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German Pages 261 [264] Year 2018
Ralf Junkerjürgen
Jules Verne
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Olaf Mangold Text & Typo, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3746-7 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3763-4 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-3764-1
Inhalt
Inhalt
Vorwort — 7
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit Eine Kindheit in Nantes (1828–1848) — 11 Pariser Lehrjahre (1848–1856) — 22 Vor dem Durchbruch (1857–1862) — 36 Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel — 44
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers Fünf Wochen im Ballon (1863): Der Prototyp des wissenschaftlichen Romans — 59 Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864): Auf der Suche nach den Ursprüngen — 74 Die Geburt der Außergewöhnlichen Reisen — 86 20 000 Meilen unter den Meeren (1869/70): Bootsbesitzer und Erfolgsautor — 97 Der Krieg von 1870/71 und seine Folgen: Verne und die Deutschen — 111 In 80 Tagen um die Welt (1872): Der Übergang in ein neues Zeitregime — 127 Michel Verne: Sohn eines Erfolgsautors — 141 Die geheimnisvolle Insel (1874/75): Arbeit als menschliche Bestimmung — 159
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Inhalt
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt Der Alltag eines Schriftstellers: Eine Außergewöhnliche Reise entsteht — 173 1886: Das schreckliche Jahr — 185 Unermüdlich bis zum Ende — 194 Michel übernimmt: Die posthumen Romane — 207 Der geteilte Verne: Vom Freiwild zum Heiligen — 219 Schluss: Der glückliche Sisyphos — 237
Anhang Zeittafel — 241 Werkverzeichnis — 249 Literaturverzeichnis — 254 Personenregister — 256 Abbildungsnachweis — 260 Danksagung — 261
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Vorwort
Vorwort
I
ch habe erlebt, wie die Phosphor-Zündhölzer aufkamen, der Anknöpfkragen, die Manschette, das Briefpapier, die Briefmarken, die kurzen Hosen, der Herrenmantel, der Zylinder, der Halb stiefel, das metrische System, die Dampfschiffe der Loire … die Omnibusse, die Eisenbahn, die Straßenbahn, das Gas, die Elektrizität, der Telegraf, das Telefon, der Phonograf«, zählt Verne beinahe atemlos in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen auf und macht damit die rasanten Veränderungen des Alltags im 19. Jahrhundert spürbar. Kleidung, Kultur, Maßeinheiten, Mobilität, Kommunikation, das wirkt konfus und heterogen, aber es ist für Verne offenbar doch miteinander verbunden. Zusammengehalten wird all das allein schon durch das metrische System, das sich unsichtbar über alles legte und alles einheitlich beschreibbar machte. Im 19. Jahrhundert erlangen Zahlen einen bisher unbekannten Protagonismus und werden zum Maß aller Dinge, weil sich alles messen und berechnen lässt. In Vernes Romantitel rücken sie sogar so prominent in den Vordergrund – Fünf Wochen im Ballon, 20 000 Meilen unter den Meeren, In 80 Tagen um die Welt –, dass sie schon kaum mehr auffallen. Dabei steckt in ihnen ein Schlüssel zum Verständnis des Werkes und seiner Zeit: Exaktes Zählen und systematische Einheiten werden zu den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Fortschritts und erhalten bei Verne literarische Würde, wobei die Betonung auf der Exaktheit und der Systematik liegt, die den eigentlichen Unterschied zur Vergangenheit ausmachen. Denn erst die Exaktheit machte Wissenschaft zuverlässig, und erst die Systematik machte sie international kommunizierbar. War das 19. Jahrhundert die Wiege der heutigen Wissensgesellschaft, so ist es Verne wie kaum einem anderen gelungen, die technischen und damit verbundenen kulturellen Weichenstellungen er7
Vorwort
zählend zu begleiten. Dafür hat er eine Gattung kreiert, die als seine wichtigste innovative Leistung gilt: den wissenschaftlichen Roman. Er zeichnet sich auf der Oberfläche durch eine Fülle von geografischen, technischen, zoologischen, botanischen oder mineralogischen Details aus und führt unterschwellig wissenschaftlich gelenktes Denken und Handeln von Figuren vor, die zu modernen Helden und Vorbildern wurden. In dieser Hinsicht darf Verne als ein Schlüsselautor eines Jahrhunderts gelten, in dessen Bahnen wir uns heute noch bewegen. Nach den ersten Erfolgen entwickelte Verne das enzyklopädische Projekt, die ganze Welt in Romanform darzustellen und in der Reihe der Außergewöhnlichen Reisen zu versammeln, eine titanische Aufgabe, in die seine Lebensenergie geflossen ist und die nach 64 Romanen und gut 43 Jahren disziplinierten Schreibens durch seinen Tod unterbrochen wurde. Diese ungeheure Menge stellt Forscher und Biografen vor keine leichte Aufgabe. Denn allen Texten gerecht zu werden, ist auf begrenztem Raum so gut wie unmöglich. Es gilt somit, eine repräsentative Auswahl der Romane zu treffen. Die vorliegende Biografie konzentriert sich daher auf Vernes produktivste und originellste Schaffenszeit zwischen 1862 und 1875. Bei so hoher Produktivität bilden Leben und Schaffen notwendigerweise eine große Schnittmenge, denn Verne hat die meiste Zeit seines Lebens mit der Feder in der Hand verbracht. Auf den Vorschlag eines italienischen Verehrers namens Mario Turiello, doch eine Autobiografie zu verfassen, antwortete Verne 1902, dass seine Lebensgeschichte »nichts Interessantes zu bieten hätte«. Das war allzu bescheiden, denn Verne hat um sich selbst nie viel Aufheben gemacht, und bewusst untertrieben, denn seinen Sohn ermunterte er durchaus, eine biografische Studie über ihn zu verfassen. Dies ist jedoch nicht geschehen, so dass unsere wichtigste biografische Quelle Vernes umfangreiche Korrespondenz darstellt, am bedeutendsten darunter die gut 700 Briefe zwischen ihm und seinem Verleger Pierre-Jules Hetzel, die ein faszinierendes literarhistorisches Dokument darstellen und einen genauen Eindruck vom Entstehen der einzelnen Romane geben. Was Vernes Privatleben angeht, so bieten 8
Vorwort
die Briefe an seinen Sohn Michel einen tiefen Einblick in das schwierige Verhältnis zwischen beiden, das sich für Verne als eine Dauerbelastung herausstellte. Ergänzt wird die Briefliteratur durch eine stattliche Anzahl von Interviews, einer journalistischen Form, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und damit vor allem Aussagen des älteren Jules Verne gesammelt hat. Vor diesem Hintergrund hat sich seit den 1960er Jahren eine akribische biografische Forschung entwickelt, die manchmal mit detektivischem Scharfsinn Lücken geschlossen hat und heute einen relativ genauen Eindruck von der Person und dem Leben Vernes vermittelt. Daraus ergibt sich das Profil eines bürgerlichen Schriftstellers, dem es gelungen ist, sich selbst als Autor zu verwirklichen und zugleich wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Wenn einem das Leben Vernes einen genauen Einblick in die Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts erlaubt, so erschließen seine Romane auf faszinierende Weise die kulturhistorischen Kontexte der Zeit. Sich heute noch mit ihm und seinem Werk auseinanderzusetzen, heißt, in die Ursprünge unserer Gegenwart einzutauchen und erstaunt festzustellen, dass trotz aller Unterschiede viele Konstanten zu beobachten sind, die dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen. Die Romantitel werden im Folgenden nur dann im Original belassen, wenn es keinen etablierten deutschen Titel gibt. Alle Zitate aus dem Französischen wurden eigens für diesen Band neu übersetzt.
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Vorwort
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Eine Kindheit in Nantes
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit Eine Kindheit in Nantes (1828–1848)
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er große imaginäre Reisende Jules Verne, der in der Fantasie jeden Winkel der Erde erkunden wollte, hat sein Leben in drei französischen Städten verbracht: in Nantes, wo er Kindheit und Jugend erlebte, in Paris, wo er ab 1848 Jura studierte und seine schriftstellerische Laufbahn begann, und schließlich in Amiens, wo er ab Mitte 1871 bis zu seinem Tod im Jahre 1905 wohnte. Zusammen bilden sie ein Städtedreieck im Nordwesten Frankreichs, das eng miteinander verbunden blieb, denn auch wenn Verne in Amiens lebte, so riss der Kontakt zu seiner Familie in Nantes nicht ab, und ebenso eng war er durch seinen Verleger Pierre-Jules Hetzel dauerhaft an Paris gebunden. Nantes, die historische Hauptstadt der Bretagne, liegt an der Loire gut siebzig Kilometer vom Atlantik entfernt und war in jener Zeit eine der bedeutendsten Hafenstädte Frankreichs. Dort wurde Verne am 8. Februar 1828 als erstes Kind des Anwalts Pierre Verne und seiner Frau Sophie geboren. Der Name Verne bezeichnet den Erlenbaum, der sich dementsprechend im Familienwappen findet. Die Mutter, eine geborene Allotte de la Fuÿe, war 27 Jahre alt und stammte aus Morlaix (Bretagne). Der nur ein Jahr ältere Vater Pierre wiederum kam aus Provins, südöstlich von Paris, und war erst 1825 nach Nantes gekommen, und zwar auf Anraten seines dort ansässigen Onkels Alexandre, der ihn auf eine freie Stelle als Teilhaber in einer Kanzlei hingewiesen hatte. Pierre war Jurist in dritter Generation. Das Paar hatte sich 1826 kennengelernt und am 17. Februar 1827 geheiratet. Nachdem sie eine kurze Zeit im Haus der Eltern Sophies in der Rue Olivier de Clisson Nr. 4 gewohnt hatten, wo Jules geboren wurde, zog die junge Familie bald darauf in das Haus vom Quai Jean Bart 11
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Nr. 2, wo sich auch die Kanzlei des Vaters befand. Sechzehn Monate später, am 29. Juni 1829, wurde dann der zweite Sohn Paul geboren, an dessen Seite Jules aufwuchs. Erst acht Jahre später sollten die Eltern ein weiteres Kind bekommen, Anna, auf die noch zwei weitere Töchter, Mathilde und Marie, folgten. Der berufliche Erfolg des Vaters, der 1854 seine Laufbahn als einer der angesehensten Anwälte der Stadt beenden sollte, verschaffte der Familie finanziellen Wohlstand. Politisch war Pierre monarchistisch eingestellt, religiös gesehen tief katholisch. In seinem Nachlass fanden sich Notizen mit theologischen Überlegungen, die eine tiefe Frömmigkeit bezeugen. Diese sollte sich zwar nicht in dieser Form auf seinen ältesten Sohn übertragen, aber auch Jules Verne blieb zeit seines Lebens der katholischen Moral verpflichtet. Ebenso gehörte die Kunst zum Alltag der Familie, denn Pierre war vielseitig interessiert, las begeistert Literatur und schrieb selbst Lieder, die in der Familie gesungen wurden, während Sophie Klavier spielte. Sophies Schwester Caroline wiederum war mit dem Maler François Charles Henry de la Celle de Châteaubourg verheiratet, der mit Chateaubriand verwandt war. Die Künste waren damit von Anfang an ganz selbstverständlich mit Jules Vernes Kindheit verbunden und haben dementsprechend breite Spuren hinterlassen. Denn auch wenn er Romanschriftsteller wurde, blieben Musik und Malerei stets in seinem Werk präsent. Hinzu kam eine Reihe von Umständen, die allesamt dazu geeignet waren, die Fantasie der Kinder zu beflügeln. Ein Onkel der Mutter, den die Kinder Onkel Prudent nannten, war als Kaufmann und Reeder oft in Amerika, vor allem in Venezuela, gewesen und vermochte den Nachwuchs mit Erzählungen aus der Ferne in seinen Bann zu schlagen, wenn sie in seinem Haus in La Guerche-en-Brains bei Nantes die Sommer verbrachten. Mit den Cousins und Cousinen von Jules und Paul kamen mitunter neun Kinder zusammen, die hier unbeschwert miteinander spielen konnten. Darunter befand sich auch die hübsche Caroline Tronson, die Tochter von Sophies Schwester Lise, die Vernes Jugendschwarm werden sollte.
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Eine Kindheit in Nantes
Überhaupt gab die Familiengeschichte der Allotte de la Fuÿes den Kindern allen Anlass dazu, sich in die Vergangenheit hineinzuträumen. Denn sie ging zurück auf einen schottischen Bogenschützen, der für seine Dienste von Ludwig XI. 1462 geadelt wurde und sich in der Nähe von Loudon (damals Anjou) niederließ. Er erhielt die Erlaubnis, einen Taubenturm (frz. fuie) zu bauen, ein Privileg, dass in doppelter Hinsicht repräsentativ für den Adelsstand war, nicht nur weil er Macht und Status bekundete, sondern auch weil Tauben eine beliebte Speise an den adligen Tafeln waren. Und so wurde aus dem einfachen Allott ein Allotte de la Fuÿe. Und nicht zuletzt bot die florierende Seehandelsstadt Nantes reichlich exotische Reize. Direkt am Elternhaus am Quai Jean Bart entlang floss die Erdre und mündete einen Steinwurf weiter in die Loire vor der bootsförmigen Stadtinsel Feydeau. In unmittelbarer Nachbarschaft lagen schwere Segelschiffe in Doppel- und Dreierreihe am Kai des Hafens. In den 1890 für ein Bostoner Jugendmagazin verfassten kurzen Kindheits- und Jugenderinnerungen erzählt Verne, wie er im Alter von acht Jahren davon träumte, in den Wanten der Schiffe herumzuklettern, und wie er sich einmal auf eines der Boote schlich, als die Wache gerade auf ein Gläschen in eine Taverne gegangen war. Aus dem Lagerraum strömten ihm Gerüche entgegen, in denen sich die Düfte exotischer Gewürze mit demjenigen des Schiffsteers vermischten. Er erkundete das Schiff weiter und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig am Steuerruder zu drehen. Alles sei so faszinierend gewesen, kommentiert er, dass er Wochen auf einem Schiff hätte verbringen können. Mobilität, die eines der wichtigsten Themen seiner Romane werden sollte, war in jener Zeit noch kaum ausgeprägt, und Reisen war mit hohem zeitlichen und physischen Aufwand verbunden. Von den technisch hochmodernen Dampfschiffen sah man nur wenige, und die Eisenbahn steckte noch in den Anfängen. Daher reiste es sich mit der Fantasie am schnellsten, und mündliche Berichte vermochten eine Faszination zu entwickeln, die man sich im Zeitalter der visuellen Verfügbarkeit kaum mehr vorstellen kann. Was konnte es in dieser Hinsicht Faszinierenderes geben als einen Handelshafen an 13
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der Loire, an dem man das Meer spürte, auch wenn es noch knapp 70 Kilometer entfernt war? 1838 kaufte der Vater eine Sommerresidenz im wenige Kilometer entfernten und am rechten Loire-Ufer gelegenen Chantenay. Von Ostern bis Herbst verbrachte man die Zeit von jetzt ab dort, wo den Kindern zwei Gärten zum Spielen zur Verfügung standen. Von seinem Zimmer aus konnte Jules auf den Fluss schauen und beobachten, wie das Wasser zurückging und überall gelbe Sandbänke sichtbar wurden, welche die Schiffe umfahren mussten. Gemeinsam mit seinem Bruder Paul mietete er kleine Segelboote und machte erste Erfahrungen als Matrose, wobei er sich Theorie und Fachvokabular bereits aus den heute vergessenen Seeromanen James Fenimore Coopers angeeignet hatte. In den Kindheits- und Jugenderinnerungen berichtet Verne, wie er einmal fünf Meilen westlich von Chantenay allein kenterte und sich auf eines der Inselchen retten musste. Jetzt durfte er für kurze Zeit ein kleiner Robinson sein. Den kannte er bereits von seinen Lektüren her, allerdings nicht aus Defoes Original, sondern aus dem Schweizerischen Robinson des Berner Stadtpfarrers Johann David Wyss, der in Frankreich als besonders geeignete Jugendlektüre angesehen wurde, weil dort eine ganze Familie auf der Insel strandete und der Familienvater – ebenfalls Pfarrer – reichlich Gelegenheit bekommt, seinen Söhnen die Welt zu erklären. Das kleine Abenteuer geht zwar undramatisch aus, denn bei Ebbe kann Jules das Ufer bequem zu Fuß erreichen, genügte aber, um das Erlebnis in der Fantasie so zu steigern, dass sich Verne noch über fünfzig Jahre später daran erinnern konnte. Das Meer selbst sollte er erst im Alter von zwölf Jahren sehen, als er mit seinem Bruder Paul auf einem Dampfer bis nach Saint-Nazaire fuhr. Ab 1834, also im Alter von sechs Jahren, erhielt Jules Unterricht in der Privatschule bei Mme Sambin, die ihm lesen und schreiben beibrachte. Auch mit ihr verband sich eine Geschichte, die den Jungen geprägt haben könnte, denn Mme Sambins Ehemann, ein Marineoffizier, war seit dreißig Jahren verschollen. Dies könnte Verne als Vorbild für die zahlreichen Geschichten über Verschollene ge14
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dient haben, die von der frühen Erzählung Ein Winter im Eis, über den Roman Die Kinder des Kapitän Grant bis hin zu Mistress Branican reichen, in dem sich die Titelfigur auf die Suche nach ihrem Ehemann begibt. Ab dem 3. Oktober 1837 mischten sich Jules und Paul unter die gut 120 Schüler des kirchlichen Pensionats Saint-Stanislas, wo sie wie üblich Latein und Griechisch lernten. Der Unterricht jener Zeit hatte nur wenig mit unseren heutigen Vorstellungen davon gemein. Schulische Erziehung bedeutete das Erlernen von Gehorsam; als didaktische Methode wendete man Strenge an, Auswendiglernen war eine beliebte Übung, und der Fächerkanon beschränkte sich auf Religion, Französisch, Rechnen, Geschichte und Geografie. Die ersten Ansätze zu einer modernen Schulpolitik hatten gerade erst begonnen und betrafen zunächst nur die Primarstufe. Das Schulgesetz von Minister Guizot aus dem Jahre 1830 machte Grundschulen für Jungen in Gemeinden ab 500 Einwohnern mit einem Lehrer obligatorisch, Mädchenschulen hingegen blieben fakultativ. Die Grundschule wurde gratis angeboten, war aber nicht verpflichtend. Diese Maßnahme zielte vor allem auf die ländlichen Gegenden und den eher rückständigen Süden Frankreichs ab und führte zu einem deutlichen Anstieg der Schülerzahlen. Hatten diese 1815 noch bei 850 000 gelegen, so waren sie 1848 bereits auf 3,5 Millionen angewachsen. Dementsprechend stieg auch die Alphabetisierung an, die 1848 bereits 64 % erreichte und bis zum Jahrhundertende kontinuierlich gesteigert wurde. Hier wurden die intellektuellen Voraussetzungen für die enorme Bedeutung gelegt, welche die Literatur in der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einnehmen sollte. Für Jules und Paul setzte sich diese Art Unterricht fort, als sie von 1840 bis 1844 an das Priesterseminar von Saint-Donatien gingen, das auch Kinder aufnahm, die nicht Kleriker werden wollten. Es handelte sich um ein Internat, in dem die Eltern die beiden Jungen etwa zweimal pro Woche besuchten. Hier stand eine Lebensführung im Sinne christlicher Moral im Vordergrund. Neben dem Griechischen und Lateinischen, das mithilfe der Bibel erlernt wurde, unterrichtete 15
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man Mathematik, Geografie und Musik. Naturwissenschaftliche Fächer hingegen gab es nicht. War die Primarstufe quasi allen zugänglich, so endete mit ihr allerdings auch die Meritokratie, da die Sekundarstufe einer kleinen Elite vorbehalten blieb. Die königlichen Collèges waren kostenpflichtig, das Abitur absolvierten ca. 3000 bis 4 000 Schüler pro Jahr. Auch die beiden Vernes gehörten der privilegierten Minderheit an, die nach acht Jahren noch eine weiterführende Schule besuchen konnte. So zog Jules 1844 wieder nach Hause und ging auf das königliche Gymnasium mit seinen ca. 300 Jungen, auf dem die humanistischen Bildungsinhalte fortgesetzt wurden. Verne war ein eher unauffälliger Schüler. Am 29. Juli 1846 bestand er das Abitur mit der Gesamtnote befriedigend. Seit 1840 wohnte die Familie mit zwei Hausangestellten in dem geräumigen Appartement im 3. Stock der Rue Jean-Jacques Rousseau Nr. 6, genau gegenüber von Onkel und Tante Châteaubourg. Im Büro des Vaters gab es für Jules einiges zu entdecken, allem voran ein Teleskop, einen Bücherschrank mit englischer Literatur in Übersetzung und einen Sekretär mit technischen Geräten. Inspiration kam auch von den damals beliebten Familienzeitschriften, von denen die Vernes mit dem Journal des enfants, dem Magasin pittoresque und dem Musée des familles gleich drei abonniert hatten. Bald begann Jules mit ersten Schreibversuchen, und zwar mit Gedichten, »schrecklichen Gedichten«, wie er später in einem Interview urteilte. Die Familie sah das anders, denn eines seiner Geburtstagsgedichte für den Vater hatte beim Vortrag großen Zuspruch gefunden. Die privilegierten Bedingungen Vernes, seine Jugendlektüren und -erfahrungen lassen sich durchaus im Lichte seines späteren Werks interpretieren, würden aber an sich nichts Außergewöhnliches darstellen, wenn nicht noch eine Begeisterung für Technik hinzugekommen wäre. Neben den Geräten auf dem Sekretär des Vaters faszinierte ihn auch die staatliche Fabrik von Indret bei Chantenay, deren Maschinen er unermüdlich zusehen konnte, genauso wie später Lokomotiven und Dampfmaschinen.
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Eine Kindheit in Nantes
Konsequenterweise konnte der fantasiebegabte Junge sich auch leidenschaftlich romantischen Träumereien hingeben. Da die Gesellschaft jener Zeit eine strikte Geschlechtertrennung lebte, war der soziale Umgang mit Mädchen stark eingeschränkt, und es verwundert wenig, dass Jules sich als Heranwachsender zunächst heftig in eine Cousine verliebte, in die bereits erwähnte hübsche Caroline. Abgesehen davon, dass sie anderthalb Jahre älter war und sich die Verbindung nicht schickte, zog sie ihm den Kaufmann Émile Dézaunay vor, den sie 1847 heiratete. Der Stolz des jungen Verne war gekränkt, und er nahm, wie es sich für einen angehenden Dichter gehört, literarisch Rache mit einem Spottgedicht an die Neuvermählte Caroline. Dieses Urerlebnis hat Spuren hinterlassen. Noch in dem vierzig Jahre später erschienenen Roman Familie ohne Namen, lässt Verne ein Liebespaar in einem Boot namens Caroline die Niagarafälle hinunter in den Tod stürzen. Man sollte daraus allerdings nicht gleich schließen, dass Verne seine Liebe zu Caroline niemals überwunden habe, wie einige Biografen mutmaßen, denn er war immer auch zu ironischen Späßen aufgelegt. Außerdem hatte er sich bald schon wieder neu verliebt, und zwar in Herminie Arnault-Grossetière, der er zwischen April 1847 und Sommer 1848 einige Gedichte widmete. Herminie hielt ihn offenbar hin und machte ihm Hoffnungen, um ihn dann aber doch abzuweisen und einen Gutsbesitzer namens Terrien de la Haye zu heiraten, eine gewiss schmerzhafte Wiederholung. Jules tilgte alle Widmungen seiner Gedichte an Herminie. Die Frustration scheint er auf seine Heimatstadt übertragen zu haben, die er nun möglichst bald verlassen wollte und der er zu jener Zeit ein Schmähgedicht widmete: Frankreichs sechstgrößte Stadt Ein Viertel ist zwar neu und gut in Stand, doch die anderen sind verschlissen; wer dumm ist, baut auf Sand, hat in Geschäften kein Gewissen.
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Für die Wissenschaft verlorene Tröpfe an einem Orte voller Schmutz, ein paar Tausend leere Köpfe, denn Dummheit wird nicht abgeputzt. Reis und Zucker, Leute fürs Geschäftemachen, verstehen sich bloß auf Geldsachen, die sie Tag und Nacht bedrängen. Die Frauen ziemlich unansehnlich, der Klerus taugt nichts, der Präfekt ist dämlich. Das ist Nantes – die Stadt ohne Fontänen. Dass die Nantaiser kein Gewissen hätten, kann als Anspielung auf den lukrativen Sklavenhandel verstanden werden, dem die Stadt einen großen Teil ihres Wohlstands verdankte. Von Nantes aus starteten seit Mitte des 17. Jahrhunderts Expeditionen an die afrikanischen Küsten, wo die Gefangenen geladen und nach Übersee gebracht wurden. Anfang des 18. Jahrhunderts kontrollierte Nantes ganze 75 % des französischen Sklavenhandels. Mitunter wurden während der zweimonatigen Überfahrt bis zu 650 Menschen auf engstem Raum im Zwischendeck transportiert. Insgesamt dürften von Nantaiser Reedern gut eine halbe Million Personen nach Amerika verschifft worden sein. Der Handel förderte in Nantes zugleich eine ganze Zulieferindustrie, denn Sklaven wurden nicht allein mit Geld, sondern auch mit bedruckten Stoffen bezahlt, die zum Teil in eigenen Manufakturen hergestellt wurden. Nachdem erste Verbote von 1818 und 1827 nicht eingehalten wurden, schaffte erst das Gesetz von 1831 den Sklavenhandel endgültig ab. Im letzten Jahrzehnt hatte dieses Geschäft in Nantes nochmals eine Hochphase erlebt, denn zwischen 1818 und 1831 brachen von dort noch über 300 Schiffe auf. In Nantes gab es keine Perspektive für literarische Ambitionen, wer hierin reüssieren wollte, musste in die Hauptstadt. Das hatte die Fiktion in Figuren wie Rastignac aus Balzacs Vater Goriot oder D’Artagnan aus Dumas’ Drei Musketieren bereits ebenso vorgemacht 18
Eine Kindheit in Nantes
wie die Wirklichkeit selbst. Auch Jules Verne träumte davon, sich einen literarischen Namen zu machen, sein Vater jedoch hatte andere Pläne mit ihm. Als ältester Sohn war er dazu bestimmt, die Anwaltskanzlei zu übernehmen, während sein jüngerer Bruder Paul im Dezember 1847 auf eine längere Reise als Steuermannsjunge nach La Réunion fahren durfte. Bei aller Freundschaft zwischen den Brüdern scheint sich in jenen Jahren auch etwas Eifersucht in die Beziehung der beiden gemischt zu haben. Denn Paul war nicht nur der bessere Schüler gewesen, sondern durfte nun einen Weg einschlagen, von dem auch sein älterer Bruder einstmals geträumt hatte. In einem Brief Jules Vernes an die Mutter vom 14. März 1853 findet sich eine Aussage, die auf ein ambivalentes Verhältnis zu Paul hindeutet: »Der Brief von Paul ist bezaubernd, er ist wirklich ein guter Junge, und niemals habe ich Buffons Ausspruch Im Stil steckt der Mensch stärker nachempfunden. Ach ja! O ihr Kinder, die ihr in der Jugend nicht fleißig gelernt habt! Aber es ist doch glücklicherweise stets so, dass die fleißigen Kinder in der Jugend dumm und erwachsen zu Schwachköpfen werden.« Das klingt nicht nach ungetrübter Harmonie, sondern eher nach einer Mischung aus Rivalität und Achtung, wie sie bei fast gleichaltrigen Brüdern nicht ungewöhnlich ist. Aus Angst vor den Versuchungen der Hauptstadt hatte Vater Pierre entschieden, dass Jules zunächst in der Provinz bleiben sollte, um dort unter seiner Anleitung das Jurastudium zu beginnen und nur zu den Prüfungen nach Paris zu fahren. So büffelte der Sohn ein Jahr lang, um im April 1847 die ersten und im Juni 1848 die zweiten Prüfungen abzulegen und damit den akademischen Grad des Bakkalaureus zu erlangen. Gewiss, Jules war nicht ganz auf sich allein gestellt, denn sein Vater stand ihm dabei zur Seite, aber die Erfahrung, dass man sich ohne institutionellen Rahmen in ein Wissensgebiet einarbeiten konnte, dürfte doch etwas Neues gewesen sein. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil darin eine Schlüsselkompetenz für sein späteres Schreiben lag, bei dem er sich für jeden Roman neues Wissen systematisch anzueignen hatte. Zugleich arbeitete Verne auch schon fleißig an literarischen Texten. In der Nachfolge Victor Hugos, des Oberhaupts der romanti19
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schen Schule Frankreichs, versuchte er sich neben Poesie auch in Bühnenwerken und einem Schauerroman mit dem Titel Un prêtre de 1839 (Ein Priester von 1839). Schon als 17-jähriger hatte er mit dem romantischen Versdrama Un drame sous Louis XV begonnen, und noch vom Schulunterricht inspiriert war das 1846 begonnene Stück La Conspiration des poudres (Die Pulververschwörung), das sich dem gescheiterten Sprengstoffanschlag von Guy Fawkes auf das englische Parlament aus dem Jahre 1605 widmete. Zusammen mit der fünfaktigen Tragödie Alexandre VI über den Papst Rodrigo Borgia lagen seine Anfänge somit in drei Versdramen, die formal ambitioniert historische Stoffe verarbeiteten, in denen nach dem Vorbild Hugos historische Personen mit fiktionalen Figuren verbunden wurden. Keines der Stücke wurde je aufgeführt. Auch wenn sie literarhistorisch lediglich als Beispiele einer epigonalen Nachfolge Hugos zu bewerten sind, stellen sie beeindruckende Talentproben dar und weisen auf eine für einen jungen Menschen ungewöhnliche Leistungsfähigkeit hin. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Verne mit seinem Fleiß und seiner Zielstrebigkeit zwischen zwei Instanzen vermittelte: Er blieb vorerst ein gehorsamer Sohn, der sich den Plänen seines Vaters beugte, leugnete aber nicht seine innere Berufung zum Schriftsteller. Diese musste er jedoch erst unter Beweis stellen, und zwar zuallererst dem Vater selbst, unter dessen Vormundschaft er rechtlich bis zu seinem 21. Lebensjahr stand. Mit den politischen Unruhen vom Februar 1848 brach die zweite und letzte Revolution in Jules Vernes Leben aus. Bei der ersten, 1830, war er zwar gerade zwei Jahre alt gewesen, wollte sich aber noch an die Schüsse in den Straßen Nantes erinnern. Auch damals waren Missernten der Ursprung des Umschwungs gewesen, aus dem die Julimonarchie hervorging, unter der Verne politisch aufgewachsen war und die nun achtzehn Jahre später aufgelöst wurde. Sie war eine konstitutionelle Monarchie gewesen, in welcher der König und seine Minister vom Parlament weitgehend unabhängig regierten. Im öffentlichen Auftreten gab sich Bürgerkönig Louis Philippe als Vertreter des Bürgertums und erkannte damit an, dass er seine Regierung einem Volksaufstand verdankte. Wählen durfte jedoch nur der 20
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Anteil der männlichen Bevölkerung, der die meisten Steuern zahlte. Die zentrale politische Richtlinie der Julimonarchie lag in dem so genannten juste milieu, darunter verstand man eine Doktrin der politischen Mitte, die nur aus den spezifischen historischen Kontexten der 1830er Jahre heraus zu verstehen ist. Die in Rouen erschienene anonyme und undatierte Schrift Qu’est-ce qu’un homme du juste milieu? (Was ist ein Mann des juste milieu?) definiert den Vertreter des juste milieu politisch als jemanden, »der die Rückkehr sowohl zu den monströsen Auswüchsen des Ancien Régime, als auch die blutige Anarchie der Ersten Republik, den Despotismus des Kaiserreichs und die Heuchelei der Restauration ablehnt; und vielmehr davon überzeugt ist, dass das einzige Mittel, die Freiheiten der Revolution von 1830 zu bewahren, darin liegt, sie in vernünftigen Grenzen zu halten.« Diese Überzeugungen wurden vor allem vom Bürgertum verinnerlicht und haben auch Jules Verne tief geprägt, wie sich immer wieder zeigen sollte. Auch wenn die Bezeichnung juste milieu selbst weder in den Briefen noch in den Romanen fällt, bleiben seine Haltungen in der Regel innerhalb der von dieser Doktrin gesetzten Rahmen. Im Sinne des juste milieu gab es in der Julimonarchie von allem etwas: etwas Revolution in ihrem Ursprung, etwas Monarchie in ihrer Form und etwas Demokratie im Gewand ihrer Verfassung. Während die Präsenz des Adels in politischen Ämtern spürbar zurückging, die Wirtschaftspolitik weitgehend liberal war und mit ihrer Finanzierung des Eisenbahnbaus einen ersten kapitalistischen Schub lieferte, war das Regime in Sachen Pressefreiheit und Ausweitung des Wahlkörpers hingegen eindeutig repressiv. Dieses Konstrukt war von vornherein wackelig, wie unter anderem ganze sieben Attentate auf Louis Philippe und ein gescheiterter Putsch von Louis Napoléon Bonaparte bezeugen. Einer der Köpfe dieses Systems war der Minister François Guizot, ein Gegner der Volkssouveränität, der Klientelpolitik betrieb und die Öffentlichkeit und die Abgeordneten massiv beeinflusste. Dies führte zwar zu der gewünschten Konsolidierung der königlichen Macht, brachte die Regierung aber zugleich auch in Misskredit. 21
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Hatte Louis Philippe die Hungersnöte von 1846 und 1847 noch überstanden, so wurden der Vorwurf der Korruption und der Protest gegen seinen Immobilismus immer heftiger. Nachdem der König ein Bankett zur Reform des Wahlrechts verboten hatte, kam es am 21. Februar 1848 zu ersten Aufständen in Paris. Nach vergeblichen Versuchen, sich doch noch zu halten, dankte Louis Philippe am 24. Februar 1848 ab und ging wie sein Vorgänger Karl X. ins Exil nach Großbritannien. Unter dem Dichter Alphonse de Lamartine wurde eine Übergangsregierung gebildet und die zweite Republik ausgerufen. In diesen Zeiten des Wandels begann auch für Verne ein neuer Lebensabschnitt, als er im Revolutionsjahr 1848 nach Paris ging.
Pariser Lehrjahre (1848–1856)
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m August 1848 bestand Verne die Prüfungen des zweiten Studienjahrs. Bisher war er für die Aufenthalte in Paris im Haus seiner Großtante untergekommen, am 10. November dann ging er dauerhaft in die Hauptstadt, um sein Studium abzuschließen. Danach sollte er den Vorstellungen seines Vaters gemäß wieder in die Heimat zurückkehren und dort als Anwalt arbeiten. Tatsächlich erwies sich der Abschied von Nantes jedoch als endgültig. Die stark ausgeprägte Regionalidentität der Bretonen führte dazu, dass Verne in Paris zunächst von Landsleuten umgeben war, als er mit seinem Studienkollegen Édouard Bonamy aus Nantes eine Wohnung in der Rue de l’Ancienne-Comédie Nr. 24 im Quartier Latin bezog. Zu seinen engsten Studienfreunden gehörte auch der Nantaiser Reedersohn Aristide Hignard, der sich in Paris als Komponist etablieren wollte und mit dem Verne schon bald gemeinsam Lieder und Opern verfasste. Noch war allerdings nicht entschieden, welchen Weg Verne genau einschlagen würde. Die folgenden Jahre war er daher ganz damit beschäftigt, zu sich selbst zu finden. Die politischen Unruhen des 22
Pariser Lehrjahre
Jahres 1848 waren keineswegs mit der Februarrevolution beendet worden. Eine der Maßnahmen der provisorischen Regierung hatte darin bestanden, mit der Errichtung von Nationalwerkstätten das Recht auf Arbeit umzusetzen. Die neu geschaffene Institution stellte im großen Stil Arbeitssuchende ein, um sie in öffentlichen Großprojekten wie dem Bau der Bahnhöfe Montparnasse und St. Lazare einzusetzen. Das volkswirtschaftliche Experiment wurde allerdings schon wenige Monate später wieder abgebrochen, was die betroffenen Arbeiter am 22. Juni auf die Straßen trieb. Die Regierung reagierte mit aller Härte. Unter der militärischen Führung von Louis- Eugène Cavaignac wurde der so genannte Juniaufstand in einem Blutbad ertränkt, dem über 6 000 Menschen zum Opfer fielen. Im Rückblick sind diese Vorkommnisse deshalb von hoher historischer Bedeutung für das 19. Jahrhundert, weil sich das revolutionäre Proletariat hier eindeutig vom Bürgertum abspaltete. Der Klassenkampf, den sozialistische Theoretiker bereits vorausgesagt hatten, war damit eröffnet und sollte den weiteren Verlauf des Jahrhunderts politisch prägen. Der junge Verne gehörte dem Bürgertum an und war viel zu sehr damit beschäftigt, sich eine Existenz aufzubauen, als an diesen Ereignissen teilzunehmen. »Was mich betrifft, so schließe ich, klick klack, meine Tür und bleibe Zuhause, um zu arbeiten, solange man mich in Ruhe lässt«, schreibt er am 12. Dezember 1848 an seinen Vater. Als er im August die Möglichkeit hat, die Abgeordnetenkammer zu besuchen, interessiert er sich dementsprechend nicht für die politischen Debatten, sondern für die dort versammelten Dichter, neben Lamartine vor allem für seinen verehrten Victor Hugo, der eine dreißigminütige Rede hielt. Verne war so aufgeregt, dass er »eine Dame umgeworfen und einem Unbekannten die Operngläser aus der Hand gerissen« haben will, um sein Idol zu sehen, wie er dem Vater berichtete. Vernes Selbstfindung verläuft einerseits über die Kontakte, die er zu literarischen Zirkeln in der Hauptstadt knüpft, und andererseits über die Auseinandersetzung mit seinem Vater. Seine langen Briefe jener Jahre und sein wiederholtes Klagen darüber, dass er trotz der 23
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vielen Verwandten so wenig Post erhalte, bezeugen, wie eng der Familienzusammenhalt war. Noch als 28-jähriger sollte Verne sich nicht scheuen, der Mutter sein Liebesleid zu klagen. Als Familienoberhaupt und Vormund spielte allerdings Vater Pierre die zentrale Rolle, denn der finanziell abhängige Verne brauchte dessen Förderung, um sich emanzipieren zu können. Ein radikaler Bruch hätte zwar sowieso nicht zu dem tiefen Respekt gepasst, den er vor dem Vater hatte, er hätte ihn sich auch gar nicht erlauben können. Eine literarische Karriere erforderte Hartnäckigkeit und Geduld, und für diese möglicherweise lange Wartezeit benötigte er finanzielle Unterstützung. Verne musste also nicht nur standhaft bleiben, sondern auch den Vater von seiner Berufung überzeugen. Dabei war Pierre Verne den Künsten gegenüber durchaus aufgeschlossen und hielt literarische Fähigkeiten grundsätzlich für eine Schlüsselqualifikation. Nicht zuletzt deshalb korrigierte er die Briefe seines Sohnes orthografisch und stilistisch und diskutierte dessen literarische Werke mit ihm. Allerdings lehnte er die Schriftstellerei als hauptberufliche Tätigkeit ab. Anwalt zu sein, versprach ein gutes Auskommen, die Kunst hingegen war prekär. Das sah sein Sohn anders: »Mein Ziel ist es, Geld zu verdienen, und nicht, mir eine andere Zukunft aufzubauen. Lieber Papa, du sagst, dass Dumas und andere keinen roten Heller besäßen. Aber das liegt daran, dass es ihnen an Ordnung, nicht aber an Geld fehlt. A. Dumas verdient seine 300 000 Francs im Jahr. Dumas jr. locker 12 bis 15 000 Francs, Eugène Sue ist Millionär, Scribe vierfacher Millionär, Hugo hat 25 000 Rente, Féval, alle und jeder sind ganz und gar wohlhabend und bereuen es nicht, diesen Weg eingeschlagen zu haben!« Ebenso gewichtig war allerdings auch, dass der Vater die Literaturszene für moralisch bedenklich einschätzte und Künstler für »exzentrisch« hielt. Und das bedeutete eine scharfe Verurteilung, denn exzentrisch hieß vor allem, mit der katholisch-moralischen Norm zu brechen. Jules musste ihn in dieser Hinsicht immer wieder beruhigen und beschwichtigte, dass die Bürger aus Nantes in Wirklichkeit nicht weniger exzentrisch seien als die Pariser Künstlerszene. Und die wichtigste Botschaft an den Vater war dabei, dass der Lebensstil 24
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nicht vom Beruf abhänge und man auch als Künstler ein ruhiges und zufriedenes, und das heißt bürgerlich-katholisches Leben führen könne. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten blieb der Ton der Korrespondenz stets ruhig und höflich. Verne zollte dem Vater immer die Ehre, die diesem in der katholischen Familienkultur kraft seiner Rolle zustand und unterzeichnete oft mit »dein dich respektierender Sohn«. Dementsprechend ging er grundsätzlich auf die Ratschläge des Vaters ein, egal wie wenig er mit ihnen einverstanden war. Als der Sohn sich in einem Brief einmal beiläufig auf ein Goethezitat – »nichts, was uns glücklich macht, ist eine Illusion« – beruft, reagiert der Vater empört, weil er darin einen Freibrief zu unmoralischem Verhalten liest. Sofort stellt Verne klar, dass mit Glück keineswegs Vergnügen gemeint sei. Noch deutlicher wurden die Meinungsverschiedenheiten, als Verne dem Vater im Oktober 1851 die einaktige Charakterkomödie De Charybde en Scylla (Von Charybdis nach Skylla) schickte. Darin karikierte er eine Gruppe von fünfzigjährigen Heiratswilligen, die sich nicht einig werden, weil die Ehe letztlich eine Einschränkung der Rechte für die Frau mit sich bringt, die dementsprechend versucht, den Mann auf ihre Weise zu unterjochen. Pierre ging es definitiv zu weit, dass sein Sohn das heilige Sakrament der Ehe als fragwürdige Institution hinstellte. Im Briefwechsel darauf folgten erneut beschwichtigende Hinweise des Sohnes und das Versprechen, dass er dies überarbeiten werde. Tatsächlich hat Verne den Text jedoch nicht mehr geändert. Der Sohn suchte somit zwar das Mentorat des Vaters und band ihn geschickt mit ein, ging keiner Diskussion aus dem Weg und versuchte, es dem Vater recht zu machen. Aber das bedeutete nicht automatisch, dass er es immer gänzlich ernst meinte. Verne gestand solche Kommunikationsstrategien in einem anderen Zusammenhang sogar selbst ein. Als er dem Vater Ende Dezember 1848 von seinen ersten Erfahrungen in den literarischen Zirkeln berichtet, stellt er selbstironisch fest, dass er bei allen gut angekommen sei, denn: »Ich rede das nach, was man mir vorsagt, und so mochten mich alle Leute! Wie sollte man gerade mich auch nicht charmant 25
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
finden, wenn ich mich immer auf die Seite desjenigen schlage, der gerade das Wort führt!« Sollte das etwa auf jugendlichen Mangel an Selbstvertrauen oder gar Mangel an Charakter hinweisen? Ich meine, dass darin vielmehr eine zentrale Eigenschaft Vernes zum Ausdruck kommt, die ihn zugleich als Mensch und als Künstler beschreibt: nämlich sein sensibles Gespür dafür, welche Erwartungen sein jeweiliges Gegenüber hat. Im menschlichen Umgang zeigte sich dies daran, dass Verne tatsächlich sein ganzes Leben lang in keine schweren persönlichen Konflikte verwickelt wurde. Andererseits führte dies dazu, dass Verne allen gegenüber meist eine höfliche Distanz beibehielt, die von Ironie und Humor geprägt war. Das zeichnet zwar grundsätzlich den Kommunikationsstil des französischen Bürgertums aus, gilt für Verne aber in besonderem Maße. Zu Konflikten konnte es demnach nur dann kommen, wenn diese Distanz nicht aufrecht erhalten werden konnte wie später im Falle der Beziehung zu seinem Sohn Michel. Dem Schriftsteller Verne wiederum schenkte dies die Fähigkeit, sich in verschiedene Rollen und Figuren einfühlen und sich auf unterschiedliche Publika einstellen zu können. Ausdruck dafür ist die erstaunliche Breite seiner schriftstellerischen Anfänge in den 1850er Jahren. Anders als heute, wo ein breites Netz aus Literaturpreisen und Förderinstrumenten reichliche Sprungbretter für Nachwuchstalente bieten, verlief der Weg in die Literaturszene zu Vernes Zeiten unter anderem noch durch den Salon. Dieses kulturelle Erbe des Ancien Régime bestand aus Treffen geladener Gäste im Haus einer einflussreichen Gastgeberin, bei der man Konversation pflegte sowie kleine Aufführungen von Musik, Tanz oder Theater darbot. Junge Talente, die wichtige Kontakte knüpfen wollten, musste es gelingen, in einen solchen Salon eingeladen zu werden, um eine Chance zu erhalten, sich über geistvoll-witzige Unterhaltung oder den Vortrag aus eigenen Werken zu empfehlen. Verne frequentierte diese Kreise schon ab Ende 1848, und zwar zunächst den Zirkel von Mme Barrère, einer Bekannten seiner Mutter. Schon bald freundete er sich mit Personen an, die seine Entwicklung maßgeblich beeinflussen sollten. 26
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1849 lernte er den nur vier Jahre älteren Alexandre Dumas jr. kennen und baute ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm auf, das so weit ging, dass sie 1850 gemeinsam das Theaterstück Les Pailles rompues verfassten, auch wenn der Anteil von Dumas daran offenbar eher gering war. Die Verbindung zu Dumas gab Vernes Karriere einen kräftigen Schub. Seit 1848 hatte sich Dumas mit dem anhaltenden Erfolg seines melodramatischen Romans Die Kameliendame einen Namen gemacht, der den noch völlig unbekannten Verne mit sich riss. Les Pailles rompues wurde gedruckt und am 12. Juni 1850 in das Vorprogramm des Théâtre historique aufgenommen. Mitte der 1850er und 1871/72 sollte es jeweils weitere vierzig Aufführungen erleben. Damit hatte sich Verne erstaunlich schnell aktiv in die Autorenszene lancieren können. Die eigentliche Herausforderung bestand jedoch darin, sich dort auch zu etablieren, und in dieser Hinsicht sollte er noch einige Geduld aufbringen müssen. Sein Ziel bestand zunächst darin, als Bühnendichter erfolgreich zu werden. In den folgenden Jahren legte Verne Werke aus ganz unterschiedlichen Bühnengattungen vor: das Vaudeville Une promenade en mer, die von der commedia dell’arte geprägte Komödie Quiridine et Quidinerit, die er Vater und Sohn Dumas vorlas, das Künstlerdrama La Guimard über die Beziehung des Malers Jacques-Louis David zu der Tänzerin Marie-Madeleine Guimard sowie die bereits erwähnte Charakterkomödie De Charybde en Scylla, um nur einige zu nennen. Die positive Aufnahme seines Talents, der Aufbau eines Netzwerkes und die ersten greifbaren Erfolge bewirkten, dass Verne nun eine klare Haltung gegenüber seinem Vater einnehmen konnte. Als dieser ihm im März 1851 eine Stelle als Anwalt in Nantes anbot, legte der Sohn die Karten offen auf den Tisch: »Die Literatur geht vor, nur dort kann ich erfolgreich sein, denn mein Geist ist ganz auf sie fixiert!« Beide Laufbahnen parallel zu fahren, hielt er für unmöglich, außerdem würde eine Rückkehr nach Nantes alle Kontakte wieder zunichte machen. Aber so schnell gab der Vater nicht auf. Anfang 1852 unternahm er einen weiteren Versuch und bot dem Sohn an, seine eigene Kanzlei zu übernehmen. Das war natürlich verlockend, 27
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denn Pierre Verne war höchst angesehen in Nantes, und bedeutete Wohlstand und Sicherheit, wenn man sich nicht ganz ungeschickt anstellte. Aber in der Zwischenzeit war Vernes künstlerisches Selbstbewusstsein ebenfalls weiter angestiegen. Mittlerweile hatte er verstanden, dass er nicht an Mangel an Talent, sondern vielmehr an Mangel an Geduld oder an Entmutigung scheitern würde. Das musste man dem Vater allerdings schonend beibringen, denn Verne war wohl bewusst, dass dieser ihm sein berufliches Lebenswerk anbot und damit alles in die Waagschale warf, was er besaß. Einfühlsam wie er war, versuchte er in einem Brief vom 17. Januar 1852 aus der Sicht des Vaters zu argumentieren: »Dadurch, dass ich weiß, wer ich bin, verstehe ich, was eines Tages aus mir werden würde. Wie sollte ich die Verantwortung für eine Kanzlei übernehmen, die du zur Blüte geführt hast? Da sie unter meinen Händen nichts gewinnen könnte, könnte sie nur zugrunde gehen.« Das musste den Vater überzeugt haben, denn ab jetzt insistierte er nicht weiter. Bei all dem Aufwind einerseits hatte Verne andererseits ab seiner Studienzeit auch mit schweren gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen. Über die Jahre hinweg machten ihm erhebliche Verdauungsprobleme zu schaffen, die mit Erbrechen und Durchfall einhergingen. Im Oktober 1854 klagte er, dass er fast nichts mehr essen könne, ohne schwere Koliken zu bekommen. Am 25. November 1854 dann schrieb er seiner Mutter »einen jener unklassifizierbaren Briefe, die man, sich die Nase zuhaltend, auf der Toilette lesen muss!« Es kostete ihn spürbare Überwindung, ihr verständlich zu machen, dass er Probleme mit Inkontinenz hatte, weil sein Rektum heraustrat und daher nicht mehr richtig schloss. Doch damit nicht genug. Offenbar als Folge einer Mittelohrentzündung kam noch eine Gesichtsmuskellähmung hinzu. Vor allem das Jahr 1855 erwies sich gesundheitlich als so schwierig, dass er im Januar und Februar knapp drei Wochen das Haus nicht verließ. Da blieb nichts als Galgenhumor: Wenn er nicht lache, schreibt er in einem Brief, nicht zwinkere oder die Stirn runzele, dann merke man gar nichts von der Lähmung. Also dürfe er nur noch Gesellschaften frequentieren, in denen nicht gelacht werde. Diese Lähmungen sollten ihn auch in 28
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Zukunft nicht in Ruhe lassen. Zum vierten Anfall kam es 1864. Verne beschreibt ihn anschaulich in einem Brief vom 8. August dieses Jahres: »Die eine Seite meines Gesichts ist lebendig, die andere tot. Die eine bewegt sich, die andere rührt sich nicht mehr! Eine schöne Lage ist das! Von der einen Seite sehe ich intelligent (bitte erlauben Sie mir das Wort um der Antithese willen), von der anderen wie ein Idiot aus.« Was die politische Geschichte anging, so erlebte Verne 1851 im Alter von 23 Jahren bereits seinen dritten Umsturz, mischte sich aber erneut nicht in die Auseinandersetzungen ein. 1848 war Louis Napoléon Bonaparte zum Staatspräsidenten gewählt worden, der sich gleich daran machte, einen Staatsstreich vorzubereiten, den er am 2. Dezember 1851 umsetzte. Ganz nach den Regeln Machiavellis zog Louis Napoléon seine grausamen Säuberungsmaßnahmen gleich in den ersten Wochen durch. So baute er als Napoléon III. auf Festnahmen, Deportation und Exil ein Regime auf, das wegen seines wirtschaftlichen Erfolgs und seiner erstaunlichen kulturellen Blüte gut zwanzig Jahre andauerte und als Zweites Kaiserreich in die Geschichte einging. Anfang Februar 1852 bot sich Verne eine berufliche Gelegenheit an, mit der sich scheinbar seine literarischen Ambitionen verbinden ließen. Im gerade erst erneuerten Opernhaus Théâtre Lyrique trat er die Stelle des Sekretärs für 100 Francs (ca. 320 €) monatlich an. Hier kamen junge Komponisten zum Zuge, und Verne witterte eine Chance für sich, als Librettist tätig zu werden. Von der Spielzeit 1852/53 an verzichtete er auf sein Gehalt und handelte dafür aus, dass pro Saison eine der Opern aufgeführt werden sollte, die er zusammen mit seinem Freund Aristide Hignard verfassen wollte, der gerade 1850 erst den renommierten Rom-Preis zweiter Kategorie errungen hatte. Finanziell erwies sich dies jedoch als eher schlechtes Geschäft, denn als Neuling musste Verne mit dem bekannteren Librettisten Michel Carré zusammenarbeiten und erhielt nur ein Viertel der Vergütung, da die Hälfte an den Komponisten ging. Das Trio errang 1852/53 mit seiner Komischen Oper Le Colin-Maillard einen Achtungserfolg, 1855 folgte Les Compagnons de la Marjolaine. Ins29
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gesamt erwies sich die Stelle als Sekretär jedoch als weniger hilfreich, als Verne gehofft hatte. Denn die zahlreichen organisatorischen Aufgaben von Pressebetreuung bis Eintrittskartenvergabe ließen nicht die gewünschte Zeit für die eigene kreative Arbeit. Zugleich streckte der facettenreiche Verne seine literarischen Fühler auch in Richtung Prosa aus. Er hatte Kontakt zu dem Bretonen Pitre-Chevalier (eigentlich Pierre-Michel-François Chevalier) aufbauen können, der Chefredakteur der illustrierten Familienzeitschrift Musée des familles war, die auch die Vernes im Abonnement gehabt hatten. Das Musée hielt sich bei zeitgenössischen oder politischen Fragen zwar ziemlich bedeckt, bot dafür aber eine breite Palette an allgemeinbildenden und unterhaltenden Artikeln und Prosastücken an, die sich lediglich in den katholischen Grundwerten einig waren. Pitre-Chevalier leitete die Zeitschrift seit 1842 und führte sie Mitte der 1850er Jahre zur Blüte. Illustre Namen wie Balzac, Dumas, Sue und Gautier publizierten hier, ohne dass sich das Musée neuen Talenten verschloss. Pitre-Chevalier sah Potenzial in Verne und erkor ihn, wie er behauptete, zu einem von drei bis vier Schützlingen aus gut 500 vermeintlichen Nachwuchsautoren. In den folgenden Jahren besuchte Verne ihn öfter in Marly im Westen von Paris und verbrachte dort oft mehrere Tage. Zwischen 1851 und 1855 erschienen im Musée Vernes erste Prosatexte. Zweifellos waren die Erzählungen für Verne im Vergleich zu den Bühnendichtungen zweitrangig. Aus der Rückschau kündigt sich hier allerdings seine eigentliche literarische Karriere an. Von daher lohnt sich ein Blick auf die intertextuellen Koordinaten, zwischen denen sich Verne hier bewegt. Es sind vor allem zwei: James Fenimore Cooper und E. T. A. Hoffmann. 1851 erschien mit Les Premiers Navires de la marine mexicaine (Die ersten Schiffe der mexikanischen Marine) eine Abenteuererzählung im Stil Coopers, wie Verne selbst in einem Brief erwähnt, in der zwei spanische Meuterer ihre Schiffe an die Mexikaner verkaufen und dabei quer durch das Land reisen, bevor sie bestraft werden, wobei Verne die Kapitel geografisch gliedert und einige sachkundliche und anthropologische Informationen einbaut. Noch enger an 30
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Cooper angelehnt ist die Erzählung Martin Paz von 1852 über einen Aufstand peruanischer Indianer, bei dem Verne zugleich die sozialethnische Zusammensetzung der Bevölkerung vermittelt. Die melodramatische Handlung dreht sich um eine interethnische Liebesbeziehung zwischen einem Indianer und einer vermeintlichen Jüdin, die sich schließlich als Christin herausstellt – eine Verbindung, die nur im Tod möglich wird, als beide einen Wasserfall herunterstürzen und sie ihm gerade noch wie zur Taufe die Stirn berühren kann. Anleihen bei Cooper liegen in tragenden Figuren und Handlungselementen: der heroische Sohn eines Indianerhäuptlings, der sich in eine christliche Frau verliebt, wobei diese Vereinigung erst im Jenseits möglich wird – all das sind Versatzstücke aus Der letzte Mohikaner. Weiterhin findet sich die von Cooper geprägte Ambivalenz der Indianerfiguren, die sich einerseits durch erstaunliche Tugenden wie hohe Geschicklichkeit und stoische Gelassenheit auszeichnen, sich andererseits jedoch auch zu abscheulichen Grausamkeiten hinreißen lassen. Einmal mehr zeigt sich hier der heute weitgehend vergessene enorme genrebildende Einfluss des US-amerikanischen Romanciers. Seine Abenteuer- und Seeromane mit ihren sachkundlichen und geografischen Aspekten boten damit einen wichtigen Orientierungspunkt bei der Entwicklung von Vernes wissenschaftlichem Roman. Bedauerlich ist, dass Verne in Martin Paz mit der Figur Samuel das antisemitische Klischee vom materialistischen und habsüchtigen Juden bediente, der jenseits des Geldes keine Ideale kennt. Ansonsten hat Verne nur noch einmal in dem Roman Hector Servadac in diese Kerbe geschlagen. Antisemitismus war im 19. Jahrhundert gerade im katholischen Milieu Frankreichs durchaus weit verbreitet. Gegen Ende des Jahrhunderts sollte sich dies, nicht zuletzt durch eine pseudowissenschaftliche Ideologisierung der Judenfeindlichkeit durch den Publizisten Édouard Drumont, sogar noch verschärfen, um schließlich in der stark antisemitisch geprägten Dreyfus-Affäre zu kulminieren. Vor diesem Gesamthintergrund darf man Vernes Werke in dieser Hinsicht relativ beruhigt lesen. Damit sollen die beiden genannten Fälle weder schön- noch weggeredet werden, zugleich muss man aber auch bedenken, dass zwei Neben31
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figuren im zahlreichen Volk der Verneschen Charaktere kaum repräsentativ sind. Auf den in Frankreich stark rezipierten deutschen Romantiker E. T. A. Hoffmann, der als Erneuerer der fantastischen Literatur gilt, verweist Vernes Erzählung Meister Zacharius von 1854. Schon im Namen Zacharius klingen Figuren Hoffmanns wie Klein Zaches nach. Einen Uhrmacher als Hauptfigur zu nehmen, scheint weiterhin der Schauererzählung Das Fräulein von Scuderi entlehnt worden zu sein, wobei Verne seinem Meister Zacharius jedoch einen deutlich moralischen Ton hinzufügt, offenbar auch unter dem Einfluss der Korrespondenz mit seinem Vater, dem er am 4. März 1853 schreibt, dass er eine Erzählung beendet habe, »in der du ein wenig mehr von dem findest, was dir in meinen anderen Novellen gefehlt hat. Man sollte wohl dafür sorgen, dass sich aus allem ein philosophischer Gedanke ergibt und dass es die Aufgabe des Schriftstellers ist, sie mit der Handlung und deren Folgen zu verweben.« Waren das erneut Lippenbekenntnisse des Sohnes, der seinen Vater nicht vor den Kopf stoßen will? Zumindest nicht in dieser Erzählung, denn Verne geißelt in dem Uhrmacher Zacharius die menschliche Hybris, weil dieser sich einbildet, mit seinen exakten Uhren lebendige Wesen erschaffen zu haben und daher Gott gleich zu sein. Gerade weil Verne die Fantastik und ihre symbolischen Möglichkeiten in seinem späteren Werk kaum noch nutzen sollte, zeigt sich an Meister Zacharius, wie stark noch Mitte der 1850er der Einfluss der Romantik auf ihn war. Allerdings wiesen die Erzählungen aus dem Musée bereits eine klare Tendenz auf. 1851 war auch die Ich-Erzählung Un Voyage en ballon (Eine Reise im Ballon) erschienen, die von einer Ballonfahrt über Frankfurt handelt, bei der dem Ich-Erzähler plötzlich ein Unbekannter in der Gondel gegenübersteht, der sich Erostratos nennt und Ballast abwirft, um bis zur Sonne aufsteigen zu können. Ikarus gleich stürzt er schließlich mit der Gondel ab, während sich der IchErzähler im Netz des Ballons festkrallen kann und gerettet wird. Hier erprobte Verne bereits eine Reihe von Motiven, die er später in Fünf Wochen im Ballon wieder aufnehmen sollte, allerdings stehen 32
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die Handlung und die Figur des wahnsinnigen Erostratos zugleich auch Poes Erzählungen nahe, deren Einfluss auf Verne noch gesondert dargestellt wird. 1855 erschien mit Eine Überwinterung im Eise eine weitere Erzählung, die den späteren Romanen unmittelbar vorarbeitete, und zwar konkret den Reisen und Abenteuern des Kapitäns Hatteras. Neben der Lektüre authentischer Reiseberichte verarbeitete Verne in diesem Falle auch eigene Anschauungen, und zwar vom Hafen Dünkirchens, den er auf einer Reise zu seinem Onkel Auguste Allotte im Juli 1851 besichtigt hatte und später zum Ausgangspunkt der Erzählung machte. Hier zeichnete sich somit bereits auch ein literarisches Verfahren ab, das sich verschiedener Quellen bediente. Der literarische Ertrag jener Jahre war zwar beachtlich, brachte aber finanziell nicht genügend ein, um Vernes prekäre Lage zu überwinden. Und diese spitzte sich nun dadurch zu, dass er immer deutlicher den Wunsch verspürte zu heiraten. Davon war in der ersten Zeit in Paris keine Rede gewesen. Am 9. März 1850 hatte er seiner Mutter gegenüber noch behauptet, das Junggesellendasein sei für einen Mann doch der glücklichste Zustand auf der Welt. Aber schon 1851 begann er damit, seine Mutter auf die Suche nach einer Frau für ihn zu schicken. Wegen seiner natürlichen Schüchternheit, seiner bescheidenen finanziellen Situation und seiner gesundheitlichen Gebrechen dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass seine Chancen auf dem Heiratsmarkt nicht sonderlich hoch waren, ganz davon abgesehen, dass er auch vorher kaum bei den Damen reüssiert hatte. Bisher durfte er bloß wiederholt die frustrierende Erfahrung machen, dass alle Frauen, die er auserkoren hatte, zwar in der Tat kurz darauf heirateten, allerdings nicht ihn. In einem Brief vom Dezember 1854 kann er seiner Mutter schon eine stattliche Reihe solcher frisch Vermählten aufzählen: »Alle Mädchen, die ich mit meinem Wohlwollen beehre, heiraten systematisch kurz darauf! Wahrhaftig! Mme Dezaunay, Mme Papin, Mme Terrien de la Haye, Mme Duverger und schließlich auch Mlle Louise François.« Dabei ist Vernes Blick auf die Ehe keineswegs allein ein romantisches Verlangen, sondern auch von ganz pragmatischen Beweggrün33
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den angetrieben. Wie viele andere Künstler, darunter Balzac, der kurz vor seinem Tod noch die polnische Millionärin Mme Hanska heiratete, gab sich auch Verne der Illusion hin, eine reiche Frau zu heiraten, wie er seiner Mutter am 19. Februar 1856 schrieb, »ein reiches Mädchen, das sich zum Beispiel einen Fehltritt erlaubt hat oder bereit wäre, einen zu tun«, um damit auf einen Schlag seine Probleme zu lösen. Ein solch verzweifelter Zustand verleitet zur Wahllosigkeit. Das konnte im 19. Jahrhundert allerdings schwere Konsequenzen haben, weil das Scheidungsrecht in Frankreich erst 1884 wieder eingeführt wurde. Nicht gerade die besten Voraussetzungen dafür, die richtige Partnerin zu finden. Angesichts von Vernes emotionaler Not, dauerte es auch nicht lange, bis er sich wieder verliebte. Im März 1856 begab er sich nach Amiens, um der Hochzeitsfeier seines Freundes Auguste Lelarge beizuwohnen. Die stimulierenden Wirkungen solcher Festlichkeiten sind bekannt und trafen Verne offenbar, als ihm eine Schwester der Braut, die 26-jährige Honorine, vorgestellt wurde. Prompt verlängerte er seinen Aufenthalt in der Hauptstadt der Picardie. Allerdings hatte die Sache einen Haken: Honorine war Witwe und hatte zwei Töchter, und stellte damit alles andere als eine gute Partie dar. »Ich habe einfach kein Glück!«, schreibt er an seine Mutter. »Ich stoße immer auf die eine oder andere Unmöglichkeit. Sie ist seit sieben oder acht Monaten Witwe, ihr Ehemann starb an Schwindsucht aufgrund einer Unvorsichtigkeit. Aber ich weiß nicht, warum ich dir das überhaupt schreibe. Wozu?« Diese Zweifel scheinen jedoch bald verflogen zu sein. Honorines erster Mann, Auguste Morel, war am 6. August 1855 verstorben, so dass man nach Ablauf der Trauerzeit von einem Jahr konkret die Hochzeitsplanung in Angriff nehmen konnte. Schließlich heirateten sie im engsten Familienkreis bescheiden am 10. Januar 1857 in der Saint-Eugénie-Kirche in Paris; Vernes Trauzeugen waren sein Freund Aristide Hignard und sein Cousin Henri Garcet. Über Honorine wissen wir trotz 48 Jahren Ehe mit Jules Verne eher wenig, weil er sie selten in seinen Briefen erwähnt. Offenbar war sie eine eher emotionale Frau, die sich in den literarischen Zirkeln 34
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von Paris nicht zu bewegen wusste. Das veranlasste Verne dazu, nach Amiens zu ziehen, wo Honorine sich wohler fühlte. Als Verne dies Jahre später in einem Brief an seinen Verleger Hetzel anspricht, berichtet dieser davon auch seinem Sohn und erklärt ihm in einem Schreiben vom 16. April 1877, dass die gesellschaftlichen Zirkel scharf getrennt seien und die literarische Szene der Bereich Vernes, und nicht der seiner Frau sei und man Frauen eben nicht überall mit hinnehmen dürfe. Vernes vermeintlicher Fehler, den Hetzel in einen väterlichen Ratschlag für seinen eigenen Sohn umformuliert, sagt viel über die Rolle der bürgerlichen Ehefrau aus. Eine gängige Allegorie stellte sie als Efeu dar, der sich um den starken Stamm einer Eiche rankte, die wiederum den Mann symbolisierte. Die Frau war auf den Mann angewiesen und für Haushalt und Familie zuständig. Dem Mann fiel das Geistig-Intellektuelle zu, der Frau hingegen das Physische und Emotionale. Auch wenn es eine George Sand gab, blieben Dichtung und Schriftstellerei für Verne reine Männersache. Daher war Honorine auch keine Ansprechpartnerin für das, was Verne am meisten interessierte: die Literatur. Honorine brachte zwar eine stattliche Mitgift in die Ehe ein, aber Vernes Verantwortung war nun eigentlich noch gewachsen und der Druck, aus dem finanziellen Engpass herauszukommen umso größer. Die im Zweiten Kaiserreich florierenden Kapitalgeschäfte zogen viele Männer an die Börse, gerade auch Schriftsteller, die meinten, mit einer Stunde Arbeit pro Tag genügend Geld zu verdienen, um sich dann ungestört ihrer Kunst widmen zu können. Von daher dürfte Vater Pierre wenig erfreut gewesen sein, als sein Sohn, der 1855 noch seine Anwaltskanzlei für die Literatur ausgeschlagen hatte, jetzt auf einmal als Zwischenhändler an die Börse gehen wollte und ihn um 50 000 Francs (ca. 160 000 €) bat, um sich in ein Maklerbüro einzukaufen.
