Hochsinnigkeit charakterisiert, bei der, wie wir sahen, die Anwendung des Prinzips der Mitte nicht sinnvoll war. - Das Nebeneinander von Ehrliebc und Hochsinnigkeit auch bei Isoer. 9 , 3 . Da die Durchführung sich ganz im Formalen hält („wo Zuviel und Zuwenig, da auch die M i t t e " ; dazu die Formeln C'JQ, ö&ev Set usw.), sieht das K a p . wie das Gerippe einer volleren Ausführung aus (nichts in den anderen Ethiken, auch nicht in der Rhetorik). An eine solche dürfen wir aber, prinzipiell, denken, weil die Ehrliebe doch zu allen Zeiten eine gewaltige Rolle bei den Griechen gespielt h a t und bei Piaton über dieses Thema reiche Anregung zu finden war. Mikkola, Isokrates 38 rechnet die Ehrliebe, neben Tapferkeit, Gerechtigkeit und Phronesis, zu den „ K a r dinaltugenden" des Is. — Allein aus der Beobachtung des gemeingriech. Sprachgebrauchs ergibt sich, daß das Wort immer auch ein Zuviel ausdrücken k o n n t e ; dies scheint sogar dem positiven Gebrauch zeitlich voranzugehen; also ,,äyav Moo; inl tö nokv, Ta ¿vöexö/teva xai äXXmg £xeivi a ^ s 0 „ f e h l b a r " ist). Den Bereich der ethischen Phänomene würde Piaton, sobald i h m die Ordnung durch das s u m m u m b o n u m fehlte, der Sphäre seines contingens zugerechnet haben. Wir müssen diese piaton. di$a i m Auge behalten. Schon jetzt b e m e r k e t wir, daß Ar. den Terminus To koyiartxöv später (1140b26) stillschweigend ersetzt durch ro do£aa h a t Ar. gerne in Dialoge eingebaut. Die älteste Formulierung, d a ß Geschehenes nicht mehr zu ändern ist, steht in der Ilias (24, 550-551; 522-524). 124.7 „ A g a t h o n " : frg. 5 N 2 . Zusammenfassend über ihn W. Schmid, Gesch. d. gr. Lit. I I I 1940, 845-850. 124.8 „ E s gelte" (£datg und xardtpaatg. Letztere ist Leistung der ötdvoia, erstere, auch durch ihyyaveiv bezeichnet, die Leistung des intuitiven Verstands. - P. Wilpert, Zum arist. Wahrheitsbegriff, Philos. J b . d. Görresges. 53, 1940, 3-16. 124.10 „wissensch. Erkenntnis". Wie bei dem Thema ,,emorrifirj" zu erwarten ist, kann sich Ar. durchweg auf früher Erarbeitetes berufen. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit Piaton liegt hier schon hinter ihm. Wir dürfen also nicht erwarten, daß sich Ar. in Kap. 3 beispielsweise noch mit bestimmten Partien des „ S t a a t e s " oder mit dem Theaetet beschäftigt. Daß Ar. mit der Bekämpfung der „bloßen Ähnlichkeiten" (1139 b 19) auf die Wachstafel oder den Taubenschlag des Theaet. (191c 9, 197 c 3) anspielt (Zell), ist unerweislich. Mit den Gedankenbewegungen des Theaet. hat Kap. 3 gar nichts zu tun. Die folgenden Parallelen jedenfalls zeigen immer wieder (soweit großer wörtlicher Anklang vorliegt, sollen sie daher im folgenden notiert werden) das Sich-berufen auf bereits erarbeitete und formulierte Erkenntnisse (die Belege meist aus Stewart, Burnet). - In der Met. (I 1, 981 b 25) zitiert Ar. E N VI 3-7. 125.1 „Anderssein" (äXXiog ix^tv): An. post. 1 2 , 7 1 b 9 - 2 5 (Episteme und ihre Prämissen); 71b 15: ov äjiXäig Saxtv ¿MAR^FIRJ, TOVT' dövvarov äAAcug lxelv- Gute Behandlung des „Hintergrundes", den die Analytik f ü r die N E liefert: Joachim 192-7. 125.2

„entzogen" (eleu). Top. V 3 , 131 b 21: ifeu ytviftevov Tfjg alo&jjoecog.

125.3 „Notwendigkeit" (ävayxrj). An. post. I 4, 73 a 22: ävayxaiov TO ¿mori)Tov TO xazä -Tf/v ajioÖEixrix-qv EMCNRJ/j.TJV. Met. V 5, 1015b7: f j an6öei£tg TÜV avayxatcov, Sri ovx ¿vdexerat äXXcog e%eiv. 125.4 „ewig" (diöiog). E N I I I 5, 1112a21-31; 1 2 a 2 1 : negi TÜV diötmv ovöelg ßov?.£vexat. 125.5 „uneingeschränkt" (äjiAä>g). Dies setzt den Gegensatz voraus: vno&iaeojg. Darüber Phys. I I 9.

ävayxaiov

125.6 „unzerstörbar" (äOVTOI bezöge sich dann auf die Namen, die sonst noch von Piaton an dieser Stelle genannt werden. Ich denke aber, wir sind gezwungen an den Hipp, maior zu denken, weil dort allein die f ü r die N E notwendige Scheidung von sophia und phronesis gemacht wird. Mit crsterem wird die theoretische Seite der Philosophen bezeichnet (281 c5), letzteres wird dem Hippias in den Mund gelegt. E r b e h a u p t e t nämlich: diese Philosophen waren unfähig mit ihrer phronesis heranzureichen an die xoivä xai r a Xdia (wobei ISta nicht etwa ihre privaten philos. Spekulationen bezeichnet, s. 281b 6). Das ist also terminologisch genau der Sprachgebrauch der N E (zuletzt über diesen Abschnitt des Hipp, maior: M. Soreth, Zetemata 6, 1953, 4-10). — Über Anaxagoras wird genauer in der E E zu sprechen sein. E s ist zu f r a g e n : welchen Sinn h a t die phronesis des Anaxagoras, die im Protr. 5 b W (Zeile 6 v. u.) genauer bezeichnet wird als v ixaaTOV avrov Ti{Hx>fiEV (Leges 644 c 4); ähnlich P h a e d r . 271a 6. 131.7

„Rechtspflege". Schema (nach Stewart I I 64, m i t Modifikationen): Phronesis (A) Definition: 4 0 b 5

Phronesis (a)

oixovoftixq

im I n d i v i d u u m : 41 b 3 0 O b j e k t : dessen H a n d e l n

nofoxtxr) ( A )

in der Polis: 4 1 b 2 4

noAiTixtf (a) O b j e k t : das Einzelne in der Polis, 4 1 b 2 6 = TtQaxTixri: 41 b 27

ßovXevrtxri

in der Volksversammlung 4 1 b 2 7 , 33

vo/w&erixri — äßXlTexx. Avov)? J a . Dieses Hindernde k a n n doch nur aus der reflektierenden Überlegung (ix Xoyia/wv) stammen, während das Treibende und Ziehende aus der Leidenschaft and dem Ungesunden k o m m t - also Aoyumxöv u n d ¿mdvfit]tixöv (Rep. 4 3 9 a 9 - d 8 ) . - Dazu E E I I 8, 1224 a 31-39. 147.5 „ein Tier". E E I I 8 (also bei dem T h e m a : willentlich-unwillentlich-Zwang) 1224 a 23-27: „Bei den unbelebten Dingen ist das bewegunggebende Prinzip einfach, bei den Lebewesen aber gibt es mehr als eines, denn bei ihnen ist Streben und Überlegen nicht immer im Einklang. Daher ist bei den Tieren das Element des Zwanges einfach: bei ihnen können Überlegen u n d Streben nicht in Gegensatz k o m m e n , sie leben j a nur nach dem Streben ( = dem Instinkt). I m Menschen aber i s t beides . . " 148.1 „Vertreter d. N a t u r w . " . So zitiert Ar. gewiß nicht sein eigenes Werk, D e somno 3. Auch denkt er schwerlich an Heraklit (22 B117), sondern etwa an Forscher wie Diogenes v. Apollonia (Vors.» 64 A 19; I I p. 56, 13-17). - MM I I 6, 1 2 0 2 a l - 7 . 148.2 „ i m eigentlichen Sinn". Wissen im uneigentlichen Sinn wird erzeugt, wenn die prop. maior n u r durch eine ödj-a und die minor durch aladijatg geliefert wird. — Der Rückgriff auf den Anfang des K a p . 3 (Sokrates — neQiikxeiv) zeigt, d a ß die ganze Gedankenentwicklung, K a p . 3-5, durch die These des S. zusammengehalten wird. Wie Piaton variiert Ar. ivelvai (1145 b 23) durch nagelvai (47 b 16) u n d in dem e i n e n P u n k t e : das Wissen im eigentlichen Sinn wird nicht hin und hergerissen, identifiziert sich Ar. mit Sokrates (47 b 16 = 45 b 24). 148.3 „die Frage". Das K a p . 6 ist angekündigt V I I 4, 1146b9: der Bereich der B(eherrschtheit) und U(nbeherrschtheit). Durch die Zusammenfassung am Anfang

VII 5-6

483

des K a p . 7 (1149a21-24) ist der Ansatz des K a p . 6 gerechtfertigt. Das T h e m a : ncgi nola ist damit aber, wie sich zeigen wird, noch nicht erledigt. 148.4 „ L u s t - U n l u s t " . Das fundamentale Thema ist schon gut vorbereitet. L u s t (Freude) ist das untrügliche Anzeichen dafür, daß die Übung der Tugend sich zur verfestigt h a t , I I 2 , 1 1 0 4 b 4 . Durch I 9, 1099a7-30, ferner durch 1104b21. 27. 34. 0 5 a 5 vorbereitet, konnte Ar. bereits 112, 1 1 0 5 a l l die weitausgreifenden Sätze formulieren: „ U m Lust und Unlust bewegt sich die ganze P r a g m a t i e " , u n d a l 3 : „ D e r Bereich der Tugend ist Lust und Unlust". Dies spielt d a n n zum erstenmal eine entscheidende Rolle in I I I , bei der Besonnenheit und Zuchtlosigkeit (13, 1117 b 25-26), wo wir j a bereits den Bezirk des j e t z t in V I I zu behandelnden Themas betreten haben. Dort auch die Teilung in seelische (Beispiele: Ehr- u n d Wissensliebe) und körperliche Lust, Besonnenheit und Zuchtlosigkeit auf letztere eingegrenzt (darüber s. zu 64, 4). D a ß erstere dann bei der Behandlung der geistigen Tugenden in VI in Erscheinung t r ä t e , wäre zu erwarten gewesen. Aber nicht ein einzigesmal klingt das Thema auch n u r von ferne an, das Wort existiert in V I nicht, nicht einmal bei der Weisheit des Philosophen (Andeutung: I 9, 1098b25). Und auch in die Rechenoperationen von V f a n d es keinen Eingang, nicht einmal bei der aequitas, geschweige denn, d a ß das Thema des plat. Staats (der Gerechte ist der Glückliche, s. S. 397) aufgegriffen worden wäre. Erst in X wird die geistige Lust des Philosophen H ö h e p u n k t und Abschluß der Pragmatie bilden. Dies alles m u ß m a n im Auge behalten, u m den weiteren Gang der N E würdigen zu können. 148.5 „notwendig". E s ist schon von den Engländern notiert, daß dieser Begriff aus Piatons Staat (558 d 5-59 d 2) und dem Phileb. s t a m m t (62 a 9). E r spielt nur hier eine Rolle, nicht in der sog. zweiten Lust-Abhandlung von X (X 2, 1174a6 ist nicht dasselbe). Auch in der E E einmal: I I I 2 , 1 2 3 0 b 20; sonst ausgedrückt durch gntdv/xeiv xarä (pvaiv ( I I 3, 1221a 22) oder durch dvdyxt] xoivamelv (I 5, 1216 a 35, dort ävdyxrj zu verstehen nach 1231a 27). Also die bewußte Anlehnung an Piaton stärker in der N E , was sich weiterhin bestätigt durch die Auswahl der Beispiele, worauf m a n noch nicht geachtet hat. Unter diesen Beispielen fällt nämlich auf, weil aus dem R a h m e n , „der Sieg" neben dem „Ansehen", wo doch das Ansehen genügt h ä t t e . Das ist aber keine Flüchtigkeit. Piaton f ü h r t die Scheidung: „notwendig - nicht notwendig" ein bei der Analyse des demokratischen Menschen. Notwendige Lust (Begierde) ist das E s s e n ( 5 5 9 a l l ) und der Liebesgenuß (559c6; aus Piatons Formulierung, xal neqt, geht klar hervor, daß er zwar nicht so ohne Einschränkung die Aphrodisia als notwendig erklärt wie Ar., aber daß er innerhalb ihrer Notwendiges, z. B. Fortpflanzung, und Nicht-notwendiges unterscheidet). An dem demokrat. Manne exemplifiziert er dann das zuerst theoretisch Festgelegte ( 5 5 9 d l , 5 6 1 a 7 ) : als „nicht-notwendige" Genüsse, die er sich verschafft, erscheinen: Prasserei, noÄiTeveoßai ( 6 5 1 d 3 : das ist bei Ar. das Ansehen, 1095 b 23, notefitxods fjjAovv ( d 4 : bei Ar. Sieg) u n d X6rllxaria~ rixoig CtjAovv ( d 5 : bei Ar. Reichtum). Nur von dieser plat. Trias her (Piaton n e n n t n u r diese 3 Genüsse) ist die arist. zu verstehen. 148.6

„zugewiesen": E N I I I 13 ( E E I I I 2).