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Vor dem Durchbruch (1857–1862)
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as erste Ehejahr verbrachten die frisch Vermählten noch ohne Honorines Töchter, die vorübergehend bei den Großeltern untergebracht wurden. Verne begann damit, seine Tage streng einzuteilen. Er stand früh morgens zwischen fünf und sechs Uhr auf, schrieb bis mittags, ging dann an die Börse und widmete sich seinen Kunden oder ging in die Nationalbibliothek. Da die großen Aufträge ausblieben, verwaltete er Aktien von Familienmitgliedern. 1857 trat Verne überraschenderweise in der Revue des Beaux-Arts mit Artikeln über den Salon von Paris als Kunstkritiker auf. Obwohl es sich dabei um eine einmalige Angelegenheit handelte, ist diese Episode von besonderem Interesse, weil Vernes Geschmack und seine künstlerischen Wertvorstellungen hier anschaulich zum Ausdruck kommen. Überhaupt spielte die Malerei für ihn persönlich und für sein Werk eine nicht zu unterschätzende Rolle. Er war selbst ein überdurchschnittlich begabter Zeichner, wie die beeindruckenden Skizzen seiner Notizen zur Skandinavien-Reise von 1861 beweisen, und besaß ein natürliches Gespür für Malerei, ein Talent, das sich auch für sein literarisches Werk als äußerst hilfreich erweisen sollte. Einerseits aus dem praktischen Grund, dass er bei der Gestaltung der Buchillustrationen später wichtige Impulse zu geben vermochte, und andererseits, weil sich dies fruchtbar auf die Bildlichkeit seiner literarischen Beschreibungen auswirkte. Sein singulärer Auftritt im Salon von 1857 gliedert sich somit nahtlos in seine Affinität zur Anschaulichkeit und bildlichen Beschreibung ein und verweist auf die Bedeutung des Betrachtens für seine Romane und Figuren, die oft die meiste Zeit damit beschäftigt sind, zu beobachten, was um sie herum geschieht: aus der Gondel eines Ballons, aus dem Fenster eines fahrenden Zuges oder durch die Bullaugen der Nautilus. Die Kunstsalons waren gesellschaftliche Großereignisse. Zwar stand der Salon von 1857 im Schatten der Pariser Weltausstellung von 1855, kam aber dennoch auf 3 000 Bilder und Skulpturen, die in neun großen Sälen im Industriepalast an den Champs-Elysée aus36
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gestellt wurden. In einer Tour de force erwähnt Verne von der unüberschaubaren Menge ganze 280 Maler, auch wenn nicht viel Raum bleibt, auf die meisten davon genauer einzugehen. Verne bevorzugt insgesamt die Klassizisten und die Romantiker, während der Realismus, die innovativste Schule jener Zeit, ihm aus moralischen Gründen Schwierigkeiten bereitet. Vernes Kritik sollte vor allem den Realisten Gustave Courbet treffen, der seit einigen Jahren schon die konservativen Kritiker provozierte. Bei der Weltausstellung von 1855 hatte sein großformatiges Gemälde L’atelier du peintre (Das Atelier des Künstlers) für heftige Diskussionen gesorgt. Aus heutiger Sicht ist nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar, was an dem emblematischen Bild so provokativ gewesen ist. Zunächst einmal brach Courbet mit der akademischen Hierarchie der Gattungen, indem er das Großformat von 3,5 x 6 Metern nicht wie üblich historischen, mythologischen oder religiösen Stoffen widmete, sondern einem sich als beiläufig darstellenden Blick in das Atelier des Künstlers, der an der Staffelei sitzt und von mehreren Gruppen umgeben ist. Dabei sticht in der Mitte ein nacktes Modell heraus, das sich nur zum Teil mit einem weißen Tuch bedeckt, die linke Brust aber freilässt. Die Nacktheit allein hätte zur Provokation nicht ausgereicht, denn im Verbund mit mythologischen oder historischen Stoffen wurde sie moralisch kaschiert. So hatte der von Verne geschätzte Bildhauer Auguste Clésinger 1847 seine Liegendstatue, die eine sich in Wollust windende junge Dame zeigt, einfach Femme piquée par un serpent (Frau, die von einer Schlange gebissen wurde) genannt und damit den erotischen Gehalt vertuscht. Courbet hingegen versuchte nicht einmal, dies zu verbergen. Die Tatsache, dass er eine als »echt« anzusehende Frau darstellte, galt schlichtweg als vulgär. Auch im Salon von 1857 sollte Courbet wieder vertreten sein und prompt den Ärger Jules Vernes auf sich ziehen. Denn obwohl Verne gestehen muss, dass Courbet technisch ein großer Maler sei, hält er das Bild Les Demoiselles des bords de la Seine (Die Fräulein vom Ufer der Seine) schlichtweg für unschicklich: »Was die Fräulein vom Ufer der Seine angeht, so sind es in der Tat echte Fräulein; sie liegen auf dem Grase ausgestreckt, die eine auf der Seite, die andere auf dem 37
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Courbets Fräulein vom Ufer der Seine verletzten Vernes Moralgefühl.
Bauch; sie tragen Seidenkleider und Sommertücher; sie wälzen sich in all der zerknitterten Aufmachung, die wohl niemals ladenneu für sie gewesen ist; dem Publikum werfen sie unzweideutige Blicke zu. Wo sucht sich Herr Courbet bloß seine Modelle! Da sieht man, was er öffentlich ausstellt! Fräulein, die ihren Donnerstag dazu nutzen, sich auf dem Grase herumzulümmeln. Angefügt sei noch, dass die Zeichnung des Bildes grob und ungenau ist, dass die Farbe einen unangenehmen Gelbton hat und dass das Bild nach den Statuten der Polizei nur zwischen acht und elf Uhr abends gezeigt werden sollte.« Dass es sich bei den beiden Fräulein auf dem grasigen Seine-Ufer wirklich um käufliche Mädchen handelt, ist für den heutigen Betrachter auf den ersten Blick nicht ersichtlich, für denjenigen des 19. Jahrhunderts jedoch ziemlich eindeutig. Im Zweiten Kaiserreich stieg die Prostitution in Paris enorm an und wurde auch an den 38
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Ufern der Seine ausgeübt. Die Szenerie der schlafenden Frauen beinhaltet Zeichen, die klar darauf verweisen, dass der Geschlechtsakt bereits stattgefunden hat: Im Boot liegt ein Strohhut, den ein Freier offenbar vergessen hat; die vordere der beiden wirkt erschöpft und trägt keine Handschuhe mehr, ihr Hut hängt im Busch hinter ihr. Vernes Moralgefühl war empfindlich verletzt, auf kein anderes Bild der Ausstellung reagierte er so heftig. Noch einige Jahre später wird er in seinem Roman Paris im 20. Jahrhundert dem Realismus Courbets einen Seitenhieb verpassen und dem Maler vorwerfen, eine hygienische Verrichtung gemalt zu haben, die zwar notwendig, aber überhaupt nicht elegant sei – wobei Verne die Eleganz besitzt, hier so vage zu bleiben, dass sich jeder selbst etwas darunter vorstellen muss. Unverhohlene Bewunderung hegt Verne für die kleinformatigen Genreszenen Meissoniers, für die Glaneuses (Ährenleserinnen) von Edmond Hédouin, die unter dunklem Himmel vor einem dräuenden Gewitter über das Feld flüchten, für Louis Duveaus Le Viatique (Letzte Kommunion) wegen des tiefen Glaubens auf der Physiognomie der Figuren und der wahrhaft christlichen Inszenierung, die Meisterschaft in der Farbgestaltung von Paul Baudry und den Loup garou (Werwolf ) von Maurice Sand wegen seiner eindrucksvollen Fantastik. Ausführlicher widmet er sich Jean-Léon Gérôme, einem der bedeutendsten Repräsentanten der akademischen Malerei seiner Zeit, der 1857 bereits zu einer festen Größe im Salon geworden war, seit er zehn Jahre zuvor mit Hahnenkampf eine goldene Medaille gewonnen hatte. Verne ist ganz angetan von dem Bild Suites du bal masqué (Folgen des Maskenballs): »Ein Pierrot und ein Harlekin sind aneinander geraten; sie haben den Ball verlassen, sich unter hohe Bäume in der Nähe begeben, wo der Nebel aufsteigt; es ist Nacht, die Erde ist von Schnee bedeckt; sie haben sich mit dem Degen duelliert, und der unglückliche Pierrot hat einen tödlichen Hieb erhalten. Es gibt in seiner Einfachheit nichts Dramatischeres als diesen Kampf zweier junger Menschen in ihrem Karnevalskostüm; die weißen Kleider des Opfers sind mit rotem Blut befleckt; der Harlekin ergreift erschrocken die Flucht. Die Zeichnung von Herrn Gérôme 39
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
Gérômes Folgen eines Maskenballs hielt Verne für große Kunst.
ist großartig, die Bewegung seiner Figuren stets einfach und wahr; er hat bei diesem Werk ein unbestreitbares Talent gezeigt.« Vernes Schlüsselbegriffe lauten Einfachheit, Dramatik, Komposition, Zeichnung, Wahrheit, und fasst man weitere Aussagen noch zusammen, dann sind ihm Farbe, Kontrast und Details wichtig. Insgesamt existieren in Vernes Auffassung von Malerei akademische und romantische Ästhetik harmonisch nebeneinander. Hatten sich im Pariser Salon von 1827 – ein Jahr vor Vernes Geburt – die Geister noch an Ingres’ klassizistischer Apotheose Homers und Eugène Delacroix’ romantischem Tod des Sardanapal geschieden, so stellen sie dreißig Jahre später offenbar keineswegs mehr Gegensätze dar. An der Akademie scheint Verne die Klarheit der Komposition und die Genauigkeit der Zeichnung zu lieben, an der Romantik hingegen die Rolle der Farbe, der Bewegung und die exotischen Motive. Nun stellt sich die Frage, ob Vernes Kunsturteile dabei helfen, seine späteren Werke zu verstehen. Ich glaube, dass in seiner geschmacklichen Synthese aus Klassizismus und Romantik bei gleich40
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zeitiger Ablehnung des Realismus aus moralischen Gründen eine Formel liegt, die sein Romanschaffen in hellerem Lichte zeigt, als es allein dessen Verortung auf dem literarischen Feld zu leisten vermag. Vernes Romane über den Umweg der Malerei synästhetisch zu betrachten, schärft weiterhin den Blick dafür, dass er die klassizistischen Motive romantisch überwindet und zugleich die Auswüchse der Romantik klassizistisch zügelt. Dies sollte auch bei seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Edgar Allan Poes deutlich werden, das er offenbar Anfang der 1860er für sich entdeckte und das einen entscheidenden Impuls zur Entwicklung des wissenschaftlichen Romans gegeben hat. Zusammengefasst hat Verne seine Gedanken in einem Essay, das 1864 unter dem Titel Edgard Poë et ses œuvres (Edgar Poe und seine Werke) im Musée des familles erschienen ist. Charles Baudelaires Übersetzungen – die Histoires extraordinaires von 1856 und die Aventures d’Arthur Gordon Pym von 1858 – hatten Poe in Frankreich bekannt gemacht und auch Verne in ihren Bann geschlagen, der Poe als Schöpfer einer neuen Gattung und als »Kopf der Schule des Unheimlichen« ansah. Vernes Poe-Lektüre ist einerseits eine Mischung aus literarhistorischen und literaturkritischen Überlegungen, andererseits aber auch diejenige eines Schriftstellers auf der Suche nach Inspiration. Literaturgeschichtlich ordnet Verne Poe zwischen der GothicAutorin Anne Radcliff und dem Romantiker E. T. A. Hoffmann ein. Während Radcliff Schreckensgeschichten verfasst habe, die jedoch allesamt eine natürliche Erklärung fänden, stehe Hoffmann für die reine Fantastik jenseits von Vernunft und Physik. Poes Figuren hingegen seien zwar nicht unrealistisch, aber exzessiv in ihrem Intellekt und ihrer Vorstellungskraft, die es ihnen erlaube, aus den unbedeutendsten Details zu den tiefsten Wahrheiten zu gelangen. Die intellektuelle Tätigkeit des Deduzierens zelebriert Poe vor allem in den drei Erzählungen Die Morde der Rue Morgue, Der Goldkäfer und Der stibitzte Brief, die das moderne Detektivgenre begründeten. Begeistert ist Verne von der Innovation, welche der Prototyp des Detektivs – Auguste Dupin – in die Literatur einbrachte. Die Welt als Zeichen41
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
system zu verstehen, das man zu entziffern lernen musste, das hatten zwar schon Coopers Romane am Beispiel der Natur vorgeführt, Poe aber konzentrierte dies auf wahre Rätselaufgaben in Form von Kryptogrammen wie in Vernes Lieblingserzählung Der Goldkäfer. Auch Vernes spätere Figuren sollten episodisch in Detektive verwandelt werden, wenn sie in Reise zum Mittelpunkt der Erde oder den Kindern des Kapitän Grant Schriftstücke zu entschlüsseln hatten. Kritisch hingegen sah Verne, dass Poe es mit den physikalischen Gesetzen nicht immer ganz genau nahm. In der Erzählung Das unvergleichliche Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall, in der ein Ballon zum Mond aufsteigt, monierte er, dass Poe sich über Physik und Mechanik einfach hinwegsetze, obwohl er alles durch ein paar Erfindungen hätte viel wahrscheinlicher machen können. Weiterhin vermisst Verne den Eingriff der Vorsehung, des Transzendenten, der doch gerade bei den extremen Thematiken Poes zu erwarten gewesen sei. Leider erweise sich Poe darin als ein weiterer »Apostel des Materialismus«, aber Verne beschwichtigt: »Ich vermute, dass dies weniger die Schuld seines Temperaments denn des Einflusses der rein pragmatischen und industriellen Gesellschaft der USA ist.« Hier stimmt Verne in den Ton jener europäischen Amerika-Skepsis ein, in der sich Ablehnung und Faszination miteinander vermischen und die auch in Vernes Amerika-Bild immer wieder anklingen sollte. Die Deduktion als narratives Verfahren, die Einhaltung physikalischer Gesetze im Sinne der Wahrscheinlichkeit und die Überwindung des reinen Materialismus, so könnte man die Orientierungspunkte zusammenfassen, die Verne aus seiner Auseinandersetzung mit Poes Werken gewinnt. Aber mit der Zusammenfassung und Ordnung der expliziten Aussagen ist es hier noch nicht getan. Verne kann nicht umhin, auch von der Wirkung der Erzählungen auf ihn zu schwärmen. Nachdem Verne beschrieben hat, wie Dupin in Die Morde der Rue Morgue seine Schlussfolgerungen vorträgt, hält er inne: »Ich gebe zu, dass mir bei dieser Stelle des Buches … ein Schauer über den Rücken lief! Sehen Sie nur, wie sehr dieser erstaunliche Erzähler von einem Besitz ergreift! Ist er der Herr über unsere Vor42
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stellungskraft? Hält er einen im Pulsschlag seiner Erzählung gefangen?« Und nach der Besprechung des Goldkäfers kommt er zu dem Schluss, dass die Erzählung »ungewöhnlich, erstaunlich, spannend durch bisher unbekannte Mittel, voller Beobachtungen und Schlussfolgerungen der höchsten Logik« sei. Die Faszination Poes entzündet sich somit vor allem an der elektrisierenden Wirkung, die seine narrativen Innovationen auf Verne haben. Was Poe in die Literaturgeschichte eingebracht hat, waren somit einerseits neue Motive und Stoffe, welche die bis heute lebendige Kriminalliteratur maßgeblich geprägt haben, andererseits aber auch eine radikale Wirkungsästhetik, die Poe selbst in seinem Essay Die Methode der Komposition von 1846 zusammengefasst hat. Dort führt er am Beispiel seines Gedichts Der Rabe vor, wie kalkuliert er seine Kunst rückwärts entwickelt, das heißt immer von der Auf lösung aus, die der Autor nie aus dem Blick verlieren dürfe. Er macht deutlich, dass sich kein einziger Moment des Textes auf Zufall oder Intuition zurückführen lässt, ja, »dass das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung« entgegengeht. Dabei orientiert sich das Kunstwerk für Poe an den jeweiligen Effekten, die es hervorrufen soll, so dass das Kunstwerk in letzter Konsequenz als eine Abfolge von Wirkungen verstanden werden kann. Auch wenn Verne die Methode der Komposition nicht gelesen haben dürfte, hat er doch sehr genau gespürt, wie Poe seine Leser über eine Staffelung von Wirkungen fesselt und aus ihrem Alltag herausreißt. Diese Lektion war unterschwellig genauso wichtig wie Poes neue Erzählmotive. Über die Vermittlung des befreundeten Schriftstellers Alfred de Bréhat wurde Verne 1861 mit dem Verleger Pierre-Jules Hetzel bekannt. Er bot ihm seinen Reisebericht Voyage en Angleterre et en Écosse an, für den Hetzel sich zwar nicht interessierte, er erkannte aber Vernes Erzähltalent und riet ihm, sich eine außergewöhnlichere Reise vorzunehmen. Mit Poe im Hinterkopf machte Verne sich mit Verve daran, das Thema der Ballonfahrt weiter auszuarbeiten. Als kleine Hommage an den Amerikaner nannte er seinen Ballon »Vic43
1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
toria« nach demjenigen aus Poes Erzählung Der Ballon-Jux. Dass in eben dieser Erzählung Poes auch der Begriff der »außergewöhnlichen Reise« fällt, klingt im Rückblick wie ein Schicksalswink. Jetzt musste Verne nur noch den Verleger überzeugen. Die Zeit drängte, denn privat wurde es immer eiliger, sich eine gesicherte finanzielle Existenz aufzubauen: In der Nacht vom 3. zum 4. August 1861 war Vernes einziges Kind, sein Sohn Michel, geboren worden. Damit stieg Vernes familiäre Verantwortung noch einmal deutlich an.
Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel
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er Beruf des Verlegers war nicht neu, aber er sollte im 19. Jahrhundert neu definiert und zu einer Schlüsselstellung des literarischen Betriebs werden. Von der multifunktionalen Tätigkeit des Buchhändlers, der hauptsächlich auf Nachfragen der beschränkten Lesekreise reagierte, sonderte sich jetzt diejenige des Verlegers ab, der ein eigenes Programm konzipierte und somit ein Angebot für ein großes Publikum schuf. Der Verleger, an den Verne sich wandte, Pierre-Jules Hetzel, darf mit Louis Hachette und Pierre Larousse zu den herausragenden Persönlichkeiten seiner Zunft gerechnet werden. Im Sommer 1862 legte Verne Hetzel seinen Roman Un voyage en l’air (Eine Reise in der Luft) vor, der Verleger war sehr angetan davon, änderte lediglich kurzerhand den Titel in das eingängigere Fünf Wochen im Ballon und handelte am 23. Oktober mit Verne den ersten Vertrag aus. Die damit einsetzende Zusammenarbeit von Verleger und Autor markiert den Wendepunkt in Vernes Schriftstellerleben. Das Team Verne und Hetzel stellt eine faszinierend vielschichtige Beziehung zwischen Autor und Verleger dar, die sich in einer Schnittmenge aus Lektorat, Freundschaft und Geschäft entwickelte. Ohne Hetzel kein Jules Verne und keine Außergewöhnlichen Reisen. Wenn Verne später an Hetzel schrieb, er habe ihn erfunden, dann steckt bei aller Ironie auch eine tiefe Wahrheit darin. Das Werk 44
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Vernes ist ohne einen genauen Blick auf seinen Verleger nicht zu verstehen. Das Verlagswesen und die Aufgaben eines Verlegers, so wie wir sie heute kennen, haben sich in jener Zeit im Zuge der technischen Verbesserungen im Druckwesen, der wachsenden Zahl an Druckerzeugnissen und der steigenden Alphabetisierung erst entwickelt. Waren 1810 an die 3 900 neue Titel erschienen, so lag die Zahl 1850 schon bei knapp 9 900. Treibende Kraft dieser Veränderungen war der technische Fortschritt, konkret die künstliche Herstellung von Tinte sowie die Entwicklung von Papierrollen und Rotationsmaschinen, mit denen man schneller und billiger herstellen konnte, um dem wachsenden Bedarf zu genügen. War der sich ausweitende literarische Buchmarkt bis zu den 1830er Jahren noch von französischen Klassikern und erfolgreichen Übersetzungen, darunter Romane von Walter Scott und E. T. A. Hoffmann, geprägt, setzten sich dann mehr und mehr auch französische Bestsellerautoren durch. Ihr Erfolg war eng an den Aufschwung der Presse gebunden, die 1836 den Feuilletonroman als feste Komponente aufnahm und dadurch einen wahren Boom auslöste. Der besondere Status des Feuilletonromans für die Presse wird anschaulich, wenn man sich die Zusammensetzung einer typischen Pariser Tageszeitung vergegenwärtigt: vier großen Seiten mit fünf Spalten, auf der ersten Seite Nachrichten über die Regierung und im unteren Viertel, dem so genannten »rez-de-chaussée«, die Episode eines Feuilletonromans, die sich auf anderen Seiten unten fortsetzen konnte; Seite zwei bot weitere politische Nachrichten (auch aus dem Ausland), es folgten Vermischtes und auf Seite vier schließlich Werbeanzeigen und Annoncen. Der Feuilletonroman lockte somit nicht nur bereits auf der ersten Seite die Leser an, sondern stellte einen entscheidenden Kaufanreiz dar, weil er im Unterschied zu den Nachrichten – die man auch in anderen Zeitungen lesen konnte – ein exklusives Angebot war. Der Vorabdruck von Romanen in der Presse schaffte eine neue Verwertungskette, die das unternehmerische Risiko minimierte. Die quasi täglichen Romanlieferungen, die möglichst mit einem cliff45
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hanger endeten, hatten den Vorteil für die Zeitungen, Leser nicht nur an sich zu binden, sondern auch zahlreiche neue zu gewinnen, wie die Verkaufsziffern eindrucksvoll belegen. So steigerte Le Constitutionnel in den Jahren 1844 und 1845 aufgrund des Erfolgs von Eugène Sues Der ewige Jude seine Abonnenten von 3 600 auf 20 000. Bald gab es keine Zeitung mehr, die sich dieser Entwicklung versagte. Die großen Erfolge jener Zeit sind allesamt als Feuilleton erschienen: Le Siècle triumphierte 1844 mit Dumas’ Drei Musketieren, das Journal des débats brachte zwischen 1842 und 1843 Die Geheimnisse von Paris von Sue und von 1844 bis 1846 Dumas’ Grafen von Monte-Christo. Eine anschließende Buchausgabe war ein ebenso sicheres Geschäft wie eine Bühnenfassung; und sollte ein Roman einmal im Feuilleton scheitern, so konnte er einfach abgebrochen und ersetzt werden. Diese neuen Einnahmequellen professionalisierten das Schreiben. Waren Dichter bisher von ihrem Privatvermögen oder von meist adligen Mäzenen abhängig gewesen, so konnten sie ihre Tätigkeit nun zum Beruf machen. Einfacher wurde dies dadurch nicht, denn sie gerieten in neue Abhängigkeiten, an erster Stelle vom sich ständig verändernden Markt und in zweiter Hinsicht vom Engagement eines Verlegers. In dieser Marktstruktur war es für einen Verleger von besonderem Interesse, nicht nur Bücher, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften herauszugeben. Diese Kombination machte ihn zu einer keinesfalls immer geliebten Schlüsselfigur des Buchmarktes. Trotz seiner Macht stand auch er unter dem Druck, erfolgreich zu sein, und das konnte er nur, wenn er die Entwicklungen des Marktes genau beobachtete oder sogar beeinflusste, indem er neue Autoren lancierte. So stand er mit einem Bein in der Welt des Geschäfts und mit dem anderen in der Welt der Kreativen und besaß idealerweise Züge von beidem: Er musste genau rechnen und nüchtern planen können, aber auch über Fantasie und Visionen für Projekte verfügen, zugleich enge Kontakte zu den Intellektuellen aufbauen und Zugang zu Salons und Zirkeln haben, um auf Talentsuche zu gehen. Der 1814 in Chartres geborene Pierre-Jules Hetzel besaß all diese Eigenschaften in exemplarischer Weise. Literaturbegeistert und mit 46
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eigenen schriftstellerischen Ambitionen, studierte er zunächst in Straßburg Jura, wo er die deutschen und die französischen Romantiker für sich entdeckte. Schließlich brach er das Studium ab und ging 1835 nach Paris, wo er bei dem Buchhändler Paulin arbeitete und schon nach zwei Jahren dessen Kompagnon wurde. Als Sohn eines Sattlermeisters und einer Hebamme gehörte Hetzel neben den Brüdern Garnier oder Michel Lévy somit zu den Neueinsteigern einer Branche, die wegen der rasanten Veränderungen solche Karrieren ermöglichte. Nun darf man sich den Markt allerdings auch nicht als unüberschaubar vorstellen. Er konzentrierte sich ganz auf Paris, wo um 1850 ca. 100 Verleger arbeiteten, die meist im Quartier Latin angesiedelt waren. Schon die ersten eigenen Buchprojekte Hetzels verweisen auf Konstanten, die seine verlegerischen Prinzipien kennzeichnen: Ne-
Vernes Verleger Pierre-Jules Hetzel
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ben hoher Papierqualität legte er von Anfang an Wert auf künstlerisch anspruchsvolle Illustrationen, um den Lesern ein bibliophiles Vergnügen zu ermöglichen. Hetzels Gebetbuch Livre d’heures (Stundenbuch) und die Imitation de Jésus-Christ (Nachfolge Christi) von 1838 und 1839 kombinieren Bild und Text miteinander und machen die Bücher auch zu einem visuellen Erlebnis. Erbauliche Literatur dieser Art war ein sicheres Geschäft, und die in zahlreichen französischen Übersetzungen kursierende Nachfolge Christi gehörte zu den meist gedruckten Texten überhaupt. In seinem ersten größeren Projekt, den Scènes de la vie publique et privée des animaux (Szenen aus dem öffentlichen und privaten Leben der Tiere), in dem die Pariser Gesellschaft anhand von Tieren karikiert wird, kommen weitere charakteristische Aspekte zum Vorschein. Zunächst Hetzels schriftstellerische Tätigkeit, die er unter dem Pseudonym P.-J. Stahl verbarg. Er verfasste nicht nur das Vorwort, sondern auch ganze neun Kapitel. Dann die Fähigkeit, große Namen wie einen Balzac, einen Alfred de Musset, eine George Sand oder einen Charles Nodier dafür zu begeistern. Das aufwendige Werk, das mit 323 Vignetten reich illustriert wurde, begann 1839 und dauerte über hundert Lieferungen bis 1842 an. Bücher wurden deshalb zunächst in Teillieferungen verkauft und abschließend gebunden, um die Kosten zu stückeln und das Risiko dadurch zu verringern. Was das Marketing anging, so setzte Hetzel schon hier als einer der ersten auf Plakatwerbung, die auch später bei den Titeln Vernes eine wichtige Rolle spielte. Der Erfolg bestätigte seine Vorgehensweise: 1845 erschien der Band in der 5. Auflage. Schon bevor die Scènes de la vie publique et privée des animaux abgeschlossen waren, wagte sich Hetzel an eine wahre Mammutaufgabe heran: das noch nicht abgeschlossene Gesamtwerk Balzacs herauszugeben, erstmals unter dem Namen Comédie humaine (Menschliche Komödie), jenes monumentale Fresko der französischen Gesellschaft der Restauration mit mehreren tausend Figuren, die eine literarische Höchstleistung des Realismus darstellt und die Literaturgeschichte bis heute beeinflusst. Balzac zog das Publikum seiner Zeit in seinen Bann, nicht nur angesichts seiner schier 48
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unbändigen Energie, seiner phänomenalen Beobachtungsfähigkeit und seines unglaublichen Gedächtnisses, auch rein physisch wirkte der bäuerliche, dicklich kräftige Mann mit dem wachen Blick so faszinierend, dass noch Rodin, der ihn nie leibhaftig gesehen hat, sich von ihm einnehmen ließ und ihn in mehreren Skulpturen verewigte. Wie sollte der noch keine dreißig Jahre alte Hetzel eine solche Herausforderung bewältigen? Schon allein finanziell war das Projekt so aufwendig, dass er sich mit zwei weiteren Verlegern, Dubochet und Furne, zusammentun musste. Aber Hetzel war die treibende Kraft des Unternehmens, 1841 wurde der Vertrag mit Balzac unterschrieben, ab 1842 erschienen die ersten Bände. Auch wenn die Menschliche Komödie kein finanzieller Erfolg wurde, so ist sie doch eine verlegerische Glanzleistung, und nicht nur das, Hetzels Hart näckigkeit verdanken wir eines der literaturgeschichtlich bedeutendsten Zeugnisse. Denn er zwang dem zögernden Balzac jenes berühmte Vorwort ab, das die Menschliche Komödie einleitete und heute zu einer der wichtigsten theoretischen Schriften der realistischen Schule gehört. Hetzels forsche, aber immer sympathische Art und seine klaren Vorstellungen gehen aus einem Brief hervor, mit dem er Balzac zu dem Vorwort drängte, das dem Autor weitaus mehr Mühen abverlangte als das Verfassen von Romanen: »Es kann nicht sein, dass eine Gesamtausgabe von Ihnen, das Größte, was zu Ihren Werken bisher gewagt wurde, ohne ein paar Seiten Vorwort von Ihnen ans Publikum geht. … Ans Werk, mein Dickerchen; erlauben Sie einem mageren Verleger, so zu Eurer Dicklichkeit zu sprechen. Sie wissen, dass es in guter Absicht geschieht.« Einmal von einer Idee überzeugt, fasst Hetzel den Stier bei den Hörnern und lässt nicht locker, bis das Projekt umgesetzt ist. Für die spätere Zusammenarbeit mit Verne ist die Herausgabe von Balzacs Gesamtwerk deshalb vorausweisend, weil Hetzel hier erstmals das 49
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Konzept zur Herausgabe eines umfangreichen Werks nur eines Autors in Angriff nimmt. Ohne das Geschäftliche zu verachten, steht für Hetzel Kommerzielles nicht an erster Stelle, was auch sein politisches Engagement von 1848 zeigt. Hetzel war überzeugter Republikaner und hat seine verlegerische Tätigkeit stets in den Dienst der allgemeinen republikanischen Ideale und Zielsetzungen gestellt. 1848 wurde er während der republikanischen Übergangsregierung von dem Dichter und Außenminister Alphonse de Lamartine zum Kabinettschef ernannt. Zwar ist Hetzel ab 1849 wieder ausschließlich Verleger, aber seine republikanische Haltung war Louis Napoléon Bonaparte bekannt. Daher tauchte er im Dezember 1851 nach dem Staatsstreich in Paris unter, wohl wissend, dass sein Aufenthalt nicht lange geheim bleiben würde. Als er erfährt, dass Agenten ihn ins Exil begleiten sollen, beschließt er, lieber allein das Land zu verlassen, und geht nach Brüssel, wo sich zahlreiche Republikaner, darunter auch Victor Hugo, versammeln. Zwar kennt Hetzel ihn bereits, in Brüssel jedoch entwickelt sich eine Freundschaft zwischen beiden, die sich auch in der Herausgabe verschiedener Werke Hugos ausdrückt, darunter dessen bissige Verurteilungen Louis Napoléons in Les Châtiments und Napoléon-le-petit. Umso enttäuschender war es für Hetzel daher, als der große Romantiker 1862 seinen Roman Die Elenden, der sich als Riesenerfolg erwies, nicht ihm, sondern dem finanziell besser ausgerüsteten Brüsseler Verlag Lacroix, Verboeckhoven et Cie anbot. Die Schwierigkeiten, den Verlag von Brüssel aus zu führen, zwangen ihn, vorübergehend als Literaturagent ante litteram für George Sand zu arbeiten, zu der sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Als diese 1852 beim Kaiser persönlich eine Begnadigung für Hetzel erwirkte, hielt er es wie sein Freund Hugo und blieb vorerst im Exil, begab sich zwar regelmäßig nach Paris, kehrte aber erst 1859 mit der Generalamnestie definitiv zurück, um seinen Verlag in der Rue Jacob Nr. 18 wieder aufzubauen. Ein Neuanfang ist immer auch eine Chance, und Hetzel besaß die besten Voraussetzungen, um sie zu nutzen. Zunächst galt es, öko50
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nomisch wieder Fuß zu fassen. Hier optimierte Hetzel seine Verlagspolitik der Zeit vor 1848, was sich an der heute noch beein druckenden Luxusausgabe der Märchen von Charles Perrault aus dem Jahre 1862 veranschaulichen lässt. Das bibliophile Konzept weist bereits auf die späteren Ausgaben Vernes voraus, denn schon rein äußerlich kündigt die in Rot und Gold gestaltete Hardcoverausgabe die späteren Prachtausgaben der Außergewöhnlichen Reisen an. Angesichts des Preises von 60 Francs (ca. 195 €), was dem Monatsgehalt eines Arbeiters entsprach, richtete es sich an das städtische Bürgertum. Innen fand der Leser vierzig ganzseitige Stiche von Gustave Doré, die bis heute zu den beeindruckendsten Illustrationen der Märchenklassiker wie Rotkäppchen, Der gestiefelte Kater oder Blaubart gehören. Das Buch war aufgrund des Formats und der hohen künstlerischen Qualität der Illustrationen ein Prestige
Gustave Dorés Illustration zu Rotkäppchen in Hetzels Märchenausgabe
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objekt und sollte zur gemeinsamen Lektüre und Betrachtung der Bilder anregen. Der philologische Respekt vor dem Original spielte dabei keine große Rolle, Hetzel passte die Märchensammlung seinen Vorstellungen an, indem er Texte wegließ, Fassungen verwendete, die nicht von Perrault stammten, und bei allen Märchen die Moral strich. Die Prachtausgabe wurde ein anhaltender Erfolg. Dennoch garantieren bibliophile Ausgaben und verlegerische Hingabe keine wirtschaftlichen Gewinne. Hetzels Bücher waren schlichtweg zu teuer und kamen zu einer Zeit, als Billigausgaben wie die »Bibliothèque Charpentier« ab 1838 die Preise drückten und zu einer ernsthaften Konkurrenz wurden, ganz abgesehen von dem Dauerproblem der belgischen Raubdrucke, die für drei Francs (ca. 10 €) den französischen Markt überschwemmten. Letzteres entspannte sich erst, als 1852 ein Abkommen über Autorenrechte zwischen Frankreich und Belgien geschlossen wurde. War Hetzel bereits zwischen 1846 und 1848 nur knapp der Pleite entgangen, so geriet er Anfang der 1860er Jahre erneut in finanzielle Engpässe, aus denen ihm erst die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Jules Verne heraushalf, die sich ab 1865 ökonomisch positiv bemerkbar machte. Hetzel interessierte sich aber nicht allein deshalb für Verne, weil er sich gute Gewinne versprach, sondern vor allem, weil er in sein pädagogisches Programm passte. Schon 1843 hatte Hetzel eine Reihe für Kinder mit dem Titel Nouveau Magasin des Enfants ins Leben gerufen, die er nach seiner Rückkehr aus dem Exil mit der Entwicklung einer spezifischen Literatur für Kinder- und Jugendliche fortführte. Wenn uns heute die Existenz einer Kinder- und Jugendliteratur eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, so ist dies im 19. Jahrhundert noch keineswegs der Fall. Ein Blick in Schulbücher wie Louis Hachettes Leselehrbuch für die Primarstufe Alphabet et Premier Livre de lecture à l’usage des écoles primaires von 1831, das eine Auflage von 500 000 Stück erreichte, veranschaulicht, dass die Texte nach heutigem Verständnis alles andere als kindgerecht, sondern vielmehr informationsreiche Sachtexte und moralisch-christli52
Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel
che Unterweisungen gewesen sind. Kinder wurden als kleine Erwachsene angesehen, und Kindheit wurde bisher kaum als eigen gesetzliche Entwicklungsphase ernst genommen. Es spricht für Hetzels verlegerisches Geschick, dass er den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur in unterschiedlichen sich ergänzenden Formaten und Reihen anging, von denen hier nur einige exemplarisch genannt werden: ab 1864 über die Zeitschrift Le Magasin d’Éducation et de Récréation, ab 1866 über die illustrierten Albums Stahl, dann die kostengünstige Romanreihe Petite Bibliothèque Blanche (ab 1879) oder die Reihe ländervergleichender Pädagogik namens Scènes de la vie de collège dans tous les pays von André Laurie. Hetzel griff dabei weiterhin selbst zur Feder und publizierte fleißig im eigenen Verlag mit und firmierte anonym als »ein Papa« oder wie gehabt mit dem Pseudonym P.-J. Stahl, das er auch für Bearbeitungen verwendete. So erschien 1864 im ersten Band des Magasin eine Neubearbeitung des Schweizerischen Robinson, die Hetzel sorgfältig geändert hatte, indem er veraltete wissenschaftliche Annahmen richtigstellte oder moralisch anstößige Szenen wie Grausamkeiten gegen Tiere abschwächte. Angefügt sei hier, dass der Verlag auch als Vermittler ausländischer Jugendliteratur wirkte. So hat Hetzel die französischen Erstübersetzungen von Robert Louis Stevensons Schatzinsel oder Rider Haggards König Salomons Schatzkammer herausgegeben. Das Herzstück seiner edukativen und editorischen Strategie war das Magasin d’Éducation et de Récréation, eine Zeitschrift, die er schon seit Jahren in Planung hatte. Mit Jules Verne schien nun endlich ein Autor gefunden worden zu sein, der die gewünschte Verstärkung bildete, um das Projekt umzusetzen. Herausgeber waren 1863 zunächst P.-J. Stahl und Jean Macé, ein Schulfreund Hetzels, der als Lehrer an einem Mädchenpensionat im Elsass arbeitete. Jules Verne sollte ab 1866 noch hinzukommen. Ein großer Teil von Vernes Romanen wurde hier vorpubliziert. Auf dem Markt konkurrierte das Magasin zunächst mit dem Journal des enfants (seit 1832) und Hachettes Semaine des enfants (seit 1857), konnte sich jedoch be53
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Hetzel als Erzieher mit seinem Sohn Louis-Jules
haupten und war bald anerkannt, was sich 1867 in einem Preis der Académie manifestierte. Als Hochphase ihrer Verbreitung können die 1870er Jahre angesehen werden, in denen sie im Jahre 1876 auf ca. 13 000 Abonnenten kam. Die aus ca. 32 zweispaltigen Seiten bestehenden Einzelnummern des Magazins boten in der Regel eine Lieferung Vernes, die etwa die Hälfte der Seiten füllte, eine weitere Romanlieferung (ca. fünf bis sieben Seiten), anschließend leichtere Lektüre mit moralischer Botschaft (ebenfalls um die fünf bis sieben Seiten), dann kürzere Texte wie Fabeln, Gedichte oder Maximen und schließlich zwei bis drei illustrierte Seiten für jüngere Leser. 54
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Hauptautoren waren Verne, Macé und Stahl, die sich die Ressorts aufteilten: Lieferte Verne Geografie und Abenteuer, so vermittelte Macé eher Biologie und Medizin, und Stahl sorgte für die moralische Unterweisung. In der ersten Nummer fand der Leser Lieferungen von Macés Les serviteurs de l’estomac (Die Diener des Magens), La princesse Ilsée von Stahl, Die Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras von Jules Verne und Wyss’ Schweizerischen Robinson. Je nach Wissensgebiet holte Hetzel weitere Spezialisten heran, die zu den bedeutendsten Namen ihres Faches zählten, darunter den Entomologen Jean-Henri Fabre, den Architekten Viollet-Le-Duc oder den Astronomen Camille Flammarion. Explizite politische Aussagen wurden zwar vermieden, aber das Programm entsprach insgesamt den republikanischen Ideen Hetzels und Macés. Die Aufwertung des Pädagogischen im Sinne einer allgemeinen Schulbildung gehörte zu den Kardinalforderungen der Republikaner. Zwar waren schon von Guizot 1833 und Victor Duruy 1867 Gesetze erlassen worden, die wichtige Schritte auf diesem Weg darstellten, endgültig sollte die allgemeine Schulpflicht aber erst mit Jules Ferrys Gesetzen von 1881–1882 kommen. Der pädagogische Grundgedanke, den Hetzel im Vorwort der ersten Nummer deutlich zum Ausdruck brachte, formulierte das bekannte Horazsche Diktum vom prodesse et delectare als allgemeinen Zweck der Dichtung in eine didaktische Maxime für die Kinderund Jugendliteratur um: »Das Belehrende muss sich in einer Form zeigen, die Interesse weckt; ansonsten schreckt es von der Unterweisung ab, das Amüsante muss einen moralisch wahren Kern enthalten, also nützlich sein.« Die Betonung des Moralischen bedarf einer Erklärung, weil das Deutsche den Begriff der Moral heute anders versteht. Hetzel bringt Moral hier explizit in Zusammenhang mit Nützlichkeit. In Frankreich gibt es eine lange literarische Tradition der so genannten Moralisten, zu deren Klassikern etwa La Rochefoucauld mit seinen Maximen und Reflexionen gehört, die sich allgemein um menschliche Schwächen drehen und psychologische mit soziologischen Beobachtungen verknüpfen und damit eine Zwischenstellung zwischen 55
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Sprichwörtern und philosophischen Betrachtungen einnehmen. Viele von ihnen können jedoch auch als ganz praktische Lebensregeln gelesen werden. Auch Hetzels Moralbegriff dreht sich um die praktische Bewältigung des sozialen Miteinanders, allerdings ohne jede ironische Note, sondern in einem väterlich wohlwollenden Ton, der sich an die willigen Kinder des Bürgertums richtet. Damit entsprach Hetzel durchaus den allgemeinen Auffassungen von Pädagogik und erhielt für zwei seiner Werke, 1869 für die Morale familière und 1875 für Histoire d’un âne et de deux jeunes filles (Geschichte eines Esels und zweier Mädchen), den Prix Montyon, einen auf den Baron von Montyon zurückgehenden Tugendpreis, der im 19. Jahrhundert regelmäßig vergeben wurde. Ein Blick in die Texte veranschaulicht, in welche Richtung Hetzels Pädagogik zielte. Die (Lebens-)Geschichte eines Esels wird aus der Perspektive des Esels Criquet erzählt, der anschaulich von seinen Erfahrungen und seiner Entwicklung seit seiner Geburt berichtet. Seine Unwissenheit von der Welt gibt zwar Anlass zur Komik, wenn er mit Menschenkindern am Tisch sitzt und sich ordentlich zu benehmen hat. Aber vor allem beinhaltet jede Episode stets eine moralische Lehre: Man soll fleißig sein, auf die Älteren hören, aus Fehlern lernen, still sitzen usw. Als höchste Ziele der Erziehung erscheinen der gesunde Menschenverstand sowie die Unterordnung unter die Pflichten und sozialen Gegebenheiten. Criquet resümiert: »Jeder hat ein Gesetz zu erdulden in dieser Welt. Vom ersten bis zum letzten hat jeder irgendjemandem oder irgendetwas zu gehorchen. Es gibt niemanden, der keinen Herrn hat, denn niemand ist ohne Pflicht auf dieser Welt. Egal ob man ein Esel oder ein Kaiser ist, muss jeder den Regeln des gesunden Menschenverstandes, der Gerechtigkeit und der Vernunft gehorchen, um falsche Schritte zu vermeiden und sich vor Purzelbäumen zu hüten.« Ein Grund dafür, warum Hetzels Texte trotz ihrer historischen Bedeutung nicht überlebt haben, dürfte gerade in ihrer Eindeutigkeit liegen, die dem Zahn der Zeit nicht standzuhalten vermochte. Vernes Romane hingegen waren von vornherein doppelt adressiert, 56
Jules Verne und Pierre-Jules Hetzel
richteten sich also auch an erwachsene Leser und konnten daher mühelos alternativ in allgemeinen Tageszeitungen vorpubliziert werden. Gerade diese Unterschiede veranschaulichen jedoch, dass das Magasin als Gesamtkonzept aus sich ergänzenden verschiedenen Teilen zu verstehen ist und seinen im Titel versprochenen Erziehungs- und Erholungsauftrag in einer Kombination aus Reiseabenteuer, Sachwissen und moralischer Erbauung gerecht wurde. Hetzels Vorbild hat im wahrsten Sinne des Wortes Schule gemacht, denn konzeptionell lässt sich vom Magasin eine direkte Linie zum 1877 erstmals erschienenen Schulbuch Le Tour de la France par deux enfants. Devoir et patrie (Reise durch Frankreich zweier Kinder. Pflicht und Vaterland) ziehen, das bis 1914 auf sieben Millionen Exemplare kam und Generationen französischer Schüler geprägt hat. Es erzählt von zwei Waisenkindern, die aus dem von Preußen annektierten Gebiet Lothringens nach Frankreich fliehen und sich dort auf die Suche nach Verwandten begeben. Die Rundreise durch das Land wird genutzt, um die Regionen und ihre Traditionen vorzustellen, letztlich mit dem Ziel, das Einheitsgefühl der Nation zu stärken. Auch hier ist jedes Kapitel unterschiedlich kombiniert aus praktischem Wissen, geschichtlich-geografischen Kenntnissen und moralischer Erbauung, wobei die geografische Kenntnis auch das militärisch bedeutsame Kartenlesen beinhaltet. Von Anfang an spielte Verne somit eine zentrale Rolle in Hetzels neuem Verlagsprogramm, daher soll nun ein genauerer Blick auf seinen ersten wissenschaftlichen Roman Fünf Wochen im Ballon geworfen werden.
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1. Teil Ausbruch aus bürgerlicher Sicherheit
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Fünf Wochen im Ballon
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufs schriftstellers Fünf Wochen im Ballon (1863): Der Prototyp des wissenschaftlichen Romans
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m 20. Jahrhundert ist Verne immer wieder als Vater des Science Fiction bezeichnet worden, obwohl sich seine Romane deutlich von dem unterscheiden, was wir heute darunter verstehen. Auch die zeitgenössischen Reaktionen auf Verne erkennen zwar die Neuartigkeit seiner Romane, sie wird jedoch nicht im Futuristischen oder in technischen Antizipationen gesehen, die aus Verne einen Visionär gemacht hätten. Seine Romane sind nicht nur zeitlich in seiner Gegenwart verankert, er geht auch technisch kaum über sie hinaus, sondern nutzt bereits existierende Verfahren, die er gegebenenfalls für seine Handlung leicht weiterentwickelt oder daran anpasst. Als sein erster Roman Fünf Wochen im Ballon Mitte Januar 1863 erschien, wurde auf dessen innovativen Charakter sofort hingewiesen. Kritiker Ernest Gervais taufte den neuartigen Typus am 24. April in Le Petit Journal auf seinen heute noch verwendeten Namen des roman scientifique, des wissenschaftlichen Romans, und fasste damit treffend dessen Merkmale zusammen. Ebenso erstaunlich ist allerdings auch, dass Verne schon mit seinem ersten wissenschaftlichen Roman einen Prototyp vorlegte, dessen Merkmale sich in der Folge nur noch wenig verändern sollten, darunter die Romanstruktur, die Eigenschaften des neuartigen wissenschaftlichen Helden und die thematische Kontinuität der Inszenierung von Wissenschaft. In diesem Sinne ist Fünf Wochen im Ballon als Vernes Durchbruch zu verstehen, als Durchbruch zu einer ihm eigenen und zukunftsträchtigen Form und als Durchbruch in Sachen Unterstützung durch 59
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
einen Verleger, jedoch noch nicht als finanzieller Durchbruch, denn der Roman erschien in der üblichen Auflage von 2 000 Exemplaren und war kein Bestseller, sondern sollte sich vielmehr als lukrativer Longseller erweisen. Erzählt wird von einer Ballonfahrt quer über Afrika im Jahre 1862. Der englische Forscher Dr. Samuel Fergusson möchte die Nilquellen entdecken und bisher unbekannte Gegenden Afrikas kartografieren. Die englische, aber auch die europäische Öffentlichkeit nimmt dieses gewagte Unternehmen mit Begeisterung auf. Zusammen mit seinem Diener Joe und seinem Freund Dick Kennedy beginnt Fergusson die Reise von einer Insel bei Sansibar aus. Fergusson hat eine Technik entwickelt, mit der er die Flughöhe des Ballons auch ohne Ballast steuern kann. Damit will er die Passatwinde ausnutzen, die ihn an die Westküste Afrikas treiben sollen. Die Reise verläuft zunächst nach Plan. Schon nach weniger als einer Woche entdecken sie die Nilquellen und fliegen anschließend über unbekanntes Gebiet, wo sich ihnen alle möglichen Gefahren in den Weg stellen. Der Ballon erleidet Schaden und verliert langsam sein Gas. Verfolgt von einer grausamen Räuberbande, gelingt es den Forschern im letzten Augenblick, den Senegal zu überqueren, wo sie von französischen Soldaten empfangen werden. Fergusson und seine Begleiter erhalten in England eine Goldmedaille für die bedeutendste Forschungsreise des Jahres. Ein Blick auf den zeitgenössischen Rezeptionshorizont zeigt, dass Verne keineswegs zukünftige, sondern höchst aktuelle wissenschaftliche Themen aufgriff, und zwar konkret die Entwicklung der Luftfahrttechnik und die Erforschung des afrikanischen Kontinents, dessen Inneres noch ein großer weißer Fleck auf den Landkarten war. 1862, also parallel zur Romanhandlung, war der britische Afrikaforscher John Hanning Speke zu einer Expedition aufgebrochen, um die Nilquellen zu entdecken. Als der Roman erschien, lagen darüber noch keine genauen Informationen vor, sie sollten dann jedoch im Laufe des Jahres publiziert werden, so dass sich Fiktion und Wirklichkeit überlagerten.
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Fünf Wochen im Ballon
Ebenso beschäftigten sich Forschung und Öffentlichkeit mit der Aeronautik, zu der zwischen 1850 und 1865 an die hundert Vorschläge bei der Académie des Sciences eingereicht wurden. Eine der spektakulärsten Aktionen darunter unternahm Vernes Freund Félix Tournachon, besser bekannt als Nadar, der im Oktober 1863 auf dem Pariser Marsfeld einen berühmten Probeflug mit dem Ballon Le Géant machte. Statt weit ausholender Science Fiction inszeniert Verne zeitgenössische wissenschaftliche Herausforderungen. Diese sind nicht von theoretischer, sondern von eminent praktischer Natur und beziehen sich konkret auf Geografie und Technik. Die komplette Kartografierung der Welt war eine dringende wissenschaftliche Aufgabe, die das Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum und zur Natur neu definierte. Vernes Innovation lag weiterhin in der Schaffung eines neuartigen Heldentypus, nämlich des wissenschaftlichen Helden, hier in der Person von Dr. Samuel Fergusson, dem »Typus des perfekten Reisenden«. Während sich die Wissenschaftler historisch im 19. Jahrhundert mehr und mehr zu Spezialisten ausdifferenzierten, so stellt Fergusson noch den naturwissenschaftlichen Allrounder dar, der ungemein breite Kenntnisse in Geografie, Geologie, Zoologie, Ethnologie, Physik, Hydrografie und Botanik besitzt, um nur die wichtigsten Disziplinen zu nennen. Ein Forscher neuen Typus ist er, weil er seine Gelehrsamkeit nur noch zum Teil aus Büchern, vor allem aber aus praktischer Erfahrung zieht. Theoretische Annahmen interessieren nur, wenn man sie veri- oder falsifizieren kann. Dazu braucht man nicht nur Intelligenz, sondern auch eine gesunde Konstitution, und es wird sich zeigen, dass Fergusson eine äußerst robuste Natur ist, der den zum Teil schweren Entsagungen, die die Reise von dem Team fordert, am besten widersteht. Fergusson ist ein praktischer Gelehrter, ein Typus, den Verne in anderen Romanen deutlich von seinem Gegenstück, dem reinen Gelehrten, unterscheidet. Während der praktische Gelehrte sich durch seine Vielseitigkeit bei gleichzeitig hoher Qualifikation und Sozialkompetenz auszeichnet, bleibt der reine Gelehrte auf sein Spezialgebiet be61
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
schränkt. Mag er in seinem Fach auch Höchstleistungen vollbringen, so bleibt er sozial jedoch unfähig wie der Astronom Thomas Black aus Das Land der Pelze von 1873, mit dem man kein Gespräch führen kann, oder so schusselig wie der Mathematiker Nicolas Palander (Abenteuer dreier Russen und dreier Engländer in Südafrika, 1872), der sich selbst in Gefahr bringt und gerettet werden muss. Während der reine Gelehrte als Personifizierung der ausschließlichen Buchgelehrsamkeit ständig an der Auseinandersetzung mit Welt und Natur scheitert, besteht der praktische Gelehrte sie nicht nur, sondern weiß auch seine mitunter verzweifelnden Gefährten immer wieder zu ermutigen. Feit ihn sein Fatalismus vor der Angst, oder ist es sein breites Wissen, das ihn auf jede Situation vorbereitet? Vernes praktischer Gelehrter ist ein positivistischer Held, der nur von den gegebenen Fakten ausgeht, für den es keinen Aberglauben, keine Mystifikationen und keine Gespenster gibt. Wenn noch Geheimnisse existieren, dann nur, um gelüftet zu werden. Allerdings geht Verne nie so weit, aus ihm einen unpersönlichen Superhelden oder Alleskönner zu machen. Nicht selten zieht der Autor eine ironische Grenze um den wissenschaftlichen Helden und greift dabei auf die Nationalcharaktere zurück. Fergusson ist ein genialer Forscher, aber zugleich auch ein nüchterner Engländer, der den Naturschönheiten, die sich den Ballonfahrern über Afrika bieten, nichts abgewinnen kann. Kaum ist der Ballon aufgestiegen, da sind Fergussons Begleiter Joe und Dick ganz ergriffen von dem überwältigenden Blick aus der Höhe, und Joe kann nicht anders, als bewundernd »Wie schön das alles ist!« auszurufen. Eine Antwort aber erhält er nicht, denn Fergusson achtet bloß auf die barometrischen Veränderungen und notiert Details des Aufstiegs. Auch wenn der wissenschaftliche Roman als exotischer Abenteuerroman durchaus vieles mit der Romantik teilt, so hat er sie doch in seiner positivistischen Grundausrichtung überwunden, die Verne hier ironisch mit typisch englischer Gelassenheit verbindet. Historisch gesehen entspricht ein englischer Forschungsreisender den Tatsachen, denn es waren vor allem Briten, die sich in der Ent62
Fünf Wochen im Ballon
deckung der Welt hervorgetan haben. Die Entwicklung der modernen Wissenschaft geht im 19. Jahrhundert mit einer Nationalisierung einher, die sich auch in dem Roman klar widerspiegelt. Denn als Fergusson sein Projekt in der Royal Geographical Society in London vorstellt, begeistert man sich zwar für das wissenschaftliche Unternehmen, sieht darin zugleich aber auch einen Ausweis nationaler Exzellenz. In eben diesem Tenor setzt der Roman in der Ansprache des Präsidenten der Gesellschaft ein: »England ist immer an der Spitze der Nationen vorausgegangen (denn, wie angemerkt wurde, gehen die Nationen universell einer der anderen voraus), und zwar durch die Unerschrockenheit seiner Forschungsreisenden auf dem Weg zu den geografischen Ent deckungen. (Breite Zustimmung). Doktor Samuel Fergusson, einer ihrer glorreichen Söhne, wird seiner Herkunft kein Unrecht tun. (Von allen Seiten: Nein! Nein!).« Wie die in Klammern gesetzten Reaktionen des Publikums zeigen, stellt Verne den modernen Wissenschaftsnationalismus nicht nur dar, sondern ironisiert ihn auch zugleich. Hier trifft es die Engländer, in anderen Romanen sind es die US-Amerikaner oder auch die Deutschen. Ist dies als generelle Distanzierung vom Nationalismus zu verstehen oder äußert sich hier eine französische Perspektive auf die nicht immer geliebten Nachbarn jenseits des Ärmelkanals? Sicherlich auch Letzteres, aber Ironie zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie Stellungnahmen in der Schwebe hält und unterschiedlich gelesen werden kann. Für Verne hat dies noch einen Nebeneffekt, an den er 1862 sicherlich noch nicht gedacht hatte: Denn so konnten sich auch englische Leser in den Hauptfiguren wiedererkennen und dem Roman den Weg zu internationaler Rezeption bahnen. Im Unterschied etwa zu Karl May, der aus seinen Hauptfiguren leuchtende Repräsentanten Deutschlands und des Christentums machte, aber letztlich außerhalb seiner Heimat nur in osteuropäischen Ländern mit starkem deutschen Kultureinfluss bekannt wurde, zeichnet sich Verne durch seine beeindruckende Internationalität aus, die zweifel63
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
los auch damit zusammenhängt, dass er auf eine Heroisierung seiner eigenen Nation weitgehend verzichtet. Nun steht der wissenschaftliche Held nicht allein, sondern wird in seinem typischen Umfeld des 19. Jahrhunderts gezeigt: in der wissenschaftlichen Gesellschaft. Denn neben der Nationalisierung von Wissenschaft war ihre Spezialisierung und Ausdifferenzierung ein typisches Merkmal ihrer Entwicklung. Die geeignete Form, Wissenschaft zu organisieren, zu etablieren und voranzutreiben, lag in der Gründung eines Vereins. Dementsprechend steil stieg die Zahl dieser Gesellschaften in den Wissenschaftsnationen an. Willkürlich herausgegriffen aus der Zeit vor der Publikation des Romans seien die Société météorologique de France von 1852, die Société botanique de France von 1854 oder die Société statistique de Paris aus dem Jahre 1860. Im Jahre 1870 gab es in Frankreich ganze 470 wissenschaftliche Gesellschaften, wobei 84 % in der Provinz angesiedelt waren und somit eher eine lokale Ausstrahlung hatten. Zugleich nimmt Verne auch hier wieder durchaus eine ironische Distanz diesen Institutionen gegenüber ein, wenn er aus Fergusson einen Forscher macht, der sich den Gelehrtengesellschaften eher fernhält, weil er sich zu den aktiven, nicht zu den diskutierenden Wissenschaftlern zählt. Nach dem Vortrag in der Königlichen Geographischen Gesellschaft wird Fergussons Expedition zunächst national und dann international von den Fachzeitschriften diskutiert. International bedeutet hier die Schweiz, Deutschland, Frankreich und die USA, das heißt die führenden Wissenschaftsnationen. Stehen sie auch in Konkurrenz zueinander, so sind sie über die Wissenschaft zugleich miteinander verbunden. Dies wird sich in den Fünf Wochen im Ballon gerade im Verhältnis Europas zu Afrika bemerkbar machen. So kompetitiv die Europäer untereinander auch sind, bilden sie in Afrika stets eine kulturelle Gemeinschaft, die sich religiös und epistemologisch definiert. So retten Fergusson und seine Begleiter auf ihrer Reise einen französischen Missionar und werden beim Showdown des Romans wiederum von französischen Soldaten in Empfang genommen. Beide Male werden Europäer von nicht-wissen64
Fünf Wochen im Ballon
Kannibalismus sollte den Mangel an Zivilisation bezeugen (Fünf Wochen im Ballon).