149,1 „Anthropos". Nach einem P a p y r u s f u n d v o n 1899 h a t ein Boxer dieses Namens 456 v. Chr. in Olympia gesiegt. Ar. selbst h a t eine Liste der Olympiasieger redigiert (Diog.-Liste 130). Darüber P. Moraux a. O. 123-125, bes. 124. Trotzdem

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Anmerkungen

bleibt der Name merkwürdig. Skeptischer als früher, namentlich über die frühen Teile solcher Listen, F. Jacoby, Atthis, Oxford 1949, 353 Anm. 3. 149.2 „war". Das Imperfekt bedeutet nicht: „bei ihm war es seinerzeit, vor 100 Jahren so . .", denn der Satz hat j a zeitlose Gültigkeit, sondern Ar. sagt zu den Hörern: „Vielleicht erinnert ihr euch an jenes Beispiel von dem Olympiasieger Anthropos; damals stellten wir ja schon fest, daß man, um diesen „Mensch" von dem Begriff Mensch ( = „vernünftiges Lebewesen" oder dgl.) zu unterscheiden, hinzusetzen müsse: „Mensch, der Olympiasieger" (Anonymus 424, 5-14). 149.3 „Wärme — Kühle". Dieses Gegensatzpaar wird sonst mit den in der ionischen Naturphilosophie seit alters gebrauchten Wörtern üegftóv — yiv%Q0v ausgedrückt. Das homerische áXéa f ü r Wärme ist auffallend. Es kommt in der E E vor ( I I I 1, 1229 b 5), im Kap. über die Tapferkeit, aber im Zusammenhang mit Weichlichkeit. Burnet gibt Beispiele aus den naturw. Schriften. Aber wichtiger ist, daß es in akad. Diskussion vorkommt: Eryxias 401d3—e6. Zusammenhang: wenn wir nicht gewisse körperliche Begierden hätten, brauchten wir kein Geld (um sie zu befriedigen). Diese Begierden (Bedürfnisse) sind: Hunger, Durst, Wärme, Kühle — also genau die 4 bei Ar. und in derselben Reihenfolge. 149.4 „Zornesäußerung". Bei Thuc. äxQaxijt; ogyfji (3, 84, 2), aber genau entspricht Leges 869a2: d. &v/xov. 149.5 „letztgenannten": Hunger, Durst usw. - „die vorher genannten": Geld, Ehre, Zorn. 149.6

„auf dieselben", nämlich auf körperliche Lust.

149.7 „die einen — die anderen". Die griech. Komm, verstehen darunter nur den Zuchtlosen und den Unbeherrschten (Anon. 425,11. Heliod. 143, 14). Der Wortlaut: ol ft¿v-ol dé würde an sich gestatten, auch den Besonnenen und Beherrschten in dieser Zweiteilung unterzubringen. Aber wie? Ross teilt so: der Besonnene und der Zuchtlose haben Ttgoalgeais — der Beherrschte und der Unb. nicht. Aber beim Beherrschten gerät er da in strikten Gegensatz zu I I I 4, 1111b 15 und V I I 2, 1145b 13. Das kann also nicht richtig sein. Man wird den Komm, folgen müssen. 149.8 „Daher". Weil wir soeben beim Zuchtlosen das Moment der freien Entscheidung betont haben. — Der Sinn dieser feinen Beobachtung ist: Der Z. ist nicht, wie der Name nahelegen könnte, eine entfesselte vitale N a t u r . Dies würde bedeuten, daß das Irrationale, die Begierde bei ihm ausschlaggebend ist; dann aber hätten wir den Typus dessen, der A-HQOT^Q ist; d. h. über die Begierden nicht Herr werden kann. Das Moment der elementaren Triebhaftigkeit m u ß also von dem Typus des Z. ferngehalten werden. Also zeichnet Ar. ihn als den, der sich Raffiniertes, aber Temperiertes ausdenkt: eine morbide, im Genuß schon ausgebrannte Natur. Käme ihm auch noch hemmungslose Vitalität zu, so würde der Begriff zuchtlos nicht mehr ausreichen, um das dann entstehende Phänomen zu beschreiben. - Die Frage „was t ä t e er erst, wenn . . . " kennen wir aus der Analyse des Hochsinnigen (IV 7,1123b 12). Auch dort verhilft sie zu einer feinen Beobachtung. Noch einmal: 1150a30. Vergleichbar Piatons Fragen: „Was glaubst du, wird ein solcher tun . . . " (Rep. 494c4, e2); Herod. 6, 138, und schlagend: Antiphanes fr. 232, 6 Kock: Szav EimOQÖiv yag AIAXQA nqáxxJ¡ ngáy/TATA, I TÍ TOVTOV ánogtfaavr' äv ovx OLET noieiv (R. Kassel). 160,1

,.früher": 1147b23-31. Daß dies keine Dubletten sind, hat Burnet erwiesen.

VII 6

485

Die neue Einteilung widerspricht der früheren nicht, sondern ergänzt sie nur durch das Moment „Gegenteil". Dieses aber lag Ar. jederzeit nahe. Also: 1) Dinge, die der Gattung nach „schön", von Natur Gegenstand der Wahl sind (z. B. Geld), 2) Dinge, die im Gegensatz dazu der Gattung nach „häßlich", von Natur Gegenstand des Meidens sind (z. B. Armut), 3) die Dinge „dazwischen": das sind die notwendigen von 47b25. Daß Ar. sagt: das alles gehört zum Bereich von rfSovij und intdvfila,. hat seinen Grund darin, daß wir immer noch auf dem Boden des piaton. „Staates" stehen, denn eben dort ist diese Zweiheit (558d5. 9); auch Leges 886a9. 160.2 „richtig". Hier zum erstenmal wieder das aus der Behandlung der eth« Tugenden wohlbekannte, platon.-akad. ¿ei. 150.3 „Niobe". Seit Eurip. sagt man &eo/iaxeiv. Der Typus des „theomachos" seit Homer: W. Schmid, Gesch. d. griech. Lit. I I 109-110 (109, 7 eine Liste der th.) 265(Homer); 273 (Aischylos);-456(Soph.); 111712,5. 734,5(Eurip.);616,6(Herodot). Zu Niobe: R. Oehler, Mythol. Exempla in d. älteren griech. Dichtung, Diss. Basel 1925, 5, 51, 94, 102; W. Nestle, Arch. f. Rel, Wiss. 33, 1937, 246 ff. 150.4 „Satyros": Aspas. 158, 15-17. Anon. 426, 22-29. Heliod. 144, 3. tpikmäza>e seit Eurip. An einen pontischen König dieses Namens (RE I I A 224-226) denken Stewart und Burnet. 151.1 „Manches". Durch die NE zieht sich die sorgfältige Beobachtung von Verhaltensweisen, die nur „Ähnlichkeit" mit der Hauptform haben, also von dieser abzuheben sind. So hatte Ar. z. B. bei der Tapferkeit ausdrücklich 5 ähnliche Formen abgesondert, und wenn er dort (III 11, 1116al6) auch das Wort oftoiÖTTjg (gleichbedeutend xaza fiera;-Ttvt). Inhalt des Arg. I a (das Wesentliche rekapituliert Ar. selbst 1154 a 31-34): Man m u ß zwischen absoluten und relativen Werten

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Anmerkungen

unterscheiden. Eine Operation (toftal, Aspasios 144,11) ist (a) absolut betrachtet ein Unwert, aber (b) f ü r den K r a n k e n ein W e r t . W e n n m a n den Blick n u r auf (a) richtet, k o m m t m a n zu der These: keine Lust ist ein Wert. Die Argumentation wird Ar. ermöglicht, indem er von der Scheidung dmX&s-rivi ausgeht. I n der N E war sie uns begegnet: I 9, 1099a7-15; I I I 6 , 1 1 1 3 a l 4 - 2 4 ; V 2, 1129b3. I n der E E : I I I 1, 1228b 19-23; V I I I 3, 1248b29-36 und besonders nahe sich mit E N V I I berührend: V I I 2, 1 2 3 5 b 3 1 - 3 6 a l 5 . I n Pol. V I I 13, 1332a23 nur 6nX&s. Wir dürfen diese Scheidung i m Phileb. vorgebildet sehen. „ I s t die ganze G a t t u n g der Lust willkommen zu heißen (danaaröv) oder sind Lust und Unlust nur bisweilen (roxi fiiv-zoxk 6e) willkommen zu .heißen (m. ä. W. ein dya&6v), bisweilen aber nicht, als etwas, was keinen Wert darstellt (das ist das arist. änX&s ¿yaMv, wie sich aus dem sofort folgenden Gegensatz .ergibt:), sondern nur zuweilen u n d in einigen Erscheinungsformen das Wesen eines Wertes a n n i m m t ? " (32 d 1—6). Ivta-ivioTe — N E Iviai-rtori. 168.1 „Veränderung-Werden". I m m e r wieder von Piaton gebraucht, wenn er das T h e m a Lust behandelt, z. B. Rep. 583 e 9. 168.2 „ d a u e r n d " (äeC). D a ß es ohne Ergänzung nicht geht, ist k l a r ; m a n sieht aber nicht, wieso datHwg besser d u i c h Aspas. bezeugt sein soll als Ael (144, 27); Anon. 447, 33, Heliod. 155, 23: äel. 168.3 „ F e r n e r " . Als K o m m e n t a r wichtig MM I I 7, 1204 b 20-05 a 6. Paraphrase von Arg. I b (unter Zuziehung von 1 1 5 4 b l 7 - 2 0 ) : Nicht nur die Scheidung dnX&s-nri f ü h r t zu besserer Erkenntnis, sondern auch die zwischen SS«C und ivigyeta. - Ar. h a t t e in den früheren Büchern, was wir vermerkt haben, wiederholt bezüglich der Tugend gelehrt: sie ist eine „ H a l t u n g " (Iiig), aber nicht quieszierend, sondern von ihr aus (djt'atirrjs) geht immer Bewegung, nämlich wertvolle Einzelakte. Das Glück ist yvxiji ¿vdgyeta, im Sinne ihrer vollen Trefflichkeit. Die Bewegungen, die zur Tugend h i n f ü h r e n , die Akte des Gewöhnens {Hhoftii) stehen n a t u r g e m ä ß an Rang tiefer. - Vorausgesetzt, daß die „ H a l t u n g " g u t ist, so sind die zu ihr h i n f ü h r e n d e n Bewegungen wertvoll per accidens. Aber m a n darf die Dinge nicht einseitig betrachten, nämlich n u r die Bewegungen h i n zur „ H a l t u n g " . W e n n z. B. j e m a n d durch Einwirkung von Heilmitteln in den Zustand der Gesundheit versetzt wird, so ist das so zu verstehen: ein Teil des Organismus ist gesund geblieben und dessen Tätigsein (ftgärreiv) ist es, was den Heilungsvorgang s t e u e r t ; hier haben wir also den Verlauf v o n der wertvollen „ H a l t u n g " h e r . I m m e r h i n : dieses Beispiel zeigt die N a t u r in einem Zustand .des Mangels und immerhin k a n n da durch das Heilmittel auch ein Q u a n t u m Unlust hereinkommen. E s gibt aber Funktionen unserer höheren N a t u r , wo von Mangel keine Rede sein kann, z. B. unseres Denkens. Das ist dann j} änd rov decogeiv Jjiotrf. Der Kern deB Arguments s t a m m t aus dem Phileb., wie schon erkannt ist. Ar. deutet es selbst an, wie wir gleich sehen. 3 1 d S - 1 0 : „ W e n n die Harmonie im Lebewesen aufgelöst wird, entsteht Schmerz; wenn sie wieder zusammengefügt wird und zu ihrer eigenen Wesenheit zurückkehrt, entsteht L u s t " . Und später drückt Piaton dasselbe, sich auf 31 d zurückbeziehend, so a u s : „ W e n n die Wesensart wieder in die ihr eigentümliche N a t u r versetzt wird (xadicnrjzau), d a n n bedeutet diese Versetzung (xatdozaoit;) L u s t " (42d5-6). Eben dieses Verbum gebraucht Ar. (1152b34). xaxdaxaati bei Speusipp fr. 57 ist „ Z u s t a n d " (gegen Burnet). Neben dem Phileb. ist der Tim. wichtig (dort natürlich Lust und Unlust n u r im körperlichen Sinn):

V I I 13

501

6 4 d l , 6 5 a l , 6 7 a 6 . Darüber ausführlich, mit Einbeziehung nicht nur des Phileb., sondern auch von Politeia, Nomoi usw. Taylor im Komm, von 1928, 447—462; diese kleine Abhandlung ist, soweit ich sehe, wenig beachtet worden. Daneben unentbehrlich H . G. Gadamer, Das Wesen der Lust nach den piaton. Dialogen, Marburg 1922, in glücklicher Vereinigung von Philologie und Philosophie. 168.4 „Mangel": Phileb. 5 1 a 2 - 5 2 a 3 ; Gorg. 4 7 4 d 3 - 4 7 5 a 4 ; Rep. 584b 1; Leges 6 6 7 c 5 - 6 ; Rep. 582c7-9, 5 8 4 e 7 - 5 8 8 a l 0 ; Met. X I I 7, 1072b24. 168.5

,4m erfüllten Z u s t a n d " : Gorg. 496 e 1-497 a 5; Theaet. 159 c 11-e 5.

168.6 „ F e r n e r " . Zu Arg. I c : in I b yiveatg-liig, j e t z t ¿vegyeta-riXog, E r s a t z des Begriffs des Werdens durch „energeia". D. h. die Thesen der Antihedoniker (hier wiederum f a ß b a r in Phileb. 53 c 5 ; 54c l - d 2 ; weiteres bei Fritzsche. Dazu Li. 115-119, m i t kühner, aber diskutabler These, d a ß in 53 a 12-15 Peripatetiker aus der U m gebung des Ar. f a ß b a r seien) werden mit arist. Begrifflichkeit angegangen. In dem Augenblick, wo Ar. „ W e r d e n " durch „energeia" ersetzt, k a n n er seine frühere Formulierung anwenden, d a ß reine „energeia" genauso ein Telos ist wie jener Endzustand, der sich „ ü b e r das Tätig-sein h i n a u s " ergibt. Das aber steht am Anfang der N E : 1 1, 1094a4, 16. Dort ist implicite ausgesprochen, d a ß es Ziele gibt, die einfach „energeia" sind, sonst nichts ( = Met. I X 8, bes. 1050a21-b2). Lust ist „energeia" und die Eudämonie ist „energeia". Diesen Zusammenhang darf m a n nie aus dem Auge verlieren, denn daraus erklärt sich die intensive Behandlung des Lustproblemg, insbesondere die Wiederaufnahme in X , vor der letzten Wegstrecke: dem Abschluß des Eudämonie-Themas. Met. I X 8, 1050 a 34: „Alle Fähigkeiten, bei denen es nicht über das In-actu-sein hinaus noch ein Werk (Igyov) gibt, haben die Aktualität in sich gelbst: das Sehen ist im Sehenden, die Denkleistung im Denkenden, das Lebendigsein in der Seele - und deshalb ist auch das Glücklichsein in der Seele: es ist j a ein Lebendigsein v o n besonderer A r t " . E s geht eine Linie von I über das a) in ihm. Dieses ist sein wahres Selbst. Die Tätigkeit des menschlichen Nus, eben das Geistleben, ist somit Tätigkeit des mit der Gottheit verwandten Elements und d a r u m das höchste Leben. I n V I I argumentiert Ar. (wenn wir das L a m b d a der Metaphysik voraussetzen dürfen, wofür schon mehrfach von uns Anzeichen festgestellt wurden und was seit Schadewaldt als erwiesen gelten d a r f ) : die Aktualität des höchsten Wesens als solche ist Lust. I m Menschen ist aber auch ein „Göttliches" (#e«n>); also ist auch hier die Berührung mit der Gottheit. Auch das menschliche Luststreben ist Tätigkeit eines mit der Gottheit verwandten Elements. Also ergibt sich auch von dieser

V I I 14-15

505

Seite: die Lust ist irgendwie der oberste Wert. In säkularisierter F o r m , nämlich n n r aus der Physis ableitend, sagt dies auch der „ f r o m m e E u d e m o s " ( V I I I 2, 1247 b 20, Text im einzelnen unsicher). - Vergleichbar: E E I 7, 1217a24-29; V I I I 2, 1248a25 - 2 7 u n d D e p a r t . an. 1 5 , 6 4 5 a 22: Man soll „ a n die Untersuchung eines jeden lebendigen Wesens herangehen, nicht mit grämlichem Gesicht, sondern in der Gewißheit, d a ß in ihnen allen etwas Natürliches u n d Schönes s t e c k t " (W. Jaeger 1923, 362). Zu Leges 950 b 7 (s. S. 272): in X (s. zu 219,4). 166.5 „Besitz". Wörtlich: „als E r b e bekommen". Von xXijgovo/iia haben naturgemäß die attischen Redner zu sprechen und diese k a m e n daher von selbst dazu, das Wort auch metaphorisch zu gebrauchen, z. B. Isoer. 5, 136. Eigentlicher u n d übertragener Gebrauch aber auch bei Piaton, in ein und demselben Gesprächsteil (Rep. 3 3 1 d 8 + e l ) : Polemarchos, der älteste Sohn des Kephalos ist Erbe des Vermögens und des Gesprächs ( d 8 m i t den Hss, nicht nach Hermann). So wird Ar. die Metapher v o n Piaton haben, wie ¿Mxh]gos (s. zu 75,1). 166.6

„folgendes". Sinn des Arg. geklärt durch Burnet.

166.7 „ W e r b e h a u p t e t " . Arg. V I I durch Burnet am besten interpretiert; Joachim 238-239 hier kein Fortschritt. 166.8 „ W a r u m " . W e n n Sinnenlust schlecht ist, so m ü ß t e der Gegensatz dazu gut sein. Der Gegensatz ist die Unlust. Diese ist schlecht. Wieso? W o sie doch als Gegensatz zur schlechten Sinnenlust gut sein müßte. 166.9 „ D e n n d a " . Dieses Teilargument setzt wieder voraus die genuin arist. Betrachtungsweise, d a ß das Tätigsein einer voll entwickelten eine Tätigkeit „ v o n ihr h e r " ist. Diese ,,energeia" k a n n nicht übertrieben werden. Man k a n n nicht im Ü b e r m a ß t a p f e r sein, denn Tapferkeit als ¿£ig ist Mitte und als solche ein Gipfelwert (dxßörtjs 1107a 8). — I n d e m Ar. das Lustproblem mit dem „energeia"-Begriff angeht, glaubt er über Piaton hinauszukommen u n d einen Teil des Schattens zu beseitigen, den piaton. Denken über die Lustphänomene breitet. Ob dieses Hinaufgehen über Piaton einen absoluten Erfolg bedeutet, dies zu beurteilen ist Sache philosophischer Diskussion. So viel dürfen wir sagen: d a ß die L u s t des Philosophen die einzige echte (Piaton TtavaXrß^Q, Rep. 583 b 3) Lust ist, darin stimmen Piaton und Ar. überein. F ü r Piaton ergab sie sich a u i der unlösbaren Verbindung der philos. Seele mit dem Eidos, aus der „Methexis", f ü r Ar. aus dem „energeia"-Begriff: rföovij ist ¿vigyeta beim Menschen und bei Gott. Der Mensch ist nicht Gott, aber er h a t ein öetov in sich und so ist auch der arist. Philosoph mit Gott verbunden, weil beiden ihre ¿vigyeta tfdovrf ist. 167.1 „notwendig": wieder die piaton. Scheidung (s. zu 148, 5). Die drei folgenden Beispiele entsprechen genau der Dreizahl in Rep. 580 e 3 - 4 : idtodij, 716015, a xdzo) ozgiVXV> vnaQxei (310)5) tavxa ( = E N 1166a34-35), während von dem 2. Teil des Satzes der E E : 6'ov StflQrjfiiva, ov% vndqxsi, eben jenem kritischen Satz, in der N E keine Spur ist. Es ist die N E , nicht die E E , die ohne ein Wort der Kritik, sondern in freier u n d - so dürfen wir bei der Tragweite dieser Idee sagen — großartiger Weise Piatons „Ähnlich-werden" in anderer Form erneuert und mit einer Klarheit formuliert, die weit über den schwierigen Schlußteil der E E hinausgeht. Der Gedanke der N E i s t : Der Mensch von vollendeter Trefflichkeit h a t Selbstliebe, die mit Egoismus nichts zu t u n h a t ; denn diese Selbstliebe gilt dem edelsten Teil seines Wesens, dem Geist. Diesen Teil liebt er, diesem lebt er, er lebt dem wahren Ich (1168b29-35). So weit in I X , nicht nur im 8. K a p . : die Bedeutung des „wahren Selbst" war schon i m 4. K a p . proklamiert (1166 a 17-19), dessen Bedeutung von Walzer völlig verkannt wird, wenn er es zum „Anhang u n t e r der •Überschrift ipihxd" degradiert (238). K a p . 4 und 8 aber hängen, wie schon Michael 480, 25-31 ausdrücklich festgestellt h a t , unlöslich zusammen mit X (1178a2-8). Dort wird das „Leben im Geiste" zusammengebracht mit dem Leben Gottes, dem göttlichen Leben im Geiste (1179a23-30). Insoferne der Mensch die ¿vigyeta xarä vovv verwirklicht, ist er Gott ähnlich. Die piaton. „Ähnlich-werdung" ist damit erfüllt und zugleich die Grenze bezeichnet: das göttliche Geistleben ist kontinuierlich (owex&s): Gott ist immer in dieser Aktualität, w i r bisweilen (g onovdala xal mg olxela (Michael 512, 11).

210.5 „ein schlechtes". Wörtlich: „ein Handeln von der Schlechtigkeit h e r " . Die Konzinnität zu xax' ¿QExrjv würde verlangen ein xaxä xatciav, aber wenn mir nichts entgangen ist, verwendet At. bei xaxia nicht die Präposition, welche eine Norm angibt (xaxd). Poetik 5, 1449 a 32 ist anders, nämlich wie in xaxä näaav xfjv y/vxrjv ( E N 1166 a 14). 210.6 „Theognis": Vers 35. Der Apparat bei Diehl 3 zeigt, wie ein solcher Spruch fortzeugt. Auch Piaton h a t ihn im Menon zitiert (95 d 1 - e 2). Weiteres bei Dirlmeier 1 30. 210.7 „ t i e f e r " (xegov = V I I 5, 1147a24). Das bedeutet nicht, daß die vorhergegangene Diskussion nicht besonders „wissenschaftlich" gewesen sei; die Einf ü h r u n g des „energeia"-Begriffs z.B. (1169 b 31) ist alles andere als unwissenschaftlich. Der Gegensatz zu yvaixdixeQov ist nicht: unwissenschaftlich, unverbindlich, sondern diaksxTixmxeQOV (s. Inhaltsangabe, zu 209, 1). Diesen K o m p a r a t i v gebraucht zwar Ar. wohl nicht, aber ich entnehme ihn dem schönen Gespräch im Menon, wo er erklärt wird ( 7 5 c 8 - e 5 ; d4). Die Diskussion bisher entwickelte sich an Argumenten anderer, h a t t e refutativen, somit mehr negativen Charakter. Es mußte z. B. gezeigt werden: „gewiß, m a n kann sich leichter die Handlungen anderer bewußt machen als die eigenen, aber . . . " J e t z t dagegen k o m m t der positive A u f b a u , kommen Argumente, die sich nicht mehr von einer Negation abstützen, wie z. B. gleich das erste, den in (pvoixcoxeoov enthaltenen Physis-Begriff aufnehmend, zeigt: „Von N a t u r ist ein guter Freund dem Guten wählenswert".

557

IX 9 210.8

„stellten fest": I 9, 1 0 9 9 a 7 - l l ; III 6, 1113a25-33.

210.9 „Sinnesempfindung": I 6, 1097b33-1098a4; dazu die Parallelen aus De an. bei Stewart, Burnet. 210.10 „Zurückführung": Met. IX 9, 1051a29; dort auch: f ¡ vórjoig Joachim 259.

évégyeia.



210.11 „Und so ergibt sich". Wie es sich für eine Untersuchung, die (pvaixcÓTEQOV ist, gehört, verläuft sie in lauter Syllogismen (zunächst 1 1 7 0 a l 3 - b 8 ) . Diese sind klar gebaut (bei Burnet und - mit Modifikationen — bei Ross am Schluß des Kap. 9 schön dargestellt), auch das lange Stück 70a25-b8. Wir müssen uns nur von vornherein darüber klar sein, daß Ar. nicht beabsichtigt, durch Induktion zu ganz neuen Erkenntnissen zu kommen, sagen wir, ab ovo anzufangen und allmählich die Einsicht zu erarbeiten: der tpCAavrog b r a u c h t nicht Freunde (als Postulat), sondern er ist von selbst darauf angelegt (tpvaei), sein Ich sozusagen zu erweitern. Dies wäre nur der Fall, wenn er das Kernstück, an dem das Gelingen der Syllogismen hängt, in Frage stellte, nämlich die Gleichung: Freund = zweites Ich. Aber dies wird als gegeben vorausgesetzt (1170b6 = 1166a32). Zusammenfassung des Gedankengangs: Alle Menschen verlangen von Natur nach dem Leben. Leben = Wahrnehmen und Denken. Vom Ablauf des Wahrnehmens und Denkens ( = des Lebens) haben wir immer ein begleitendes Bewußtsein (anders: wir können uns selbst als ein von den Bewußtseinsinhalten verschiedenes Ich konstituieren; vgl. Kants Analyse des Denkens durch das Denken). Leben aber ist Wert und Lust an sich. Also ist auch das Bewußtsein der Anwesenheit dieses Wertes in uns ein Wert und eine Lust. — Das alles gilt von dem Leben des ersten Ichs, von u n s e r e m Leben. Nun kommt der Schritt über uns hinaus: der Freund ist das zweite Ich (1166a31-32), also: Wie das Verhältnis zu uns selbst, zum ersten Ich, so das Verhältnis zum Freunde, dem zweiten Ich. Wie wir das Bewußtsein von Wert und Lust des Lebens für uns, das erste Ich, erstreben, so erstreben wir auch das Bewußtsein von Wert und Lust des Lebens, das im zweiten Ich realisiert ist. 211.1 „Umgrenzte". Es ist durchaus erwägenswert, in diesem Gedanken mit Joachim 260 eine Bezugnahme auf den Phileb. zu sehen, doch soll dem hier nicht nachgegangen werden. Phileb. 6 4 d 9 - 6 5 a 5 ; 65d7—10; 66a4—b3 (D. A. Rees).. Jedenfalls haben wir hier dieselbe Quelle wie für das Xéyovai von X 2, 1173 a 15-16. Siehe auch Michael 515, 22-34. 211.2 „nicht". „Was naturgemäß ist, soll man nicht an den Dingen studieren, die verderbt sind, sondern an denen, die sich im richtigen, naturgemäßen Zustand befinden" (Pol. I 5, 1254a36; dazu EN III 15, 1119a22-24). 211.3 „in der folgenden". Ankündigung der 2. Lustabhandlung in X (Kap. 1-5). Die Ankündigung ist ganz allgemein gehalten. Aus ihr kann daher nicht geschlossen werden: Ar. kündigt an, er werde genauer von der Unlust sprechen. Soeben hat er gesagt: ein Leben der Unlust ist áÓQiajoq. Davon spricht er aber in X nicht expresáis verbis, also ist der Satz hier in IX wohl eine Interpolation. Auch wenn dieser SatB nicht dastünde, wäre es evident, daß Ar. an diesem Punkte der Diskussion das X. Buch im Auge hat, denn 1170 a 20: „alles Umgrenzte gehört zum Wertvollen" = 1 1 7 3 a l 6 : „das Wertvolle ist, wie man sagt, umgrenzt". - Michael 516, 17. 211.4

„höchsten": der Superlativ von ¡xaxÚQUiQ nur hier. Eurip., Troad. 328 (Chor-

558

Anmerkungen

lied) u n d Plato, P h a e d r . 2 5 0 c l , Leges 662e3 (in einem Abschnitt, der überreich an Superlativen ist). 211.5 „ E m p f i n d u n g " : wäre alo&avol/ie&'äv. B y w a t e r s Konjektur nicht nötig. Zu ihr s. Joachim 261. Parallelen aus De an. u. a. bei Stewart. 211.6

„zweites I c h " : 1166a31.