schaftlichen und nicht-christlichen Völkern bedroht und dadurch klar von ihnen abgegrenzt. Hauptmerkmal dieser eingeborenen Völker ist ihr Mangel an Zivilisation bzw. ihre Grausamkeit, beides wird im Bild eines Kannibalenbaums schaurig zusammengefasst, an dem zahllose abgeschlagene Köpfe hängen. Der Zivilisationskonflikt, der hier zum Ausdruck kommt, verweist unmittelbar auf die anthropologischen Diskussionen des 19. Jahrhunderts. Gobineaus Essai sur l’inégalité des races (Essay über die Ungleichheit der Rassen, 1853–55) war zwar in Frankreich insgesamt nur wenig gelesen worden, drückte jedoch weit verbreitete Überzeugungen aus, die sich auch in Vernes Afrikadarstellung wie65
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
derfinden. Als die Reisenden von einer Horde Affen angegriffen werden, halten sie diese zunächst für Eingeborene, denn, so meinen sie, der Unterschied sei nicht groß, weder aus der Ferne noch aus der Nähe betrachtet. Zugleich thematisiert Verne hierbei auch das komplexe Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft, denn die Reisenden befreien einen französischen Missionar aus den Händen der »Wilden«, auch wenn sie ihn letztlich nicht retten können, weil er seinen Verletzungen wenig später erliegt. Im 19. Jahrhundert ist (nicht nur) Frankreich in dieser Hinsicht kulturell zwiegespalten. Hatte die Französische Revolution einen radikal antiklerikalen Impetus besessen, die Kirche enteignet, den gregorianischen Kalender abgeschafft und die Namenstage der Heiligen durch naturverbundene Begriffe ersetzt, indem jedem Tag Tiere, Obst oder Gemüse zugeordnet wurden, so rückte die Monarchie der Restauration wieder eng an die Kirche heran. Zwar lehnte die Revolution keineswegs die Religion ab, ersetzte aber die traditionelle Gottesvorstellung durch eine weitaus abstraktere, die von der Existenz eines être suprême (höheren Wesens) ausging, und versuchte insgesamt, den christlichen Glauben mit den Prinzipien der Vernunft zu vereinen. Die Schule als die wichtigste Instanz ideologischer Indoktrinierung wurde bald zum Hauptschlachtfeld der Antagonisten. Die Revolution setzte Grundschullehrer ein, die auf die Verfassung einen Eid zu schwören hatten, was die meisten Geistlichen, die traditionell für die Unterweisung der Kinder verantwortlich gewesen waren, ablehnten. Die Restauration hingegen machte die Kirche wieder für die Schulbildung verantwortlich. Dieses Hin und Her sollte das ganze 19. Jahrhundert prägen und erst mit den genannten Schulgesetzen von Jules Ferry von 1881–1882 enden. Wie verhält sich Verne nun zu diesem Konflikt? Diese Frage ist umso bedeutender, als er diese Auseinandersetzung mit sich selbst auszutragen hatte: Von seiner Herkunft her tief katholisch geprägt, schrieb er nun für einen republikanischen Verleger, der eindeutig laizistisch eingestellt war. Verne hat hier eine ebenso elegante wie diplomatische Lösung gefunden: Wissenschaft und Religion dienen 66
Fünf Wochen im Ballon
beide demselben Ziel: »instruire et civiliser«, belehren und zivilisieren. Sie stehen somit in einem arbeitsteiligen Verhältnis zueinander und brauchen gar nicht als Gegenspieler angesehen zu werden. In der Romanhandlung gibt es zwar metaphorisch durchaus Überschneidungen, letztlich bleiben die Bereiche jedoch klar voneinander getrennt. Als die Forscher den Missionar aus der Gefangenschaft befreien, lässt Verne sie einem deus ex machina gleich in ihrem Ballon von oben herabsinken und die Eingeborenen mit elektrischen Lichtstrahlen vertreiben, in denen sich das Licht als Metapher der Vernunft mit seiner älteren Bedeutung als Bild Gottes vermischt. Wenn die Wissenschaft damit zwar durchaus religiöse Züge annimmt, so bleibt ihr Einflussbereich dennoch begrenzt, was
Die Wissenschaft als Lichtbringerin in Fünf Wochen im Ballon
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2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
die Reisenden zu spüren bekommen, als die Windstille sie über der Wüste festsetzt. Kurz vor dem Verdursten bekennen sie, dass jetzt nur noch Gott helfen könne. Erneut kommt die Hilfe aus dem Himmel, jetzt aber in Form eines Sturms, der sie in kurzer Zeit über die Wüste fegt. Vernes Roman veranschaulicht, dass die ontologische Spannung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Welterklärung keineswegs das Nebeneinander beider Blicke auf die Welt verhinderte, wenn man ihnen einfach zwei Zuständigkeitsbereiche zuordnete. Gerade aber in dieser Frage bleibt unklar, ob Verne aus Überzeugung handelte oder sich der republikanischen Haltung Hetzels anpasste. In der 1864 im Musée des familles erschienenen längeren Erzählung Der Graf von Chanteleine hatte er sich klar für die monarchisch-katholische Seite ausgesprochen und die blutigen Auswüchse der Terrorjahre der Ersten Republik am Beispiel der Leiden eines gottesfürchtigen bretonischen Adeligen kritisiert. Als Verne Hetzel 1879 vorschlug, sie in die Außergewöhnlichen Reisen mit aufzunehmen, winkte dieser ab, weil sie aus dem Rahmen falle. Hetzel wusste, dass Verne und er in diesem Punkt ganz unterschiedlicher Auffassung waren und hütete sich davor, seine Ablehnung ideologisch zu begründen. Dennoch herrscht kein Zweifel daran, dass ihm als Republikaner nicht daran gelegen war, die Große Revolution zu hinterfragen. Unmittelbar nach Fünf Wochen im Ballon verfasste Verne den umfangreichen Roman Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras über eine Nordpolexpedition und führte darin die Ansätze weiter, die er in der Erzählung Ein Winter im Eis erprobt hatte. Daraufhin legte Verne sofort ein weiteres Manuskript vor, diesmal aber keinen wissenschaftlichen Roman, sondern überraschenderweise eine von der Romantik geprägte Dystopie namens Paris im 20. Jahrhundert. Der kuriose Text zeigt, dass Verne sich in jener Zeit noch nicht ausschließlich auf die neue Gattung festgelegt hatte und dass das Team Hetzel-Verne noch nicht ganz aufeinander eingestimmt war. Der im Jahre 1960 spielende Roman ist eine pessimistische Zukunftsvision, die wie die technischen Antizipationen Vernes tief in 68
Fünf Wochen im Ballon
seiner Zeit verankert ist. Überhaupt zeigt der Text einmal mehr, wie geschärft im 19. Jahrhundert das Bewusstsein dafür war, eben dem 19. Jahrhundert anzugehören, das Verne in den 1860er Jahren mit der bürgerlich-romantischen Kultur identifizierte. Pessimistisch ist die Vision deshalb, weil diese bürgerlich-romantische Kultur von Industrialisierung und Utilitarismus völlig aufgesogen und beseitigt wird. Deutlicher als die meisten anderen Romane gewährt Paris im 20. Jahrhundert Einblicke in die Wertvorstellungen Vernes, zumal wir hier davon ausgehen können, dass er durch das Lektorat Hetzels noch weitgehend unbeeinflusst war, weil die Idee zur Romanreihe der Außergewöhnlichen Reise erst später aufkam. Die Unterschiede zu den sonstigen Romanen Vernes fangen schon damit an, dass Paris im 20. Jahrhundert räumlich auf die Hauptstadt Frankreichs festgelegt ist und sich damit zugleich mit der urbanen Thematik auseinandersetzt. Erzählt wird die bedrückende Geschichte des sechzehnjährigen Waisenkindes Michel Dufrénoy, des Sohns eines Musikers, der bei seinem Onkel lebt, einem Bankier, der das Nützlichkeitsdenken personifiziert und mit einer Frau verheiratet ist, die ihre Weiblichkeit verloren hat. Der künstlerisch veranlagte Michel hingegen will Dichter werden und ist dementsprechend von der ersten Seite an völlig isoliert und fremd im Paris der Zukunft: In der schönen neuen Welt von Napoleon V. können zwar alle lesen, Literatur jedoch liest keiner mehr. Der Bildungsbegriff hat sich völlig verändert, die Naturwissenschaften dominieren, Bücher sind wissenschaftlich oder praktisch, ansonsten haben sie keine Existenzberechtigung, und so findet Michel natürlich auch keinen Verleger für sein erstes Poemarium Les espérances (Die Hoffnungen). Altsprachen spielen kaum noch eine Rolle, selbst das traditionell als Sprache der Klarheit verstandene Französische verwahrlost, weil ein Exzess an Fachwortschatz und englischen Lehnwörtern es langsam zersetzt. Im Gegenzug erleben die Fremdsprachen eine hohe Wertschätzung, vor allem das Chinesische. Nicht nur Sprache und Literatur, auch Musik und Malerei sind vom Untergang betroffen. Besonders ausführlich widmet sich der Roman der Musik, deren Dekadenz mit Wagner und Verdi eingesetzt 69
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habe, und zwar im Falle Wagners, weil er auf die Melodie verzichte. Selbst Michels einziger Freund, der Pianist Quinsonnas, ist von dieser Innovationslust infiziert und will seine Epoche mit einem neuen Klavierspiel beglücken und Liszt und Thalberg, die berühmtesten Pianisten des 19. Jahrhunderts, mit einer neuen Form des Spiels hinter sich lassen: und zwar indem er brutal auf die Tasten eindrischt, um eine Explosion zu imitieren. Vorbei seien die Zeiten der »wahren« Musik eines Beethoven oder eines Weber, kommentiert der Erzähler. Dass der Kulturverlust gerade an der Klaviermusik exemplifiziert wird, ist kein Zufall, nicht nur weil Verne selbst Klavier spielte und offenbar mit Begabung improvisierte, sondern weil Klaviermusik der Kristallisationspunkt der bürgerlichen Musikkultur war, die im Paris der Julimonarchie ihren Höhepunkt erreichte, symbolisch zum Ausdruck gebracht in dem Einzug Chopins in die französische Hauptstadt im Jahre 1831. Ausgehend von Paganini wird der Typus des musikalischen Genies zum Star des bürgerlichen Publikums und findet im Klaviervirtuosen seine überzeugendste Inkarnation. Dementsprechend spielt Verne in dem Roman auf das berühmte Klavierduell zwischen Sigismund Thalberg und Franz Liszt im Jahre 1837 an. War Musik bisher vor allem in den gesellschaftlichen Salons dargeboten worden und damit einer Elite vorbehalten gewesen, entwickeln sich im Laufe der 1830er Jahre die öffentlichen Klavierkonzerte. Die heutige noch beliebte Konzertform des Recital, also eines Solokonzerts mit Musik damals zeitgenössischer Komponisten, wird von Liszt 1840 eingeführt, während bis dahin Konzerte aus zehn Stücken mit verschiedenen Musikern üblich gewesen waren. Das Klavier wurde aber auch deshalb zum bürgerlichen Instrument schlechthin, weil es häuslich, elegant und repräsentativ war. Zwischen 1830 und 1847 stieg der jährliche Absatz von Klavieren von 4 000 auf 11 000 pro Jahr. 1845 gab es in Paris 60 000 Klaviere und eine dementsprechend florierende Klavierliteratur. Über seinen Freund Aristide Hignard hatte Verne einen ganz konkreten Anteil an dieser Musikkultur. Denn er hatte 1863 gerade erst Texte für Lieder seines Freundes verfasst, der weiterhin auch Klavierwalzer zu 70
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vier Händen komponierte, die sich im Zweiten Kaiserreich einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Verne treibt den Untergang dieser Kultur auf die Spitze, indem er die Rechenmaschine, an der Michel arbeitet, wie ein Klavier aussehen lässt, und ein Multifunktionsklavier ersinnt, das man nicht nur als Klavier, sondern auch als Tisch, Bett und – in der Tat eine schreckliche Vorstellung – auch als Toilette nutzen kann. Die Untergangsvisionen kulminieren schließlich in einem elektrischen Konzert, bei dem ein Pianist allein zweihundert Klaviere bedient. Die Verschmelzung von Elektrizität und Musik veranschaulicht, wie diese Energieform, die langsam in alle Industriebereiche eindringt und die industrielle Revolution mit ermöglicht, von der Kunst als individueller Ausdruck im Sinne des Geniegedankens Besitz ergreift. Damit wird alles gleichgeschaltet: die Technik, die Kunst und sogar die Hinrichtungsmethode in Form eines elektrischen Stuhls, den Verne voraussieht, 25 Jahre bevor er in den USA realisiert werden sollte. Vor allem der Verlust der literarischen Kultur, die von Verne als Besonderheit Frankreichs verstanden wird – denn die Malerei sei nicht genuin französisch, sondern komme aus Italien und Deutschland –, ist zugleich mit einem Geschichtsverlust verbunden. In Vernes Paris des Jahres 1960 leben alle nur noch in der absoluten Gegenwart. Der in einer solchen Welt anachronistische Michel ist von der unpersönlichen Arbeitswelt daher völlig entfremdet: Dass er am Bedienen einer Rechenmaschine scheitert, war vorhersehbar, aber dass er auch als Theaterautor das Handtuch wirft, war nicht zu erwarten. Doch auch die Kulturindustrie erweist sich schon lange vor Horkheimer und Adorno als unkünstlerische kommerzielle Angelegenheit aus standardisierten Modellen. So muss Michel Boulevardstücke zu vorgegebenen Themen verfassen. Als man ein Vaudeville zu dem Titel »Knöpf doch deine Hose zu …« von ihm verlangt, kündigt er. Erforschen die Wissenschaftler Vernes weitgehend menschenleere Gebiete, das Innere der Erde oder die Weltmeere, so tritt in Paris im 20. Jahrhundert auch die Massengesellschaft in Erscheinung, die Michels Individualismus bedroht und ihn mitreißt, während er sich 71
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wie Baudelaires Albatros geistig über sie hinweg in ideale Welten erhebt. In einem (auch symbolisch) besonders kalten Winter verarmt Michel, kauft von seinem letzten Geld einen Strauß Veilchen für seine Angebetete, die jedoch verschwunden ist, und endet auf dem Friedhof Père Lachaise, wo er die Blumen noch auf das Grab des romantischen Dichters Lamartine ablegt, bevor er tot in den Schnee sinkt. Der Pariser Prominentenfriedhof wird nicht nur zum Symbol einer vergangenen künstlerischen Hochkultur, sondern zugleich auch zu einer Antwort auf den Schluss von Balzacs Meisterwerk Vater Goriot, in dem der junge Rastignac vom Père Lachaise aus auf die Stadt hinunterblickt und die Herausforderung annimmt, sich dort zu behaupten. Überproduktion, Industrialisierung und Utilitarismus stehen hier einem romantischen Idealismus gegenüber, der zugleich Ausdruck eines Kunstverständnisses ist, das sich gegen die Innovation wendet. Hetzels Reaktion war vernichtend: »Ich sehe nichts, was darin zu loben wäre«, schreibt er Verne Ende 1863, »ehrlich gesagt, gar nichts. … Es würde den Eindruck erwecken, dass der Ballonroman ein glücklicher Zufall war. Ich, der ich den Kapitän Hatteras vorliegen habe, weiß zwar, dass der Zufall vielmehr der missglückte Text ist, aber das Publikum würde es nicht wissen.« Hetzel betont, dass es dabei nicht um ideologische Meinungsverschiedenheiten gehe: »Nichts darin hat meine Vorstellung oder meine Gefühle verletzt. Allein das Literarische verletzt mich – es ist weit unter Ihnen, fast in jeder Zeile. … Sie stecken bis zu den Haaren im Mittelmäßigen.« So manch ein frisch gebackener Autor hätte eine solche Kritik nur schwer verwunden. Verne aber hatte tiefen Respekt vor Hetzels Mentorat, was nicht bedeutete, dass er mit allem einverstanden war oder sich allem fügte. Aber er vertraute dem erfahrenen Verleger voll, und wenn dieser sich so deutlich aussprach, gab es keine weitere Diskussion. Es spricht für das Vertrauensverhältnis und für die konstruktive Einstellung beider, dass die scharfe Kritik von Hetzel in aller Ehrlichkeit ausgesprochen und von Verne souverän angenommen wurde. So hatte sich schon in kurzer Zeit ein freundschaftliches Miteinander entwickelt, das den Ton der frühen Korrespondenz stark prägte. Ver72
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gleicht man Vernes Briefe an Hetzel mit denjenigen an seine Familie oder an seinen Sohn, so sticht der Unterschied sofort ins Auge. Bei diesen spielte er trotz allen Vertrauens immer auch die Rolle des Sohnes oder des Vaters, bei Hetzel aber scheint er ganz bei sich zu sein, er scherzt, ist heiter, spielerisch und nicht selten kokett. Man spürt, dass hier ein Duo am Werk ist, das einer Sache zuarbeitet, der eine als Autor, der andere in Doppelrolle als Mentor und Lektor. Und weil sie sich so nahe stehen, können beide die Rollen auch tauschen. Dann liest Verne Hetzels Manuskripte und macht Anmerkungen, auch wenn sein Ton hier deutlich zurückhaltender ist. Verne war bei Hetzel offenbar an dem Ziel angekommen, das er sich gewünscht hatte. Man spürt förmlich seine Erregung, wenn er Hetzel von seiner Arbeit erzählt und immer wieder auf ihre Freundschaft anspielt. Als Hetzel ihn 1866 bat, mehr Liebesgefühle in die Texte einzubauen, erklärte Verne umständlich, dass er darin sehr ungeschickt sei: »Allein das Wort Liebe zu schreiben, erschreckt mich schon. Ich weiß genau, wie linkisch ich darin bin, ich winde mich hin und her und bringe doch nichts zustande. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, bin ich bei solchen Szenen immer sehr nüchtern. Sie bitten mich darum, beiläufig ein Herzenswort einzustreuen! Mehr nicht! Aber es kommt mir nicht von den Lippen, dieses Herzenswort, sonst stünde es längst da!« Wenn es aber um Hetzel geht, dann kann Verne sich vor Herzensergießungen kaum mehr zurückhalten, dann bittet er ihn ständig um Briefe, nennt ihn »den besten Menschen auf der Welt«, schäkert, dass er »nicht häufig, sondern immer an ihn« denke, oder mag ihn »so wie Sie mich mögen« und ist stets besorgt um dessen Gesundheit: »Ihr letzter Brief ist sehr fröhlich, Sie nennen mich Vernileinchen: das ist doch ein gutes Zeichen. Doch erst, wenn Sie mich ein altes Rindvieh nennen, sind Sie wieder gesund. Ich warte also ungeduldig auf diese herzliche Beleidigung.« Der Umgang mit Hetzel beflügelte Vernes Schaffenskraft, und so legte er 1864 gleich einen weiteren wissenschaftlichen Roman vor, der bis heute als einer seiner bedeutendsten gilt: die Reise zum Mittelpunkt der Erde. 73
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Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864): Auf der Suche nach den Ursprüngen
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n seinem vierten Roman wandte sich Verne erneut einem hochaktuellen Bereich der Forschung zu, der damals noch jungen und viel diskutierten Paläontologie. Die Annahme prähistorischen menschlichen Lebens war eine hochbrisante wissenschaftliche und kulturelle Frage, die das überkommene Welt- und Menschenbild ins Wanken zu bringen vermochte. Denn bisher sah man die Aussagen der Bibel als historische Fakten an und rechnete von der Gegenwart zur Erschaffung der Erde ca. 6 000 Jahre. Wissenschaftliche Theorien wurden daher stets an Aussagen der Bibel abgeglichen. Knochen von Sauriern und anderen ausgestorbenen Tierarten stellten dieses Weltbild nicht zwangsweise in Frage, wenn man wie Georges Cuvier – die Autorität in diesen Fragen in Frankreich – annahm, dass sie aus der Zeit vor der Sintflut stammten und dass diese Arten dabei untergegangen seien, der Mensch hingegen erst nach der Katastrophe geschaffen wurde und daher niemals mit jenen Tieren zusammen gelebt hatte. Doch die Forschungen von Jacques Boucher de Perthes seit Ende der 1820er Jahre bei Ausbaggerungen des Somme-Kanals warfen weitere Fragen auf. Als einer der ersten orientierte er sich zur Datierung seiner Funde an den Erdschichten, in denen sie entdeckt wurden. Mitte der 1840er Jahre stellte er fest, dass sich in »vorsintflutlichen« Schichten menschliches Steinwerkzeug neben Knochen ausgestorbener Tierarten befanden, was darauf hindeutete, dass es einen »vorsintflutlichen« Menschen gegeben hatte. Seine zahlreichen Schriften, in denen er seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen darlegte, stießen lange Zeit allerdings nicht nur auf Ablehnung, sondern auch auf Spott und Verachtung, eine emotionale Reaktion, die wohl darauf zurückzuführen ist, dass die wissenschaftliche Frage hier unmittelbar den christlichen Glauben betraf. Unterstützung erhielt Boucher de Perthes zuerst 1854, als sich sein bisheriger wissenschaftlicher Gegenspieler Marcel Jérôme Rigollot 74
Reise zum Mittelpunkt der Erde
von den Fakten überzeugen ließ und sie öffentlich bestätigte, sowie 1859 weiterhin durch eine Gruppe englischer Forscher, die ebenfalls die Ausgrabungsstätten in Abbeville und Amiens besucht hatten. Jetzt setzte sich auch in Frankreich diese Überzeugung immer weiter durch, und der Geologe Albert Gaudry schloss sich Boucher de Perthes an und schlussfolgerte am 3. Oktober 1859 vor der Akademie der Wissenschaften, dass der Mensch tatsächlich gemeinsam mit dem rhinoceros tichorinus, dem hippopotamos major und dem elephas primigenius gelebt habe und dass der »vorsintflutliche« Mensch eine wissenschaftliche Tatsache sei. Vernes Idee, eine Reise ins Innere der Erde zu schreiben, war damit auch eine Reise zu den Ursprüngen des Menschen, dessen Geschichte die Forscher bei ihrem Weg durch die verschiedenen Erdschichten notwendigerweise zurückverfolgen würden. Abgesehen davon kam noch eine andere offene wissenschaftliche Frage hinzu: nämlich diejenige, wie der Erdkern überhaupt beschaffen sei. Auch wenn die Mehrheit der Wissenschaftler zur Zeit Vernes davon ausging, dass das Erdinnere heiß sei, existierte daneben noch die konkurrierende Annahme, dass es im Inneren einen Hohlraum gebe. Vor diesem zweifach aufgespannten wissenschaftlichen Feld konzipierte Verne seinen Roman, den er von März bis August 1864 verfasste und der am 25. November des Jahres in Hetzels kleinformatiger Reihe erschien, ohne im Magasin oder in einer Zeitung vorabgedruckt zu werden. Aufgrund von neuen Forschungsergebnissen sollte Verne später noch anderthalb Kapitel hinzufügen; die definitive Fassung erschien daher erst 1867, diesmal mit Illustrationen von Édouard Riou. Erneut verzichtete Verne auf französische Figuren und erkor diesmal zwei Hamburger zu seinen Forschern: Geleitet von einem Perga ment in Runenschrift, das sie in einem alten Buch gefunden haben, machen sich der junge Axel und sein schrulliger Onkel Otto Lidenbrock, eine Koryphäe der Mineralogie am Hamburger Johanneum, nach Island auf, um dort in Begleitung des isländischen Führers Hans in den Krater des Vulkans Snäffels hinabzusteigen, der zum Mittelpunkt der Erde führen soll. Axel hätte wohl nicht an 75
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
der Expedition teilgenommen, wenn ihn seine Verlobte Grauben nicht dazu ermuntert hätte. Für einen Mann, so meint sie, gehöre es sich doch, sich einmal im Leben durch eine große Tat auszuzeichnen. Der Abstieg in die Lavakanäle führt sie zunächst durch eine Art Labyrinth, bis sie tief unten einen riesigen Hohlraum betreten, der mit vorsintflutlicher Flora bewachsen ist, deren gigantische Ausmaße sich durch die treibhausähnliche Wärme in der Höhle erklärt. Mit einem Floß überqueren sie ein unterirdisches Meer und stoßen dabei auch auf die vorsintflutliche Fauna. In einer Art Halluzination spielt sich vor Axels Auge die gesamte Erdgeschichte ab, er sieht die Urtiere »aus biblischen Epochen der Schöpfung, lange vor der Geburt des Menschen, als die noch unfertige Erde für ihn unbewohnbar war«. Als sie am Ufer des Meeres landen, stoßen sie auf ein riesiges Knochenfeld und entdecken einen menschlichen Schädel und bestätigen damit die Existenz des vorsintflutlichen Menschen, die so lange bestritten worden war. Es handelt sich bei diesem Abschnitt um den von Verne später eingefügten Teil (und zwar das Ende des 27., sowie das 28. und große Teile des 29. Kapitels), der sich auf Kieferknochenfunde Boucher de Perthes aus dem Jahre 1863 beruft. Obwohl der Paläontologe seine Thesen längst publiziert und bereits 1860 in der Schrift De l’homme antédiluvien et de ses œuvres (Über den vorsintflutlichen Menschen und seine Werke) zusammengefasst hatte, hatte Verne offenbar noch gezögert, die brisante Annahme von der Existenz des vorsintflutlichen Menschen zu übernehmen. Einige Jahre später aber konnte es auch für ihn keine Zweifel mehr daran geben. Allerdings geht Verne sogar noch einen Schritt weiter: Er lässt Axel und seinen Onkel auf einen prähistorischen Menschen treffen, der eine Herde von Mastodonten bewacht. Ist dies einmal imaginiert, rudert Verne aber sofort wieder zurück und lässt es Axel zu einer Täuschung erklären. Diese Stelle ist besonders interessant, weil sie anschaulich macht, wie Verne zwischen Fiktion und Fakten vermittelt. Der Reiz der Fiktion liegt ja gerade in der Imagination des Unmöglichen – das hier übrigens noch durch eine Illustration Rious 76
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mit einem schemenhaft dargestellten »vorsintflutlichen« Menschen sichtbar gemacht wird – während Vernes pädagogisch-instruktiver Auftrag es ihm zugleich verbietet, sich Spekulationen hinzugeben. Als offene literarische Form erlaubt der Roman allerdings beides und kann ebenso leicht dementieren, was er soeben behauptet hatte: »Nein, das ist unmöglich! Unsere Sinne müssen getäuscht worden sein, unsere Augen konnten nicht sehen, was sie zu sehen glaubten! Keine menschliche Kreatur lebt in dieser unterirdischen Welt! Keine Generation der Menschen lebt in den inneren Höhlen des Globus, ohne sich um die Bewohner seiner Oberfläche zu kümmern, ohne mit ihnen zu kommunizieren! Das ist unsinnig, völlig unsinnig!« Als sie schließlich eine Explosion im Inneren der Erde auslösen, werden sie von einem Vulkan auf die Erdoberfläche ausgespien und kommen auf der Insel Stromboli im Mittelmeer wieder ans Tageslicht. Als Helden kehren sie nach Hamburg zurück, wo Axel seine Verlobte Grauben nun heiraten kann. Die Intensität der Darstellung ergibt sich sicherlich auch daraus, dass Verne mit Axel einen Ich-Erzähler kreiert, der voll in das Geschehen verwickelt ist und dessen Emotionen leicht vom Leser geteilt werden können. Diese Erzählperspektive, die sich bestens für Gedankenberichte und Gefühlsdarstellungen eignet, sollte bei Verne allerdings eher eine Ausnahme bleiben und prägte neben Reise zum Mittelpunkt der Erde lediglich noch 20 000 Meilen unter den Meeren, Eine schwimmende Stadt, Die Chancellor, Das Dampfhaus, Der Weg nach Frankreich, Claudius Bombarnac, Die Erfindung des Verderbens, Die Eissphinx, Herr der Welt und Wilhelm Storitz’ Geheimnis. Das klingt zwar auf den ersten Blick gar nicht so mager, wie gerade behauptet, aber vor dem Hintergrund von 64 Romanen bleibt dies nur ein Bruchteil. Zu bedenken ist weiterhin, dass nicht alle Ich-Erzähler Vernes gleich tief in die Handlung integriert sind. In Eine schwimmende Stadt und Das Dampfhaus beispielsweise hat er eher die Rolle eines beteiligten Beobachters. Die Tatsache, dass Verne selbst kein Wissenschaftler war und sich für seine Romane meist in populärwissenschaftlichen Publikationen für ein breites Publikum informierte, hat die Forschung inspiriert, 77
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akribisch nach seinen Quellen zu suchen. Dies erweist sich jedoch als ein weitaus komplexeres Feld, als man annehmen könnte. Denn Verne schreibt nicht einfach ab, weil er wusste, dass seine Origina lität dabei Schaden erleiden könnte. Als er im Januar 1867 im Auftrag Hetzels ein geografisches Sachbuch über Frankreich bearbeitet, das dessen Autor Théodore Lavallée aus gesundheitlichen Gründen nicht fortsetzen konnte, fällt ihm auf, dass der Vorgänger viele Abschnitte aus nur einer Quelle abgeschrieben hatte. Daraufhin versichert er Hetzel: »Ich schreibe überhaupt nicht ab, vielmehr schreibe ich die abgeschriebenen Passagen sogar neu, um der öffentlichen Böswilligkeit keine Angriffsfläche zu bieten.« In seinen Romanen sollte er zudem noch eigene Reisebeobachtungen hinzufügen, denn er hatte sich früh angewöhnt, alle möglichen Eindrücke zu notieren, die einmal literarisch verwertet werden könnten. Vernes Texte sind somit ein komplexes Geflecht aus Beobachtungen und Lektüren und versuchen, sich einer exakten Rückführung auf bestimmte Quellen zu entziehen. Im Falle von der Reise zum Mittelpunkt der Erde lieferte ein Zwischenstopp in Hamburg auf dem Weg nach Skandinavien im Jahre 1861 die Grundlagen für seine Beschreibungen der Stadt. Von den literarischen Vorlagen dürfte Verne die Episode im Erdinneren aus Dumas des Älteren Roman Isaac Laquedem (1852) gekannt haben. Einige frappierende punktuelle Übereinstimmungen gibt es mit George Sands fantastischem Roman Laura. Voyage dans le cristal (Laura. Reise ins Kristall), der im Januar 1864 in der Revue des Deux Mondes erschienen war und von dem jungen deutschen Alexis Hartz und seinem stotternden Onkel Tungstenius, einem Geologen, erzählt. Alexis reist zunächst in Visionen durch die Kristallisationen einer gigantischen Geode, um dann bei einer Reise zum Nordpol durch einen Vulkan in das Innere der Erde hinabzusteigen. Was die geologischen Informationen angeht, so orientierte sich Verne vor allem an dem Werk La Terre avant le déluge (Die Erde vor der Sintflut) von Louis Figuier aus dem Jahre 1863. In Reise zum Mittelpunkt der Erde ist ihm die Verquickung von spannender Handlung, originellen Figuren und wissenschaftlicher 78
Reise zum Mittelpunkt der Erde
Thematik nicht nur besonders gut gelungen, Verne setzt zugleich literarhistorisch ein neues Paradigma um. Denn bisher hatten Erzählungen von Unterweltreisen unter ganz anderen Vorzeichen gestanden. Waren sie in der Antike vor allem Reisen in die Totenwelt gewesen, bei denen mythische Figuren wie Orpheus, Theseus oder Aeneas Kontakt mit Verstorbenen aufnahmen, verstand das christliche Mittelalter die Unterwelt als Ort der Hölle, am eindrücklichsten dargestellt in Dantes Inferno, das Verne allein schon deshalb präsent war, weil sein Vater eine Nachdichtung der berühmten Ugolino-Episode verfasst hatte, die sein Sohn 1852 vergeblich im Musée de familles zu platzieren versuchte. Mit der Aufklärung setzte eine Säkularisierung der Vorstellungen vom Erdinneren ein, eines der ersten Beispiele davon ist Baron von Holbergs Nicolai Klimii iter subterraneum (1741), in dem die Titelfigur in den Hohlraum des Erdinneren eindringt, wo sich weitere »innere« Planeten befinden, die besucht werden. Das Originelle und Innovative Vernes liegt darin, sowohl als erster eine wissenschaftliche Reise in die Unterwelt ohne den traditionell mythischen Gehalt zu schreiben und damit rein naturwissenschaftlich zu begründen, als auch die wissenschaftlichen Informationen so nahtlos in die Handlung einzubauen, dass der Leser sich der instruktiven Absicht nicht bewusst wird. Natürlich unterliegt er im Roman dabei gewissen dramaturgischen Zwängen. Verne informierte sich in dem genannten Werk La Terre avant le déluge von Louis Figuier über die Dinosaurier, wo er lesen konnte, dass diese keine Monster seien, wie vielfach angenommen werde, sondern Vorstufen zu den heutigen Tierwesen. Eine Illustration des Zeichners Édouard Riou zeigt denn auch einen Plesiosaurus und einen Ichtyosaurus relativ friedlich nebeneinander. Im Roman hingegen, der auch von Riou illustriert wurde, werden beide in einem tödlichen Kampf gezeigt. Zwar gab es auch bei Figuier durchaus kämpfende Tiere zu sehen, Vernes Romane leben jedoch davon, die naturwissenschaftlichen Fakten möglichst zu dramatisieren, auch auf die Gefahr hin, diese etwas zu überspannen. Der Dinosaurierkampf veranschaulicht zugleich die Vorreiterrolle Vernes bei der Schaffung populärer Mythen. Es gibt wohl keine aus79
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Dinosaurier aus Figuiers La terre avant le déluge, das Verne als Quelle verwendete
gestorbenen Arten, die imaginär so lebendig geblieben sind wie die Saurier. Die erfolgreiche Jurassic Park-Filmreihe ist dabei nur die Spitze des Eisberges. Unangefochtener König der Saurier in der Populärkultur ist der Tyrannosaurus Rex, der bei Verne nicht auftaucht, was schlichtweg daran liegt, dass er 1864 noch gänzlich unbekannt war und erst 1905 endgültig benannt und beschrieben wurde. Überhaupt fallen die wichtigsten Entdeckungen über die Saurier in die Zeit nach der Publikation des Romans. Dass Verne einen Wissensstand repräsentiert, der schon kurze Zeit danach längst überholt war, tut der Darstellung der Saurier allerdings keinen Abbruch und führt uns zu einem scheinbar paradoxen Phänomen, das Verne allgemein auszeichnet: nämlich dass die Texte weiterhin populär geblieben sind, obwohl ihr Wissensstand – der als eines ihrer Hauptanliegen angepriesen wurde – schon lange überholt ist. Offenbar bieten seine Romane über heute veraltete wissenschaftliche Annahmen hinaus noch etwas, das sie der Zeit gegenüber re80
Reise zum Mittelpunkt der Erde
Dinosaurierkampf aus der Reise zum Mittelpunkt der Erde
sistent macht. In der Forschung hat sich in dieser Hinsicht vor allem eine psychoanalytisch orientierte Richtung für Verne interessiert, die davon ausgeht, dass populäre Literatur über verborgene mythologische Strukturen verfügt, in denen archetypische menschliche Erfahrungen zum Ausdruck kommen. Für Vernes Außergewöhnliche Reisen wird als ein solcher Archetyp die Erfahrung des Reifens und Erwachsenwerdens in der Form einer Initiationstruktur angenommen. Die Initiation wird dabei als persönlicher und sozialer Prozess fokussiert, denn die Rechte des Erwachsenseins werden jemandem nur dann erteilt, wenn die Gesellschaft ihn als solchen anerkennt und er bestimmte Bedingungen erfüllt. Um den Status81
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wechsel vom Noch-nicht-Erwachsenen zum Erwachsenen zu gestalten, haben sich (religions-)historisch bestimmte Riten entwickelt, die unter dem Begriff der Initiation zusammengefasst werden. Grundsätzlich geht es dabei um die (symbolische) Inszenierung einer Prüfung, auf die dann eine symbolische Wiedergeburt der betroffenen Person in ihrem neuen sozialen Status folgt. Als Muster können Reisen angesehen werden, bei denen der Novize, so die Bezeichnung des Anwärters auf den neuen Status, von der Gesellschaft vorübergehend getrennt wird, bestimmte Prüfungen übersteht und schließlich als neuer Mensch in seine Gesellschaft zurückkehrt. Eine solche Initiationsreise kann allein oder in Begleitung eines Mentors vollzogen werden. Unter der Annahme, dass sich solche rituellen Muster auch in den Erzähltraditionen wiederfinden lassen, hat Simone Vierne Anfang der 1970er die Grundstruktur der Initiation auf die Außergewöhnlichen Reisen angewendet und zahlreiche Übereinstimmungen festgestellt. Natürlich sind solche Strukturen prinzipiell jeder Abenteuer- und Reiseerzählung inhärent und lassen sich in dieser Allgemeinheit von der Odyssee bis zum Herrn der Ringe und Harry Potter nachweisen. Bei Verne fällt jedoch auf, wie eng er anhand dieses Grundmusters erzählt. Zwar lassen sich nicht alle Romane darauf zurückführen, die Reise zum Mittelpunkt der Erde jedoch kann als prototypisches Beispiel dafür gelten. Der Novize ist in diesem Falle der Ich-Erzähler Axel, sein Onkel Lidenbrock der Mentor. Auffällig ist, dass Axel wie Frodo Beutlin oder Harry Potter Waise ist und bei seinem Onkel lebt. Waisenkind zu sein, betont die existenzielle Einsamkeit des Novizen, der damit mehr als andere auf sich allein gestellt ist. Der verschwundene Vater taucht im Falle von Axel als symbolischer Übervater Arne Saknussemm wieder auf, dessen Spuren er und Lidenbrock folgen werden. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch, dass der Roman gar nicht so sehr die wissenschaftliche Innovation als vielmehr die exakte Wiederholung der Reise Saknussemms in den Vordergrund stellt. Hinzu kommt, dass Axel selbst gar nicht wirklich an der Reise als wissenschaftlicher Expedition interessiert ist, sondern lediglich 82
Reise zum Mittelpunkt der Erde
nachgibt, als ihm seine heimliche Verlobte Grauben etwas dafür in Aussicht stellt: »›Ach Axel, es ist doch etwas Schönes, sich so der Wissenschaft hinzugeben! Was für ein Ruhm erwartet Herrn Lidenbrock und wird auf seinen Begleiter ausstrahlen! Bei deiner Rückkehr wirst du, Axel, ein Mann sein, ihm ebenbürtig, mit dem Recht zu sprechen, zu handeln und endlich auch zu …‹ Das junge Mädchen wurde rot und brachte den Satz nicht zu Ende. Ihre Worte belebten mich wieder.« Welche Rechte Axel damit versprochen werden, wird ziemlich deutlich: Nur als Mann darf er Grauben heiraten und erhält damit Zugang zur Sexualität. Hierauf verlässt der ermutigte Axel mit seinem Onkel das traute Heim weiblicher Geborgenheit, das unter der Obhut der Haushälterin und guten Köchin Marthe steht, und machen sich auf den Weg nach Island. Der Aufgabe des Mentors entsprechend bereitet Lidenbrock seinen Neffen auf den Abstieg in den Vulkan vor, und zwar indem er mit ihm den korkenzieherförmigen Turm der Erlöserkirche – Vor Frelsers Kirke – in Kopenhagen besteigt, auf dem er seine Schwindelgefühle zu überwinden hat. Turm und Vulkankrater bilden nicht nur einen visuell anschaulichen Kontrast, sondern lassen sich psychoanalytisch auch als Sexualsymbole lesen, welche die Thematik des Erwachsenwerdens unterschwellig vertiefen. Sogar der Moment, an dem sie in den Vulkan hinabsteigen, thematisiert den Übergang, denn es handelt sich um den Tag der Sommersonnenwende. Die vaginale Symbolik der Lavakanäle wird durch eine Illustration Rious besonders anschaulich: Die Forscher stehen am Eingang eines begehbaren ovalen Kanals und leuchten dessen Tiefen aus, die sich im Hintergrund verlieren. Der Text selbst mag in dieser Hinsicht weniger suggestiv sein, die ihn ergänzenden Bilder sind es hingegen allemal. Nun steigen sie hinab und geraten in ein Kanallabyrinth, das Axel vor seine erste Prüfung stellen wird. Er verläuft sich und wird vorü83
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Lavakanäle aus Reise zum Mittelpunkt der Erde assoziieren die symbolische Rückkehr in den Körper der Mutter.
bergehend von seinen Gefährten getrennt. Schließlich stößt er sich beim Herumirren so heftig, dass er die Besinnung verliert, dann aber gerettet wird, als er aus dem symbolischen Tod der Ohnmacht wieder erwacht. Die Gruppe erreicht anschließend ein Binnenmeer, in dem Axel baden geht: »Am nächsten Morgen wachte ich völlig wiederhergestellt auf. Ich dachte, dass ein Bad mir gut tun würde und sprang für einige Minuten in die Fluten dieses Mittelmeers.« Was der Text nur implizit zum Ausdruck bringt, zeigt erneut die dazugehörige Illustration, auf der man Axel aus der Ferne zwischen hohen Felsmauern nackt ins Wasser gehen sieht. Die Nacktheit betont den Moment der Wiedergeburt nach bestandener Prüfung. Dies 84
Reise zum Mittelpunkt der Erde
Axels Bad im unterirdischen Meer veranschaulicht seine symbolische Wiedergeburt (Reise zum Mittelpunkt der Erde).
wiederholt sich schließlich in größerem Maßstab, wenn die Gruppe mit zerrissenen Kleidern vom Vulkan auf Stromboli an die Erdoberfläche katapultiert wird. Durch diese erneute Wiedergeburt wird die Initiation abgeschlossen. Mit der Reise zum Mittelpunkt der Erde hatte Verne in nur zwei Jahren Hetzel bereits seinen dritten wissenschaftlichen Roman vorgelegt. Als 1865 noch zwei weitere, Von der Erde zum Mond und Die Kinder des Kapitän Grant folgten, waren bei dem Verleger die Idee und die Überzeugung gereift, dass Vernes neuartige Romane in einer eigenen Reihe institutionalisiert werden müssten.
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Die Geburt der Außergewöhnlichen Reisen
B
uchreihen dienen der Markenbildung und bringen für Verlag und Autoren einige Vorteile mit sich. Eine Reihe hat einen selbstverstärkenden Effekt, weil jeder neue Band immer auch die vorhergehenden Bände aktualisiert und bewirbt. Ist eine Reihe erst einmal auf eine stattliche Anzahl angewachsen, dann regt sie zudem die Sammellust der Leser an. Mit Reihen kann sich ein Verlag ein Profil geben, weil sie das Gesamtprogramm strukturieren und überschaubarer machen. Aber dafür muss man etwas tun. Gelingen können Reihen nämlich nur, wenn bestimmte Spielregeln eingehalten werden. Denn damit Bücher zu einer Reihe werden, bedarf es eines Reihencharakters, das heißt sie müssen äußerlich ähnlich gestaltet werden, in einem bestimmten Rhythmus erscheinen, sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und inhaltlich einem Programm folgen. 1866 hatte Hetzel sich davon überzeugt, dass er mit Verne diese Bedingungen längerfristig erfüllen konnte. Er täuschte sich nicht, die Außergewöhnlichen Reisen sollten zum Zugpferd und Markenzeichen des Verlags werden und ihn bis zu dessen Verkauf im Jahre 1914 prägen. Zum Aufbau des Reihencharakters diente Hetzel und Verne ein kleines Manifest, das als Vorwort zur Buchausgabe der Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras erschien. Im Sommer 1866 verfasste Verne eine Presseankündigung, die Hetzel zu einem Programm für die geschriebenen und noch zu schreibenden Romane entwickelte: »Die hervorragenden Bücher von Herrn Jules Verne gehören zur kleinen Anzahl derjenigen, die man den künftigen Generationen guten Gewissens anbieten kann. … Was so oft versprochen und so selten gehalten wurde – Bildung, die unterhält, Unterhaltung, die bildet –, Herr Verne schüttet es großzügig mit vollen Händen auf jeder Seite seiner packenden Erzählungen aus. … 86
Die Geburt der Außergewöhnlichen Reisen
Die erschienenen und noch erscheinenden Werke werden somit in ihrer Gesamtheit das Ziel erreichen, das sich der Verfasser gesetzt hat, als er seinem Werk den Untertitel Reisen in die bekannten und unbekannten Welten gab. In der Tat hat er sich vorgenommen, alle geografischen, geologischen, physikalischen, astronomischen Kenntnisse, welche die moderne Wissenschaft angehäuft hat, zusammenzufassen und in der ihm eigenen anziehenden und malerischen Art die Geschichte des Universums neu zu schreiben.« Diese Mischung aus Manifest und Werbetext verspricht dem angezielten bürgerlichen Publikum ein Amalgam aus moderner Bildung und Unterhaltung und reiht sich als hybride Form in die großen enzyklopädischen Projekte des 19. Jahrhunderts ein, sozusagen zwischen Balzacs Menschlicher Komödie und dem Grand Dictionnaire du XIXe siècle von Larousse. Hetzel preist damit eine »nützliche« Literatur an, die einen Zugang zur modernen Welt ermöglichen und Wissen vermitteln soll. Mit der Ankündigung der illustrierten Reihe im Februar 1866 wurde dann der Reihentitel Außergewöhnliche Reisen eingeführt, der sich durchsetzen sollte. In der zeitgenössischen Kunsttheorie stand eine »nützliche« Literatur in scharfer Opposition zum Konzept des »l’art pour l’art« (Kunst um der Kunst willen), das Théophile Gautier bereits 1835 im Vorwort zu seinem Roman Mademoiselle de Maupin proklamiert hatte. 1866, also zeitgleich zur Ankündigung der Außergewöhn lichen Reisen, erschien der erste Band der Anthologie Le Parnasse contemporain (Der zeitgenössische Parnass) mit Gedichten von Lyrikern, die dem Prinzip der reinen Kunstschönheit folgten und Nützlichkeit als unkünstlerisch ablehnten. Damit kam zugleich eine antibürgerliche Einstellung zum Ausdruck, die sich im Zuge der Industrialisierung auch mit einer technophoben Haltung verbinden konnte. Das hielt Théophile Gautier, einen der Köpfe der Gruppe, zwar nicht davon ab, ein begeisterter Leser Vernes zu sein, aber die literarhistorisch wichtige Bewegung des Parnasse, die bedeutende Lyriker wie Charles Baudelaire, Paul Verlaine oder Théodore de Banville zu sich zählte, war nicht der letzte Grund dafür, dass die 87
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Außergewöhnlichen Reisen als didaktische Unterhaltungsliteratur abgestempelt wurden. Vor diesem Hintergrund blieb Verne der Einzug in die offizielle Literaturgeschichte in Frankreich lange verwehrt. Wie wir heute wissen, war Verne allerdings weitaus facettenreicher, und sein Michel Dufrénoy, die Hauptfigur aus Paris im 20. Jahrhundert, verkörpert einen Parnassien geradezu in Reinform. Mit der Deklaration seiner Romane zu einer Reihe war Verne nun klar auf eine Richtung festgelegt. Aber zugleich erlaubten ihm diese Spielregeln auch, ein Riesenwerk aus weit über sechzig Romanen vorzulegen und sein Jahrhundert über vierzig Jahre lang aktiv literarisch zu begleiten. Dabei waren Verleger und Autor so klug gewesen, das Gesamtkonzept eng genug zu formulieren, um die Wiedererkennbarkeit der Texte zu gewährleisten, und zugleich genügend Spielraum zu lassen, um die Kreativität nicht einzuschränken. Denn die Außergewöhnlichen Reisen sind keineswegs eine streng homogene Reihe, sondern vereinen ganz unterschiedliche populäre Gattungen. Neben den bekannten wissenschaftlichen Romanen finden sich darin auch eine Handvoll Robinsonaden sowie historische, utopische und Kriminalromane. Dementsprechend stark empfindet man allerdings auch das Bedürfnis nach Ordnung und Überblick. Aber das ist in Vernes Falle gar nicht so einfach. Eine Periodisierung der Außergewöhnlichen Reisen nach Gattungen scheitert daran, dass er über ein Repertoire an Genres und Referenzen verfügt und dieses in unregelmäßiger Reihenfolge abruft. Hatte er in den 1850er Jahren mit Erzählungen im Stile Coopers begonnen, so sollte er auch später noch darauf rekurrieren und ihm sogar noch in einem seiner letzten Romane, En Magellanie, eine Hommage erweisen. Die ältere Forschung liebäugelte mit der biografisch gefärbten Vorstellung, Vernes Romane seien mit steigendem Alter immer pessimistischer und wissenschaftsskeptischer geworden. Aber diese Annahme hält einer genaueren Betrachtung nicht stand, wie sowohl die frühe Erzählung Meister Zacharius von 1854 als auch der erste wissenschaftliche Roman Fünf Wochen im Ballon zeigen, in dem 88
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Dick Kennedy befürchtet, dass sich die Menschheit irgendwann einmal mit ihrer Technik in die Luft jagen werde. Verne selbst beobachtet Anfang der 1880er Jahre in seinen Werken eine motivliche und erzähltechnische Zäsur. In einem Brief vom 2. Dezember 1883 erklärt er Hetzel, dass er keine Themen mehr habe, »deren Spannung im Außergewöhnlichen liegt, wie Ballon, Kapitän Nemo usw. Ich bin also gezwungen, Spannung über die Kombination zu erzeugen.« Den Prototypen eines solchen »Kombinationsromans« sah Verne in Dumas des Älteren Grafen von MonteChristo, den er zum Vorbild seines Romans Mathias Sandorf machte. Allerdings ist auch die Periodisierung in die zwei Großblöcke Außergewöhnliches vs. Kombination nicht ganz widerspruchsfrei, weil Verne in Robur der Eroberer oder Herr der Welt durchaus wieder zum Außergewöhnlichen durch neue Technik zurückfand. Im Hinblick auf die Popularität lässt sich sagen, dass die Romane, die bis Ende der 1870er Jahre publiziert wurden, mit wenigen Ausnahmen in der Gunst des Publikums weitaus höher standen als die späteren. In 80 Tagen um die Welt und Der Kurier des Zaren wurden nicht zuletzt durch ihren dauerhaften Erfolg als Bühnenversion schnell zu populären Klassikern. Die meisten Titel der Hochphase wurden bis heute kontinuierlich nachgedruckt, spätere hingegen, wie Vernes Hommage an Charles Dickens Der Findling oder Die Propellerinsel fielen heraus und wurden im 20. Jahrhundert erst in den Gesamtausgaben der 1960er Jahre oder in Einzelausgaben Mitte der 1970er wieder zugänglich. Nun könnte man den gemeinsamen Nenner von Vernes wissenschaftlichen Romanen auch einfach in der Wissenschaft selbst suchen. In der Tat gibt es eine Disziplin, die alle Texte miteinander teilen, weil sie durch das Motiv der Reise vorgegeben wird: die Geografie. In einem Brief an seinen jungen italienischen Verehrer Mario Turiello vom 10. April 1895 definierte Verne erneut, das Ziel der Außergewöhnlichen Reisen sei »die Vermittlung der Geografie, die Beschreibung der Erde. Für jedes neue Land musste ich eine neue Handlung erfinden. Die Figuren sind nur zweitrangig, egal was Sie denken.« 89
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Was aber versteht Verne unter Geografie? Angesichts der hohen Dynamik der Raumaufteilungen und Grenzziehungen im 19. Jahrhundert ist dies keineswegs eine banale Frage. Vernes physikalische Vorstellungen vom Raum sind geprägt durch einen dynamischen Prozess im Verhältnis zwischen Land und Meeren. Kristallisationspunkte dieses Prozesses sind die Vulkane, durch deren Aktivität sich die Erdoberfläche ständig verändert. Im engeren Sinne geografisch gesehen, stellte sich die Welt für Verne als ein Nebeneinander von erschlossenen und weniger oder gar nicht erschlossenen Gebieten dar, wobei Letztere im Verschwinden begriffen waren. Als Wissenschaft bestand Geografie demnach vor allem aus der metrischen Erfassung und Beschreibung der Welt. Erzählte schon Vernes erster Roman von einer wissenschaftlichen Erschließung, so folgten weitere Expeditionen, vor allem in die Polargebiete. Ein besonders anschauliches Beispiel ist auch der Roman Abenteuer dreier Russen und dreier Engländer in Südafrika, der von der Vermessung eines Meridians erzählt – aus heutiger Sicht nicht gerade das, was man sich unter einem packenden Abenteuerroman vorstellt, aber zu Vernes Zeiten offenbar eine durchaus interessante Thematik. Die politische Aufteilung der Welt Vernes wiederum zeichnet sich durch eine Spannung zwischen staatlich organisierten Territorien und freien Landstrichen aus. Das Außergewöhnliche seiner Reiseromane liegt unter anderem darin, dass sie vom Übergang von einem zum anderen erzählen. Das kann konkret bedeuten, dass die Figuren sich durch Gebiete bewegen, die noch keine staatliche Zugehörigkeit kennen – Ozeane, Lufträume, Weltraum – oder sich in Räumlichkeiten bewegen, die sich den staatlichen Grenzen tendenziell entziehen, wie in den heute weniger bekannten Flussromanen (Die Jangada, Der stille Orinoko, Le Beau Danube jaune). Das Nebeneinander von menschlich erschlossenen und freien Naturräumen ist dabei weder nostalgisch gefärbt noch von Zivilisationskritik durchdrungen, wie Rousseau sie philosophisch äußert oder Cooper in seinen Lederstrumpf-Erzählungen literarisch umsetzt. Verne hingegen stellt nicht in Frage, ob der Mensch sich die 90
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Erde aneignen und seinen Bedürfnissen anpassen darf, denn letztlich dienen alle wissenschaftlichen Bemühungen genau diesem Zweck. Vernes Figuren verlieren dabei allerdings nie den Respekt vor der Natur und ihrem Schöpfer. Zwar tauchen zentrale christliche Identifikationsfiguren wie Jesus Christus oder Maria bei Verne nicht auf, was zweifellos dem laizistischen Programm Hetzels geschuldet ist, Gott bleibt aber hintergründig präsent. Die leitmotivischen Vulkanaktivitäten, welche die Erde ständig verändern, verweisen ebenso auf ihn wie die Abfolge der Erdzeitalter und die rettenden Eingriffe des Zufalls. Daher ginge es zu weit, das Gottesbild der Romane als deistisch zu verstehen und damit von einem Schöpfergott auszugehen, der die Welt wie ein Uhrwerk aufgezogen hat und sie weitgehend diesem (durchdachten) Mechanismus überlässt. In den Romanen mag Vernes aktiver Gott zwar manchmal etwas implizit bleiben, der Autor selbst hat sich jedoch klar vom Deismus distanziert und ihn als »Religion derjenigen« bezeichnet, »die keine haben« (Stadtbibliothek Amiens, JVMS22). Zivilisatorisch gesehen ist Vernes Welt hierarchisch gegliedert und unterscheidet zwischen zivilisierten Wissenschaftsnationen und nicht-zivilisierten Völkern. Sie sind räumlich klar voneinander getrennt, zum Beispiel durch den Fluss Senegal, den die Ballonfahrer aus Fünf Wochen im Ballon überqueren, um in französisches Gebiet zu kommen. Allerdings können sie überall auftreten und folgen damit keiner systematischen Raumlogik. Auch wenn die europäischen Nationen in einem zivilisatorischen Zusammenhang stehen, ist Europa als Kontinent bei Verne jedoch zweitrangig. Zwar existiert die traditionelle mentale Grenze zum Orient hin, sie ist jedoch kaum mit Bedeutung aufgeladen. Innerhalb Europas strukturiert Verne den Raum einerseits ethnisch nach romanischen, germanischen und slawischen Gebieten, zugleich ist Europa politisch von der Konkurrenz verschiedener Großmächte geprägt, die auf ihre territoriale Expansion drängen. Anders als wir es heute gewöhnt sind, waren diese Großmächte gerade nicht durch ihre europäische Kohäsion gekennzeichnet, sondern agierten als imperial offene Gebilde. An erster Stelle stand hier 91
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Großbritannien mit seiner riesigen Kolonialwelt, danach kam Frankreich und schließlich wäre noch Russland mit seiner Ausdehnung in den asiatischen Raum hinein zu nennen. Vernes Romane inszenieren vor allem diese europafugale Bewegung, die Ausdruck dafür ist, dass die Figuren nicht auf Europa schauen, sondern die Welt als Ganzes in den Blick nehmen. Dementsprechend existiert für Verne auch kein »Westen« als zivilisatorische Einheit. Zwar hegt er eine Faszination für die USA, in seinem Poe-Artikel distanziert er sich jedoch – übrigens genau wie Charles Baudelaire, an dessen biografischen Ausführungen er sich orientiert – deutlich von der angeblich materialistischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten, die damit in einen klaren Gegensatz zum katholischen Frankreich gestellt wird. Ebenso wenig existiert der »Osten« als solcher. An seiner Stelle steht die Großmacht Russland, zu der Frankreich im 19. Jahrhundert ein wechselhaftes Verhältnis unterhielt, das zwischen Faszination und Ablehnung schwankte. Hatte die Despotie von Zar Nikolaus I. dem Ansehen Russlands bereits schwer geschadet, so löste die brutale russische Repression des polnischen Januaraufstands von 1863 durch Exekutionen, Zwangsarbeit und Massendeportationen nach Sibirien in Frankreich Empörung aus und beeinflusste auch Vernes Russlandbild viele Jahre lang. Nach dem Krieg von 1870/71 wurde die Geografie zusätzlich wegen ihrer militärischen Bedeutung aufgewertet. Denn für die beschämende Niederlage hatte man unter anderem die mangelnden geografischen Kenntnisse der Generäle verantwortlich gemacht, die noch 1892 von Zola in Der Zusammenbruch angeprangert wurden. Was Verne unter Geografie versteht, ist somit keineswegs mit unseren heutigen Vorstellungen gleichzusetzen. Bei der allgemeinen Einschätzung der Außergewöhnlichen Reisen hat man allerdings die mehrdeutige Beziehung zwischen Autor Verne und Verleger Hetzel weitaus mehr beachtet, als die geografiehistorischen Rahmen. Nicht selten wurde dabei der Einfluss Hetzels auf Verne beklagt, wenn nicht sogar scharf kritisiert. Aber allein die Tatsache, dass Verne auf die Vorschläge seines Verlegers einging, 92
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sich auch dessen Wertvorstellungen zum Teil aneignete, rechtfertigt noch nicht, von einer Ko-Autorschaft Hetzels oder schlimmer noch von einem Verrat Hetzels an Verne zu sprechen und in Manuskripten und zu Lebzeiten unveröffentlichten Texten den »wahren« Verne finden zu wollen. Als ein zeitgenössischer Kritiker Hetzel zur Hälfte für die Außergewöhnlichen Reisen verantwortlich machte, stellte der Verleger Verne gegenüber in einem Brief vom 30. Dezember 1881 klar, dass er überhaupt nicht in seinen Büchern stecke: »Es gibt keinen anderen [Autor], dem ich mich weniger widmen muss, und die Rolle, die ich bei der Entstehung [der Romane] spiele ist höchstens diejenige einer Hebamme bei der Geburt eines Kindes, des Kindes eines anderen. Nichts anderes ist mir jemals über die Lippen gekommen, das Anlass dazu geben könnte, das Gegenteil zu denken …« Selbst wenn Hetzel hier etwas übertrieben hat, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ist diese Aussage ernst zu nehmen, denn sie veranschaulicht die übliche Arbeit eines Verlegers, wenn er Texte gewissenhaft lektoriert. Daher scheinen mir die vehementen Vorwürfe unbegründet, die Hetzel in der Forschung zum Teil gemacht werden und ihn einen Zensor schimpfen, der verhindert habe, dass sich Verne als Autor frei entwickeln konnte. Wie man die Beziehung der beiden auch immer bewerten mag, eines steht fest: Ohne Hetzel kein Verne und keine Außergewöhnlichen Reisen als Teil der Weltliteratur. Verne wusste seine Überzeugungen sehr wohl zu verteidigen, wenn es ihm wichtig war, wie sich am Beispiel der 20 000 Meilen unter den Meeren noch zeigen wird. Letztlich muss im Einzelfall entschieden werden, wann Hetzels Eingriffe als bedauerliche Verschlechterungen und wann als begrüßenswerte Verbesserungen anzusehen sind. In ästhetisch-erzähltheoretischer Hinsicht zeichnen sich die Außergewöhnlichen Reisen noch über Merkmale aus, die im programmartigen Vorwort zu den Reisen und Abenteuern des Kapitäns Hatteras nur implizit zur Sprache kommen. Vernes Romane gehören literarhistorisch zu den ersten, die sich sowohl an ein erwachsenes als auch an ein jugendliches Publikum wenden. Die Forschung nennt dies Doppeltadressiertheit. Dies war keineswegs bei den anderen so 93
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genannten Jugendautoren seiner Zeit der Fall. Selbst die von Verne in der Kindheit verschlungenen Romane Coopers hatten aufgrund manch brutaler Szene und der spürbaren erotischen Spannung, die Der letzte Mohikaner oder auch Die Prärie auszeichnen, eigentlich ein erwachsenes Publikum im Sinn, was spätere Herausgeber natürlich nicht davon abhielt, sie durch Kürzungen und Änderungen auf ein jugendliches Lesepublikum zuzuschneiden. In der Korrespondenz zwischen Autor und Verleger wird diese Doppeltadressiertheit immer wieder thematisiert. Am 26. Mai 1870 erinnert Hetzel Verne daran, dass es »notwendig ist, dass Ihre Bücher fast allen Altern ohne Bedenken anvertraut werden können«. In diesem Sinne schrieb auch Hetzels Sohn Louis-Jules an Michel Verne am 15. Dezember 1906, Verne habe gewollt, »dass seine Bücher, die für Erwachsene geschrieben waren, von der Jugend gelesen wurden … und auch von den zimperlichsten Eltern vertrauensvoll in Kinderhände gelegt werden konnten. Das ist ihm gelungen. Heute aber ist diese Formel bekannt und wird von allen angewendet, die seinen Platz einnehmen wollen.« Dies bedeutete konkret, schreibt er am 2. Januar 1907, dass »die Grundthematik Erwachsene interessieren soll, Form und Darstellung jedoch seinem treuen jungen Publikum die Lektüre erlauben müssen.« Heutzutage ist die Doppelt adressiertheit ein gängiges Merkmal von Kinder- und Jugendliteratur geworden, ohne das der überwältigende Erfolg von Der Herr der Ringe oder Harry Potter gar nicht zu erklären wäre. Ein weiteres Merkmal der Außergewöhnlichen Reisen ist die besondere Rolle der Wirkungsästhetik, die Verne an Edgar Allan Poes Erzählungen so fasziniert hatte. Auch Verne sollte sie sich aneignen und daraus ein Grundprinzip seiner Romankonzeption machen. Sie machte einen guten Teil des Lesevergnügens aus, und der Hartleben Verlag, der Verne im deutschsprachigen Raum vertrieb, warb damit, dass Vernes naturwissenschaftliche Romane »an Spannung, an Scenenwechsel, an Lebendigkeit Alles übertreffen, was die Literatur auf diesem Gebiete bisher aufzuweisen hatte« (Leipziger Illustrirte Zeitung vom 6. Dezember 1873).
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Auch in dieser Hinsicht arbeiteten Verne und Hetzel eng zusammen. An erster Stelle steht für Hetzel das, was im 19. Jahrhundert im Französischen als intérêt bezeichnet wurde, aber nicht einfach nur »Interesse« bedeutet, sondern eigentlich dasjenige meint, was wir heute »Spannung« nennen. »Der Roman ist spannend, das ist das Wichtigste …«, formuliert Hetzel am 28. Februar 1877 apodiktisch und revidiert dementsprechend Handlungsführung und Figurendarstellung, wenn es seiner Meinung nach angezeigt ist. An Robur der Eroberer etwa vermisst er am 29. Mai 1885 den globalen Spannungsbogen: »Kurz gesagt – Ihr Buch ist fertig, aber es setzt sich wie aus einzelnen Rosenkranzperlen zusammen, durch die als Faden ein Spannungsbogen gezogen werden muss, den Sie fast gänzlich neu zu schaffen haben, denn bisher fehlt er noch.« Selbst die pädagogisch so wichtige Geografie wird nach Spannungsanlässen beurteilt. Wenn eine Region nicht genug Gefahren liefert, dann eignet sie sich eben nicht als Handlungsort eines Romans, wie Verne im Februar 1877 erläutert: »Ich stecke mitten im Helden von 15 Jahren. Nachdem ich das Land des Amazonas (Südamerika), wohin ich die Handlung verlegen wollte, gründlich studiert habe, verzichte ich darauf. Es würde mir nicht genügend Schwierigkeiten bieten. Es ist zu dicht von Missionaren bevölkert. Ich kehre nach Afrika zurück, in den Teil, den ich noch nicht erforscht habe …« Wenn Spannung so wichtig ist, dann stellt sich die Frage, wodurch sie eigentlich generiert wird. Im Deutschen wird der Begriff Spannung eher als ein ungenauer Oberbegriff verwendet, der ganz unterschiedliche Wirkungen bezeichnet. Insgesamt lassen sich vor allem vier Formen beschreiben, die Leser allgemein als spannend wahrnehmen: eine Geheimnisspannung, die eine Wissenslücke inszeniert und damit kognitive Prozesse auslöst, also Versuche des Lesers, die Leerstellen über gedankliche Anstrengungen zu schließen, was das Hauptvergnügen bei der Lektüre von Detektivgeschichten ausmacht. Weiterhin eine Gefahrenspannung, die konkrete Bedrohungen von sympathischen Figuren darstellt und dementsprechend eher emotionale Reaktionen der Sorge um deren Schicksal auslöst. Geheim95
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nisse und Gefahren können auch verbunden werden, wenn Bedrohungen insinuiert werden, deren Ursache nicht ganz geklärt ist, was sich häufig in der fantastischen Literatur findet. Und schließlich werden auch Überraschungseffekte als anregend und packend empfunden, die darauf basieren, dass der Leser plötzlich neu- oder uminformiert und die Situation umgekehrt wird. Diese Spannungsformen ergänzen sich und werden in der Regel miteinander verbunden. Die Spannung eines Romans ergibt sich also aus ihrem geschickten Zusammenspiel. Verne setzt dies ganz kalkuliert ein und beschreibt seine Erzähltechnik über eine musikalische Metapher: dem Crescendo, also der langsamen Steigerung. Das Ziel ist dabei, den Leser zu verführen, wie er in einem Kommentar zur Geheimnisvollen Insel Hetzel gegenüber am 2. Februar 1873 etwas schlüpfrig anmerkt: »Mit größter Sorgfalt schone ich die Spannung um den unbekannten Aufenthalt Kapitän Nemos auf der Insel, um ein gelungenes Crescendo zu erreichen, wie bei den Zärtlichkeiten einer hübschen Frau gegenüber, die man Sie wissen schon wohin führen möchte!« Bestimmte Erzähleffekte müssen demnach so über einen Text verteilt werden, dass sie eine Steigerung ergeben und mit einem Höhepunkt enden. Vernes Crescendo zeigt sich darin, dass er Spannungsmotive staffelt, Erwartungen auslöst und eventuell mit einem Überraschungseffekt abschließt. Ein solches Crescendo macht eine kalkulierte Planung und langfristige Vorbereitung notwendig und sagt auch etwas über das Temperament des Autors aus. Während Verne offenbar ziemlich rational seine Effekte abwog, schrieb sein deutscher Abenteuerkollege Karl May hingegen viel impulsiver und blockartiger und kann gerade deshalb keine mit Verne vergleichbaren finalen Knalleffekte wie in In 80 Tagen um die Welt oder Der Kurier des Zaren erzielen. Aus kulturhistorischer Sicht scheint Vernes Spannungskonzept aber auch eng mit dem wissenschaftlichen Weltbild verwoben zu sein. Denn in den wissenschaftlichen Romanen werden für frz. danger ›Gefahr‹ häufig als Synonyme difficulté ›Schwierigkeit‹ und obs tacle ›Hindernis‹ verwendet. Sie lassen die Gefahren weniger als 96
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existenzielle Bedrohung denn als Herausforderung auf dem Weg der Figuren erscheinen. Vor dem Hintergrund eines größeren wissenschaftlichen Zieles werden sie dabei zu unvermeidlichen Etappen, signalisieren aber gerade dadurch die Machbarkeit eines Projekts. Denn wenn ein Vorhaben »lediglich sehr gefährlich« ist, dann ist es »durchführbar«, wie es einmal in Die geheimnisvolle Insel heißt. Wissenschaft ist somit eng an Gefahren gebunden. Gefahreninszenierung wird dadurch zur Form, über die das Fortschrittsdenken und das Begreifen und Ergreifen der Welt zum Ausdruck kommen. In der Bewältigung der Gefahren werden neue Bereiche erobert und Wissen geschaffen. Spannung und Crescendo der wissenschaftlichen Romane Jules Vernes sind also nicht nur eine Erzähltechnik, sondern zugleich auch eine symbolisch-mythische Form von Fortschritt und Erkenntnis selbst. Sind die Außergewöhnlichen Reisen damit per se Ausdruck neuer Mythologien, so zeigt sich dies besonders an Vernes kulturhistorisch vielleicht bedeutendstem Roman: 20 000 Meilen unter den Meeren.
20 000 Meilen unter den Meeren (1869/70): Bootsbesitzer und Erfolgsautor
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ie Jahre zwischen 1863 und Mitte der 1870er Jahre gehörten wohl zu den glücklichsten in Vernes Leben. Ideen und Projekte sprudelten, er hatte effiziente Arbeitsmethoden entwickelt, war fleißig und kam zügig vorwärts. Selten hat er mit einer solchen Freude an einem Roman geschrieben wie an den 20 000 Meilen unter den Meeren. Ein Grund dafür dürften neben seiner Liebe zur See die besonderen Entstehungsbedingungen gewesen sein, die ihn zwar mehrmals von der Arbeit abhielten, ihm aber dadurch auch die Zeit verschafften, das Projekt in sich reifen zu lassen, um es dann mit besonderer Freude anzugehen. Der Anstoß zu dem Roman ging diesmal aber gar nicht von Verne selbst aus, sondern von der Schriftstellerkollegin George Sand, die 97
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sich in einem Brief vom 25. Juli 1865 bei ihm dafür bedankte, dass seine Romane ihr in schweren Stunden eine wohltuende Ablenkung geschenkt hätten. Dann fügte sie hinzu: »Ich hoffe, Sie werden uns bald in die Tiefe der Meere führen und Ihre Figuren in jenen Tauchapparaten reisen lassen, die Ihr Wissen und Ihre Fantasie wohl vervollkommnen können.« Im August 1866 erwähnt er Hetzel gegenüber erstmals, dass er mithilfe seines Bruders Paul, der bis 1857 Marineoffizier gewesen war, an den Vorarbeiten einer Reise unter den Wassern sitze. Verne war gleich ganz eingenommen von dem Sujet, das ihm auch während der laufenden Arbeit an den Kindern des Kapitän Grant nicht mehr aus dem Kopf ging. Aber das Jahr 1867 sollte ihm zunächst nur wenig Zeit dafür lassen, weil er im Auftrag Hetzels das Nachschlagewerk Géographie de la France et de ses colonies von Théodore Lavallée abschließen sollte. Finanziell war das Zusatzeinkommen reizvoll, aber darin steckte auch eine wahre Knochenarbeit, und Verne stöhnte nicht wenig. Abwechslung verschaffte er sich vom 17. März bis 29. April 1867 durch eine Amerika-Reise mit seinem Bruder Paul. Den Atlantik überquerten sie in zwei Wochen auf dem monumentalen Passagierschiff Great Eastern, woraus Verne mit Eine schwimmende Stadt gleich einen weiteren Roman machte, der dem Vergleich zur Unterwasserreise, die er danach in Angriff nahm, jedoch nicht stand halten sollte. Der Aufenthalt in den USA war insgesamt zwar kurz, reichte aber aus, um neben New York, wo sie wie Prof. Aronnax und Conseil im Hotel Fifth Avenue abstiegen, auch noch die Niagarafälle zu besuchen. Wieder zurück in Frankreich bot sich ihm gleich eine weitere, in diesem Falle besonders wichtige Inspirationsquelle für die 20 000 Meilen: die zweite Pariser Weltausstellung, die am 1. April 1867 begonnen hatte. Die grandiose internationale Schau, auf der das Zweite Kaiserreich die Hauptrolle spielte, bot eine ganze Reihe von Exponaten, die in Vernes Unterwasserreise Eingang finden sollten. Er sah die von Denayrouze und Rouquayrol entwickelten Taucheranzüge, die einen Meilenstein in der Geschichte der Tauchtechnik markier98
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ten, und ein Modell des Unterseeboots Le Plongeur. Was die visuellen Eindrücke und die damit verbundene Stimmung einer Unterwasserreise angeht, dürften jedoch die beiden riesigen Aquarien der Weltausstellung noch wichtiger gewesen sein als die technischen Instrumente. Zwei grottenartige Rundbauten, jeweils eines für die Süßund eines für die Salzwasserfauna, umgaben den Betrachter mit ihren Schaufenstern, ermöglichten es ihm, die Tiere aus unterschiedlichen Perspektiven zu beobachten, und vermittelten ihm das Gefühl, auf dem Wassergrund zu stehen. Die »theaterhafte innere Anordnung« war ein wahres »Fest der Augen«, wie H. de la Blanchère, einer der zeitgenössischen Kommentatoren, es ausdrückte. Trotz der hohen anderweitigen Arbeitsbelastung ließ Verne das Thema nicht los, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Ideen schon jetzt mit Hetzel zu besprechen. Unter dem Ein-
Die Aquarien der Weltausstellung von 1867 erweckten beim Betrachter den Eindruck, auf dem Meeresgrund zu stehen.
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druck der grausamen Unterdrückung des polnischen Januaraufstands von 1863 durch Zar Alexander II. wollte Verne aus Kapitän Nemo zunächst einen Polen machen, dessen Frau von Russen ermordet und dessen Kinder nach Sibirien verschickt worden waren und der deshalb einen unbarmherzigen Rachefeldzug gegen das Russische Reich führte und dessen Schiffe versenkte. Hetzel war doppelt entsetzt, einmal wegen des barbarischen Aktes selbst, aber weiterhin auch, weil das Zarenreich einer der wichtigsten Abnehmer des Magasins war und der Roman in dieser Form niemals die scharfe zaristische Zensur passiert hätte. So blieb Nemos Identität zunächst in der Schwebe. Im Frühling 1868 kam ein weiterer Umstand hinzu, der Vernes kreatives Arbeiten förderte: sein erstes Segelboot, die Saint-Michel, lief vom Stapel und erlaubte ihm, von Le Crotoy aus in Begleitung von erfahrenen Seeleuten mehrere Ausflüge an der Küste entlang zu machen und bis nach Großbritannien hinüberzufahren. Nachdem er am 28. März 1868 endlich das geografische Nachschlagewerk beendet hatte, stürzte er sich in die Arbeit an dem neuen Roman und verfasste große Teile davon auf seinem Boot. Ganz überschwänglich schrieb er Hetzel am 14. Juni 1868: »Ach, mein Lieber, was für ein Buch, wenn es mir gelingen sollte! Auf was für schöne Dinge ich auf dem Meer an Bord der Saint-Michel gekommen bin!« Auf seine erste Saint-Michel sollten noch zwei weitere folgen, die größte darunter die dritte, eine Dampfjacht mit zwei Masten, die er 1878 für 55 000 Francs (ca. 180 000 €) erwarb und die zu ihrem Betrieb zehn Mann Personal benötigte. Seine letzte Kreuzfahrt machte Verne im Sommer 1884, als er nach Stationen in Algier sich auch in Rom aufhielt, wo er eine Privataudienz bei Papst Leo XIII. erhielt. Auch wenn die Saint-Michel III das luxuriöseste Schiff war, hatte er die meisten Fahrten doch mit der ersten unternommen. Am Beispiel von 20 000 Meilen unter den Meeren zeigt sich, dass Verne in den Diskussionen mit Hetzel keineswegs das Ruder aus der Hand gab, wenn er von einer Sache überzeugt war. Hetzels Vorschläge, den Roman auf drei Bände auszuweiten und ihn durch weitere Episoden zu strecken – er dachte an einen gescheiterten 100
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Fluchtversuch Ned Lands oder die Befreiung chinesischer Kinder aus der Gewalt von Piraten – lehnte Verne kategorisch ab. Die interessanteste Debatte entzündete sich jedoch um den schillernden Unterwasserkapitän Nemo, den genialen Ingenieur, der der ganzen Welt den Rücken gekehrt hat und in dem technischen Meisterwerk seines luxuriösen U-Bootes allein mit seiner Mannschaft in den Weltmeeren umherfährt und die Kontinente nicht mehr betreten will, was »dem Werk ein starkes Profil verleihen wird«, so Verne. Hetzel kam daraufhin mit der Idee, Nemo als Kämpfer gegen den Sklavenhandel auftreten zu lassen, um sein selbstgewähltes Exil zu begründen. Verne hielt dagegen, dass dies ein Anachronismus sei, da der Sklavenhandel abgeschafft wurde, daher sollten besser, schrieb er am 17. Mai 1869, »sowohl seine Nationalität als auch seine Person unbestimmt bleiben, ebenso wie die Gründe, die ihn zu dieser merkwürdigen Lebensweise getrieben haben.« Und was den brutalen Angriff Nemos auf ein unbekanntes Schiff anginge, so könne »der Leser vermuten, was er wolle, je nach Temperament … Ich will nicht politisch werden, dazu bin ich nicht geeignet, und Politik hat darin nichts zu suchen. … Daher soll das Geheimnis, das ewige Geheimnis die Nautilus und seinen Kommandanten umgeben!« Die zeitlose Wirkung dieser Figur ist sicherlich nicht zuletzt eben darauf zurückzuführen, dass ihre mysteriösen Hintergründe von den Lesern immer wieder neu mit eigener Fantasie ausgeschmückt werden können. Nach Arbeitstiteln wie Reise unter den Wassern oder 25 000 Meilen unter den Meeren blieb es schließlich bei 20 000 Meilen unter den Meeren, ein Titel, der im Deutschen eine Erklärung benötigt. Denn landläufig wird er oft dahingehend missverstanden, dass sich die Zahl auf die Tauchtiefe beziehe. Es ist jedoch die Strecke gemeint, die unter Wasser zurückgelegt wird. Die Meile (frz. lieue) bezeichnet die lieue nouvelle, also die neue Meile, die mit dem metrischen System ab 1840 verbindlich wurde und vier Kilometern entspricht. Zwanzigtausend Meilen ergeben also achtzigtausend Kilometer und umfassen damit zweimal den Erdumfang am Äquator. In kaum einem anderen Roman hat Verne die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts so prägnant eingefangen wie hier. Gleich zu Beginn 101
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der Handlung thematisiert er die neue Rolle der Öffentlichkeit als Ort der Debatte, zu dem die Presse als Massenmedium seit den 1830er Jahren geworden war. Die Diskussion um unerklärliche Schiffsunfälle löst eine Kontroverse darüber aus, ob ein Meerestier ungeahnten Ausmaßes verantwortlich dafür sei. Auch der Ich-Erzähler Professor Pierre Aronnax, ein französischer Ozeanologe, der sich zufällig in New York befindet, geht davon aus, dass es sich hierbei um ein riesiges Säugetier handeln müsse. Die meisten Leser ahnen jedoch bereits, dass das Seemonster nichts anderes als das Unterseeboot Nautilus ist, das Aronnax später als einen »großen Fisch aus Stahl« beschreiben wird. Eine solche Ambiguität zwischen Tier und Maschine ist kein Einzelfall in Vernes Werk. In Das Dampfhaus beispielsweise hat ein englischer Ingenieur ein mit Dampf betriebenes Stahlgefährt in Form eines Elefanten konstruiert, das seinem tierischen Vorbild zum Verwechseln ähnlich sieht. Liegt in dieser morphologischen Doppeldeutigkeit lediglich ein Mittel, um den Leser in eine gespannte Ungewissheit zu versetzen oder drückt sich darin nicht auch ein kulturhistorisch bedeutender Übergang aus? Ist es mit der Nautilus nicht einem Menschen gelungen, eine Art hohlen Walfisch zu bauen, der es ihm erlaubt, unter Wasser zu leben und seinen eigenen Lebensraum damit auszuweiten? Die Technik orientiert sich an den Formen der Tiere und zeigt an, dass der Mensch des 19. Jahrhunderts sich von ihnen unabhängig macht, weil er sie künstlich erschaffen kann. Offensichtlich wurde dies am Beispiel des Pferds, dessen Kraft zunächst von der Eisenbahn und schließlich vom Automobil ersetzt wurde. In der Form der Nautilus thematisiert Verne somit auch das Ende einer Epoche in Europa, die man nie als solche angesehen hat: das Ende des Tierzeitalters, das Ende der Ära also, in der sich der Mensch die Tierkraft zunutze machte. Als historische Epoche mag das Tierzeitalter zwar nur wenig taugen, weil es als Periode nicht kompakt genug sein dürfte, seine kulturellen Auswirkungen auf den Alltag hingegen waren jedoch zweifellos enorm.
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Mit der Übernahme der Tierformen dringt der Mensch zugleich auch in neue Lebensbereiche vor. Um sich in ihnen zu bewegen, ist er jedoch gezwungen, diese technisch zu kontrollieren, und dies tut er über ständige Berechnungen. Nur die pausenlose Messung von Luftdruck, Luftfeuchtigkeit, Himmelsrichtungen, Sonnenstand, Außendruck, Innen- und Außentemperatur und vielem mehr ermöglicht das Überleben in den technisch eroberten Räumen. Die Erfahrung der neuen Welt verläuft daher weitgehend über Zahlen. Schon der Titel des Romans verweist auf die zentrale Bedeutung der Zahl und der Berechnung für das technische Zeitalter. Im Roman wird dies zusätzlich noch durch eine Illustration hervorgehoben, auf der Nemo Aronnax seine Messinstrumente erläutert. Mögen sie für
Die hochmodernen Messgeräte der Nautilus
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uns heute zwar eher nach einer Antiquitätensammlung aussehen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für den Leser des 19. Jahrhunderts hochmoderne Technik darstellten. Die Expansion des menschlichen Lebensraums auf die Unterwasserwelt erscheint im Roman zwar als eine individuelle Entscheidung Nemos, aber sie thematisiert hintergründig auch allgemeine Ängste vor Ressourcenverlusten. Bei der Führung durch die Nautilus und dem gemeinsamen Abendessen erläutert Nemo dem staunenden Aronnax, wie er quasi alle Produkte des Festlands auch aus den Erzeugnissen des Meeres herstellen kann: Das Fleisch auf dem Teller ist eigentlich Schildkrötenfilet; was wie Schweineragout aussieht, erweist sich als Delfinleber; Zucker kann aus Nordseealgen gewonnen werden, Marmelade aus Anemonen, der Nachtisch aus Walfischmilch, und anschließend gönnt man sich eine Zigarre aus Algen tabak. Sein Erfindungsreichtum macht Nemo autark und führt zugleich vor, dass das Meer die Versorgungsprobleme der Welt lösen könnte. Auf der Weltausstellung 1867 hatte der Journalist Edmond About beim Betrachten der oben erwähnten Aquarien von der Fruchtbarkeit des Meeres geschwärmt, auf das der Mensch vielleicht bald schon zurückgreifen müsse, wenn er die Möglichkeiten des Erdbodens erschöpft habe. Dann, so schreibt About, »werden wir das Meer kultivieren und in seinem Schoß die Lösung zu dem furchtbaren Problem finden.« Solche Versorgungsängste waren parallel zum enormen Verbrauch entstanden, den die Industrialisierung mit sich brachte. Jules Verne hat ihnen wenige Jahre später 1877 mit SchwarzIndien sogar einen eigenen Roman gewidmet, dessen Handlung in einer schottischen Kohlemine spielt, die aufgrund eines hastigen Abbaus als ausgebeutet gilt. Zwar ist die weltweite Kohleversorgung insgesamt vorerst noch gesichert, aber Vernes Erzähler weiß, dass »das millionenköpfige Monster der Industrie« irgendwann das letzte Stück Kohle verschlungen haben wird. Selbst die Nautilus ist von der Kohle abhängig, aus der Nemo die Elektrizität produziert, die sie antreibt. Aber auch in dieser Hinsicht versorgt ihn das Meer, denn dort haben sich in Urzeiten versunkene Wälder in Kohle und damit 104
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in unerschöpfliche Bergwerke verwandelt, die er nur auszubeuten braucht. Mit der neuen Mobilität und dem Eindringen in unbekannte Räume verändert sich zugleich auch die Wahrnehmung der Welt. Es zeichnet Verne diesbezüglich aus, dass er ein spezifisches Dispositiv des Sehens inszeniert, das ich als »bürgerliches Sehen« bezeichnen möchte. Es leitet im 19. Jahrhundert eine epochale Veränderung ein, schlägt sich in zahlreichen Kontexten nieder und hat sich bis heute nicht grundlegend verändert. Dieses bürgerliche Sehen verbindet die Schaulust am Exotischen mit dem Blick vom Sofa aus. Sein Reiz ergibt sich aus der scheinbar widersprüchlichen Spannung, sich in ferne, verunsichernde und potenziell gefährliche Welten zu begeben, ohne das traute Heim zu verlassen. Dieses Dispositiv kommt überall dort zum Ausdruck, wo bürgerlicher Komfort mit dem Blick nach draußen verbunden wird. Der wichtigste Raum dieses bürgerlichen Sehens war die Stadt, wo es sich auf vielfältige Weise entwickeln sollte. Es äußert sich strukturell in der Entstehung der Museen, allen voran des Louvre, der nach der Revolution zum öffentlichen Raum wird und Bilder zum nationalen Erinnerungsort und Identifikationsgegenstand machte. Damit eng verbunden ist der große Erfolg der Pariser Salons als Ausstellungen und Wettbewerbe zeitgenössischer Malerei. Die Romantik wiederum erweiterte deutlich die Sujets. Meisterwerke wie Géricaults Floß der Medusa von 1819 oder Delacroix’ Tod des Sardanapal von 1827 lassen den Betrachter an schaurigen Ereignissen teilhaben: das erste eine historisch bezeugte Katastrophe mit grauenhaften Szenen vom Tod, das andere legendär, aber nicht weniger schaurig im kollektiven Mord und Selbstmord von Sardanapals Hofgesinde, wobei der König selbst gleichgültig auf seinem Bett ruht, während um ihn herum die Welt zusammenbricht. Zwar war auch ältere Malerei nicht arm an schaurigen Stoffen gewesen, jetzt aber werden die Stoffe realistischer, historischer und zugleich populärer. Auch Verne hat sich an der romantischen Erneuerung der Stoffe inspiriert und seinen Schiffbruchsroman Der Chancellor von 1875 in einem Brief an Hetzel mit Géricaults Gemälde verglichen. 105
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Das bürgerliche Sehen äußerte sich ebenso in der Rekonstruktion und damit der Domestizierung der Wildnis im Stadtraum. Der zur Weltausstellung 1867 eingeweihte Pariser Parc des Buttes Chaumont etwa bot eine Art begehbare Wildnis, in der sich die Bürger zur Erholung einen Wasserfall und Felsen ansehen konnten. Im letzten Drittel des Jahrhunderts schließlich triumphierten in den Großstädten die Tierparks, in denen Bürger aus sicherer Entfernung Raub- und Wildtiere beobachten konnten, ohne sich den Gefahren von Dschungel oder Savanne auszusetzen. Das konzentrierteste Bild dieses Dispositivs jedoch ist der Salon der Nautilus mit seinen Sichtfenstern, die das Meer, so Aronnax, in ein »riesiges Aquarium« verwandeln. Nach der Enge der Ballongondel aus Fünf Wochen im Ballon und des Projektils aus Von der Erde zum Mond erreichen Eleganz und Komfort bürgerlicher Inneneinrichtung in der Nautilus ihren Höhepunkt. Einer Theorie des deutschen Naturforschers Christian Gottfried Ehrenberg zufolge leuchtete das Meer durch die Tätigkeit von Kleinstorganismen. Verne nutzt diese Annahme, um ein überwältigendes visuelles Schauspiel zu inszenieren, bei dem sich Aronnax und seine Begleiter aus der Dunkelheit des Salons vom phosphoreszierenden Eigenleuchten des Wassers verzaubern lassen und sprachlos die Lebewesen der Tiefe betrachten. Wenn Verne seinem Ich-Erzähler dann noch in den Mund legt, dass sie sich im Salon der Nautilus wie »im Waggon eines Schnellzuges« vorkamen, gibt er eine weitere Quelle des neuen Sehens preis, deren Bedeutung für die Kulturgeschichte bereits erkannt wurde: der Blick aus dem Zugfenster, der das filmische Sehen präfiguriert. Aber Vernes herausragendes Einfühlungsvermögen in seine Zeit erlaubt ihm, noch einen Schritt weiterzugehen. Die Nautilus taucht sechzehntausend Meter ab und erreicht damit eine Tiefe, in die noch kein Mensch zuvor einen Blick werfen konnte. Hier gibt es kein Leben mehr, aber dafür, wie Aronnax meint, großartige Felsen aus der Entstehungszeit der Erde. Daraufhin fragt Nemo den Professor, ob er mehr von diesem Moment mitnehmen wolle als die bloße Erinnerung daran. Aronnax versteht nicht, was er damit meint. Der Kapi106
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Der Blick aus dem Salon der Nautilus verwandelt das Meer in ein großes Aquarium.
tän holt eine Kamera hervor, die Nautilus hält an, ihre Scheinwerfer lassen die Unterwasserwelt glasklar aufscheinen, das Objektiv wird auf die Fenster gerichtet, und schon in wenigen Sekunden haben sie ein Negativ »von höchster Schärfe« gemacht. Erfüllte der Blick durch das Sichtfenster aus dem dunklen Salon an sich schon die Bedingungen des späteren filmischen Sehens, so hat Verne mit der Präsenz der Kamera eine Anordnung des Sehens vorweggenommen, die auf den Kinosaal und angesichts der bürgerlichen Gemütlichkeit im Salon der Nautilus auch auf das zukünftige Fernsehschauen vorausweist. Signifikanterweise gilt dies weniger für die Illustrationen, auch wenn dies aufgrund ihrer Visualität vielleicht überraschen mag. Aber die Bilder ähneln in Format und Komposition eher Gemälden, und die 107
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oft ausladenden Gesten und pathetischen Posen der Figuren verweisen deutlich auf den Stil des Theater- und Opernschauspiels. Film und Fernsehen, die das bürgerliche Sehen der Zukunft gestalten werden, sind bei Verne vor allem in der Anordnung des Sehens enthalten. Als sei es noch nicht genug, dass Verne in den 20 000 Meilen unter den Meeren auf einzigartige Art und Weise neue Dispositionen der visuellen Wahrnehmung ebenso prägnant wie poetisch abbildet, so verweist der Roman noch auf eine weitere anhaltende kulturhistorische Verschiebung durch Wissenschaft und Technik. Sie bezieht sich auf das Verhältnis des 19. Jahrhunderts zur klassischen Mythologie. Hatte eine Funktion der Mythen darin gelegen, Naturphänomene zu erklären, so bot nun die Wissenschaft überzeugendere Aussagen über die Natur von Feuer, Blitzen, Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Landschaftsformationen an. Im Zeitalter von Auguste Comtes DreiStadien-Gesetz war der antike Polytheismus zu einer geistigen Vorstufe auf dem Weg zum wissenschaftlichen Weltbild hin erklärt worden. Längst waren auch Stimmen laut geworden, welche die klassische Mythologie als Bildungsgut für unzeitgemäß erklärten. Nach Vorpublikationen in der Revue de Paris hatte Maxime du Camp 1855 im Vorwort zu seinen Chants mondernes (Modernen Gesängen) wortgewaltig und vehement gefordert, dass die Dichter endlich damit aufhören sollten, nur die Tradition zu bedienen, um sich der Gegenwart anzunehmen: »Man entdeckt die Dampfkraft, wir aber besingen Venus, die Schaumgeborene; man entdeckt die Elektrizität, wir aber besingen Bacchus, den Freund der roten Traube. Das ist absurd!« Die Außergewöhnlichen Reisen können als wirkmächtige Antwort auf diese Forderung angesehen werden. Verne hat der Literatur neue Themen sowie neue geografische und poetische Räume erschlossen. Maschinen lösen bei ihm nicht nur Verblüffung aus, sondern können auch durch ihre Schönheit beeindrucken und machen den Ingenieur zum »Künstler, zum Dichter in Eisen und Stahl«, wie es einmal in Das Dampfhaus heißt. Es ist allerdings charakteristisch für Verne, dass er den Bruch mit den klassischen Themen nicht radikal vollzieht, sondern zwischen der alten Mythologie und den Anforderun108
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gen der neuen vermittelt. Schon sein erster wissenschaftlicher Held, Dr. Fergusson, war als moderner Odysseus bezeichnet worden. In den 20 000 Meilen wiederum wird von Neptun und Pluto gesprochen, allerdings nur als Metapher für die Elemente Wasser und Feuer. Niemals wird den Mythen eine wörtliche Bedeutung beigemessen, immer bleiben sie Stellvertreter des naturwissenschaftlichen Wissens. Besonders anschaulich sind darunter die Meerestiere mit mythologischen Namen. Das schönste Beispiel ist vielleicht das als Perlboot bezeichnete Weichtier aus der Familie der Kopffüßer, das die antiken Gelehrten Nautilus nannten. Für Aronnax jedoch heißen diese Tiere Argonauten und versinnbildlichen durch ihre Wanderungen die Fahrten der mythischen Argonauten Jasons. Dass die
Die Argonauten: Mythen werden zu naturwissenschaft lichen Phänomenen.
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Der Herkulestempel als Zeichen einer überholten Erkenntnisstufe (20 000 Meilen unter den Meeren)
antike Bezeichnung des Perlboots auch der Namenspatron des U-Bootes ist, symbolisiert auf anschauliche Weise die Verbindung, die Verne zwischen der alten Welt und der neuen Zeit herstellt. Seine Nautilus bricht nicht mit den Alten, sondern setzt sie namentlich fort. Als die Nautilus nach ihrer kurzen Fahrt durch das Mittelmeer an den versunkenen Ruinen des Herkulestempels vorbeifährt, wirkt dies wie eine Hommage, aber auch wie ein Abschiedsgruß an eine vergangene Epoche menschlicher Erkenntnis. Der Verlust der mythischen Sicht auf die Welt, die diese zwar nicht erklären kann, dafür aber deren geheimnisvolle Faszination bewahrt, hat man schon zu Vernes Zeiten als eine Form der Entzauberung beklagt und zugleich das wissenschaftliche Weltbild als zu 110
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rational kritisiert. Gerade die Lektüre der 20 000 Meilen zeigt jedoch, dass die Nautilus sich zwar von den alten Mythen als Bildungsgut verabschiedet und sie in das Reich einer überholten Erkenntnisstufe verweist, aber zugleich neue an deren Stelle setzt, indem die Wissenschaft selbst zum Mythos wird. Vernes Außergewöhnliche Reisen können daher als ein Werk des Übergangs von einer alten zu einer neuen Mythologie verstanden werden, wobei Vernes neue Mythen auszeichnet, dass sie eher handlungs- als figurengebunden ist. Denn von seinen Figuren ist letztlich nur Kapitän Nemo ins neue Pantheon eingezogen, während seine Stoffe – also Reisewetten um die Welt, Reisen im Ballon, in der Rakete, im U-Boot oder einfach zu Fuß ins Innere der Erde – sein eigentliches Vermächtnis für die Bildwelten moderner Träume wurden. Hatte Verne sich mittlerweile als Schriftsteller etabliert, so begannen mit den 1870er Jahren schwerere Zeiten. Sie setzten am 19. Juli 1870 mit einem historischen Ereignis ein, das Frankreich langfristig verändern und auch in Vernes Werk Spuren hinterlassen sollte: der Deutsch-Französische Krieg.
Der Krieg von 1870/71 und seine Folgen: Verne und die Deutschen
W
enn wir heute vom Deutsch-Französischen Krieg sprechen, dann verzerren wir ein wenig die Perspektive auf diesen Konflikt, denn er wurde aus französischer Sicht in erster Linie als preußisch-französisch angesehen, auch wenn sich die anderen deutschen Staaten daran beteiligten. Erst 1866 hatten die süddeutschen Staaten noch gegen Preußen gekämpft, und Napoleon III. rechnete nicht damit, dass sie sich den Preußen anschließen würden, als er diesen leichtfertig den Krieg erklärte. Obwohl sich der Konflikt schon von längerer Hand angekündigt hatte, rechnete Verne noch Ende 1869 in einem Brief an Hetzel nicht mit einem Waffengang. Als der Krieg dann tatsächlich ausbrach, war vor allem Hetzel 111
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
persönlich und geschäftlich schwer betroffen. Sein Sohn Louis-Jules wurde eingezogen, fünf weitere Angestellte auch, und der Verlag musste die Arbeit einstellen. »Meine Frau«, schrieb er an Verne, »weint den ganzen Tag, und ich muss meine Tränen zehnmal täglich zurückhalten und kann nicht mehr schlafen.« Verne hingegen blieb von den Kriegsereignissen weitgehend verschont. Er hatte lediglich in Le Crotoy mit seiner Saint-Michel die Küste zu bewachen, die Familie blieb derweil in Amiens, das die Preußen im Dezember 1870 besetzten. Im Haus der Vernes wurden vier Soldaten des 65. Linienregiments einquartiert, glücklicherweise friedliche und ruhige Leute, wie Verne an seinen Vater schrieb, denen Honorine große Mengen Reis vorsetzte. Von Deutschenhass war hier noch nichts zu spüren. Sogar noch am 28. Juli 1871 schlug Verne dem Vater gegenüber ganz moderate Töne an und suchte die Verantwortung bei beiden Kriegsparteien, wobei auch er in der Regel von den Preußen, und nicht von den Deutschen sprach. Vernes Deutschlandbild war bis dahin von der Romantik beeinflusst, die in Mme de Staëls kulturgeschichtlichem Werk Über Deutschland von 1810 die rechtsrheinischen Nachbarn als tiefsinniges und philosophisch veranlagtes Volk hinstellte. Der Krieg führte zuallererst zu einer Art schizophrenen Spaltung dieses Bilds in ein Deutschland des Geistes und eines des Militärs, wobei Kant und Bismarck einander gegenübergestellt wurden wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Eine solche Spaltung sollte chronologisch auch durch Vernes Romane laufen, deren Deutschlandbild sich nach dem Krieg maßgeblich veränderte. Verne war bereits vor dem Krieg in den deutschen Ländern ge wesen. Anfang Juli 1861 hatte er gemeinsam mit seinen Freunden Aristide Hignard und Émile Lorois halb Deutschland durchquert, um nach Skandinavien zu kommen, und seine Eindrücke in einem Reisenotizbuch festgehalten. Am 3. Juli 1861 erreichten sie Köln, wo die drei Freunde kurz Zeit hatten, den immer noch unfertigen Dom zu besichtigen. Von dort ging es nach Hamburg, wo sie einen Zwischenaufenthalt von 24 Stunden machten, um dann nach Lübeck weiterzufahren und nach Stockholm überzusetzen. 112
Der Krieg von 1870/71 und seine Folgen
Von literarhistorischer Bedeutung sollte dabei vor allem der Zwischenstopp in Hamburg werden, denn hier sammelte Verne fleißig Eindrücke, die wenig später in Reise zum Mittelpunkt der Erde und zum Teil auch in die beeindruckenden Illustrationen Rious eingeflossen sind: Spaziergänge an Binnenalster und Elbufer; die Königstraße ganz in der Nähe des Hotels, die zum Wohnort von Professor Lidenbrock und seinem Neffen Axel werden sollte, und natürlich von Axels schöner Verlobten Grauben, aus der Verne eine Vierländerin machte, deren Trachten ihn in Hamburg beeindruckt hatten. Die Deutschen empfand er insgesamt als fröhlich, Hamburg als ungezwungen, und seine Figur Axel sollte dementsprechend ein ganz normaler junger Mann werden. Alles unauffällig also, wenn da nicht sein Onkel Otto Lidenbrock wäre. Denn der Professor vom Johanneum ist ein furchtbares Original, cholerisch, ein wahres Lexikon zwar, der sich aber lächerlich macht, wenn er Fachtermini seiner ureigenen Disziplinen nicht aussprechen kann. Der Zeichner Riou hat ihm eine überlange Nase verpasst und den dürren Mann auf quijoteske Art in die Länge gezogen. Das Schlimmste jedoch ist, dass der begnadete Geologe sich gar nicht zum Professor eignet, denn er hat nicht nur kein Interesse an seinen Schülern und Studenten, sondern ist auch ein egoistischer Gelehrter, der sein Wissen nur ungern teilt. Solche Professoren gebe es durchaus in Deutschland, kommentiert der Erzähler. Lidenbrock unterrichte subjektiv, heißt es weiterhin, was man als Stichelei gegen den deutschen Idealismus lesen kann, der das Subjekt als Zentrum der Erkenntnis verstand und davon ausging, dass die Wahrnehmung der Außenwelt vom Subjekt aus konstruiert werde oder zumindest nicht unabhängig davon sei. Hinter den Schwächen Lidenbrocks schimmert zugleich ein positives Gegenbild französischer Prägung auf, denn Lidenbrock scheitert in genau den Dingen, die man in Vernes Heimat besonders schätzt: in der Kunst der Konversation, der Lidenbrock schon allein wegen seiner Ausspracheprobleme nicht genügen kann, in der Vergesellschaftung der Person, die dem Professor wegen seiner Ichbezogenheit nicht gelingt, und in seinen Wutanfällen und Flüchen, die der Vorschrift der Höflichkeit 113
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
Otto Lidenbrock, grotesk-komische Überzeichnung eines deutschen Gelehrten (Reise zum Mittelpunkt der Erde)
widersprechen. Lidenbrock ist somit eine Karikatur deutscher Stereotype und zugleich ein komisches Gegenbild zum idealen Franzosen. Die Kehrseite des angeblichen träumerischen Gedankenreichtums der Deutschen war schon bei Mme de Staël dessen soziale Ungeschicklichkeit gewesen. Der lächerliche deutsche Gelehrte bleibt in sich selbst gefangen, und seine Gelehrsamkeit bleibt ein Selbstzweck, wodurch er seine eigentliche Aufgabe verfehlt. Aber wird er daher zum schlechten Menschen? Mitnichten. Verne gelingt es vielmehr, aus der Figur immer wieder humorvolle Szenen zu locken und ihr sympathische Seiten abzugewinnen. Der Erfolg der Reise, der maßgeblich Lidenbrock zu verdanken ist, machen ihn 114
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spätestens am Ende zu einem wissenschaftlichen Helden. Lidenbrock mag die komische Variante des deutschen Idealisten sein, nirgends jedoch spürt man in dem Roman eine Abneigung gegen die Deutschen. Verlauf und Folgen des Krieges sollten dies gründlich ändern. Die demütigende Niederlage der Franzosen und die Gefangennahme Napoleons III. bei Sedan am 2. September 1870 brachten das Kaiserreich zu Fall und führten dazu, dass am 4. September die Dritte Republik ausgerufen wurde. Es folgte die Belagerung und Bombardierung von Paris, die den Verlag Hetzels in der Rue Jacob wie durch ein Wunder verschont ließ, während die benachbarte Rue de Lille schwer getroffen wurde. Nach der Kapitulation annektierten die Deutschen Elsass-Lothringen und forderten fünf Milliarden Reparationszahlungen. Die Franzosen wurden gewaltsam aus zwei Illusionen gerissen: aus derjenigen von der französischen Überlegenheit und aus derjenigen von den träumerischen deutschen Idealisten. Dass sich daran noch der bürgerkriegsähnliche Aufstand der Pariser Kommune mit Tausenden Toten anschloss, machte aus den Jahren 1870/71 ein historisch beispielloses Trauma der grande nation. Die Pariser Kommune als erste kommunistische Staatsgründung ließ den innenpolitischen Konflikt zwischen Bürgertum und Sozialisten voll ausbrechen. Selbst Verne, der sonst eher gemäßigte Positionen einnahm, reagierte in dieser Hinsicht überraschend hart. Ende 1870 schrieb er an den Vater, dass es wohl zu einem Bürgerkrieg in Paris kommen werde: »Ich hoffe, dass man die Nationalgarde eine Zeit lang in Paris hält und dass sie die Sozialisten wie Hunde niederschießen werden. Die Republik kann sich nur um diesen Preis halten, und es ist die einzige Regierung, die berechtigt ist, dem Sozialismus gnadenlos gegenüber zu treten, denn es ist die einzige rechtmäßige und legitime Regierung.« Noch vor der so genannten Blutwoche im Mai 1871 schrieb er im April Hetzel in weniger martialischen Worten, dass »die sozialistische Bewegung unvermeidbar war«, aber besiegt werde. Und wenn die Republik »eine furchtbare Tatkraft bei der Unterdrückung« entwickele, dann werde der innere Frieden fünfzig Jahre lang halten. 115
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
Die höchst angespannte gesellschaftliche Situation scheint sich auch auf Vernes Schreiben ausgewirkt zu haben und führte ihn vorübergehend zu einer realistischeren Ästhetik, die er sonst immer abgelehnt hatte. Im Februar 1871 arbeitete er an dem Schiffbruchsroman Le Chancellor und kündigte Hetzel »einen Band von erschreckendem Realismus an. Er heißt die Schiffbrüchigen der Chancellor. Ich glaube, dass seit dem Floß der Medusa nichts so Schreckliches gemacht wurde. Vor allem glaube ich, dass es wahrhaftig wirken wird.« Zwei Monate später gesteht er ein, dass »ich es bis zum Abstoßenden, bis zum Widerlichen hin getrieben habe. Ich weiß genau, dass dies nicht so bleiben kann.« Offenbar hatte sich Verne seine Anspannung in der Darstellung von Gewalt von der Seele geschrieben. Danach blieb der Roman zunächst liegen und wurde erst drei Jahre später für die Publikation überarbeitet, wobei Hetzel auf eine starke Abschwächung der grausamen Szenen drängte. Hetzel wiederum verarbeitete die Kriegserfahrung auf seine Weise. Im 14. Band des Magasin gab er seine oberflächliche politische Neutralität kurzzeitig auf und machte, wie es bei einem überzeugten Republikaner zu erwarten war, das Kaiserreich für den Krieg verantwortlich, sah die Schwächen Frankreichs aber vor allem in der mangelhaften Bildung und ungenügenden moralischen Erziehung. Auch die später unter der Leitung von André Laurie eingerichtete Reihe Scènes de la vie de collège dans tous les pays ländervergleichender Pädagogik ist noch unter dem Aspekt der patriotischen französischen Erziehungsdebatte zu sehen. Zehn Jahre nach dem Krieg waren die Wunden längst noch nicht verheilt. Deutschfeindlichkeit und Nationalismus hatten in jenen Jahren eigentlich erst Wurzeln geschlagen und sich in einer Flut an revanchistischen Schriften entladen. Vernes Schriftstellerkollege Alphonse Daudet, von dem auch einige Texte bei Hetzel herausgegeben wurden, reagierte als einer der ersten mit seinen Contes du lundi (Montagserzählungen), die ab 1871 jeweils montags in Le Soir vorpubliziert wurden und 1873 als Sammlung erschienen. Die Erzählungen sind ein Brevier deutscher Stereotype und stilisieren die Deutschen unter anderem als Uhrendiebe wie in La Pendule de 116
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Bougival (Die Pendeluhr von Bougival), in der eine in Frankreich gestohlene Uhr nach München kommt, wo sie Begeisterung auslöst und die leichtere französische Lebensart symbolisiert, der die groben Bayern nicht viel entgegenzusetzen haben. Ein Reizthema war vor allem das Elsass, dessen komplette Germanisierung man befürchtete. In Daudets La dernière classe (Die letzte Unterrichtsstunde) verabschiedet sich der französische Lehrer von seinen Schülern mit einem letzten Plädoyer für das Französische, das »die schönste Sprache der Welt, die klarste und solideste« sei und die Identität ausmache, denn »wenn ein Volk versklavt wird, aber seine Sprache behält, dann ist es, als hätte es einen Schlüssel zu seinem Gefängnis.« Eine Ausnahme in all dem nationalistischen Getöse bildeten ein paar meisterliche Erzählungen Maupassants, vor allem Fettklößchen, Mlle Fifi und Das Bett 29, in denen er nicht einseitig die Schuld bei den Preußen suchte, sondern auch die unrühmliche Rolle der französischen Eliten anprangerte und Prostituierte provokativ zu Nationalheldinnen stilisierte. Maupassant machte Frauen, die sonst bloß als Opfer sexueller Gewalt der Invasoren dargestellt werden, zu den wahren Heldinnen des Krieges und ohrfeigte in Fettklößchen die egoistischen bürgerlichen, aristokratischen und kirchlichen Würdenträger. Auch Verne sollte sich Ende der 1870er Jahre diesem Thema stellen, wenn auch zunächst nicht ganz freiwillig. Denn auf Geheiß Hetzels überarbeitete er einen Roman eines Kommunarden namens Paschal Grousset, der im englischen Exil lebte. Grousset hatte nach dem Abbruch eines Medizinstudiums in den 1860er Jahren als Autor populärwissenschaftlicher Artikel für die Zeitungen Le Temps, Le Figaro und L’Étendard angefangen und später in der Pariser Kommune das Amt eines »Delegierten für innere Angelegenheiten« innegehabt. Im Juni 1871 wurde er festgenommen und zur Deportation nach Neu-Kaledonien verurteilt, konnte 1874 aber nach London fliehen. Von dort aus suchte Grousset, der sich um seine fünf jüngeren Geschwister kümmerte, auch in Frankreich nach Einnahmequellen und korrespondierte seit 1875 unter dem Pseudonym Philippe Daryl mit Hetzel und bot ihm Texte an. Später sollte er unter 117
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einem zweiten Pseudonym, André Laurie, ein weiterer Hausautor Hetzels werden und unter anderem Abenteuerromane und Übersetzungen aus dem Englischen verfassen, darunter die bereits genannten französischen Erstübersetzungen von Stevensons Die Schatzinsel und Rider Haggards König Salomons Schatzkammer. Von seinem ca. 60 Bände umfassenden Lebenswerk ist etwa die Häflte bei Hetzel erschienen. 1877 legte er Hetzel den Roman L’Héritage de Langévol (Langévols Erbe) vor, den der Verleger für unfertig hielt und deshalb den erfahrenen Verne bat, ihn zu überarbeiten. Verne hatte erzähltechnisch viel daran auszusetzen und schrieb ihn in dieser Hinsicht weitgehend um. 1879 erschien er unter Vernes Namen als Die 500 Millionen der Begum, ein Roman, der das schwierige deutsch-französische Verhältnis jener Jahre unmissverständlich dokumentiert. Bei aller Kritik an den Deutschen lässt sich bei genauem Hinsehen aber zugleich auch eine gewisse Hoffnung auf ein deutsch-französisches Tandem nachweisen. Freilich muss man etwas subtil danach suchen, aber diese Hoffnung existierte und verfügte historisch über einen Bürgen, den Verne stets sehr bewundert hatte: Victor Hugo. Dessen literarischer Reisebericht Die Rheinreise von 1842, in dem er seine Vision von einer deutsch-französischen Zusammenarbeit entworfen hatte, konnte all jenen Hoffnung machen, die noch an den Frieden in Europa glaubten: »Was bleibt noch von der alten Welt? Was von Europa steht noch? Nur zwei Nationen: Frankreich und Deutschland. Nun, das könnte ausreichen. Frankreich und Deutschland sind eigentlich Europa. Deutschland ist das Herz, Frankreich der Kopf. Deutschland und Frankreich bilden eigentlich die Zivilisation.« 1848 hielt Hugo dann seine Eröffnungsrede auf dem Friedenskongress, wo er den Zusammenschluss der europäischen Nationen zu einer größeren Einheit voraussagte, eine Art Vereinigte Staaten von Europa. Aber galt das auch für Verne? Auf den ersten Blick sicher nicht. Man merkt ihm eine tiefe Abneigung gegen Deutschland an, und er nutzt in Die 500 Millionen der Begum das literarische Mittel des Kontrasts, um die abgrundtiefe Bosheit des deutschen Professors 118
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Schultze im Vergleich zu dem gutmütigen Franzosen Dr. Sarrasin noch schlimmer erscheinen zu lassen. Dabei reicht sein Blick zurück bis zu den antiken Konflikten zwischen Römern und Germanen, dieer zu einer Folie für die so genannte Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen macht. Der germanische Ursprung der Deutschen wird von Schultzes Dienern und Schergen Arminius und Sigimer verkörpert, deren Namen auf Hermann den Cherusker und dessen Vater verweisen. Beide sind das Abbild roher Gewalt und Barbarei: stiernackig, muskelbepackt, aggressiv, stumm und – das ist besonders signifikant – vollbärtig. Riou hat ihnen auf den Illustrationen sogar wahre Rauschebärte verpasst. Verständlich wird dies nur, wenn man sich das französische Gegenbild zum Vollbart hinzudenkt: den Schnurrbart. Maupassant hat ihm die kurze, amüsante Erzählung La moustache aus dem Jahre
Deutsche als Germanen – Arminius und Sigimer aus Die 500 Millionen der Begum
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1883 gewidmet und entwickelt die zivilisatorische Bedeutung dieses Ornaments anhand der Beziehung von Mann und Frau. Denn darin beklagt sich eine Frau darüber, dass sich ihr Mann für die Rolle in einem Theaterstück den Schnurrbart abrasiert habe. Die damit verbundenen Veränderungen seien so unerträglich für sie, dass sie untreu würde, sollte er ihn sich nicht nachwachsen lassen. Denn der Schnurrbart sei das Zeichen der Männlichkeit schlechthin und verleihe dem Männergesicht erst seinen eigentlichen Ausdruck. Abgesehen davon habe er eine klare erotische Funktion, denn der Kuss eines schnurrbartlosen Mannes sei ohne Geschmack, fühle sich an wie ein trockenes oder feuchtes Pergament. Im Schnurrbart hingegen liege alle Würze, denn sein Kitzeln gehe dem Kuss voraus und erzeuge kalte Schauer am ganzen Körper, vor allem wenn man den Bart am Hals oder anderen Körperteilen spüre: »Es gibt keine Liebe ohne Schnurrbart«, schlussfolgert sie zugespitzt. Nun sei der Schnurrbart aber nicht das Zeichen irgendwelcher Männer, sondern eben der französischen, er sei ein Erbe der Gallier und Zeichen des Nationalcharakters geblieben. Und dann stellt Maupassant den Bogen zur Gegenwart her: Als junges Mädchen, so die Erzählerin, habe sie im Deutsch-Französischen Krieg an zwei Straßenrändern tote Soldaten gesehen, die bis zum Hals vergraben waren. Auch ohne Uniform habe sie die französischen Soldaten sofort am Schnurrbart erkennen können, während die Deutschen einen Vollbart trugen. Schnurrbart und Vollbart repräsentieren den Gegensatz von Kultur und Barbarei. Denn Körperkultur erweist sich gerade darin, dass nur bestimmte Gesichtsteile rasiert werden, während andere aufgrund feinsinniger Wahrnehmung und zwecks Erhöhung der Lebensqualität behaart bleiben. Demnach sind die vollbärtigen Arminius und Sigimer als Barbaren und Nachfahren der wilden Germanen anzusehen und stehen im Gegensatz zu den schnurrbärtigen zivilisierten Franzosen. Bis in solche Details hinein ist das Bild der Deutschen somit signifikant, auch wenn dies fast schon zu subtil ist angesichts der Monstrosität von Professor Schultzes mörderischem Plan: In seiner Stahlstadt, einer Dystopie der Kruppschen Metallfabriken, baut er nichts 120
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weniger als eine Riesenbombe, die als Rakete abgefeuert wird, um die idyllische Nachbarstadt France-Ville von der Landkarte zu tilgen, die unter der Führung des Mediziners Dr. Sarrasin die höchsten Hygienstandards erreicht und Modellcharakter hat. Aufgrund eines Rechenfehlers läuft dies glücklicherweise schief, Schultze wird als Folge eines technischen Unfalls schockgefroren und damit auch bildlich einer gerechten Strafe zugeführt. Im Rückblick mag man in Schultzes Kanone eine Vorwegnahme von Hitlers V-Raketen lesen, die Zeitgenossen hingegen erinnerte sie an die riesige Kanone, die Krupp 1867 auf der Weltausstellung in Paris dargeboten hatte und die in der Lage war, Projektile von bis zu 550 Kilogramm abzufeuern. Schon damals fragten sich Kommentatoren kritisch, ob ein solches Exponat zur pazifistischen Zielsetzung der Ausstellung passte. Professor Schultzes Feindschaft dem Franzosen gegenüber ist umso irrationaler, als Sarrasin und er über ein gemeinsames Riesenerbe verbunden sind – eben jene im Titel genannten 500 Millionen –,
Krupps riesige Kanone auf der Pariser Weltausstellung von 1867
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mit dem sie ihre urbanen Fantasien in Wirklichkeit umsetzen. Über diese Verbindung hinaus hat Jürgen Ritte weitere Zeichen der Hoffnung auf das deutsch-französische Paar als Kern eines zukünftigen Europas hingewiesen. Sie finden sich zunächst in der Figur des Elsässers und eigentlichen Abenteuerhelden des Romans Marcel Bruckmann, der sich zwar zu Frankreich bekennt, dessen Name ihn aber bereits als Brücke zwischen den Nationen eignet. Weiterhin gibt es einen lachenden Dritten in Person englischer Geschäftsleute, die auf Kosten des Franzosen und des Deutschen einen Teil des Erbes einstreichen, und am deutlichsten werden die Worte, die Dr. Sarrasin zum Tod von Schultze äußert: »Ach, warum musste dieser Mann von so mächtigen Gaben unser Feind sein? Warum nur widmete er seine so seltenen geistigen Fähigkeiten nicht dem Dienste des Guten? Wie viel Kraft wurde hier verschwendet, die so nutzbringend hätte verwendet werden können, wenn sie sich mit der unsrigen zu einem gemeinsamen Ziel verbunden hätte!« Wie weit diese Aussagen auf Vernes wirkliche Überzeugungen zurückgehen, dahinter muss man angesichts der Tatsache, dass es sich um die Bearbeitung einer Vorlage handelt, ein Fragezeichen setzen. Spätere Aussagen Vernes sprechen eine andere Sprache. Vor dem Hintergrund von Paschal Groussets politischer Position kann der Roman allerdings nicht allein als antipreußisches Manifest verstanden werden, sondern beinhaltet ähnlich wie Maupassants genannte Erzählungen auch eine Kritik an Frankreich selbst, und zwar in der Figur des dekadenten Sohns von Dr. Sarrasin: Octave, dessen Name bereits Assoziationen mit römischen Kaisern und spätrömischer Dekadenz weckt. Octave stellt denn auch das Gegenbild zum energischen Marcel Bruckmann dar und verkörpert den breiten Dekadenzdiskurs, der Frankreich nach dem Krieg bis zum Jahrhundertende beschäftigt. Vernes Ressentiments hielten ihn 1881 jedoch nicht von Zwischenstopps im deutschen Kaiserreich ab. Sein Bruder Paul hat in seinem Reisebericht De Rotterdam a Copenhague à bord du yacht à vapeur »Saint-Michel« (Von Rotterdam nach Kopenhagen an Bord der Dampfjacht »Saint Michel«) lebhaft geschildert, wie er, sein Sohn 122
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Gaston, Jules Verne und dessen Freund Robert Godefroy mit der Saint-Michel III auf der Fahrt nach Kopenhagen am 14. Juni 1881 den Reichskriegshafen in Wilhelmshaven besichtigten. Von anderen Völkern solle man lernen, schreibt Paul, selbst wenn es die Feinde seien. Gehorsam, Disziplin und militärische Steifheit springen ihnen vom ersten Augenblick an in die Augen. Über die Ordonnanz, die sie eskortiert, schreibt Paul, dass alle Bewegungen mechanisch und mit absoluter Regelmäßigkeit ausgeführt würden, die zeige, wie tief Disziplin und Angst vor dem Vorgesetzten in den Geist der Soldaten eingedrungen seien. Auch wenn sie das Arsenal nur mit Erlaubnis aus Berlin besichtigen dürfen und solche Umstände nicht machen wollen, bewundern sie die Absicherung des Hafens, die modernen Kanonen von Krupp und betreten die Fregatte Le Mars. In vielen Bemerkungen Pauls spürt man, wie präsent der DeutschFranzösische Krieg für ihn noch ist. Den Eider-Kanal kann die 35 Meter lange Saint-Michel III überhaupt nur durchqueren, weil einige Stellen erweitert wurden, damit man aus Kiel im Falle eines französischen Angriffs auf Wilhelmshaven Entsatz schicken konnte. Und als sie später noch den Hafen von Kiel besichtigen, wo die Arkona vor Anker liegt, erinnert sie Paul daran, wie sie 1870 dem Kampf mit den französischen Fregatten La Surveillante und der Korvette La Belliqueuse ausgewichen war. Weiterhin teilt Paul mit, dass das französische Konsulat in Kiel geschlossen wurde, damit die Konsulatsmitarbeiter nicht über die Fortschritte der deutschen Marine Bericht erstatten konnten. Auch die Kieler Bucht ist bestens gesichert, unter anderem durch ebenjene riesigen Kanonen, die Preußen 1867 auf der Weltausstellung gezeigt hatte. Die Originalversion Pauls hält zwar einige despektierliche Kommentare bereit, in der publizierten Fassung jedoch, die von seinem Bruder revidiert wurde, bleibt der Erzähler in der Haltung eines beschreibenden Beobachters. Allerdings kommt in dem, was er von Deutschland berichtet – denn es ist fast ausschließlich Militärisches –, eine Spannung zum Ausdruck, die implizit auf zukünftige Konflikte verweist. 123
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Auch bei Verne sollte diese Spannung noch anhalten und sich in zwei weiteren Romanen niederschlagen, und zwar zunächst in Der Weg nach Frankreich und später nochmals in dem 1898 geschriebenen Roman Wilhelm Storitz’ Geheimnis. In dem 1887, also zwei Jahre vor der Zentenarfeier der großen Revolution, erschienenen Weg nach Frankreich wählt Verne die 1792 einsetzenden Koalitionskriege zum historischen Schauplatz und lässt den französischen Kavallerieoffizier Natalis Delpierre quer durch deutsches Feindesland reisen, um schleunigst zurück nach Frankreich zu kommen. Von Germanenstereotypen ist hier nicht mehr viel zu spüren, Verne konzentriert sich ganz auf den Militarismus, auf mechanische Disziplin und abstoßende Überheblichkeit der Preußen, die in mehreren Figuren gegeißelt werden. Die Handlung entwickelt er diesmal aus dem Konflikt zweier Männer um eine Frau, und zwar die Französin Marthe. Auf der einen Seite steht der sympathische Deutschfranzose Jean Keller, auf der anderen der arrogante Franz von Grawert, dem Marthe längst einen Korb gegeben hat, den dieser jedoch nicht annehmen will, sondern vielmehr versucht, seinen erfolgreichen Rivalen auszuschalten. Interessant ist hieran vor allem, dass Jean Deutschfranzose ist und die binationale Ehe seiner Eltern aus einer Zeit stammt, als die Franzosen »gegenüber den Deutschen noch nicht diese Abscheu empfanden, die sich später aus dem Hass von dreißig Jahren Krieg zwischen den Nationen entwickeln sollte«. Die Figur des Deutschfranzosen könnte nun als Symbol der Verständigung fungieren, eben weil er beide Sprachen spricht und Spross einer harmonischen binationalen Liebesbeziehung ist. Aber eine solche Versöhnung wird Verne nicht inszenieren, auch wenn sie potenziell in der Figur angelegt ist und der Konflikt historisch hergeleitet und damit erklärt werden kann. Offensichtlich aber sieht Verne keine andere Möglichkeit, als den Konflikt in einem weiteren Konflikt zu überwinden. Diese Revanche vollzieht sich durch den Rückgriff auf eine historische Auseinandersetzung, aus der die Franzosen unter der Führung von General Dumouriez siegreich hervorgingen, als sie die Invasoren wieder über die Grenze zurücktreiben. Und Jean Keller? Er kann 124
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unter diesen Umständen nicht Deutschfranzose bleiben und muss seine Doppelidentität aufgeben. Und da es unglaubwürdig wäre, wenn die Figur selbst diesen Schritt ohne Weiteres vollziehen würde, nimmt Verne ihr dies ab und lässt die Preußen selbst Jean schlussendlich zum Franzosen erklären. Literarisch mag die Handlung zwar recht künstlich und konstruiert sein, historisch gesehen veranschaulicht sie hingegen deutlich die französischen Befindlichkeiten jener Zeit. Es verwundert wenig, dass Vernes patriotischer Blick auf die Revolutionsgeschichte für den Hartleben Verlag, der ihn in Deutschland vertrieb, wenig attraktiv für das Publikum erschien und nicht übersetzt wurde. Dies sollte bis 2012 und 2013 – fünfzig Jahre nach dem Elysée-Vertrag – so bleiben, als gleich zwei Übersetzungen den Roman erstmals auch auf Deutsch zugänglich machten. Dementsprechend hatte ein deutscher Arzt keine Kenntnis von ihm, als dieser sich 1890 in einem Brief an Verne wandte und ihn für die Idee zu begeistern versuchte, das Deutschlandbild in Frankreich zu verbessern und einen Roman mit dem Titel Reise durch Deutschland in dreißig Tagen zu verfassen. Vernes Reaktion darauf zeigt, dass er genauso dachte und fühlte, wie es in dem Roman von 1887 zum Ausdruck gekommen war: »Sehr geehrter Herr, ich habe mir Ihren Brief übersetzen lassen müssen, denn ich spreche kein Deutsch! Ich danke Ihnen für das Vertrauen, bin aber nicht in der Lage, das Vertrauen zwischen den beiden Völkern wiederherzustellen. Wenn sie verfeindet sind, dann nicht, weil sie einander nicht kennen, im Gegenteil, und der Roman, dessen Idee Ihnen keine Ruhe lässt, hätte keinerlei Erfolg. Es gibt nur eine Art der Wiedergutmachung, die dazu angetan wäre, die Gefühle der Franzosen gegenüber den Deutschen zu verändern. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, um welche Art es sich dabei handelt; alles, was man sonst macht, wird vergeblich sein, illusorisch, unausführbar.«
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Der deutsche Arzt reagierte darauf höchst aggressiv und erklärte Frankreich gleich persönlich den Krieg. Verne ließ den Briefwechsel kommentarlos am 19./20. Mai 1890 in der Amienser Zeitung Le Progrès de la Somme veröffentlichen. Ein von beiden Seiten in harschem Ton geführter Briefwechsel ist eine Sache, den an sich banalen Vorfall aber auch für öffentlichkeitsrelevant zu halten, ist eine andere, die zeigt, wie stark die Nationalehre für Verne in jenen Jahren von dem deutsch-französischen Konflikt betroffen war und ihn glauben ließ, dass dies alle etwas anging. Wenn Vernes Haltung jener Jahre ziemlich eindeutig ist, fragt sich, wie sein Werk im deutschsprachigen Raum aufgenommen wurde. Nach dem Krieg nahm die Popularität Vernes bei den deutschsprachigen Lesern kräftig an Fahrt auf. Auch wenn sich die erste Übersetzung einer seiner Texte schon 1857 nachweisen lässt und nicht autorisierte Übertragungen einiger Romane Anfang der 1870er in Broschüren in Budapest erscheinen, beginnt die Präsenz Vernes auf dem deutschsprachigen Buchmarkt im eigentlichen Sinne mit dem ersten Vertrag zwischen Hetzel und dem Hartleben Verlag vom 3. Juni 1873, der die Rechte zur freien Vermarktung auf Deutsch von vier Romanen – Von der Erde zum Mond, Reise um den Mond, Reise zum Mittelpunkt der Erde und 20 000 Meilen unter den Meeren – für 6 000 Francs (ca. 19 000 €) regelte. Weitere Verträge sollten folgen, so dass Hartleben Verne bis 1911 im Programm führte. Insgesamt wurden bis auf wenige Texte – darunter Der Weg nach Frankreich, César Cascabel und die Sammlung mit Erzählungen Gestern und Heute – alle Titel der Außergewöhnlichen Reisen vertrieben. Dass der Roman Der Weg nach Frankreich nicht übersetzt wurde, dürfte weniger an den deutschfeindlichen Aussagen gelegen haben, die sich ja auch in Die 500 Millionen der Begum und später in Wilhelm Storitz’ Geheimnis fanden. Entscheidender dürfte die Tatsache gewesen sein, dass Der Weg nach Frankreich die Koalitionskriege aus französischer Perspektive behandelte und eine solche Sicht auf die Geschichte als uninteressant für das deutschsprachige Publikum angesehen wurde.
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In 80 Tagen um die Welt
Die Übersetzungen waren wegen des hohen Zeitdrucks, unter dem Übersetzer auch damals schon litten, mal mehr und mal weniger gelungen. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang, dass für die Übersetzungen ab 1877 Vernes Druckfahnen herangezogen wurden, damit die deutschen Fassungen zeitgleich mit den französischen Ausgaben erscheinen konnten. Angesichts der Tatsache, dass Verne seine Romane immer wieder überarbeitete, kam es dazu, dass spätere Änderungen oder die Streichung von ganzen Passagen in der deutschen Fassung nicht berücksichtigt werden konnten und sich hieraus eine Reihe von Unterschieden zu Vernes letzten Versionen ergaben. Vernes Vorname wurde, wie damals üblich, in Julius eingedeutscht. Deutschfeindliche Passagen wurden abgemildert und angepasst, aber nicht gestrichen. Vernes nach 1871 einsetzender Revanchismus hat sich demnach nicht auf dessen Rezeption im deutschsprachigen Raum ausgewirkt.