211.7 „oder f a s t " . Ein schönes Zeugnis f ü r die Gezügeltheit arist. Denkens, daß er trotz der vorhergehenden gewaltig langen, geradezu einem Pnigos gleichkommenden Protasis nicht übersieht, d a ß es keine völlige Identifikation des Ichs mit dem zweiten Ich geben kann. Die F o r m der Einschränkung wie 1169a2: rj fidXtaza. Noch einmal 1170b 15. 212.1 „ W o r t und Gedanke". Dies ist das Entscheidende. Dies „is gradually leading us u p to t h e ideal of the &ea>QT]rixog ßlog" (Burnet). 212.2 „Soll m a n " . Inhalt von K a p . 10: F. nur im kleinen Kreis. Problem der Ttohi ist ebenfalls eine Feinheit gegenüber dem prosaischen evo%Ai(0, das Piaton z. B. ganz meidet, obwohl in den Sophistendialogen genug Gelegenheit war zu sagen: „du fällst mir lästig". 215.1 „ungerufen". &xXt)Tog ebenfalls dichterisch scherzt damit im Symposion (174b 1—dl).

(avxöxXrjrog,

avrdfiazog).

Platoa

215.2 „wenn". Zur Rechtfertigung der Lesung von K b : xai To (sc. etf noielv) ftij ¿Euooairtos genügt Rassow, Forsch. 69. Zusammenfassung: Das Thema „Freund in der Not" ist wahrhaftig ein Topos der Popularphilosophie. Der Darstellung des Ar. merkt man dies aber nicht an, so sehr stellt er auch hier wie in Kap. 10 den tätigen und den positiven Aspekt in den Vordergrund. Nicht daß man selbst (passiv) im Unglück die gute Tat des Freundes erfährt, ist die Hauptsache, sondern daß man das Glück mit dem guten Freunde teilt. „Unser Vorbild ist der wertvollere Mensch" (1171b 12). Und wiederum deutet gerade der Satz: „Mit dem guten Freunde im Glück beisammen zu sein ist ein hoher Lebensstil" (1171b 13), unaufdringlich voraus auf die Schönheit des theoretischen Lebens, des. einsamen oder des mit einem kleinen Kreis geteilten. 215.3 „Folgt nun". Inhalt des Kap. 12: Wichtigkeit und Art dea gemeinsamen Lebens der Freunde. - Keine Entsprechung. 215.4

„Leidenschaft" (toi; igwoi).

So dient, selbst in der Ablehnung noch, die

I X 11-12

561

Erotik P i a t o n s der Konstituierung der geistigen Verbundenheit. Die F. der Guten ist auch f ü r Piaton das Höchste, denn er selbst h a t j a die Eros-F. weit hinter sich gelassen. Aber ausdrücklich h a t er nirgends die F. der — auf dessen Ergründung wir uns hier nicht einlassen können, 962 d 4. 963 a 2 u. a.) so gewaltig und alles beherrschend in den Vordergrund, d a ß er die Einung in F., die Einung derer, die auf diesen axonóg ihren Blick richten, nicht als philosophisches T h e m a faßte. 215.5

„Wirklichkeit". Der entscheidende Begriff: „energeia".

215.6 „den G r u n d " . Das ist die piaton. Bezogenheit auf das Objekt, das Telos. F ü r Piaton gibt es im Grunde n u r e i n e s , vor dem alles andere zurücktritt, Ar. rechnet mit mehreren (daher die Soziologie der F.-Bücher), von denen e i n e s allerdings obersten Rang h a t . 215.7 „gemeinsam". I m Deutschen läßt sich ohne Zwang nicht nachbilden, d a ß wir hier im Griechischen eine Symphonie von 6 Zeitwörtern haben — nur ein einziges: oinn]fiEQEveiv ist uns bereits b e k a n n t —, die ihresgleichen sucht. Wir sehen den vollen Aufriß eines attischen Jünglingslebens: Symposion, Palästra (dazu, nicht etwa in eine verräucherte Kneipe, gehört das Würfeln. Lys. 206 e 3 - 8 : „wir t r a f e n die J ü n g linge drinnen in der Palästra. Sie h a t t e n eben das Opfer dargebracht, und n u n spielten sie mit Astragalen, die sie aus Körbchen hervorholten"), J a g d u n d die Philosophen„Schule". Alle diese Zeitwörter kommen schon, wenn auch ganz selten, vor Ar. v o r ; zu ovyxwrjyéai existierte das Substantiv bei Eurípides und natürlich bei dem Verf. des Kynegetikos — alle bis auf e i n e s , das wichtigste: avfupikoaotpeiv ist Neubildung des Ar. Gewiß kein bloß formaler Vorgang: wer das philosophische Leben als Krönung allen Lebens zu konstituieren gedachte, m u ß t e die philosophische F. konstituieren, und das geschah mit diesem Begriff. 215.8

„ o d e r " : in diesem „ o d e r " liegt der Unterschied von Ar. und Piaton.

215.9 „Also". Nämlich: aus dem Blick auf die Lebensgestaltung der Guten - diese ist konzentriert auf ein gleiches Ziel — ergibt sich die Folgerung f ü r die Schlechten: sie haben a u c h ein gleiches Ziel, und dessen Verfolgung f ü h r t entsprechend zum Schlechten. Die Tugenden behandelt Ar., wie wir immer wieder sähen, alle von einem statischen Blickpunkt a u s : wie sind sie, nachdem sie ihre Vollform erreicht haben, und wie verhält sich die Vollform zu den E x t r e m e n . U n d auch die E x t r e m e werden nicht in s t a t u nascendi vorgeführt, sondern mit der gleichen Statik. Bei der F. dagegen konstatiert Ar.— m a n k a n n nicht sagen: studiert, denn es ist j a n u r eine kurze Feststellung - die Entwicklung. Die Schlechten w e r d e n schlecht durch einen Assimilationsprozeß (ó/ioiovftevoi); die Guten w e r d e n g u t : es ist ein Miteinander-Wachsen, ein sich gegenseitig Vervollkommnen. Eine Aussage etwa von der F o r m : ágeri) awav^avoftévtj rolg é&iofioig gibt es nicht. 216,1 „Modell". Z u m Schluß überrascht Ar. noch einmal mit einer schönen Met a p h e r (nur hier bei Ar.), ánopárzeaftai erstmals bei Aristoph., R a n . 1040

562

Anmerkungen

(Fritzsche) und bei Plato, Tim. 50 e 8. Aus der Verbindung beider Zeugnisse wage ich folgende Interpretation: der Freund A stellt fest: Freund B hat eine bestimmte schöne Eigenschaft an sich. Die Seele von A ist wie eine weiche Masse. Nun wischt er die Form der schönen Eigenschaft von B ab und drückt sie sich selbst ein. Das An- und Miteinanderwachsen stellt sich also dar als das Übernehmen gewisser Formen voneinander: nag' dAAi/Aan» (bei Ar. und Tim. 50 d l steckt dieses naqd in 3&ev). 216,2 „Das Wort": Theognis 35(-38). Der Apparat von Diehl 3 zeigt das lange Nachwirken auch dieses Spruchs, auf den schon 1170 a 12 angespielt war. Piaton hatte im Menon Vers 33-36 zitiert (90 d l ) . Er konnte hier in der NE gar nicht passender in Erinnerung gebracht werden, denn er drückt das Gesamtergebnis der F.-Bücher aus: die vollkommene F. ist die der Guten. Es ist leicht begreiflich, daß dieses Schlußkapitel in den anderen Ethiken keine Entsprechung hat; deren F.Abhandlungen haben nicht die Tension der N E : da war keine Möglichkeit, die zahlreichen Einzelheiten zum Konvergieren auf eine Mitte zu bringen. Wir hatten oben die 6 ovy-Komposita betrachtet (215,7). Wenn wir uns erinnern, wie oft in den F.-Büchern von Lust und Freude gesprochen worden ist, wird klar, daß diese Sechsergruppe, vom Gesamtaufbau her betrachtet, nicht nur die Funktion hat, das Leben eines griech. Jünglings zu beschreiben. Sie ist auch ein kleiner Katalog der L u s t des Jünglingslebens. Der Katalog enthält alle Formen, von der körperlichen Lust über die iXev&SQubxeQai rjSovai (III 13, 1118b4) der Palästra und der Jagd bis zur geistigen Lust der philosophischen Kommunikation. — Eigentlich dürfen wir die Lust des Symposions nur zur Hälfte zur Gattung der körperlichen Lüste rechnen; es gab Trinken um des Trinkens willen, ein schweres Zechen und ein leichtes (Symp. 176 e 1-3), aber allein schon aus der Darstellung Piatons sieht man, daß dies nicht alles war, denn sogar nachdem die geistvollen Reden über den Eros schon gehalten, also die geistige Lust genossen war, fragt Eryximachos den Alkibiades: „Wie halten wir es nun, Alkibiades? Sollen wir weder r e d e n hier beim Becher noch s i n g e n , sondern einfach trinken, als sei es gegen den Durst?" (214a7 —b2 Snell). Zum Symposion gehört in der Tat wesentlich Gesang (die Skolien) und Gespräch. Das Wort des Plutarch, daß man eher den Wein entfernen könne als die Möglichkeit des Gesprächs, wenn ein Symposion gelingen solle, haben wir zu 176, 7 zitiert. - Also: die F.-Bücher schließen mit einem vollen Gemälde der L u s t . Daran eine erneute Diskussion der L u s t (X, 1—5) zu schließen, sieht nicht von vornherein nach Flickwerk aus. Man betrachtet nun gewiß nicht ohne Mißtrauen den Versuch, Zusammenhänge zu sehen bei einem Philosophen, dessen „Metaphysik" sich als Werk erwiesen hat, das überhaupt kein „Werk" im herkömmlichen Sinne ist; man denkt auch vielleicht mit Resignation an die harmonisierende Art mancher Homer-Unitarier. Auf der anderen Seite sieht man mehr und mehr ein, daß analytische Versuche irren müssen, wenn der Forscher, wie es bei Homer jahrzehntelang geschehen ist, „Stelle" um Stelle herausgreift und das, was dazwischensteht nicht mehr liest (treffende Charakteristik bei F. Klingner, Über die vier ersten Bücher der Odyssee, Sitz.-Ber. Leipz. Ak. 96, 1, 1944, 11 f.). Was die NE betrifft, so ist natürlich gesehen worden, daß sie keine ins Leere verlaufende Reihung von Einzel-Logoi darstellt (zuletzt K. O. Brink), aber es ist bisher kein Versuch gemacht, den Intentionen des Ar. im einzelnen durch da* ganze Werk nachzugehen. Wenn man sich an Hand des peniblen Index zu

I X 12

563

Walzer 1929 auch nur einen oberflächlichen Eindruck verschafft, wieweit die entwicklungsgeschichtliche Analyse von der besonderen Art gerade des V I I I . und I X . Buches, u n d wiederum insbesondere von der des I X . Kenntnis genommen h a t (es ist minimal), so wird m a n es jedenfalls als methodisch geboten anzuerkennen haben, daß die F.-Biicher n u n einmal nicht nur als Steinbruch f ü r das eine oder andere entwicklungsgeschichtliche Argument zu betrachten seien, sondern daß m a n , ohne zu forcieren, dem Gedankenvollzug des Ar. nachzugehen habe, ohne etwas auszulassen. Gewiß war Walzer nicht verpflichtet eine Analyse der N E zu unternehmen, denn seine Aufgabe war es, die MM als nicht- arist. zu erweisen, und diese Aufgabe hat er auch scharfsinnig durchgeführt. Aber es hat sich im Vorhergehende! doch wiederholt gezeigt, daß Nichtberücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Sicherheit von Argumenten wenig günstig ist. — Bei der n u n folgenden Lustabhandlung wird, wie bisher, neben der Einzelerklärung auch die Funktion der Teile i m Auge zu behalten sein.