In 80 Tagen um die Welt (1872): Der Übergang in ein neues Zeitregime
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ass ein Unglück selten allein kommt, sollte auch Verne in jenen Jahren schmerzlich erfahren. Seit August 1870 verschlechterte sich der Gesundheitszustand seines Vaters, den er Ende des Monats in Nantes besuchte, nachdem er ihn 18 Monate lang nicht gesehen hatte. Verne war tief betroffen darüber, wie sehr sein Vater gealtert war. Der Verfall Pierres sollte sich noch über ein Jahr hinziehen, bis er schließlich am 3. November 1871 im Kreis seiner Angehörigen verstarb. »Wir alle in der Familie vergießen eine Menge Tränen, das kann ich Ihnen sagen«, schrieb er einen Tag später an Hetzel. »Er war ein wahrer Heiliger gewesen.« Seine Frau Sophie, Vernes Mutter, überlebte ihn um sechzehn Jahre. Es gibt Biografen, die Pierre Verne wegen seines religiösen Eifers und seiner Strenge einen traumatisierenden Einfluss auf seinen Sohn 127
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unterstellen. Die Briefe zwischen den beiden sprechen meines Erachtens eine andere Sprache. Pierre Verne hat seine Vaterrolle gespielt, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, und versucht, den erstgeborenen Sohn in die Anwaltslaufbahn zu lenken. Aber er hat auch dessen Talent und Neigungen respektiert und lange Zeit gefördert, weil er deren Keim in sich selbst spürte. Ein beredter und zugleich rührender Ausdruck davon sind zwei Briefe aus dem Jahre 1855. Im ersten bittet der Sohn die Eltern in sechzig Achtsilblern, die alle denselben Reim haben, ebenso bravourös wie humorvoll um sechzig Francs, als sei jeder Vers einen davon wert. Der Vater nahm die Herausforderung mit demselben Humor an und antwortete: »Deine Verse sind sehr gelungen/aber sie hätten noch schöner geklungen,/ hätt’st du nicht 60 Francs dir ausbedungen« … und hielt dies noch weitere dreißig Verse lang durch. Der Umgang zwischen Vater und Sohn, der in diesen Briefen seinen spielerischen Höhepunkt findet, deutet bei aller väterlichen Strenge auf ein konstruktives Verhältnis hin. Pierre hatte Verständnis für die schriftstellerische Berufung seines Sohnes und schenkte ihm das nötige Vertrauen, und Jules wusste, dass dieses Vertrauen Verantwortung bedeutete, die er mit seinem unermüdlichen Fleiß zu erfüllen suchte. Abgesehen davon war Verne mittlerweile selbst Vater geworden und hatte darüber hinaus noch die Verantwortung für zwei Stieftöchter übernommen. Dass sein eigener Sohn Michel, der 1871 zehn Jahre alt war, ihm in der Zukunft Sorgen machen würde, deutete sich jetzt schon an. Bereits im Sommer 1869 hatte Verne sich Hetzel gegenüber beklagt, dass die labile Gesundheit Michels eine konsequente Erziehung erschwere: »Er wurde nicht gut erzogen, das gebe ich zu, aber wie soll man bei einem Jungen durchgreifen oder einer klaren Linie folgen, der ständig Fieber hat?« Der schriftstellerische Erfolg hatte seine finanziellen Probleme keineswegs endgültig gelöst. Zwar hatte er sich in relativ kurzer Zeit einen Namen gemacht und wurde kurz vor dem Zusammenbruch des Kaiserreichs auf Betreiben Hetzels von Kaiserin Eugénie noch zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, aber zur gleichen Zeit dachte Verne laut darüber nach, an die Börse zurückzugehen, weil er von 128
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den Einkünften aus den Büchern nicht leben konnte. Dies lag nicht am mangelnden Verkauf der Bücher, sondern erstens an der Nachkriegssituation, weil für eine Zeit keine Zahlungen des Verlags kamen, und zweitens auch an den für Verne nachteiligen Vertragsbedingungen, die ihm letztlich für drei Bände pro Jahr nur 10 000 Francs (ca. 32 000 €) einbrachten. Hetzel lenkte daraufhin relativ schnell ein, was man als Zeichen dafür bewerten kann, dass er genau wusste, wie sehr er von Verne profitierte. Am 25. September 1871 wurde ein neuer Vertrag unterzeichnet, der die Bedingungen für den Autor etwas verbesserte: Statt drei Bänden musste Verne jetzt nur noch zwei pro Jahr liefern und erhielt monatlich 1000 Francs. Als Ausgleich dazu wurden Hetzels Exklusivrechte an den bereits erschienenen Büchern um drei Jahre verlängert. Damit war etwas Abhilfe geschaffen, aber noch nicht genug, um Verne davon abzuhalten, sich um zusätzliche Einnahmequellen zu bemühen. Am naheliegendsten war es, die erfolgreichen Romanstoffe auch in einer Bühnenversion anzubieten. Bei seinem nächsten Romanprojekt um eine Reisewette sorgte Verne dafür, dass parallel zum Roman bereits die Theaterfassung vorbereitet wurde. Der Riesenerfolg, der In 80 Tagen um die Welt als Roman und Theaterstück beschieden war, gab eine Formel vor, die Verne in Zukunft zu wiederholen suchte, auch wenn ihm Vergleichbares nur noch bei Der Kurier des Zaren gelingen sollte. Obwohl Verne mit Theaterstücken angefangen hatte, gab er die Bühnenversionen bei anderen Autoren in Auftrag oder kooperierte mit ihnen, denn er maß Adaptionen, wie er am 1. Dezember 1873 an Hetzel schrieb, »keinerlei literarische Bedeutung zu. Das ist für mich nur eine Sache des Geldes, und nichts anderes.« Im Vordergrund stand für Verne die Romanfassung, für die er ganz allein verantwortlich war. Der 1872 in der Tageszeitung Le Temps vorpublizierte und 1873 als Buch erschienene Roman In 80 Tagen um die Welt wurde Vernes größter Publikumserfolg und ist bis heute einer seiner lebendigsten Texte geblieben. Seine anhaltende Popularität und Modernität lassen sich meines Erachtens darauf zurückführen, dass er den kulturhistorischen Übergang in eine neue 129
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Raum-Zeit-Konfiguration festhält. Diese ergab sich aus einer Veränderung der Zeiterfahrung durch Beschleunigung, exakte Zeitmessung und Internationalisierung von Zeitbestimmung. Zugespitzt formuliert: In 80 Tagen um die Welt ist ein modernes Epos der Pünktlichkeit geworden, das unmittelbar auf die globalen infrastrukturellen Veränderungen seines historischen Kontexts reagierte. Ende der 1860er Jahre versetzten gleich mehrere Großbauprojekte die Weltöffentlichkeit in eine erwartungsvolle Spannung, weil absehbar war, dass sie den globalen Verkehr tief greifend verändern würden: der Bau der transkontinentalen Eisenbahn Pacific Railroad in den USA, der im August 1870 abgeschlossen wurde; parallel dazu die Aushebung des Suezkanals, der am 17. November 1869 eingeweiht wurde; kein halbes Jahr später nahm die Great Indian Peninsular Railway ihren Betrieb auf, und speziell für Frankreich war der Bau des Eisenbahntunnels Mont-Cenis durch die Alpen zu nennen, der es mit Italien verband und am 16. Oktober 1871 eröffnet wurde. Alle diese Maßnahmen hatten dieselbe Wirkung: Sie ersparten Handel und Reisenden enorme Umwege und machten die Welt damit metaphorisch kleiner, oder wie es im Roman heißt: »Die Erde ist geschrumpft, denn man durchläuft sie jetzt zehnmal schneller als vor hundert Jahren.« In diesem Zusammenhang spekulierten schon ab 1867 US-amerikanische Zeitungen darüber, wie schnell man eigentlich um den Erdball reisen könne. Hatte die Umrundung vorher an die drei Jahre gedauert, so schrumpfte die Dauer jetzt auf zweieinhalb Monate zusammen. Französische Zeitungen nahmen solche Rechnungen auf. Am 29. Juli 1869 zählte Le Siècle in einer Tabelle die Einzeletappen zusammen und kam auf achtzig Tage, was am 17. November 1869 auch von der populären geografischen Wochenzeitschrift Le Tour du monde nachgedruckt wurde. Die dort aufgeführten Reisestationen entsprechen ziemlich genau der späteren Reiseroute des Romans und machen deutlich, wie Verne auf die Romanidee kam, woraus er in einem Interview mit Robert Sherard von 1894 auch keinen Hehl machte: »Als ich eines Tages in einem Pariser Café in Le Siècle las, dass ein Mensch in achtzig Tagen um die Welt reisen könne, kam 130
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mir sofort der Einfall, dass ich den Unterschied der Meridiane nutzen könnte, um meinen Reisenden einen Tag gewinnen oder verlieren zu lassen. Der Romanschluss war damit schon gefunden worden.« Als literarisches Mittel war Verne die Datumsverschiebung schon lange aus Edgar Allen Poes Erzählung Drei Sonntage in einer Woche bekannt. Er brauchte daher bloß die journalistische Notiz mit dem bewährten Erzählmittel zu kombinieren. Der Familienname von Vernes Hauptfigur deutet an, dass er in der Zeitung auch von der Weltreise erfahren hat, die der Amerikaner William Perry Fogg ab 1869 von Osten nach Westen in Angriff nahm. Die Realität ging hier somit der Fiktion voraus, und der Fall veranschaulicht einmal mehr den engen Bezug der Außergewöhnlichen Reisen zum Wissenschaftsjournalismus. Die unmittelbarste Veränderung in der Zeiterfahrung lag somit in der Beschleunigung. Für heutige Leser wird dies nur nachvollziehbar, wenn man sie in ein Verhältnis zu den damals üblichen Geschwindigkeiten setzt. Eine Kutsche kam nach der Verbesserung der Straßen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf ca. 9,5 Stundenkilometer. Dieses Maximum an tierischer Leistungsfähigkeit war allerdings nur zu halten, wenn die Pferde die nötigen Ruhepausen erhielten oder an den Relaisstationen ausgetauscht wurden. Mit der Einführung von Eisenbahn und Dampfschifffahrt zwischen 1830 und 1850 wurde die Geschwindigkeit mehr als verdoppelt. Die frühen Lokomotiven erreichten eine Höchstgeschwindigkeit von 48 Stundenkilometern; diese wurde im Laufe des Jahrhunderts kontinuierlich gesteigert und kam in den 1890er Jahren schon auf über 140 Stundenkilometer. Der Eisenbahnverkehr konnte aber nur effizient wirtschaftlich genutzt werden, wenn er zuverlässig und minutengenau war. Es dürfte daher auch der Eisenbahnverkehr gewesen sein, der die Bürger an den Umgang mit Minuten gewöhnt hat. Denn eine minutengenaue Pünktlichkeit spielte in den Rhythmen der vorindustriellen Welt kaum eine Rolle, und es war bis ins 19. Jahrhundert nicht einmal genau bestimmt, wie lang ein Arbeitstag dauerte. In der industrialisierten Arbeitswelt hingegen wurde die exakte Zeitmessung zu 131
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einer zentralen Größe und zur Voraussetzung der Abläufe. Heute umfasst die Uhrzeit, omnipräsent und global, so komplett sämtliche Abläufe unserer Gesellschaften, dass wir uns ihrer Rolle kaum mehr gewahr werden. Die genaue Chronometrie ist längst eine verinnerlichte Voraussetzung der reibungslosen Abläufe, der effektiven Planung und damit der Beherrschung von Raum und Zeit geworden. Industrie, Mobilität, Arbeits- und Freizeitrhythmen schlagen im Takt von Sekunden, Minuten und Stunden. All das wäre banal und hätte keine Berechtigung, eigens erwähnt zu werden, wenn es eine Selbstverständlichkeit wäre. Aber wie die meisten kulturellen Praktiken, die so alltäglich sind, dass wir sie mit unserer Natur verwechseln, ist auch die exakte Zeitmessung samt ihrer kulturellen Folgen nicht nur historisch gewachsen, sondern zudem noch ein relativ rezentes Phänomen. Ihre Grundvoraussetzungen sind eine genaue metrische Bestimmung zeitlicher Einheiten sowie Geräte, mit denen sich diese Einheiten messen lassen. Beides wirkt zusammen: Ohne metrische Einheiten keine Herstellung von Uhren, ohne Uhren keine Bestimmung metrischer Einheiten. Weiterhin müssen Uhren flächendeckend in einer Gesellschaft verteilt sein, damit die Menschen sich auch lückenlos nach ihnen richten können. Uhren jedoch sind eine mechanische Meisterleistung, die sich erst ab Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach auch die Mittel- und Unterschichten leisten konnten. Sie blieben jedoch weiterhin ein Geschenk für besondere Anlässe, und auch Jules Verne erhielt als Hochzeitsgeschenk eine Uhr von seiner Schwiegermutter. Städte und Gemeinden halfen nach, indem sie Uhrentürme aufstellten, um ihre Einwohner chronometrisch einzutakten, so dass Uhren nach und nach den öffentlichen Raum bevölkerten. In Amiens zeugt heute davon noch ein Uhrentürmchen, das 1898 eingeweiht wurde und vom ehemaligen Bürgermeister Louis Dewailly gestiftet worden war, mit dessen Familie die Vernes bekannt waren. Für die Privatpersonen spielten Taschenuhren eine zentrale Rolle. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Uhren so allgemein verbreitet, dass sie den Takt der Gesellschaft exakt angeben konnten. Die Schwerpunkte der Uhrenherstellung lagen und liegen zum Teil 132
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noch immer in den USA, Frankreich, der Schweiz und in Großbritannien. Es hat im 19. Jahrhundert demnach einen Entwicklungsschritt gegeben, der von einer annähernden zu einer exakten zeitlichen Taktung führte. Pünktlichkeit im heutigen Sinne wurde erst dadurch praktisch möglich, entwickelte sich zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit und erhielt dementsprechend die Würde einer neuen Tugend in allen Bereichen des Geschäftslebens. An dieser kulturellen Schnittstelle entzündet sich der Plot von In 80 Tagen um die Welt: Hier wird die Pünktlichkeit zum entscheidenden Faktor des Erfolgs und zur Grundlage, um Zeit und Raum exakt aufeinander zu beziehen und die eigene Bewegung danach auszurichten. Personifiziert wird die exakte Chronometrisierung in der Figur des Briten Phileas Fogg, der in seinem Haus von perfekten Uhren umgeben ist, denn diese erfassen mit Sekunde, Minute, Stunde, Tagen, Monaten und Jahren alle üblichen Maßeinheiten. Gebannt sitzt Fogg in seinem Sessel davor, die »Füße beieinander wie ein Soldat bei einer Parade, die Hände auf den Knien, den Körper aufrecht, den Kopf erhoben«, und betrachtet den Zeiger, als sei er selbst ein Mechanismus, der sich in Bewegung setzt, sobald die Uhrzeit den Ausschlag dazu gibt. Sein neuer Diener Passepartout wird ihn dementsprechend auch als »wahres Uhrwerk« bezeichnen. Dieser homo chronometricus ist dazu prädestiniert, eine Reise um die Welt in achtzig Tagen in Angriff zu nehmen, weil er sowieso nichts anderes lebt als zeitliche Durchdringung und Pünktlichkeit. Fogg ist ein Extrem, gewiss, und natürlich von Verne bewusst komisch überformt worden, aber in der Figur Foggs ist es dem Autor gelungen, etwas Alltägliches, ja Banales so sehr zu steigern, dass es zugleich groteske und grandiose Züge annimmt und in seiner Alltäglichkeit nicht mehr erkannt wird. Eine so methodische Pünktlichkeit wie das Leben Foggs, dessen Diener sich exakt an einen minutengenauen Tagesplan halten müssen, dürfte die Leser Vernes verwundert haben. Natürlich spart Verne auch nicht mit impliziter Kritik daran, wenn der Erzähler kommentiert, dass eine solche Exaktheit unsozial sei, weil soziales Leben Reibung mit sich bringe 133
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und sich demnach nicht genau planen lasse. Ergo ist Fogg Junggeselle, zumindest noch am Anfang. Die Präzision der Zeitmessung übt jedoch von sich aus schon einen sozialen Zwang aus, denn sie kann nur funktionieren, wenn die Uhren aller synchronisiert sind. Auch hier dürfte erneut die Eisenbahn die Notwendigkeit geschaffen haben, Zeit exakt abzustimmen. Die Industrie hat schnell nachgezogen, denn wie Alfred Krupp vorschrieb, darf »niemals eine Differenz von einer Minute geduldet werden; erst dann bin ich befriedigt und beruhigt, erst dann haben wir eine Fabrikordnung.« Im Hause Foggs ist das nicht anders. Die elektrische Pendeluhr entspricht genau derjenigen des Schlafzimmers, »und die beiden Uhrwerke schlugen im selben Augenblick dieselbe Sekunde.« Und nachdem Fogg den Namen Passepartouts erfahren hat, lautet seine erste Frage, welche Uhrzeit er habe. Tatsächlich geht die Uhr des Franzosen vier Minuten nach. Dieser scheinbar beiläufige Dialog hatte zeitgenössisch eine gewisse Brisanz, wenn man berücksichtigt, dass die Synchronisierung von Uhrzeiten 1872 noch eine ungelöste Aufgabe gewesen ist, und zwar national wie international. Denn die allgemeine Verbreitung von Uhren führt nicht automatisch zu einer einheitlichen Zeitrechnung, und die französischen Städte bestimmten bis in die 1890er Jahre hinein ihre lokale Zeit am so genannten mittleren Sonnenwert, der seit 1816 verwendet wurde. Die vielen lokalen Uhrzeiten mussten nun jedoch mit den Zeiten des Eisenbahnverkehrs synchronisiert werden. Dies tat man, indem man die Ortszeit von Paris, »l’heure légale« genannt, als Maßstab verwendete und dementsprechend umrechnete. Aber damit waren die Koordinationsbedürfnisse der Eisenbahn noch keineswegs befriedigt, denn sobald die Züge in andere Länder fuhren, wurde die Synchronisation auch international nötig. Dementsprechend erkannte der kanadische Ingenieur Sandford Fleming, der als der Erfinder der Weltzeit gilt, die Notwendigkeit, Zeit global abzustimmen, als er 1876 in Irland einen Zug verpasste. In der unterschiedlichen Zeit des Briten Fogg und des Franzosen Passepartout ironisierte Verne Synchronisationsprobleme, die historisch erst spä134
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ter gelöst werden sollten. 1884 einigte man sich auf der Internationalen Meridiankonferenz in Washington darauf, den Nullmeridian durch die Londoner Sternwarte Greenwich laufen zu lassen und damit eine weltweite standard time einzurichten. Das gefiel den Franzosen jedoch überhaupt nicht, die in Großbritannien einen Rivalen sahen und sich vorerst nicht anschlossen. Auf Dauer ließ sich dies jedoch nicht durchhalten, und im Jahre 1911 taktete sich auch Frankreich in die Standardzeit ein. Es mag zu weit gehen, in die Thematik der Uhrensynchronisation bei Verne eine nationale Haltung hineinzulesen. Zumindest nutzt Verne die Frage nach der Synchronisation dazu, die Problematik der Zeitzonen allgemein zu veranschaulichen. Denn während der Weltreise wird Passepartout sich weigern, seine Uhr umzustellen, so dass sie weiterhin beharrlich die Londoner Zeit angibt. Passepartouts harmlos-eigensinnige Weigerung, seine Familienuhr umzustellen, macht die unterschiedlichen Zeitzonen erfahrbar und bereitet so den finalen Überraschungseffekt vor. Wie wenig die Probleme der internationalen Zeitbestimmung selbst Spezialisten bewusst waren, zeigte sich daran, dass Verne am 4. April 1873 von der Société de géographie eingeladen wurde, um einen Vortrag zu der Frage zu halten, ob es einen konkreten Meridian gebe, der die Datumsgrenze darstelle. Präzision, Methodik und Pünktlichkeit lassen sich kulturell nicht einführen, ohne dass sie weitere Folgen nach sich ziehen. Dass bei dem Übergang vom approximativen in das exakte Zeitregime auch etwas verloren geht, hatte Verne schon 1854 in seiner hoffmannesken Schauergeschichte Meister Zacharius befürchtet, die zunächst im Musée des famillles, dann 1874 auch bei Hetzel erschien und somit weiterhin für Verne präsent war. Darin taucht eine diabolische Figur namens Pittonaccio auf, die, halb Mensch halb Uhr, das neue Zeitalter des Präzisionszwangs verkörpert. Pittonaccio spiegelt darin zugleich auch die Hauptfigur des genialen Uhrmachers Zacharius wider, der die exakte Zeitmessung technisch überhaupt erst möglich gemacht hat. Damit jedoch wird eine Epochengrenze überschritten, die Vernes Erzähler ebenso nostalgisch wie kritisch kommentiert:
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»Wer kümmerte sich damals schon darum, die Zeit zu regulieren? Die gesetzlichen Fristen waren noch nicht erfunden, die Naturwissenschaften gründeten ihre Berechnungen noch nicht auf skrupulös exakte Maßeinheiten, es gab kein Etablissement, das zu fester Uhrzeit schloss, und keine Fahrzeuge, die auf die Sekunde genau losfuhren. Abends läutete man den Zapfenstreich, nachts wurden die Stunden in der Stille ausgerufen. Gewiss, man lebte die Zeit weniger aus, wenn man die Existenz nach der Menge der erledigten Aufgaben bemisst, aber man lebte besser.« In ungewöhnlich deutlicher Weise werden hier die historischen Veränderungen in den Wissenschaften, der Fortbewegungstechnik und der exakten Chronometrie im Hinblick auf ihren unmittelbaren Einfluss auf den Alltag bedauert. 1872 hatte sich daran nichts grundsätzlich geändert, aber Vernes Blick war in der Zwischenzeit weniger einseitig geworden. Denn das Zeitmonster Pittonaccio kehrt nun in Gestalt des attraktiven und keineswegs unsympathischen Phileas Fogg wieder. Dessen chronometrisch exaktes Leben, das nach einem auf die Minute genauen Plan geführt wird, und seine methodische Durchführung der Reise mit Hilfe einer Tabelle, auf der er Gewinne und Verluste einträgt und kontrolliert, bringt schließlich auch eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich. Denn sie schenken ihm eine Selbstsicherheit, die ihn keinen Moment lang an der Durchführbarkeit zweifeln lässt. Dank seines Plans weiß Fogg stets, was er zu tun und was er zu lassen hat, und selbst in brenzligen Situationen kann er stets Ruhe bewahren. Das war auch 1872 noch ein ungewöhnliches Verhaltensmuster, für das Verne mehrere Erklärungen anbot. Zunächst deutete er dies als Ausdruck eines typisch britischen Phlegmas und bezog sich damit auf eine Theorie von Nationalcharakteren, die mithilfe der antiken Medizin über klimatische Bedingungen begründet wurden. Die Theorie basierte auf der Annahme, dass Charakter und Gesundheit des Menschen maßgeblich vom Anteil von vier Säften im Körper bestimmt würden: Blut, Wasser, roter und schwarzer Galle. Bei Dominanz eines der Säfte entstehen vier unterschiedliche Grund136
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typen: der Blutreiche (Sanguiniker), der Wasserreiche (Phlegmatiker) sowie diejenigen, die reich an roter (Choleriker) oder an schwarzer Galle (Melancholiker) sind, Charakterbezeichnungen, die heute noch landläufig verwendet werden. Das feuchte und neblige London – der Name Fogg scheint dies zu betonen – ist somit der klimatisch ideale Ort, um einen Phlegmatiker hervorzubringen. Solche Theorien, die unter dem Begriff der Physiognomik zusammengefasst wurden, hatten im 18. Jahrhundert durch den Schweizer Pastor Lavater eine Renaissance erlebt, der in seinen Physiognomischen Fragmenten Charakterstudien anhand von Porträts vornahm und seine Leser damit in den Bann zog. Auch in Frankreich wurde Lavater breit rezipiert und hat tiefe Spuren in der Literatur hinterlassen, vor allem bei Balzac, der als Kronzeuge der literarischen Physiognomik angesehen werden kann. Auch Verne greift in den Außergewöhnlichen Reisen immer wieder auf physiognomische Theorien zurück und schreibt sich in einen traditionellen literarischen Diskurs ein, ohne dabei in völligen Widerspruch zur Medizin zu geraten, die sich kaum den Fragen von Konstitution und Charakter widmete, sondern gerade mit der Bakteriologie ihren Durchbruch erlebte und ganz andere Ziele verfolgte. Dennoch wird das Phlegma als Begründung von Foggs Wesen im Roman bloß beiläufig erwähnt. Daher reicht es allein nicht aus, um Foggs entspannte Haltung gegenüber den Wechselfällen der Reise zu erklären. Als Hauptgrund erscheint vielmehr seine alles umfassende Methodik selbst. Trotz aller ironischen Brechung verkörpert Fogg die wachsende Kontrolle des Menschen über Raum und Zeit. Indem die Methodik in Form von mathematischer Berechnung und Kontrolle in den Vordergrund gerät, ähnelt Fogg nicht nur dem Wissenschaftler, sondern auch dem Typus des Professionellen, der stets weiß, wie er sich zu verhalten hat, weil er seine Methoden nur anzuwenden braucht. Ein solcher Typus aber, der allem gegenüber »ungerührt und unerschütterlich« bleibt, wie Fogg einmal beschrieben wird, hat die perfekten Voraussetzungen, um im Beruf zu reüssieren. Fogg präfiguriert daher auch die Professionalität als Verhaltensideal des 20. Jahrhunderts, die sich aus der anglo-amerikani137
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schen Kultur nach und nach globalisiert hat und vor allem über das Kino im Verhaltenscode der »Coolness« von Cops und Co. verbreitet wurde. Insofern steht die Inszenierung der Pünktlichkeit im Roman In 80 Tagen um die Welt in kulturhistorisch engem Zusammenhang mit der Industrialisierung. Gewiss lockt ein Abenteuerroman den Leser gerade weg vom heimischen Herd, um ihn in fremde Welten zu führen. Aber das bedeutet nicht, dass er einen wirklich mit Fremdheit konfrontiert. Verne zeichnet sich in diesem Roman meines Erachtens gerade dadurch aus, dass er kulturelle Verschiebungen, die zum Alltag werden, in der Handlung des Abenteuers camoufliert und diese fiktional reflektiert. Dementsprechend interessiert sich Fogg auch gar nicht für die Reisestationen selbst, er ist überall gleich zu Hause und kontrolliert die Situation, egal ob er auf einem indischen Elefanten reiten, Seestürme überstehen oder Passepartout aus der Hand feindlicher Indianer befreien muss. Foggs Coolness wird dabei zugleich eindeutig von Hartherzigkeit abgehoben – hierin unterscheidet er sich von Zacharius, der Glauben und Menschlichkeit verliert –, denn Verne achtet darauf, ihm Gefühle wie Mitleid und Barmherzigkeit zu verleihen. Schon zu Beginn des Romans gibt er einer Bettlerin Almosen, dann rettet er Mrs. Aouda vor einem Verbrennungsritual und kann schließlich selbst Detektiv Fix auf Dauer nicht böse sein. Chronometrische Taktung des Lebens und methodische Effizienz schließen Herzensgüte also keineswegs aus. Fogg ist daher eine mehrdeutige Figur geworden, die unter der elitären Hülle des reichen Müßiggängers die Tugenden des Professionalismus verbirgt. Zur Nüchternheit Foggs gehört auch, dass er Probleme weitgehend mit Geld löst, indem er einfach einen Elefanten kauft, als es keine Bahnschienen mehr gibt, indem er Passepartout durch Kaution vor dem Gefängnis bewahrt und schließlich sogar das Schiff ersteht, mit dem sie den Atlantik auf dem Rückweg überqueren. Foggs Gelassenheit und seine finanzielle Macht sind seine eigentlichen Merkmale, darüber hinaus werden keine weiteren genannt, mit Ausnahme seiner Leidenschaft für das Whist-Spiel. 138
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Mit den neuen Fortbewegungsmitteln und den neuen Raum-ZeitKonstellationen verändert sich zugleich auch das klassische Abenteuer, das dem Ausbruch aus dem Alltag und den Unwägbarkeiten der Reise entsprungen war. Die Eisenbahn löste all dies auf, weil für sie die natürlichen Hindernisse im Vorfeld aus dem Weg geräumt wurden und die Reisenden im beheizten Zug mit Bordrestaurant für keinen Augenblick den Schutzraum annehmlicher Bürgerlichkeit verlassen müssen. Klassische Abenteuer begegnen Fogg daher immer nur dann, wenn die neuen Fortbewegungsmittel ausfallen. Mit dem Wegfall der Hindernisse gehen jedoch nicht sämtliche Erregungen des Reisens verloren. Denn durch die neue Gleichschaltung des Menschen auf Pünktlichkeit tritt die Einhaltung des gesetzten Zeitraums selbst an die Stelle des Abenteuers. Das mag wenig spektakulär klingen, ist es aber nicht. Denn In 80 Tagen um die Welt ist zweifellos einer der spannendsten Romane Vernes, und dies liegt nicht allein an den episodischen Abenteuern am Rande des Reisewegs, sondern daran, dass die Verspätung selbst die Dignität einer ernsten Gefahr erhält. Über den Kunstgriff der Wette gelingt es Verne, den Alltag ins Grandiose zu steigern und Pünktlichkeit in ein Abenteuer zu verwandeln. Dass sich dabei auch die Zeiterfahrung im Roman ändern muss, liegt auf der Hand, denn Zeit muss als solche nun viel spürbarer hervortreten. Am deutlichsten kommt dies am Romanschluss zum Ausdruck, als die Wettgesellschaft im Reform Club auf Fogg wartet und die letzten Sekunden zählt: »Nur noch eine Minute und die Wette war gewonnen. Andrew Stuart und seine Kollegen hatten mit dem Spiel aufgehört. Sie hatten die Karten liegen lassen! Sie zählten die Sekunden! In der vierzigsten Sekunde passierte nichts. In der fünfzigsten immer noch nichts. In der fünfundfünfzigsten Sekunde ertönte es draußen wie ein Donner, Applaus, Hurras und sogar Verwünschungen, die sich in einem ununterbrochenen Rollen verbreiteten. Die Spieler erhoben sich. 139
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In der siebenundfünfzigsten Sekunde wurde die Salontür geöffnet, und der Uhrschwengel hatte die sechzigste Sekunde noch nicht geschlagen, als Phileas Fogg erschien, gefolgt von einer tobenden Menge, die sich mit Gewalt Zutritt zum Club verschafft hatte, und mit seiner ruhigen Stimme sagte: ›Hier bin ich, meine Herren.‹« Verne setzt hier etwas um, was die Erzählforschung kaum beachtet hat und was Gérard Genette in seiner klassisch gewordenen Beschreibung der Erzähltempi gar nicht erst aufnimmt: nämlich das dehnende Erzählen, in dem die Erzählzeit größer wird als die erzählte Zeit, obwohl die Handlung voranschreitet. Verne erreicht dies, indem er die zeitlichen Abstände so verknappt, dass der Leser sie notwendig überschreiten muss. Dadurch kann Zeit jedoch auch besonders intensiv erlebt werden, gerade weil sie exakt messbar bleibt. In 80 Tagen um die Welt war zugleich als Roman und als Theaterstück geplant worden und wurde in beiden Formaten Vernes größter Publikumserfolg. Dennoch verfolgen beide Versionen klar unterschiedliche Zielsetzungen. Das heute vergessene Stück illustriert paradigmatisch die spektakulären Inszenierungen, die das Publikum seiner Zeit begeisterten und noch auf die Verne-Rezeption im 20. Jahrhundert Einfluss hatten. Anders als der Roman war die Bühnenversion ganz auf die visuelle und sinnliche Überwältigung der Zuschauer ausgerichtet und gab didaktische Ambitionen weitgehend auf. Die Handlung war unter anderem durch einen effektvollen Schiffbruch ergänzt worden und führte zahlreiche weitere Figuren ein, darunter auch eine Frau für Passepartout, um das Happy End mit Mehrfachhochzeiten komplett zu machen. Das von Verne zusammen mit dem erfolgreichen Theaterautor Adolphe d’Ennery (eigentlich Dennery) verfasste Stück wurde am 7. November 1874 am Porte Saint-Martin-Theater uraufgeführt und erlebte allein bis zum 20. Dezember 1875 unglaubliche 415 Aufführungen und kam bis zum Zweiten Weltkrieg auf viele Tausend weitere. Die Inszenierungen von In 80 Tagen um die Welt hinterließen einen so tiefen Eindruck, dass man ihnen sogar einen eigenen Ein140
Michel Verne
trag im Grand Dictionnaire Universel du XIXe siècle (1866–1876) von Larousse gewährte. Dessen Autor war vom Realismus des besagten Schiffbruchs sichtlich beeindruckt. Man hatte das Schiff mit echten Heizkesseln versehen und für die Zuschauer mächtig Dampf gemacht, aber, so der Enzyklopädist, »sobald man die Explosion hört, leitet der Heizer ruckartig den Dampf um, die ganze Bühne füllt sich mit Rauch, und das Schiff geht im Sturm schaurig unter. Man sieht, wie es nach und nach bis zur Wasserlinie sinkt, dann verschwinden sogar die Masten und das Meer schließt sich über seinem Opfer. Niemals ist der Schrecken im Theater mit einer solchen Genauigkeit dargestellt worden.« Mit dem visuellen Realismus des Schrecklichen nahm die Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts bereits die spektakuläre Ästhetik der Verne-Verfilmungen Hollywoods vorweg, die achtzig Jahre später auf der Leinwand im Angriff eines Riesenkraken auf die Nautilus eine ähnliche Wirkung entfaltete. Beide Fassungen waren damit tief in ihrer Zeit verankert und wiesen doch zugleich auch weit über sie hinaus. Vernes Wettlauf um die Welt ist zu einem modernen Mythos geworden, dem die Nachwelt unzählige Male gefolgt ist. Als eine der ersten nahm die USamerikanische Journalistin Nellie Bly am 14. November 1889 die Herausforderung an, Foggs 80 Tage zu unterbieten. Auf ihrem Weg machte sie eine Stippvisite bei Verne in Amiens, von der die Medien damals breit berichteten, und erreichte am 25. Januar nach 72 Tagen wieder New York. 1892 dann unterbot George Francis Train den Rekord mit sechzig Tagen, aber nur um danach immer wieder neu unterboten zu werden.
Michel Verne: Sohn eines Erfolgsautors
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ass Verne sich bei der Geburt seines Sohnes am 4. August 1861 auf Skandinavienreise in Oslo befand, haben ihm einige Biografen zum Vorwurf gemacht. Man sollte dies meiner Meinung nach im Kontext der Geschlechterrollen im 19. Jahrhundert aber 141
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auch nicht überbewerten. Natürlich war eine Schwangerschaft ein höheres Risiko als heute, aber Honorine hatte bereits zwei gesunde Töchter zur Welt gebracht. Außerdem war es nicht üblich, dass Väter bei der Geburt selbst anwesend waren. Allerdings hat Verne sich diesem Vorwurf bewusst ausgesetzt und später ein schlechtes Gewissen gehabt, andererseits ist er nach der Geburt sofort zurückgereist und war vier Tage später wieder zu Hause. Wie üblich wurde Michel in erster Linie von seiner Mutter erzogen, die offenbar eher nachgiebig war. Die Sommer verbrachte die Familie ab 1865 im Haus »Solitude« (Einsamkeit) des kleinen Ortes Le Crotoy an der Mündung der Somme. Nur einen Steinwurf vom Hafenkanal entfernt, an dem sich lange Spaziergänge am Wasser entlang machen ließen, fand Verne in dem Tausendseelendorf die nötige Ruhe, um sich ganz der Literatur zu widmen – wenn da nicht das lästige Schreikind Michel gewesen wäre, den die Anwohner bald schon den »Schrecken von Le Crotoy« tauften. Waren das erste Anzeichen eines Kindes, das mehr Aufmerksamkeit haben will? Die Ehe der Eltern entsprach einerseits den Konventionen, war andererseits aber zumindest aufseiten Vernes auch aus romantischen Gründen eingegangen worden. Mitte der 1850er Jahre hatte Verne in Paris stark unter Einsamkeit gelitten, die er in einer Ehe zu überwinden suchte. Schon kurz nach der Heirat begann Vernes schriftstellerischer Aufstieg, der von da an sein Leben prägte und die Arbeit ganz in den Mittelpunkt stellte. Honorine dürfte sich unter Ehe wohl etwas mehr gemeinsame Zeit vorgestellt haben, die Verne nicht mehr zu geben vermochte oder nicht geben wollte. Dieses Missverhältnis konnte auch ihm auf Dauer nicht verborgen bleiben. Nachdem Michel eingeschult wurde, geriet die Ehe Ende der 1860er Jahre in eine Krise. Zu jener Zeit scheint Verne eine Affäre in Paris eingegangen zu sein, wo er ganz »liebestoll« sei, wie er im Februar 1870 an Hetzel schrieb, der ihn mehrfach gedeckt hat, damit er in die Hauptstadt fahren konnte. Wer darüber ein moralisches Urteil fällen will, sollte sich vorher noch bewusst machen, wie der Ehebruch des Mannes im 19. Jahrhundert bewertet wurde. Denn in Sachen Treue wurde im Rückgriff auf physiologische Unterschiede 142
Michel Verne
klar zwischen den Geschlechtern differenziert. Aus der Tatsache, dass eine Frau pro Jahr nur ein Kind zur Welt bringen konnte, schloss man, dass sie von Natur aus treu sein müsse. An der Treue des Mann hingegen, der so viele Kinder im Jahr zeugen konnte, wie ihm Frauen zur Verfügung standen, habe die Natur, meinte man, gar kein Interesse, weil es ihr um die möglichst zahlreiche Verbreitung der Spezies gehe. Die Treue der Frau sei damit natürlich, die des Mannes unnatürlich. Abgesehen davon achtete das Patriarchat seit jeher aus ökonomischen Gründen auf die Treue der Frau, weil man sichergehen wollte, dass die Nachkommen wirklich von dem einen Mann stammten. Physiologie und Traditionen hatten rechtliche Konsequenzen: Eine Ehebrecherin erhielt eine Haftstrafe zwischen drei Monaten und zwei Jahren, ein Ehebrecher hingegen nicht. Die Untreue der Ehefrau war damit viel brisanter als die des Mannes, und es überrascht wenig, dass sich die berühmten Ehebruchsromane des Realismus wie Madame Bovary, Anna Karenina oder Effi Briest um Frauen drehen. Die Affäre Vernes in Paris war die eine Sache, die andere aber war, dass er immer trübseliger wurde und immer häufiger aus dem Haus ging. Hilfe suchend wandte sich Honorine mit einem Brief an Hetzel. Es ist eines der wenigen Dokumente, in denen sie uns unmittelbar gegenübertritt. Die Sorge und der Tonfall zeigen, dass sie ernsthaft um ihre Ehe kämpfte und genau wusste, dass Hetzel der beste Weg war, um wieder an ihren Mann heranzukommen. Warum, so fragte sie Hetzel, sei Jules nur so traurig und niedergeschlagen, seitdem er in Le Crotoy lebte? »Erschöpft ihn die Arbeit? Oder fällt sie ihm schwerer, denn er scheint entmutigt zu sein. Und er lädt all die Gründe für seinen Ärger auf mich ab … Was tun? Was dazu sagen? Ich weine und bin verzweifelt. Wenn er sich zu Hause zu sehr langweilt und ihm alles zuviel wird, dann nimmt er sein Boot und ist weg, meistens weiß ich gar nicht, wo er ist. Sie … tun doch alles, um aus ihm einen angesehenen Schriftsteller zu machen, glauben Sie, dass es noch Hoffnung gibt, aus ihm einen passablen Ehemann zu machen? … 143
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Der größter Fehler meines Mannes war meiner Meinung nach, dass er Paris verlassen hat. Er lebt zu einsam hier, ist zu oft mit sich allein … Adieu, mein lieber Freund, verzeihen Sie mir und haben Sie Verständnis für mich, mein Mann entgleitet mir, helfen Sie mir, ihn zurückzuhalten …« An Vernes Berufung zum Schriftsteller und seiner Entschlossenheit, ihr nachzugehen, sollte sie nie etwas ändern. Geteiltes Leid jedoch führte die Eheleute ab Mitte der 1870er Jahre wieder zusammen. Im Frühling 1876 stellten sich bei Honorine schwere Zwischenblutungen ein, die zu einer Metrorrhagie führten. Die Ärzte hielten ihren Zustand für lebensgefährlich. Honorine rief nach priesterlichem Beistand, die Familie glaubte sie verloren. Unfähig, selbst zur Feder zu greifen, bat Verne seinen Schwager Georges Lefebvre, Hetzel zu schreiben. Lefebvre zeichnete in dem Brief auch ein bewegendes Bild von dem Gefühlszustand, in dem Verne sich befand: Der »arme Ehemann ist zwar tapfer, aber in einem furchtbaren Zustand«, weil er seine Frau so sehr liebe. Trotz des hohen Risikos wagte man eine Bluttransfusion. Sie gelang, und es kam zu einer vorübergehenden Besserung. Aber Honorine war noch nicht ganz außer Gefahr und musste noch zwei Monate das Bett hüten. Ende April schrieb Hetzel einfühlsam an Verne, dass die Krankheit beiden wohl zu verstehen gebe, dass sie sich näher stünden, als sie geglaubt hatten. Zwar half Verne auch hier die Arbeit, die er niemals vernachlässigte, über die Wirklichkeit hinweg, aber die Sorge um Honorine sollte bleiben, da sie in den nächsten vier Jahren regelmäßig schwer erkrankte und Anfang 1879 sogar erneut in Lebensgefahr schwebte. Und wie erlebte der mittlerweile 14-jährige Michel diese dramatischen Ereignisse? Während sich seine Mutter Ende April 1876 in einem kritischen Zustand befand, wandte er sich in einem Brief seelenruhig an Hetzel und bat ihn um ein paar Bücher und Ausgaben des Magasin. Hetzel war nicht wenig überrascht, wie er in einem Brief vom 30. April an Verne erklärte: »Der arme Junge ist wohl so mit den kleinen Dingen beschäftigt, die ihm Freude machen, dass er mir gegenüber mit keinem Wort seine Mama oder die Sorgen aller 144
Michel Verne
erwähnt. Gewiss bedeutet dies nicht, dass er sie nicht teilt, aber es weist entweder auf Stärke oder auf Schwäche hin, dass er nichts davon sagt.« Tatsächlich sollte auch Michel seinen Beitrag dazu leisten, die Eheleute wieder zusammenzuschweißen. Während einerseits Sorge um Honorine herrschte, Verne andererseits seit dem Erfolg von In 80 Tagen um die Welt als Romancier triumphierte, wuchs zur gleichen Zeit der Konflikt mit Michel in einem Wechsel aus Spannung und vorübergehenMichel Verne als Kind der Entspannung die nächsten Jahre ständig an. Er sollte Vernes Privatleben lange Zeit überschatten und ihn zwanzig Jahre später in einem Brief an seinen Bruder Paul vom 21. August 1894 zu der bedrückenden und resignierten Aussage veranlassen, dass die Familie für ihn »nur eine Quelle der Besorgnis und der Enttäuschungen« gewesen sei. Vorstellungen von Familie gehören zu den sozialen Bereichen, die am stärksten historisch und kulturell überformt sind. Um das Verhältnis und dessen konfliktive Dynamik zwischen Jules Verne und seinem Sohn zu verstehen, muss man sich zunächst bewusst machen, was es im 19. Jahrhundert hieß, Vater zu sein. Es bedeutete, das uneingeschränkte Haupt und das Zentrum der Familie darzustellen und damit auch alle Macht auszuüben und alle Verantwortung zu tragen. Im Unterschied zur fürsorglichen Rolle der Mutter kam die Vaterschaft einem Amt gleich, das den öffentlichen Frieden zu schützen hatte und aus den Kindern gute Bürger machen sollte. Der Vater war der Punkt, in dem Familie und Staat kooperierten, weil 145
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
der Staat dem Vater seine Macht überantwortete. Vater zu sein, war somit mit einem Verantwortlichkeitsgefühl dem Gemeinschaftswesen gegenüber verbunden. In diesem Sinne schreibt Verne in einem Brief an Hetzel einmal davon, dass er bei Michel »bis zum letzten seine Pflicht« erfüllen werde. Das mächtigste und schrecklichste Instrument der väterlichen Macht war die im Code civil, dem Zivilgesetzbuch, festgelegte väterliche Zuchtgewalt, die zwischen 1789 und 1914 rechtsgültig war. Sie gab dem Vater das Recht, seine Kinder zu bestrafen, und erlaubte es ihm sogar, sie per richterlicher Verfügung für zunächst einen Monat in eine Strafanstalt sperren zu lassen. In einem solchen Falle wurden Kinder zu Delinquenten degradiert und in den regionalen Gefängnissen zum Teil ohne Unterschied zu den übrigen Insassen behandelt. In den Jahren zwischen 1874 und 1878 wurden pro Jahr ca. 1 100 bis 1 200 solcher Verfügungen ausgestellt, wobei nicht bekannt ist, wie viele davon umgesetzt wurden. Im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung ist dies eine sehr geringe Zahl und zeigt, dass es sich um eine extreme Maßnahme handelte. Jules Verne sollte dennoch 1878 auf sie zurückgreifen. Das Vaterbild, auf dem diese Rechtsgrundlagen ruhten, sah in dem Familienoberhaupt eine kluge und gütige Instanz, die im Sinne des Allgemeinwohls handelte. Das Kinderbild hingegen stützte sich weitgehend auf biblische Vorstellungen, denen zufolge Kinder die Eltern zu ehren hatten und sich selbst kaum an Rechten erfreuten. Bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter mit damals 21 Jahren waren sie von den Entscheidungen des Vaters abhängig. Vor allem das katholische Milieu, dem Verne angehörte, favorisierte diese christlich fundierten Vorstellungen von Familie. Dies sollte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dahingehend ändern, dass der Staat mehr und mehr in die Familien hinein Verantwortung übernahm. Eine Epochengrenze markierte in dieser Hinsicht das Gesetz zum Entzug der väterlichen Gewalt von 1889, durch das Kinder größeren Schutz vom Staat erhalten konnten und die Verantwortung für Problemfälle stärker bei den Eltern gesucht wurde. 146
Michel Verne
Michels frühkindliche Erziehung scheint durch große Nachgiebigkeit gekennzeichnet gewesen zu sein. Der Vater war dermaßen mit seiner Laufbahn beschäftigt, dass er sich kaum um den Jungen kümmerte. 1868 und 1869 litt Michel an ständigen Fieberkrankheiten, die dazu beigetragen haben, den Jungen über das gewöhnliche Maß hinaus zu verwöhnen. Zwar hat Verne früh begriffen, dass Michel nicht konsequent erzogen wurde, er scheint aber auf den korrektiven Einfluss der Schule gehofft zu haben, als er ihn in das klösterliche Internat von Abbeville schickte. Bisher gab es noch keinen Grund zu übermäßiger Sorge. Am 22. Juli 1869 kann Verne Hetzel noch mitteilen, dass Michel körperlich und psychisch in bester Verfassung sei. Gewiss trat Verne als Erzieher in den ersten Jahren nur wenig in Erscheinung und war froh, wenn der Sohn versorgt war und er selbst sich in Ruhe dem Schreiben widmen konnte. Das muss jedoch nicht zwangsweise ein Zeichen von Herzlosigkeit oder mangelnder Liebe sein. Als Schriftsteller hatte Verne eine eigene Art, dem Sohn einen Raum in seinem Leben zu schenken. Er tat dies symbolisch in seiner Fantasiewelt, indem er immer wieder Figuren auf den Namen Michel taufte, wie in Paris im 20. Jahrhundert oder in Der Kurier des Zaren, und natürlich auch im Falle seiner drei geliebten Jachten. Anfang der 1870er Jahre, gegen Ende seiner Kindheit, spitzte sich die Lage zu, denn Michel geriet regelmäßig in heftige Konflikte mit seiner Umwelt und bekam Wutanfälle, bei denen er die Selbstkontrolle verlor. 1874 suchte Verne bei dem damals berühmten Psychiater Émile-Antoine Blanche Unterstützung. Trotz vorübergehender Verbesserungen sollte sich die Situation über die nächsten Jahre weiter verschärfen und in der Ausweisung Michels aus dem Elternhaus gipfeln. Verne, der selbst zur Sparsamkeit erzogen worden war, stellte bedrückt fest, dass seinem Sohn jeder Realitätssinn fehlte und dieser unbedacht das Geld ausgab und dessen Wert nicht zu schätzen wusste. Michels leichtfertiger Umgang mit dem Geld war zudem für den Vater eine hohe wirtschaftliche und psychische Belastung, musste er doch für drei Kinder und seine Frau sorgen, die allesamt kein Einkommen hatten. Er wird Michel bis ins hohe Alter finanziell 147
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unterstützen und nicht müde werden, ihn immer wieder zur Sparsamkeit zu ermahnen. Konfrontierte man Michel mit seinen Grenzüberschreitungen, kam es zum Konflikt, und der Junge verlor so weit die Fassung, dass er handgreiflich werden konnte. Verne klagte Hetzel gegenüber, dass Michel »jedes Respekts ermangelt vor allem, was respek tabel ist« und dass »seine Eitelkeit über alles Vorstellbare hinausgeht«. Hatte man Verne im Elternhaus Bescheidenheit, Frömmigkeit und Fleiß vorgelebt, so provozierte Michel den Vater mit ostentativer Selbstüberschätzung, Zweifel an der Religion und dauerndem Müßiggang. Trotz hoher Intelligenz konnte der Sohn sich nie für eine Sache entscheiden und diese kontinuierlich verfolgen. Bis zu seinem Tod führte er ein unstetes Berufsleben und lebte immer auch von der Unterstützung und anschließend von den Tantiemen seines Vaters. Michel nun einfach als psychisch krank oder gar als verrückt abzustempeln – wie Verne selbst es eine Zeit lang tat –, wäre eine unzulässige Vereinfachung der Sachlage, denn sein Verhalten trägt typische Züge einer bestimmten familiären Situation: nämlich derjenigen, der Sohn eines berühmten Vaters zu sein. Kinder berühmter Eltern stehen vor besonderen Herausforderungen, um bis zu ihrem Erwachsenenalter eine stabile und gereifte Identität aufzubauen. Denn berühmte Eltern widmen ihre Zeit und Lebensenergie vor allem ihrer Arbeit und kümmern sich daher relativ wenig um ihre Nachkommen, die sich häufig vernachlässigt fühlen und dementsprechend Aufmerksamkeit einfordern. Auf den höchst disziplinierten und nicht selten abwesenden Verne trifft dies voll zu, macht allein aber nicht die Problematik aus, weil dies durchaus der typischen Rollenverteilung entsprach. Hinzu kommt vor allem, dass auch das Verhältnis des Kindes zu dritten Personen über die Bekanntheit des berühmten Elternteils gefiltert wird und das Kind somit weniger als eigene Persönlichkeit, sondern als »Kind von …« wahrgenommen wird. Dies gilt im besonderen Maße für Verne, dessen Romane gerade von männlichen Jugendlichen gelesen und als Schulpreise vergeben wurden. Der Vater war damit genau in dem Milieu präsent, in 148
Michel Verne
dem sich Michel während der Pubertät bewegte. Konkret bedeutet dies, dass Kinder berühmter Eltern in ihrer Umwelt oft Privilegien und Vorteile, aber ebenso sehr Neid und Ablehnung erfahren. Dies kann bei den Betroffenen eine Unsicherheit auslösen, die zwischen einem Überlegenheitsgefühl und dem Selbstzweifel schwanken, diese Vorteile eigentlich gar nicht zu verdienen. Danielle Knafo hat empirisch vier verschiedene Strategien herausgearbeitet, mit denen Kinder auf diese Herausforderungen reagieren. Sie können erstens mit den Eltern konkurrieren, wobei die Rivalität sich noch erhöht, wenn sie das gleiche Geschlecht des berühmten Elternteils haben, was bei Jules und Michel zutrifft. Zweitens versuchen sie, Anteil zu haben an der Berühmtheit. Drittens weichen einige auf ein anderes Feld aus, um dort erfolgreich zu sein, oder aber es gelingt ihnen viertens nicht, aus ihrem Schatten zu treten, und sie werden anfällig für Suchtmittel oder tragen sich mit Selbstmordgedanken. Vieles davon findet sich bei Michel wieder. Als sich 1876 die Konflikte zuspitzten, entschloss sich der Vater zu einer ersten strengen Erziehungsmaßnahme und schickte den Jungen von Oktober 1876 bis Juni 1877 für acht Monate in die damals bekannte Besserungsanstalt Mettray bei Tours. Mettray kann als eine der paradigma tischen Anstalten der bürgerlichen Gesellschaft angesehen werden, um junge Menschen auf den »rechten« Weg zu bringen und war ab 1840 hundert Jahre in Betrieb. Laut Michel Foucault vereinte Mettray Merkmale von Kloster, Gefängnis, Kolleg und Regiment und zeichnete sich durch eine besondere Strenge aus. In Mettray ist Michel jedoch nicht mit den gewöhnlichen Jugendlichen zusammen, sondern kommt in das so genannte »Vaterhaus«, eine Sonderanstalt für Kinder wohlhabender Eltern, die Verne zwischen 300 bis 400 Francs (ca. 980 bis 1 300 €) pro Monat kostete. Das »Vaterhaus« setzte auf konsequente Isolation, Michel lebte in einer Zelle und hatte außer zu den Lehrern keinen Umgang, auch nicht zu anderen Schülern. Direkte Zeugnisse besitzen wir nicht aus dieser Zeit, aber die Tatsache, dass der Leiter von Mettray, Dr. Louis Blanchard, Verne im Juni 1877 riet, Michel wieder in die Familie 149
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Das Vaterhaus von Mettray
aufzunehmen und ihn mit Liebe und Nachsicht zu behandeln, weil er sonst »in den Wahnsinn oder in den Selbstmord« getrieben werden könnte, zeigt, dass die Methode keine Wirkung erzielte. Kurz darauf erhielt Verne, so schrieb er an Hetzel, von Michel den schlimmsten Brief, »den ein Vater jemals von einem Sohn erhalten hat!! Das bringt uns um.« Leider ist dieses Dokument nicht erhalten, man darf vermuten, dass Michel seinen Vater darin massiv beschuldigte und darüber hinaus mit antibürgerlichen und antikatholischen Aussagen provozierte. Verne verzweifelt. »Bei diesem Kind«, schreibt er Hetzel, »das schon 25 mit 14 Jahren« sei, herrsche eine »frühreife Perversion« vor. Hier unterlief Verne wohl eine Freudsche Fehlleistung, denn Michel war bereits sechzehn. Verne folgte dem Ratschlag des Arztes, während Hetzel ihm zu größter Strenge riet. Interessanterweise stellte der Verleger dabei eine Verbindung zur Berühmtheit des Vaters her und erkannte, dass sie eine besondere Herausforderung darstellte: »Sein Name, dem Sie Ehre gebracht haben, wäre erdrückend für ihn, sobald er ihn 150
Michel Verne
durch schlechtes Verhalten entehren würde.« Und: »Im Lichte Ihres Namens würde das Licht nur umso heller auf seine Unzulänglichkeiten fallen.« Dann verglich Hetzel Michel mit dem sozial gefallenen Sohn des Dichters Casimir Delavigne. Hetzel sah somit zwar durchaus Analogien, er zog aber aus heutiger Sicht keine angemessenen Konsequenzen daraus, weil er die Schuld allein beim Sohn selbst suchte. Vernes Reaktion, Michel zur Nantaiser Familie zu schicken, kurz darauf selbst dorthin zu ziehen und eine Wohnung in der Rue Suffren Nr. 1, gegenüber von Bruder Paul, zu mieten, zeigte, wie sehr er sich um den Sohn bemühte und sich nicht allein auf Strenge verließ. Problematisch war daran nur, dass Michel dadurch wieder genau das erhielt, was er wollte: Aufmerksamkeit, dem Vater seinen Rhythmus aufzwingen und sich durchsetzen. Das hatte sich Mitte der 1870er längst zu einem Muster aus Entspannung und neuer Anpannung verfestigt. Zunächst lief in Chantenay, dem Sommersitz der Familie in der Nähe von Nantes, und dann in Nantes alles gut. Aber dann setzten die Probleme wieder ein, und Michel häufte erneut Schulden an. Auf den Rückfall reagierte Verne wieder mit Strenge. Schon länger hatte er darüber nachgedacht, Michel zur See zu schicken. Mit Hilfe seines Bruders Paul fand er ein geeignetes Schiff, den Dreimaster Assomption, der von Bordeaux aus nach Mauritius und dann nach Indien fahren würde. Im Rückgriff auf seine väterliche Zuchtgewalt ließ er Michel in Nantes in ein Arresthaus sperren, bis das Schiff auslief. Nur Onkel Paul durfte ihn dort alle vier bis fünf Tage besuchen, Mutter, Tanten und Kusinen hingegen nicht. Vom Arresthaus wurde er Anfang Februar 1878 direkt nach Bordeaux begleitet und auf das Schiff gebracht. Jules Verne reiste an, um der Einschiffung beizuwohnen. Am 8. Februar lief das Schiff dann endlich aus. Michels Seefahrt, die über sechzehn Monate dauerte und am 15. Juni 1879 endete, war ein letzter Erziehungsversuch, eine letzte Therapie für den Sohn, um ihn aus der Sicht des Vaters an die Werte des bürgerlichen Lebens – Gehorsam, Disziplin, Arbeit und Sparsamkeit – zu gewöhnen. Auch sie sollte scheitern. 151
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Lag es daran, dass der Vater die Maßnahme zugleich deutlich abmilderte? Michel fuhr offiziell als Offiziersanwärter der Handelsmarine mit, wurde aber nicht wirklich ausgebildet und übernahm daher auch nicht die üblichen Aufgaben. Er verfügte über seine eigene Kajüte und wurde am Tisch des Kapitäns verköstigt – eine »Strafmaßname«, die pro Monat 200 Francs (ca. 650 €) kostete und gegen die sich Michel auch gar nicht wirklich wehrte. Er sollte sie sogar sein Leben lang in bester Erinnerung behalten. Mit der Ausfahrt der Assomption in Richtung Mauritius begann eine Korrespondenz zwischen Vater und Sohn, von der mit wenigen Ausnahmen zwar nur Briefe des Vaters erhalten sind, die aber dennoch einen vertieften Einblick in die Dynamiken zwischen beiden geben. Im Rhythmus von gut zwei Wochen schickte Verne Briefe an den Sohn, die diesen natürlich nicht sofort erreichten. Man hat sich den schriftlichen Dialog zwischen beiden stark zeitversetzt vorzustellen, denn nachdem die Assomption Anfang Februar ausgelaufen war, hörte Verne bis Mai nichts von Michel, sondern erfuhr lediglich durch eine Depesche, dass das Schiff am 26. April in Mauritius angekommen war. Schon kurz nach Beginn der Reise schrieb Michel einen ersten Brief, datiert vom 8. Februar 1878, dem 50. Geburtstag seines Vaters, den er jedoch mit keinem Wort erwähnte. Zwar an den Vater an seinem Jubeltag zu denken, ihm dann aber nicht zu gratulieren, darin liegt meiner Meinung nach das Muster einer Strategie Michels, in der Hoffnung und Enttäuschung miteinander verbunden werden, um die Situation dauernd im Unklaren zu lassen. So erhält der Sohn das höchste Maß an Aufmerksamkeit, denn so verhindert er, dass der Vater die Lage einschätzen, klassifizieren und abschließen kann. Am 26. Februar erläuterte Verne seinem Sohn nochmals schulmeisterlich das Erziehungsprogramm der Reise: »Du bist als Kind losgefahren, ja, als Kind ohne Verstand, wie du weißt, komm uns als Mann wieder. Das kannst du, das musst du. Man muss das Leben von seiner ernsten Seite nehmen, mein lieber Michel, und das wirst du jetzt tun, da bin ich sicher.« Der Ernst des Lebens, das ist im Kern 152
Michel Verne
die Fähigkeit, zu arbeiten und existenzfähig zu sein, wie Verne am 18. Mai ausführte: »Du wirst später verstehen, wenn du es noch nicht verstanden hast, dass die Arbeit alles ist, und wenn du jemals unabhängig sein willst, wird das nur über die Arbeit gehen … Ich bin dir das Vorbild hartnäckiger und kontinuierlicher Arbeit, das musst du nachmachen, und ich zähle darauf, dass du es tun wirst.« Verne hatte damit zwar unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, was er sich wünschte, aber damit zugleich auch gezeigt, an welchem Punkt er am verletzlichsten war. Von Michel ist ein Brief vom 28. November 1878 erhalten, ein sprachlich und gedanklich durchaus beeindruckendes Dokument eines frühreifen 17-jährigen, der seine eigene Interpretation der Situation entwickelt und erneut souverän die Erwartungen des Vaters manipuliert: »Es ist schon traurig, wenn man so gegen seinen Willen weit fortgerissen wird, ohne dass jegliche Anstrengung oder sonst noch was, etwas daran ändern könnten, von seiner Familie, von seinem Land, von allem, was man liebt. Nun ist es meine Schuld und ich will nichts sagen. Aber ist es nicht eine Tyrannei ohne Gleichen des Denkens und des Fühlens, also des Hirns und des Herzens: also von allem, was einem denkenden Wesen heilig ist? Diese Tyrannei muss ich ertragen, ohne zu murren, weil ich sie verdient habe. [an dieser Stelle hatte Michel zuerst ›die ich nicht mehr verdiene‹ geschrieben und dann korrigiert] Aber wenn ich sie brechen könnte, dann würde ich meine materielle Freiheit so zu nutzen wissen, dass ich mich auch der moralischen würdig erweise. Mal ehrlich, was kann ich hier für meinen Geist tun, das frage ich dich? Ihn unterweisen? Ihn bilden? Nichts davon! Ihn durch die Betrachtung der großen Dinge erheben? Dieser Satz kam mir immer wie jener Quatsch vor, den die Schriftsteller unter die schönen Dinge mischen, die sie schreiben. Das ist meiner Meinung nach nichts weiter als die große Kiste der Scharlatane. Viel Lärm, wenig Sinn. Ich habe niemals an jene Emotion geglaubt, die man beim Fahren übers Meer empfindet, an jenen Schrecken der Tiefe, an jene 153
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Unruhe der Endlosigkeit. Damit hatte ich ganz recht. Das sind alles bloß Phrasen! … Ich habe das Meer nie schön gefunden. Wenn es ruhig ist, langweilt es mich, weil wir nicht vorwärtskommen, und wenn es wütet, macht es mir Angst; und sonst nur Wasser, Wasser und Wasser …« Wie aufrichtig ist Michel? Sicherlich lässt sich dies nicht eindeutig beantworten, aber bei der Lektüre entsteht auch der Eindruck, dass Michel sehr genau weiß, wie er den Vater verwirren, seine Aufmerksamkeit wecken und heftige Reaktionen provozieren kann. Er verfolgt dabei eine zweigleisige Taktik aus Unterwerfung und Rebellion: Einerseits ist der Brief gut geschrieben, was den Schriftsteller-Vater mit Stolz erfüllt, andererseits kritisiert er zugleich auch dessen Zunft. Und so geht es weiter: Einerseits gesteht Michel, dass es seine Schuld war, hält andererseits diese Maßnahme jedoch für sinnlos. Wohl wissend, dass sein Vater eine höchst innige Beziehung zum Meer hat, degradiert Michel die See zu einer ziemlich geistlosen Angelegenheit und nennt alle Hochgefühle, die mit ihm verbunden werden, Scharlatanerie. Genialisch und grausam zugleich ist aber vor allem die Korrektur, die Michel einfügte: Indem er erst schreibt, dass er die Tyrannei »nicht mehr verdiene«, dann aber verbessert, dass »er sie verdiene«, sagt er beides zugleich und hält den Vater damit genau in der Schwebe aus Enttäuschung und Hoffnung, die diesen so sehr verunsichert. Und so beendet er auch den Brief: Michel, der auf den Namen Michel Jean Pierre getauft wurde, unterzeichnet mit Michel Jules Verne und bringt damit eine tiefe Identifikation mit dem Vater zum Ausdruck. Auch hat er alle 25 bis dahin erschienenen Bände der Außergewöhnlichen Reisen mitgenommen, aber nicht allein, um sie zu lesen, sondern vor allem auch, um die Bekanntheit seines Vaters zu nutzen und sie zu verschenken. Gelegenheit gab es dazu genug. Als sie Ende April in Mauritius ankommen, soll für den Sohn des berühmten Jules Verne ein Festessen mit 200 Gästen veranstaltet worden sein. Da steckte Michel wieder in dem Dilemma, die Privilegien des Ruhms zu genießen, ohne dafür etwas getan zu haben, und sich zugleich erhaben und niedrig zu fühlen. 154
Michel Verne
Der Brief und diese Episode machen verständlich, wieso Michels Identitätsprobleme sich um sein Verhältnis zum Vater drehen, in dem Rebellion und Verehrung ständig miteinander abwechseln. Als Michel 1861 geboren wurde, stand Verne kurz vor dem literarischen Durchbruch, kaum zehn Jahre später war er bereits einer der bekanntesten Autoren der Gegenwart. Michel kennt seinen Vater daher nur als Berühmtheit und hat dessen mühsamen Weg dorthin nicht miterlebt. Die Psychologie hat aus dieser Konstellation gefolgert, dass die berühmten Eltern im Blick des Kindes oft eine magische Aura umgibt und dass die Kinder meinen, sie könnten daran partizipieren, ohne dafür hart arbeiten zu müssen. Dabei wird die Identität des berühmten Elternteils partiell übernommen, was sich bei Michel schon darin zeigt, dass er mit dem Namen seines Vaters unterzeichnet. Auch seine Probleme mit kontinuierlicher Arbeit könnten damit zusammenhängen, dass er sich einbildet, dies nicht zu benötigen, weil er ein »magisches« Selbstbild von sich hat, das sich mit dem des Vaters vermischt. In der Öffentlichkeit wiederum kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass Michel als Stellvertreter seines Vaters auftritt, dessen Bücher verschenkt und bei Veranstaltungen zu dessen Ehren auch dessen Platz einnimmt. Auf einer solchen Grundlage konnte Michel kaum eine stabile eigene Identität aufbauen. Einerseits sonnte er sich im Lichte der Berühmtheit seines Vaters, die ihm das Gefühl gab, auserwählt zu sein und die ihn immer wieder protegierte, ihm eine gewisse Narrenfreiheit ermöglichte und ihn das Geld seines Vaters mit vollen Händen aus dem Fenster werfen ließ, andererseits konnte er nicht dauerhaft ausblenden, dass es eigentlich nicht um ihn, sondern um seinen Vater ging und dass nichts davon auf eigener Leistung basierte. Hierin gründen die tiefsitzenden Selbstzweifel und die Gefühle der Nutzlosigkeit Michels, die er seinem Vater gegenüber immer wieder äußerte. Allerdings konnten solche depressiven Momente im nächsten Augenblick schon wieder in Größenwahn umschlagen. In der Dynamik solch gearteter Beziehungen können Geschwister häufig eine wichtige Stütze darstellen. Michels Halbschwestern Valentine und Suzanne aber stammten nicht von seinem Vater ab, 155
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das tat nur er allein, und nur er war aus seiner Sicht wirklich mit dessen »magischer« Berühmtheit verbunden. Das Verhältnis zu den Halbschwestern sollte sogar besonders gründlich scheitern, weil später jeglicher Kontakt abbrach, sie sich aus dem Weg gingen und die Eltern nur dann besuchten, wenn die andere Seite nicht vor Ort war. Die Psychologie steckte in jener Zeit noch in ihren Anfängen und konnte daher kaum Hilfe anbieten. Man kann Verne nicht vorwerfen, dass er sich nicht um den Sohn bemüht hätte. Am Ende blieben ihm allerdings nur hilflose Ermahnungen und Strafen, welche die Probleme nicht lösen konnten. Und so setzte sich das Ganze in einer Steigerungsspirale fort, im beschriebenen regelmäßigen Wechsel aus Distanzierung und Annäherung, Widerstand und Gehorsam. Sobald sich eine Besserung einzustellen schien, kam der Rückfall: Noch auf der Heimfahrt der Assomption erhebt Michel seine Hand gegen einen Vorgesetzten und wird bestraft. Verne ist schockiert. Dann lief erst einmal wieder alles glatt. Im Sommer 1879 kehrte Michel zurück und durfte auf die Exkursion der Saint-Michel III mitfahren, die zwischen dem 28. Juni und 22. August nach Schottland führte und bis Oktober an den Küsten Frankreichs fortgesetzt wurde. Dann stand das Abitur an, aber zurück in Amiens dachte Michel nicht mehr ans Pauken. Die familiäre Situation brachte vielmehr wieder altbekannte Dynamiken hervor. In einem Brief an Hetzel vom 4. Oktober kündigte Verne seinen nächsten Schritt an: »Hier läuft es nicht mit Michel. All meine Ängste werden wahr. Obwohl ihm sein Lehrer gesagt hat, dass er das Abitur ab April ablegen könne, tut er schon gar nichts mehr. Verschwendung, unsinnige Schulden, furchtbare Theorien im Mund eines jungen Mannes, ausdrücklicher Wunsch, sich auf jede erdenkliche Art, Geld zu verschaffen, Drohungen usw., es ist alles wieder da. Der Unglückselige verfügt über einen empörenden Zynismus, den Sie sich nicht vorstellen können. Er ist mit einer unzweifelhaften Dosis an Wahnsinn furchtbar pervertiert … 156
Michel Verne
Solange er etwas zu tun hatte, habe ich alles ertragen, aber an dem Tag, an dem die Arbeit ganz aufhört, muss man sich entscheiden. Wofür? Ihn aus dem Haus zu werfen … Die Zukunft ist furchtbar beunruhigend. Sobald ich ihn verjagt habe, werde ich ihn nie wiedersehen … /Was ich leide, ist unvorstellbar!« Hin- und hergerissen zwischen Ängsten und Pflichtgefühl fällt Verne kurz darauf die schwere Entscheidung und weist den Sohn aus dem elterlichen Haus. 1879 bezieht Michel eine Wohnung im Zentrum von Amiens und bekommt einen Unterhalt von 500 Francs (ca. 1 600 €), was ihn aber nicht davon abhält, weiter Schulden zu machen, allein im Jahre 1880 angeblich 20 000 Francs (ca. 65 000 €). Womit eigentlich? Michel hat sich in die Sängerin Thérèse Clémence Valgalier verliebt, die seit Anfang Oktober in Amiens die Bühne erobert. Solche Damen kommen einen Verehrer teuer, Michel überschüttet sie mit Blumen und Geschenken. Er ist achtzehn und bittet seinen Vater, sie heiraten zu dürfen, was dieser rundweg ablehnt. Und zugleich macht der Sohn dem Vater immer wieder Hoffnung, denn im Januar 1880 legt er ihm Gedichte vor, die Verne inhaltlich für sehr gelungen hält, auch wenn sie metrisch noch nicht ausgereift seien. Immer wieder verliefen die Annäherungen über das literarische Talent des Sohns, der seinem Vater damit ein Angebot machte, auf das Verne stets einging, aus dem sich jedoch nie eine dauerhafte Arbeit ergab. Als Thérèse am 3. April 1880 ihren letzten Auftritt in Amiens beendet hatte, folgte Michel der Truppe zunächst nach Le Havre und zog dann mit ihr nach Nîmes. Räumlich konnten Vater und Sohn in Frankreich kaum weiter voneinander entfernt sein, dennoch brach der Kontakt nie wirklich ab. Denn die Doppelbindung aus Ablehnung und Sehnsucht funktionierte perfekt: Aus der Ferne erhöhte Verne den monatlichen Unterhalt auf 1000 Francs, was natürlich auch nicht ausreichen sollte. Immer wieder musste er für Michel einspringen, Anfang 1881 wandte er einen Prozess und sogar ein Duell ab, in die sein Sohn verwickelt war. 157
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Zur gleichen Zeit trat Michel mit einem Dramenprojekt an den Vater heran, und sofort war dieser wieder der wohlwollende Mentor. Verne war insgesamt zwar skeptisch, auch weil er dem Sohn in der Welt des Theaters nur wenig beistehen konnte, aber er hatte sofort einen Ratschlag zur Hand: »Schreib doch einen Roman, such dir einen originellen Stoff, und dann können wir viel für dich tun.« Und nicht ohne Stolz kommentierte er das Talent Michels: »Was die literarischen Qualitäten angeht, so sehe ich eine ganze Menge davon: die Einfachheit des Stils, die Leichtigkeit der Dialoge, die glückliche Art, die Dinge zu sagen.« Und dann kamen wieder ellenlange Briefe Michels voller Forderungen und illusorischen Plänen, die den Vater seine Ruhe kosteten. Immer wieder sprach Michel davon, von Nîmes nach Paris ziehen zu wollen, aber Verne bestand darauf, dass er erst seinen Militärdienst absolvierte. Nach Schule und Seefahrt lag die Hoffnung jetzt auf dem Militär, um Michel wieder auf den bürgerlichen Lebensweg zurückzuführen. Aber auch diese Hoffnung verlief im Sande, denn Michel wurde freigestellt. Immer dann, wenn sich eine scheinbare Normalisierung ankündigte, sollte alles noch viel schlimmer werden. Am 15. März 1884 heiratete Michel schließlich Thérèse mit Einwilligung des Vaters, ohne dass seine Eltern zur Hochzeit anreisten. Briefe sind aus dieser Zeit nicht erhalten, eventuell weil Michel sie verloren oder vernichtet hat. Als Michel heiratete, war seine Beziehung allerdings längst gescheitert. Immer wieder hatte man ihn in Begleitung moralisch zweifelhafter Damen gesehen. Am 18. April 1884 nahm er sogar eine Frau mit nach Hause. Als Thérèse ihn dort in flagranti beim Ehebruch erwischte, wurde er ihr gegenüber sogar noch handgreiflich. Thérèse ergriff die Flucht. Wohin? Ausgerechnet zu den Schwiegereltern nach Amiens, wo sie überraschend freundlich aufgenommen wurde und sich bestens mit ihnen verstand. Sie beantragte die Scheidung beim Gericht von Nîmes. Michel wurde zu 200 Francs Unterhalt für seine Frau verurteilt, die sein Vater übernahm, allerdings von seinen Zahlungen an seinen Sohn abzog. Abgesehen davon waren noch 30 000 Francs (ca. 100 000 €) Schulden zu begleichen.
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Die geheimnisvolle Insel
Michel steckte schon in der nächsten Beziehung, und zwar mit der erst sechzehnjährigen Jeanne Reboul, die er nach der Scheidung heiraten wollte, und die 1885 den ersten unehelichen Sohn, Michel jr., zur Welt brachte, 1886 dann den zweiten, Georges; erst der dritte, Jean, wurde 1892 ehelich geboren. Welch persönliche Tragödie darin für Verne lag, vermag man sich heute nur noch mit Mühe vorzustellen. Hetzel berichtete einmal, dass er schluchzend bei ihm auf dem Sofa zusammengesunken sei. Am 4. Juni 1885 schrieb ihm Verne: »Die Situation, in der sich der unselige Michel befindet, wird immer komplizierter. Seine unglückliche Gattin ist immer noch hier, ohne dass er es weiß, und wird von allen gemocht. Seine Geliebte hat gerade einen Sohn geboren, natürlich ehebrecherisch. Er hat bei der Familie der Geliebten Schulden gemacht, das sind Gauner … Wie soll das alles nur enden? Ich habe keine Ahnung, aber es wird immer schlimmer.« Der briefliche Kontakt zwischen beiden brach dennoch nicht ab, aber jetzt brauchte es Jahre, bis Vater und Sohn sich wieder einander annäherten und Verne zum ersten Mal seine Enkel sehen wollte. Verne besaß ein mächtiges Mittel, um seine Probleme zu verdrängen, weil er davon überzeugt war, sie damit zu lösen: durch Arbeit. Kehren wir daher wieder in die 1870er Jahre zurück, als er parallel zu all den Sorgen, die sich zusammenbrauten, ein umfangreiches Werk in Angriff nahm, das als Synthese zentraler Thesen der Außergewöhnlichen Reisen verstanden werden kann: Die geheimnisvolle Insel.
Die geheimnisvolle Insel (1874/75): Arbeit als menschliche Bestimmung
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ass Verne seinem Sohn gegenüber immer wieder betont, wie wichtig die Arbeit für das Leben sei, ließe sich durch seine väterliche Erziehungsaufgabe erklären. Aber dass er auch Hetzel gegenüber ständig die Arbeit als solche thematisiert, fällt doch auf, 159
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vor allem weil er dafür meistens nicht das neutrale Verb travailler, sondern eine Metapher verwendet: piocher, was so viel wie ›umhacken‹ oder ›mit der Hacke bearbeiten‹ bedeutet. Wenn wir für Alltägliches eine Metapher verwenden, dann färben wir es emotional und drücken damit eine besondere Beziehung zu ihm aus. Wenn Verne seinem Verleger also schreibt, dass er die »20 000 Meilen umhacke« oder immer wieder erwähnt, er arbeite »bis zum Umfallen«, dann unterstreicht er, wie hart er schuftet, und hebt die physische Anstrengung der scheinbar rein geistigen Schriftstellerei hervor. Zugleich aber charakterisiert er sich dadurch selbst und stellt sich als fleißig und diszipliniert dar. Sicher, Hetzel ist für Verne eine Mischung aus Kollege und Chef, dem gegenüber er sich als zuverlässig geben will, aber die ständige Betonung der Arbeit springt ins Auge, vor allem, weil Verne kaum je über die spezifische Tätigkeit des Schreibens spricht, sondern seine Arbeit meistens allgemein im Sinne von Mühe und Disziplin thematisiert. Tatsächlich hat das 19. Jahrhundert der Arbeit als solcher eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In der bürgerlichen Gesellschaft erlangt sie einen enormen Stellenwert und dient über den symptomatischen Fall Verne hinaus auch allgemein der Selbstbeschreibung. Émile Zola hat das ganze 19. Jahrhundert als »unser großes Jahrhundert der Arbeit, Wahrheit und Freiheit« charakterisiert und die Arbeit damit als eines seiner Hauptkennzeichen hingestellt. Spuren einer solchen Ethik der Arbeit haben wir bereits bei einigen Figuren Vernes entdeckt, überhaupt lassen sich die Außergewöhnlichen Reisen auch allgemein als ein Loblied auf das menschliche Schaffen verstehen. Vernes Hauptfiguren sind keine zivilisationsflüchtigen Abenteurer wie Coopers Lederstrumpf oder Karl Mays Old Shatterhand. Zwar verlassen auch die wissenschaftlichen Helden ihr gewöhnliches Umfeld, unterbrechen dadurch aber nicht ihre Tätigkeit. Seien es unerschrockene Forschungsreisende wie Dr. Fergusson oder schrullige Mineralogen wie Otto Lidenbrock, stets erledigen sie ihre spezifischen Aufgaben. Kaum ein Roman allerdings stellt Fleiß und Schaffen des Menschen so in den Vordergrund wie Die geheimnisvolle Insel. Vernes erste Robinsonade ist ein 160
Die geheimnisvolle Insel
wahres Monument der Arbeit geworden und fasst Welt- und Menschenbild des Autors zusammen. Robinsonaden gehörten zu Vernes Kindheits- und Jugendlektüren und haben ihn sein Leben lang beschäftigt. 1865 erwähnt er Hetzel gegenüber zum ersten Mal, dass er eine Robinsonade plane. 1870 schreibt er einen ersten Entwurf mit dem Titel L’Oncle Robinson, den Hetzel im Juli des Jahres liest und scharf kritisiert. Verne ist frustriert und stellt das Projekt zunächst zurück, um es erst 1873 wieder aufzunehmen und daraus Die geheimnisvolle Insel zu machen, in die nur noch wenige Motive aus L’Oncle Robinson einfließen. Mit Zwei Jahre Ferien, Zweites Vaterland und Die Schule der Robinsons sollten später noch weitere Robinsonaden folgen. Mit der Robinsonade verwandt sind außerdem auch Das Land der Pelze, Hector Servadac und En Magellanie. Deutlicher als bei seinen früheren wissenschaftlichen Romanen stellte sich Verne hier in eine literarische Tradition, von der er sich abheben musste. Die beiden bekanntesten Modelle waren die Einzelrobinsonade à la Defoe und die Familienrobinsonade wie Der Schweizerische Robinson von Wyss, Verne fügte dem nun eine Gruppenrobinsonade mit Männerfiguren hinzu, die ein Panorama menschlicher Tätigkeit entwirft und es Verne ermöglicht, anhand seiner Figuren das Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Gott zu inszenieren, um über diese drei Instanzen ein relativ umfassendes Weltbild zu entwerfen. Stoffgeschichtlich variierte Verne auch den Anfang des Romans, denn die Robinsons kommen nicht mit dem Schiff, sondern stranden mit einem Ballon, womit er zugleich an seinen ersten Roman anknüpfte. Angemerkt sei hier noch, dass Verne während der Korrektur an dem Roman die einzige Ballonfahrt seines Lebens machte und am 28. September 1873 ganze 24 Minuten über Amiens geflogen ist. Die auf der Pazifikinsel gelandeten Figuren stammen alle aus den USA, dem Land der Zukunft, dessen Dynamik Verne in Erstaunen versetzte. Sie bilden eine hierarchisch strukturierte Truppe, deren Kopf der wissenschaftliche Held Cyrus Smith ist, ein Ingenieur, den die anderen als »eine Verbindung jeder Wissenschaft und aller 161
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
menschlichen Intelligenz« bewundern. Cyrus versteht sämtliche bekannten naturwissenschaftlichen Zeichen der Welt und ist in der Lage, aus allem Nutzen zu ziehen. Er verkörpert den dynamischen und unermüdlichen Kraftmenschen des 19. Jahrhunderts, dessen physische und geistige Energiepotenziale unerschöpflich zu sein scheinen. Dem Meister zur Seite steht ein fähiges und hoch motiviertes Team aus Geselle (Pencroff), Hilfsarbeiter (Nab), Auszubildender (Harbert) und einem Beobachter (Spilett), der von Beruf aus Journalist ist. Im Unterschied zu den klassischen Robinsonaden, in denen die Gestrandeten noch auf Werkzeuge und andere Utensilien aus dem gescheiterten Schiff zurückgreifen können, steigert Verne die existenzielle Null-Situation noch dadurch, dass seiner Truppe quasi nichts mehr zur Verfügung steht und diese alles selbst neu erschaffen muss. Die Gestrandeten verstehen sich allerdings von vornherein nicht als Opfer der Situation, sondern definieren sich auf Cyrus’ Wunsch als Kolonisten und nehmen damit ihr Schicksal aktiv in die Hand. »Es gibt immer einen Weg, alles zu tun«, heißt es einmal optimistisch, und in diesem Sinne werden sie vier Jahre lang gemeinsam arbeitsteilig die Insel erkunden, erschließen und kolonisieren. Schritt für Schritt leben sie die Menschheitsgeschichte der Arbeit nach und entwickeln sich von Jägern zu Töpfern, Schmieden, Tischlern, Schreinern, Bauern und Schiffskonstrukteuren. Im Vordergrund steht dabei nicht die Erfindung von Neuem, sondern die Anwendung des gesammelten Wissens, was die Insel zugleich in ein großes pädagogisches Projekt verwandelt. Daneben wird die Insel geo-, hydro- und orografisch erschlossen und alle notwendigen Merkmale eigens benannt. Die Insel selbst erhält den Namen Lincoln zu Ehren des Präsidenten, der die Sklaverei abgeschafft hat. Dann sind Fauna und Flora an der Reihe, die ebenfalls erforscht und klassifiziert werden. Die Natur erscheint dabei wie ein Magazin, das inventarisiert werden muss. Ist das einmal geschehen, kann sie über die Anwendung des Wissens ausgebeutet werden. »Meine Freunde«, erklärt Cyrus den anderen, »das hier ist Eisenerz, das hier Pyrit, das hier Lehm, das hier Kalk und das 162
Die geheimnisvolle Insel
hier Kohle. All das schenkt uns die Natur, darin liegt ihr Anteil an der Arbeit! Und morgen ist unserer an der Reihe!« Nicht die natürlichen Voraussetzungen, sondern das Wissen wird in diesem Zusammenhang zur entscheidenden Ressource. Wissen erweist sich außerdem als entscheidender Wettbewerbsvorteil, denn, so heißt es, »der ›wissende‹ Mensch ist da erfolgreich, wo andere vor sich hin vegetieren und unweigerlich zugrunde gehen würden.« Mit Cyrus’ Wissen gelingt es ihnen, erst Ziegelsteine, dann Metall und schließlich sogar Nitroglyzerin herzustellen. Der Sprengstoff ist in dieser Hinsicht besonders signifikant, weil er die menschliche Verfügungsgewalt symbolisiert, sogar die widerspenstigste Natur aus Fels und Stein nach seinen Vorstellungen umzuformen, ja Verne erkennt auch bereits, dass der Mensch in der Lage wäre, den gesamten Planeten in die Luft zu jagen, wenn er nur genügend Sprengstoff zusammenbrächte. Das heißt nichts anderes, als dass die Natur dem Menschen zu Diensten steht, ihm anheimgegeben ist und er sie nach Gutdünken nutzen darf, wobei seiner Willkür durch eine Ethik des Rationalismus Grenzen gesetzt werden. Die Natur erweist sich jedoch nicht als komplett beherrschbar, weil ihre Kräfte den Menschen letztlich doch übersteigen und er keinen Einfluss hat auf die Dynamik zwischen den Elementen Wasser und Erde: Vulkane und Infusorien sorgen dafür, dass Länder entstehen und wieder vergehen, also vom Wasser überspült werden, so dass sich die Erdoberfläche in einem ständigen Verwandlungsprozess befindet. In größerem Maßstab gilt dies auch für den Planeten selbst, denn, wie Smith einmal erläutert, werde die Sonne irgendwann so abkühlen, dass Leben auf der Erde nicht mehr möglich sei. Aber vielleicht werde die Erde dann ja einfach wieder neu entstehen. So unterliegt alles einem Wechsel aus Leben und Tod, Vergehen und Entstehen. Gott steht als Schöpfer zwar dahinter, behält die Geheimnisse des Schöpfungsplans jedoch für sich. »Im Gefühl des Vertrauens zu dem Schöpfer aller Dinge« machen sich die Kolonisten also ans Werk. Der Lobgesang auf Fleiß und Tätigkeit führt dem Leser eine Arbeit vor, die sinnerfüllt ist und unmittelbar mit den Bedürfnissen des Lebens zusammenhängt. Hier 163
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
hat noch keine Entfremdung stattgefunden, Arbeit erscheint nicht als Produkt oder Wirtschaftsfaktor, sondern als kreative Aneignung der Welt und Verbesserung der Existenzbedingungen. Sie steht hier jenseits ihrer ökonomischen Bedeutung, und dementsprechend kommen die Kolonisten auch ohne Geld aus. Das Bild der Arbeit, das Verne hier entwirft, lässt sich mit demjenigen des allegorischen Gemäldes Le Travail (dt. Die Arbeit) aus dem Jahre 1863 von Puvis de Chavannes vergleichen, den Verne bewunderte, und das 1888 in den Besitz des Musée de Picardie von Amiens gelangte. Darauf sind Männergruppen zu erkennen, die sich in einer idealisierten Küstenlandschaft verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten mit Holz und Metall sowie Ackerbau und Schifffahrt widmen. Vernes Arbeitsbegriff aus Die geheimnisvolle Insel scheint diese Allegorie konkret umzusetzen, wobei lediglich die weibliche Arbeit fehlt, die der Maler in der rechten unteren Ecke in Form der Mutterschaft mit aufnimmt. Vernes Arbeitsbegriff zeigt seine bürgerliche Prägung in den idealisierten Bedingungen auf der Insel, die den Roman in die Nähe einer Utopie rücken. Hier gibt es keine industriellen repetitiven Abläufe, keinen Druck des Marktes, keine Gehaltsunterschiede, keine Ausbeutung, keine urbanen Widrigkeiten und keine Arbeitermassen. All jene Spannungen, welche die Arbeitsgesellschaft im 19. Jahrhundert prägen und seit Mitte des Jahrhunderts die politischen Auseinandersetzungen mitbestimmen, die gerade erst im Kampf der Pariser Kommune blutig kulminiert waren, bleiben ausgeblendet oder kommen symbolisch von außen wie im Falle der Piraten und werden rücksichtslos vernichtet. Bei Verne ist Arbeit naturverbunden, selbstbezogen und ergebnisorientiert. Sie ist es, die den Menschen ausmacht, ihn in ein Verhältnis zur Natur setzt und über die er sich in Gottes Gesamtplan einschreibt. Man mag überrascht sein, dass der Schriftsteller Verne, der von sich in Interviews als Künstler sprach, seine Vorstellungen von Arbeit so rational auf Nützlichkeit eingrenzt. Selbst als den Kolonisten eine Kiste mit Utensilien und Büchern zukommt, finden sich darin nur die Bibel, naturwissenschaftliche Abhandlungen und Lexika der 164
Die geheimnisvolle Insel
Puvis de Chavannes’ Die Arbeit veranschaulicht Vernes idealisierten Arbeitsbegriff.
polynesischen Sprachen, neben der religiösen Orientierung also lediglich anwendungsbezogene Literatur. Das einzige verstörende Gerät in der Kiste ist ein Fotoapparat. Was soll man damit?, fragt sich Cyrus Smith, Kleidung wäre doch besser gewesen. Tatsächlich wissen die Kolonisten nicht sehr viel damit anzufangen. Später sollte der Journalist Spilett dann doch ein paar Fotos von pittoresken Ansichten der Insel schießen und einige Porträts machen. Begeistern können sich dafür aber nur der Seemann Pencroff, der es an die Wand hängt und davor herspaziert, als hinge es in einer Vitrine am Broadway, sowie der intelligente Orang-Utan Jup, der seines Abbildes nicht müde wird. Man sieht schon: Fotos sind nur etwas für eitle Gecken, ob Mensch oder Affe. Was nicht wirklich nützlich ist, wird auf Lincoln nicht gebraucht. Die Präsenz des Orang-Utans in der menschlichen Arbeitsgemeinschaft – Jup ist im Haushalt beschäftigt und auf den Illustratio165
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
nen meistens mit Schürze zu sehen – vertieft die Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur und reagiert auf die im 19. Jahrhundert florierende anthropologische Forschung. Dass dem Menschen die Vorherrschaft auf dem Planeten zustehe, liege, so der Erzähler, an seinem »Bedürfnis dauerhafte Werke zu vollbringen, die ihn überlegen« machen und die »das Zeichen seiner Überlegenheit über alles, was hier unten lebt« sei. Das führt jedoch nicht zu einer einfachen Zweiteilung in Mensch und Tier. Vielmehr vertritt Verne eine hierarchisch strukturierte Ordnung, die auf dem Konzept der Kette der Lebewesen basiert und alle Organismen in eine steigende Abfolge stellte. Diese Theorie ging von einem einmaligen Schöpfungsakt aus, bei dem alle Lebewesen geschaffen wur-
Der zivilisierte Orang-Utan Jup aus Die geheimnisvolle Insel
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Die geheimnisvolle Insel
den und sich grundsätzlich nicht mehr veränderten. Erst mit der Evolutionstheorie Darwins, die in Frankreich nur zögerlich rezipiert wurde, verlor sie nach und nach an Bedeutung. Die kleine Inselgesellschaft bildet diese Hierarchie deutlich ab. Steht Cyrus Smith an deren Spitze, so ist sein afroamerikanischer Diener Nab geradezu animalisch – »wie ein Hund« – an ihn gebunden und würde es wohl nicht überleben, wenn seinem Herrn etwas zustieße. In der lückenlosen Kette der Lebewesen gibt es dementsprechend ein Glied, in dem Tier und Mensch ineinander übergehen. Diese Rolle übernimmt der Orang-Utan, den sich die Kolonisten genau ansehen, als sie ihn gefangen haben: »Er gehörte wirklich zu jener Art der Anthropomorphen, deren Gesichtswinkel kaum hinter dem der Australier und der Hottentotten zurückbleibt. Es war ein Orang-Utan … Von diesem Typus der Anthropomorphen erzählt man sich vielerlei, was fast auf eine Art menschliche Intelligenz bei ihnen verweist. Im Haus eingesetzt, sind sie in der Lage, den Tisch zu decken, die Zimmer zu reinigen, die Kleidungsstücke zu pflegen, die Schuhe zu wichsen, geschickt mit Messer, Gabel und Löffel umzugehen, Wein zu trinken … ganz wie der beste zweibeinige Diener. Es ist bekannt, dass Buffon einen solchen Affen besaß, der ihm lange treu und eifrig diente.« Mit Buffon nennt Verne seine zoologische Hauptquelle, an der er sich hier zum Teil wörtlich orientiert. Im 14. Band seiner Histoire naturelle (1749–1788) erzählt Buffon von einem Orang-Utan, der etwa ein Jahr lang in Paris lebte und ein erstaunlich menschenähnliches Verhalten aufwies, indem er sich des Bestecks bediente, aufs Wort gehorchte und sogar in kleinen Mengen Wein trank – ein anekdotischer Hinweis, den Verne als Romancier dankbar aufnimmt. Buffons Werke waren über das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in zahlreichen französischen Neuauflagen präsent. Erst 1868, also nur wenige Jahre vor Beginn der Arbeit Vernes an Die geheimnisvolle Insel, war in Paris eine fünfbändige Buffon-Ausgabe von Jules Pizzetta erschienen. 167
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Als anatomischen Parameter, der den Affen zum Fast-Menschen macht, zitiert Verne den so genannten Gesichtswinkel, ein Messverfahren, das auf den holländischen Anatom Peter Camper zurückgeht und an dem Winkel zwischen Stirn und Mundpartie die Höhe der Intelligenz festmachen wollte. Als Ideal galten die Darstellungen griechischer Götter- und Heldengesichter, die 90° erreichten. Bei den Europäern lag der Gesichtswinkel bei 80°, einige Affenarten kamen nur auf 42°. Je kleiner der Gesichtswinkel wurde, um so näher stand ein Mensch dieser Theorie nach dem Tier, während umgekehrt das Tier bei hohem Gesichtswinkel dem Menschen nahe kam. Vor diesem Hintergrund stellt Verne den australischen Aborigine unmittelbar über den Orang-Utan und macht sie damit zu dem Punkt, wo Tier und Mensch sich in der Lebenskette berühren. Eine solche Nähe inszeniert Verne auch zwischen dem Afro-Amerikaner Nab und dem Orang-Utan Jup. Schon die phonetische Struktur ihrer Namen nähert beide einander an. Im Verlauf der Handlung bauen sie eine besondere Beziehung zueinander auf: »Der geschickte Orang-Utan war von Nab hervorragend angelernt worden, und man hätte glauben können, dass Neger und Affe sich verstünden, wenn sie miteinander sprachen. Jup besaß übrigens für Nab eine besondere Zuneigung, welche dieser ihm erwiderte. Soweit man seine Dienste, sei es zum Holzanfahren oder zum Erklettern von Bäumen, nicht brauchte, hielt Jup sich die meiste Zeit über in der Küche auf und versuchte alles nachzuahmen, was er Nab tun sah.« Verne liefert hier ein weiteres Beispiel für den gängigen eurozentrischen Rassismus des 19. Jahrhunderts. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Aber er bleibt nicht dabei stehen, sondern erweitert ihn durch einen zivilisatorischen Faktor. Denn der Affe wächst in der Gemeinschaft quasi zu menschlicher Größe heran und leistet wertvolle Hausarbeit. Damit lässt Verne trotz aller biologischen Determinierungen einen zivilisatorischen Spielraum, den er im zweiten Teil des Romans zusätzlich an einer menschlichen Figur veranschaulicht. 168
Die geheimnisvolle Insel
Auf einer benachbarten Insel finden die Figuren den Verbrecher Ayrton aus dem Roman Die Kinder des Kapitän Grant, der zwölf Jahre lang dorthin verbannt worden war. Als er einen der anderen Insulaner angreift, halten sie ihn zunächst für einen Affen: »Sie sahen, wie der Junge von einem wild aussehendem Wesen zu Boden geworfen worden war, ein riesiger Affe offenbar, der ihm übel mitspielte. … Aber das war gar kein Affe! Es war ein menschliches Wesen, es war ein Mensch! Aber was für ein Mensch! Ein Wilder im schrecklichsten Sinne des Wortes, und umso furchtbarer, da er auf die unterste Stufe der Stumpfsinnigkeit zurückgefallen zu sein schien. … Wenn der Schiffbrüchige überhaupt jemals ein zivilisiertes Geschöpf gewesen war, so hatte die Isolierung ihn zum Wilden, schlimmer noch, zum wahrhaftigen Waldmenschen gemacht. … Man sah, dass er stark und gewandt war, aber auch, dass alle physischen Eigenschaften sich auf Kosten der geistig-moralischen entwickelt hatten.« Kulturhistorisch zitiert Verne hier den Topos vom Wilden Mann, der in den Wäldern lebt und sich durch starke Behaarung, große Körperkraft und eben den Verlust der Sprache von zivilisierten Menschen unterscheidet. In seiner Geschichte seit dem Mittelalter bildete der Wilde Mann in erster Linie ein negatives Modell, an dem der Mensch sich selbst definieren konnte. Für Verne tritt die Frage nach der möglichen Erlösung Ayrtons aus seinem Zustand in den Vordergrund. Denn seine Verbannung auf die Insel war als Strafe für seine Verbrechen gedacht, und auch seine Wildheit ist noch als solche anzusehen. Resozialisierung und Rehabilitierung der Figur verlaufen im Roman dann über verschiedene Stufen von Integration und Prüfung, bis Ayrton wieder vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ist. So wie der anthropomorphe Affe durch Zivilisierung quasi zum Menschen werden kann, kann der Mensch demnach durch den Ent169
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
Der verwilderte Ayrton aus Die geheimnisvolle Insel
zug der Zivilisation in einen tierischen Zustand zurückfallen. Vernes Definition des Menschen verschmilzt somit Elemente des anthropologischen Positivismus mit einem Zivilisationsoptimismus, der das anthropomorphe Lebewesen als formbar begreift. An ihren Extrempunkten schließen sich beide Faktoren zwar aus, Verne aber vermittelt zwischen ihnen, indem er die harten anthropometrischen Determinismen zivilisatorisch aufweicht und umgekehrt die weiche These des Zivilisationsoptimismus mit biologischen Fakten verhärtet. 170
Die geheimnisvolle Insel
Neben Ayrton gibt es in Die geheimnisvolle Insel aber noch ein weiteres Wiedersehen mit einer bekannten Figur. Immer wieder hatten die Siedler bemerkt, dass es jemanden auf der Insel gab, der sie beschützte und rettend einsprang, ohne sich je zu zeigen. Diese gottähnlich-gütige Präsenz auf der Insel stellt sich schließlich als Kapitän Nemo heraus, der in einer Grotte in seiner Nautilus seinem Lebensende entgegengeht. Allerdings entspricht der alte Nemo nicht mehr dem freiheitsliebenden Individualisten aus 20 000 Meilen unter den Meeren, denn sein letztes Wort lautet nicht »Unabhängigkeit!«, wie Verne es wollte, sondern auf Wunsch von Hetzel »Gott und Vaterland!« Darin liegt eine ziemlich überraschende Kehrtwendung, die dem ursprünglichen Geist Nemos gar nicht entspricht und sich eventuell über den nationalistischen Schub der französischen Gesellschaft nach dem Deutsch-Französischen Krieg erklären lässt. Am Ende des Romans schließlich setzen sich die Naturkräfte durch: Wasser dringt in den Vulkan ein und löst eine Explosion aus, welche die gesamte Insel in die Luft sprengt. Die Siedler können sich auf den letzten Felsen retten, der noch aus dem Wasser ragt, und werden von der Duncan aus Die Kinder des Kapitän Grant aufgelesen, die Ayrton zurückholen wollte. Wieder in den USA ist das Arbeitsethos der Truppe jedoch ungebrochen. Anstatt sich mit den Schätzen, die Kapitän Nemo ihnen geschenkt hatte, ein ruhiges Leben zu gönnen, kaufen sie in Iowa ein Stück Land und fangen wieder von vorn an. Für den Schluss hat James Fenimore Coopers heute vergessener Roman The Crater (dt. Mark’s Riff ) aus dem Jahre 1851 Pate gestanden. Dort wird ähnlich wie bei Verne aus einer Robinson-Insel eine florierende Kolonie, die im Unterschied zu Verne jedoch bald staatliche Ausmaße annimmt und eine Regierungsform und Gesetze benötigt. Der Wohlstand führt dann jedoch dazu, dass die Kolonisten ihre Demut verlieren und die menschliche Hybris wie durch Gottes Hand bestraft wird, als die Insel durch ein Erdbeben wieder im Ozean versinkt. Coopers Roman weist grundsätzliche Übereinstimmungen im Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Gott zu Die geheimnisvolle Insel auf und darf als eine ihrer wichtigs171
2. Teil Erfolgsjahre eines Berufsschriftstellers
ten literarischen Quellen angesehen werden. Verne hat übrigens in seinem Spätwerk En Magellanie nochmals auf The Crater zurückgegriffen. Coopers Kolonie unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten deutlich von Verne. Denn bei Cooper gibt es auch Frauen und damit Fortpflanzung, während Verne auf das weibliche Element ganz verzichtet und seine Kolonisten damit per se vom Aussterben bedroht sind. Überhaupt bleibt Vernes Kolonie so klein, dass sie keinerlei staatlicher Organisation bedarf. Während Cooper in Form eines umfangreichen Gleichnisses die Etappen von Entdeckung, Kolonisierung bis zur Staatsform reflektiert, konzentriert sich Verne ganz auf die Tätigkeit der Kolonisierung, wobei die Arbeit selbst hervortritt. Durch den Romanschluss erhält diese bei Verne noch eine besondere Wendung: Denn die Figuren machen sich – diesmal ohne Not – gleich ans Werk, eine weitere Kolonie aufzubauen. Offenbar haben sie Arbeit als menschliche Bestimmung bereits so verinnerlicht, dass sie diese gar nicht mehr infrage stellen. Sie sind noch nicht einmal wirklich frustriert darüber, dass alle Werke ihrer vierjährigen Kolonisierung durch die Kräfte der Natur einfach so weggewischt wurden. Der in Vernes Weltbild zugrunde gelegte Wechsel von Aufbau und Zerstörung macht solche Anstrengungen eigentlich zu einer müßigen, ja sogar absurden Beschäftigung. Dass die Kolonisten sie trotzdem, ohne zu zögern, tun und keinen Moment an der Sinnhaftigkeit ihres Handelns zweifeln, gibt zu denken. Man kann dies als einen Widerspruch ansehen, der sich aus der unhinterfragten Verinnerlichung des bürgerlichen Arbeitsethos ergibt. Man kann aber auch so weit gehen und in Vernes Kolonisten Vorboten jenes glücklichen Sisyphos von Albert Camus erkennen, der die Absurdität des Lebens akzeptiert und seine Arbeit verrichtet, weil sie ihn ausmacht und Ausdruck seiner Freiheit ist. Verne hätte es sicherlich nicht gefallen, mit einem atheistischen Philosophen in eine Linie gestellt zu werden, aber das bürgerliche Arbeitsethos trägt durchaus den Keim des Absurden in sich.
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Der Alltag eines Schriftstellers
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt Der Alltag eines Schriftstellers: Eine Außergewöhnliche Reise entsteht
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ine so umfangreiche Romanreihe wie die Außergewöhnlichen Reisen lässt sich nicht allein durch Fleiß erklären. Sie ist das Ergebnis einer Methode, in der künstlerische Inspiration und Planung erfolgreich zusammenspielen. Das sagt sich leicht, und doch steckt darin eine der größten Herausforderungen künstlerischer Arbeit überhaupt: seine Inspiration so zu kanalisieren und zu steuern, ohne dass sie dabei verloren geht. Alle Talente des Künstlers sind auf Dauer nutzlos, wenn er nicht weiß, wie er mit sich selbst umgehen muss, um sowohl Ideen zu entwickeln als diese auch umzusetzen. Beides ist unabhängig voneinander einfach zu haben: An Ideen mangelt es den meisten Menschen nicht, und eine Methode braucht man nur zu befolgen. Der Künstler aber muss beides für seine individuellen Bedingungen in Einklang bringen. Er darf sich weder vom Strom der Ideen mitreißen lassen, weil sie ihn aus der Bahn werfen und dem Kunstwerk die Geschlossenheit nehmen würden, noch schematisch einer Methode folgen. Hieraus ergibt sich ein spezifischer Rhythmus aus Annäherung und Distanzierung, aus irrationaler wilder Lust am Schaffen und einer rational gesteuerten Planung, die diese Lust in feste Formen gießt. Das Werk gewinnt für den Kreativen dabei eine merkwürdige Doppelexistenz. Als Fantasiegebilde entwickelt es eine dynamische Eigengesetzlichkeit, die es lebendig wirken lässt, und dennoch muss der Kreative ihm ständig Leben einhauchen. Jules Verne hat diesen Rhythmus sein Leben lang bestens einzuhalten gewusst und war quasi bis zum letzten Tag produktiv. Dass dabei nicht alle Texte gleich gelungen sind oder gleich erfolgreich waren, ist hier nebensächlich, denn Qualität und Erfolg dürfen nicht mit Schaffenskraft verwechselt werden. 173
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
Vernes kreative Leistung wird allerdings erst dann wirklich einschätzbar, wenn man weiterhin berücksichtigt, dass er nicht einen Roman nach dem anderen abgeschlossen hat, sondern dass er die vertragliche Bindung, zunächst drei und dann zwei Bände pro Jahr zu liefern, nur einhalten konnte, wenn er in unterschiedlichen Arbeitsstufen gleichzeitig an mehreren Werken arbeitete. Dazu bedurfte es einer Methode. Aber als sei dies nicht schon genug verlangt, arbeitete Verne zusätzlich noch darauf hin, den Publikationsrhythmus des Verlags zu überholen, um für Ausfallzeiten etwas in der Schublade zu haben. Am Ende seines Lebens lagen gleich eine ganze Reihe von fast fertigen Manuskripten bereit. Verne besaß noch eine weitere »Fähigkeit, die mir der Himmel gegeben hat«, wie er am 2. Februar 1873 Hetzel gegenüber erwähnte, eine Fähigkeit, von der auch viele andere Künstler berichten und die man als kreative Amnesie bezeichnen könnte: nämlich die Fähigkeit, ein Werk komplett zu vergessen, sobald es abgeschlossen ist. Hatte Verne einen Roman beendet, dann existierte er für ihn schon nicht mehr, weil er sich bereits ganz auf den nächsten konzentrierte. In dem eben zitierten Brief an Hetzel erwähnt er, dass »ich gar nicht mehr an In 80 Tagen um die Welt und an das Land der Pelze denke, so als ob ich sie niemals geschrieben hätte, ich stecke schon völlig im Robinson oder besser gesagt in der Geheimnisvollen Insel.« 1904 kann er sich in einem Interview sogar kaum noch an Titel älterer Romane erinnern. Auf die häufig gestellte Frage, welcher denn sein eigener Lieblingsroman sei, kann Verne daher nur antworten, dass es immer derjenige sei, an dem er gerade arbeite. So ein Mechanismus des Vergessens mag auf den ersten Blick überraschen, auf den zweiten aber erscheint er als eine wichtige Voraussetzung zum Schaffen. Kreativ ist eine solche Amnesie deshalb, weil sie unbeirrt von Erinnern oder Stolz auf vergangene Leistungen ein ständiges Weiterarbeiten erlaubt, ein ständiges Weiterschreiben, das im Falle Vernes allein die ungeheure Menge seiner Texte zu erklären vermag. Der Verdacht, Verne habe wie Alexandre Dumas der Ältere Mitarbeiter gehabt, die für ihn seine Textskizzen ausarbeiteten, ist unbegründet, wie die Korrespondenz zeigt. Verne hat alle seine Texte 174
Der Alltag eines Schriftstellers
selbst geschrieben, wenn man von den wenigen Kooperationen absieht. Nun entstehen Texte nicht allein aus Ideen, sondern vor allem aus anderen Texten, so genannten Prätexten, die ihnen vorausgehen und auch als Quellen bezeichnet werden. In Vernes Werk fließen vor allem vier unterschiedliche Quelltypen ein: schöngeistige Literatur, Fachliteratur, Presse und Notizen eigener Beobachtungen. Abgesehen von seinen Reisen, auf denen er fleißig Eindrücke sammelte, hat er nur selten die Zeit gehabt, sich gezielt vor Ort zu begeben, um den Handlungsraum unmittelbar zu erleben. Zu diesen Ausnahmen gehört sein Besuch der Kohleminen in Anzin im November 1876, während er an seinem Bergwerksroman Schwarz-Indien arbeitete. Später nutzte er zusätzlich auch Fotografien, um sich die Schauplätze zu vergegenwärtigen, wie etwa im Falle von dem in Schottland spielenden Roman Der grüne Strahl. Methodisch wie er war, sammelte er seit jeher seine Lektürenotizen und spontanen Einfälle oder schnitt Zeitungsartikel aus, klassifizierte sie thematisch und ordnete sie in Zettelkästen, in denen sie schließlich auf 20 000 Stück angewachsen sein sollen. Von dieser reichen dokumentarischen Grundlage der Außergewöhnlichen Reisen wissen wir nur aus Interviews, denn Verne hat sie vernichtet, abgesehen davon, dass er sowieso jeden in einen Roman eingearbeiteten Zettel vernichtete, um sich nicht zu wiederholen. Wiederholungen vermied er aber nicht nur bei Details, auch selbst Situationen und Figurenkonstellationen sollten immer neu konstruiert werden. So argumentierte er am 25. März 1879 Hetzel gegenüber, dass die schöne Lé-ou aus Die Leiden eines Chinesen in China keine junge Witwe sein könne, weil die Aouda aus In 80 Tagen um die Welt schon eine gewesen sei. Schien Verne eine Idee vielversprechend zu sein, dann entwickelte er ein erstes grobes Konzept, in dem wenigstens Anfang, Handlungsverlauf und Schluss verzeichnet waren. Dies teilte er Hetzel mit. Dem Konzept des geografisch-wissenschaftlichen Romans folgend suchte Verne zunächst Inspiration in Literatur über Geografie und Geschichte eines Landes, machte dazu zahlreiche Notizen und ent175
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
wickelte gleichzeitig Figuren und Handlung. Mangelte es ihm an Ideen, brach er die Arbeit ab und wählte eine andere aus dem halben Dutzend Romanideen, die er ständig im Kopf gehabt haben will. Sprudelten die Ideen hingegen, ordnete er die Notizen und begann mit der Aufteilung der Handlung in einzelne Kapitel. Stand dieses Handlungsgerüst, skizzierte er einzelne Kapitel aus Stichworten, die den Ablauf vorgaben und nur noch ausgearbeitet werden mussten. Bis 1875 schrieb Verne eine erste Version in nachlässiger Schrift für sich, die weiter überarbeitet und ergänzt wurde, bevor er ein weiteres Manuskript in Schönschrift anfertigte, das Hetzel zur Lektüre erhielt. Es war nur auf der linken Seitenhälfte beschrieben, so dass der Verleger rechts mit Bleistift seine Kommentare anbringen konnte. Verne bearbeitete daraufhin Hetzels Anmerkungen und überschrieb sie mit Tinte. Wenn Zeit dafür war, trafen sich die beiden mitunter zum gemeinsamen lauten Vorlesen, bei dem stilistische Ecken und Kanten deutlicher auffallen als bei der stillen Lektüre. Ab Mitte der 1870er Jahre änderte sich das Verfahren ein wenig, weil Verne nur die erste Fassung mit Bleistift schrieb und diese mit Tinte überarbeitete. Anschließend wurde der Text gesetzt, und Verne erhielt die Druckfahnen. Für ihn war es besonders wichtig, seinen Text gedruckt zu sehen, vermutlich weil er dadurch unpersönlicher wirkte. Bei der Überarbeitung legte Verne höchsten Wert auf Idiomatik und sprachliche Korrektheit, vor allem aber konnte er jetzt mit dem nötigen Abstand am Stil arbeiten, der für ihn die eigentliche literarische Qualität eines Werkes ausmachte. Vernes Sprache ist insgesamt sachlich, die häufigen Beschreibungen und Aufzählungen führen passagenweise zu einem stark nominalen Stil, den spätere Autoren wie Guillaume Apollinaire bewundert haben. Für Hetzel lag die allgemeine Eigenschaft von Vernes Romanen darin, dass sie »ohne Schwulst und Großsprecherei« auskommen, wie er am 29. Oktober 1884 formulierte. Die Nüchternheit des Stils macht die Romane auch heute noch gut rezipierbar, vor allem wenn man sie mit der gesuchten Sprache einiger zeitgenössischer symbolistischer Texte vergleicht. Um dahin zu kommen, benötigte Verne oft bis sieben 176
Der Alltag eines Schriftstellers
oder acht Korrekturgänge an den Druckfahnen. Das brachte zusätzliche Kosten für den Verlag, und Verne beschwichtigte Hetzel diesbezüglich in einem Brief vom September 1873 und versicherte, dass »zwischen den Manuskripten und der letzten Korrektur ein literarischer Unterschied ist, den Sie sich nicht vorstellen können.« Der Verleger akzeptierte es zähneknirschend, schließlich prägte Verne als Hausautor die Marke des Verlags entscheidend mit. Eine solche Hingabe an die Arbeit bedeutete, das ganze Leben darauf einzustellen und den Tagesablauf komplett danach auszurichten. Verne schlief in seinem kleinen Arbeitszimmer, stand zwischen fünf und sechs Uhr morgens auf und schrieb bis mittags. Seine Frau bekam ihn bis dahin kaum zu Gesicht. In seinem Arbeitszimmer in der Rue Charles Dubois Nr. 2 in Amiens, wo er mit Honorine zwischen 1882 und 1900 lebte und wo heute das Jules Verne-Museum beherbergt ist, standen lediglich eine Art Feldbett mit einem Nachttisch und ein Arbeitstisch aus Holz vor dem großen Fenster mit Blick auf das Stadtzentrum, aus dem die Turmspitzen der Kathedrale herausragen. Zur Dekoration gab es nicht mehr als Statuetten von Molière und Shakespeare auf dem Kamin, über dem noch ein Aquarell seiner Jacht bei der Einfahrt in die Bucht von Neapel hing. Vernes Bibliothek hingegen befand sich im großen Saal neben dem Arbeitszimmer. Mit dem Schreiben eines Romans allein war es jedoch nicht getan. Verne machte zwar keine Lesereisen oder öffentliche Buchvorstellungen, wie sie heute üblich sind, aber Hetzel spannte ihn in die Planung der Illustrationen mit ein, die für die Vermarktung eine zentrale Rolle spielten. Denn der Verlag lancierte Verne über mehrere Formate, um eine Verwertungskette zu schaffen. Zunächst wurden die meisten Romane in der hauseigenen Zeitschrift Magasin d’éducation et de récréation vorpubliziert und dann in zwei Buchformaten herausgegeben. Als erste erschien eine Ausgabe im kleinen Duodezformat, in Frankreich als »in-18« bezeichnet, die sich an ein breites Publikum richtete, anschließend die prächtige Großoktavausgabe (»in-8«), die als Lieferung angeboten wurde und am Ende des Jahres in Prachtbänden erschien. 177
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
Um die Formatbezeichnungen zu verstehen, muss man wissen, dass es in jener Zeit keine metrisch normierten Buchgrößen gab. Die Formatangaben »in-8« und »in-18« beziehen sich nicht auf die Größe einer Seite, sondern auf die Anzahl der Seiten, die aus einem Papierbogen durch Faltung gewonnen werden können. Ein ungefalteter Bogen ergibt eine Vorder- und eine Rückseite. Faltet man den Bogen einmal, dann erhält man jeweils zwei Seiten, also insgesamt vier. Wird er dreimal gefaltet, dann ergeben sich jeweils auf der Vorderund auf der Rückseite acht Seiten. Diese Faltung wird als »in-8« bezeichnet. Von »in-18« spricht man dementsprechend, wenn sich durch die Faltung 18 bedruckbare Seiten auf einer Seite des Papierbogens ergeben. Zwar war »in-8« somit größer als »in-18«, aber die exakte Größe der Seiten hing von der Größe des Papierbogens ab, die nicht normiert war. Die heute standardisierte DIN A-Norm wurde erst im 20. Jahrhundert eingeführt. Beide Ausgaben richteten sich an unterschiedliche Publikumssegmente. Die nicht illustrierte broschierte Ausgabe »in-18« wurde für 3 Francs (ca. 10 €) einem breiten Publikum angeboten. Die illustrierte Ausgabe »in-8« kostete 7–9 Francs (ca. 27 €) und erschien Ende des Jahres für wohlhabendere Familien, welche die Bücher als Neujahrsgeschenke, so genannte étrennes, kauften. Als Vernes Außergewöhnliche Reisen 1872 von der Académie française ausgezeichnet wurden, verwandelten sich die Prachtausgaben zudem noch in beliebte Schulpreise, die jährlich an die besten Schüler vor den Sommerferien vergeben wurden. Die bibliophile Wirkung der prächtigen Ausgabe »in-8« erklärt sich aus dem farbig gedruckten Buchdeckel mit seinen zahlreichen Goldverzierungen. Hetzel nutzte hier die Möglichkeiten der Industrie-Kartonage, die um 1850 einen Höhepunkt erreichte und es erlaubte, farbig auf Perkalin zu drucken. Schon ab 1865 wurden für Jules Verne eigene Designs entwickelt, die mit Leitmotiven der Außergewöhnlichen Reisen, also Ballons, Schiffen, Elefanten und Eisenbahnen, der Reihe einen wiedererkennbaren Charakter verliehen. Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Einbände gestaltet, die sich durch einen Dampfer, durch einen zweifarbigen Ballon, ein auf178
Der Alltag eines Schriftstellers
Buchdeckel der Großoktavausgabe (in-8)
geklebtes Porträt Vernes, eine Weltkarte oder einen Elefantenkopf auszeichneten. Hetzels Neujahrsgeschenksausgaben wurden zum Musterbeispiel dieser Institution. Noch heute sind die Bände bei Sammlern so beliebt, dass sich zwei Antiquariate in Frankreich auf sie spezialisiert haben und Exemplare ab ca. 200 € anbieten. Schlug der Leser einen solchen prächtigen Band auf, dann erwarteten ihn nach einem Frontispiz, das ähnlich wie ein Filmplakat Motive des gesamten Romans zusammenstellte, zahlreiche Holz 179
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
Das Frontispiz von 20 000 Meilen unter den Meeren
stiche, eine Technik, welche die Buchillustrationen seit Ende des 18. Jahrhunderts revolutioniert hatte. Hetzel hatte seit Beginn seiner Laufbahn eng mit Illustratoren zusammengearbeitet und die Illustrationen zu einem Markenzeichen seiner Bücher gemacht. Auch Vernes Romane wurden stark durch sie geprägt, insgesamt wurden für die Außergewöhnlichen Reisen über 5 000 Illustrationen angefertigt. War Vernes Erstling Fünf Wochen im Ballon zunächst ohne Illustrationen erschienen, so beginnt die bildliche Erweiterung der 180
Der Alltag eines Schriftstellers
Romane mit dem zweiten Roman Die Engländer am Nordpol bei dessen erster Lieferung im Magasin vom 20. März 1864 und endete erst mit dem Auslaufen der Reihe im Jahre 1914. Zusätzlich wurden die Illustrationen für Hetzels Plakatwerbung verarbeitet. In die Entwicklung der Illustrationen griff auch Hetzel mitunter stark ein, so dass sie in einem kreativen Dreieck aus Autor, Verleger und Illustrator entstanden. Im Laufe der Zeit hat Hetzel mit vielen Illustratoren zusammengearbeitet. Auch wenn einige von ihnen eine größere Anzahl der Werke Vernes illustriert haben, hat sich der Verleger nie auf einen von ihnen festgelegt. Denn die Bilder mussten relativ schnell gezeichnet und produziert werden und setzten die Zeichner damit stets unter Zeitdruck. Wie man sich diese Zusammenarbeit vorzustellen hat, soll am Beispiel der Diskussion um die Illustrationen von Mathias Sandorf aus dem Jahre 1884 kurz veranschaulicht werden. Sobald Verne mit der Arbeit an einem Roman vorangeschritten war, begann Hetzel, die Illustrationen zu planen, weil man den Künstlern eine gewisse Vorlaufzeit gewähren musste. Die Illustrationen für Mathias Sandorf wurden bei Léon Benett in Auftrag gegeben, der, quantitativ gesehen, der prägendste Illustrator Vernes gewesen ist, weil er an die 1 600 Bilder für 27 Romane erstellte. Hetzel arbeitete bereits seit Ende der 1860er Jahre mit dem ehemaligen Kolonialbeamten Benett zusammen, der von seinen Aufenthalten in Algerien, Indochina und NeuKaledonien zahlreiche Skizzen und Zeichnungen mitgebracht hatte und daher bestens auf die exotischen Themen Vernes vorbereitet war. Als Zeichner Vernes begann Benett 1872, als er bei der Arbeit an In 80 Tagen um die Welt aushalf, weil der Illustrator A lphonse de Neuville nicht schnell genug lieferte. Obwohl nicht hauptberuflich als Zeichner tätig, erwies sich Benett als höchst zuverlässig und ist neben Georges Roux der einzig dauerhaft für Hetzel arbeitende Künstler gewesen. Von den Illustrationen, die er für Verne anfertigte, können diejenigen zu Robur der Eroberer und Die Leiden eines Chinesen in China als die gelungensten angesehen werden. Während Hetzel also mit Verne noch über den Stand von Mathias Sandorf korrespondiert, wendet er sich bereits an Benett und lässt 181
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
Pierre-Jules Hetzel
ihm eine Abschrift des Manuskripts zukommen, auf dem die Stellen markiert sind, die illustriert werden sollen. Bei der Darstellung der Titelfigur ist besondere Sorgfalt angebracht, weil Sandorf – Vernes Graf von Monte Christo – im zweiten Teil fünfzehn Jahre später mit neuer Identität als Doktor Antekirrt wieder auftaucht, um sich an seinen Peinigern rächen zu können. Dieselbe Figur ist daher in zwei Versionen zu gestalten, die anders, aber auch nicht völlig verschieden aussehen dürfen. Benetts erste Lieferung stößt bei Hetzel auf Ablehnung. Er antwortet dem Illustrator am 20. September 1884: »Ihr Mathias Sandorf passt mir nicht, er hat nicht jenen mächtigen und sympathischen Kopf, den wir brauchen, er hat nicht die Substanz, um drei Bände zu tragen, und der man all das wegnehmen könnte, was bei seiner zweiten Inkarnation den Doktor Antekirrt ergeben soll. 182
Der Alltag eines Schriftstellers
Mathias Sandorf nach dem Vorbild Hetzels
Ich werde von Verne verlangen, dass er eine Personenbeschreibung macht und uns eine bekannte Persönlichkeit nennt, die als Vorbild dienen kann.« Am 21. September liefert Verne die gewünschten klärenden Hinweise: »Ich habe die Zeichnungen Benetts erhalten, die Sie mir geschickt haben. Sie passen gar nicht. Der junge Sandorf, dass sind Sie mit 35 Jahren, mit Vollbart und schwarzen Augen, wie es im Text heißt, von ganz und gar Ihrer Statur. Der in Doktor Antekirrt verwandelte Sandorf ist eine Mischung aus Ihnen und Ihrem Freund Bixio, ohne Bart, nicht kahl, etwas kräftiger als Sandorf es war. Ich selbst sehe nichts anderes und habe an nichts anderes gedacht.«
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3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
So wurde Hetzel schließlich selbst zum Modell für Mathias Sandorf, wie ein Vergleich zwischen einem Foto und einem Ausschnitt aus einer Illustration des Romans zeigt. Als Benetts Zeichnungen nun endlich den Vorstellungen entsprechen, entwickeln sie eine Eigen dynamik und wirken sich nun wiederum auf den Text aus. Denn Verne hat Mathias Sandorf noch nicht beendet und kündigt in einem Brief an einen Mitarbeiter Hetzels an, dass er die Beschreibung noch ein wenig an die Illustrationen anpassen müsse. Text und Bild sind bei vielen Romanen somit schon im Entstehungsprozess als Einheit zu verstehen. Vernes Schöpfen aus ganz unterschiedlichen Quellen brachte einige Vor- und Nachteile mit sich. Ein Vorteil lag darin, dass er sich vielfältige Inspiration holen konnte und ein Teil des Schreibens aus dem Anordnen der Informationen bestand. Der Nachteil davon war allerdings, dass er befürchtete, er könnte als »Arrangeur von Fakten« und nicht als Künstler wahrgenommen werden. Weiterhin weckt Erfolg Neid und Begehrlichkeiten, und wer Verne nicht wohlgesinnt war, den konnten die Quellen dazu ermuntern, ihm Plagiatsvorwürfe zu machen. Der Vorteil von Vernes breiter Dokumentation lag andererseits wiederum darin, dass es den Klägern nicht gelang, ein Plagiat nachzuweisen. Denn Verne hat sich Inspiration von überall her genommen und diese mit seinen eigenen Ideen so kreativ verarbeitet, dass sich nicht von einem Plagiat sprechen lässt, und tatsächlich ist er auch niemals dafür verurteilt worden. Ein kurioser Fall unter solchen Versuchen war der Vorwurf des heute vergessenen Autors René de Pont-Jest, Verne habe dessen philosophische Erzählung La Tête de Mimer (Mimirs Schädel) aus dem Jahre 1863 für seinen Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde ausgeschlachtet. In Mimirs Schädel entdeckt der junge deutsche Philosoph Franz von Heberghem auf dem Umschlag eines alten Buches Runenzeichen, die einen Ort in Norwegen nennen, wo sich der Schädel des Gelehrten Mimir befinden soll, über den man zu absolutem Wissen gelangen kann. Franz macht sich daraufhin nach Norwegen auf und findet zwar den Schädel, wird an dessen Antworten jedoch zugrunde gehen. Obwohl es darin gar nicht um eine 184
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Reise ins Innere der Erde geht und sich die Übereinstimmungen mit Vernes Roman auf die Botschaft mit Runenschrift beschränken, forderte Pont-Jest Jules Verne in einem Brief im Figaro zu einer Stellungnahme dazu auf. Verne reagierte aber nie darauf, weil er nach eigener Aussage die Erzählung gar nicht kannte. Hetzel führte mit Pont-Jest ein klärendes Gespräch darüber, und danach ruhte die Angelegenheit, zumindest zehn Jahre lang. Als 1874 die Premiere der Bühnenversion von In 80 Tagen um die Welt am Porte SaintMartin-Theater angekündigt wurde, bat Pont-Jest bei der Direktion um Ehrenplätze, erhielt aber wohl nicht diejenigen, die er sich erhofft hatte und machte Verne dafür verantwortlich. Pont-Jest war offenbar so verärgert, dass er nun den längst vergessenen Plagiatsvorwurf wieder aufwärmte und einen Prozess anstrengte, den er natürlich verlor, weil das Gericht am 10. Januar 1877 die Vorwürfe als unbegründet abwies.
1886: Das schreckliche Jahr
A
m 9. März 1886 erscheint ein junger Unbekannter im Gebäude des Clubs Cercle de l’Union von Amiens, wo sich Verne nachmittags regelmäßig aufhält, und erkundigt sich nach ihm, zuerst um 14 und dann erneut gegen 16 Uhr. Doch in beiden Fällen ist der Schriftsteller gerade nicht im Haus. Als Verne dann später zum Cercle kommt, weist ihn niemand darauf hin, dass nach ihm gefragt wurde, erstens weil dies nicht üblich war und zweitens weil der junge Mann normal und unauffällig wirkte. Verne macht sich auf den Heimweg und erreicht sein Haus in der Rue Charles Dubois Nr. 2 gegen 17 Uhr 15. Als er sich anschickt, die Tür zu öffnen, fällt ein Schuss. Verne ist verwirrt und hält die Explosion zunächst für einen Knallfrosch. Aber dann fällt ein zweiter Schuss, Verne spürt einen heftigen Schmerz über dem linken Fußgelenk und begreift, dass er getroffen wurde. Er erblickt wenige Meter vor sich einen jungen Mann mit einem Revolver in der Hand. Verne ruft um Hilfe, stürzt 185
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
sich auf den Schützen, der nur ein Wort von sich gibt: »Elender!« Verne kennt die Stimme und erkennt jetzt auch, dass der junge Mann niemand anderes ist als sein Neffe Gaston, der älteste Sohn Pauls. Mithilfe des herbeigeeilten Nachbarn entwenden sie ihm die Waffe. Gaston leistet keinen Widerstand, auch nicht als die Polizei ihn kurz darauf abführt. Das Attentat kam so plötzlich und verlief so schnell, dass keine Zeit zum Nachdenken blieb. Dann aber erinnert sich Verne, dass Gaston schon vor einem Jahr von Paris aus, wo er bei einer Tante lebte, plötzlich nach Amiens gekommen war, um Vernes Freund Robert Godefroy zu bitten, ihm als Sekundanten bei einem Duell beizustehen. Godefroy hatte sofort gemerkt, dass mit Gaston etwas nicht stimmte und ihn zu seinem Onkel geschickt. Später kamen Godefroy und Verne zu dem Schluss, dass Gaston offenbar verrückt geworden sein müsse, zogen daraus aber keine weiteren Konsequenzen. Gemeinsam mit Hetzel hatte Verne Gaston gerade erst im Dezember 1884 noch dabei geholfen, eine Stelle im Außenministerium zu bekommen, weil er nach seinem Jurastudium eine Diplomatenkarriere anstrebte. Bis dahin hatte es nie Probleme gegeben. Zweimal hatte Verne ihn auf der Saint-Michel zu Ausflügen mitgenommen. Im Sommer 1879 waren sie nach Schottland und England gefahren, dann 1881 zur Nord- und Ostsee. Nie hatte es Klagen über Gaston gegeben. Sicher, er war etwas introvertiert, aber vom Charakter her so sanft, dass Verne ihn liebevoll das »träumende Mäuschen« nannte. Bei den polizeilichen Untersuchungen wird Vernes Bruder Paul aussagen, dass Gaston erstmals 1885, nachdem er seine Stelle im Ministerium angetreten hatte, Zeichen von Verfolgungswahn aufwies. So war er davon überzeugt, dass in der Wohnung über ihm Agenten seien, um ihn zu bewachen, und dass seine Briefe geöffnet würden. Bis dahin war der 1861 geborene und zur Zeit des Attentats 25-jährige Gaston ein vorbildlicher Sohn gewesen, der von dem Vater wegen seiner Intelligenz und seiner guten schulischen und sonstigen Leistungen sogar bevorzugt worden war. Den Militärdienst hatte Gaston 1882 als Sergent mit besten Noten beendet und dann 186
1886
sein Jurastudium wieder aufgenommen und eine Promotion angestrebt. Die Untersuchungen ergaben, dass Gaston sich schon Ende 1883 in Paris einen Revolver gekauft hatte. Auf die Frage, was das Motiv seiner Tat gewesen sei, reagierte Gaston unterschiedlich: Mal sagte er nichts, dann meinte er, er habe es getan, um sich für eine Familienangelegenheit zu rächen, über die er nicht sprechen könne, und dann erwähnte er noch, er habe dem Onkel damit die Türen zur Académie française öffnen wollen. Am 23. März 1886 bescheinigen drei Ärzte in einem »Gutachten über den Geisteszustand von Herrn Gaston Verne«, dass er an Verfolgungswahn leide und die Tat während einer akuten Krise seiner Krankheit ausgeführt habe. Gaston sei eine Gefahr für seine Mitmenschen und müsse unter Aufsicht gestellt werden. Damit war Gaston schuldunfähig, und das Verfahren wurde am 1. April 1886 eingestellt. Kurz darauf wird Gaston in eine Anstalt in Vanves im Süden von Paris zu dem renommierten Arzt Jules Falret interniert, wo er bis zu deren Schließung 1932 bleiben sollte, um dann als 71-jähriger in der offenen Anstalt Geel (Belgien) die letzten Jahre seines Lebens zu verbringen. Gaston starb schließlich am 13. Februar 1938 an einem Herzleiden, nachdem er nach dem Attentat auf Verne 52 Jahre in Heilanstalten verbracht hatte. Gaston galt als unheilbar, an seinem Verfolgungswahn gibt es keinen Zweifel. Interessanter ist vielleicht die Frage, warum er nun gerade seinen Onkel als Zielscheibe auswählte. Die Berühmtheit Vernes mag ein Faktor dafür gewesen sein, was sich in Gastons Aussage widerspiegelt, er habe ihm Zutritt zur Académie verschaffen wollen. Volker Dehs vermutet weiterhin, dass Vernes Ablehnung, ihn bei dem (wohl nur imaginierten) Duell zu sekundieren, den Eindruck ausgelöst haben könnte, dass der sonst geliebte Onkel auf die Seite der Feinde gewechselt sei und bestraft werden müsse. Als Meister der Verdrängung tat Verne die psychischen Folgen des Attentats meistens ab. Dass es ihn in Wirklichkeit doch beschäftigte, darauf verweist eine fast zwanzig Jahre spätere Bemerkung aus einem Brief an Michel vom 22. September 1903 anlässlich des Todes 187
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
von Pauls Sohn Marcel, bei dessen Beerdigung auch Gaston anwesend gewesen sein soll. Verne ist alarmiert: »Hat man diesen bemitleidenswerten Irren etwa auf freien Fuß gesetzt? Du verstehst, dass wir das gerne wissen möchten. Vor allem weil vor drei Tagen jemand zum Haus gekommen ist, als weder ich noch deine Mutter da waren, und mich sehen wollte. Er ist nicht wiedergekommen. Das ist höchst verdächtig. Sollte es Gaston gewesen sein und will er seine Tat nochmals begehen?« Im Krankenbett traf Verne gut eine Woche nach dem Attentat ein weiterer schwerer Schlag: Am 17. März 1886 war Hetzel im Alter von 72 Jahren verstorben. Ganz unerwartet kam dies nicht. Seit 1880 hatte sich die Lähmung einer Hand bemerkbar gemacht, die sich auf die ganze Körperhälfte ausweitete. Am 13. Januar 1886 hatte Hetzel Verne noch geschrieben, bevor er sich nach Monte-Carlo in das Milde Klima des Mittelmeers aufmachte, und in den letzten Zeilen nostalgisch in Erinnerungen geschwelgt: »Ich mache mich ohne Freude auf den Weg. Die Länge der Strecke macht mir Angst. Wie lange ist es schon her, dass wir diese Reise frohen Mutes gemeinsam antraten und von unseren Fenstern über dem Golf Juan aus weit unsere Augen aufsperrten, um Korsika am Horizont zu erspähen.« Mit Hetzel verlor die Republik einen ihrer bedeutendsten Verleger, einen Schriftsteller und Intellektuellen, der sich sein Leben lang für seine literarischen Überzeugungen und seine politischen und pädagogischen Ideale engagiert hatte. Am 2. Februar 1885 hatte er rückblickend an die Schriftstellerin Marko Wowtschok geschrieben, dass er »eine Bibliothek hinterlasse, die unserem Land fehlte. Ich habe all meine Lebensenergie in sie hineingegeben, ich bereue es nicht.« Hetzels Bilanz ist in der Tat beeindruckend. Als einer der ersten hatte er die Bedeutung Stendhals erkannt und dessen große Romane Rot und Schwarz und Die Kartause von Parma mit dem Ziel neu aufgelegt, das Gesamtwerk herauszugeben, was er wegen des gründlichen Misserfolgs der Bücher aufgeben musste. »Es ist selten gut für einen Verleger«, schrieb er am 16. August 1884 an Verne, »dem Geschmack des Publikums vorauszueilen und ein besseres und schnel188
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leres Urteil zu haben. Ist es zu fassen, dass ich mit der Menschlichen Komödie Balzacs … eine noch größere Kröte schlucken musste – und auch mit der ersten Gesamtausgabe von George Sand. Es kam fünf Jahre zu früh, als ich das gemacht habe.« Aber bei Jules Vernes Außergewöhnliche Reisen hatte der Zeitpunkt gestimmt, und auch bei den Romanen von Erckmann-Chatrian, die eine zweite Erfolgssäule des Verlagshauses Hetzel bildeten. Hetzels sterbliche Überreste wurden nach Paris überführt. Am 22. März 1886 fand die Trauerfeier in der Kirche von Saint-Germain-des-Prés und anschließend die Beisetzung auf dem Friedhof von Montparnasse statt. Verne war untröstlich, dass er nicht anreisen konnte, und ließ sich von Michel vertreten. Kurz nach der Beisetzung raffte er sich auf, um Hetzels Sohn sein Beileid auszusprechen: »Dies sind die ersten Zeilen, die ich bisher schreiben konnte. Sie gelten Ihnen und Ihrer Mutter! So habe ich nun weder den letzten Augenblicken Ihres Vaters, der auch der meine war, beiwohnen, noch ihn an Ihrer Seite zu seiner letzten Ruhestätte begleiten können!« Auch wenn Hetzels Sohn Louis-Jules bereits seit Jahren die Geschäfte führte und der Betrieb somit nahtlos weiterlief, fehlte Verne von nun an sein engster Vertrauter, der im Laufe der Zeit viele Rollen in seinem Leben gespielt hatte: als Entdecker und Förderer seines Talents, als Verleger und Chef, als Kritiker und Kollege und vor allem als Freund. Auch das Verhältnis zu Louis-Jules war freundschaftlich geprägt, konnte dem Vergleich mit demjenigen zu seinem Vater jedoch nicht standhalten. Vernes Briefe wurden unpersönlicher, drehten sich nur noch um die kommenden Romane und fielen meist auch kürzer aus. Das Attentat auf Verne stellte physisch einen großen Einschnitt in seinem Leben dar, denn die Kugel konnte nie entfernt werden. Von nun an musste er einen Gehstock verwenden, und damit war es auch mit seinen geliebten Ausflügen auf seiner Jacht ein für allemal vorbei. Wegen der mehrfach gescheiterten Operationen entzündete sich die Wunde immer wieder und fesselte Verne ein halbes Jahr ans Bett. Wegen der starken Schmerzen wurde er mit Morphium behandelt, 189
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was ihn jedoch nicht davon abhielt, fleißig weiterzuarbeiten. Neben dem üblichen Schreiben und Korrigieren zog er in einem für Bettlägerige typischen Anflug von Nostalgie auch seine Poesie-Alben hervor und fügte ein paar Gedichte hinzu. Darunter befindet sich auch ein in seinem Werk einzigartiges Sonett, in dem er seine Erlebnisse mit dem Schmerzmittel künstlerisch verarbeitet. Verne hat es für veröffentlichungswürdig gehalten und ließ es, allerdings anonym, am 26. Mai 1886 im Journal d’Amiens abdrucken. Die folgende Nachdichtung zeigt, dass der Romancier Verne auch im hohen Alter den Lyriker von früher nicht völlig verdrängt hatte: Auf das Morphin Spann auf, Doktor, die Flügel des Merkur, und bring mir bald die liebe Labsal, denn es ist Zeit für die Punktur, heb mich gen Himmel aus dem Bett der Qual. Danke, Doktor. Was tut’s schon, wenn die Kur sich hinzieht über langer Tage Stunden, die Labung wirkt, so göttlich als ob Epikur es für die Götter hätt’ erfunden. Ich fühl es strömen, mich durchdringen, wie Geist und Körper wonnevoll erklingen. Ein Frieden wie in stiller Nacht. Ach, stich mich hundert Mal mit feiner Nadel, Sankt Morphin, sei hundert Mal geadelt. Äskulap hätt’ dich zum Gott gemacht. Derweil stromerte Sohn Michel weiter durch sein Leben und begeisterte sich für unterschiedliche Ideen. 1886 will er eine Zeitschrift gründen und bittet den Vater um Geld, der jedoch kategorisch ablehnt, nicht zuletzt, weil Michel seiner Meinung nach einen schlech190
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ten Partner ausgewählt hat. 1888 dann stellte Verne Michel der Zeitung Le Figaro vor und half dabei, dass sein Sohn eine Rubrik mit dem Titel »Im Zickzack durch die Wissenschaft« erhielt, die in der Literaturbeilage erschien. Zwischen Mai und November lieferte Michel eine Reihe von Beiträgen, die beim Vater die Hoffnung aufkeimen ließen, er könne sich als Journalist etablieren. Alle Artikel unterzeichnete der Nachwuchsjournalist mit »Michel-Jules Verne«. Einige davon lehnen sich eng an Motive aus den Außergewöhnlichen Reisen an: Anspielungen auf Ballonfahrten, der Konflikt mit Deutschland, Zugreisen, Satiren auf die USA, Theorien über das Erdinnere. Michels fantasievolle Texte haben mitunter eine ironische Frische, die sich auch heute noch goutieren lässt. Hier lag eines seiner Talente. Aber der erfahrene Vater sah auch bald, wo es haperte. Am 18. August 1888 riet er dem Sohn angesichts der eher spärlichen Einfälle für Themen nur noch einen Artikel pro Monat zu schreiben. Hier stieß Verne wieder auf jene Grenze bei seinem Sohn, die er schon lange kannte. Was seinem Sohn fehlte, das hatte er im Übermaß: sprudelnde Ideen, die durch tägliche Lektüre, pausenlose Suche nach dem Außergewöhnlichen und den nimmer müden Blick in die Welt ständige Nahrung bekamen und über seine Zettelkästen dauerhaft verfügbar blieben. Und so sollte auch diese Hoffnung wieder sterben. Michel begriff, dass der Journalismus seine finanziellen Probleme nicht lösen konnte. Immerhin hatte sich das Schreiben einmal mehr als Raum bewiesen, in dem Vater und Sohn sich näher kommen konnten. Doch der nächste kalte Schauer ließ nicht lange auf sich warten. Im April 1890 teilte Michel dem Vater mit, er wolle in die Seifenherstellung einsteigen und benötige viel Geld. Jetzt schickte Michel wieder endlose Briefe, zu denen der Vater Stellung beziehen musste. All das kostete Zeit und Kraft nach all den Jahren des Konflikts. Am 28. April antwortete Verne ihm ausführlich: »Ich sehe, wie du dich in Illusionen stürzt und auf einen Weg begibst, der mich erschreckt. Ich sage es dir ganz offen: der Weg, auf dem man viel riskiert, um viel zu gewinnen. Und gerade du, dem 191
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Handel und Industrie völlig fremd sind, und du doch eher ein Mensch der Fantasie und ein Künstler bist als ein Spekulant oder ein Geschäftsmann! Wie dem auch sei! Du wirst immer unsere Hilfe erhalten, wenn es um eine Beteiligung in einem Geschäft geht, in das du 60 000 Francs [ca. 196 000 €] steckst, aber niemals bei einem Geschäft, in dem wir verlieren könnten, was ich zum Preis für so viel Arbeit verdiene und was dir eines Tages zukommen soll.« Im August 1890 kam es zu einer Art offiziellen Versöhnung zwischen beiden. Jules und Honorine besuchten Michel und seine Familie an der Küste in Les Petites-Dalles (Normandie), wo diese ihre Ferien verbrachten. Verne sah hier zum ersten Mal seine Enkelsöhne. Danach wurde der Ton der Briefe mitunter deutlich wärmer, auch wenn die grundsätzlichen Probleme ungelöst blieben. Michel kam im Oktober 1890 gleich mit der nächsten Idee und wollte eben jene 60 000 Francs, von denen der Vater gesprochen hatte, in die Produktion eines Universalofens investieren. Verne war alarmiert und warnte seinen Sohn, er kennte sich damit doch gar nicht aus. Michel erwiderte, dass sein Kompagnon das nötige Know-how mitbringe. Nachdem Verne seinem Sohn mehrfach finanzielle Unterstützung versagt hatte, fühlte er sich nun genötigt nachzugeben. Und natürlich machte die Firma in kurzer Zeit Pleite. Wieder blieb Verne nichts weiter, als den Sohn immer und immer wieder zu ermahnen: »Wenn du kommst, dann komm nicht vor Mittwoch nächster Woche. Im Übrigen muss ich dir sagen, dass, solltest du kommen, um von mir neue Opfer zu verlangen – und ich bin geneigt, dies zu vermuten – du die Reise völlig umsonst machst. Ich werde nicht weiter gehen, und du wirst weder von deiner Mutter noch von mir irgendetwas erhalten. Ich habe schon mehr getan, als ich konnte. Ich sage nicht, dass du nicht gearbeitet hast, ich werfe dir vor, dich auf ein Geschäft eingelassen zu haben, das du angeblich kanntest, von dem du aber in Wirklichkeit keine Ahnung hattest, mit einem Kom 192
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pagnon, der dir völlig vertrauenswürdig erschien und der dich betrogen hat. Ich denke, dass dir das eine Lehre sein wird« (Brief vom 20. März 1891). Michel wird noch unter höchstem Einsatz versuchen, die bereits angefertigten Öfen unter die Leute zu bringen. Mit Hetzel juniors Zustimmung werden Werbeprospekte in das Magasin eingelegt, die das Gerät als das einzige anpreisen, das zugleich hygienisch und ökonomisch sei. All das half letztlich wenig. Am Ende hatte Verne gut 80 000 Francs (ca. 260 000 €) verloren. Immerhin musste er Michel anerkennen, dass er diesmal hart gearbeitet hatte. Die Zeit verging, und schließlich geschah auch das, was in solchen Konstellationen nicht selten passiert: 1895 erteilte der Vater selbst seinem arbeitslosen Sohn den Auftrag, einen zweiteiligen Roman nach einer seiner Ideen zu verfassen, der 1907 posthum unter dem Namen Jules Vernes als Reisebüro Thompson und Co. erscheinen sollte. Intime Kenner der Außergewöhnlichen Reisen haben früh gemerkt, dass der Stil gesuchter, der Wortschatz mitunter umgangssprachlicher und Gefühle deutlicher zum Ausdruck kommen als in Vernes ureigenen Texten. Auch in den folgenden Jahren sollte die prekäre Situation Michels nicht gelöst werden. 1897 versuchte er mit Unterstützung des Vaters, eine Arbeit in der Organisationsbehörde der Weltausstellung von 1900 zu bekommen. Michel erhielt jedoch nur einen kleinen Posten als Angestellter, aus dem sich keine weiteren Perspektiven ergaben. Als richtungsweisend erwies sich letztlich allerdings die Kooperation von Vater und Sohn beim Verfassen von Reisebüro Thompson und Co. Was als Notlösung gedacht war, wurde zu einer Erziehungsmaßnahme und Fortbildung, denn jetzt war Michel in das Schreiben wissenschaftlicher Romane eingeführt worden und sollte nach dem Tod des Vaters genau an diesem Punkt weitermachen.