BUCH X Tt's yäg ädoväg äreg övaxwv ßioQ 7io&eivds ff Tioia tvQavvtq; täod' äteg ovdt CaAcuro? altbv. Simonides 57 Vorbemerkung: die den Buchanfang markierenden Formeln. Die Ansicht ist weit verbreitet, d a ß diese einem Redaktor angehören (z. B. Burnet 440). Dieser R e d a k t o r d ü r f t e recht feinfühlend gewesen sein. E r h a t , so nehmen wir an, nicht ein relativ unorganisches Konvolut arist. Einzelausarbeitungen vornehmen u n d daraus 10 Büchcr mit jeweils weithin sichtbarem Grenzpfahl machen müssen. Sondern da, wo ihm die Verbindung glatt erschien, konnte er jeweils Ar. einfach weitersprechen lassen, z. B. an der Grenze von I / I l und I I / I I I , wo der sog. Genetivus absolutus ( 1 1 0 3 a l 4 , 1109 b 30) eine besonders enge Verbindung darstellt. E r h a t also gemerkt, daß Ar. einen Weg seiner E t h i k festgelegt h a t , in I ( 1 0 9 8 a l 5 - 1 7 : Glück = Tätigsein der Seele nach der Tugend — und vielleicht finden wir, d a ß eine die höchste ist, d a n n ist Glück = Tätigsein gemäß dieser höchsten). D a ß bei der Untersuchung der Tugenden nicht etwa mit der Großgeartetheit in der Verwendung des Geldes eingesetzt würde, war naheliegend, sondern mit den H a u p t t u g e n d e n , den piaton. Aber, so merkte der Redaktor, Ar. weicht zum erstenmal von Piaton ab an der Stelle, wo auf die Besonnenheit nicht die Gerechtigkeit folgt. D a nun setzt er doch einen Grenzpfahl: „So weit über die Besonnenheit" (Ende v o n I I I ) . „ I m Anschluß d a r a n wollen wir von der Großzügigkeit sprechen" (Anfang von IV). E r markierte also die Stelle, wo die erste große Erweiterung des Schemas der Kardinaltugenden erfolgte. Die Vermehrung erfolgt in IV. Bei den vielen Tugenden gelangte Ar. schließlich (gradatio ad minus) zu jener G a t t u n g , die wegen ihrer besonderen Gebundenheit an das körperliche Substrat nicht mehr einfach als „ T u g e n d " klassifiziert werden konnte, z. B. die Schamempfindung. Diese behandelt er noch (IV 15), aber die Beherrschtheit nicht mehr. Sondern n u n folgte Piatons größte ethische Tugend, die Gerechtigkeit, so umfassend soziologisch, d a ß dadurch die E t h i k eine ganz neue Dimension gewann, die dann die Soziologie der F.-Abhandlung zur Folge h a t t e . Wer a u s d r ü c k l i c h e Rückbeziehung in V I I I und I X auf V verlangt, m u ß auch bei Herodot beanstanden, daß er zu Beginn des Ionischen Aufstands (V 28) nicht sagt: Aber habe ich nicht schon bisher in V, j a auch in IV und I I I und sogar schon in I gezeigt, wie es zwischen Griechen und Barbaren schwelte? Dabei ist philosophisches Denken (pvaei noch stärker als das des Historikers von einer untergründigen potentiellen Einheit zusammengehalten, was freilich dem n u r schwer nahegebracht werden k a n n , der es nie selbst vollzogen hat. — Also hier der zweite Grenzpfahl ( 1 1 2 8 b 3 4 - 1 1 2 9 a 3 ) : die Suspendierung der Beherrschtheit bis zu V I I und die E i n f ü h r u n g der Gerechtigkeit. Der R e d a k t o r t u t n u n etwas Merkwürdiges. E r sagt n i c h t : „Von der Beherrschtheit sprechen wir in V I I , jetzt k o m m t die Gerechtigk e i t . " Sondern: „Von der Beherrschtheit sprechen wir später; jetzt wollen wir die

565 Gerechtigkeit v o r n e h m e n " (Ende von IV) — u m d a n n sofort in V noch einmal zu sagen: „Bezüglich der Gerechtigkeit a b e r . . . " Der Begriff der Gerechtigkeit erscheint also sowohl Ende IV wie Anfang V. Der R e d a k t o r markiert doppelt. Beim Übergang von V I I zu V I I I , von I X zu X wird dies noch auffallender. Man wird sagen müssen: eine solche Markierung ist töricht. Wozu zweimal? F a n d er überh a u p t keine Markierung bei Ar., so genügte die einmalige. F a n d er eine solche des Autors vor, wozu sie verdoppeln? Verbleibt noch die A n n a h m e : er f a n d zwei (eben die, die wir jetzt lesen) von Ar. vor und ließ sie stehen: ein w a h r h a f t pietätvoller Redaktor. N u n verlassen wir ihn, denn so viel ist klar geworden: er ist ein reiner Schemcn. Diese Doppelmarkierungen sind nur dann erklärlich, wenn sie von Ar. selbst s t a m men und ein Rest der ursprünglichen Mündlichkeit der N E sind ( I I 2, 1104b 18 ist in K b ein singuläres nQtprjv s t a t t nQireqov stehengeblieben; das beweist mündlichen Vortrag und m a n nähme es gern in den Text - Burnet h a t es getan - , wenn nicht das, worauf es sich bezieht, eben eine halbe Seite vorher s t ü n d e ; s. Stewart I 179, Burnet 84). D a n n sind zu unterscheiden: a) Schlußbemerkung (mit Hinweis „dies bleibt noch ü b r i g " ) ; b) Markierung des neuen Einsatzes — und dazwischen eine Vortragspause von beliebiger Länge. Wie geht es in der N E nach V weiter? Der Schluß von V markiert scharf: „ J e t z t sind alle ethischen Tugenden besprochen". VI (Anfang): n u n k ä m e n die dianoetischen Tugenden an die Reihe. Das drückt Ar. aber nicht so aus, sondern er greift das Kernstück heraus: seit I I war immer wieder v o n dem dirigierenden „richtigen logos" die Rede gewesen. Was ist das f ü r ein geistiges E l e m e n t ? Und so eröffnet sich Ar. den Eingang in die dianoetischen Tugenden. Zu V I / V I I : o. S. 475: Einsatz mit der dafür reservierten Formel ßerä öe zavra. Übergang Von V I I zu V I I I : s. zu 170, 1. Wie am Schluß von I I I eine Erweiterung über P i a t o n hinaus. Zwei Formeln: mit der Zusammenfassung von V I I wird gleich verbunden der Hinweis auf das, was noch fehlt. Dann Pause. D a n n ftsrd de xavra. Beim Übergang n u n von I X zu X haben wir dieselbe Doppelheit: Abschluß-Pause-Neueinsatz. N u r daß Ar. nicht wie am E n d e von V I I sagen k o n n t e : es „ v e r b l e i b t " noch von der Lust zu sprechen. Denn diese war j a schon einmal behandelt, in V I I . So wird jetzt Aomöv durch ¿nd/ievov ersetzt, und daß dies in der T a t organisch ist, haben wir in der Schlußbemerkung zu I X ausgedrückt (s. S. 562). Die gliedernde Bemerkung wäre viel eher dem Verdacht ausgesetzt von einem R e d a k t o r zu stammen, wenn der ¿jrd/ievov-Satz (1172 a 15) fehlte. So aber kann m a n sie nur dem Ar. selbst zuschreiben. Die erste Lustabhandlung war aus einem, sagen wir: niederen Bereich erwachsen, aus dem Thema „Beherrschtheit—Unbeherrschtheit". Die zweite ist mit dem Schluß der N E ( X 6f.) unlöslich verbunden. E s geht u m die höchste Lust, es geht u m das Zusammenfallen von Lust und Glück. Die Abhandlung ist aber nicht weniger mit der F.-Abhandlung verbunden. Dort h a t t e Ar. drei F o r m e n der F. nach ihren Zielen unterschieden: Nutzen, Lust und ägertf. I m Anstieg zur höchsten F. m u ß n a t u r gemäß die F., deren Ziel die Lust ist, zurücktreten. D a r i n eine Inkonsequenz zu sehen, weil Ar. doch in V I I sozusagen als Anwalt der L u s t {ivifrysia dvefuiödiarog) aufgetreten war, verkennt den Sinn der dialektischen Bewegung in V I I ebenso wie den der Bewegung in V I I I und I X , verkennt insbesondere, daß Ar. sich in V I I über das H a u p t t h e m a : k a n n die Lust der oberste W e r t sein, n u r vortastend ä u ß e r t . Der Bereich der Lust ist unendlich differenziert. Aus der Darstellung in V I I I geht

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Anmerkungen

klar hervor, daß Ar. an die gewöhnlichen Formen der Lust d e n k t ; erst die Einzelthemen von I X (Selbstliebe, Notwendigkeit der F. in Glück und Unglück, noXviMa sich w e i t - i m m a n e n t a u s w i r k t , d a r ü b e r ist bei Ar. kein Zweifel. D e n S c h r i t t i n d a s D ä m m e r einer P o s t - E x i s t e n z , einer zweiten Seinsdimension, die n u r m e h r m y t h i s c h beschrieben w e r d e n k a n n , einer D i m e n s i o n , in der das irdische Glück n o c h ü b e r t r o f f e n w e r d e n k ö n n t e , diesen S c h r i t t t u t Ar., a u c h nur andeutungsweise, nicht. So w ä r e d e n n , i m Vorblick, k l a r , d a ß u n d w a r u m eine L u s t a b h a n d l u n g v o r d e r F o r m u l i e r u n g des t h e o r e t i s c h e n L e b e n s sinnvoll, j a u n e r l ä ß l i c h ist. A b e r es bleibt das P r o b l e m , d a ß es die zweite ( B ) ist u n d d a ß sie k e i n e n Bezug n i m m t auf die erste (A); d a ß Ar. also n i c h t wie bei d e r W i e d e r a u f n a h m e des E u d a i m o n i a t h e m a s ( X 6) e t w a s Ähnliches sagt wie d o r t : „ U n s e r e D a r s t e l l u n g k a n n k n a p p e r w e r d e n , w e n n wir das f r ü h e r Gesagte r e k a p i t u l i e r e n " (1176 a 32), d a ß er v i e l m e h r eine A b h a n d l u n g schreibt, die die erste a n U m f a n g weit ü b e r t r i f f t . D a r ü b e r bei d e r Einzelbetrachtung. F o l g e n d e P u n k t e bezüglich A u n d B d ü r f e n als gesichert g e l t e n : 1) Beide sind v o n Ar. Die F o r m u l i e r u n g v o n W . J a e g e r 1912, 158 (die ü b e r d a s zeitliche Verh ä l t n i s n o c h n i c h t s a u s s a g t ) ist d u r c h F e s t u g i é r e u n d L i e b e r g voll b e s t ä t i g t : hier liegen „zwei g e t r e n n t g e d a c h t e u n d geschriebene M e t h o d o i " v o r . 2) Beide wollen ein voller A b r i ß d e r L u s t l e h r e sein, also nicht n u r gewisse A r g u m e n t e der o f t disk u t i e r t e n L e h r e a d hoc v e r w e n d e n . 3) Beide gehen auf E u d o x o s , Speusippos u n d P i a t o n ein. 4) B ist die v o l l k o m m e n e r e B e h a n d l u n g ; d u r c h Fe. u n d Li. e r n e u t b e wiesen. 5) Der Anstieg zur r e i n e n L u s t in A ein A n s a t z , in B voll e n t w i c k e l t . 6) A reicht n i c h t aus, u m a n Stelle v o n B d e n V o r b a u bilden zu k ö n n e n z u m A b s c h l u ß des E u d a i m o n i a - T h e m a s . 7) B w ü r d e , a n die Stelle v o n A gesetzt, d e n A n a l y t i k e r n u r z u d e m S c h l u ß b r i n g e n k ö n n e n , d a ß es in unbegreiflicher Weise ü b e r das Ziel h i n a u s s c h i e ß t ; m i t a n d e r e n W o r t e n : A u n d B sind n i c h t v e r t a u s c h b a r . 8) W e d e r ist i n A auf B v o r a u s - , n o c h in B a u s d r ü c k l i c h auf A z u r ü c k v e r w i e s e n . 9) I n I X ( 1 1 7 0 a 2 5 ) ist auf B vorausgewiesen. 10) A u n d B leisten z u s a m m e n g e n o m m e n e i n e m G r u n d s a t z der arist. M e t h o d e Genüge, w o n a c h ein T h e m a e r s t SiaXexTixórsQOV, dann yévei tfficöv = ndvreg av&oumoi rrjg rfdovfj; ÓQÉyovrai (pvaei. D a m i t allein schon wird ausgeschlossen, d a ß A v o n e i n e m R e d a k t o r eingeschoben ist. W e n n aber v o n Ar. selbst in V I I e i n g e b a u t , d a n n wird die F r a g e z w e i t r a n g i g , o b A u r s p r ü n g l i c h f ü r ein anderes W e r k , e t w a die E E k o n z i p i e r t w a r ; d e n n Ar. h a t

568

Anmerkungen

d a n n A des E i n b a u s in die N E , sagen wir — f ü r würdig befunden. Fe. (p. X X I V ) versucht den Nachweis, daß A der E E angehöre. Dies halte ich, wie f r ü h e r schon gesagt, mit den heutigen Mitteln f ü r nicht beweisbar, weil die Durchinterpretation der gesamten E E fehlt. Man wird vorsichtigerweise sagen müssen: die Möglichkeit, d a ß A ursprünglich an einem anderen Orte stand, also nicht ad hoc f ü r die N E geschrieben ist, ist nicht ganz auszuschließen. D a n n h ä t t e n wir eine Analogie zum E i n b a u des Thrasymachos in den Staat. F ü r B jedenfalls ist eine solche Auffassung unmöglich. Nehmen wir als Hypothese an, A sei früher als B. Wir h ä t t e n also eine Lust-Abh. etwa aus dem J a h r e 345 und eine zweite (B) etwa von 325. W e n n wir n u n darauf die entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise anwenden? Igt Ar. in A P l a t o n näher als in B? Die Antwort k a n n nur strikte l a u t e n : nein. Der piaton. Grundzug i m Denken des Ar. ist in B sogar reiner ausgeprägt. B soll es Ar. ermöglichen - und wie wir sehen werden, leistet es dies auch - das Leben des hochwertigen Menschen dem Leben Gottes anzunähern, also die piaton. ó/ioicaaig in sein Denken zu transponieren, die beseligende Verbundenheit des Weisen m i t dem Eidos in die beseligende Ähnlichkeit der Energeia des Weisen mit der Energeia Gottes umzuformen. Die E n t wicklung des Ar. ist, an diesem Problem b e t r a c h t e t , ein Fortschreiten zur Reife, die alles Detail völlig beherrscht und einer großen Konzeption unterordnet. Lieberg formuliert treffend: in B ist ein „ G r a d von Verfeinerung der D e n k s t r u k t u r erreicht, der den Eindruck des Endgültigen e r w e c k t " (155). Reifen, in Verbindung m i t Piaton, bis zuletzt: das ist eine schlichte E r k e n n t n i s ; denn wieso soll ein genialer Mensch nicht reifen? Zitieren wir G. Müller, Nomoi 187: „Vielmehr schleppen sie (Nomoi und Epinomis) die alten Begriffe in unklarer und zwiespältiger Weise weiter mit. Diese von uns herausgearbeitete Tatsache m a c h t eine einfache genetische Erklärung äußerst schwierig. Denn wie soll m a n , auch hohes Alter und Schwächung seiner K r ä f t e mit eingerechnet, begreiflich finden, daß Piaton sich selbst mißvers t a n d . . ? " Die wissenschaftliche Welt wartet mit Spannung auf eine Interpretation der Nomoi, die das von Müller Beobachtete anders erklärt; bis auf weiteres ist das Problem gestellt, d a ß das Alterswerk eines Genies Dekadenz und Dekomposition aufzuweisen scheint. - Rückblick auf A und B : s. zu 228 ,4. Literatur zu X : s. zu 161, 7. - Entsprechung: wie zu V I I 12-15, also MM 1 2 0 4 a l 9 —1206a35 (Konkordanz bei Fe. 1). - Griech. K o m m . : Michael, Heliodor. 217,1 „ v e r k n ü p f t " , ovvotxeiovo&ai h a t Ar. offenbar neu gebildet ( V I I I 14, 1161 b21. 6 2 a 2 ; X 8, 1178al5). Der erste Satz v o n B ist schon ein Programm-Satz (s. o. S. 567 u . ) ; jetzt geht es an die Wurzeln. Es gab f ü r Ar. gar keine andere Möglichkeit, nachdem das Eidos gefallen war, der E t h i k ein F u n d a m e n t zu geben als N a t u r und hellenische Tradition, Physis (denn dies steckt in dem Verbum) und Nomos. D a m i t bewegt sich aber Ar., wie gleich das folgende zeigt, nicht auf der Bahn der Sophisten, sondern in der Piatons (Dirlmeier 2 39f.), der neben der Eidos-Spekulation die menschlichen Uranlagen nie aus dem Auge gelassen h a t t e . Was Ar. jetzt vorträgt, ist eine Oikeiosis-Lehre in nuce. Wir wollen uns einen kleinen E x k u r s gestatten und — ohne K o m m e n t a r - Piatons Schilderung (a) der ersten Lebensvorgänge im Kind betrachten, Tim., K a p . 15; sodann (b) Piatons Skizze des Weges bis hinauf zur fteagia des göttlichen Seins, Tim. K a p . 43. (a) Die jungen Götter erhalten vom Demiurgen den Auftrag, zu der von ihm geschaffenen Seele die sterblichen Körper

569 zu bilden und an der Seele noch das Notwendige zu ergänzen. Über diese menschlichen Wesen n u n sollten die j u n g e n Götter herrschen und sie „ d u r c h s t e u e r n " (ötaxvßsQväv 42 e 3) — was natürlich nicht ausschließen könne, d a ß die Sterblichen sich selber Übel bereiten. N a c h d e m der Demiurg diesen A u f t r a g gegeben h a t , begibt er sich wieder in die seinem Wesen entsprechende R u h e (ist dies f ü r Ar. der Ausgangspunkt f ü r die in sich wirkende energeia des obersten Wesens? - Auf jeden Fall ist nicht gemeint Genesis 2, 2 ; Cornford). Nun gehen die neuen Götter ans W e r k und bilden den Leib (42 e 6—44 c 1). Was n u n folgt, ist eine Art Psychologie des f r ü hesten Kindheits-Stadiums (Ernährung, Wachsen, erste Wahrnehmungen, Überwindung des rein vegetativen Stadiums durch die Entwicklung geistiger Funktionen). Der Körper ist zunächst nichts Statisches, sondern da ist ein ständiges Zu- und Abströmen. In ihn hinein binden n u n die Götter die Umschwünge der unsterblichen Seele. Folge: starke Strömung, das ganze Geschöpf ist in Bewegung, aber ohne Ordnung, ohne Plan. Alle diese Bewegungen gehen durch den Körper zur Seele; das ist ala&rjaig. Früheste Schmerzerfahrung, z. B. durch die Hitze eines Feuers usw. Die harmonischen Umläufe der Seele werden dadurch gestört, sie können sich nicht durchsetzen. Die Seele ist also im Anfang ohne Verstand (5vovg), die Vorgänge des Wachstums u n d der Nahrungsaufnahme drängen sich ganz in den Vordergrund. Allmählich beruhigen sie sich aber und mit dem Fortschreiten der Zeit (das ist der Entwicklungsbegriff, 4 4 b 4 ) wird das Menschenwesen verständig (ep, xarä qwaiv r/dovrjv. 218.4 „zeige an", /¿rjvvetv ist eine Seltenheit bei Ar. Dichterisch, j a sogar mit sakralem Klang. Sophokles stiftet dem Herakles Mrjvvz^g ein Heiligtum (Vita 12). Sehr beliebt bei Piaton. Da Ar. es gerade an den zwei Stellen, wo er von Eudoxos mit Namensnennung spricht, gebraucht, hier und I 12, 1101b 29, liegt es nahe, daß so wie bei UMoyog, originaler Wortgebrauch des Eudoxos erhalten ist. 218.5

„alles". Die wörtliche Übereinstimmung dieser Definition mit der am Beginn

572

Anmerkungen

der N E ( 1 0 9 4 a 3 ) anonym gegebenen legt es nahe, in der letzteren eben die des Eudoxos zu sehen, denn a m Anfang der E t h i k k a m j a nichts darauf an, welchen konkreten Inhalt der oberste W e r t hat. D a indes die Definition auch bei Piaton reich belegt ist, fällt eine endgültige Entscheidung schwer (s. zu 5,3) und — dies wollen wir ausdrücklich sagen — es wäre auch gar nicht i m Sinne des Ar., a m Anfang der E t h i k zu sagen: Alle Menschen streben nach einem obersten Wert, wie schon Eudoxos richtig sagte. Am Anfang der E t h i k b r a u c h t er die universale Aussage, da spielt das historische I n d i v i d u u m keine Rolle. Die strikte Behauptung Michaels (531, 15—18), Eudoxos habe die Lust als Eidos hypostasiert, h a t etwas Bestechendes, da er j a Piatonschüler war. Außerdem sind einige Gegenargumente des Ar. so, daß sie auch m u t a t i s mutandis gegen Piatons Ideenlehre gebraucht werden könnten. Ferner p a ß t dazu das, was Ar. in I von ihm berichtet. Die Lust gehöre nicht zu den vielen Gütern, die man populär lobt, sondern sie wird „gepriesen", stehe also über den anderen W e r t e n ; und „ v o n solcher Art sei die Gottheit und der oberste Wert, denn in Beziehung auf diese werde auch alles andere gewertet". Das klingt nach der Methexis-Lehre. Der Bericht in X sieht nach empirischer Begründung aus („alle Lebewesen"), aber Eudoxos könnte zu seinem Ergebnis geradeso durch syllogistisches Verfahren gekommen sein (so Michael 531, 20-23) und u m von einem durchgängigen Luststreben sprechen zu können, brauchte er bei der. Fülle griechischer Dichter-Tradition nicht Zoologe zu sein. Die Lust könnte also als Hypostase ähnlich wirken wie der „unbewegte Beweger" des Ar. und die Venus des Lukrez: als ¿Qcó/ievov. Schadewaldt (124) gibt j a dem Eudoxos mit guter Begründung»starken Anteil an der Lehre der arist. Metaphysik (Lambda). Aber wir müssen uns bescheiden: die Zeugnisse reichen nicht so weit, daß wir Eudoxos zu einem Vertreter der Ideenlehre machen könnten. Ar. h ä t t e sich das wohl k a u m entgehen lassen. Und schließlich m ü ß t e m a n sagen: ein schlechter Schüler Piatons, der ausgerechnet die Lust zur Idee erhebt - außer er h ä t t e seiner Idee einen so erhabenen, eben göttlichen I n h a l t gegeben, daß sie Piaton h ä t t e akzeptieren können. Man sieht: wir k o m m e n da zu keiner Gewißheit. 21'8,6 „ L a u t e r k e i t " . Die Schlichtheit der Formulierung darf nicht darüber hinwegsehen lassen, daß wir vor einem ganz ungewöhnlichen D o k u m e n t stehen: in einem wissenschaftlichen T r a k t a t der Lobpreis einer historischen Persönlichkeit. Eudoxos ist der K o n t r a s t zu dem Anonymus von 1172b 1, bei dem Leben und Lehre nicht übereinstimmten. Ar. h a t weder von Sokrates noch von Piaton Ähnliches in einer Lehrschrift gesagt (von Piaton in der Altarelegie, wenn wir sie richtig verstehen). Am Anfang der E t h i k allerdings das schöne rptXoi ävÖQeg (1096 a 13), aber da ist Piaton nur miteingeschlossen. 218.7 „ E r meinte". Die folgenden 3 Argumente des Eudoxos ( 1 1 7 2 b l 8 - 2 6 : a) ég évavrlov, b) Selbstzweck, c) jiQÓa&eoiQ) sind so eindeutig arist., daß m a n dem Schluß, Eudoxos habe ganze Denkformen des Ar. schon vorweggenommen, n u r entgehen kann, wenn m a n annimmt, Ar. t u e mit den Argumenten des Eudoxos dasselbe wie mit denen der Naturphilosophen usw., nämlich er transponiere sie in seine Sprache. I^urnet h a t f ü r alle drei Argumente die Belege aus der Topik beigebracht. Wir fügen bei: (b) = E N 1 1 , 1 0 9 4 a l 8 - 2 2 und Plato, S y m p . 2 0 5 a l - 3 . (c) = 1 5, 1 0 9 7 b l 6 - 2 0 . Übrigens ist die Reihenfolge der Arg. b u n d c dieselbe wie I 5, 1097 b 2-20. 218.8

„ n o c h " . Eudoxos zeigt sich hier wirklich als Piaton-Schüler. Symp. 205 a 1 - 3 :

573 „ D u r c h den Besitz des Guten sind die Glücklichen glücklich. Man braucht nicht weiter zu fragen (ovxexi nQoadel ¿gia&ai): Zu welchem Zweck will m a n glücklich sein? Das Fragen ist am Ziel, glaube i c h " (B. Snell). ¿mgairäv n u r hier und R h e t . I I I 18, 1419 b 1, dagegen häufig bei Piaton. So wird auch hier originaler W o r t l a u t des Eudoxos vorliegen. 218.9 ,,neben anderen". W a r u m geht Ar. auf Arg. c des Eudoxos so ausführlich (1173b26—35) ein, nicht auf a u n d b ? A n t w o r t : a u n d b waren nicht gefährlich f ü r die Position des Ar., dessen oberster Wert, wie wir seit I wissen, die Eudämonie ist. a h ä t t e er als untergeordneten Beweis auch f ü r das Glück gelten lassen: Alle Menschen meiden das Unglück, also . . . Das Arg. b aber h a t t e ihm selbst schon in I bei der Ablehnung des Regressus in infinitum zu dem Beweis gedient, daß beim Glück ein Weiterschreiten nach noch weiteren Zielen ausgeschlossen sei. Das Arg. c aber betraf einen neuralgischen P u n k t . Wenn die Lust jeden Wert, zu dem sie hinzutritt, erhöht, könnte es dann nicht sein,, daß sie kein bloßes b o n u m additicium ist, sondern über den anderen Werten steht, inixeiva rcöv äXXmv äya&wv ist? Damit war der Autarkiecharakter der arist. Eudämonie gefährdet, den er in I sorglich diskutiert h a t t e (5, 1097 b 7-21). Und so versichert sich jetzt Ar. gerne der Bundesgenossenschaft Piatons (Phileb. 20 e 1-22 e 3. 6 0 b 7 - 6 1 b l 0 ) , die er an der bezeichneten Stelle in I natürlich auch schon gehabt, aber nicht mit dem Namen b e t o n t h a t t e . J e t z t aber wird der Meister namentlich gegen den Schüler ins Feld geführt. — Es zeigt sich: die Abh. über die Lust wird deshalb in X eingeführt und so breit und grundsätzlich angelegt, weil die These des Eudoxos, ebenfalls aus den Tiefen der Menschennatur begründet u n d mit unveränderlichen Uberzeugungen des Ar. sich berührend, die einzige wirkliche Wettbewerberin gegen seinen eigenen Ansatz des obersten Wertes war. Jede Formulierung des Ar. in X ist dirigiert durch den Gedanken an die E u d ä monie. 218.10

„allein" (povotftevov):

I 4, 1 0 9 6 b l 7 (vgl. Rep. 3 5 7 c l - 3 ) .

218.11 „ D a n n aber". Der Satz ist nach dem zu verstehen, was zu 218,9 gesagt ist. Wenn aus dem Begriff des obersten Wertes nicht stricte eliminiert werden k a n n , daß es bei ihm keinerlei Hinzufügungen mehr gibt, wenn sein Autarkie-Charakter nicht bewiesen werden kann, dann gibt es überhaupt keinen obersten Wert, sondern nur jeweils veränderliche. Das „ H i n z u f ü g e n " l ä u f t praktisch hinaus auf den Regressus in infinitum, der jeden Ansatz eines absoluten Wertes unmöglich m a c h t . Wo ist nun, f r a g t Ar., ein W e r t , der diese Bedingung erfüllt, d. h. zusatzfrei ist und den wir als Menschen erreichen können? Diese Frage klingt nahezu rhetorisch, denn wir wissen j a , d a ß es die Eudämonie ist. Wie oft h a t t e Ar. in I den Ausdruck gebraucht rd fjjroti/ievov äyaftov? (z. B. 1096 a6. 1097 a5). Und der letzte Satz („einem solchen gilt unser Suchen") ist Zitat von I 4, 1096 b 34: vvv de roiovräv rt ^rjxsixai (s. zu 12, 2). 219.1 Text.

„einwendet". Die Gegner der L u s t : 1 1 7 2 b 3 6 - 1 1 7 4 a l 0 . Untergliederung im

219.2 „ U n h a l t b a r e s " . Die griech. Formulierung (¿tj) ov + Ind.) enthält eine Bewegtheit, die uns aus piaton. Dialogen geläufig ist. Wenn das Gedächtnis nicht täuscht, sagt Ar. n u r ganz selten so (noch einmal 1173 a 22). Ich halte den Indikativ ¿¿yovcriv f ü r richtig: Kühner-Gerth 1, 224, A. t . Dazu Laches 196c2, Lysis 218d3.

574

Anmerkungen

219.3 „halten fest". Mit tpa/xb zitiert Ar. nicht die Parallelstelle in A (1153b 25-28), sondern drückt aus, daß dies zu seinen Grundanschauungen gehört, wie wir es j a auch wiederholt im Corp. Ar. lesen. — Wichtig ist nicht die Feststellung, daß j e t z t das 6. Arg. von A wiederholt wird, sondern daß es innerhalb des neuen Dispositionspunktes (Thesen der Lustgegner) als erstes erscheint. Wir haben also die genaue Parallele zu der Voranstellung der Eudoxosthese (1172b9): das Luststreben als ein die ganze Welt durchziehendes Phänomen. 219.4 „ I n s t i n k t " . Die überlieferten W o r t e : „es ist in ihnen ein natürliches Wertvolles, das nach dem ihnen zugehörigen Wertvollen s t r e b t " , sind nicht zu halten. E s gibt keine Parallele zu: „ein dya&iv strebt nach einem äya&ov". Bywater h a t t e ein richtiges Gefühl, als er zu tpvatxov äya&ov bemerkte: fortasse secludenda, denn es genügte vollauf: „es ist in ihnen XQBITTÖV r t " . Aber das Eindringen gleich von zwei Randglossen ist unwahrscheinlich. Also streichen wir mit Susemihl äyaftov. W a r u m hier nicht an Stelle von qyvaixöv das tieiov (denn dies ist gemeint) von 1153 b 32 steht — darüber im folgenden. Die Funktion des Arguments ist hier in B eine andere als in A. D o r t : „vielleicht streben alle Wesen nach derselben Lust, denn es ist ein Göttliches in ihnen". Hier: Bestätigung der Theorie des Eudoxos, daß Vernunftbegabtes u n d Vernunftloses nach Lust strebe. Zu der Lehre von dem n a t u r h a f t e n Streben haben wir zu 166, 4 festgestellt: dieselbe Argumentation mit dem &elov hegt auch der Entwicklung der höchsten Lebensform ( X 7, 1177a 11—15, 1179a29) zugrunde. Dies wird der Grund sein, warum Ar. den Ausdruck &elov jetzt vermeidet, eben deshalb, weil er in Gedanken schon bei dem &eiov von X 7—9 ist, welches das eigentliche #£tov ist und über das öeiov von A weit hinausgeht. Folgende, f ü r ein genaueres Verständnis wichtige Stellen sind o. zu 166,4 notiert: E E I 7, 1227a24-29; V I I I 2, 1247b20. 1248a25-27 (vielleicht auch D e p a r t . an. I 5, 645a22). Ferner (o. S. 272) Leges 950b 5 - c 4 (Fe. 41). Dazu fügen wir jetzt Leges 732e4^7 (Schadewaldt a. O. 129 Anm. 67) und Rep. 505 d 11—e4 (hier die Rede von einem „ E r a h n e n " des Wertes durch die Seele). Eine eingehende Analyse aller dieser Zeugnisse würde hier zu weit führen. Nur so viel sei gesagt: es spricht alles dafür, daß in der nicht unwichtigen Grundanschauung von einem durch alles Lebendige gehenden Sehnen, das wegen seiner Irrationalität als fteiov bezeichnet wird, Ar. und Eudoxos gleicherweise von Piaton abhängen. Gerade die Tatsache, daß Ar. in B das Vorhandensein dieses Sehnens, vorsichtig, „auch in den minderwertigeren Wesen" annimmt (davon in A keine Rede), scheint mir auf die in den Nomoi (s. S. 272) ganz singulär faßbare Anschauung Piatons zu gehen. H ä t t e Ar. hier in B Eudoxos zitiert, so ist nicht einzusehen, warum er nicht sagt: „Auch die äXoya ( 7 2 b l 0 ; ävSrjza 73a2) haben ein solches Streben". Sondern er sagt: „auch die (pavXa haben es vielleicht". Dies aber deutet auf Leges 9 5 0 b 8 : xal rolai xaxoig. 219.5 „wesensmäßig", olxslov als Term. technicus f ü r das wesensmäßig zu uns gehörende Ziel („das wonach wir von Hause aus streben") t r i t t hier das erstemal auf. Es wird das olxeiov des Lysis sein (221 e3) und steckt natürlich auch in awq>xet(ö(T&at (1172 a 20). 219.6 „was - gesagt wird". Der Satz des E u d o x o s : Unlust ist ein Übel, also ist das Gegenteil, die Lust, ein Wert, kann durch die Gegner nicht erschüttert werden. Der Gegensatz von B zu dem entsprechenden Argument in A (1153b 1—7) besteht

575 darin, daß der spezielle Einwand von Speusippos nicht vorgeführt, u n d daß auf die E r f a h r u n g (ipaivovTai 73 a 11) rekurriert wird, wie in Arg. (1). 1173 a 8 ßrjöirsga nicht, anzutasten wegen Rep. 583 e 7 (Stewart). Zu ergänzen ist ovri. Siehe auch Phileb. 4 3 c l 3 - e l l . 219.7 „keineswegs". Gemeint ist .offenbar folgendes: das Arg. „ L u s t ist kein Wert, weil keine Q u a l i t ä t " schießt über das Ziel hinaus, denn auch Tugend und Glück sind keine Qualitäten — und doch Werte. Der Unterschied zwischen B und A ist beträchtlich, denn die Formulierung des Arg. in B mit der Kategorie der Qualität (noiòv, s. I I 4, 1105 b 28-06 a 2) findet sich nicht in A. Stewart I I 411 h a t alles Wesentliche gesagt. Die sehr vorsichtig vorgetragene Meinung von Joachim 264 (die Stelle habe eine Beziehung zu Phileb. 5 5 b l - c l ) wird von Li. 141 bestritten, der mit Speusippos rechnet. Doch ist ein wirklicher Beweis nicht zu führen. 219.8 „Umgrenztes". Das Arg. „ L u s t ist etwas q u a n t i t a t i v Unbegrenztes, also etwas ganz anderes als der Wert (das „ G u t e " ) , der Maß und Symmetrie aufweist", genügt nicht, ihr den Wertcharakter zu nehmen. Drei Beweise (a, b, c). Nicht mit A vergleichbar. Trefflich erklärt von Stewart und Joachim, vertieft durch Liebergs beachtenswerte Hinweise auf die Behandlung piaton. Gedankengänge (hier des Phileb.) durch Ar. „Auf diese Art k o m m t es nie (sie) dazu, d a ß Ar. die Gesamttendenz des piaton. Denkens e r f a ß t " (142, doch s. 147). Das ist k ü h n u n d verlangt von Ar., daß er Philosophie-Historiker sei, was bekanntlich meist den Verzicht auf eigene Philosophie bedeutet. Wäre dies richtig, so m ü ß t e n wir mit noch mehr Pessimismus als bisher Vorsokratiker-Forschung betreiben. Aber das Problem h a t Li. mit Recht erneut zu Bewußtsein gebracht. Vermißt wird bei Li. die Einbeziehung von I X 9, 1170 a 19-25, wo das Problem der Begrenztheit in die Freundschafts-Abh. eingeführt u n d auf X vorausverwiesen ist. 220.1 „Gesundheit". Wieder wird in der Argumentation das Gewicht der Erfahrung geltend gemacht; nur dürfen wir dabei nicht übersehen, daß auch Piaton dies t u t : Phileb. 25e8. Was im Phileb. weiterhin an Beispielen folgt (Musik, Hitze, Jahreszeiten usw.), scheint nahezulegen, in 1173a26 èv näaiv als N e u t r u m , nicht wie die griechischen Kommentatoren als Maskulinum, zu fassen und damit der Symmetrie als einer auch die außermenschlichen Bereiche durchwaltenden Macht - eben im Sinne des Phileb. — gerecht zu werden. 220.2 „Vollendetes". Man k a n n nicht sagen: Lust ist Bewegung oder Werdeprozeß und somit kein Wert, denn Wert ist etwas Finales, verwirklichtes Telos, wovon Begriffe wie „noch in Bewegung sein in Richtung auf e t w a s " und „Werdeprozeß" ausgeschlossen sind. A : 1 1 5 2 b l 2 - 1 5 ; 1153a7-1.7 (s. zu 163,6-8). Ausgezeichnete kleine Sonderabh. Joachims über yèveaiQ und xivrjotg bei Ar., 269-275. Hier spricht der Herausgeber der arist. Pragmatie De generatione et corruptione, Oxford 1922. — Diesmal sieht auch Burnet keinen Anlaß, direktes Eingehen des Ar. auf den Phileb. ( 5 3 d 3 - 5 5 c l ) , also nicht durch das Medium von D e b a t t e n der Alten Akademie, zu bestreiten. Man h ä t t e gewünscht, daß Li. seine k ü h n e These von Ar., dem Zerstückler lebendiger piaton. Denkzusammenhänge, auch auf diesen Abschnitt ausdehnte; aber es ist zu fürchten, daß dieser Abschnitt seiner These weitaus härteren Widerstand geleistet h ä t t e ; denn hier geht, um es grob zu sagen, Ar. verständnisvoll mit dem Phileb. u m und f ü h r t ihn weiter, eigenen Lösungen entgegen. 220.3

„nicht einmal", d. h. obwohl sie noch am besten (durch Piaton) begründet ist.

576

Anmerkungen

220.4 „ D e n n " . Es ist meist belehrend bei Michael (541) nachzulesen, wie er die Ged a n k e n des Ar. in b e q u e m zu übersehende Syllogismen bringt. Auf der anderen Seite w i r k t es, bes. auf die D a u e r , s t a r r . So war d a s D e n k e n des Ar. nicht. Aber der überr a g e n d e E i n f l u ß des O r g a n o n ist eben überall zu s p ü r e n . Ar. a r g u m e n t i e r t : Bewegung ist l a n g s a m oder schnell, L u s t als Z u s t a n d ist nicht l a n g s a m oder schnell; also ist L u s t keine Bewegung. Zu diesem E r g e b n i s v e r h i l f t der „energeia"-BegrifF, s. z u 163,6. 220.5 „ u n d w e n n " . Ar. rechnet hier m i t einem E i n w a n d . E s gibt d o c h , so k ö n n t e m a n sagen, e i n e A u s n a h m e v o n der Regel, d a ß Bewegung schnell oder l a n g s a m ist, n ä m l i c h das absolut gleichmäßige Kreisen des „ e r s t e n H i m m e l s " (De caelo I I 6, B u r n e t ) . Ar. begegnet d e m m i t d e m Gegensatz v o n „ a n s i c h " u n d „ r e l a t i v " . I n Relation zu a n d e r e n Bewegungen k a n n m a n a u c h bei der Kreisbewegung des obersten H i m m e l s v o n schnell oder langsam sprechen. I n einem m o d e r n e n wissenschaftlichen W e r k w ü r d e m a n derartiges als A n m e r k u n g d r u c k e n . 220.6 „ W o r a u s " . A n a x i m a n d e r (Vors.® 12 B 1): „ W o r a u s aber das W e r d e n ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht a u c h ihr V e r g e h e n " . Aeschyl., Choeph. 127: „ . . . u n d sie zumal, die alles zeugt u n d alles n ä h r t ; zu der, u m neu zu keimen, alles wiederkehrt, A l l m u t t e r E r d e " (Wilamowitz). W e i t e r : Sophocl., Aias 6 4 6 - 6 4 7 ; Hippoer., II. Siairt]g' 1, 4 ; Ar., Met. I I I 4, 1 0 0 0 b 2 5 u n d P h y s . I I I 5, 2 0 4 b 3 3 : ÖJiavra ydg ¿£ OÜ ¿an, xal DIALVERAI el; TOVTO. Sinn des A r g u m e n t s : es gibt kein gemeinsames S u b s t r a t , das die L u s t z u m E n t s t e h e n u n d der Schmerz z u m Vergehen bringen k ö n n t e . O d e r : ov yeveai; rj fjdovrj, TOVTOV rj \v7rq ftevov. — Auch diese Gedanken sind ein Ausschnitt aus dem Ringen u m die Konstituierung eines Lebens, dessen Spitze der Geist, aber nicht quieszierender Geist igt - genauso wie der Abschnitt der N E , den wir goeben betrachten. D a r u m h a b e n wir a n dieger Stelle die Urpolitik zitiert, den gewaltigen Gedanken, der durch die Gcschichte so o f t bestätigt werden sollte, d a ß Philosophie die Welt zu v e r ä n d e r n vermag (Ideen der A u f k l ä r u n g : Französische R e v o l u t i o n ; Nietzsche's Ü b e r m e n s c h : Wilhelminische Ära usw.). — Zusatz zu 1325 b 2 1 : rj ydg Evnqa^la T¿Xog, &ars xal ngäStg Tig. Aus der P a r a p h r a s e ist ersichtlich, d a ß ich diesen Satz in der engen Verbindung belasse, in der er (ydg) z u m Vorhergehenden s t e h t . U n d ich verstehe ihn aus dem teleolog». Denken des Ar. F ü r ihn ist es selbstverständlich, wie er einmal sagt ( E N 1101 a 5), d a ß das T u n des Schusters die Herstellung v o n g u t e m Schuhwerk z u m Ziele h a t . Allgemeiner a u s g e d r ü c k t : sich in einer energeia befinden heißt mit Notwendigkeit: handeln, u n d zwar g u t h a n d e l n ( E N I 9, 1 0 9 9 a 3 : xal eö ngdiet). Das Denken des Philosophen ist energeia, u n d so gilt ohne weiteres: diese energeia „ h a n d e l t " gut, eil ngdrTei. I h r Ziel ist, so d r ü c k t es Ar. hier substantivisch a u s : eö-ngaita. Lassen wir das ev- weg, so ergibt sich: ihr Ziel ist ebenfalls ngäStg, quod erat d e m o n s t r a n d u m . N u r k ö n n e n wir natürlich die in singa^la ausgedrückte Feinheit nicht n a c h a h m e n . Die I n t e r p r e t a t i o n wird bestätigt, wenn wir sie auf die Aussage über das T u n der Gottheit anwenden (1325 b 2 8 ) . Dieses ist ebenfalls energeia. H ä t t e diese n i c h t irgendwie d e n C h a r a k t e r einer nfjäßiQ, wäre sie nicht ei-ngaSla, so würde die Gottheit n i c h t eS nQdxneiv = - s i e wäre nicht glücklich. Hier m a c h t Ar. in der Formulierung nicht noch « i n m a l Geb r a u c h von dem Doppelsinn v o n eü Jigdrieiv, sondern (variatio) s a g t : die Gottheit oöx äv xallög &X01- ~ S. auch W. J a e g e r 1923, 296. 284,3 „die G ö t t e r " . Zu diesem A r g u m e n t siehe Dirlmeier 3 228-234. I n d e m K a m p f gegen den A n t h r o p o m o r p h i s m u s der homerischen G ö t t e r , oder anders a u s g e d r u c k t : u m die L ä u t e r u n g des Gottesbildes, sind zwei E t a p p e n s i c h t b a r : 1) der K a m p f gegen die I m m o r a l i t ä t der G ö t t e r (z. B. Xenophanes 21 B 11: „Alles h a b e n den

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Anmerkungen

Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen" W. Kranz; Piaton im Staat), 2) der Kampf gegen die Moralität der Götter. Wenn Piaton und Ar. „populär" sprechen ( z . B . Rep. 3 5 2 a l 0 ; Gorg. 5 0 7 e 6 - 0 8 a 7 ; EN V 10, 1134b28, s. zu 111,3), so schreiben sie den Göttern Gerechtigkeit zu; hier aber in der NE denkt Ar. systematisch. Wir hören den Verfasser von Met. X I I 6, 7 und 9 (s. Dirlmeier3 230—231), sogar das Motiv des Schlafs kehrt wieder ( X I I 9, 1074b 18, nur daß dort infolge der anderen Stillage Endymion fehlt — dieser im Phaed., 7 2 c l ) . — Stewarts ( I I 454) Hinweis auf die Kritik Plotins an der arist. Lehre, daß das Leben Gottes energeia des Nus sei (Enn. 5, 1, 9) dürfen wir ergänzen durch Verweis auf Enn. 1, 2, 1 und 6, 7, 37. 234.4 „die übrigen Lebewesen". Aus dem Anfang von VI (1145 a 17-27) wissen wir, daß Ar., um die größten Extreme zu bezeichnen, den Gegensatz Gott-Tier wählt. 234.5 „Abglanz", ¿fiolcofia nur in Rhet. I I , Met. I, Pol. V I I I und EN V I I I , X . Wohl piaton. Wortgebrauch, z. B. Phaedr. 250 a 6. Der „Abglanz" ist ein Reflex aus Met. X I I 7, 1072 b 25: „Wenn Gott immer in jenem Zustand der Seligkeit ist, wie wir nur m a n c h m a l : wie wunderbar!" und b l 5 : ,,. . . wir nur kurze Zeit— Gott ewig — uns ist dies unmöglich". 236.1 „Gunst der Umstände". Inhalt von Kap. 9: (a) 1178b33-79a22: sekundäre Bedeutung der Güter des Leibes sowie der äußeren Güter für das Leben nach der „ethischen" Tugend, (b) 1179a23-32: wer das Leben des Geistes führt, ist eo ipso &eoqjtMjs, d. h. es wird ihm an den äußeren Dingen nicht fehlen. Teil (a) ist nicht eine Wiederholung von schon Gesagtem (1177a27-34, 1177b21, 1178a24); denn trotz der anfänglichen Aussage: unsere Natur wäre, wenn unversorgt, dem Leben der reinen Theorie nicht gewachsen, geht der ganze Abschnitt auf das Leben gemäß den ethischen Tugenden und modifiziert die Lehren von 1 in dem Sinn, daß auch dieses Leben seinen „Lohn" in sich trage; der äußeren Versorgtheit zwar bedürfe, aber mit Maßen, sekundär. Die „Gunst" der äußeren Umstände (schon das Wort evnjftBgia beweist, daß a n l , 1099 b 7 gedacht ist) schließt nicht nur die äußeren Güter ein, sondern auch die des Leibes. Diese Gunst aber ist nötig für das H a n d e l n ( 7 9 a 3 : TigäSig; 7 9 a 4 : ngarreiv; 7 9 a 5 und 9: ngarreiv xaxä tj)v dgerrjv). Wie es in diesem Punkte mit dem Leben des geistigen Menschen steht, wird erst unter (b) behandelt. 236.2 „der Machthaber". Gemeint ist nicht der „königliche Herrscher", der selber ein Modell der Tugend ist, sondern der gewöhnliche Vertreter der Macht, der eben wegen seiner Macht, wie die Erfahrung zeigt, dauernd der Verlockung ausgesetzt ist, sie zu mißbrauchen. Die Gedanken des 9. Kap. bewegen sich, auch in (b) durchweg auf „populärer" Basis (Michael 602, 7-9), und doch gelingt es Ar. mit Hilfe eines volkstümlichen Gedankens, in (b) einen Höhepunkt zu erreichen. 236.3 „Solon". Wie in der Komposition des piaton. Staates zwischen I und X Symmetrie hergestellt wird durch das Motiv der Unterweltsmythen (I 3 3 0 d 8 : X 614b2), so in der NE durch das Solon-Motiv (I 11, HOOall): an die Stelle des Mythos ist die Weisheit griechischer Tradition getreten. - Zitiert ist Solons Urteil über den Athener Tellos (Herod. 1, 30): dieser hatte das, was zu den höchsten äußeren Gütern gehört: er durfte in einer wohlgeordneten Polis leben, hatte brave Kinder und Kindeskinder und hat die dgerjJ verwirklicht, indem er für die Polis

X 8-9

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starb. E r h a t also genau die arist. Eudaimonia-Definition bestätigt, denn auch das in dieser festgelegte Vollmaß des Lebens h a t er erreicht: da Solon von Kindeskindern spricht, sieht m a n : er starb den Tod in der Schlacht nicht als Jüngling. 285.4 ,,dennoch" (d£): nach 7 9 a 5 und 12 (yag): „sogar dno fiergtaiv wertvoll handeln".

kann man

295.5 „nach seiner Anschauung". d>g &ero ist nicht mit völliger Sicherheit zu deuten (mit K b : nejtQceyÖTag öi xdAAicn' &exo geht es auch nicht). Gemeint ist entweder: Tellos starb den Tod f ü r Athen u n d dies ist nach Solons Anschauung die wertvollste T a t — während es nach der Meinung des Ar. auch noch andere xdXÄiaxa gibt. Oder Ar. deutet mit d>g OIETO einen Zweifel an, ob die Tellos-Geschichte glaubwürdig ist. 285.6 „Anaxagoras" = E E I 4 , 1 2 1 5 b 6 - 8 . Vors.« 59A30. D o r t sind die beiden Protreptikos-Zeugnisse nachzutragen: Walzer 1934, p. 31, Z. 5 v. u. und p. 49, 12-17, aus denen sich ergibt, d a ß Anaxagoras in der arist. E t h i k v o n jeher eine „stehende F i g u r " ist. E E u n d N E stimmen in diesem D i c t u m nicht mit dem Protr. überein, sondern n u r untereinander. 235.7 „ Ü b e r e i n s t i m m u n g " : r d zotavra. Ar. sagt nicht nlaziv iyovaiv ai Toiavrcu (sc. dot-ai, nämlich die des Anaxagoras usw.). So versteht Michael (602, 26-31). I c h verstehe: „eine solche Erscheinung, daß nämlich das D i c t u m eines Nicht-Peripatetikers zu meinen Ansichten p a ß t , h a t Überzeugungskraft". Das folgende ist bemerkenswert, weil es zeigt, d a ß Ar. auch nachdem der ganze Weg der E t h i k durchschritten ist, noch einmal eine methodologische Überlegung einschaltet. 235.8 „des Lebens". Michael (602, 32-603, 2) läßt Ar. sagen, m a n müsse die Aussprüche der Philosophen — offenbar also auch der schon längst gestorbenen — an i h r e m Leben prüfen (s. 1172a33-b8). Aber da Ar. doch so oft ganz allgemein sagt: m a n m u ß die logoi an den qpaivöfteva prüfen, erscheint mir dies unwahrscheinlich. Der Mann, der auch die Idcenlehre verwirft, obwohl sie v o n F r e u n d e n s t a m m t , sie verwirft, weil die Wahrheit höher stehe, sagt auch hier: wenn m e i n e logoi auf dem Gebiet der E t h i k nicht mit dem Leben übereinstimmen, sind sie eben nur logoi. So verstehe ich den letzten Satz des Abschnitts (a), 1179a22, u n d nicht so: wenn die logoi von anderen, z. B. des Anaxagoras (der hier ganz Theaetet-mäßig spricht) die P r ü f u n g am Leben nicht bestehen, sind sie nichts als logoi. 236,1 „ W e r a b e r . . " Zum Verständnis von (b) = 1179a23-32: 1) Das Stück ist nicht ohne Zusammenhang m i t (a). Dies gegen Ramsauer u n d Stewart I I 457 (s. Dirlmeier, Theophilia, Philol. 90, 1935, 58-59: dort ist Ramsauers Beobachtungen noch ein zu großes Gewicht beigemessen u n d ( b ) zu isoliert betrachtet. Die von Ramsauer vermutete Unechtheit vertrete ich nicht mehr). 2) Es ist kein Lehrstück in streng philosophischem Sinn, daher auch kein Gegensatz zu früheren Aussagen über die Götter, sondern so wie (a) die übliche Einbeziehung von Traditionellem. Zu 1): Zusammenhang mit (a): wer das Leben nach ethischer Tugend verwirklicht, ist gewiß k r a f t dessen glücklich(1179a9). Wie steht es aber mit dem „irdischen" Glück des Denkers, der in inniger Verbindung mit dem Geistleben der Gottheit steht? Zu 2): Diese Frage ließ sich mit den Mitteln der strengen Philosophie nicht weiter verfolgen. Ar. war hier in derselben Lage wie Piaton. Beide gehen über die Aussage: der Denker b e r ü h r t die Wahrheit und ist darin glücklich (vgl. Rep. 611 e 1-612 a3) nicht hinaus. Wie sollte der Philosoph auf den Gedanken kommen können, die auf der

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Anmerkungen

Sfioiov — 6fiotq>-Grundlage beruhende Gemeinschaft mit jener höchsten Wesenheit anthropomorph auszumalen? Eine Wesenheit, die grammatisch betrachtet, ein Neut r u m ist ( P i a t o n : r6 iyaftdv — Ar.: rd äxlvrjTov)? Einen liebenden Vatergott k a n n t e der Philosoph nicht. Aber es gab die von den Dichtern und deren Erben, den Rednern, immer wieder ausgesprochene, dem Volk vertraute Vorstellung, daß der gute Mensch den Segen der Gottheit genieße, oder umgekehrt, daß m a n von irdischem Gelingen, von Besitz, Ehre, R u h m usw. ohne weiteres auf die freundschaftliche Gesinnung der Gottheit schließen dürfe, daß dya&öe = fiempiAije sei (viele Belege in dem oben zitierten Aufsatz. Älteste dichterische Aussage wohl Odyssee 10, 2: der ein herrliches Leben führende Aiolos ist q>lXog d&cwdroiai fieoiat. Theognis 653: ioaßai. eddatftiov elrjv xal &eotg tplXog ä&avdroiaiv, | KVQV'" dgerij; S'äZXtjg ovSeßirjs Demonicea 50: „ W e n n m a n eine Aussage über die Gesinnung der Götter wagen darf, so glaube ich, daß auch sie gerade bei denen, die ihnen am nächsten stehen, k u n d t u n , wie eigentlich ihre Einstellung zu den bösen u n d den guten Menschen i s t : sie haben z. B. Herakles die Unsterblichkeit gegeben". Phileb. 3 9 e l 0 : Der Gerechte, Fromme und Gute ist sicher &eo