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Unermüdlich bis zum Ende
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rotz seiner beeindruckenden literarischen Produktivität hat sich Verne seit den 1870er Jahren auch vielfältig kommunalpolitisch engagiert, wobei sein Interesse vor allem Kultur und Bildung galten. Regelmäßig ging er mit Honorine zu den Schulpreisverleihungen der Amienser Gymnasien, war Mitglied des Schulvereins und im März 1884 Mitglied des Gründungskomittees der Alliance française, einer heute noch existierenden Organisation zur Förderung von französischer Sprache und Kultur im Ausland. Besondere Freude machte es ihm, seit Oktober 1886 auch Aufsichtsratsmitglied des Städtischen Museums zu sein. Es war für Verne zugleich ein kulturpolitischer Höhepunkt und eine persönliche Genugtuung, als im Amienser Museum am 5. Februar 1888 die Wandgemälde von Puvis de Chavannes, den Verne sehr bewunderte, in Anwesenheit des Künstlers eingeweiht wurden. Darunter befand sich auch das bereits erwähnte Bild Le Travail, das bereits 1863 entstanden war und in Amiens nun seinen endgültigen Platz fand. Im Mai 1888 kandidierte Verne überraschenderweise auf der Liste der Republikaner für den Stadtrat, was seinen politischen Überzeugungen eigentlich widersprach. Verne kümmerte dies jedoch nicht sonderlich, da er darin lediglich ein Verwaltungsamt sah, für das Weltanschauungen nebensächlich waren. Verne wurde gewählt. In den monatlichen Sitzungen des Stadtrates trat er nicht sonderlich hervor, dafür umso mehr im Kulturausschuss, den er als seinen eigentlichen Bereich ansah. Nach seiner ersten Amtszeit von vier Jahren ließ er sich wieder aufstellen und wurde insgesamt noch dreimal wiedergewählt. Im Juli 1892 wurde Verne für seine Verdienste als Stadtrat von Amiens die Offizierswürde der Ehrenlegion verliehen. Als aufmerksamer Beobachter der Öffentlichkeit erfuhr Verne im November 1889, dass Émile Zola für die Académie française kandidieren wollte. Verne war nicht wenig überrascht darüber, wie er am 10. November 1889 an Hetzel jr. schrieb, weil die ernste und keusche Académie so gar nicht zum Werk Zolas passe. Zola wurde zwar nicht
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gewählt, aber er sollte nicht locker lassen und jedes Mal kandidieren, wenn ein Platz frei wurde. Am Ende seines Lebens kam er auf 25 gescheiterte Bewerbungen. 1893 gab Zola Verne weiteren Anlass, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Denn Zola äußerte dem Chefredakteur des Figaro gegenüber, dass, wenn es schon eine Akademie in Frankreich gebe, er Mitglied sein müsse. Dies scheint Verne so provoziert zu haben, dass er einen Brief für den Figaro entwarf, der offenbar nie abgeschickt wurde und sich heute in der Bibliothek von Amiens befindet. Darin sprach er Zola wegen seiner unsittlichen Darstellungen in dem Roman Die Erde die Eignung für die Akademie ab: »Der Autor, der Die Erde geschrieben hat, kann nicht in die Akademie aufgenommen werden, und kein Akademiemitglied darf zur Wahl gehen, ohne Die Erde gelesen zu haben. Denn sonst würde es ohne Kenntnis der Sachlage abstimmen.« Eine solch scharfe Reaktion des ansonsten eher zurückhaltenden Verne macht hellhörig. Die Kandidatur Zolas schien ihn in doppelter Hinsicht aufgewühlt zu haben. Erstens hatte er selbst mit dem Gedanken gespielt, einer der vierzig »Unsterblichen« zu werden, wie man die Mitglieder der Académie française in Frankreich nennt. Zwischen 1876 und 1878 sowie nochmals zwischen 1883 und 1885 hatte er sich mit Hetzels und Dumas des Jüngeren Hilfe vorgetastet, um seine Chancen auszuloten. Das Ergebnis davon war die für ihn schmerzliche Erkenntnis gewesen, dass er als Kandidat nicht ernst genommen wurde. So richtig verwunden hat Verne dies offenbar nie, denn er las darin eine allgemeine Geringschätzung der Gattung des Abenteuerromans. Noch in den Interviews der 1890er Jahre hat er mehrfach gestanden, wie verbittert er darüber war, dass er als Schriftsteller in Frankreich nicht zähle. Zweitens ging es in diesem Falle aber auch ganz konkret um den polarisierenden Émile Zola, mit dessen Werk sich Verne lange Zeit aufmerksam beschäftigt hat. Zola hatte sich wie Verne die Wissenschaft als Romanparadigma zu eigen gemacht, allerdings auf eine völlig konträre Art und Weise. Ein kurzer Exkurs zu Vernes Verhältnis zu Zola kann daher weitere grundsätzliche Merkmale der Außergewöhnlichen Reisen veranschaulichen. 195
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Vernes Zola-Lektüren gehen bis in die Anfänge des Naturalismus zurück. Kaum war am 24. Januar 1877 Zolas Roman Die Schnapsbude erschienen, schrieb Verne schon Anfang Februar an Hetzel: »Das ist abscheulich, widerlich, furchtbar, abstoßend, ekelhaft und … einfach großartig! Wie zum Teufel konnte er so etwas Starkes hinbekommen! Es ist das Epos des versoffenen Arbeiters. Aber muss man all das erzählen? – doch ich wiederhole – einfach großartig.« Am 20. Februar 1877 nahm er das Thema noch einmal auf und lobte Zolas Talent »im Hinblick auf die erstaunliche Genauigkeit der Details, die alles übersteigt, was ich in dieser Art gelesen habe. Aber er behandelt Dinge, die nicht behandelt werden sollten, und schon gar nicht so. Ich für meinen Teil werde keine Lehre daraus ziehen. Ich sehe darin vielmehr erstaunliche Fotografien – verbotene Fotografien.« Darin steckte keine grundsätzliche Ablehnung des Naturalismus. Am 7. Juni 1894 schrieb er an Turiello, dass der Naturalismus bedeutende Werke hervorbringe, wenn er in einem angemessenen Rahmen bleibe: »Aber wenn er nur aus Abfall, Unanständigkeiten und Sittenlosigkeit besteht, wie ihn Zola meistens auffasst, dann muss man ihn angewidert ablehnen.« Hierbei dürfte er vor allem an den besagten Roman Die Erde aus dem Jahre 1887 gedacht haben, der als der schonungsloseste Zolas galt, weil er Landleben und -bevölkerung in ihren niedrigsten brutalen und sexuellen Instinkten zeigte und dabei nicht vor der Darstellung von Ausscheidungen, Geschlechtsakten und Vergewaltigung zurückschreckte. Selbst für einige Verfechter des Naturalismus war Zola dabei zu weit gegangen. Man warf ihm vor, er habe seine eigenen künstlerischen Ideen verraten und stelle das Obszöne und Pornografische in den Vordergrund, um Kasse zu machen. In einem weiteren Brief an Turiello vom 19. Juni 1894 formulierte Verne dann, dass Zolas Werk das Gegenstück zu den Außergewöhnlichen Reisen bilde: »Meiner Meinung nach hat Zola zwar weder Geist, noch Stil, noch Fantasie, noch Ideale, noch Moral, aber dennoch ein großes Talent, und zwar das wichtigste für einen Romancier, denn seine Figuren sind lebendig, höchst lebendig. Er hat auch 196
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etwas von einem Dichter. Aber er nutzt sein Talent auf abscheuliche Weise.« Als Beispiel eines akzeptablen Naturalismus galt ihm Maupassant, der zwar »die schlüpfrigsten Dinge« erzähle, die man sich vorstellen könne, das jedoch ohne jegliche Grobheiten, wie er Hetzel am 14. August 1884 schrieb. Zugleich mochte auch Vernes Stolz dadurch verletzt worden sein, dass Zola als Kritiker wenig zimperlich mit seiner wissenschaftlichen Gattung umging. So kritisierte er am 29. Oktober 1877 in Le bien public Vernes Stück In 80 Tagen um die Welt vernichtend als »endloses Defilee von Banalitäten, ohne dass auch nur eine Szene davon wirklich neu wäre. Die Gattung ist einfach idiotisch, das muss man so direkt sagen. … Nichts ist weniger szenisch als die Idee, auf der [das Stück] basiert. … ich würde schwören, dass von den Tausenden der Zuschauer, die ins Porte Saint-Martin-Theater gegangen sind, höchstens ein paar Dutzend die einfallsreiche Auflösung verstanden haben. Der Rest der Handlung ist selten banal.« Zolas Konzept vom wissenschaftlichen Roman ging in eine ganz andere Richtung. Während Verne Wissen und Wissenschaft vermitteln wollte, meinte Zola, mit seinem zwanzigbändigen Zyklus Die Rougon-Macquart selbst Wissenschaft zu betreiben und deklarierte seine Werke 1879 zu experimentellen Romanen, die den Anforderungen eines wissenschaftlichen Zeitalters entsprächen. Die Hauptdisziplin des Romans war für ihn die wissenschaftliche Psychologie als Ergänzung zur wissenschaftlichen Physiologie. Zola verstand Charakter und Leidenschaften der Menschen als unvermeidliche und daher analysierbare Wirkungen der Faktoren familiäre Herkunft, Milieu und Zeitkontext. Romane betrachtete er als Versuchsanordnungen des menschlichen Verhaltens. Verne hingegen vertrat ein dezidiert positivistisches Literaturkonzept, in dem Romane Fakten und Wissen zu vermitteln hatten. Der psychologische Roman, so prophezeite er 1902 in einem Interview, werde verschwinden und durch die Presse ersetzt. Allerdings hatten die Fakten dabei in einem moralischen Rahmen zu bleiben. Mochte Verne die Beschreibungen der stinkenden Käsesorten in Zolas Der Bauch von Paris oder der Prügelei der eifersüchtigen Frauen, die sich 197
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in Die Schnapsbude mit Wäscheklopfern den nackten Hintern versohlen, zugleich fasziniert und abgestoßen haben, so überschritten das verhurte Proletariat aus Germinal, das besoffen Kinder zeugt, und der bereits erwähnte Roman Die Erde für ihn klar die Grenzen der Darstellbarkeit. Gerade im Vergleich zu Zola wird deutlich, wie ausgesprochen intellektuell und »körperlos« die Helden der Außergewöhnlichen Reisen sind. Dies ist umso erstaunlicher, als der Abenteuerroman eigentlich per se mit körperlichen Prüfungen verbunden ist. Indem Verne jedoch seine Figuren in Fortbewegungsmittel versetzt, reduziert er ihre physischen Funktionen weitgehend auf ihre Wahrnehmung. Prägnant zum Ausdruck kommt dies in den Illustrationen zu Von der Erde zum Mond, als die drei Astronauten in Schwerelosigkeit geraten und ihres Körpers im wahrsten Sinne des Wortes enthoben werden. Noch tabuisierter ist das Innere des Körpers, das fast nie nach außen tritt. Selbst körperliches Leiden bleibt eine weitgehend mentale Angelegenheit. Als Aronnax auf der Nautilus zu ersticken droht, wirkt sich dies vor allem auf dessen Wahrnehmungsfähigkeit aus. Vernes Haupthelden bleiben von blutenden Wunden weitgehend verschont. Die physisch wohl grausamste Tortur der Außergewöhnlichen Reisen erleidet Michael Strogoff, als er von Tartaren geblendet wird. Aber auch hier betrifft der Schmerz wieder nur die Wahrnehmungsfähigkeit und bezieht sich auf den Sinn, der bei Verne die wichtigste Rolle spielt: das Sehen. Der Körper konzentriert sich bei Verne vor allem auf das Auge in seiner Funktion als Tor zur Welt. Blut wird nur dann thematisiert, wenn es zugleich geistige Bedeutungen mitreflektiert, wie im Falle des von Wilden gepeinigten und schwer verletzten französischen Missionars, den die Forscher in Fünf Wochen im Ballon retten. Seine noch blutenden Wunden symbolisieren vor allem sein Martyrium in der Nachfolge Christi. Zola hingegen macht selbst vor den Ausscheidungen des Körpers nicht halt. Deshalb seien seine Romane »Anuskripte«, kalauerte Verne auf einem Zettel im Nachlass (Bibliothek Amiens, JVMS22). In dieser Hinsicht bilden die Außergewöhnlichen Reisen, die sich eng 198
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Vernes Figuren scheinen ihres Körpers enthoben
an die bürgerlichen Moralvorstellungen halten, tatsächlich das Gegenstück zu Zolas Rougon-Macquart-Zyklus. Dass es körperliche Funktionen gab, die in Opposition zur bürgerlichen Moral standen, war allerdings nur ein Grund für Verne, sie zu tabuiserien, der andere lag darin, dass sich das Verhältnis zum Körper allgemein erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundsätzlich wandelte. Dies lässt sich besonders gut an der Ausbreitung des Sports beobachten. Bis dahin hatte man unter Sport vor allem eine elitäre Freizeitbeschäftigung verstanden, die nicht mit körperlichen Anstrengungen verbunden war und zu der auch Vernes Ausflüge mit der Saint-Michel zählten. Erst in den 1880er Jahren wechselte dies hin zu einer klar kompetetiven Auffassung des Sports, 199
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die in der Gründung zahlreicher Sportverbände zum Ausdruck kam. Wie anderes war auch dies nicht zuletzt der Niederlage im DeutschFranzösischen Krieg geschuldet. Weiterhin sollten Verne und Zola auch in ihrer Auffassung vom Patriotismus in Opposition geraten. Verne hatte mit Der Weg nach Frankreich 1887 einen Roman vorgelegt, den er selbst als patriotisch ansah und der von den französischen Siegen in den Koalitionskriegen erzählte. Zola hingegen legte 1892 mit Der Zusammenbruch eine scharfe Kritik an der schlechten Organisation des Militärs und an der Inkompetenz der Generäle im Deutsch-Französischen Krieg vor, was ihm bei seinen Gegnern den Ruf einbrachte, antipatriotisch zu sein. Verne sagte dies zwar nicht so direkt, aber er hielt Der Zusammenbruch für langweilig und für erfunden. In der DreyfusAffäre sollte Vernes nach 1870/71 gestiegener Patriotismus dann deutlich irrationale Konturen erhalten. Die Affäre begann am 15. Oktober 1894 mit der Verhaftung von Hauptmann Alfred Dreyfus wegen Landesverrats auf der Grundlage von höchst umstrittenen Beweisen. Die Diskussion um Schuld und Unschuld des Elsässer Juden führte die französische Gesellschaft in eine tiefe Krise und schlug bis in die Familien durch. Das scheint auch für Vater und Sohn Verne gegolten zu haben, denn Verne nannte sich selbst einen »Dreyfus-Gegner von Herzen«, Michel hingegen sei laut Jean Jules-Verne ein glühender Verteidiger Dreyfus’ gewesen. Was meint Verne aber damit, ein »Dreyfus-Gegner von Herzen« zu sein? Selten deutlich scheinen hier seine konservativen Überzeugungen, seine katholische Grundhaltung, sein Vertrauen in das Militär und sein nach 1871 gewachsener Patriotismus zum Ausdruck zu kommen. Die Dreyfus-Affäre verbindet sich dann noch mit seinem angespannten Verhältnis zu Zola, als dieser am 13. Januar 1898 in der Zeitung L’Aurore mit seinem offenen Brief Ich klage an … Dreyfus vehement verteidigt, einen Teil des Komplotts gegen ihn aufdeckt und die Affäre auf Inkompetenz, Antisemitismus, Gewissenlosigkeit und falsch verstandenen Corpsgeist der Verantwortlichen zurückführt. 200
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Damit war die Affäre in eine neue Phase getreten. Verne hielt jedoch an seiner Vorverurteilung fest und schrieb am 30. Oktober 1898 an Mario Turiello, dass die »D…-Affäre« für ihn schon lange entschieden sei, egal was die Zukunft bringe. Dass er nicht einmal den Namen Dreyfus ausschreibt, zeigt, wie sehr er das Thema tabuisiert hatte und es somit einer irrationalen Dynamik unterlag, die er sogar unumwunden zugab, wenn er gesteht, dass auch die Zukunft nichts daran ändern werde. Eine solche Verblendung überrascht bei einem ansonsten eher weltoffenen Autor. Sollte auch sein Verhältnis zu Zola ein Grund für diese irrationale Reaktion gewesen sein? Am 29. September 1902 starb Zola überraschend in seinem Haus an einer Kohlenmonoxidvergiftung, deren Umstände bis heute nicht völlig geklärt sind. Verne notierte das Todesdatum Zolas auf einem Zettel neben diejenigen enger Freunde wie Hetzel oder anderer bekannter Persönlichkeiten. Auch wenn man das Stück Papier, das sich im Nachlass gefunden hat, nicht überbewerten sollte, zeigt es doch, dass Zola für Verne bis ins hohe Alter hinein eine persönliche Bedeutung hatte. Das neue Jahrhundert hatte für Frankreich mit dem Paukenschlag der Pariser Weltausstellung begonnen, auf der unter anderem die Metro eröffnet wurde. Michel hatte im Organisationsbüro gearbeitet, sein Vater war jedoch nicht angereist. Verne dürfte wenig Lust auf sie gehabt haben, da er bereits die Weltausstellung von 1889 boykottiert hatte, und jetzt sträubte er sich auch aus gesundheitlichen Gründen dagegen. Er war deshalb schon 1897 nicht einmal zur Beerdigung seines Bruders Paul gefahren. Abgesehen von seiner Verletzung litt er an Rheuma und in beiden Augen an grauem Star. Er zögerte aber, sich operieren zu lassen, um das hohe Risiko in seinem Alter erst dann einzugehen, wenn er nicht mehr genug sah, um arbeiten zu können. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 48 Jahren im Frankreich jener Zeit war der 72-jährige Verne bereits ein sehr alter Mann. Verne arbeitete wie gewohnt unermüdlich an seinem Werk weiter, aber es machte sich jetzt doch eine Sehnsucht nach Familie in seinen Briefen bemerkbar. Immer häufiger wurden die Klagen darüber, 201
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dass Michel sich mitunter über einen Monat lang nicht meldete: »Wir verstehen nicht, dass du uns so lange ohne Neuigkeiten lässt. … Deine Mutter hat dir eine Kiste Wein geschickt – keine Reaktion. Wir haben doch nicht mehr viele Jahre, um uns zu schreiben. Wir erwarten per Post eine Nachricht von dir.« Auch mit den Enkelsöhnen wünschte sich Verne offenbar mehr Umgang, und er war traurig, wenn sie auf Reisen an Amiens vorbeikamen, ohne ihn zu benachrichtigen. Belastend war zudem, dass die Geschwister sich aus dem Weg gingen und Honorines Töchter das Elternhaus mieden, wenn Michel anwesend war. Das bringe Familien auseinander, klagte Verne am 7. Mai 1901, und »wir sind diejenigen, die am meisten darunter leiden.« Dabei waren die Sorgen um Michel immer noch nicht gelöst. Der Sohn blieb wie gewohnt rücksichtlos und ließ auch seinem jetzt alten Vater keine Ruhe, wenn er für seine Geschäftsideen Geld benötigte. Weiterhin war die Arbeit für Verne der Ort, an dem er sich am wohlsten fühlte, und er verfolgte das literarische Geschehen, so gut er konnte. Lassen sich die Außergewöhnlichen Reisen gegenüber den wissenschaftlichen und moralischen Konzepten Zolas klar ab grenzen, so trat ab Mitte der 1890er Jahre ein weiterer Autor auf die literarische Bühne, der sich die Wissenschaft zu eigen machte und immer wieder mit Verne verglichen wurde: der Engländer H. G. Wells, der als Begründer der modernen Science Fiction gilt. In dem Interview mit Sherard von 1903 fasste Verne den Unterschied zwischen sich und Wells lakonisch folgendermaßen zusammen: »Ich halte mich an Physik, er erfindet.« 1901 hatte Wells mit Die ersten Menschen auf dem Mond, seine Version einer Mondreise, publiziert, die Verne eine kurze Hommage erwies, als der Erzähler das eigene Unternehmen einmal beiläufig mit Von der Erde zum Mond vergleicht, dann aber ganz andere Wege geht. Denn Wells’ Mondfahrer fliegen nicht um den Trabanten herum, sondern landen auf ihm und erleben fantastische Abenteuer mit insektenähnlichen Mondwesen. Zwar verläuft die Fortbewegung im All wie bei Verne über die Anziehungskräfte der Himmelskörper, aber bei Wells wird keine überdimensionale Kanone gebaut, die ein Geschoss 202
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nach den Gesetzen der Physik zum Mond schießt, sondern ein Metall hergestellt, das die Gravitation ausschaltet und als Antriebskraft genutzt werden kann. Blieb Verne weitgehend im Rahmen des Möglichen und bemühte sich, die physikalischen Zusammenhänge plausibel zu gestalten, so machte Wells keinen Hehl daraus, dass es ihm um die Anregung der Fantasie ging und seine Geschichten wie Träume seien. Der Unterschied zwischen beiden ist in Vernes letztem abgeschlossenen Roman, Wilhelm Storitz’ Geheimnis, besonders prägnant, weil er sich einem Thema widmet, das auch Wells faszinierte: der Unsichtbarkeit. 1897 hatte Wells in Der Unsichtbare seine Titelfigur eine chemische Formel erfinden lassen, die Menschen unsichtbar machen konnte. Auch wenn er in diesem Falle durchaus versuchte, diese Erfindung einigermaßen plausibel zu machen, so standen dennoch die Fantasie anregenden Effekte im Vordergrund, die sich letztlich darum drehten, Unsichtbarkeit literarisch erfahrbar zu machen und dem Leser neue Lektüreerlebnisse zu ermöglichen, abgesehen davon, dass die sozialen Folgen der Unsichtbarkeit reflektiert werden. Verne war wahrscheinlich von einer Kritik zu Wells dazu inspiriert worden, selbst diese Thematik anzugehen. Allerdings stellte er einen ganz anderen literarischen Bezug her. Als er Hetzel jr. das Manuskript am 5. März 1905 übergab, kommentierte er, das sei »reinster Hoffmann, und Hoffmann hätte es nicht gewagt, so weit zu gehen.« Mit diesem Rückbezug auf die Romantik lässt sich einerseits erklären, dass sich Verne hier weniger als sonst um wissenschaftliche Erklärungen bemüht, vor allem aber ist der Roman auch weitaus allegorischer als die meisten anderen. Zwei Themen stehen dabei im Vordergrund, die Rolle des Kunstwerks und die Rolle der Frau. Nach den frühen Theaterstücken La Guimard und Monna Lisa, in denen Jacques-Louis David und Leonardo da Vinci als Hauptfiguren auftreten, nutzte Verne nun ein weiteres Mal die Malerei, um allgemein über das Verhältnis von Kunst und Natur nachzudenken. Denn in Wilhelm Storitz’ Geheimnis will der französische Maler Marc Vidal die schöne Ungarin Myra Roderich heiraten. Marcs größtes Talent 203
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liegt in Porträts, die auf paradoxe Weise den Modellen ähnlicher scheinen als die Modelle selbst. Auch Myra haftet etwas Paradoxes an, denn wie der Ich-Erzähler meint, sei sie »natürlicher als die Natur«. Umso beeindruckender muss daher das Porträt ausfallen, das Marc von Myra anfertigt. Dem Glück der Liebenden stünde nichts im Weg, wenn da nicht der Deutsche Wilhelm Storitz wäre, der Myra für sich haben oder aber die Verbindung vereiteln will. Storitz besitzt die chemische Formel, Menschen unsichtbar zu machen und nutzt sie als Waffe, um Myra verschwinden zu lassen. Allerdings verschwindet sie nur optisch, denn sie lebt weiterhin bei der Familie und verwandelt sich dort in den guten Geist des Hauses, von dem nur die Stimme hörbar ist. Ihr Äußeres ist jedoch in Marcs Porträt festgehalten, vor dem Myra mitunter sitzt und kommentiert: »Ihr seht doch … Das bin ich … ich bin da … ich bin wieder sichtbar … und ihr seht mich, wie ich mich sehe.« Einerseits siegt die Kunst damit über die Wirklichkeit, weil sie dauerhafter ist, andererseits siegt sie aber auch, weil sie ihr etwas Ideales hinzufügt. Zentraler Gegenstand der Kunst ist hier allerdings nicht irgendein Motiv, sondern das künstlerische Motiv schlechthin, zumindest aus männlicher Sicht: die Frauenschönheit. Wilhelm Storitz’ Geheimnis hätte auch Die unsichtbare Braut heißen können, erwähnte Verne in einem Brief an Hetzel. Der Roman lässt sich daher als ein in seinem Werk einmaliges Monument der Frauenschönheit verstehen, in dem zugleich ein bestimmtes Frauenbild zum Ausdruck kommt. Myra definiert die Frau als gute Seele des Hauses, immer anwesend, aber nie zu sehen; zugleich aber inspiriert ihre Schönheit die Männer zu kulturellen und künstlerischen Leistungen. Das im Roman symbolisch konzentrierte Frauenbild hat Verne am 29. Juli 1893 in seiner Rede zur Verleihung der Schulpreise im Mädchengymnasium von Amiens in selten deutliche Worte gefasst. Sei es für Frauen nicht schicklicher, fragte er das Publikum, Verse zu inspirieren als sie zu verfassen? Frauen hätten andere Privilegien als die der Kunst oder des Geistes: »Begnügen Sie sich damit, anmutig 204
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zu sein, wenn die Männer linkisch sind, schön zu sein, wenn sie hässlich sind, sanft zu sein, wenn sie grob sind, gut zu sein, wenn sie böse sind und Engel zu sein, wenn sie Teufel sind!« Das mag einen heute empören, aber darin steckte keine spezifische Misogynie Vernes, sondern das allgemeine Geschlechterbild jener Zeit, das Frauen auf Haushalt und Familie festlegte. Damit war der weibliche Aktionsradius ziemlich eingeschränkt, und dementsprechend wetterte Verne in derselben Rede auch gegen das Fahrradfahren: »Überlassen Sie die Pedale Männern, die in Eile sind. Schaden Sie der Anmut Ihres Gangs nicht durch ein Kettengetriebe und setzen Sie niemals quietschende Räder an Ihre Füßchen, die Ihnen genug sein müssen.« Ausgerechnet Jules Verne, der wie kein anderer Autor die Mobilität gefeiert hat, verdonnert die Hälfte der Menschheit dazu, auf Schusters Rappen zu wandeln! Anschließend stellte er implizit sogar den Zweck einer gymnasialen Bildung für Mädchen grundsätzlich in Frage und riet den Gymnasiastinnen von jeglicher wissenschaftlicher Laufbahn ab. Das ist starker Tobak für den Begründer des wissenschaftlichen Romans und zeigt deutlich, dass sich die Außergewöhnlichen Reisen primär an ein männliches Publikum richteten. Zwar unterstreicht Verne, dass Haus und Kinder keine Benachteiligung, sondern eine Pflicht und ein Vorrecht der Frau seien, die Romane sprechen hier symbolisch jedoch eine andere Sprache. Dass Frauen in seinen Hauptwerken höchstens eine Nebenrolle als zukünftige Ehefrau spielen, mag man noch damit erklären, dass die Gattung Abenteuerroman traditionell eher nicht für Leserinnen gemacht wurde. Auf metaphorischer Ebene jedoch wird die Inferiorirät der Frauen sehr anschaulich, wenn man an den Orang-Utan Jup zurückdenkt. Denn der Menschenaffe übernimmt brav die typisch weiblichen Arbeiten im Haushalt und putzt mit einer Schürze bekleidet die Töpfe blank. Zwar ist sein Name Jup eine Kurzform von Jupiter und verweist ironisch auf den höchsten Gott der römischen Mythologie, aber Jup ist auch ein Homophon von frz. jupe ›Rock‹ und verleiht dem Affen damit weibliche Züge. Vertritt Jup metaphorisch die Realität der Frau als Haushälterin, so steht Myra für das 205
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Jules und Honorine Verne, ein Ehepaar des 19. Jahrhunderts
weibliche Ideal von Schönheit und Anmut, das den Mann inspiriert, die wirkliche Frau jedoch unsichtbar macht. Wahrscheinlich saß auch Honorine im Publikum, um den Ratschlägen zu lauschen, die ihr Mann der weiblichen Jugend zu erteilen hatte, und man darf vermuten, dass sie keine Einwände dagegen erhob. Indirekt erfahren wir damit auch etwas über die Ehe der Vernes. War Honorine nicht ein ebenso unsichtbarer Engel des Hauses wie Myra? Auch von ihr ist ein Gemälde erhalten, das im Salon der Vernes rechts von demjenigen ihres Mannes hing. Beide haben eine konventionelle bürgerliche Ehe geführt, in der Mann und Frau klare Bereiche zugeteilt waren. Das schloss romantische Momente und Zweisamkeit nicht aus, von denen der italienische Schriftsteller Edmondo de Amicis berichtet, als er die schon alten Vernes 1895 in 206
Michel übernimmt
Amiens besuchte. Honorine erschien ihm als gütig und liebevoll ihrem Mann gegenüber. Zweimal in der Woche, schreibt er, gehen die beiden ins Theater oder in die Oper und gönnen sich danach ein gemeinsames Abendessen im Restaurant wie zwei junge Verliebte. Das mag die Wirklichkeit zwar etwas beschönigt haben, aber immerhin hat die Ehe der Vernes gut 48 Jahre gehalten. Offenbar hatten die Eheleute im Laufe der Zeit einen Modus vivendi gefunden, der beide zufrieden stellte. Verne reichte das Manuskript zu Wilhelm Storitz’ Geheimnis neunzehn Tage vor seinem Tod bei Hetzel jr. ein. Gesundheitlich kämpfte er schon viele Jahre mit Rheuma, grauem Star und Magenbeschwerden, die auf eine lange Zeit nicht erkannte Diabetes zurückgingen. Im Dezember 1904 hatte er einen schweren Diabetesanfall, von dem er sich noch erholte. Am 16. März 1905 erlitt er einen weiteren und starb acht Tage später daran im Kreis der Familie. Am 28. März wurde er auf dem Madeleine-Friedhof von Amiens unter hoher Anteilnahme – es sollen 5 000 Menschen gekommen sein – beigesetzt. Zur großen Enttäuschung der Familie kondolierte der französische Staat nicht, umso überraschender und genugtuender war es daher, dass ausgerechnet der deutsche Kaiser Wilhelm II. am Tag der Beerdigung einen Gesandten schickte, der dessen Beileid überbrachte und ihnen mitteilte, dass der Kaiser als Jugendlicher ein begeisterter Verne-Leser gewesen sei.
Michel übernimmt: Die posthumen Romane
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orausschauend wie er war, hatte Verne schon lange vorgesorgt und bereits am 15. Februar 1890 kurz vor der Hochzeit Michels mit Jeanne Reboul sein Testament aufgesetzt und es bis zu seinem Tod fünfzehn Jahre später nicht mehr geändert. Darin vererbte er die Hälfte seines Besitzes an seine Frau Honorine und vermachte ihren Töchtern jeweils 50 000 Francs (ca. 160 000 €). Weiterhin heißt es: 207
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
»Die vorangehenden Anordnungen bezüglich der Vererbung von fünfzigtausend Francs wurden von mir getroffen im Hinblick auf die Opfer, die ich für meinen Sohn Michel Verne erbracht habe, und diese Anordnungen sind ein Ausgleich für den Schaden, den die Einnahmen unserer Gemeinschaft durch diese Opfer erlitten haben. Ich wünsche, dass all meine Manuskripte, meine Bücher, meine Karten, meine Bibliothek, meine sämtlichen Papiere, darunter Notizen, Projekte usw. ausschließlich und unmittelbar meinem Sohn Michel Verne vermacht werden. Was das literarische Eigentum meiner Werke angeht, so soll es meinen Erben zu den gesetzlich vorgeschriebenen Anteilen gehören.« Bei aller Vorsicht, die man bei der Interpretation solcher Zeugnisse walten lassen muss, lässt sich aus diesem Testament sowohl der Charakter Vernes, als auch ein Programm herauslesen. Erstens ist er um Gerechtigkeit in ökonomischen Dingen bemüht, damit seine Stieftöchter nicht zu kurz kommen. Zugleich leistet er über seinen Tod hinaus Erziehungsarbeit, nicht als Strafe, sondern als Aufgabe: Denn dem literarisch begabten Michel wird so die Möglichkeit eröffnet, das Werk des Vaters fortzuführen oder gar abzuschließen. Tatsächlich machte sich Michel auch bald schon an die Arbeit, die Dokumente seines Vaters zu sichten. Darunter befanden sich eine Reihe von Manuskripten nicht veröffentlichter Romane. Am 1. April 1905 erwähnte er dem Journalisten Émile Berr vom Figaro gegenüber, dass sein Vater fünf oder sechs Romane hinterlassen habe, und fügte hinzu, dass er darüber jedoch noch nichts Genaueres wüsste. In einem Brief an Hetzel jr. vom 24. Mai dann erwähnte er sechs einbändige und zwei zweibändige Romanmanuskripte. Bei den einbändigen handelte es sich um En Magellanie, Wilhelm Storitz’ Geheimnis, Der Leuchtturm am Ende der Welt, Die Jagd auf den Meteor, Der Donaupilot und das fünfzigseitige Fragment Voyage d’études, die zweibändigen waren Reisebüro Thompson und Co., den Michel selbst geschrieben und seinem Vater 1896 übergeben hatte, sowie 208
Michel übernimmt
Michel Verne im Alter von etwa 45 Jahren
Der Goldvulkan. Hinzu kamen noch sechs Erzählungen, die 1910 in dem Sammelband Hier et Demain (Gestern und Heute) publiziert wurden. Als Erstes machte sich Michel jedoch daran, Vertragsverbesserungen für sich herauszuhandeln. Er beschwerte sich darüber, dass er an den frühen erfolgreichen Büchern überhaupt nicht beteiligt war und verlangte schlichtweg mehr Geld. Der folgende Briefwechsel mit Hetzel jr. zeichnet sich durch eine merkwürdige und etwas taktische Mischung aus Forderungen, Verstimmungen und Sympathiebekundungen aus. Man einigte sich in Verträgen vom 7. März und 6. April 1906 auf günstigere Bedingungen für Michel. Was die posthumen Romane anging, so erhielt Hetzel jr. daran die Exklusivrechte, während Michel sich verpflichtete, »die für jeden Band notwendigen Revisionen und Korrekturen vorzunehmen und dabei die Eigenart, die sein Vater diesen Werken verliehen hat, so gut wie möglich zu wahren.« 209
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Die Regelung an sich war zu erwarten gewesen. Nicht nur weil die Manuskripte noch kleine Lücken aufwiesen – Eigennamen, die noch eingetragen werden mussten, Zahlen, die Verne noch nachrecherchieren wollte usw. –, sondern auch, weil Verleger und Autor sich ja stets über die Texte ausgetauscht und Veränderungen vorgenommen hatten. Die Manuskripte wurden daher keineswegs als abgeschlossen, sondern vielmehr als Romane im Werden angesehen. Die entscheidende Frage war aber, wie stark Michel und Hetzel jr. in sie eingreifen würden. Laut Vertrag sollte zwar die Wiedererkennbarkeit von Vernes Texten gewährleistet sein, aber das war letztlich eine dehnbare Formulierung. Von dieser Frage weitgehend ausgenommen ist Der Leuchtturm am Ende der Welt, den Verne am 25. Februar 1905 an Hetzel jr. verschickt hatte und der bereits im August desselben Jahres im Magasin vorpubliziert wurde. Daher halten sich die Änderungen hier in Grenzen und sind vor allem stilistischer Natur. Das Manuskript En Magellanie hingegen, in dem Vernes politische und ökonomische Überzeugungen klar zum Ausdruck kamen, wurde 1909 unter dem Titel Die Schiffbrüchigen von der Jonathan in einer stark geänderten Version publiziert. Michel hat den Text um ganze zwanzig Kapitel erweitert und fünf deutlich überarbeitet. An die dreißig Figuren wurden hinzugefügt und die Handlung dementsprechend erweitert. Die Hauptfigur Kaw-djer wurde uminterpretiert, weil sie keine finale Läuterung mehr durchläuft, sondern bis zum Schluss Anarchist bleibt. Ob die Änderungen nun im einzelnen auf Hetzel oder auf Michel zurückgehen, lässt sich nicht immer genau sagen. Die Briefe sind lückenhaft, weil beide sich auch mündlich absprachen. Als Michel im November 1913 dann einen Telefonanschluss bekommt, könnte auch einiges über den Fernsprecher geklärt worden sein. Besonders tief greifend waren die Änderungen auch im Falle von Wilhelm Storitz’ Geheimnis. Während Michel hierin eigentlich keinen Bedarf sah, verlangte Hetzel jr. eine zeitliche Verschiebung der Handlung ins 18. Jahrhundert. Zähneknirschend machte Michel sich an diese mühevolle Arbeit, bei der ihm zahlreiche Anachronis210
Michel übernimmt
men unterliefen. Maßgeblich verändert wurde dabei auch der Schluss, weil die unsichtbare Myra wieder sichtbar wird. So viele Eingriffe konnten auf Dauer nicht unbemerkt bleiben. Schon bei Die Schiffbrüchigen der Jonathan, der in der Zeitung Le Journal vorpubliziert wurde, äußerten Leser Zweifel an der Echtheit des Romans, woraufhin die Zeitung einen Teil des Honorars einbehielt. Michel nahm ausführlich Stellung zum Vorwurf der Fälschung und behauptete, sein Vater habe ihm den Text 1891/92 diktiert. Das war zwar gelogen, aber Michel kam damit durch und konnte ein Gerichtsverfahren abwenden. Aber bald schon brachte eine Änderung aus Der Donaupilot Michel und Hetzel in Bedrängnis. Während eines Aufenthalts in Belgrad hatte Michel einen Ungarn namens Jackel Semo kennengelernt, ein paar Stunden mit ihm in freundschaftlichem Gespräch verbracht und anschließend Visitenkarten ausgetauscht. Beim Überarbeiten des Romans benötigte er authentische ungarische Namen für seine neuen Figuren, und da fiel ihm nichts Besseres ein, als einen der Banditen auf den Namen Jackel Semo zu taufen. Keine kluge Idee, wie sich bald herausstellte, denn der echte Jackel Semo war empört und wandte sich im Dezember 1909 über seinen Anwalt an Hetzel jr. Neben der Beschwerde über die Verunglimpfung seines Mandanten fügte der Anwalt noch eine Bemerkung hinzu, bei der es Hetzel jr. kalt über den Rücken gelaufen sein dürfte. Denn der Anwalt folgerte, dass »das Buch daher das Werk des Sohns zu sein scheint, der Herrn Jackel Semo persönlich kennengelernt hat, und nicht von Jules Verne selbst.« Seinem Anwalt gegenüber behauptete Hetzel jr., der Roman sei bereits 1880 geschrieben worden, obwohl Jules Verne die Entstehung in seinen Unterlagen auf das Jahr 1901 datiert hat. Verne und Hetzel reagierten und tilgten den Namen des Klägers aus dem Roman. Im Januar 1915 folgte das Gericht dem Plädoyer des brillanten Raymond Poincaré, Vernes Anwalt und späterer Staatspräsident, wies weitere Forderungen Semos ab und ließ ihn die Verfahrenskosten tragen. Ein weiteres Mal ging die Sache glimpflich aus, denn in dem Prozess trat die Frage, ob der Roman authentisch sei, hinter der möglichen Verunglimpfung zurück. 211
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Einen besonderen Fall stellt auch der letzte Roman der Außergewöhnlichen Reisen dar. Als Grundlage lag Michel dafür lediglich das fünfzigseitige Fragment mit dem Arbeitstitel Voyage d’études (Stu dienreise) vor, das er zu dem umfangreichen Roman Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac ausarbeitete. Mit der Redaktion hatte er schon 1910 begonnen, sie wurde dann jedoch von dem Tod seines Sohnes Georges 1911 und eigenen gesundheitlichen Problemen unterbrochen, so dass er sie erst 1913 in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller André Maurel wieder aufnehmen konnte. Hier lässt sich kaum noch von einer Autorschaft Vernes sprechen, so dass Michel im letzten Titel der Reihe endgültig an die Stelle des Vaters trat, als der Text 1914 in der Zeitung Le Matin und nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1919 als Buch erschien. Historiker lassen das 19. Jahrhundert in der Regel mit dem Ersten Weltkrieg enden. Von daher ist es symbolisch signifikant, dass 1914 auch die Ära des Verlagshauses Hetzel auslief. Am 28. Juni des Jahres kündigte Hetzel jr. Michel überraschend an, dass er aus gesundheitlichen Gründen alles an den Verlagsriesen Hachette verkaufte. Die Verne-Bestände machten dabei 50 % aus. Obwohl Hetzel jr. für seinen Verlag nur etwa ein Drittel von dessen Wert erhielt, kam der Verkauf noch im rechten Moment, weil der Erste Weltkrieg sein Unternehmen mit Sicherheit ruiniert hätte. Auch für die Zukunft der Außergewöhnlichen Reisen stellte die Übernahme einen Glücksfall dar, denn Hachette lieferte eine feste materielle Basis für die Präsenz des Werks im 20. Jahrhundert, das immer wieder nachgedruckt wurde. Louis-Jules Hetzel starb als Privatier im Jahre 1930. Er schloss die Geschichte eines Verlags ab, der im Unterschied zu den Häusern der Brüder Lévy, der Brüder Garnier oder zu Hachette die persönlichen Überzeugungen und den eigenen Geschmack vor die ökonomischen Interessen gestellt, sich aber kaum industriell entwickelt hatte. Während die anderen Verlage eher dem Typus eines Großunternehmens entsprachen, so stand der Verlag Hetzel für individuellen Aufstieg und Erfolg, der zwar kein Imperium errichtete, dafür aber hohes symbolisches Kapital anhäufte und für die 212
Michel übernimmt
Louis-Jules Hetzel
Hauptbeteiligten zugleich auch einen gewissen finanziellen Wohlstand generierte. Vor dem Hintergrund der teilweise umfassenden Änderungen der posthumen Romane drängt sich die Frage auf, warum Michel sich diese Mühe überhaupt gemacht hat. Gewiss, er war hauptberuflich zum Verwalter des Nachlasses seines Vaters geworden und lebte davon, das Interesse an dem Werk so lange wie möglich wach zu halten. Aber dafür wären solch tief greifende Änderungen wie in Die Schiffbrüchigen der Jonathan nicht nötig gewesen. Dieser Überschuss an Engagement deutet darauf hin, dass es hier nicht allein um Kommerzielles ging, sondern dass auch ein persönlicher Antrieb dazu bestand. Michel hat sich einige der posthumen Werke im wahrsten Sinne des Wortes angeeignet, indem er unter anderem, mit der Streichung religiöser Aussagen, die Texte seinen Überzeugungen anpasste und den letzten Roman weitgehend selbst schrieb. In der Dynamik der Beziehungen zwischen Kindern und berühmten Eltern markiert der Tod des prominenten Elternteils nicht 213
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
selten einen Wendepunkt. Viele betroffene Kinder äußerten, dass der Tod des berühmten Vaters oder der berühmten Mutter bei aller Trauer auch eine Befreiung gewesen sei. Für Michel hingegen scheint der Wendepunkt vor allem darin gelegen zu haben, dass er durch das Erbe weniger finanzielle Sorgen hatte. Seine Persönlichkeitsprobleme wurden dadurch jedoch nicht gelöst. Allein war er weder in der Lage, seine Situation zu verstehen, noch zu bewältigen. An wen hätte er sich auch wenden können? Die Psychotherapie, der sich im 20. Jahrhundert viele Kinder berühmter Eltern erfolgreich unterzogen, gab es noch nicht, und den geistlichen Beistand, der im 19. Jahrhundert eine vergleichbare Rolle spielte, lehnte Michel kategorisch ab. Zu seiner Herkunftsfamilie hatte er quasi keinen Kontakt mehr, enge Freundschaften sind nicht überliefert. Daher ist es wenig überraschend, dass seine Identitätsprobleme bestehen blieben. Die Art und Weise, wie er das Werk des Vaters verwaltet hat, ist geprägt von gleichzeitiger Identifizierung und Distanzierung. Indem Michel allein unter dem Namen des Vaters schrieb und seine Änderungen nicht kenntlich machte, übernahm er im wörtlichen Sinne dessen Identität und Rolle. Zugleich aber konnte er sich innerhalb dieses Schattens von ihm distanzieren und eine eigene Identität behaupten, indem er die Texte seinem Geschmack und seinen Überzeugungen anpasste. Beim Verfassen dürfte dies eine seltene Mischung aus Gefühlen von Macht und Ohnmacht gewesen sein. Einerseits war er als einziger Erbe des Nachlasses vom Vater quasi zu dessen Verwaltung beauftragt worden und hatte außerdem schon zu Lebzeiten schriftstellerisch mit ihm zusammengearbeitet. Insofern konnte er sich frei und ermächtigt darin fühlen, wie er mit den Texten verfuhr. Andererseits muss er trotz seines Talents dabei immer wieder an seine Grenzen gestoßen sein, denn offenbar mangelte es ihm an dem Ideenreichtum und der Beständigkeit seines Vaters. War Verne ein Frühaufsteher gewesen, der die Stille des Morgens zum Schreiben nutzte wie Balzac die Stille der Nacht, so merkte Michel im Januar 1909 in einem Brief an Hetzel jr. einmal an, dass es ihn umbringen würde, wenn er um acht Uhr morgens aufstehen 214
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müsste. Michels Talent erlaubte es ihm, unter dem Tutorat des Vaters Eigenes zu schreiben und Vorlagen zu bearbeiten und gewiss auch zu verbessern, aber offenbar nicht, selbstständig und dauerhaft Schriftsteller zu sein. Die Öffentlichkeit erfuhr lange Zeit nichts über die gemischte Natur der posthumen Romane. Die Originalmanuskripte waren unzugänglich, denn sie befanden sich in den Händen der Söhne Michels. Aber die Sorgfalt des Verlags Hetzel sollte die Wahrheit doch noch ans Licht bringen, bevor Michels jüngster Sohn Jean im Jahre 1980 verstarb. Denn Michel hatte Mühe mit der Handschrift seines Vaters gehabt und Hetzel jr. gebeten, Maschinenabschriften anfertigen zu lassen. Und als guter Verleger und Geschäftsmann, der auf alle Eventualitäten gefasst sein will, hatte Hetzel Durchschläge davon einbehalten, die im Nachlass landeten. Dort entdeckte sie 1977 der Verne-Sammler Piero Gondolo della Riva und konnte als erster aufzeigen, wie umfassend Michel einige Texte seines Vaters umgearbeitet hatte. Nach dem Tod Jeans im Jahre 1980 machte sich die Société Jules Verne daran, die Manuskripte zu publizieren, die ab 1985 in mehreren Ausgaben eine weite Verbreitung fanden. Man kann sich vorstellen, was diese Funde für die Verne-Forschung bedeuteten. Denn die Romane waren fertig lesbar, auch wenn sie aufgrund der wenigen Lücken für Zahlen oder lokalspezifische Namen, die Verne offen gelassen hatte, noch nicht den definitiven Text darstellen. Seitdem liegen zwei Fassungen vor, über die man sich trefflich streiten kann. Orthodoxe Vernianer triumphierten, nun endlich einen authentischen Text in Händen zu halten, wollten Michels Versionen aus den Lektürelisten verbannen und bezichtigten ihn selbst der Fälschung. Postmodern geschulte Literaturwissenschaftler hingegen hielten Fragen der Autorschaft für nebensächlich oder bevorzugten sogar die angeblich gelungenere Version Michels, während andere einen Mittelweg vorschlugen und den Reiz gerade darin sahen, beide Versionen miteinander zu vergleichen, um so die deutlichen ideologischen Unterschiede zwischen Vater und Sohn herausarbeiten zu können. Hier muss letztlich jeder selbst entscheiden, ob 215
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er das Wirken Michels kriminalisieren möchte oder für nachvollziehbar hält. Die Überarbeitung der posthumen Romane war nicht der einzige Bereich, in dem Michel die Stoffe seines Vaters weiter verwertete. Bereits kurz nach 1900 hatte der Filmpionier George Méliès gezeigt, wie kreativ sich die Außergewöhnlichen Reisen für das neue Medium adaptieren ließen. 1908 erwähnte Michel in einem Brief an Hetzel jr. erstmals, in die wachsende Filmbranche einsteigen zu wollen. Bald darauf verkaufte Michel das Exklusivrecht an den Verfilmungen an die Société Éclair, die einen weltweiten Markt anstrebte. Gemeinsam mit Éclair produzierte er 1913 Die Kinder des Kapitän Grant, der 1914 gute Ergebnisse einspielte. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges machte jene Zeit allerdings zu einem denkbar ungünstigen Moment, um dieses zweite Standbein aufzubauen. Die Société Éclair war anfangs stark betroffen, weil ein Großteil der Mitarbeiter eingezogen worden war. Erst ab 1917 sollte sie wieder regelmäßig produzieren. Hinzu kam außerdem, dass es juristisch unmöglich war, die Exklusivrechte weltweit durchzusetzen, so dass die französischen Produktionen mit denen anderer Länder konkurrierten. 1916 zum Beispiel triumphierte die spektakuläre US-Verfilmung Twenty Thousand Leagues Under the Sea von Stuart Paton in den Kinos, die erstmals Unterwasseraufnahmen zeigte. Angesichts solch starker Konkurrenz war es wenig ratsam, unmittelbar eine weitere Verfilmung dieses Stoffes in Angriff zu nehmen. Es bestätigt einmal mehr Michels sprunghaften Charakter und seine vielfältigen Begabungen, dass er neben der Produktion nun auch noch die Drehbücher schrieb und selbst Regie führte. Der erste Film, der so entstand, war La Destinée de Jean Morénas aus dem Jahre 1916, es folgten 1917 Schwarz-Indien, anschließend Der Südstern und 1919 dann der letzte Film Die 500 Millionen der Begum. Aus heutiger Sicht überrascht vor allem die Auswahl der Titel, denn es handelt sich erstens um weniger bekannte und weniger erfolgreiche Romane Vernes und zweitens um vier Texte, von denen drei in Ko-Autorschaft geschrieben wurden. In unternehme216
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rischer Hinsicht werden Michels Entscheidungen etwas nachvollziehbarer, wenn man bedenkt, dass für eine aufwendige Adaption der großen Stoffe schlichtweg die Mittel fehlten. Weiterhin sah Michel einen Zusammenhang zwischen Verfilmungen und Buchverkauf und wollte so eventuell auch die Nachfrage nach diesen Titeln anfeuern. Dies erwies sich jedoch als Trugschluss. In der Filmgeschichte wurden diese Romane kaum mehr verfilmt, und La Destinée de Jean Morénas sollte bis heute nie wieder auf die Leinwand gebracht werden. Als Regisseur erwies sich Michel trotz mangelnder Erfahrung als durchaus geschickt, da er im Unterschied zu den sehr bühnenhaften Inszenierungen der ersten Adaptionen bereits einen filmischen Umgang mit dem Bild beherrschte, der sich in Blickwinkeln und wechselnden Einstellungsgrößen äußerte. Seine filmhistorische Bedeutung dürfte gering sein, lässt sich jedoch nicht wirklich beurteilen, da nur La Destinée de Jean Morénas erhalten geblieben ist, der 1998 von der Société Jules Verne als VHS wieder zugänglich gemacht wurde. Das cineastische Engagement Michels bezeugt vor allem die allgemeine Bedeutung des Films für das Weiterleben Vernes im 20. Jahrhundert. Trotz der neuen Aufgaben und größeren finanziellen Absicherung scheint Michel jedoch nicht wirklich glücklich geworden zu sein, zumal ihn bald schon äußere Ereignisse verbitterten. 1911 starb frühzeitig sein zweiter Sohn Georges (vermutlich an Tuberkulose), ab 1914 tobte der Erste Weltkrieg und legte das kulturelle Leben weitgehend lahm. Am 6. Januar 1917 schrieb er deprimiert an LouisJules Hetzel: »Was seit drei Jahren geschieht, ist nicht gerade dazu gemacht, mich mit dem Leben zu versöhnen. Die Welt mag gut gemacht sein, weil man uns versichert, dass sie das Werk eines Gottes sei. Schon möglich, aber dann ist diesem Gott zumindest der arme Tropf misslungen, der ich bin, denn ich habe mich in das Universum, so wie er es entworfen hat, nicht eingefügt. Ich kann weder mehr akzeptieren, dass er aus der Vernichtung die notwendige Bedingung des Lebens gemacht hat, noch dass Dummheit, Gefühllosigkeit und Grausamkeit so weit verbreitet sind. Ich mag das Stück nicht mehr, 217
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das vor meinen Augen aufgeführt wird, und werde das Theater mit Vergnügen verlassen.« Michels Ehe mit Jeanne war gescheitert und wurde nur noch aus finanziellen Gründen aufrechterhalten. An seinem Lebensende fällt Michel in eine von Todessehnsucht geprägte Depression, die in seinem letzten Brief an seinen Cousin Raymond Ducrest de Villeneuve, dem letzten Kontakt zur Familie in Nantes, vom 13. Januar 1924 zum Ausdruck kommt: »Ich wünsche dir und den Deinen ein langes Leben, Gesundheit und Glück. Wünsch mir selbst genau das Gegenteil, dann wirst du meine Wünsche erfüllen.« Tatsächlich ließ das Ende nicht mehr lange auf sich warten. Ab September 1924 litt Michel an Beschwerden, als deren Ursache man Kehlkopf- und Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium erkannte. Um Michel nicht mit dem Gedanken an den unvermeidlichen Tod zu konfrontieren, erzählte ihm die Familie, er leide an Muskel- und Magentuberkulose. Bald konnte Michel immer schlechter Nahrung aufnehmen und magerte völlig ab. Am 4. März 1925 verstarb er. Bis zum Schluss hielt er an seinen Überzeugungen fest, so wie der von ihm umgeschriebene Atheist Kaw-djer aus Die Schiffbrüchigen der Jonathan: Kein Priester durfte ihn begleiten, er lehnte jede Form der Beerdigungsfeier ab und wurde auf seinen Wunsch eingeäschert. Seiner Frau Jeanne und seinem Sohn Jean überließ Michel die Rechte an den Werken des Vaters, sein Sohn Michel hingegen erhielt eine Geldsumme. 1928 einigten sich die drei Erben jedoch darauf, die Rechte zu dritteln, nachdem Michel jr. über zwei Drittel der geerbten Summe an Mutter und Bruder ausgezahlt hatte. Jeanne starb 1959. Der Nachlass Michels ging zunächst an Michel jr., der ihn mit seinem Tod 1960 dem jüngeren Bruder Jean vererbte. Jean Verne machte eine glänzende Karriere als Jurist, die er als Vorsitzender des Landgerichts in Toulon beendete. Nachdem er 1962 in Pension gegangen war, setzte er sich mit der Familiengeschichte auseinander und legte 1973 eine Biografie seines Großvaters vor, für die er bezeichnenderweise den Autorennamen Jean Jules-Verne annahm. Damit folgte er nicht nur dem Vorbild seines Vaters, der sich MichelJules genannt hatte, sondern setzte auch eine von dessen Ideen um. 218
Der geteilte Verne
Denn wie aus einem Brief vom 8. März 1893 von Jules an Michel hervorgeht, hatte dieser offenbar daran gedacht, eine biografische Studie über seinen Vater zu verfassen. Auch der einzige heute noch lebende Sohn Jeans wurde auf den Namen Jean Jules (*1962) getauft. Er ist Musiker und arbeitet derzeit für das Kulturministerium im Bereich der Musikförderung. 1998 hat er drei Multimedia CD-ROMS ko-produziert, die in die Welt der Außergewöhnlichen Reisen einführen. Der Strahlkraft Jules Vernes scheint die Familie auch in dritter Generation noch nicht ganz entwachsen zu sein.
Der geteilte Verne: Vom Freiwild zum Heiligen
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enn man sich heute noch mit Verne auseinandersetzt, dann liegt dies daran, dass sein Werk über das ganze 20. Jahrhundert hinweg am Leben erhalten wurde, während unzählige andere populäre Autoren seiner Zeit vergessen sind. Seine erstaunliche Vitalität verdankt sich zwei Strömungen, von denen sich eine als heterodox und die andere als orthodox verstehen lässt. Heterodox sind all jene Autoren, Filmemacher, Comiczeichner und Vermittler, die das Werk Vernes kreativ fortschreiben und es als Inspirationsquelle verwenden. Das Motto der Heterodoxie heißt »Was Verne nie erzählt hatte …«, und ihre grundsätzliche Haltung ist die der Respektlosigkeit. Originaltreue zählt für sie nicht, weil sie die Buchlektüre sowieso nicht ernst nimmt und Leser als quantité négligeable einschätzt. In diesem Sinne kommentierte Richard Fleischer, der Regisseur der Disney-Verfilmung von 20 000 Meilen unter den Meeren, lakonisch: »Wir haben damit gerechnet, dass niemand das Buch jemals aufmerksam gelesen hat.« Für die Heterodoxen sind Vernes Texte ein Rohstoff, aus dem Neues und Aktuelles geschaffen werden kann. Ihnen erscheint das umfangreiche Werk wie ein bunter Basar, aus dem man sich herauspickt, was einem gerade in die Augen sticht, um damit die Gegenwart zu gestalten. 219
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Orthodox hingegen sind all jene, die sich an seine Texte halten und kein Jota davon verändern möchten oder sich sogar auf die Suche nach dem »wahren Verne« machen, der für sie unter dem Schutt all jener Korrekturen, Ver- und Bearbeitungen von Verlegern, Herausgebern, Überarbeitern, Übersetzern und Verfilmern begraben liegt. So scharte der US-amerikanische Übersetzter Walter James Miller in den 1990er Jahren eine Gruppe um sich, die er »the Jules Verne rescue team« nannte, um mit ihnen die ersten originalgetreuen und kommentierten Übersetzungen vorzulegen. Orthodox sind sowohl die breite biografische Forschung als auch die Interpretationen, die Verborgenes ans Licht bringen sollen, um das Werk besser verständlich zu machen. Im Unterschied zu den Heterodoxen haben sich die Orthodoxen institutionell organisiert, zuerst durch die Gründung der Société Jules Verne im Jahre 1935 und später in zahlreichen weiteren Vereinen, dem Jules Verne-Club in Deutschland, der Sociedad Hispánica Julio Verne in Spanien und andere in den USA, Polen und Japan. Das Motto der Orthodoxen lautet »Zurück zu den Quellen«, sie leisten die philologische Grundlagenarbeit, spüren vergessene Texte auf, erstellen Werkbibliografien, geben Vernes Korrespondenzen heraus und bemühen sich um exakte Übersetzungen. Heterodoxie und Orthodoxie der Verne-Gemeinde sind dabei in erster Linie als Perspektiven auf Vernes Werk zu verstehen und höchstens in zweiter Hinsicht an konkrete Personen gebunden. Denn obwohl es einige überzeugte lebenslange Orthodoxe gibt, wechseln viele andere zwischen beiden Konfessionen hin und her. Historisch gesehen dominieren die Heterodoxen bis in die 1970er Jahre hinein, dann übernehmen nach und nach die Orthodoxen, die eine immer professionellere Forschungsarbeit leisten, neue Quellen erschließen und ständig verbesserte Textausgaben vorlegen. Somit tritt uns heute ein geteilter Verne entgegen: einerseits ein populärer, der als Metapher für Abenteuer und Technikvisionen steht und dessen Werk fruchtbar weiter verarbeitet wird, andererseits ein Verne des 19. Jahrhunderts, dessen Werk als ein Produkt seiner Zeit angesehen werden muss. Selten prallten die heterodoxe 220
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und die orthodoxe Perspektive so hart aufeinander wie im Jahre 2012, als zugleich eine völlig freie 3D-Adaption von Die geheimnisvolle Insel in die Kinos kam und der Roman selbst in der PléiadeAusgabe erschien, die in Frankreich einer Nationalausgabe gleichkommt und einen quasi unverrückbaren Text in die Welt setzte – der Gipfel der Orthodoxie. Auch wenn sich bei den Orthodoxen immer wieder abfällige Kommentare über misslungene – weil zu heterodoxe – Verfilmungen Vernes finden, so brauchen sich im Grunde beide Glaubensrichtungen gegenseitig. Auffällig und bedeutsam ist hierbei, dass beide einen internationalen Charakter haben und somit ein ständiger Austausch über Länder und Kontinente hinweg die Diskurse immer wieder neu antreibt. Daher ist es auch nötig, beide Richtungen im Blick zu haben, um zu verstehen, warum Verne trotz der technischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die seine Visionen obsolet gemacht haben, noch lebendig ist. Die heterodoxe Weiterverarbeitung beginnt noch im 19. Jahrhundert in Person von epigonalen Autoren, die im Stile Vernes wissenschaftliche Abenteuerromane verfassen. In Frankreich selbst gehörte der heute vergessene Louis Boussenard, der »Jules Verne aus dem Loiret«, zu dessen damals bekanntesten Nachahmern. Ihm gelang 1879 der Durchbruch mit Le Tour du monde d’un gamin de Paris (Reise um die Welt eines Jungen aus Paris), der sich schon im Titel an Verne anlehnte. Aber auch die Handlung macht keinen Hehl aus diesem Bezug: Denn die Hauptfigur, der kleine Friquet, lässt sich von der Theaterversion von Vernes In 80 Tagen um die Welt so inspirieren, dass er selbst auf die Reise geht und aufgrund des Erfolgs von seinem Autor anschließend noch in weitere Länder geschickt wird. In Italien hinterlässt Emilio Salgari, der »Giulio Verne italiano«, ein ähnlich umfangreiches Werk, in dem sich eine Reihe von wissenschaftlichen Romanen befinden, die ebenfalls im Titel ohne jede Scham auf Verne verweisen, wie etwa in Duemila leghe sotto l’America (Zweitausend Meilen unter Amerika) von 1888, einer unterirdischen Reise auf der Suche nach einem Inka-Schatz. Daneben finden 221
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sich auch kuriose Stoffe wie Salgaris Polarexpedition Al Polo Australe in velocipede (1895; Mit dem Fahrrad zum Südpol), in dem ein Amerikaner und ein Engländer ein Wettrennen zum Südpol veranstalten, wohin der eine mit dem Schiff und der andere mit dem Fahrrad vordringen will. Wie bei Verne ist der Wettkampf zugleich wissenschaftlicher Fortschritt, denn, so urteilt eine der Figuren, es würden doch »viele Probleme, die die Wissenschaftler umtreiben« gelöst, »wenn man den Pol erreichte!« Vernes Geist entspricht auch das eigens dafür konstruierte Fahrrad für drei Personen mit acht Rädern in Doppelreihe und Hilfsmotor, das bis zu dreißig Meilen pro Stunde leisten kann – ein wahres Meisterwerk der Ingenieurskunst. Der Tod Vernes und das Aufkommen der Science Fiction leiten das Ende dieser Phase ein. Als ein spätes Beispiel des wissenschaftlichen Abenteuerromans in der Nachfolge Vernes kann der Spanier Jesús de Aragón, der »Julio Verne español«, angesehen werden. Sein etwa ein Dutzend Titel umfassendes Gesamtwerk setzt gleich mit zwei Romanen ein, 40 000 Kilometer an Bord des Flugschiffs Phantom (1921) und Reise zum Meeresgrund (1922), die schon im Titel Verne versprechen und sich als wahre Fundgrube aus Versatzstücken der Außergewöhnlichen Reisen herausstellen. Von Reisewette über Weltreise, Süd- und Nordpolbegehung, Figurentypen, Telegrammen von Unbekannten, schützenden Tabus, grünem Strahl, Flugapparaten und deren finaler Demontage werden allein im erstgenannten Roman zahlreiche Motive Vernes komprimiert und lassen den Leser spüren, dass die Gattung in den 1920er Jahren schon etwas nostalgisch geworden war. Das wusste auch Aragón selbst, bei dem das Abenteuer mehr und mehr dem Tourismus weichen muss, wie seine Hauptfigur unverblümt eingesteht: »Ich weiß nicht, wie es in unserem Jahrhundert und in Anbetracht der großen Fortschritte, die wir der modernen Mechanik verdanken, noch Leute geben kann, die sich auf solche Unternehmungen etwas einbilden. Wenn es noch unerforschte Orte auf dem Planeten gibt, mein Herr, so ist dies ganz und gar auf die Nachlässigkeit und den fehlenden Enthusiasmus der Geografen zurückzuführen. Heutzutage lässt sich jede Reise durchführen.« 222
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Das einflussreichste Medium der Heterodoxen war und ist bis heute der Film, der als Leitmedium des 20. Jahrhunderts angesehen werden darf, weil er andere Medien wie die populäre Literatur stark beeinflusst. Erfolgreiche Verne-Verfilmungen haben immer wieder auch die Neuausgabe seiner Werke beflügelt, niemals jedoch umgekehrt. Spätestens ab den 1960er Jahren wird Verne den meisten nicht über seine Bücher, sondern über die Verfilmungen bekannt. Die Filmografie Vernes geht mittlerweile weit über die Anzahl seiner Romane hinaus und dürfte an die 300 Titel erreicht haben. Auch wenn insgesamt immerhin die Hälfte seiner Romane verfilmt wurde, fokussierte sich das audiovisuelle Medium letztlich auf eine begrenzte Auswahl. Dazu gehören Reise zum Mittelpunkt der Erde, die Mondromane, 20 000 Meilen unter den Meeren, Die geheimnisvolle Insel, In achtzig Tagen um die Welt und Der Kurier des Zaren, wobei auch dies historischen Schwankungen unterliegt. Waren die Mondromane in der Frühzeit des Films attraktiv, so veralten sie wissenschaftlich und technisch aufgrund der wirklichen Mondlandeprogramme im Laufe des 20. Jahrhunderts und werden danach nicht wieder aufgenommen. Die Popularität Vernes im audiovisuellen Medium deutet auf eine hohe Adaptierbarkeit hin. Bei allem Respekt vor Vernes stilistischer Eleganz, bleiben dem Leser doch vornehmlich seine »herrlichen Einfälle«, so Arno Schmidt, in Erinnerung. Verne ist ein Schöpfer von Erzählstoffen bzw. modernen Mythen. Und Mythen sind beweglich, weil sie immer wieder und daher immer auch ein wenig anders erzählt werden. Die Leiden eines Chinesen in China beispielsweise erzählen von dem lebensüberdrüssigen Kin-Fo, der seinen eigenen Tod in Auftrag gibt, dann aber auf die Liebe seines Lebens trifft und dummerweise den Auftragsmörder nicht mehr auffindet … Mit China hat das Ganze rein gar nichts zu tun, der Stoff lässt sich beliebig verschieben und eignet sich sowohl für Films noirs und Thriller wie Aki Kaurismäkis I hired a contract killer (1990) als auch für Klamaukkomödien wie Die tollen Abenteuer des Monsieur L (1965) von Philippe de Broca.
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Eine weitere Voraussetzung für Vernes audiovisuellen Erfolg dürfte seine Internationalität gewesen sein. Damit ist nicht allein gemeint, dass er der am meisten übersetzte französische Autor ist, sondern auch dass seine Stoffe selbst international sind, weil sie Hauptfiguren aus verschiedenen Nationen in verschiedenen Ländern in Szene setzen. Es wundert also nicht, wenn es US-amerikanische, englische, französische, deutsche, italienische, russische, japanische und tschechische Verne-Filme gibt – womit nicht einmal alle Länder genannt wurden. Nun sind allerdings nicht alle Filmnationen gleich mächtig, und Verne zeichnet sich durch eine besondere US-Affinität aus. Seine literarischen Ursprünge lagen in Cooper und Poe, er kannte die Staaten aus eigener Anschauung von seiner Reise im Jahre 1867 und hat sie immer wieder zum Schauplatz von Romanen und zur Herkunft von Figuren gemacht. Es ist eine symptomatische Vorhersehung Vernes, dass er seinen Mondflug von Florida aus starten lässt, unweit von dem Ort, von dem gut hundert Jahre später tatsächlich der erste Mondflug ausgehen sollte. Hatte Alexis de Tocqueville die US-amerikanische Vorherrschaft der Zukunft 1835 in seiner innovativen politikwissenschaftlichen und kulturhistorischen Schrift Die Demokratie in Amerika vorausgesagt, so war Verne einer der französischen Autoren, die dies erzählend umsetzten. Den Prinzipien der Hollywood-Industrie kam es entgegen, dass sich das Spektakuläre von Vernes Stoffen im Zuge der filmtechnischen Entwicklungen immer wieder überbieten und damit wiederholen ließ. Die filmtechnischen Meilensteine – Stumm-, Ton-, Buntfilm, Cinemascope und Digitalisierung – und die Entwicklung von Special effects haben regelmäßig zu Neuverfilmungen Vernes geführt. 1916 verführte 20 000 Leagues under the Sea die Zuschauer mit bisher ungesehenen Unterwasseraufnahmen, auf denen Korallenriffe, Haifische und der Angriff eines Kraken zu sehen waren, 1954 brachte Disney das Ganze dann in Farbe, mit Ton und inszenatorisch weitaus komplexer auf die Leinwand. Waren die riesigen Monster aus der Reise zum Mittelpunkt der Erde 1959 noch echte Echsen in Nahaufnahmen gewesen, so verfolgt 2008 schon ein voll digitalisierter Tyrannosaurus Rex die Abenteurer. 224
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Und last not least erleichtern die über 5 000 Illustrationen aus Vernes Romanen den Filmemachern erheblich die Arbeit, wenn es um die Visualisierung seiner Texte geht. Dementsprechend lassen sich in zahlreichen Filmen Anleihen bei den Holzstichen finden, und je respektvoller ein Text verfilmt wurde, umso enger ist auch die Nähe zu den Bildern. Werfen wir einen etwas genaueren Blick auf ein paar filmische Meilensteine. Der bereits erwähnte George Méliès gilt als einer der ersten Filmemacher, der Fantasiestoffe visuell umgesetzt und dabei die ersten Special Effects entwickelt hat. Was konnte reizvoller für ihn sein als Motive aus den Außergewöhnlichen Reisen? In dem filmhistorisch wohl ersten Science Fiction Die Reise zum Mond von 1902 schießt er eine Gruppe von Gelehrten in einem Projektil nach Art von Vernes Columbiad auf den Mond, wo sie dann – im Unterschied zum Roman – auch wirklich landen. Die deutlich als Bürger mit Hut,
Méliès’ bürgerliche Mondfahrer g rüßen die Erde.
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Mantel und Regenschirm gekennzeichneten Mondfahrer treffen in einer Höhle auf vogelähnliche Seleniten, die sie auf groteske Weise durch einen Hieb mit dem Regenschirm unschädlich machen können – so unschädlich wie die insektenhaften Mondbewohner aus H. G. Wells Roman Die ersten Menschen auf dem Mond, an dem sich Méliès neben Offenbachs Opéra-bouffe Le Voyage dans la Lune zusätzlich bedient hat. Formal ist Die Reise zum Mond mit ihren langen Totalen und Gruppentableaux noch ganz dem theatralischen Sehen verpflichtet. Was Méliès hier ebenso wie in den späteren Voyage à travers l’impossible (1904) und A la conquête du pôle (1912) auszeichnet, ist, wie er Vernes Fantasien der Mobilität über den geschickten Einsatz von Dekors, Attrappen und Stop-Motion-Technik gestaltet und damit die Grundlagen von Filmtricks und Special Effects legt. Hier entstand eine originelle Ästhetik aus Realfilm und Animation, an die spätere Regisseure anknüpfen sollten, darunter vor allem der Tscheche Karel Zeman. In die Richtung des konventionellen Erzählkinos des 20. Jahrhunderts hingegen wies die US-Verfilmung 20 000 Leagues under the Sea von Stuart Paton aus dem Jahre 1916, die drei Aspekte aufweist, die charakteristisch für Verne-Verfilmungen werden sollten. Erstens lockte man die Zuschauer mit dem Versprechen des visuell Spektakulären, hier in Form der ersten Unterwasseraufnahmen, ins Kino. Diese technische Innovation trat so sehr in den Vordergrund, dass die Ingenieure der Unterwasserkameras, die Brüder Ernest und George Williamson, im Vorspann noch vor Jules Verne eingeblendet wurden und sich vor dem Publikum verbeugen durften. Dementsprechend ausgeschöpft werden die Blicke in die Unterwasserwelt durch das Sichtfenster der Nautilus, das Nemo als sein »magic window« bezeichnet, eine Formulierung, die sich 1916 wohl auch noch als Metapher für das junge Medium Film selbst verstehen ließ. Gezeigt werden Meeresgrund, Korallenriffe und gefährliche Unterwassertiere. Neben einem erkennbar künstlichen Kraken, der einen Perlentaucher anfällt, gibt es auch echte Haie zu sehen, denen sich die Stuntmen in einer Jagdszene sogar unmittelbar aussetzen. Der 226
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Film endet schließlich mit einer spektakulären Explosion im Wasser, als Nemo mit einem Torpedo die Jacht seines Gegenspielers Denver versenkt. Zweitens führte der Film die Beweglichkeit der Verne’schen Stoffe vor, indem er die Handlung von 20 000 Meilen unter den Meeren mit derjenigen von Die geheimnisvolle Insel mühelos verband und über einen neuen Handlungsstrang verwob. Damit verbunden ist das dritte Charakteristikum der Adaptionen – die Erotisierung – durch Aufnahme einer physisch attraktiven Frauenfigur. Der Film führt eine Tochter Nemos ein, die als Naturkind im Leopardenfell auf der geheimnisvollen Insel lebt und bald das Begehren der freundlichen und feindlichen Ankömmlinge wecken wird. Spätere Verfilmungen sollten diesem Modell immer wieder folgen. Die Hochphase der Hollywood-Adaptionen Vernes fällt in die Mitte des 20. Jahrhunderts, wobei Hollywood hier im weitesten Sinne als US-amerikanisches konventionelles Unterhaltungskino zu verstehen ist. Ausgelöst wurde der Verne-Zyklus, der bis Anfang der 1970er Jahre anhalten sollte, durch den Kassenerfolg von Walt Disneys 20 000 Meilen unter den Meeren aus dem Jahre 1954. Als filmhistorisch bedeutsam erwies sich hier erneut die technische Überbietung, erstens bei den Unterwasseraufnahmen in der gerade erst auf dem Markt lancierten Breitbildtechnik Cinemascope und zweitens bei dem spektakulären Kampf mit dem Riesenkalmar, der insofern wegweisend war, als der Special-Effect-Experte Robert Mattey, der den Kalmar entwarf, noch zwanzig Jahre später für Steven Spielberg auch den mechanischen weißen Hai bauen sollte. Dass die Verfilmung auf den ersten Blick relativ werktreu – will sagen orthodox – erscheint, liegt vor allem an der nostalgischen Darstellung der Nautilus als Symbol von Reichtum und Macht der Kolonialzeit. Bei genauerem Hinsehen aber erweist sich Disneys Version als Produkt des Atomzeitalters, wie James Maertens überzeugend dargelegt hat, und bringt jene Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck, die mit der neuen Technik verbunden waren. Dass Disneys Nautilus wie das Anfang 1954 vom Stapel gelaufene U-Boot U. S. S. Nautilus nukleargetrieben ist, bildet nur die Spitze des Eis227
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Der Angriff des Riesenkalmars in der Disney-Verfilmung
berges, wichtiger noch ist, dass Nemos eigentliches Genie in der Beherrschung der Nukleartechnik liegt, deren Potenzial er vorführt, als er seine Basis am Ende des Films in die Luft sprengt und sterbend prophezeit: »Wenn die Menschheit reif ist für ein neues, besseres Leben, dann wird ihr die Natur dieses Geheimnis offenbaren – in einer schöneren Zukunft.« Angesichts der Tatsache, dass die Handlung im 19. Jahrhundert spielt, der Film jedoch Ende 1954 seine Premiere feierte, musste das Publikum den Eindruck gewinnen, dass diese schönere Zukunft nun gekommen sei und dass man in den USA nun die Reife erreicht habe, um die Atomtechnik konstruktiv zu nutzen. Der Erfolg des Films löste einen Zyklus an Verne-Verfilmungen aus, der die Bekanntheit des Autors auf lange Zeit sicherte, da sie nach der Vermarktung im Kino ins Fernsehen kamen. Von den zahlreichen Filmen jener Jahre seien lediglich noch die spektakulären Großproduktionen In 80 Tagen um die Welt (1956) und Die Reise 228
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Disneys Nautilus als Atom-U-Boot
zum Mittelpunkt der Erde (1959) genannt. Es sind maßgeblich diese Filme gewesen, welche die spätere Forschergeneration erstmals mit Verne bekannt machten. Der Hollywood-Zyklus beförderte auch Neuauflagen der Romane, deren Buchcover zum Teil nach Motiven aus den Filmen gestaltet wurden. Ab 1958 erschien die für Großbritannien und USA bis heute vollständigste Sammlung der Außergewöhnlichen Reisen, die so genannte Fitzroy-Edition von Idrisyn Oliver Evans, die auf 63 Bände kam und bis in die 1980er Jahre hinein auf dem Markt präsent war. Die Fitzroy-Edition machte Verne zwar wieder zugänglich, aber weder die älteren wieder aufgelegten, noch die neu erstellten Übersetzungen waren originalgetreu, sondern mitunter stark gekürzt. Seine heterodoxe Einstellung begründete Evans 1968 im Bulletin der Société Jules Verne mit der neuen medialen Umgebung der Leser und behauptete: »Schon zu Vernes Lebzeiten dürften einige Abschnitte langweilig gewesen sein. Und heute hat das zeitgenössische 229
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Publikum zum Teil aufgrund des Einflusses von Radio und Fernsehen nicht mehr die Geduld, lange Passagen über geografische Fakten zu verarbeiten, von denen viele veraltet sind. Stattdessen habe ich versucht, dem Geist Vernes treu zu bleiben und ihn in einer Weise anzubieten, die dem heutigen Leser gefällt. Und die Tatsache, dass diese korrigierten Versionen jetzt 60 Bände zählen, zeigt, dass ich damit nicht falsch lag. Wenn man Vernes Geschichten von ihren überzogen langen Passagen befreit, werden sie wieder lebendig.« Orthodoxe Vernianer hören so etwas nicht gern. Dennoch ist Evans’ Begründung nicht einfach mit philologischen Argumenten zu entkräften: Vernes englischsprachige Präsenz hatte eine völlig neue Grundlage erhalten und sein Überleben vorerst gesichert, und zwar völlig unabhängig vom orthodoxen Gebot der Originaltreue. Ein solch heterodoxer Umgang mit Vernes Texten zeichnete auch deutschsprachige Reihen aus, darunter die weit verbreitete DDRAusgabe im Verlag Neues Leben (1954–1973), welche die Romane recht willkürlich auf ihr Handlungsgerüst reduzierte, oder die zwanzigbändige Ausgabe von Bärmeyer & Nikel (1966–1968), die nicht nur radikal kürzte, sondern den Text mitunter sogar über aktuelle politische Anspielungen noch umschrieb. Auch hier fällt die Bilanz zweischneidig aus: Die heterodoxe Freiheit im Umgang mit Verne hielt ihn am Leben, höhlte ihn aber zugleich aus. Die Leistung der Heterodoxen ist umso mehr zu würdigen, als originalgetreue Übersetzungen wie die von Diogenes 1973 initiierte Reihe keineswegs erfolgreicher waren. Parallel dazu wurden bereits die Grundlagen für die spätere Dominanz einer orthodoxen Herangehensweise gelegt. Zwischen 1966 und 1971 erschien in 49 Bänden quasi der komplette Verne bei Rencontre in Lausanne, herausgegeben von dem Atomphysiker und Publizisten Charles-Noël Martin, der die einzelnen Romane bevorwortete und sich zu einem der Pioniere der Verne-Forschung entwickelte. Mitte der 1960er setzte zudem die Taschenbuchausgabe Livre de poche ein, die bis heute nachgedruckt wird. Beide Ausgaben stellten die materielle Grundlage der Verne-Forschung bis zu Beginn 230
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der 2000er Jahre dar, als die Originalausgaben und Manuskripte Vernes nach und nach elektronisch frei verfügbar wurden. Die von den Hollywood-Verfilmungen angestoßene neue Popularität Vernes verlängerte sich in Form von erfolgreichen Fernsehadaptionen noch bis Ende der 1970er Jahre. Im deutschsprachigen Raum erreichte die Verne-Rezeption durch die so genannten »Weihnachtsvierteiler« einen Höhepunkt. Die von Fernsehproduzent Walter Ulbrich entwickelte Idee basierte darauf, Abenteuerklassiker in epischer Breite für das Fernsehen zu verfilmen und im Unterschied zu den Kinoverfilmungen ausführlicher und damit eventuell auch originalgetreuer zu adaptieren. In den 1970er Jahren wurden mit Zwei Jahre Ferien, Michael Strogoff und Mathias Sandorf drei Verne-Romane als Weihnachtsvierteiler adaptiert, unter denen Michael Strogoff ein herausragender Erfolg beschieden war. Mit Raimund Harmstorf war eine ideale Besetzung für die Titelrolle gefunden worden,
Raimund Harmstorf erwies sich als ideale Besetzung für Michael Strogoff, hier neben Lorenza Guerrieri in der Rolle der Nadja.
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denn der ehemalige Zehnkämpfer eignete sich einerseits bestens für die hohen physischen Herausforderungen der Dreharbeiten und war andererseits Vernes Strogoff physisch sehr ähnlich. Verne charakterisiert seine Figur über eine auffällig breite Nase, die auch Harmstorf physiognomisch auszeichnete. Der letzte Teil erreichte am 6. Januar 1977 mit 25 Mio. Zuschauern über 62 % der Einschaltquoten und damit die höchste Zuschauerzahl in der Geschichte der Weihnachtsvierteiler überhaupt. Das wäre an sich schon eine Zahl, von der heutige Fernsehanstalten nur träumen können, aber hinzu kommt noch, dass die Quoten damals anhand der angemeldeten Fernsehgeräte berechnet wurden und nicht wie heute anhand des Marktanteils. Wenn man dann noch bedenkt, dass in den 1970er Jahren das gemeinsame Fernsehschauen der Familie weit verbreitet war, bedeutet dies, dass weit über die Hälfte aller Deutschen Michael Strogoff gesehen haben und dass die Verfilmung für viele ein prägendes Fernsehereignis war. Zugleich verweist die Auswahl der drei Verne-Romane auf eine Verschiebung in der Verne-Rezeption. Denn bei allen drei handelt es sich um reine Abenteuerstoffe ohne technische Antizipationen. Nach dieser audiovisuellen Hochphase in der Verne-Rezeption setzte eine intensive literarische Kanonisierung und Erforschung Vernes ein. Äußerer Auslöser war der 150. Geburtstag des Autors im Jahre 1978, der mit zahlreichen Publikationen gefeiert wurde. Im selben Jahr wurde erstmals ein Text Vernes – die Reise zum Mittelpunkt der Erde – in die Lektürelisten der Agrégation, der französischen Zulassungsprüfung für höhere Lehrposten, aufgenommen. Es folgte eine intensive Grundlagenforschung: Neue Texte wurden entdeckt und ediert; 1981 kaufte die Bibliothek von Nantes die Manuskripte der Familie Vernes auf und machte sie so der Forschung zugänglich; Ende der 1980er erschienen mehrere Werkbibliografien. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der italienische Graf Piero Gondolo della Riva, der eine der bedeutendsten Jules Verne-Sammlungen aufgebaut hatte. Die von Gondolo della Riva zusammengetragenen Dokumente, die Anfang 2000 von der Stadt Amiens aufgekauft wurden und heute der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, stellen 232
Der geteilte Verne
eine wichtige Grundlage unseres Wissens über Jules Verne dar. Ein Meilenstein war die Entdeckung des verschollenen Romans Paris im 20. Jahrhundert und dessen Herausgabe 1994. Aus der Sammlung Gondolo della Rivas und dem Nachlass Hetzels, welche die Erben 1966 der Nationalbibliothek vermacht hatten, konnte zwischen 1999 und 2006 die Korrespondenz zwischen Jules Verne und Vater und Sohn Hetzel in einer vorbildlichen Ausgabe von Volker Dehs, Olivier Dumas und Piero Gondolo della Riva besorgt werden. Auch die Briefe Vernes an seinen Sohn Michel folgten 2018 in einer Ausgabe von Volker Dehs und Piero Gondolo della Riva. Die Orthodoxen haben damit schon länger die Oberhand. Von konkreter und zugleich hoher symbolischer Bedeutung für die Rezeption Vernes in seiner Heimat war seine Aufnahme in die Ausgabe der Pléiade ab 2012, in der bisher vier Bände erschienen sind. Für die Romane Die Kinder des Kapitäns Grant, 20.000 Meilen unter den Meeren, Die geheimnisvolle Insel, Die Eissphinx, In 80 Tagen um die Welt, Der Kurier des Zaren und Die Leiden eines Chinesen in China, Das Testament eines Exzentrikers, Das Kapathenschloss und die beiden Mondromane liegt somit eine verbindliche kommentierte Fassung vor. Und was tun die Heterodoxen? Oder ist Verne mit der Aufnahme in das literarische Pantheon der Pléiade-Ausgabe endgültig gestorben, wie Kanonisierungsskeptiker gern spötteln? Die heterodoxe Verne-Rezeption ist sicherlich weniger intensiv als in den genannten Hochphasen, aber sie ist noch lebendig und bewegt sich derzeit auf zwei Feldern. 2012 erschien neben der ersten Pléiade-Ausgabe mit dem Film Journey 2: The Mysterious Island eine weitere Verne-Verarbeitung, an der sich die derzeitige heterodoxe Praxis gut ablesen lässt. Zuerst fällt auf, dass die Orthodoxen in den filmischen Diskurs integriert sind und als Vernianer bezeichnet werden, die an die Echtheit der Texte und der Geschichte glauben, auch wenn sie damit klar als Verne-Fans und nicht als Forscher charakterisiert werden. Die Adaption ist frech und wild, weil sie populäre Texte frei miteinander kombiniert, denn Vernes geheimnisvolle Insel wird hier noch mit Steven233
3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
sons Schatzinsel und Swifts Laputa aus Gullivers Reisen verbunden und ist nichts weiter als eine Variante des Atlantis-Mythos, wobei die Stadt hier alle 140 Jahre untergeht und wieder auftaucht. Spektakuläre 3D-Aufnahmen tun ihr Übriges, um das Abenteuergenre zeitgemäß aufzumotzen. Zweitens gehört Verne neben H. G. Wells zu den Ikonen des Science Fiction-Subgenres Steampunk. Dabei handelt es sich um eine neoviktorianische Ästhetik, die sich an den Maschinen der Industriellen Revolution erfreut. Ihre zentralen Motive liegen in Dampfmaschinen, Flugapparaten, Zahnrädern, Röhren usw., die in manieristischer Fülle eine mechanische Welt rekonstruieren, in der Technik noch handgemacht und damit für den einzelnen begreifbar war. Technik tritt einem hier als geformte Materie entgegen, die manuell gestaltet wurde. Steampunk lässt sich daher als nostalgische Gegenreaktion auf die entfremdende digitale Technik verstehen, die der Durchschnitts-User nur noch bedienen, nicht aber verstehen oder gar reparieren kann. Zwar nehmen Vernes Texte nur punktuell typische Steampunk-Motive vorweg, am deutlichsten in den Flugapparaten Albatros aus Robur der Eroberer und Épouvante aus Herr der Welt, die Zukunftsvisionen der Vergangenheit repräsentieren, aber das stört den heterodoxen Geist der Steampunk-Bewegung nicht. Die bekanntesten Beispiele von Steampunkfilmen mit VerneBezug sind Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen (2003), in dem Kapitän Nemo mit seiner Nautilus auftaucht, und die Neuverfilmung von In 80 Tagen um die Welt von 2004 mit Jackie Chan, die aus Fogg einen Erfinder von Steampunk-Geräten macht. Was die Verfügbarkeit von Vernes Romanen angeht, so ist die Textlandschaft durch die Digitalisierung noch unübersichtlicher geworden. Denn dadurch wurden die gemeinfreien Ausgaben wieder zugänglich und werden gratis online und als book-on-demand angeboten. Gleichzeitig erlaubt die Digitalisierung einen leichteren Zugriff auf die Antiquariatsbestände und katapultiert auch ältere Buchausgaben wieder auf den Markt zurück. Wie soll der interessierte Leser hier einen Überblick behalten? Welchen Verne soll man nun eigentlich lesen? Diese Frage dreht sich 234
Der geteilte Verne
Eine Zukunftsvision der Vergangenheit: die Épouvante aus Herr der Welt
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3. Teil Schreiben als Lebensinhalt
nicht mehr allein um den Text, sondern auch um das Format. Ratschläge sind also je nach Format zu erteilen und zwar je nach digitalen Versionen, populären und philologischen Ausgaben. Der Leser muss entscheiden, welches er davon verwenden möchte. Für die französischen Ausgaben lässt sich eine relativ klare Antwort geben. Was die digitalen Versionen angeht, so bietet die Biblio thèque Nationale de France die Datenbank Gallica an, von der man Hetzels Verne-Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert frei herunterladen kann. Als populäre Ausgabe bietet sich weiterhin diejenige von Livre de poche an, auch wenn längst nicht mehr alle Titel erhältlich sind. Philologischen Ansprüchen genügt die Pléiade-Ausgabe, in der bisher zwölf Romane Vernes erschienen sind. Was den online-Zugriff auf Verne angeht, so bietet die älteste digitale Bibliothek, Project Gutenberg, über 160 freie Digitalisate (inklusive einiger Audiodateien) in verschiedenen Sprachen, wobei das Englische überwiegt. Für den deutschsprachigen Leser stehen derzeit 43 Texte auf der werbefinanzierten Plattform Projekt Gutenberg-DE zur Verfügung. Es handelt sich dabei um Digitalisate der Hartleben-Ausgabe, deren Übersetzungen zwar nicht strengeren Maßstäben genügen, die im internationalen Vergleich für ihre Zeit allerdings akzeptabel waren. Wer höhere Ansprüche hat und sich ebenso eine verlässliche Übersetzung wie Nachworte und Anmerkungen wünscht, der steht im deutschsprachigen Raum weitgehend im Regen. Tröstlich ist immerhin, dass einige der wichtigsten Romane, nämlich In 80 Tagen um die Welt, Reise zum Mittelpunkt der Erde, Von der Erde zum Mond, Reise um den Mond und 20 000 Meilen unter den Meeren in vorbildlichen Ausgaben und Übersetzungen von Volker Dehs, Sabine Hübner und Claudia Kalscheuer erhältlich sind.
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Schluss
Schluss: Der glückliche Sisyphos
V
ernes Berufs- und Familienleben wurde von Vater-Sohn-Beziehungen geprägt, die trotz aller affektiven Bindungen einem Mentorat ähnelten. Seinem Vater Pierre legte Verne Talentproben vor, um sich seine Unterstützung zu sichern und von dessen literarischer Sensibilität zu lernen. Später sollte Pierre-Jules Hetzel an dessen Stelle treten und zu seinem geistigen Vater werden, wie er es im Kondolenzbrief an dessen Sohn formulierte. Offenbar hatte sich Verne gewünscht, seinem Sohn gegenüber selbst ein solcher Mentor zu werden. Immer wieder hat er versucht, den talentierten Michel in eine künstlerisch-kreative Richtung zu lenken und ihm Möglichkeiten zu eröffnen, dort beruflich Fuß zu fassen. Ganz gescheitert ist er dabei nicht, denn immerhin war Michel nach seinem Tod in der Lage, das Werk fortzuführen und weiterzuentwickeln, wenn auch nicht ansatzweise mit derselben Energie, Disziplin und demselben Erfolg. Gescheitert ist hingegen die nachgiebige Erziehung Michels, die ihm nicht dabei half, eine stabile Persönlichkeit im Angesicht der Berühmtheit seines Vaters aufzubauen. Ohne gefestigte Identität blieb Michel orientierungslos, wandte sich allen möglichen Verlockungen zu und endete schließlich doch immer wieder beim Werk des Vaters. Um dieses Werk drehten sich nicht nur die Vater-Sohn-Beziehungen, sondern letztlich auch Jules Vernes gesamtes Dasein. Es war die Ursache seiner Probleme, sowohl der anfänglichen finanziellen Engpässe als auch der späteren familiären, und zugleich die Quelle seines Glücks. Denn Schriftsteller zu sein bedeutet, einen Teil seines Lebens in der Fiktion zu verbringen, allerdings nicht in irgendeiner Fiktion, sondern in der eigenen. Keine andere ist affektiv so aufgeladen, keine andere so persönlich und beglückend wie die selbst konstruierte Traumwelt. Und es bedeutet weiterhin, sich ohne Unterlass mit der Sprache, mit literarischen Formen und der literarischen 237
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Tradition auseinanderzusetzen. Dabei kann man schnell den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Diese Gefahr jedoch hat Jules Verne stets vermieden. Das war einerseits der Gattung des wissenschaftlichen Romans geschuldet, die ihn zum aufmerksamen Beobachter der Entdeckungen und Expeditionen seiner Zeit machte, andererseits aber auch seinem integren Charakter und dem Verantwortungsgefühl für das Allgemeinwohl, das sich in seinem kommunal- und kulturpolitischen Engagement niederschlug. Damit zeichnen Verne zwei scheinbar widerstrebende Gesten aus: Einerseits schottete er sich ab und genoss zurückgezogen in seinem kleinen Arbeitszimmer sein Leben in der Fantasie, andererseits hat er sich schon relativ früh kommunalpolitisch engagiert und somit Verantwortung für die Gemeinschaft übernommen. Darin ähnelt ihm auf kuriose Weise auch sein Kapitän Nemo: In den 20 000 Meilen unter den Meeren tritt er uns als jemand entgegen, der sich von allen Nationen verabschiedet hat und autark in seiner Nautilus wie unter einer Glasglocke lebt, um sich von den exotischen Unterwasserwelten faszinieren zu lassen; in der Geheimnisvollen Insel hingegen waltet Nemo im Hintergrund als Schutzmacht der Gemeinschaft, die er mehrfach vor dem Schlimmsten bewahren muss. Diese beiden Seiten Nemos beschreiben auch Vernes spannungsreiche Beziehung zwischen der nötigen Einsamkeit des Künstlers, als den er sich verstand, und der Verantwortung, die er der Gemeinschaft gegenüber empfand. Dabei besaß Jules Verne weder den Geltungsdrang eines Chateaubriand, noch das missionarische Selbstbewusstsein eines Hugo, noch die dandyhafte Bürger-Verachtung eines Baudelaire oder das provokative Kalkül eines Zola, Verne war vielmehr ein bürgerlicher Schriftsteller, ein Profi, das Gegenstück zum Bohemien und zu romantischen Genievorstellungen. Da er weder seine Person noch seine Ideen in den Vordergrund stellte, konnte er stets kompromissbereit sein und zwischen den Anforderungen des Verlags und seinen schriftstellerischen Ideen vermitteln. Ganz hingegeben an seine selbstgesteckte Aufgabe, eine Romanreihe über alle Länder der Welt zu verfassen, hat er zugleich eine Geschichte seiner Zeit geschrieben und die neuen Bedeutungen von 238
Schluss
Vermessung, Mobilität, Technik, Pragmatismus, globaler Perspektive und die sich daraus ergebende Rolle des Sehens als dominanter Sinn festgehalten. Vernes Romane zeigen, wie der Mensch zum Betrachter seiner Welt wird. Schon in seinem Erstling Fünf Wochen im Ballon erkannte ein Kritiker das Innovative darin, dass der Roman nichts anderes als un long regard, ein langer Blick, sei, dessen Anordnung sich als Form eines typisch bürgerlichen Sehens verstehen lässt. Vernes Romane dokumentieren, wie sich der Blick des Menschen auf die Welt und zugleich auch der Mensch verändert. Das bürgerliche Sehen holt die fremde Welt in die heimische Stube, es rekonstruiert die Wildnis, damit man vor dem Kamin sitzen bleiben kann. Aber es geht dabei nicht nur um Gemütlichkeit. Denn bei Verne fallen Betrachten und Vermessen zusammen. Die Blicke seiner Figuren sind nicht voyeuristisch, denn sie messen, klassifizieren und kartografieren. Nur wer die Welt kennt, kann sie beherrschen. An die Stelle des klassischen Heros tritt bei Verne ein wissenschaftlicher Held, der Herausforderungen durch sein enzyklopädisches Wissen meistert und Einzelinformationen untereinander in das notwendige Verhältnis setzt. Das macht seine Handlungen exakt planbar. Wagemut ist für denjenigen, der nicht richtig rechnen kann, nüchterne Kalkulation tritt an die Stelle irrationaler Mutproben. Für heutige Leser kommt noch ein nostalgischer Reiz hinzu, der Verne vielleicht überrascht hätte, weil er gerade das Modernste seiner Romane betrifft: die Technik. Aber in einer Welt, in der die Digitalisierung die technischen Prozesse für Laien unsichtbar und damit unbegreiflich gemacht hat, gewinnen Vernes Apparate etwas rührend Mechanisches und suggerieren in ihren tierähnlichen Formen organische Analogien. Verne selbst hätte niemals damit gerechnet, dass seine Außergewöhnlichen Reisen sich der Zeit so lange widersetzen würden. Die Interviews gegen Ende seines Lebens zeigen, dass er solche Illusionen längst aufgegeben hatte. Dennoch arbeitete er unermüdlich weiter, hatte den Publikationsrhythmus des Verlags schon lange überholt und hätte noch viele Jahre weitergeschrieben. Warum eigentlich? 239
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Was kann der hundertste Roman dem neunundneunzigsten noch hinzufügen, wenn man einmal von Vernes enzyklopädischer Lust an Vollständigkeit absieht? Eigentlich nichts anderes als die Lust an der Arbeit selbst. Das äußere Programm der Außergewöhnlichen Reisen war für ihn längst zu einem inneren geworden. So steht die Romanreihe zugleich auch als ein Monument der bürgerlichen Arbeit vor uns, die Vernes Leben vollends ausgefüllt hat. Seine Biografie erscheint aus diesem Blickwinkel als Geschichte eines gelungenen bürgerlichen Lebens, wobei es aus anderer Perspektive auch die Kehrseite von dessen Zwängen zeigt. Denn vielleicht hätte die prekäre Identität Michels stabiler wachsen können, wenn Verne sich nicht ausschließlich der Arbeit hingegeben hätte. Die bürgerliche Berufsfreiheit hat ein Janusgesicht, denn sie will zugleich Existenzsicherung und Selbstverwirklichung sein. Es gibt aber keine Freiheit ohne Verantwortung, und so musste auch Verne seinen Beruf mit Fron erkaufen. Als er 1867 im Schweiße seines Angesichts an einem geografischen Nachschlagewerk arbeitet, stöhnt er Hetzel gegenüber, dass er niemals besser die Metapher vom Felsen des Sisyphos verstanden habe. Auch die selbst gewählte Arbeit kann zur Geißel werden. Aber weil sie in Freiheit gewählt wurde, hatte Verne die Kraft, den Stein immer wieder hinaufzurollen. Daher war er wie jeder andere, der das Schicksal bürgerlicher Arbeit teilt, ein glücklicher Sisyphos.
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Zeittafel
Anhang Zeittafel 1828 8. Februar: Geburt Jules Vernes in Nantes als erstes Kind von Pierre und Sophie Verne, geborene Allotte de la Fuÿe; es folgen noch vier weitere Kinder: Paul (*1829), Anna (*1837), Mathilde (*1839) und Marie (*1842). 1846 Verne besteht das Abitur; Beginn des Jurastudiums in Nantes. 1848 21. Februar: erste Aufstände in Paris; 24. Februar: Bürgerkönig Louis Philippe dankt ab. 22. Juni: Beginn des Juniaufstands, der blutig niedergeschlagen wird. Verne zieht nach Paris, um Jura zu studieren. Er besucht dort die literarischen Zirkel und lernt 1849 Alexandre Dumas den Jüngeren kennen. 1850 12. Juni: Uraufführung der Komödie Les Pailles rompues im Théâtre histo rique. 1851 Nach Abschluss des Jurastudiums kehrt Verne nicht nach Nantes zurück. Neben intensiver Dramenproduktion schreibt er erste Erzählungen, die in den nächsten Jahren im Musée des familles erscheinen. 2. Dezember: Staatsstreich des Präsidenten Louis Napoléon, der sich ein Jahr später zum Kaiser krönen lässt; der republikanische Verleger Pierre-Jules Hetzel geht kurz nach dem Staatsstreich ins Exil. 1852–1855 Verne arbeitet als Sekretär am Théâtre Lyrique. Er bezieht zunächst kaum, dann gar kein Honorar mehr und darf im Gegenzug eigene Stücke aufführen, die er zusammen mit dem Komponisten Aristide Hignard schreibt.
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Anhang
1857 10. Januar: Hochzeit mit Honorine Morel, geborene de Viane, einer jungen Witwe mit zwei kleinen Töchtern. Verne arbeitet seit 1856 zusätzlich als Börsenmakler. Von Juni bis September publiziert Verne einmalig Kunstkritiken zum Salon des Jahres in der Revue des Beaux-Arts. 1859 Juli – August: Verne reist mit Aristide Hignard durch England und Schottland; mithilfe seiner Reisenotizen verfasst er den fiktionalisierten Reisebericht Voyage en Angleterre et en Écosse (Reise mit Hindernissen nach England und Schottland). 1861 2. Juli – 7. August: Vernes reist mit Hignard und einem weiteren Freund über Deutschland nach Norwegen und Dänemark. Zwischenstopp in Hamburg, wo Verne Notizen macht, die in den Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde einfließen. 3. August: Geburt von Vernes einzigem Kind, Michel. Verne wird seinem späteren Verleger Pierre-Jules Hetzel vorgestellt. 1862 Reise durch die Bretagne; Aufzeichnungen Vernes fließen in den kurzen historischen Roman Der Graf von Chanteleine ein. Verne legt Hetzel seinen Reisebericht Voyage en Angleterre et en Écosse vor, der Verleger lehnt ab. Verne verfasst den Roman Voyage dans les airs, der von Hetzel angenommen und in Fünf Wochen im Ballon umbenannt wird. 1863 Mitte Januar: Fünf Wochen im Ballon erscheint ohne Vorabdruck als Buch. Die Kritik erkennt die Neuheit der Gattung und bezeichnet sie als »wissenschaftlichen Roman«. 1864 April: Vernes Essay Edgar Poe und seine Werke erscheint im Musée des familles. 25. November: Buchausgabe von Reise zum Mittelpunkt der Erde. 1865 Ab diesem Jahr regelmäßige Sommer-Aufenthalte in dem Küstenort Le Crotoy an der Mündung der Somme.
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Zeittafel
1866 15. Juli: Erste Lieferung der Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras mit einem programmatischen Vorwort, das die Reihe der Außergewöhnlichen Reisen begründet. 1867 17. März – 29. April: Amerika-Reise mit seinem Bruder Paul auf der Great Eastern. Im Auftrag Hetzels schließt Verne das geografische Nachschlagewerk Géographie illustrée de la France et de ses colonies ab und unterbricht dafür seine Arbeit an den Romanen. April – Oktober: Weltausstellung in Paris, auf der Verne Inspiration erhält für seinen späteren Roman 20 000 Meilen unter den Meeren. 1868 März: Verne zieht mit seiner Familie in das Fischerdorf Le Crotoy und kauft sich das Boot Saint-Michel. An Bord schreibt er später einen Großteil des Romans 20 000 Meilen unter den Meeren. 1869 20. März: Beginn der Vorpublikation von 20 000 Meilen unter den Meeren im Magasin d’Éducation et de Récréation. 28. Oktober: Buchausgabe des ersten Bandes von 20 000 Meilen unter den Meeren. 1870 25. Juni: Buchausgabe des zweiten Bandes von 20 000 Meilen unter den Meeren. 19. Juli: Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges; Verne ist mit der SaintMichel als Strandwächter in Le Crotoy eingesetzt; die Familie befindet sich im besetzten Amiens. 9. August: Verne wird durch Kaiserin Eugénie zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. 2. September: Schlacht von Sedan; Gefangennahme von Kaiser Napoleon III. 4. September: Ausrufung der III. Republik. 1871 18. März – 28. Mai: Bildung und Niederschlagung der Pariser Kommune; in der so genannten Blutwoche werden ca. 20 000 Kommunarden getötet und
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Anhang
weitere 10 000 inhaftiert oder deportiert. Verne begrüßt die Zerschlagung des sozialistischen Aufstands. Juli: Verne zieht mit seiner Familie endgültig nach Amiens. 3. November: Tod des Vaters Pierre Verne. 1872 8. August: Vernes Romane erhalten eine Auszeichnung durch die Académie française. 6. November: Beginn der Vorpublikation von In 80 Tagen um die Welt in der Zeitung Le Temps. 1873 30. Januar: Buchausgabe von In 80 Tagen um die Welt. 28. September: Verne macht seine einzige Ballonfahrt. 1874 7. November: Die Bühnenfassung von In 80 Tagen um die Welt (in Zusammenarbeit mit Adolphe d’Ennery) wird am Porte Saint-Martin-Theater uraufgeführt und erweist sich als Sensationserfolg. 10. September: Buchausgabe des ersten Bandes von Die geheimnisvolle Insel. 1875 12. April: Buchausgabe des zweiten Bandes von Die geheimnisvolle Insel. 1876 1. Januar: Beginn der Vorpublikation von Der Kurier des Zaren im Magasin; Buchausgabe im Laufe des Jahres in zwei Bänden. April: Schwere Erkrankung Honorines. Oktober 1876 – Juni 1877: Michel für acht Monate in der Erziehungsanstalt von Mettray bei Tours. 1877 10. Januar: Beginn des Prozesses wegen Plagiatsvorwurf durch René de PontJest; Verne wird am 17. Januar freigesprochen. November: Erwerb der Dampfjacht Saint-Michel III. 1878 4. Februar: als Erziehungsmaßnahme wird Michel mit der Assomption für 18 Monate auf eine Seefahrt über Mauritius nach Indien geschickt.
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Zeittafel
Überarbeitung eines Manuskripts von Paschal Grousset, das als Grundlage der 500 Millionen der Begum dient. 25. Mai – Anfang Juli: Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer mit Paul, Hetzels Sohn Louis-Jules und dem Politiker Raoul-Duval. 1879 Die 500 Millionen der Begum erscheint. 15. Juni: Rückkehr Michels aus Indien. Juli: Kreuzfahrt auf der Saint-Michel mit Michel, Paul, dessen Sohn Gaston und Louis-Jules Hetzel nach England und Schottland. Dezember: Michel wird des Hauses verwiesen; hat Affäre mit der Schauspielerin Thérèse Valgalier, mit der er nach Nîmes geht. 1880 17. November: großer Bühnenerfolg von Der Kurier des Zaren, Fassung von Verne und d’Ennery. 1881 19. Juni – 15. Juli: Kreuzfahrt mit Paul, dessen ältestem Sohn Gaston und dem Politiker Robert Godefroy nach England, Holland bis nach Kopenhagen; dabei Zwischenstopp in Wilhelmshaven. 1884 15. März: Michel heiratet Thérèse Valgalier, obwohl er bereits eine Affäre mit der Minderjährigen Jeanne Reboul hat, die schwanger wird und 1885 den ersten gemeinsamen Sohn, Michel jr., zur Welt bringt. Zwei weitere Söhne folgen: Georges (*1886) und Jean (*1892). 13. Mai – Mitte Juli: letzte Kreuzfahrt auf der Saint-Michel im Mittelmeer mit Honorine, Michel, Paul, dessen Sohn Maurice und Robert Godefroy. Am 7. Juli Privataudienz bei Papst Leo XIII. 1885 Juli: Verkauf der Dampfjacht Saint-Michel III. 1886 9. März: Vernes psychisch kranker Neffe Gaston (1861–1938) verübt ein Attentat auf ihn und schießt ihm knapp über dem Fußgelenk ins Bein; die Kugel kann nicht entfernt werden. Verne ist von nun an gehbehindert. 17. März: Tod Hetzels in Monaco.
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1887 15. Februar: Vernes Mutter stirbt in Nantes. 1888 13. Mai: Verne wird republikanischer Stadtrat von Amiens; regelmäßige Wiederwahl 1892, 1896 und 1900. Verne engagiert sich vor allem im kulturellen Sektor. 19. Mai – 3. November: Michel veröffentlicht in der Literaturbeilage von Le Figaro eine Reihe von Artikeln unter dem Obertitel Im Zickzack durch die Wissenschaft. 1889 15. Mai: Beginn der vierten Pariser Weltausstellung mit der Einweihung des Eiffelturms; Verne besucht sie nicht. 1890 15. Februar: Verne redigiert sein Testament, das er bis zu seinem Tod nicht mehr ändert. August: In Begleitung von Honorine besucht Verne die Familie seines Sohnes während der Sommerferien in Les Petites-Dalles (Normandie). Verne sieht zum ersten Mal seine Enkelsöhne. Oktober: Michel erhält von seinem Vater 60 000 Francs, die er in die Produktion eines Universalofens investiert; das Unternehmen scheitert, das Geld geht verloren. 1892 19. Juli: Jules Verne wird wegen seiner Verdienste um die Stadt Amiens zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. 1893 29. Juli: Rede zur Schulpreisverleihung auf dem Mädchengymnasium von Amiens. 1894 Beginn der Dreyfus-Affäre; Verne bezeichnet sich als einen überzeugten Dreyfus-Gegner. 1895 Mithilfe seines Vaters verfasst Michel den Roman Reisebüro Thompson und Co., der unter dem Namen Jules Verne 1907 in die Reihe der Außergewöhnlichen Reisen aufgenommen wird.
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Zeittafel
1897 27. August: Tod Pauls in Nantes. 1900 14. April: Michel wird im Organisationsbüro der fünften Pariser Weltausstellung beschäftigt. Umzug Jules Vernes in eine kleinere Wohnung im Boulevard Longueville Nr. 44, nur 150 Meter vom alten Haus in der Rue Charles Dubois Nr. 2 entfernt. 1904 Verne hat einen schweren Diabetesanfall. 1905 5. März: Verne legt Hetzel jr. das Manuskript von Wilhelm Storitz’ Geheimnis vor. 24. März: Tod Vernes in Amiens nach einem schweren Diabetesanfall; Beisetzung am 28. März auf dem Madeleine-Friedhof unter großer Anteilnahme. 1910 27. Januar: Tod Honorines. 1919 Bei Hachette erscheint der letzte Band der Außergewöhnlichen Reisen – Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac – unter dem Namen von Jules Verne, obwohl der Roman vollständig von Michel verfasst wurde. 1925 5. März: Tod Michels in Toulon. 1935 Gründung der Société Jules Verne in Paris. 1954 Der Kassenerfolg von Disneys Verfilmung von 20 000 Meilen unter den Meeren löst weitere Verne-Adaptionen bis Ende der 1960er Jahre aus, durch die Verne populär bleibt. 1985–1989 Veröffentlichung der Originalfassung der posthumen Romane durch die Société Jules Verne in einer limitierten Auflage; danach verschiedene Ausgaben im Buchhandel.
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1994 September: Buchausgabe des verschollenen Romans Paris im 20. Jahrhundert, der überraschend erfolgreich ist. 2000 Juli: Die Stadt Amiens kauft die Verne-Sammlung des Italieners Piero Gondolo della Riva; zahlreiche Schriftstücke werden dadurch öffentlich zugänglich. 2006 24. März: Eröffnung des Verne Museums im ehemaligen Haus Vernes in der Rue Charles Dubois Nr. 2 in Amiens. 2012 Erste Pléiade-Ausgabe von Romanen Vernes erscheint.
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Werkverzeichnis
Werkverzeichnis
Les Voyages Extraordinaires/Die Außergewöhnlichen Reisen Die Außergewöhnlichen Reisen werden chronologisch nach der ersten Buchausgabe verzeichnet, es folgt der französische und dahinter der übliche deutsche Titel sowie das Jahr der ersten deutschsprachigen Buchpublikation. 1863 Cinq Semaines en ballon (Fünf Wochen im Ballon, 1874) 1864 Voyage au centre de la Terre (Reise zum Mittelpunkt der Erde, 1873) 1865 De la Terre à la Lune (Von der Erde zum Mond, 1873) 1866 Voyages et aventures du capitaine Hatteras (Reisen und Abenteuer des Kapitäns Hatteras, 1874) 1867/1868 Les Enfants du capitaine Grant (Die Kinder des Kapitän Grant, 1874) 1869/1870 Vingt Mille Lieues sous les mers (20 000 Meilen unter den Meeren, 1874) 1870 Autour de la Lune (Reise um den Mond, 1873) 1871 Une Ville flottante (Eine schwimmende Stadt, 1875) 1872 Aventures de trois Russes et de trois Anglais dans l’Afrique australe (Abenteuer dreier Russen und dreier Engländer in Südafrika, 1874) 1873 Le Tour du monde en quatre-vingts jours (In 80 Tagen um die Welt, 1873) 1873 Le Pays des fourrures (Das Land der Pelze, 1875) 1874/1875 L’Île mystérieuse (Die geheimnisvolle Insel, 1875) 1875 Le Chancellor (Die Chancellor, 1875) 1876 Michel Strogoff (Der Kurier des Zaren, 1876) 1877 Hector Servadac (Reise durch das Sonnensystem, 1877) 1877 Les Indes Noires (Schwarz-Indien, 1877) 1878 Un Capitaine de quinze ans (Ein Kapitän von 15 Jahren, 1878) 1879 Les Cinq Cents Millions de la Bégum (Die 500 Millionen der Begum, 1879) 1879 Les Tribulations d’un Chinois en Chine (Die Leiden eines Chinesen in China, 1880) 1880 La Maison à vapeur (Das Dampfhaus/Der Stahlelefant, 1880)
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Anhang
1881 La Jangada. Huit cents lieues sur l’Amazone (Die »Jangada«, 1881) 1882 L’École des Robinsons (Die Schule des Robinson, 1885) 1882 Le Rayon vert (Der grüne Strahl, 1885) 1883 Kéraban-le-têtu (Keraban der Starrkopf, 1885) 1884 L’Étoile du sud (Der Südstern, 1885) 1884 L’Archipel en feu (Der Archipel in Flammen, 1885) 1885 Mathias Sandorf (Mathias Sandorf, 1887) 1886 Un Billet de loterie (Ein Lotterielos, 1887) 1886 Robur-le-conquérant (Robur der Eroberer, 1887) 1887 Nord contre Sud (Nord gegen Süd, 1888) 1887 Le Chemin de France (Der Weg nach Frankreich, 2012) 1888 Deux Ans de vacances (Zwei Jahre Ferien, 1888) 1889 Famille-sans-nom (Die Familie ohne Namen, 1891) 1889 Sans dessus-dessous (Kein Durcheinander, 1891) 1890 César Cascabel (Cäsar Cascabel, 1891) 1891 Mistress Branican (Mistress Branican, 1891) 1892 Le Château des Carpathes (Das Karpatenschloss, 1893) 1892 Claudius Bombarnac (Claudius Bombarnac, 1893) 1893 P’tit-bonhomme (Der Findling, 1894) 1894 Mirifiques Aventures de Maître Antifer (Meister Antifers wunderbare Abenteuer, 1894) 1895 L’Île à hélice (Die Propellerinsel, 1895) 1896 Face au drapeau (Vor der Flagge des Vaterlandes/Die Erfindung des Verderbens, 1896) 1896 Clovis Dardentor (Clovis Dardentor, 1896) 1897 Le Sphinx des glaces (Die Eissphinx, 1897) 1898 Le Superbe Orénoque (Der stolze Orinoco, 1898) 1899 Le Testament d’un excentrique (Das Testament eines Exzentrikers, 1899) 1900 Seconde Patrie (Das zweite Vaterland, 1901) 1901 Le Village aérien (Das Dorf in den Lüften, 1901) 1901 Les Histoires de Jean-Marie Cabidoulin (Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin, 1901) 1902 Les Frères Kip (Die Gebrüder Kip, 1902) 1903 Bourses de voyage (Reisestipendien, 1903) 1904 Un Drame en Livonie (Ein Drama in Livland, 1904)
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Werkverzeichnis
1904 Maître du monde (Der Herr der Welt, 1904) 1905 L’Invasion de la mer (Der Einbruch des Meeres, 1905) Posthume Romane der Außergewöhnlichen Reisen Die posthumen Romane liegen in zwei Fassungen vor. Zunächst wird die von Michel Verne überarbeitete Version mit dem französischen und dem deutschen Titel genannt; darunter befinden sich in eckigen Klammern, so weit gegeben, Hinweise zur Autorschaft und zur ersten Ausgabe der Originalfassungen Jules Vernes im Buchhandel. 1906 Le Phare du bout du Monde (Der Leuchtturm am Ende der Welt, 1906) [Originalmanuskript 1999 veröffentlicht] 1906 Le Volcan d’or (Der Goldvulkan, 1906) [Originalmanuskript 1995 veröffentlicht] 1907 L’Agence Thompson and Co. (Das Reisebüro Thompson und Co., 1907) [vollständig von Michel Verne verfasst] 1908 La Chasse au météore (Die Jagd nach dem Meteor, 1908) [Originalmanuskript 1988 veröffentlicht] 1908 Le Pilote du Danube (Der Donaupilot, 1908) [Originalmanuskript 1997 veröffentlicht] 1909 Les Naufragés du Jonathan (Die Schiffbrüchigen der »Jonathan«, 1909) [Originalmanuskript 1996 veröffentlicht unter dem Titel En Magel lanie] 1910 Le Secret de Wilhelm Storitz (Wilhelm Storitz’ Geheimnis, 1910) [Originalmanuskript 1996 veröffentlicht] 1910 Hier et demain (Gestern und morgen, 1910; Erzählungen: La Famille Raton; M. Ré-Dièze; La Destinée de Jean Morénas; Le Humbug; La Journée d’un journaliste américain en 2289; L’Éternel Adam) 1919 L’Etonnante Aventure de la mission Barsac (Das erstaunliche Abenteuer der Expedition Barsac, 1978) [Vollständig von Michel Verne verfasst] Weitere Romane Verzeichnet wird das Jahr der Entstehung, der Titel und das Datum der späteren Buchausgabe und, soweit gegeben, der deutsche Titel. 1846 Un Prêtre en 1839 (1992) 1859/1860 Voyage à reculons en Angleterre et Écosse (1989); Reise mit Hindernissen nach England und Schottland (1997)
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Anhang
1870/1871 L’Oncle Robinson (1991) 1863 Paris au XXe siècle (1994); Paris im 20. Jahrhundert (1996) Erzählungen (Auswahl) Verzeichnet wird das Datum der Erstpublikation, der französische Titel, eventuelle überarbeitete Fassungen sowie der übliche deutsche Titel und das Jahr der deutschsprachigen Erstveröffentlichung. 1851 Les premiers navires de la marine mexicane (Ein Drama in Mexiko, 1857) 1851 Un voyage en ballon; 1874 unter dem Titel Un drame dans les airs (Ein Drama in den Lüften, 1875) 1852 Martin Paz (Martin Paz, 1875) 1852 Les Châteaux en Californie ou Pierre qui roule n’amasse pas mousse 1854 Maitre Zacharius ou l’Horloger qui avait perdu son ame (Meister Zacharius, 1875) 1855 Un hivernage dans les glaces (Eine Überwinterung im Eise, 1875) 1864 Le Comte de Chanteleine (Der Graf von Chanteleine, 2012) 1865 Le forceurs de blocus (Die Blockadebrecher, 1875) 1872 Une Fantaisie du Docteur Ox (Eine Idee des Dr. Ox, 1875) 1875 Une Ville idéale (Eine ideale Stadt, 2002) 1886 Frritt-Flacc (Frritt Flacc, 1887) 1887 Gil Braltar (Gil Braltar, 1982) 1891 Aventures de la famille Raton. Conte de fées (Die Abenteuer der Familie Raton, 1989) 1893 Monsieur Ré-dièze et Mademoiselle Mi-bémol, 1910 von Michel Verne bearbeitet 1910 La Destinée de Jean Morénas; geschrieben von Michel Verne nach der Vorlage Pierre-Jean 1910 L’Éternel Adam; bearbeitet von Michel Verne (Der ewige Adam, 1967) 1910 Le Humbug, von Michel Verne überarbeitet; Vorlage von 1867 Bühnenwerke, Gedichte und Varia Die Texte werden nicht einzeln aufgeführt, siehe dazu vor allem die Sammelausgaben: Jules Verne: Histoires inattendues, Paris: 10/18, 1978 Jules Verne: Textes oubliés, Paris: 10/18, 1979
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Werkverzeichnis
Jules Verne: Poésies inédites, Paris: le cherche midi, 1989 Jules Verne: Théâtre inédit, Paris: le cherche midi, 2005 Jules Verne: Salon de 1857, hrsg. und kommentiert von Volker Dehs, 2008 (https://www.jules-verne-club.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/01/Fr_ Salon_1857.pdf) Jules Verne/Michel Verne: Die Welt der Messieurs Verne. Unterhaltsame Plaudereien, Geschichten und Gedichte. Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Frank, Bernhard Krauth, Meiko Richert, Ralf Tauchmann, Berlin: Dornbrunnen, 2018 Korrespondenz Correspondance inédite de Jules Verne et de Pierre-Jules Hetzel (1863–1886), hrsg. von Olivier Dumas, Piero Gondolo della Riva und Volker Dehs, 3 Bände, Genf: Slatkine, 1999, 2001 und 2002 Correspondance inédite de Jules et Michel Verne avec l’éditeur Louis-Jules Hetzel (1886–1914), 2 Bände, Olivier Dumas, Piero Gondolo della Riva und Volker Dehs, Genf: Slatkine, 2004 und 2006 La Correspondance Jules – Michel Verne, hrsg. von Volker Dehs und Piero Gondolo della Riva, Amiens: Encrage, 2018 Olivier Dumas: Jules Verne. Avec la publication de la correspondance inédite de Jules Verne avec sa famille, Lyon: La Manufacture, 1988 »Correspondance avec Mario Turiello«, in: Europe, 613 (1980), S. 103–138 Interviews Entretiens avec Jules Verne 1873–1905, hrsg. von Daniel Compère und JeanMichel Margot. Genf: Editions Slatkine, 1998 Periodika zu Jules Verne Bulletin de la Société Jules Verne, seit 1967 Revue Jules Verne, 1996–2015 Verniana. Jules Verne Studies, seit 2008 (online: http://www.verniana.org/)
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Anhang
Literaturverzeichnis
About, Edmond: »Le Jardin réservé«, in: Exposition universelle de 1867 illustrée. Publication internationale autorisée par la commission impériale, Bd. 1, Paris 1867, S. 66–78. Butcher, William: Jules Verne, New York: Thunder’s Mouth, 2006. Compère, Daniel: Jules Verne écrivain, Genf: Droz, 1991. Dehs, Volker: Bibliographischer Führer durch die Jules-Verne-Forschung. Guide bibliographique à travers la critique vernienne, Wetzlar: Phantastische Bibliothek, 2002. Dehs, Volker: Jules Verne. Eine kritische Biographie, Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2005. Dehs, Volker; Junkerjürgen, Ralf (Hrsg.): Jules Verne. Stimmen und Deutungen zu seinem Werk, Wetzlar: Phantastische Bibliothek, 2005. Evans, Arthur B.: »Jules Verne and the French Literary Canon«, in: Jules Verne: Narratives of Modernity, hrsg. von Edmund Smyth, Liverpool: Liverpool UP, 2000, S. 11–39. Dohrn-van Rossum, Gerhard: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München: Carl Hanser, 1992. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. Grimm, Reinhold: »Der ›wissenschaftliche‹ Roman als Paradigma des Populärromans. Zu Jules Vernes Cinq semaines en ballon«, in: Dehs/Junkerjürgen, S. 156–203. Jules-Verne, Jean: Jules Verne, Paris: Hachette, 1973. Kellner, Oliver; Marek, Ulf: Seewolf & Co. – Die großen Abenteuer-Vierteiler des ZDF, Berlin: Schwarzkopf und Schwarzkopf, 2005. Knafo, Danielle: »What’s in a Name? Psychoanalytic Considerations on Children of Famous Parents«, in: Psychoanalytic Psychology, 5 (3), (1991), S. 263–281. Junkerjürgen, Ralf: Spannung – Narrative Verfahrensweisen der Leseraktivierung. Eine Studie am Beispiel der Reiseromane von Jules Verne, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2002.
254
Literaturverzeichnis
Ritte, Jürgen: »Deutschland, Deutsches und Deutsche bei Jules Verne«, in: Dehs/Junkerjürgen, S. 244–263. Maertens, James: »Zwischen Jules Verne und Walt Disney«, in: Dehs/Junkerjürgen, S. 316–341. Margot, Jean-Michel: »History of Vernian Studies«, in: Verniana, 10, (2017/2018), S. 1–90. Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C. H. Beck, 2009. Parménie, A.; Bonnier de la Chapelle, C.: Histoire d’un éditeur et de ses auteurs P.-J. Hetzel, Paris: Albin Michel, 1953. Schmidt, Arno: »Dichter & ihre Gesellen: Jules Verne«, in: Dehs/Junkerjürgen, S. 100–115. Schnapper, Bernard: »La correction paternelle et le mouvement des idées au dix-neuvième siècle (1789–1914)«, in: Revue historique, 263, 2 (1980), S. 319–349. Taves, Brian: Hollywood Presents Jules Verne. The Father of Science Fiction on Screen, Kentucky: University Press, 2015. Taves, Brian: »Verne’s Best Friend and his Worst Enemy: I. O. Evans and the Fitzroy Edition of Jules Verne«, in: Verniana, 4, (2012), S. 25–54. Vierne, Simone : Jules Verne et le roman initiatique. Paris: Éd. du Sirac, 1973. Wolfzettel, Friedrich: Jules Verne. Eine Einführung, München: Artemis Verlag, 1988. Yon, Jean-Claude: Histoire culturelle de la France au XIXe siècle, Paris: Armand Colin, 2010.
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Anhang
Personenregister
About, Edmond 104 Adorno, Theodor W. 71 Alexander II. (Zar) 100 Alighieri, Dante 79 Allotte de la Fuÿe, Auguste 33 Allotte de la Fuÿe, Caroline 12 Amicis, Edmondo de 206 Apollinaire, Guillaume 176 Aragón, Jesús de 222 Arnault-Grossetière, Herminie 17 Balzac, Honoré de 18, 30, 33, 48, 49, 72, 87, 137, 189, 214 Banville, Théodore de 87 Baudelaire, Charles 41, 72, 87, 92, 238 Baudry, Paul 39 Beethoven, Ludwig van 70 Benett, Léon 181-184 Berr, Émile 208 Bismarck, Otto von 112 Bixio, Alexandre 183 Blanchard, Louis 149 Blanche, Émile-Antoine 147 Blanchère, Henri de la 99 Bly, Nellie 141 Bonamy, Édouard 22 Bonaparte, Louis Napoléon (Napoleon III.) 21, 29, 50, 241 Borgia, Rodrigo (Papst Alexander VI.) 20 Boucher de Perthes, Jacques 74 ff. Boussenard, Louis 221 Bréhat, Alfred de 43 Broca, Phillipe de 223
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Buffon, Georges-Louis Leclerc de 19, 167 Camp, Maxime du 108 Camper, Peter 168 Camus, Albert 172 Carré, Michel 29 Cavaignac, Louis-Eugène 23 Celle de Châteaubourg, François Charles Henry de la 12, 16 Chateaubriand, François-René 12, 238 Chatrian, Alexandre 189 Chavannes, Puvis de 164, 194 Chopin, Frédéric 70 Clésinger, Auguste 37 Comte, Auguste, 108 Cooper, James Fenimore 14, 30 f., 42, 88, 90, 94, 160, 171 f., 224 Courbet, Gustave 37 ff. Cuvier, Georges 74 Darwin, Charles 167 Daryl, Philippe (Pseudonym v. Grousset, Paschal) 117 Daudet, Alphonse 116 f. David, Jacques-Louis 27, 203 Defoe, Daniel 14, 161 Dehs, Volker 187, 233, 236 Delacroix, Eugène 40, 105 Delavigne, Casimir 151 Denayrouze, Louis und Auguste 98 Dewailly, Louis 132 Dézaunay, Émile 17 Dickens, Charles 89
Personenregister
Doré, Gustave 51 Dreyfus, Alfred 31, 200 f., 246 Drumont, Édouard 31 Dubochet, Jacques-Julien 49 Dumas, Alexandre der Ältere 18, 24, 27, 30, 46, 78, 89, 174 Dumas, Alexandre der Jüngere 24, 27, 195, 241 Dumas, Olivier 233 Duruy, Victor 55 Duveau, Louis 39 Ehrenberg, Christian Gottfried 106 Ennery, Adolphe d’ (Adolphe Dennery) 140, 244, 245 Erckmann, Émile 189 Eugénie (Kaiserin von Frankreich) 128, 243 Evans, Idrisyn Oliver 229 f. Fabre, Jean-Henri 55 Falret, Jules 187 Fawkes, Guy 20 Ferry, Jules 55, 66 Féval, Paul 24 Figuier, Louis 78 f. Flammarion, Camille 55 Fleischer, Richard 219 Fleming, Sandford 134 Fogg, William Perry 131 Furne, Charles 49 Garcet, Henri 34 Gaudry, Albert 75 Gautier, Théophile 30, 87 Genette, Gérard 140 Géricault, Théodore 105 Gérôme, Jean-Léon 39 Gervais, Ernest 59 Gobineau, Arthur de 65 Godefroy, Robert 123, 186, 245
Grousset, Paschal 117, 122, 245 Guimard, Marie-Madeleine 27 Guizot, François 15, 21, 55 Hachette, Louis 44, 52, 53, 212 Haggard, Henry Rider 53, 118 Hanska, Ewelina 34 Harmstorf, Raimund 231 Hédouin, Edmond 39 Hetzel, Pierre-Jules 43 f., 46-50, 52 f., 55 f., 68, 72 f., 78, 85 ff., 89, 92, 94 ff., 98 ff., 105, 111, 115-118, 126 ff., 135, 233, 236 f., 240-243, 245 Hetzel, Louis-Jules 94, 112, 189, 193 f., 203, 207-217, 233, 245, 247 Hignard, Aristide 22, 29, 34, 70, 112, 241, 242 Hoffmann, E.T.A. 30, 32, 41, 45 Holberg, Ludvig Baron von 79 Horkheimer, Max 71 Hübner, Sabine 236 Hugo, Victor 19 f., 23 f., 50, 118, 238 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 40 Kalscheuer, Claudia 236 Kant, Immanuel 112 Karl X., 22 Knafo, Danielle 149 Krupp, Alfred 121, 123, 134 Lamartine, Alphonse de 22, 23, 50, 72 Larousse, Pierre 44, 87, 141 Laurie, André (Pseudonym v. Grousset, Paschal) 53, 116, 118 Lavallée, Théophile 78, 98 Lavater, Johann Casper 137 Lefebvre, George 144 Lelarge, Auguste 34
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Anhang
Leo XIII. (Papst) 100 Lévy, Michel 47, 212 Liszt, Franz 70 Lorois, Émile 112 Louis Philippe (König von Frankreich) 20 ff., 241 Ludwig XI. 13 Macé, Jean 53, 55 Maertens, James 227 Martin, Charles-Noël 230 Mattey, Robert 227 Maupassant, Guy de 117, 119 f., 122, 197 Maurel, André 212 May, Karl 63, 96, 160 Meissonier, Ernest 39 Méliès, George 216, 225 Miller, James Walter 220 Molière 177 Montyon, Jean-Baptiste Baron von 56 Morel, Auguste 34 Musset, Alfred de 48 Nadar (Félix Tournachon) 61 Napoleon III. (Bonaparte, Louis Napoléon) 29, 111, 243 Neuville, Alphonse de 181 Nikolaus I. (Zar) 92 Nodier, Charles 48 Offenbach, Jacques 226 Paganini, Niccolò 70 Paton, Stuart 216, 226 Paulin, Alexandre 47 Perrault, Charles 51 f. Pitre-Chevalier (Pierre-Michel-François Chevalier) 30 Pizzetta, Jules 167
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Poe, Edgar Allan 33, 41-44, 92, 94, 131, 224, 242 Poincaré, Raymond 211 Pont-Jest, René de 184 f., 244 Radcliff, Anne 41 Raoul-Duval, Edgar 245 Reboul, Jeanne 159, 207, 245 Rigollot, Marcel Jérôme 74 Riou, Édouard 75 f., 79, 83, 113, 119 Ritte, Jürgen 122 Riva, Piero Gondolo della 215, 232 f., 248 Rochefoucauld, François de la 55 Rodin, Auguste 49 Rouquayrol, Benoît 98 Rousseau, Jean-Jacques 90 Roux, Georges 181 Salgari, Emilio 221 f. Sand, George 35, 48, 50, 78, 97, 189 Sand, Maurice 39 Schmidt, Arno 223 Scott, Walter 45 Scribe, Eugène 24 Semo, Jackel 211 Shakespeare, William 177 Sherard, Robert 130, 202 Speke, John Hanning 60 Spielberg, Steven 227 Staël, Germaine de 112, 114 Stahl, P.-J. (eigentlich Hetzel, PierreJules) 48, 53 Stendhal, 188 Stevenson, Robert Louis 53, 118 Sue, Eugène 24, 30, 46 Swift, Jonathan 234 Terrien de la Haye, Herminie 17, 33 Thalberg, Sigismund 70 Tocqueville, Alexis de 224
Personenregister
Tournachon, Félix (Nadar) 61 Train, George Francis 141 Tronson, Caroline 12, 17 Turiello, Mario 8, 89, 196, 201 Ulbrich, Walter 231 Valgalier, Thérèse Clémence 157, 245 Verdi, Giuseppe 69 Verlaine, Paul 87 Verne, Alexandre (Onkel v. Pierre) 11 Verne, Anna (Schwester v. Jules) 12, 241 Verne, Gaston (Sohn v. Paul) 123, 186 ff., 245 Verne, Georges (Sohn v. Michel) 159, 245 Verne, Honorine (Ehefrau v. Jules) 34 ff., 112, 142 f., 145, 177, 192, 194, 202, 206 f., 242, 244-247 Verne, Jean (Sohn v. Michel; auch Jean Jules-Verne) 159, 200, 215, 218, 245 Verne, Jean Jules (Sohn v. Jean) 219 Verne, Marcel (Sohn v. Paul) 188 Verne, Marie (Schwester v. Jules) 12, 241 Verne, Mathilde (Schwester v. Jules) 12, 241 Verne, Maurice (Sohn v. Paul) 245
Verne, Michel (Sohn v. Jules) 9, 26, 44, 94, 128, 142, 144-159, 187, 189, 190-193, 200 ff., 207-219, 223, 237, 240, 242, 244-247 Verne, Michel jr. (Sohn v. Michel) 159, 218, 245 Verne, Paul (Bruder v. Jules) 12, 14 f., 19, 98, 122 f., 145, 151, 186, 188, 201, 241, 243, 245, 247 Verne, Pierre (Vater v. Jules) 11 f., 19, 24 f., 28, 35, 127 f., 237, 241, 244 Verne, Sophie (Mutter v. Jules) 11 f., 127, 241 Vierne, Simone 82 Villeneuve, Raymond Ducrest de 218 Vinci, Leonardo da 203 Viollet-Le-Duc, Eugène 55 Wagner, Richard 69 Weber, Carl Maria von 70 Wells, Herbert George 202 f., 226, 234 Wilhelm II. (dt. Kaiser) 207 Williamson, Ernest 226 Williamson, George 226 Wowtschok, Marko 188 Wyss, Johann David 14, 55, 161 Zola, Émile 92, 160, 194-202, 238
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Anhang
Abbildungsnachweis
S. 38, 40: Verlagsarchiv S. 47, 54, 150, 206, 213: Sammlung Volker Dehs S. 51: Les contes de Perrault. Dessins par Gustave Doré. Préface par P.-J. Stahl, Paris: Hetzel, 1862. S. 65, 67: Jules Verne: Cinq semaines en ballon, Paris: Hachette, 1966. S. 80: Louis Figuier: La terre avant le déluge, Paris: Hachette, 1866. S. 81, 84, 85, 114: Jules Verne: Voyage au centre de la terre, Paris: Hachette, 1966. S. 99, 121: Exposition universelle illustrée. Publication internationale autorisée par la commission impériale, Paris 1867. S. 103, 107, 109, 110, 180: Jules Verne, Vingt mille lieues sous les mers, Paris: L’Ormeraie, 1975. (Nachdruck der Großoktavausgabe Édition Hetzel) S. 119: Jules Verne: Les 500 millions de la bégum, Paris: Hachette, 1966. S. 145 Musée Jules Verne, Nantes (cliché Frank Pellois) S. 165 akg-images S. 166, 170: Jules Verne: L’île mystérieuse, Paris: Hachette, 1966. S. 179, 183: Jules Verne: Mathias Sandorf, Paris: L’Ormeraie, 1977. (Nachdruck der Großoktavausgabe Édition Hetzel) S. 182: Nadar. Ausstellungskatalog, München: Schirmer/Mosel, 1995. S. 199: Jules Verne: De la terre à la lune, Paris: Hachette, 1966. S. 209: Jean Verne S. 225: George Méliès: Le voyage dans la lune, 1902, https://www.youtube.com/ watch?v=_FrdVdKlxUk S. 228, 229: 20.000 Meilen unter den Meeren. DVD. Special Edition, München: Buena Vista, 2003. S. 231: Michael Strogoff. Der Kurier des Zaren, 2 DVDs, München: Concorde, 2006. S. 235: Jules Verne: Maître du monde, Toulouse: Ombres, 1997.
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Personenregister
Danksagung
Beim Verfassen des Textes konnte ich auf vielfältige Hilfe zählen, für die ich mich herzlich bedanken möchte: bei Volker Dehs für wertvolles Material und zahlreiche Verbesserungsvorschläge, bei Annette Scholz für ihre einfühlsame Lektüre und ihren klugen Rat, bei Anna-Lisa Stadler für ihren nimmermüden Einsatz bei der Formatierung und technischen Fragen, bei Bernard Sinoquet für seine Beratung bei der Einsicht des Verne-Bestands der Stadtbibliothek von Amiens, bei Jean Verne für die freundliche Genehmigung, einige Illustrationen abzudrucken, weiterhin für wichtige Hinweise bei Heide-Marie Weig und Hermann Wetzel und last not least bei Cristina Alonso-Villa für ihr offenes Ohr, ihre lange Geduld und ihre tägliche Unterstützung.
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Wissen verbindet uns Die wbg ist eine Gemeinschaft für Ent deckungsreisen in die Welt des Wissens. Wir fördern und publizieren Wissenschaft und Bildung im Bereich der Geisteswissenschaften. So bringen wir Gleichgesinnte zusammen und bieten unseren Mitgliedern ein Forum, um sich an wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu beteiligen. Als Verein erlaubt uns unser gemeinnütziger Fokus, Themen sichtbar zu machen, die Wissenschaft und Gesellschaft bereichern. In unseren Verlagen erscheinen jährlich über 150 Bücher aus den Bereichen Geschichte, Archäologie, Kunst, Literatur, Philosophie und Theologie. Als Vereinsmitglied fördern Sie wichtige wissenschaftliche Publikationen sowie den Austausch unter Akademikern, Journalisten, Professoren, Wissenschaftlern und Künstlern. Mehr Informationen unter www.wbg-wissenverbindet.de oder rufen Sie uns an unter 06151/3308-330.
Über den Inhalt Jules Verne (1828–1905) ist immer noch der meist übersetzte französische Autor. Seine populären Abenteuerromane sind längst Klassiker und wurden unzählige Male verfilmt. Ralf Junkerjürgen schildert lebhaft die Lebensstationen des Erfolgsautors und entdeckt sein Werk als Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts, die Wissenschaft, Kulturund Technikgeschichte in sich vereint.
Über den Autor Ralf Junkerjürgen ist seit 2007 Professor für romanische Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Er hat bereits zahlreiche Publikationen zu Jules Verne vorgelegt. Sein Forschungsschwerpunkt ist die französische Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts.