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German Pages 111 [112] Year 2002
Grundlagen der Medienkommunikation Herausgegeben von Erich Straßner
Band 12
Ralf Vollbrecht
Jugendmedien
Niemeyer
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vollbrecht, Ralf: Jugendmedien / Ralf Vollbrecht. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Grundlagen der Medienkommunikation ; Bd. 12) ISBN 3-484-37112-9
ISSN 1434-0461
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Anne Schweinlin, Tübingen Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhaltsverzeichnis 1. Näherungen 1.1. Funktionen von Medien im Jugendalter 1.2. Mediennutzung und Freizeitaktivitäten Jugendlicher 1.3. Nutzungsdauer von Medien 1.4. Medienreichweite 1.5. Subjektive Wichtigkeit von Medien für Jugendliche 1.6. Medienimages 2. ,Alte' Medien: Trends und Deutungen 2.1. Neue Wahrnehmungsweisen 2.1.1. Die Beschleunigung der Medien 2.1.2. Inklusion in virtuelle Welten und postmoderne Ironisierung 2.2. Hörfunk und Fernsehen 2.3. Video 2.4. Kino 2.5. Lesen 2.5.1. Tageszeitungen 2.5.2. Bücher 2.6. Manga und Anime 3. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien 3.1. Computerspiele 3.2. Weitere Computeranwendungen 3.3. Vernetzte Medienwelten 3.3.1. Internet 3.3.2. Online-Computerspiele und Multi-User-Spiele 3.3.3. „Napstern": MP3-Musik-Downloads 3.4. Kommunikative Netz-Dienste: News - Chats - Email 3.4.1. News/Newsgroups 3.4.2. Chats und Email 3.4.3. Besonderheiten virtueller Schriftkommunikation 3.5. Pager und Mobiltelefone
1 2 5 8 10 11 13 15 15 15 16 19 25 26 31 31 33 37 42 42 46 47 48 49 50 51 51 52 54 58
VI 4. Selbstsozialisation in virtuellen Welten 4.1. Die Bedeutung von Peergroups und Jugendkulturen für die Mediensozialisation 4.2. Identitätsfindung und Sinnstiftung in virtuellen Welten 4.3. Horrorvideo-Fans 4.4. „Boygroups" als Projektionsflächen 4.5. Parasoziale Interaktion 4.6. Virtuelle Stars 5. Werbung und Konsum 6. Förderung von Medienkompetenz 7. Literatur
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1.
Näherungen
Jugendliche wachsen heute in komplexen Medienwelten auf. Der Ausdruck „Medienwelten" konzentriert begrifflich den Tatbestand, dass Medien heute nicht mehr nur als technische Installation in wenigen Räumen zur Verfügung stehen, sondern die Alltagswelt in Familie, Schule und Freizeit durchdringen in unterschiedlicher Bündelung und differenten Angeboten (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, 12).
Eine solche ganzheitliche, medienökologische Betrachtung bleibt nicht bei Angaben zu Medienbesitz und Mediennutzung stehen, sondern bezieht Fragen nach Medienwirkungen, nach dem aktiven Umgang mit den Medien, nach sozialen Kontexten, lebensweltlichen Bindungen, unterschiedlichen Medienorten, differenten Milieus mit ein. Bemerkenswert ist nicht nur, dass Medien aller Art in den Alltag eingebunden sind, und sowohl die Berufswelt als auch die Freizeit verändern, sondern auch, dass Medien den Lebenszyklus des Heranwachsenden in allen Stationen begleiten als symbolisch über Zeichen und Zeichensysteme allgegenwärtige Sozialisationsagenturen. Neben Familie, Schule und Peergroups bilden die Medien heute eine vierte wichtige Sozialisationsinstanz, die die Welterfahrung von Jugendlichen nachhaltig prägt und strukturiert. Jugendliche gehen in der Regel recht unbefangen mit Medien um. Während Erwachsene viele Medien als neue technische Entwicklungen erleben, die die Kommunikationsmöglichkeiten erweitern und verändern, sind sie für heutige Jugendliche , immer schon dagewesen'. Sie sind mit Kabel- oder Satellitenfernsehen, Videorecorder, CD-Player oder Computer und Computerspielen aufgewachsen und auch für diejenigen, in deren Familie diese Geräte nicht vorhanden waren oder sind, sind diese Medien nichts prinzipiell Neues. In den letzten Jahren hat auch die Haushaltsausstattung mit Medien weiter stark zugenommen. Nach einer Untersuchung der „Stiftung Lesen" (2001) stieg von 1992 bis 2000 die Ausstattung mit Kabel- oder Satellitenfernsehen von 59% auf 96%, mit Videorecorder von 50% auf 79%, mit Videokamera von 9 % auf 19%, mit CDPlayer von 34% auf 56%, mit Stereoanlage von 63% auf 72%, mit DVD-Player von 0 % auf 5 % und mit Computer von 13 % auf 33 %. Am stärksten zugenommen hat jedoch bei den Jugendlichen die Ausstattung mit elektronischen Geräten und liegt heute meist deutlich über dem Durchschnitt der Erwachsenen.
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Das gilt insbesondere für Videorecorder (97%), Videokameras (30%), CD-Player (82%), Stereoanlagen (92%), PCs (70%) und Handys (56%). Bei PCs beträgt die Zuwachsrate 47 Prozentpunkte und ist damit doppelt so groß wie im Durchschnitt der Haushalte (Franzmann 2001, 90).
Allein diese Zahlen verdeutlichen schon, dass die Bedeutung von Medien im Jugendalter kaum zu überschätzen ist. Wie immer wir dazu stehen: die kulturelle Symbolvermittlung und Symbolverhandlungen sind heute medial signiert. Das ist ein zu akzeptierendes Faktum. Medien, die heute in alle Lebensweltkontexte hineinwirken, bieten den Jugendlichen auch den Kitt, der das ansonsten zersplitterte soziale Erleben zusammenhält. Wie Jugendliche sich in ihren je eigenen Medienwelten positionieren, wie und welche Medien sie nutzen, welche Bedeutung und Funktionen Medien für sie haben und wie dies pädagogisch zu deuten und zu bewerten ist, ist Thema dieses Buches.
1.1. Funktionen von Medien im Jugendalter Medien können unterschiedlichste Bedürfnisse befriedigen, dienen unterschiedlichen Zwecken oder anders gesagt: sie haben unterschiedliche Funktionen in unserem Alltag. In der Regel nutzen wir alle Medien multifunktional. Selbst Medien, die - wie die Zeitung - hauptsächlich einem einzigen Zweck (Information) zu dienen scheinen, werden z.B. auch zur Unterhaltung genutzt. Das Fernsehen dient zur Unterhaltung, eignet sich besonders gut zum Vertreiben von Langeweile, bedient Escapismus-Motive (Flucht aus dem Alltag) und ist auch ein Beispiel für einen habitualisierten Medienkonsum, für den die Inhalte erst an zweiter Stelle bedeutsam werden, wenn etwa regelmäßig nach dem Abendessen der Fernseher eingeschaltet wird nach dem Motto: „Schauen wir mal, was kommt". Musikmedien dienen gerade Jugendlichen vor allem zur Stimmungsregulierung etc. Darüber hinaus haben Medien soziale Funktionen, wenn beispielsweise in Familien oder jugendlichen Peergroups Medieninhalte zu Gesprächsanlässen werden. Man kann insgesamt also von einer Funktionsvielfalt der Medien sprechen. Diese Funktionen lassen sich nicht einzelnen Medien zuordnen, auch wenn manche Medien bestimmte Funktionen besonders gut erfüllen können. Entscheidend sind jedoch die subjektiven Bedürfnisse der Mediennutzer, die sich aus der Fülle der Medienangebote ihr eigenes Medienmenü zusammenstellen. Diese Zusammenstellung ist nicht zufällig, sondern abhängig von Interessen und Vorlieben, Anregungen und eingeschliffenen Gewohnheiten, medienbiographischen Erfahrungen, Lebenslagen sowie den persönlichen und entwicklungsbezogenen Themen, die jeweils gerade relevant sind.
Funktionen von Medien im Jugendalter
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Eine der in der Medienforschung - wegen ihres Aufwands und der damit verbundenen Kosten - seltenen Längsschnittstudien untersuchte die Funktionen von Medien im Prozess des Heranwachsens bei 13- bis 20jährigen Jugendlichen (Barthelmes/Sander 2001). Das Ziel dieser Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zu Medienerfahrungen von Jugendlichen in Familie und Peergroup bestand darin herauszufinden, wie sich im Durchlaufen der Jugendphase der Stellenwert der Medien und der Mediennutzung im Alltag von Jugendlichen verändert. Im einzelnen ging es darum, welche Bedeutung Jugendliche den Medien beimessen, inwieweit Medien dazu dienen, Entwicklungsaufgaben und Themen zu bearbeiten, welchen persönlichen Gewinn oder sozialen Nutzen Jugendliche aus ihrer Mediennutzung ziehen und inwieweit Selbstbildungsprozesse durch Medien gefördert werden (vgl. Barthelmes 2001, 84). Diese Studie ist deshalb besonders interessant, weil sie eng anknüpft an die Lebenswelten der Jugendlichen, neben der Mediennutzung auch die (Medien-) Erziehungskonzepte in den Familien sowie Peer-Einflüsse berücksichtigt (also die sozialökologische Einbettung der Mediennutzung) und durch die Wiederholungsbefragungen (1992, 1994 und 1998) die medienbiographische Entwicklung der Jugendlichen genauer erfasst, als dies im bloßen Querschnittsvergleich möglich wäre. Bestätigt wird ein Ergebnis der Studie „Medienwelten Jugendlicher" (Baacke/ Sander/Vollbrecht 1991), dass nämlich die Medien zwar einen großen Stellenwert für Jugendliche haben, jedoch das Zusammensein mit Freundinnen und Freunden weit höhere Priorität genießt. Darüber hinaus zeigt sich, dass der Medienumgang und die Mediennutzung sich in der Jugendzeit ständig verändern und zunehmend eine kritische Distanz gegenüber den Medien aufgebaut wird. Beispielsweise spielt das Fernsehen bei 13- bis 14jährigen noch eine große Rolle, während mit 15 oder 16 Jahren ein Sättigungseffekt bei den Jugendlichen eintritt. „Durch das wiederholte Sehen von Serien und Spielfilmen ist ihnen vieles mittlerweile bekannt, zumal die meisten Serien immer „nach dem gleichen Strickmuster" gebaut seien. Aus den 13- bis 14jährigen Vielsehern werden mit 15 oder 16 Jahren Normalseher" (Barthelmes 2001, 85). Hinzukommt, dass in diesem Alter die Pflege von Freundschaftsbeziehungen und Peer-Kontakten wichtiger wird, mehr Zeit aufgewandt wird für schulische und andere Verpflichtungen und auch andere Medien an Bedeutung gewinnen (z.B. Kino, Musikmedien, Computer). „Davon unabhängig bleiben viele Jugendliche ihren früheren Lieblingsfilmen und ihrer Lieblingsmusik treu" (ebd.). Das frühe Jugendalter wirkt also durchaus geschmacksprägend. Ein wichtiges Ergebnis der Studie besteht darin, wie sehr die Medienvorlieben der Jugendlichen durch die jeweilige Entwicklungsphase geprägt werden (ebd., 87). Jungen bevorzugen beispielsweise zunächst Actionfilme und wenden sich später auch Beziehungsfilmen und Dramen wie „Schindlers Liste" zu. Mädchen bevorzugen zunächst meist romantische Beziehungsfilme, beschäftigen sich später auch mit den schmerzhaften Seiten der Liebe und erweitern ihre
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Interessen ebenso auf Action- und Abenteuerfilme, in denen sie sich z.B. mit Aspekten der Gewalt und des Bestehens schwieriger Situationen auseinander setzen. Die Wiederholungsbefragungen ermöglichten es, die Jugendlichen auch mit ihren früheren Medienvorlieben zu konfrontieren. Dabei zeigte sich, dass die Jugendlichen oft selbst darüber erstaunt waren, von welcher Musik, welchen Filmen oder Stars sie früher begeistert waren. Der Medienumgang der Jugendlichen ist sowohl themenzentriert als auch „flanierend" (ebd.). Das meint, dass einerseits durchaus eine bewusste Auswahl getroffen wird, andererseits jedoch auch das Programm abgesucht wird, bis man an einem interessanten Angebot hängen bleibt, das die Themen, Fragen oder auch die Lebenssituationen der Jugendlichen widerspiegelt. Insbesondere die Lieblingsfilme der Jugendlichen haben immer mit ihrer pesönlichen Situation symbolisch oder unmittelbar zu tun. Diese Filme sind daher ein Schlüssel zur Situation und den Themen der Jugendlichen. In der medienpädagogischen Filmarbeit wird dies häufig genutzt, indem als Einstieg eine medienbiographische Reflexion gewählt wird. Denn „wer etwas über einen Medieninhalt erzählt, der erzählt meist auch eine Geschichte aus seinem eigenen Leben, denn diese Nacherzählungen über Mediengeschichten enthalten zugleich eine Fülle von eigenen Interpretationen, Gedanken und Gefühlen" (ebd., 86). Die Themen der Jugendlichen kreisen - wie ihre Lieblingsfilme zeigen - vor allem um Frauen- und Männerbilder sowie die Verlässlichkeit von Beziehungen, den Wunsch nach Nähe und emotionaler Sicherheit. Wenn Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen und Themen in den Medien wiederfinden, kommt es zu einem intensiven Medienerleben. Hier gewinnen Medien eine große Bedeutung für die Selbstvergewisserung der Jugendlichen - ein Prozess, der mit etwa 13 bis 14 Jahren beginnt, wenn sich die persönlichen Themen (z.B. Abgrenzung gegenüber den Eltern oder der überfürsorglichen Mutter, Rebellion gegenüber Autoritäten etc.) herausbilden. Mit 15 bis 16 Jahren wird das persönliche Thema dann deutlicher und wird den Jugendlichen noch länger beschäftigen. Erst später wird den Jugendlichen ihr jeweiliges Thema deutlich bewusst. Überraschend ist, dass bestimmte frühere Lieblingsfilme den Jugendlichen noch fünf Jahre später wichtig waren. Dies lässt sich so deuten, dass die darin angesprochenen Themen und Problemlagen ihre Aktualität über einen längeren Zeitraum behalten. Natürlich bedeutet dies alles nicht, dass sich jede Mediennutzung auf ein persönliches oder Entwicklungsthema etc. zurückführen lässt, aber genau diese Medieninhalte sind von besonderer Relevanz. In den Medien suchen und finden die Jugendlichen neue Aspekte ihres jeweiligen Themas, stellen ihr Selbstbild und ihre Weltsicht in Frage und entwickeln sich daran auch weiter. Eine soziale Funktion der Medien ist darin zu sehen, dass Medieninhalte sowohl in Peergroups als auch in Familien ein selbstverständlicher Bestandteil der Alltagskommunikation sind und die Medien auch einen Rahmen für gemeinsame Tätigkeiten abgeben.
Mediennutzung und Freizeitaktivitäten Jugendlicher
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Entgegen der geläufigen Auffassung, dass beispielsweise das Fernsehen die Familienmitglieder voneinander isoliert, wird in den von uns befragten Familien meist sehr viel über das Fernsehen und andere Medien geredet. Dieses gemeinsame Austauschen findet etwa bis zum 15. Lebensjahr statt (Barthelmes 2001, 88).
Vonseiten der Eltern ist dies möglicherweise auch als Kontrolle oder Verstehenwollen des Medienkonsums ihrer Kinder zu sehen. Die Jugendlichen nutzen die Gespräche über Medien ihrerseits dazu, eigene Wünsche, Ängste, Fragen oder Probleme anzusprechen, ohne direkt über sich selbst oder z.B. eine anstehende Trennung der Eltern reden zu müssen. Für die Eltern ergibt sich so eine gute Möglichkeit zu erfahren, was die Jugendlichen gerade beschäftigt. Gerade über heikle Themen können die Generationen so leichter ins Gespräch kommen, da die Medien selbst kaum Thementabus kennen. Jugendliche verwenden dabei auch das Stilmittel der Provokation, um die Eltern, aber auch sich selbst zu testen. Für die Eltern ist es daher ratsam, solche Provokationen tatsächlich auch als Test zu verstehen, also als Frage und nicht als gefestigten Standpunkt. Umgekehrt lernen die Jugendlichen auch etwas über ihre Eltern, etwa warum diese bestimmte Inhalte heftig ablehnen, die vielleicht mit ihrer eigenen Medienbiographie zu tun haben. Medienbezogene und mehr noch medienbiographische Gespräche sind in dieser Hinsicht ein Beispiel für eine pädagogische Strategie, die Dieter Baacke als „Austausch von Kompetenzen" (2000, 328ff.) bezeichnete. Die Studie zeigt auch, wie stark handlungsleitend das unmittelbare Vorbild des elterlichen Medienumgangs wirkt. Selbst Peergroup-Einflüsse können in der Familie geprägte Mediengewohnheiten nicht verdrängen. Im Sinne Bourdieus (1982) könnte man hier von einem kulturellen Kapital sprechen, das in den Familien vererbt wird. Auch wenn Jugendliche dieses Familienerbe vorübergehend stark in Frage stellen, bleibt es dennoch wirksam. Es ist schon erstaunlich, dass Jugendliche bzw. junge Erwachsene mit 19 oder 20 Jahren „sogar dieselben Sitzarrangements und Vorlieben sowie jene Gewohnheiten [pflegen], die sie aus ihrer jeweiligen Familie kennen und als Kind früher erlebt haben" (ebd., 89). Es ist daher mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Eltern vor allem ihren eigenen Medienumgang reflektieren sollten.
1.2. Mediennutzung und Freizeitaktivitäten Jugendlicher In der Freizeitgestaltung Jugendlicher haben Medien einen hohen Stellenwert und scheinen sie auch zeitlich zu dominieren. Daneben haben auch sportliche Aktivitäten eine große Bedeutung für Jugendliche. Zu beachten ist, dass die am häufigsten ausgeübten und zeitlich aufwendigsten Freizeittätigkeiten keineswegs durchgängig auch die beliebtesten sind. Mitentscheidend für die Auswahl ist die sozialökologische Valenz der jugendlichen Lebenswelten, die ihnen sehr unter-
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schiedliche Optionen bieten. Dies bezieht sich zum einen auf die Ausstattung mit Medien und anderen Freizeitmöglichkeiten. Wenn beispielsweise Jugendliche in Ostdeutschland weit mehr fernsehen als westdeutsche Jugendliche, so ist dies vor allem auf die unterschiedlich ausgebaute Freizeitinfrastruktur zurückzuführen. Sozialökologische Valenz bezieht sich zum anderen auch auf das kulturelle Kapitel im Sinne Bourdieus (1982), das Jugendliche in ihrer konkreten Lebenswelt erwerben können bzw. erworben haben. Gerade für die Mediennutzung ist dabei das Ökologische Zentrum, also die Familie bedeutsam, da hier der Umgang mit Medien vorgelebt und eingeübt wird und sich eher seiegierende oder eher konsumierende Arten des Medienumgangs entwickeln und verfestigen. Zu den beliebtesten Freizeittätigkeiten von Jugendlichen gehören - seit den 50er Jahren unverändert auf Platz eins - kommunikativ-gesellige Aktivitäten, die natürlich auch von Medien begleitet sein können. Der in den achtziger Jahren sichtbar gewordene Trend, Freizeit vermehrt außer Haus zu verbringen, hat sich - den Ergebnissen der „Langzeitstudie Massenkommunikation" (Berg/Kiefer (Hg.) 1996) zufolge - dagegen nicht fortgesetzt. Im Unterschied zu Erwachsenen favorisieren Jugendliche jedoch immer noch die außerhäusliche Freizeitnutzung. Sogar leicht zugenommen haben in den 1980er Jahren die »kulturellen Praxen' - darunter versteht man z.B. Zeichnen, Malen, Musizieren, Theater- und Konzertbesuche - sowie sportliche Aktivitäten (vgl. Shell-Studie '85). Es kommt durch Medien also nicht zu Verdrängungseffekten, sondern es gilt: Wer Medien vielfältig zu nutzen weiß, ist auch eher aktiv, gesellig, sportlich und kreativ. Die „Media Analyse 2000" (Media Perspektiven, Basisdaten 2000, 69) gibt einen Überblick über „Mediennutzung und Freizeitbeschäftigung". Angegeben ist der Prozentanteil der 14- bis 19jährigen Jugendlichen (in Klammern: der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren), die mehrmals in der Woche die angegebenen Tätigkeiten ausüben: Zeitungen lesen Zeitschriften, Illustrierte lesen Bücher lesen
Fernsehen Radio hören Schallplatten / CDs / Kassetten hören Videokassetten ansehen Ins Kino gehen Theater/ Konzert Handarbeiten / Basteln / Heimwerken Sport treiben, trimmen Ausgehen (Kneipe, Diskothek)
58,5 38,1 30,9 90,4 81,4 80,1 13,2 1,5 0,4 10,5 63,5 35,0
(84,3) (40,5) (33,9) (90,0) (84,3) (44,3) (8,3) (0,5) (0,3) (22,0) (35,1) (13,8)
Bereits diese knappe Übersicht zeigt, dass Jugendliche zum Teil andere Freizeitaktivitäten bevorzugen als Erwachsene. Sie nutzen deutlich mehr die Musik-
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medien (Schallplatten/CDs/Kassetten), gehen wesentlich häufiger aus (Kneipe/ Disko/Kino), treiben mehr Sport und sehen häufiger Videos. Dagegen lesen sie weniger Zeitung und beschäftigen sich auch weniger mit Handarbeiten, Basteln und Heimwerken. Hinzuweisen ist generell darauf, dass gerade im dynamischen Feld der Medien die Datenlage sich rasch verändert. Daten sollten daher nicht verabsolutiert werden. Statt dessen sind sie zu interpretieren als ungefähre Größenordnungen, deren Relation (zu anderen Altersgruppen und Teilpopulationen) dann sehr wohl Rückschlüsse zulassen und aus deren Veränderungen sich Trends der Mediennutzung ablesen lassen. Die „Langzeitstudie Massenkommunikation", bei der alle fünf Jahre Daten erhoben werden, zeigt nicht nur Momentaufnahmen der Mediennutzung, sondern lässt auch Rückschlüsse auf langfristige Veränderungen zu. Aus der Studie lassen sich vor allem vier Schlußfolgerungen ziehen. So gibt es: 1. 2. 3. 4.
wenig Hinweise auf eine dramatische und anhaltende Reduzierung der Zeit für nichtmediale (Freizeit-)Aktivitäten; wenig Hinweise auf eine dramatische Reduzierung der Zeit für die Nutzung von Hör- und Printmedien; deutliche Hinweise auf eine wachsende Spezialisierung im Umgang mit neuen und alten Medien, zum Beispiel in Richtung Unterhaltung; wenig Hinweise, dass neue Medienangebote neue Publikumsinteressen wecken, vielmehr bedienen und verstärken sie die bestehenden, die nun jederzeit auf ein Angebot treffen (Berens/Kiefer/Meder 1997, 80).
Ferner wird in der Studie darauf hingewiesen, dass das Fernsehen als häusliche Freizeitbeschäftigung in den letzten Jahren in der Gesamtbevölkerung „spürbar an Bedeutung gewonnen" hat (ebd., 81). Für alle Altersgruppen gilt, dass die sogenannten ,Wenigseher' ein regeres Freizeitverhalten als ,Vielseher' haben, deren generelles Profil gekennzeichnet ist durch die drei Merkmale: ältere Personen, untere soziale Schichten, geringes Einkommen (Schulz 1997, 93ff.). Zu beachten ist, dass Viel- bzw. Wenigseher relative Kategorien sind. Als Vieloder Wenigseher fasst man üblicherweise das obere bzw. untere Quartil (Viertel) einer Population hinsichtlich der Sehdauer. Es gibt also in allen Altersgruppen immer etwa 25 % Viel- und 25 % Wenigseher - unabhängig von den tatsächlichen Nutzungszeiten, die bei vielsehenden Kindern und Jugendlichen niedriger ausfallen als bei Erwachsenen.
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1.3. Nutzungsdauer von Medien Einen genaueren Einblick in die Bedeutung von Medien in der Freizeit von Jugendlichen als die anfangs genannten Daten zu „mindestens wöchentlich" ausgeübten Tätigkeiten gibt die Nutzungsdauer der einzelnen Medien. Zur Beschreibung des Umfangs der Mediennutzung verwenden medienwissenschaftliche Statistiken zumeist drei unterschiedliche Angaben: die Nettoreichweite, die Sehdauer (allgemeiner: Nutzungsdauer) und die Verweildauer. Die Nettoreichweite gibt an, wieviel Prozent der Bevölkerung (oder einer untersuchten Teilgruppe) während eines Tages mindestens eine Minute am Stück (d.h. konsekutiv) z.B. vor dem Fernseher verbracht haben. Die Nettoreichweite ermöglicht also Aussagen darüber, wie groß der Anteil in der untersuchten Personengruppe ist, der vom Medium überhaupt erreicht wird. Diese Angaben sind von besonderem Interesse für die Produzenten und Rundfunksender, um die Nachfrage nach einzelnen Sendungen und im Hinblick auf verschiedene (z.B. als konsumfreudig geltende und durch Werbemaßnahmen beeinflussbare) Zuschauergruppen festzustellen. Die Nettoreichweite des Fernsehens betrug z.B. bei den 12- bis 19jährigen 1997 59% (Gerhards/Klingler 1998, 180). Die Sehdauer (Nutzungsdauer) gibt dagegen an, wie lange diese Personengruppe durchschnittlich pro Tag das Medium nutzt (z.B. fernsieht). Dieser Durchschnittswert, in dem auch die Nicht-Seher berücksichtigt sind, lag 1997 für die 12- bis 19jährigen Jugendlichen bei 111 Minuten pro Tag (ebd.). Die Verweildauer bezieht sich im Unterschied zur Nutzungsdauer nur auf diejenigen, die tatsächlich das Medium nutzen, also z.B. fernsehen, und lag für unsere Beispielgruppe im Jahr 1997 bei 187 Minuten (ebd.). Sind nur zwei dieser Werte angegeben, lässt sich der dritte leicht berechnen nach der Formel „Nettoreichweite χ Verweildauer = Sehdauer". Im Grunde benötigt man also mindestens zwei dieser Angaben, um den Umfang der Mediennutzung einschätzen zu können. Denn aus der bloßen Angabe der Sehdauer, z.B. durchschnittlich vier Minuten pro Tag beim Videokonsum von Jugendlichen (2000), lässt sich nicht erkennen, ob viele Jugendliche nur kurze Zeit Video schauen oder wenige Jugendliche entsprechend länger. Insgesamt stellt sich die Datenlage für Jugendliche etwas unbefriedigend dar. Im Unterschied zu Kindern (3- bis 13jährige), die als gesonderte Altersgruppe erfasst werden, werden Jugendliche z.B. in der jährlichen „Media Analyse" der Kategorie „Erwachsene ab 14 Jahre" zugeschlagen und erscheinen gesondert nur in altersspezifizierten Tabellen. Diese geben in der Regel jedoch nur die Nutzungsdauer an, so dass man auf Sonderauswertungen (aus denen z.B. die oben genannten Daten für 1997 stammen) oder spezielle Jugendstudien zurückgreifen muss. Letztere arbeiten aber häufig mit anderen Methoden und Stichprobenzusammensetzungen oder verfolgen spezielle Fragestellungen, so dass Vergleiche
Nutzungsdauer von Medien
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nur bedingt möglich sind. Notwendig wären mehr Fallstudien zum jugendlichen Medienalltag, die den Medienumgang in seiner Einbettung in konkrete Lebenswelten und die subjektiven Deutungen der Jugendlichen erfassen. Aufgrund der schwierigen Datenlage sowie aus Gründen der Übersichtlichkeit der Darstellung wird im folgenden zunächst nur die Nutzungsdauer ausgewiesen, sofern nicht ausdrücklich eine andere Kategorie angegeben ist. Ausgewählte Angaben zur Medienreichweite werden weiter unten vorgestellt. Die 14- bis 19jährigen wandten im Jahr 2000 für das Fernsehen durchschnittlich 159 Minuten pro Tag auf (Media Analyse, zit. n. Media Perspektiven Basisdaten 2000, 68). Dies ist im Vergleich der letzten 10 Jahre eine deutliche Zunahme, die jedoch ebenso deutlich geringer ausfällt als bei den Erwachsenen. Je nach Quelle differieren die Daten etwas. Darschin/Kayser (2000, 146) geben für 1999 (Datenquelle: AGF/GfK, PC#TV) für die gleiche Altersgruppe 112 Minuten/Tag in Westdeutschland und 139 in Ostdeutschland an. Unabhängig davon, welche Untersuchung man zugrunde legt, haben die 14- bis 19jährigen die jeweils geringste Nutzungsdauer im Vergleich aller Altersgruppen (abgesehen von Kindern). Zum Vergleich: die Sehdauer von Erwachsenen (in der Media Analyse sind dies Personen ab 14 Jahren) beträgt 181 Minuten pro Tag (Media Analyse, zit. n. Media Perspektiven Basisdaten 2000, 68). Für Jugendliche ist Fernsehen eher wie Schwarzbrot - es macht satt, befriedigt also ein Bedürfnis (z.B. nach Ablenkung, Unterhaltung Entspannung), aber es stellt abgesehen von Kultserien und ähnlichem - nicht gerade ein Highlight im Alltag dar. Die Unterschiede zwischen der Fernsehnutzung in Ost und West lassen sich vor allem auf die unterschiedliche Verfügung über sonstige Freizeitangebote zurückführen (vgl. ausführlich: Darschin/Zubayr 2000). Deutlich wird im OstWestvergleich auch eine unterschiedliche Strukturierung der Alltagszeit. Betrachtet man den Nutzungsverlauf an einem beliebigen Tag, so zeigt sich eine sehr ähnliche Verlaufskurve, die allerdings in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland um eine Stunde nach vorne verschoben ist. Laut Media Analyse (Media Perspektiven Basisdaten 2000, 68) liegt der Hörfunk für die 14- bis 19jährigen mit 133 Minuten pro Tag in der Nutzungsdauer nur knapp hinter dem Fernsehen. Deutlich weniger genutzt werden Tonträger (Schallplatte, Kassette, CD, Tonband) mit 46 Minuten (Vergleichswert für 1999, da die Angabe für 2000 offensichtlich fehlerhaft ist) und Video mit 4 Minuten pro Tag. Auch wenn diese Medien weit weniger häufig genutzt werden als Fernsehen und Radio, lassen sich Musikmedien (Tonträger) und Video als typische Jugendmedien bezeichnen, da Jugendliche sie deutlich häufiger nutzen als andere Altersgruppen. Da Musik nicht nur als Tonkonserve genutzt wird, sondern auch im Radio und Fernsehen, soll - medienunspezifisch - auch die Nutzungszeit für Musik genannt werden. 15- bis 19jährige hören täglich knapp zwei Stunden (genau: 1,9) gezielt Musik (vgl. Lange 1997, 102). Gezielt meint
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dabei, dass Musik zur bloßen Untermalung bzw. als Hintergrundgeräusch nicht eingeschlossen ist. Die Nutzungsdauer ist bei Jungen und Mädchen und in allen Jahrgängen gleich hoch. Computerspiele - seit den 90er Jahren ein besonders expansiver Markt mit jährlich 800 bis 1200 neuen Spielen (Verband der Unterhaltungssoftware 1996, 5), die am Computer oder auf speziellen Konsolen gespielt werden - sind vor allem die Domäne der 12- bis 15jährigen, während den Älteren die Spiele dann langweilig bzw. andere Interessen bedeutsamer werden. Dies alles wäre schicht- und geschlechtsspezifisch sowie etwa nach Zugehörigkeiten zu diversen Jugendszenen zu differenzieren. So korreliert z.B. häufige Fernseh- und Videonutzung mit geringerer Bildung, mehr Jungen als Mädchen spielen Computerspiele, und Mädchen (47%) lesen erheblich mehr Bücher als Jungen (38%; nach: Gerhards/Klingler/Milde 1998, 572; 12-^jährige; täglich/mehrmals die Woche). Überhaupt nutzen Jungen auffällig stark die jeweils neuen und damit prestigeträchtigen Medien (vgl. Baacke/ Sander/Vollbrecht 1991) - ein Beispiel dafür, dass die Wirkung und Funktion von Medien weit über den Inhaltsaspekt hinausreicht.
1.4. Medienreichweite Weitere Hinweise zur Bedeutung von Medien für Jugendliche geben Daten zur Medienreichweite. Damit bezeichnet man den prozentualen Anteil derjenigen, die ein Medium täglich oder mehrmals die Woche nutzen. Die Medienreichweite erfasst also z.B., wieviel Prozent der Jugendlichen von einem Medium überhaupt erreicht werden. Die Studie „Jugend, Information, (Multi-)Media" (JIM 99/2000: Feierabend/Klingler 2000, 12) ermittelte für 1999 folgende Reichweiten bei den 12- bis 19jährigen: Fernsehen (94%), CD/Musikkassetten (94%) und Radio (84 %) sind danach die am häufigsten genutzten Medien, gefolgt von Zeitungen (62%), Zeitschriften/Magazinen (46%), Computer (52%) und Büchern (36%). Weniger genutzt werden Video (20%), Hörspielkassetten (12%) und Comics (10%). Deutlich ausgeprägt sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Mediennutzung. Mädchen bevorzugen stärker alle auditiven Medien und lesen deutlich mehr Bücher sowie Zeitschriften/Magazine. Jungen lesen mehr Zeitung und Comics und nutzen entschieden mehr den Computer. Die audiovisuellen Medien Fernsehen, Video und auch das Kino werden dagegen gleichermaßen von Jungen und Mädchen genutzt. Über unterschiedliche inhaltliche Vorlieben sagt die Medienreichweite freilich nichts aus. Bezogen auf Bücher wurden solche inhaltlichen Vorlieben in der Studie „Bibliotheksarbeit für Jugendliche" erfragt (Bd. 1: Sander/Vollbrecht 1994, 37ff.; vgl. Bd. 2: Sander/Vollbrecht/Schindler 1997, 27ff.). Zu den favorisierten
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Themen der 12- bis 18jährigen gehören demnach Horror/Gruselgeschichten (47,2%), mit deutlichem Abstand gefolgt von Science Fiction/Fantasy, Humor/ Satire, Sportbüchern, Krimi/Spionage/Abenteuer, Comics, Computerbüchern und Liebe & Schicksal. Wiederum mit deutlichem Abstand folgen Naturwissenschaft/Technik, Länder & Völker/Reisen, Umwelt/Ökologie, Ratgeberbücher, Religion, Politik/Gesellschaft/Geschichte sowie Kunst & Kultur. Nur eine kleine Minderheit der Jugendlichen interessiert sich für moderne Literatur (6,5 %) bzw. klassische Literatur (1,9%). Die thematischen Interessen verändern sich natürlich auch im Altersverlauf. So werden etwa Horror- und Gruselgeschichten ebenso wie Comics vor allem von den jüngeren Jugendlichen bevorzugt. Deutlicher ausgeprägt sind die geschlechtsspezifischen Interessenunterschiede. Für Bücher über Liebe & Schicksal interessieren Mädchen sich fünfmal häufiger als Jungen (49,1 % vs. 9,9%), aber auch für Politik/Gesellschaft/Geschichte und moderne Literatur zeigen Mädchen mehr Interesse. Jungen interessieren sich vier mal so häufig wie Mädchen für Bücher über Naturwissenschaft/Technik sowie Computer, aber auch mehr für die Genres Sport, Science Fiction /Fantasy und Comics. Interessant ist der Befund zu den thematisch unspezifischen, aber lebensweltnahen Kategorien Jungen- bzw. Mädchenbücher (25,3% bzw. 20,8% aller Befragten). Die Erwartung, dass Jungen sich stärker für Jungenbücher und Mädchen für Mädchenbücher interessieren, hat sich nicht bestätigt. Während Jungen an Jungenbüchern mäßig interessiert sind (16,3%) und an Mädchenbüchern so wenig wie an moderner Literatur (5,2%), sind Mädchen sehr stark an beiden interessiert (Jungenbücher: 35,8%, Mädchenbücher: 38,4%). Aus der pädagogischen Filmarbeit kennen wir ähnliches: Filme mit einer „Jungenthematik" kann man auch bei einem gemischten oder reinen Mädchenpublikum einsetzen, während sich Jungen einem Film mit „Mädchenthematik" verweigern. Ganz offensichtlich sind Mädchen hier sehr viel aufgeschlossener als Jungen.
1.5. Subjektive Wichtigkeit von Medien für Jugendliche Die Bedeutung der Medien für Jugendliche zeigt sich nicht nur in der tatsächlichen Nutzungsdauer, sondern auch in der Einschätzung ihrer subjektiven Wichtigkeit. So hören Jugendliche z.B. häufig Radio, das aber als typisches Nebenbei-Medium oft nur einen ,Klangteppich' oder medialen Background für andere Aktivitäten liefert - ein Phänomen, das wir inzwischen auch bei den Musikspartenkanälen im Fernsehen beobachten können. Auf Platz eins der wichtigsten Medien für 12- bis 19jährige Jugendliche behauptet sich im Jahr 2000 mit Abstand das Fernsehen (34%), gefolgt von Radio und Computer (je 23%). Im Vergleich mit 1998 verlieren Fernsehen und Hörfunk jeweils drei Prozent, während der Computer um drei Prozent gewinnt.
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Zeitungen und Zeitschriften liegen bei jeweils rund 10 Prozent und halten damit ihre Position hinsichtlich der subjektiven Wichtigkeit (vgl. Gerhards /Klingler 2001, 74). In einer Befragung von 1989 erreichten Tonträger 20% und Bücher 19% (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, 69). Jungen nennen überproportional häufig Fernsehen, Computer und Video, während Mädchen Musikmedien und Bücher stärker favorisieren. Die am häufigsten genutzten Medien sind also nicht generell die attraktivsten. Die Mediennutzung ist vielmehr stark habitualisiert und eingepasst in die Rhythmen des Alltags, die jeweils bestimmte Mediennutzungen begünstigen. Die im Altersgruppenvergleich geringe Fernsehnutzung der Jugendlichen ist Ausdruck einer Entfamiliarisierung der Freizeit, die natürlich auch den pädagogischen Einfluß der Eltern schwächt, und dies ist von den in Ablösungsprozessen befindlichen Jugendlichen ja durchaus beabsichtigt. Dennoch finden wir immer wieder Belege dafür, wie wichtig das Vorbild der Eltern für die Etablierung von Mediennutzungsgewohnheiten ist. Das Elternhaus prägt das Medienverhalten, und zwar weniger hinsichtlich der Inhalte, die ausgewählt werden, als vielmehr die Art und Weise, wie Medien rezipiert werden. Für Jugendliche ist jedoch die beliebteste Form der Freizeitnutzung eine Freizeit ohne Bevormundung durch die Eltern oder andere Pädagogisierungen und möglichst im Kreise von Gleichaltrigen. Daher bevorzugen sie außerhäusliche Aktivitäten; die beliebtesten Medien-Freizeitorte sind Diskotheken, Kinos und Musikkneipen. In der Studie „Medienwelten Jugendlicher" (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, 124) wurden 1679 Schüler zwichen 13 und 19 Jahren auch zur Nutzung und Beliebtheit von Medienorten (medienbestückten Freizeitorten) befragt. Dabei zeigte sich, dass das Kino mit 24,6 Prozent der Nennungen für diese Altersgruppe der wichtigste mediale Freizeitort ist (Nutzung: 80,4%), mit Abstand gefolgt von der Diskothek mit 15,2 Prozent (Nutzung: 47,1 %), Plattenladen etc. mit 13,7% (Nutzung: 77,1 %), (Musik-) Kneipe mit 8,4% (Nutzung: 44,4%), Bücherei mit 6,5% (Nutzung 46,1%) und Buchladen mit 5,8% (Nutzung: 52,3%). Weit abgeschlagen ist das Jugendzentrum mit 3,4% (Nutzung: 15,2 %), das offenbar nicht die gleiche Attraktivität ausstrahlt wie kommerzielle Medienwelten, aber eben auch nicht nur Medienangebote macht und gerade für diejenigen Jugendlichen wichtig ist, die (auch) finanziell benachteiligt sind oder aus Jugendschutzgründen diese Orte noch nicht besuchen dürfen. Die spezifische Erlebnisqualität des Kinos ergibt sich für Jugendliche einerseits aus der sozialen Situation des Kinobesuchs, nämlich meist gemeinsam mit Freunden, andererseits aus den Bedingungen der Präsentation - die große Leinwand, der abgedunkelte Raum mit wenig Ablenkung, keine NebenbeiTätigkeiten (abgesehen vom Genuss von Cola, Chips und Popcorn) wie etwa bei Fernsehen und Video. Im Gegensatz zu vielen anderen Medienumgebungen besitzt das Kino - wie auch die Diskothek - jedoch auch das Flair des Nicht-
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alltäglichen. Das Image des Kinos lebt geradezu von diesem Reiz des Außergewöhnlichen. Die unter 16jährigen, die eigentlich noch nicht in Diskotheken dürfen, favorisieren das Kino sogar zu 30%. Ab 16 Jahren wird die Diskothek dann subjektiv bedeutsamer als das Kino. Bei der Diskothek dominiert das Motiv, gemeinsam mit Freunden oder dem Partner/der Partnerin etwas zu erleben oder auch Leute kennenlernen zu können. Dies gilt auch für den Besuch von Szene- und Musikkneipen, die für manche Jugendliche zum Wohnzimmerersatz werden. Hier trifft man sich fern der Erwachsenenwelt mit Gleichgesinnten und Freunden, mit denen man die Alltagssorgen vergessen kann. Diskotheken und Kneipen sind für Jugendliche auch Sozialräume mit Gegenweltcharakter, die manchmal vehement gegen Fremdbestimmung durch Erwachsene verteidigt werden. Wenn brave Bürger bereits schlafen gegangen sind oder sich das Spätprogramm des Fernsehens anschauen, suchen Jugendliche in diesen Medienwelten Action, Freiheit und Abenteuer, das eigentliche Leben' jenseits des Pflichtprogramms von Schule und Arbeitswelt, oder kurz: Intensitätserlebnisse. In diesen Szenen gilt die Regel: Ab 0 Uhr ist was los, denn dann schlafen die anderen. Weil nur die Nacht - nicht der Abend - wirklich den Jugendlichen gehört. Man würde sich schließlich nicht gerade in seiner eigenen Welt fühlen, wenn man aus der Disko käme und gerade seinen Lehrer oder den Chef das Theater verlassen sähe. Die einzigen älteren Leute, die man dann noch treffen darf, sind Briefträger, Bäcker und Schichtarbeiter (Janke/Niehues 1995, 90f.).
Das Wichtigste ist freilich die Wahl der richtigen Disko, Kneipe oder allgemeiner: Szene. Denn mit den falschen Leuten ist man sowieso schon oft genug umgeben.
1.6. Medienimages Wie unterschiedlich die jeweiligen Images verschiedener Medien bei Jugendlichen sind, zeigt eine Untersuchung von Bonfadelli et al. (1986, 164ff. und 232ff.). Danach hat die Tageszeitung besonders hohe Ausprägungen bei den Items „informativ", „alltäglich" und „wichtig", Zeitschriften gelten als ratgebend, unterhaltend, informativ und vielseitig, Bücher als bildend, wissensvermittelnd und unterhaltend. Beim Kino betonen die Jugendlichen die Aspekte „unterhaltend", „sympathisch", „interessant" und „besonders", während das Fernsehen als unterhaltend, informativ, vielseitig und ratgebend gilt. Die Ratgeberfunktion ist beim Fernsehen unter allen Medien sogar am höchsten. Das ist interessant, da dieser Aspekt des Fernsehens oft unterschätzt
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Näherungen
wird. Jugendliche, die ja mehr als andere Altersgruppen mit ihrem Identitätsentwurf beschäftigt sind, sind jedoch gewöhnlich sehr daran interessiert, wie andere Menschen leben und denken. Es geht beim Image des Fernsehens als ratgebend daher nicht nur um spezielle Ratgebersendungen, sondern generell um Einblicke in andere Lebenswelten wie sie gerade auch Fernsehserien oder Reality-Shows wie „Big Brother" vermitteln. Dass hier weniger das Leben gezeigt wird als - oft auch noch klischeebehaftete - Inszenierungen ist dann natürlich ein medienpädagogisches Problem. Das Radio gilt den Jugendlichen als unterhaltend, informativ und alltäglich, Tonträger (damals nur Kassetten abgefragt) als unterhaltend, sympathisch, alltäglich. Die Angaben zum Video - zum Befragungszeitpunkt noch ein ganz junges Medium, das gerade erst Einzug in den Haushalten hielt - sowie zu neuen Medien sind heute veraltet. Insgesamt zeigt sich ein sehr differenziertes Bild der Mediennutzung und -einschätzung Jugendlicher, die nun aus vier Perspektiven beleuchtet worden sind. Zum einen wurden Nutzungsdaten vorgestellt, aus denen sich ablesen lässt, welche Medien die Jugendlichen in welchem Umfang nutzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Mediennutzung oft habituell erfolgt, und immer eingebettet in soziale Kontexte und Zeitstrukturen. Die Medienreichweite gibt dagegen einen Überblick darüber, wieviel Prozent der Jugendlichen sich täglich bzw. mehrmals die Woche bestimmten Medien zuwenden. Die subjektive Bedeutung der unterschiedlichen Medien erfordert dagegen eine andere Perspektive als die bloße Erhebung von Nutzungs- und Reichweitendaten, bei denen beispielsweise das Kino mit ein bis zwei Besuchen im Monat unter ferner liefen rangiert. Wichtig für die Einschätzung jugendlicher Mediennutzung ist viertens die Berücksichtigung der Medienimages, die zumindest erste Hinweise auf die Funktionen dieser Medien für Jugendliche erlauben.
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2.1. Neue Wahrnehmungsweisen 2.1.1. Die Beschleunigung der Medien Für Erwachsene oft irritierend sind die mit Videoclips und ,Channel Hopping' verbundenen neuen Wahrnehmungsweisen. Baacke (1997) beschreibt die Veränderung als eine Entwicklung von der „Tiefendeutung zum Signalentziffern". Während die europäische Tradition der Hermeneutik davon ausgeht, „dass alles, was uns ästhetisch präsentiert wird, auch etwas ist mit,Bedeutung'" (ebd., 21), erlaube es die in den Medien nicht mehr einzugrenzende Optionenvielfalt von Zeichen und ihren Sinndeutungen heute kaum noch, sich bestimmte Deutungsobjekte in Ruhe auszuwählen. Schnelle Schnitte und .special effects' lassen darüber hinaus im Sinne der „fehlenden Halbsekunde" (Sturm 1984, 58ff.) auch gar nicht die Zeit für Interpretationen. Der offene Deutungshorizont, von dem jede hermeneutische Lehre ausgegangen ist, wird verstellt durch die Bilder, hinter denen nicht unbedingt mehr Tiefe vermutet werden muß. Gezeigte Realität wird zum surrealistischen Vexierspiel. An die Stelle von Tiefendeutung ist häufig Signalentziffern getreten (Baacke 1997, 21).
Wie Baacke betont, ist diese sich überstürzende Bilderflut dennoch nicht strukturlos. Im audiovisuellen Bereich der Jugendszenen hat sich vielmehr eine Welt von Verweisungen konstituiert, die nur Eingeweihten zugänglich ist. Jugendliche leben heute mit Bildern und Tönen, denen Erwachsene schon deshalb fremd gegenüberstehen, weil sie die Herkunfts- und Verweisungskontexte nicht kennen oder nicht deuten können. Es entsteht sozusagen eine eigene audiovisuelle und multimediale Welt jugendästhetischen Eingeweihtseins, die oft beachtliche Kenntnisse voraussetzt. Im übrigen ist das Prinzip der Beschleunigung ganz typisch für Medienentwicklungen wie der ,Dromologe' (abgeleitet vom griechischen Wort p r o mos' = Wettlauf) Virilio in seinen Thesen zum rasenden Stillstand (1992) aufzeigt. Und schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formulierte Benjamin in seiner wohl bekanntesten Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" über den Film: Ein „ungeahnter und ungeheurer Spielraum" tut sich auf, indem der Film die „Kerkerwelt" der konventionellen,
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bürgerlichen Weltwahrnehmung mit dem „Dynamit der Zehntelsekunden" aufsprengt und „abenteuerliche Reisen" zwischen „weitverstreuten Trümmern" (Benjamin 1980, 499f.) ermöglicht. Durch den permanenten Wechsel der Schauplätze und Einstellungen, die „stoßweise auf den Zuschauer eindringen", werde dieser zu „erhöhter Geistesgegenwart" (ebd., 502f.) angespornt. Für Benjamin war es der Film, dessen abrupte Dynamik die selbstgenügsame Pose des Zuschauers - im Vergleich zum Betrachten eines Gemäldes - zerstört: Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abläuft, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsverlauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden. [...] In der Tat wird der Assoziationsverlauf dessen, der diese Bilder betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen (ebd., 502f.).
Benjamin nimmt nicht die resignierte Haltung ein wie Adorno, der in seiner „Minima Moralia" bemerkte: „Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus" (Adorno 1951, 21). Aber möglicherweise ging Adorno mit einer unangemessenen Wahrnehmungshaltung ins Kino. Denn nach Benjamin ist das Publikum ein zerstreuter „Examinator" (Benjamin 1980, 505), dessen begutachtende Haltung im Kino kritische Aufmerksamkeit gerade nicht einschließt. Das Publikum beweist seine nonchalante Geistesgegenwart darin, dass es sich im dynamischen Ansturm der immer neuen Reize ohne Anstrengung zu orientieren vermag. Mit dem hektischen Zeichenwechsel heutiger Videoclips scheinen Jugendliche ebensogut zurechtzukommen, auch wenn wir damit eine neue Stufe der Beschleunigung erreichen - verglichen mit dem ruhigen narrativen Verlauf des Hollywood-Films, dem gegenüber - wie es heute heißt - das Publikum noch eine distanzierte und kontemplative Haltung einnehmen konnte (Jameson 1994). 2.1.2. Inklusion in virtuelle Welten und postmoderne Ironisierung Die Kulturformen richten sich heute zunehmend nach dem Modell der Interaktivität aus. Folgten sie in der Gutenberg-Galaxis noch ganz dem Druckmodell, und mit dem Fernsehen dem Modell von Bild und Publikum statt dem von Text und Leser, verlassen wir nun die Ebene der bloßen Darstellung: Im neuen Medienzeitalter wird die Kultur weniger Darstellung und mehr Technologie. Sie wird zu etwas, was man nicht einfach sieht, liest oder hört, sondern zu etwas, was man tut. Im klassischen Medienzeitalter war das Publikum passiv oder aktiv. In den globalen Kulturindustrien ist es interaktiv. Die klassischen Kulturindustrien arbeiteten nach dem Prinzip der Oberfläche, die globalen Kulturindustrien tun dies nach der Logik der Schnittstelle. Bei Multimedia konsumieren wir Inhalt und Technologie zugleich. Die technologische Dimension zeitigt Interaktivität. Wir sehen uns der Kultur
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nicht mehr als Publikum, als Leser, Zuschauer oder Zuhörer gegenüber, sondern als Wirkende, als Benutzer (Lash 1998).
Wer Abenteuer erleben will, betreibt heute Extremsport oder setzt sich vor den Bildschirm, jenes ,letzte Vehikel' von dem Virilio (1992) spricht. Zwar steigt gleichzeitig auch die Wertschätzung dessen, was in die virtuellen Welten keinen Eingang findet, aber es geht eine große Faszination von der Vorstellung aus, „überall zu jeder Zeit sein zu können, alles, was man sich vorstellt, auch machen zu können, selbst wenn dies nur virtuell und nicht ,wirklich' ist" (Rötzer 1993, 33). Abgesehen davon, dass multimediale Simulationen bislang weit davon entfernt sind, alle menschlichen Sinne anzusprechen und schon insofern defizitär bleiben, stellt sich die Frage, ob den meisten Menschen nicht die gewohnten und risikoarmen Abenteuer eines ,couch potatoes' genügen: Inwieweit sind die Zuschauer also überhaupt bereit, ihre bequeme Zuschauerrolle aufzugeben, und z.B. die Möglichkeiten des Cyberspace auch aktiv, kreativ und interaktiv zu nutzen? Von einer revolutionären Umgestaltung unseres Medienalltags in diesem Sinne sind wir heute noch weit entfernt. Und auch die Technik ist für viele Nutzergruppen noch immer viel zu kompliziert und abschreckend und auch zu wenig auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. Gerade Jugendliche sind jedoch sehr experimentierfreudig und dürften hier eine Vorreiterrolle übernehmen. In den standardisierten Erlebniswelten der Freizeitgesellschaft und des Massentourismus, vor allem aber in den Illusionstechnologien der Medien, speziell des Films und zunehmend des Cyberspace, geht es im Grunde genommen darum, eben jene Höhle, die Piaton zu Beginn der abendländischen Philosophie als träumerischen Ort der Täuschung und des Einschlusses konstruiert hat, Zug um Zug zu realisieren. Wir wollen, so scheint es, nicht mehr Ausgänge aus der Illusion, weil wir sowieso glauben, dass jede Realität eine Konstruktion, also dadurch auch veränderbar ist, sondern wir wollen Türen haben, durch die wir in sie eintreten wie Alice in den Spiegel (Rötzer 1993, 32).
Platon ging es in seinem Höhlengleichnis weniger um die Beschreibung der Täuschungssituation, in der die Menschen befangen sind, als um den Weg zu ihrer Befreiung durch Paideia, durch Bildung - und dieser Weg führte weg vom sinnlichen Erleben der Welt zum rationalen Erkennen durch reflektierendes Denken. Aber die Durchsetzung von Rationalität hat die mythischen Grundbedürfnisse nicht ausgeräumt, sondern unbefriedigt zurückgelassen. So erkannte Adorno in seinem „Resume über Kulturindustrie": Der Satz, die Welt wolle betrogen sein, ist wahrer geworden, als wohl je damit gemeint war. Nicht nur fallen die Menschen, wie man so sagt, auf jeden Schwindel herein,
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,Alte' Medien: Trends und Deutungen wenn er ihnen sei's noch so flüchtige Gratifikation gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen (Adorno 1967, 66).
Für die Pädagogik bleibt dann kaum mehr als eine illusionslose Aufklärung über die Situation und die ihr innewohnenden Chancen und Gefahrenmomente. Denn in den heutigen Medienwelten ist das Medium-Sein [...] zum eigentlichen Sein geworden. Die Wirklichkeit, an die wir glauben, ist die Wirklichkeit, die in den Medien erscheint. Was dort nicht eintrittsfähig ist, hat niederen Seinsrang. So hat sich die alte Ordnung von Sein und Schein verkehrt (Welsch 1991, 37).
Geändert hat sich seit Adorno vor allem der Grad der Inklusion in die Ereignisse. Wir werden zunehmend selbst zu einem Bestandteil der Erlebniswelten, denen wir nicht nur als Beobachter fasziniert gegenüber stehen wollen. Prototyp ist heute nicht der Reisende, der ein Land erkundet, sondern der Tourist in den austauschbaren Modulen der All-Inklusive-Angebote, die die Urlaubsländer nicht nur in sehr verzerrter Perspektive erscheinen lassen, sondern definitiv in Richtung dieses Zerrbildes verändern. Ähnlich in den Medien: Wir lesen nicht nur über etwas, wir schauen es nicht nur an als Bild oder Film, sondern suchen das Involvement, versuchen also die Distanz nach Möglichkeit zu verringern. Wir verfolgen die Schicksale der Helden und Heldinnen unserer Lieblingsserien und leben und leiden mit ihnen. In Computerspielen übernehmen Jugendliche die Rolle der Protagonisten oder legen sich in Chats, MUDs und MOOs (siehe Abschnitt 3.3.2.) virtuelle Identitäten zu. Die totale Simulation und Inklusion böte die Verwirklichung der „Holodecks" (von Holographie) im „Raumschiff Enterprise", sie bleibt jedoch auch dort der „Next Generation" vorbehalten. In kulturkritischer Perspektive mag man sich Adornos Verdikt „Fun ist ein Stahlbad" anschließen. Zumindest ältere Jugendliche sind sich in der Regel durchaus bewusst, dass eine medienkritische Sicht gar nicht anders urteilen kann - abgeklärt, wie sie sind, verweigern sie sich jedoch diesem pädagogischen Diskurs. Jugendliche entwickeln eigene Rezeptionsmodi, die sich zum Beispiel an Beiträgen der Musiksender „MTV" und „VIVA", aber auch in Trash-Sendungen im Fernsehen beobachten lassen. Hier entstehen neue Sprachspiele der Jugendlichen, die Erwachsenen oft so unverständlich sind wie die Rockmusik in ihren Anfängen. Beschreiben ließe sich die Veränderung als Übergang vom Text-Diskurs zur Bild-Groteske. Beiträge, die nach herkömmlicher (Erwachsenen-) Lesart schlicht als Trash zu bezeichnen sind, werden von vielen Jugendlichen heute in einer postmodernen Haltung ironischer Distanzierung (dazu: Baacke 1985, 190ff.) gesehen. Der deutsche Schlager, das bei Jugendlichen am wenigsten beliebte Musikgenre, feiert in der parodistisch-ironischen Haltung eines Guildo Horn (kurzlebige) Erfolge. Der Night-Talker Harald Schmidt mit seinen zynischen Kommenta-
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ren polarisiert dagegen, wird geliebt oder gehasst (vgl. Strasser/Graf 2000). Seine Fans gehören übrigens eher höheren Bildungsschichten an, da - von platten Witzen einmal abgesehen - ein breites Medienwissen und die Kenntnis der aktuellen politischen Debatten notwendig sind, um alle Anspielungen zu verstehen. Die Dekonstruktion der Medien betreibt jedoch niemand so gnadenlos wie der bei Jugendlichen beliebte Stefan Raab (vgl. Abschnitt 2.1.) in seiner Sendung „TV Total" (eine „Metzgerei Raab"-Produktion). Jugendliche rezipieren seine Beiträge als Groteske, die als äußerst unterhaltsam empfunden wird. Satiriker der alten Schule sehen im Vergleich dazu alt aus. Während der Satiriker gleichsam den Finger auf die Wunde legt und eine kritische Haltung einfordert, ziehen Ironiker wie Raab den beanstandeten Sachverhalt in den Spielraum des ironischen Diskurses. Statt z.B. die Show-Inszenierung des Sports im Fernsehen medienkritisch zu analysieren, wird sie von Raab auf die Spitze getrieben - und damit deutlich sichtbar gemacht - z.B. in seiner unvergleichlichen Inszenierung eines Boxkampfes der „Killer-Plautze" Raab gegen die amtierende Weltmeisterin Regina Halmich. Der klare Verlierer Raab war gleichzeitig Sieger bei den Einschaltquoten. Die Sendung erreichte 7,65 Millionen Zuschauer und einen Marktanteil von 38,5 Prozent. Ironie, die häufig mit dem Makel des Bösen behaftet ist, kann in diesem Zusammenhang im Anschluss an Musils ,konstruktive Ironie' verstanden werden als „das Übergreifende, Zusammenhang schaffende, das nicht in die Dekadenz führt, sondern ins Freie" (Baacke 1995, 209). Gerade bei Raab zeigt sich, dass Ironie das Disparate zusammenstellen und aufeinander beziehen kann und dabei insofern antitotalitär verfährt, als kein Standpunkt die Oberhand gewinnt. Sie kann komplexe Zusammenhänge luzid machen - „sollte deren Klarheit aber zu durchsichtig werden, kann sie einen neuen Nebel von Widersprüchlichkeiten über die solare Denklandschaft breiten, damit es sich keiner ferienmäßig bequem macht" (ebd., 211).
2.2. Hörfunk und Fernsehen Ein wichtiger genereller Trend zeigt sich in der Verschiebung der Einschätzung von Radio und Fernsehen. Bis in die 80er Jahre galt das Radio als das Jugendmedium schlechthin. Es war preiswert und daher auch schon im Besitz der Jugendlichen selbst. Die Anfänge in den 50er und 60er Jahren waren freilich bescheiden. Nach einer Repräsentativbefragung der Hörerforschung des Nordwestdeutschen Rundfunks besaßen 1953 erst 6 % der 15- bis 18jährigen ein Radio und laut einer Leseranalyse der Jugendzeitschrift Bravo besaßen 1960 von den 12- bis 16jährigen etwa 14% ein Radio und 8% einen Plattenspieler (Kindler & Schiermeyer-Verlag 1961, 43 und 47). Neben Schallplatten war vor allem das Radio entscheidend für die Verbreitung und Durchsetzung von Jugendkulturen. In der Studie „Medienwelten
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Jugendlicher" (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991) zeigte sich bei den Antworten auf die offene Frage nach den liebsten Freizeitbeschäftigungen (Mehrfachantworten), dass Musikhören (mit 56%) nach der gemeinsam mit Freunden verbrachten Freizeit (82%) die zweitliebste Freizeitbeschäftigung von Jugendlichen ist - und zwar vor allem der Mädchen. Insgesamt werden Tonträger von Jugendlichen weit überdurchschnittlich genutzt. Die unter 30jährigen sind abgesehen von den Sparten ,E-Musik' und »populäre Volksmusik' - eindeutig die Zielgruppe der Musikindustrie. Ältere kaufen vor allem (auf CD wiederaufgelegte) alte Platten und konturieren so ihre Vergangenheit. Nebenbei bemerkt: Der Umsatz der Musikindustrie allein im Tonträgerbereich belief sich 1994 weltweit auf 33 Milliarden Dollar (Burnett 1996, 3). Der deutsche Markt (2,9 Mrd. Dollar) ist nach den USA (11,9 Mrd.) und Japan (5,9 Mrd.) der drittgrößte der Welt (Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft et al. (Hg.) 1996, 35). Im Unterschied zum Radio und anderen Audio-Medien galt das Fernsehen (meist im Wohnzimmer aufgestellt) als Prototyp eines Familienmediums und war für die in Ablösung von den Eltern befindlichen Jugendlichen von geringerer Attraktivität. In der Hitliste der liebsten Freizeitbeschäftigungen folgt Fernsehen (29%) nach sportlichen Aktivitäten (47%) auf dem vierten Platz. Zur Erinnerung: Im vorigen Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass das Fernsehen im Jahr 2000 mit Abstand von den 12- bis 19jährigen als wichtigstes Medium einschätzt wird. Ob sich in diesen unterschiedlichen Zahlen (die oben genannten Daten stammen von 1989) tatsächlich ein Trend widerspiegelt oder unterschiedliche Frageformulierungen (wichtigstes Medium bzw. liebste Freizeitbeschäftigung) oder auch eine unterschiedliche Kontextualisierung im Fragebogen zu einer anderen Bewertung der Medien führt, wäre durch weitere Untersuchungen zu klären. Vermutet wird heute auch ein leichter Bedeutungsrückgang des Fernsehens zugunsten des Internet. Dieser mutmaßliche Trend lässt sich bislang jedoch nicht eindeutig bestätigen. Gegenüber dem Radio wird das Fernsehen seit den 80er Jahren für die Jugendlichen bedeutsamer. Der Hörfunk hat inzwischen seine Position als Jugendmedium teilweise an das Fernsehen verloren (vgl. auch: Berens/Kiefer/Meder 1997, 82 sowie Gerhards/Klingler/Milde 1998). In den letzten Jahren hat das Radio durch entsprechende Zielgruppenprogramme jedoch wieder Marktanteile bei den Jugendlichen gewonnen. Zwei Entwicklungen trugen zum Bedeutungsgewinn des Fernsehens für Jugendliche bei: Zum einen hat sich die Fernsehnutzung individualisiert, da das Programmangebot durch private Anbieter immens zugenommen hat und zugleich immer mehr Jugendliche (und schon ein Drittel der Kinder) einen eigenen Fernseher besitzen. Die individuelle Aneignung - eben nicht im Rahmen eines gemeinsamen Familienfernsehabends - ist Voraussetzung dafür, dass das Fernsehen verstärkt jugendspezifische Angebote hervorbringt und sich jugendspezifi-
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sehe Nutzungsformen entwickeln können. Genauer betrachtet, erweist sich die mediale Vielfalt allerdings weitgehend als medialer Schein, denn gezeigt, gehört und geschätzt wird das Immergleiche, das in Serien sich Wiederholende, „die Trivialform des Ewigen" (Welsch 1991, 38). Zum anderen entstanden mit den Musikspartenkanälen VIVA und MTV jugendspezifische Angebote, die direkt mit dem Radio als Leitmedium der Jugendkulturen konkurrieren. Es sind diese Musikspartenkanäle, die nun die jeweils angesagten Musikpräferenzen und Lebensstilvorgaben vermitteln. Sie führen auch zu einer stärkeren Nebenbei-Nutzung des Fernsehens, die aber nicht bedeuten muß, dass solche Programme nur oberflächlich' wahrgenommen werden. Es geht den Jugendlichen eher um eine ganzheitliche Einbindung in Stimmungen, die Stimulierung von Vorfreude auf Partys oder Diskothekenbesuche, die Stimulierung ihres Lebensgefühls insgesamt. Und weil die Inhalte der Videoclips mit ihrer Symbolik, der modischen Ausstaffierung der Interpreten und Moderatoren sowie ihrer Darstellung von Lebensgefühl einen direkten Rekurs auf die Jugendszenen beinhalten, helfen sie etwa einem Drittel der befragten Jugendlichen, sich innerhalb der Jugendszenen zu orientieren; jeweils ein knappes Viertel erhält in den Videoclips Informationen über neueste Tanzstile oder Anregungen über Mode (vgl. Baacke/Vollbrecht 1996, 65). Diese Entwicklungen verstärken die Nutzung des Fernsehens als Begleitmedium über den ganzen Tag, aber die abendliche ,Prime Time' bleibt auch für Jugendliche die Hauptnutzungszeit. Besonders beliebt bei Jugendlichen sind Fiction und Unterhaltung sowie Musiksendungen. Bei einer offenen Frage nach Lieblingssendungen (bis zu drei Nennungen) führen Daily Soaps (30%) vor Comics/Zeichentrick (29%) und Sitcoms/Comedy (27%). Mit Abstand folgen Krimi/Mystery (15%), Musiksendungen (12%), Info/Nachrichten (11%) und Serien (10%) vor „Big Brother" (9%), Sportsendungen (9%), „TV Total" (8%), Talkshows (8%), Sciencefiction (5%) und mit 4 % Arzt/Krankenhausserien (Gerhards/Klingler 2001, 72). Jugendliche nutzen das Fernsehen nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch als Informationsquelle. Nach einer Untersuchung des „JFF - Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis" nutzen vor allem Mädchen (mit 7 5 % gegenüber 47 % der Jungen) dafür auch das Radio. Die Tageszeitung und das Internet spielen dagegen als Informationsmedien für Jugendliche nur eine untergeordnete Rolle, wie sich bereits aus den Nutzungszahlen vermuten ließ. Informationsinteressen der 12- bis 17jährigen Jugendlichen beziehen sich vor allem auf Sport (31 %), Politik allgemein (21 %), Musik (16%), Umwelt/Umweltschutz (14%), Wissenschaft/Technik (13%), Krieg/Frieden (12%), Medien (11 %) und Natur (10%). Für die jüngeren Jugendlichen - mehr als zwei Drittel der 12- bis 13jährigen - sind jedoch noch die Eltern die wichtigste Informationsinstanz. Bei älteren Jugendlichen werden dann die Medien und auch die Peergroups in dieser Hinsicht bedeutsamer (vgl. Eggert 2001, 75).
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Die verschiedenen Informationsquellen werden von Jugendlichen als unterschiedlich glaubwürdig eingeschätzt. Die Glaubwürdigkeit einer Quelle und die Einschätzung ihrer Wichtigkeit werden dabei von den Jugendlichen unterschiedlich beurteilt. Am wichtigsten als Informationsquelle sind den Jugendlichen die Medien (34%) vor Freunden/Bekannten (30%) und Eltern (28%). Mit großem Abstand folgen Schule (6%) und Geschwister (5%). Dabei dürfte wohl eine große Rolle spielen, dass die Informationsquellen über sehr unterschiedliche Themen informieren - die Schule beispielsweise informiert nicht über die neuesten Trends der Jugend- und Musikszenen - und auch die Präsentationsformen unterschiedlich unterhaltsam sind. Als glaubwürdigste Quelle beurteilen die 12- bis 17jährigen die Eltern (31 %), gefolgt von Medien (26%), Freunden/ Bekannten (21 %), Schule (16%) und Geschwistern (7%). Dass die Schule nicht nur bei der subjektiven Wichtigkeit, sondern auch im Glaubwürdigkeitsvergleich eher schlecht abschneidet, gibt zu denken. Im Fernsehen werden nicht nur Nachrichtensendungen (von 35%) als Informationsquelle genutzt, sondern auch Boulevardmagazine (32%), Talkshows (18%) und weit seltener auch Politische Magazine (9%) und Polit-Talks (1 %). Vor allem die Boulevardmagazine mit ihren aufgelockerteren Darbietungsformen und der stärkeren Einbeziehung von ,human interest'-Stories kommen den jugendlichen Erwartungen entgegen. Sie werden daher positiver beurteilt als die anderen Genres, gelten jedoch als nicht so glaubwürdig wie Nachrichtensendungen. An den Informationen der Daily Talks scheiden sich die Geister: Sie werden von 39 % als schlecht, von 29 % aber andererseits als gut bewertet. In der letzteren Gruppe sind überdurchschnittlich viele Mädchen, die hier offensichtlich viele für sie relevante Themen finden, von denen sie sich Lebenshilfe erwarten (vgl. Eggert 2001, 78). Während jüngere Jugendliche sich generell eher für Infotainment erwärmen können, lassen sich ab etwa dem 14./15. Lebensjahr zwei Gruppen von Informationsnutzern ausmachen, deren Themeninteressen und Nutzungspräferenzen sich in Abhängigkeit von der eigenen Bildung und dem Anregungsgrad des sozialen Milieus (Familie, Peergroup) unterscheiden. „Auf der einen Seite die Gruppe derer, die an Politischem und gesellschaftlich Relevantem nur wenig bis gar kein Interesse zeigt und nur sich selbst im Blick hat. Auf der anderen Seite steht die Gruppe mit einer sozialen Orientierung, die auf dem laufenden darüber sein möchte, was um sie herum in der Welt geschieht" (Eggert 2001, 79). Dieses Ergebnis überrascht nicht, sondern bestätigt die Befunde zur These der wachsenden Wissenskluft (vgl. z.B.: Saxer (Hg.) 1985, Bonfadelli 1994) sowie Ergebnisse der pädagogischen Jugendforschung. Man hat bekanntlich schon relativ früh herausgefunden, dass die Informationsvermittlung über Medien bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu verschiedenen Ergebnissen führt (vgl. Hyman/Sheatsley 1947) und zwar bewirkt sie, dass die Kluft zwischen den gebildeten, sozio-ökonomisch privilegierten und
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informationsreichen Schichten und den schlechter gebildeten, sozio-ökonomisch unterprivilegierten und informationsarmen Schichten vergrößert wird. Der Grund dieser unterschiedlichen Rezeption und auch Verarbeitung derselben Information wird auf schon bestehende soziostrukturelle Eigenarten des Umgangs mit Medien zurückgeführt. Auf Jugendliche bezogen sprach Coleman 1961 von der „Subkultur des Vergnügens" und der „Subkultur des Wissenserwerbs" und unterschied damit Jugendkulturen, die zum einen schwerpunktmäßig unterschiedliche Medien nutzen und zum anderen mit den gleichen Medien und Medieninhalten unterschiedlich umgehen. Sie selegieren verschiedene Teilinhalte, deuten diese anders und nutzen Medien tendenziell eher instrumentell für sich selbst oder nutzen sie eher konsumptiv. In einer Untersuchung über „Daily-Talks" bestätigt auch Weiß (1999) die entscheidende Bedeutung des Bildungshintergrunds der Jugendlichen. „Infotainment-Sucher" haben mehrheitlich einen niedrigeren Schulabschluss als diejenigen, die Talkshows zum bloßen Zeitvertreib schauen. Für die in Talkshows behandelten Themen interessieren sich Jugendliche vor allem deshalb, weil über diese Themen sonst nicht gesprochen wird (Weiß 1999, 106ff.). Interessant ist der Nebenbefund, dass Daily-Talks möglicherweise eher aus habituellen Gründen gesehen werden als aus inhaltlichen. Wer tagsüber zwischen 10 und 16 Uhr viel fernsieht, sieht auch häufig Talkshows (ebd., 165), weil diese das Nachmittagsangebot dominieren und es noch immer zu wenig jugendspezifische Fernsehangebote gibt. Jugendliche weichen daher häufig auf Erwachsenenformate aus, zu denen auch Daily-Talks zählen, deren Hauptnutzer - nach Angaben der GfK, die in Deutschland mit der Messung von Einschaltquoten betraut ist - die über 30jährigen sind. Dafür spricht z.B. auch, dass „Arabella", die Lieblings-Talkshow von Jugendlichen, bei der Frage nach Lieblingssendungen nur von 4,4% der Jugendlichen genannt wird, während beispielsweise die Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten" auf 28,5% kommt. Jugendliche bevorzugen bei Talkshows Themenbereiche wie „Alltagsprobleme", „ungewöhnliche Lebensstile" sowie „Körper, Schönheit, Mode" (vgl. Paus-Haase et al. 1999, 133f.). Paus-Haase et al. haben in ihrer Studie über „Talkshows im Alltag von Jugendlichen" eine in Themen- und Formatanalyse gegliederte Produktanalyse von Talkshows durchgeführt. In sozialisationstheoretischer Perspektive ging es den Autoren darum, „die spezifische Balance des Symbolangebots und seiner Rezeption, geprägt von individuellen wie sozialen Einflussfaktoren im Alltag von jungen Rezipienten, in adäquater Weise zu verstehen und zu erfassen. Talkshows sind dabei zum einen als lustgeprägtes, unterhaltsames Fernsehangebot, das Heranwachsende in seiner inhaltlichen und spezifischen ästhetischen Prägung anspricht, zu untersuchen. Zum anderen sind sie auch als Orientierungsangebote für die Identitätsbildung zu analysieren" (ebd., 29). In thematischer Perspektive bestätigt die Studie die Ergebnisse früherer Untersuchungen, dass „die verschiedenen Talk-Formate im Wesentlichen von privaten Beziehun-
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gen, körper- und modebezogenen Fragen und ausgefallenen Lebensstilen bzw. Einstellungen handeln (ebd., 58). Jugendnahe Themen werden verstärkt in den Formaten „Bärbel Schäfer", „Pilawa", „Andreas Türck" und „Sonja" behandelt. Im Hinblick auf die Jugendnähe der Formate - neben Themen sind dafür auch entscheidend die Moderatorinnen und Moderatoren, der Moderationsstil, die Ratgeber- und Orientierungsfunktion, Überraschungs- und Täuschungsmomente, das Alter des Publikums, die visuelle und akustische Gestaltung sowie für Jugendliche besonders attraktive Elemente - werden als besonders „jugendrelevant" die Sendungen „Bärbel Schäfer", „Birte Karalus", „Arabella", „Andreas Türck" und „Sonja" herausgestellt. Hinsichtlich der Rezeptionsmodi zeigen sich große Unterschiede bei den Jugendlichen. Offenbar ermöglichen Talkshows „polymodale Zugangsformen", also ein „breites Spektrum von Lesarten" (ebd., 123). So kann beispielsweise ein und dieselbe Sendung „von verschiedenen Zuschauern als inszenierte Unterhaltung oder als authentische Information wahrgenommen werden" (ebd., 79). Dies wird durch die Art der Inszenierung noch forciert, die sich als Wechselspiel von Authentizität und Inszenierung beschreiben ließe. Diese Art der Inszenierung ermöglicht den Zuschauern einen starken Bezug auf ihre alltägliche Lebenswelt, der jedoch andererseits relativiert wird durch die verwendeten Darstellungsmittel sowie die Rahmung. Vier zentrale Rezeptionsdimensionen lassen sich unterscheiden: „(1) naive versus reflektierende Rezeption, (2) involvierende versus distanzierende Rezeption, (3) Suche nach Unterhaltung versus Suche nach Orientierung und (4) positive versus negative Bewertung der Talkshows" (vgl. ebd., 145). Diese Dimensionen der Rezeption können in unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Eine naive Rezeption beispielsweise, die die Mechanismen der Inszenierung nicht durchschaut, ist eher verbunden mit hohem Involvement sowie mit Orientierungssuche und einer positiven Bewertung von Talkshows. Mädchen neigen eher zu einer involvierenden Rezeptionshaltung, während Jungen sich distanzierter geben, zu Spott gegenüber den Gästen neigen, mehr an Action und Showelementen interessiert sind und die Sendungen insgesamt mit distanzierter Ironie betrachten. Mädchen gehen mit den Inhalten von Talkshows dagegen deutlich emotionaler um und beziehen sie zudem häufiger auf eigene Problematiken (vgl. ebd., 155). Sie interessieren sich auch eher für die Probleme der Talkshowgäste und suchen „nach Anregungen und Hilfestellungen für ihr eigenes Leben" (ebd., 164). Jungen und Mädchen haben trotz dieser Unterschiede gleichermaßen den „Anspruch, in den Talkshowinhalten einen Bezug zum eigenen Leben erkennen zu können" (ebd., 169) und fordern mehr Themen, die näher an ihrer Alltagswelt sind. Wenig überraschend ist, dass Jugendliche mit höherer formaler Bildung reflektierter mit Talkshows umgehen. Zusammenfassend interpretieren PausHaase et al. die Ergebnisse der Gruppendiskussionen mit Jugendlichen wie folgt:
Video
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Während Jugendliche mit höherer Bildung Daily-Talks seltener in ihre Wirklichkeitskonstruktion integrieren, erweisen sich Befragte mit niedrigerem Bildungsstand in diesem Sinne eher als anfällig. Dabei sind insbesondere weibliche bzw. jüngere Probanden betroffen. Der Rezeptionstyp, der am ehesten sein Selbst- und Realitätskonzept durch Talkshows beeinflussen lässt, kann somit folgendermaßen beschrieben werden: Es handelt sich um jüngere Mädchen mit mittlerem oder niedrigem Bildungsstand, geringer Medienkompetenz und einem problematischen lebensweltlichen Hintergrund (ebd., 190).
Talkshows scheinen diesen Mädchen kleine Fluchten aus einem problembeladenen Alltag zu ermöglichen. Sie sehen dort eigene, z.B. familiäre Probleme widergespiegelt, setzen sich jedoch auch von extremen Darstellungen ab, die von ihrer Alltagserfahrung nicht gedeckt sind. Im übrigen zeigt sich, dass der Talkshow-Konsum stark durch die Peergroups beeinflusst wird, denn vor allem in diesen sozialen Kontexten wird über Talkshows geredet. Das wohl wichtigste Ergebnis der Studie besteht darin, dass die jugendschutzrelevanten Themen Sexualität und Kriminalität für Jugendliche eher uninteressant sind. Besonders die qualitativen Interviews zeigen, dass gerade die Thematisierung von extremen Sexualpraktiken von Jugendlichen eher als „peinlich" oder „eklig" empfunden wird. Eine vermutete Gefährdungslage muss daher weitgehend verneint werden. Die Studie zeigt vielmehr, „wie souverän viele Jugendliche die den Talkshows zu Grunde liegenden Inszenierungsmuster durchschauen und diesen Angeboten entsprechend nur eine sehr begrenzte, jedenfalls nicht unreflektierte Orientierungsfunktion zubilligen" (ebd., 379). Es ist schon erstaunlich, wieviel Energie die Erwachsenengesellschaft darauf verwendet, Jugendliche vor ,sexuellen Verführungen' zu schützen - ein Schutz, der oft darin besteht, ihnen sexuelles Vergnügen vorzuenthalten. Möglicherweise handelt es sich hier um Projektionen der Erwachsenen, die ihre eigenen Sexualängste und Unsicherheiten auf die Jugend übertragen (vgl. auch Baacke 2000, 59). Für den Jugendmedienschutz legen die Ergebnisse der genannten Studie wieder einmal nahe, dass vor allem die Medienkompetenz von Jugendlichen aus benachteiligten Milieus zu stärken wäre.
2.3. Video Video wird von Jugendlichen stärker genutzt als von Erwachsenen und zwar weitgehend als zeitflexible Nutzung des Fernsehangebots (vgl. Gerhards/Klingler 1998, 188). Nach einer Studie von Lange (1997, 103ff.) sehen etwa 80% der 15- bis 19jährigen - Jungen wie Mädchen - regelmäßig Videos. Etwa ein Viertel der Jugendlichen nimmt häufig Videos auf, fünf Prozent kaufen auch häufig Videos. Aus Videotheken beziehen 43% (häufig) Videos und 34% von Freunden.
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Am beliebtesten sind neue Kinofilme (50%; J: 4 9 % , M: 51 %), für die der Video-Release bekanntlich vor der Fernsehausstrahlung liegt, so dass man sie zunächst nur in Videotheken erhält. Häufig gesehen werden auch Komödien (31%; J: 26%, M: 35%) und Actionfilme (31%; J: 4 5 % , M: 17%). Auf den weiteren Plätzen folgen Thriller (21 %; J: 21 %, M: 22%), Horrorfilme (18%; J: 21 %, M: 14%), Science Fiction (17%; J: 25%, M: 6%), Liebesfilme (15%; J: 5 % , M: 25%), Musikfilme (13%; J: 10%, M: 2 6 % ) und Zeichentrickfilme (11%; J: 12%, M: 10%). Geringer ist das Interesse jugendlicher Videonutzer an den Genres Krimis (8%; J: 8 % , M: 7 % ) und Kriegsfilme (8%; J: 10%, M: 6 % ) , Erotikfilme (6%; J: 9 % , M: 2%), Musicals (5%; J: 2%, M: 7%), Theaterund Literaturverfilmungen (4%; J: 2%, M: 6%), Dokumentarfilme (4%; J: 5 %, M: 4 % ) und Western (3%; J: 5 % , M: 2%). Das Schlusslicht bilden Heimatfilme mit 1 % (ebd., 103). Auffällig ist, wie unterschiedlich die Videointeressen von Jungen und Mädchen sind. Abgesehen von Thrillern und Krimis (sowie den thematisch nicht differenzierten neuen Kinofilmen) lassen sich auch deutliche geschlechtsspezifische Vorlieben feststellen, die mit den hergebrachten Rollenklischees übereinstimmen. Video wird von Jugendlichen häufig auch in der Gruppe gesehen, und es bilden sich auch große virtuelle und kleine reale Fangemeinschaften. Diese können einen genretypischen Bezug haben wie die von Vogelgesang (1991) beschriebenen Horrorvideo-Fangruppen (siehe Abschnitt 4.3.). Sie können aber auch eine der beliebten ,Soaps' im Vorabendprogramm oder eine Fernsehserie zum Thema machen wie z.B. bei „Star Trek" (Raumschiff Enterprise), wo sich eingefleischte ,Trekkies' auch auf sogenannten Conventions' zu Parties in entsprechender Kostümierung treffen (zur Bedeutung von Star Trek für biographische Entwicklungsprozesse von Jugendlichen siehe auch: Brüdigam 2000). An populäreren Fangruppenbildungen versuchen übrigens auch die Fernsehsender und die Werbeindustrie zu partizipieren.
2.4. Kino Unter allen Medienumgebungen - wie man die zahlreichen Freizeitorte nennen kann, in denen Medien genutzt werden - nimmt das Kino für Jugendliche eine herausragende Stellung ein. Das Kino ist der bei weitem beliebteste Medienort der Jugendlichen. In der Kinoforschung wurden bislang - so etwa Gleich im ARD-Forschungsdienst - einige wichtige Fragen nur marginal behandelt wie: „Welche Funktion(en) hat das Kino für die Rezipienten und von welchen individuellen und sozialen Faktoren sind diese abhängig? Welche Motive und Bedürfnisse stehen hinter der Nutzung von Kino bzw. Kinofilmen und welche Gratifikationen ziehen die Rezipienten daraus?" (ARD-Forschungsdienst 1997, 165). Einiges wissen wir:
Kino
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Kinofilme versprechen Ablenkung, Spannung und Unterhaltung, sie befriedigen die Neugier nach Unbekanntem und gut erzählten Geschichten. So ergab eine Umfrage bei über 1000 Kinogängern (vgl. Filmwoche/Filmecho 1 4 / 9 6 ) , dass für 76 Prozent der Befragten die Handlung des Films der Grund dafür ist, sich auf den Weg ins Kino zu machen. Die Besetzung, insbesondere aber der jeweilige Regisseur waren dagegen weniger ausschlaggebend für die Entscheidung. Allerdings hielten die steigenden Ticketpreise über die Hälfte der Befragten davon ab, ins Kino zu gehen. Sie ziehen es vor, sich die entsprechenden Filme auf Videokassetten anzusehen. Gleichzeitig gibt es offensichtlich Überschneidungen des Kino- und Videopublikums (ARD-Forschungsdienst 1997, 165).
Kino liegt derzeit wieder im Trend. Nach einer Phase des Rückgangs stiegen die Zahlen der Kinobesucher in den 90er Jahren wieder an. Nach Angaben der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO: Filmstatistische Taschenbücher) nahm der Kinobesuch von 1991 (119,9 Mio) bis 1999 auf 149 Millionen zu (Angaben nach: Media Perspektiven Basisdaten 2000, 62). Der Anteil der Jugendlichen unter den Kinobesuchern ist dagegen gesunken. Dies ist jedoch großteils demographisch zu erklären, denn die Zahl der Jugendlichen in der Bevölkerung ist deutlich gesunken. Ein zweiter Grund dürften die erhöhten Eintrittspreise sein: Jugendliche können sich einen Kinobesuch nicht mehr so oft leisten, wie sie gerne möchten. Insgesamt stellen Schüler und Studenten weiterhin die bei weitem wichtigste Besuchergruppe des Kinos. Jeder achte 14bis 19jährige (16,0%) geht (mindestens) wöchentlich ins Kino und immerhin noch jeder neunte der 20- bis 29jährigen (11,8%). Bei den 30- bis 39jährigen sinkt der Anteil der wöchentlichen Kinogänger auf ein Zwanzigstel (4,9 %) und bei den über 60jährigen zählt nur noch jeder zweihundertste zu diesen HäufigKinogängern (Media Analyse, zit. n. Media Perspektiven Basisdaten 2000, 79). Es gibt auch regionale Unterschiede: Während beim Publikum aus den kleinen Orten die 16- bis 24jährigen dominieren, sind es beim Publikum aus den Großstädten eher die 25- bis 39jährigen. In den Großstädten haben die 40- bis 49jährigen eine ebenso hohe Bedeutung für den Gesamtbesuch wie die 16- bis 19jährigen (Neckermann 1997, 126).
Die Studie „Medienwelten Jugendlicher" (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991) hat gezeigt, dass für Großstadtjugendliche, die das reichhaltigste Angebot an allen Medienorten vorfinden, das Kino (mit 29 %) subjektiv wichtiger ist als für Landund Mittelstadtjugendliche. Das Schlußlicht bilden nicht etwa die Landjugendlichen (mit 26%) sondern die Mittelstadtjugendlichen (mit 21%). Mittelstadtjugendliche können eher auf andere Freizeitangebote vor Ort ausweichen, wenn kein oder kein ansprechendes Kinoangebot vorhanden ist - Landjugendliche müssen dagegen immer weite Entfernungen überwinden, so dass die unterschiedliche Erreichbarkeit für die Bewertung verschiedener Medienorte keine große Rolle spielt (vgl. Baacke /Schäfer/ Vollbrecht 1994, 88). Man kann dies
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Ergebnis auch so interpretieren, dass gerade in diesen Orten der Bedarf für Jugendfilmarbeit besonders groß sein dürfte. Die jugendlichen Kinogänger - dies sind vier Fünftel aller Jugendlichen gehen durchschnittlich einmal im Monat ins Kino (ebd.; die Befragung stammt von 1987), Jungen mit 13 Besuchen pro Jahr etwas häufiger als Mädchen mit 10 Besuchen pro Jahr. Dieser Unterschied kommt daher, dass ein Viertel der Jungen besonders eifrige Kinobesucher sind (mehr als 12 mal pro Jahr), aber nur ein Sechstel der Mädchen. Von diesen Häufignutzern abgesehen, ist das Interesse am Kino bei Jungen und Mädchen gleich groß. Interessanterweise geht der durchschnittliche Kinobesuch bei den 14- bis 15jährigen leicht zurück und steigt dann wieder an bei den über 18jährigen. Lediglich bei den Häufig-Kinogängem ist eine kontinuierlich steigende Tendenz mit zunehmendem Alter zu verzeichnen. Dies ist auch pädagogisch relevant. Zum ,Vielseher' wird man nicht erst im Jugendalter - wesentlich sind vielmehr die frühen Mediensozialisationsprozesse. Jugendliche Häufignutzer des Kinos haben bereits feste Nutzungsmuster entwickelt, die auch gegenüber der beschriebenen allgemeinen gegenläufigen Entwicklung stabil bleiben. Eine Erklärung für die Altersabhängigkeit des Kinosbesuchs könnte ein p u bertierender' Kinogeschmack und damit eine Neujustierung der Kinonutzung und der Wertschätzung von Filmen sein. Das Interesse an Kinderfilmen lässt nach, die Orientierung verlagert sich langsam zu den Filmen für Jugendliche und Erwachsene, die aber erst ab dem 16. bzw. 18. Lebensjahr besucht werden dürfen. Hinzu kommen geringe Geldmittel und geringe Mobilität - ältere Jugendliche verfügen über mehr Taschengeld, wenn sie nicht schon eigenes Geld verdienen, und sie sind auch beweglicher (Führerschein, eigenes Mofa, später Auto). Ein weiterer Grund könnte in der sich verlagernden sozialen Orientierung von den Eltern weg und hin zu den Gruppen Gleichaltriger liegen. Die bei vielen Jüngeren (unter 14 Jahre) noch feste Einbindung in die Familie und in Familienaktivitäten schließt möglicherweise noch für eine ganze Reihe Jüngerer den Kinobesuch als Familien-Erlebnis ein. Die Abkopplung von der Familie wirkt sich somit aus verschiedenen Gründen zunächst negativ auf die Häufigkeit des Kinobesuchs aus. Fasst man diese Ergebnisse zum Kinobesuch von Jugendlichen zusammen, so erhält man folgende Tendenzaussagen: Die Medienumgebung Kino wird etwas stärker von Jungen als von Mädchen frequentiert, im Altersverlauf zeigt sich keine kontinuierliche Tendenz, sondern ein zeitweiser Rückgang während des Übergangs von einer vorherrschenden Familienorientierung zur vorherrschenden Peerorientierung bei den älteren Jugendlichen. Das Kino ist von der Besuchshäufigkeit auch eher eine Medienumgebung der Haupt- und Berufsschüler und etwas weniger der Gymnasiasten, und das Kino ist - nach dem Kinosterben auf dem Lande - nicht nur von der Ansiedlung her ein urbanes Phänomen, sondern auch von der Nutzung (vgl. Baacke/Schäfer/Vollbrecht 1994, 97ff.).
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Gefragt wurde in der genannten Studie auch nach Gründen, warum Jugendliche ins Kino gehen oder eben nicht. Als Gründe gegen einen Kinobesuch werden am häufigsten die Kosten genannt. Danach folgt in der Häufigkeit der Nennungen der Entfernungsaspekt. Vor allem Mädchen beklagen, es sei zu weit zum nächsten Kino. Örtliche Nähe begünstigt, wie leicht einzusehen ist, Kinobesuche; das Gegenteil wirkt sich dementsprechend negativ aus. Die Existenz eines Kinos im unmittelbaren Nahraum der Wohngegend wirkt sich aufgrund der geringeren Mobilität von Jugendlichen deutlich auf die durchschnittliche Anzahl der Kinobesuche aus (Βaacke/Sander/Vollbrecht 1991, 133). Man könnte daher annehmen, dass viele Jugendliche ihr prinzipielles Interesse an (Kino-)Filmen über andere Medien wie Fernsehen oder Video zu kompensieren versuchen. Für männliche Jugendliche trifft dies auch zu, jedoch kann man die Absage ans Kino: „Ich schaue lieber Fernsehen oder Video", natürlich nicht einzig auf mangelnde Mobilität zurückführen. Fernsehen und Video sind zwar als Konkurrenzmedien zum Kino anzusehen, jedoch tendenziell nur für die Gruppe der Jugendlichen, die sich für Bildschirm- und Filmmedien in besonderem Maß interessieren. Wer gar nicht fernsieht oder kein Video nutzt, der tendiert auch eher zum Nicht-Kinogänger als zum Kino-Häufiggänger. Noch deutlicher als die Jugendlichen, die angeben fernzusehen (das sind heute fast alle Jugendlichen), erkennt man bei den jugendlichen Videonutzern eine generelle Tendenz zu den Bildmedien. Unter den Videonutzern sind extrem wenig Nicht-Kinogänger und extrem viele Häufig-Kinogänger zu finden. Die Konkurrenz von Video und Kino wird also innerhalb der gleichen Untergruppe der filminteressierten Jugendlichen ausgetragen. Motivdifferenzen bei Jungen und Mädchen gegen Kinobesuche gibt es in puncto sozialer Kontexte des Besuchs. Kino ist sowohl für Jungen als auch und sogar noch ausgeprägter - für Mädchen wesentlich ein Gruppenerlebnis. Fehlende Gleichaltrige als Begleitung sind vor allem bei Mädchen ein wichtiger Hinderungsgrund für einen Kinobesuch. Gründe gegen einen Kinobesuch sind bei Jugendlichen also häufig in den schmalen finanziellen Ressourcen und der geringen Mobilität zu suchen. Andere Bildschirmmedien spielen vor allem bei Jungen eine Rolle; Mädchen beklagen häufiger als Jungen, keine Begleitung für den Kinobesuch zu haben. Generell kann gesagt werden, dass die Gründe gegen einen Kinobesuch sehr selten beim Kino selbst zu suchen sind. Unattraktive Filme z.B. werden selten als Grund gegen einen Kinobesuch genannt. In umgekehrter Perspektive zeigt sich, dass bei den Gründen der Jugendlichen für einen Kinobesuch neben dem Interesse an einem bestimmten Film als Auslöser für den Kinobesuch (94,3 % aller Kinogänger) vor allem die Wünsche nach jugendlicher Geselligkeit und der allgemeine Wunsch nach Unterhaltung am wichtigsten sind. Der Auslöser: „Ein oder mehrere Bekannte wollen ins
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Kino, und ich gehe mit" liegt bei Jungen wie Mädchen noch vor dem Wunsch nach Unterhaltung, wobei das Geselligkeitsmotiv bei den Mädchen signifikant höher liegt als bei den Jungen. Jugendliche besuchen das Kino, wenn sie „gut d r a u f sind. Die auch denkbare Escape- oder Ersatzfunktion des Kinos, verbunden mit der Metapher des Kinofilms als Produkt medialer Traumfabriken, spielt demgegenüber keine große Rolle. Wer Stress oder Probleme hat, geht nicht ins Kino, um sich davon abzulenken. Ebensowenig geht man ins Kino, wenn man gerade nichts anderes zu tun weiß - wie etwa das Fernsehen häufig genutzt wird. Jugendliche gehen also eher gezielt als zufällig ins Kino. Das Motiv des „Alleinseins mit Partnerin" spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Berücksichtigt man, dass es sich bei den 20% Jungen bzw. 13% Mädchen mit diesem Motiv wesentlich um jüngere Jugendliche handelt, so scheint das Kino als Ort des zärtlichen Kontakts diese Subfunktion an andere Orte abgegeben zu haben (Baacke/ Sander/Vollbrecht 1991, 134f.). In pädagogischer Perspektive kommt es darauf an, dass Jugendlichen neben den auf bloße Marktgängigkeit abgestimmten Mainstream-Angeboten auch solche zur Verfügung stehen, von denen sie gemäß ihrem Entwicklungsstand profitieren können. Um so besser, wenn diese Angebote sich dann noch gut verkaufen ließen, denn dann fänden sie weite Verbreitung. Die Praxis sieht anders aus: Die hohen Produktions- und Werbungskosten veranlassen die Filmwirtschaft, ihre Filme mit immer höherer Kopienzahl zu verwerten. Das ist von Vorteil für die Provinz, wo schneller aktuelle Filme zu sehen sind, befördert insgesamt aber ein „more of the same", eine flächendeckende Angleichung des Kinoangebots. So sind es vor allem die nichtgewerblichen Filmveranstaltungen in Jugendzentren und anderen Freizeiteinrichtungen, in Vereinen und Schulen - unterstützt von Institutionen wie dem „Kinder- und Jugendfilmzentrum in der Bundesrepublik" (KJF, Remscheid), in denen auch solche Filme gezeigt und gefördert werden, die im Programm der kommerziellen Kinos fehlen. Jugendlichen - soweit sie nicht ausgesprochene Cineasten sind - ist der Unterschied von kommerziellem Kino und nichtgewerblichen Filmangeboten zunächst einmal gleichgültig. Sie wollen vor allem interessante Filme sehen und suchen ein Kinoerlebnis gemeinsam mit Freunden. Die Qualität des Angebots und der Präsentation, ein der Zielgruppe angemessener Preis, aber gerade in kleinen Orten auch die Erreichbarkeit sind dabei von entscheidender Bedeutung. Auch bloße Unterhaltung wird heute als ein legitimes Bedürfnis des Publikums anerkannt - auch für Jugendliche. Die Erfahrungen in der pädagogischen Filmarbeit zeigen jedoch, dass die meisten Jugendlichen auch bereit sind sich einzulassen auf Filmangebote, die pädagogisch wertvoll - und am besten dabei auch noch unterhaltend sind. Wo solche Angebote auf dem Markt der Medien nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind, ist es unsere Verpflichtung als Medienpädagogen, sie Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen.
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2.5. Lesen 2.5.1 .Tageszeitungen Die Tageszeitung war nie ein Medium der Jugendlichen. Nur 4,9 % der Jugendlichen bewerten Ende der 80er Jahre die Zeitung als das Medium, auf das sie am wenigsten verzichten könnten (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, 70). Die 14- bis 19jährigen lesen seltener als andere Altersgruppen eine Tageszeitung, und im Altersverlauf gelingt es ihr erst vergleichsweise spät, jugendliche Leser an sich zu binden. Die Reichweite der Tageszeitungen ist bei den 14- bis ^jährigen stark gesunken: von 70,6% 1984 auf 58,5% im Jahr 2000 (bei weiterhin leicht abfallender Tendenz. Zum Vergleich: bei den 20- bis 29jährigen beträgt die Reichweite 73,9% und bei den Älteren über 80% (Media Perspektiven Basisdaten 2000, 69). Dabei ist das Image der Zeitung bei Jugendlichen so schlecht nicht: Zeitungen gelten im Medienvergleich als besonders informativ, wichtig und glaubwürdig, aber eben auch als alltäglich, wenig besonders, altmodisch und als am wenigsten unterhaltend von allen Medien (Bonfadelli et al. 1986, 236ff.). Jugendliche empfinden Unterhaltung und seriöse Information aber nicht als Gegensatz, sondern unterscheiden ζ. B. auch im Fernsehen zwischen unterhaltsamen und nicht-unterhaltsamen Sendungen, die jeweils informativ oder nichtinformativ sein können (vgl. Dehrn 1984, 221ff.) - und natürlich bevorzugen sie unterhaltsame Sendungen. Selbst die eher Informationsorientierten schauen durchaus auch Infotainment-Sendungen, soweit ihnen die journalistische Glaubwürdigkeit nicht zu kurz kommt. Offenbar werden junge Menschen mit zunehmendem Alter nicht mehr so selbstverständlich zu regelmäßigen Zeitungslesern wie früher, obwohl die höheren Bildungsabschlüsse heutiger Jugendlicher das Gegenteil erwarten ließen. Entscheidende Faktoren auf dem Weg zum Zeitungsleser sind das Elterahaus (Zeitungsabonnement, Ermunterung zum Lesen), die Schule (Zeitung als Thema im Unterricht, Projekte wie „Zeitung in der Schule") und das allgemeine politische Interesse der jeweiligen Jugendlichen. Die Verlage haben seit längerem erkannt, wie wichtig es ist, Jugendliche frühzeitig als Leser zu binden. Spezielle Jugendseiten oder Jugendbeilagen, redaktionelle Beiträge für bzw. von jungen Leuten, ein jüngeres Layout oder Sponsoring von jugendlichen Aktivitäten sollen Jugendliche ebenso an Zeitungen heranführen wie virtuelle Angebote im Internet, die dem spielerischen Umgang von Jugendlichen mit Medien entgegenkommen. Dennoch sind Jugendthemen stark unterrepräsentiert und häufig scheint Jugend in Zeitungen nur als Problemgruppe auf. Den Verlagen stellt sich das Problem, dass Tageszeitungen sich den Jugendlichen modern und unterhaltend präsentieren müssen, ohne ältere Leser zu ver-
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prellen, dass ferner eine Bindung nicht nur für ein spezifisches Jugendangebot, sondern für die Zeitung insgesamt erzielt wird, und dass möglichst viele Jugendliche sich angesprochen fühlen können. Jugendliche sind jedoch die heterogenste Zielgruppe überhaupt. Natürlich gibt es viele Gemeinsamkeiten und zentrale Themen des Aufwachsens, die alle Jugendlichen betreffen (wie Liebe, Sexualität, Berufsfindung), aber die Pluralisierung der Jugend und ihre schnelle , Generationenfolge 4 vergrößern die Unterschiede. Es gibt kein gemeinsames Lebensgefühl aller Jugendlichen, keine gemeinsame Jugendsprache und in den einzelnen Szenen höchst unterschiedliche Formen der Mediennutzung. Beispielsweise können Mainstream-Jugendliche mit den Flyern und Fanzines bestimmter Szenen (z.B. Techno) weder inhaltlich noch im Hinblick auf das allen klassischen Regeln zuwiderlaufende Layout etwas anfangen (vgl. Vollbrecht 1995a, 109ff.). Generell erwarten Jugendliche von Tageszeitungen neben speziellen Jugendthemen in etwa die gleichen Inhalte wie die Gesamtbevölkerung, allerdings eine jugendgemäßere Berichterstattung in unterhaltsamerer Form. Je nach Themengebiet bevorzugen Jugendliche unterschiedliche Primärmedien: das Radio (zunehmend auch Fernsehen) für den Bereich Musik, Fernsehen für ,große' Politik und Wirtschaft, Zeitschriften für Spezialinteressen sowie Zeitungen für lokale Nachrichten, Veranstaltungen im regionalen Raum (Kinoprogramm, Konzerte etc.) und allgemeine Freizeittips. Insbesondere Veranstaltungshinweise werden in erster Linie aus der Tageszeitung bezogen, auch wenn Anzeigenblätter und (in bestimmten Szenen) Flyer hier konkurrieren. Für die Distanz vieler Jugendlicher zu Zeitungen gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Kritisiert wird die oft zu komplizierte und mit Fremdwörtern durchsetzte Sprache ebenso wie die Voraussetzung von Hintergrundinformationen, über die gerade die nicht-nachrichtengewohnten Jugendlichen nicht ausreichend verfügen (beides gilt gleichermaßen für Fernsehnachrichten). Die Berichterstattung ist jedoch auch zu weit von jugendlichen Lebenswelten entfernt, zu denen meist keine Bezüge hergestellt werden. So hat nur eine Minderheit von 15% der Jugendlichen den Eindruck, dass Journalisten wissen, was junge Leute bewegt (vgl. Noelle-Neumann/Schulz 1993, 23). Abgelehnt werden auch die als anbiedernd und peinlich empfundenen Versuche, sich in einer Pseudo-Jugendsprache auszudrücken. Der jugendlichen Leserschaft genügt es nicht, wenn nur einzelne Jugendseiten oder Beilagen jugendgerecht gestaltet werden. Eine stärkere Bindung Jugendlicher an Tageszeitungen lässt sich wohl nur erreichen, wenn Zeitungen die Interessen und Perspektiven von Jugendlichen stärker berücksichtigen und Jugendliche nicht überwiegend als Problemgruppe thematisiert werden.
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2.5.2. Bücher Im Gegensatz zu populären Vorurteilen ist Lesen bei Jugendlichen keineswegs ,out'. Lesen ist vielmehr die fünftliebste Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen und für ein Drittel der Jugendlichen sogar die liebste (Baacke/Sander/Vollbrecht 1991, 90ff.) - freilich mit starken Unterschieden hinsichtlich Geschlechts· und Schichtzugehörigkeit (s. u.). Im Unterschied zu anderen Medienund Freizeittätigkeiten liegt beim Lesen die Einschätzung der subjektiven Wichtigkeit weit über der tatsächlichen Nutzung. „Sowohl Sach-/Fachbücher lesen als auch Romane, Erzählungen, Gedichte lesen bezeichnen vier bzw. drei von zehn Bundesbürgern als wichtig, die tatsächliche Lesehäufigkeit liegt aber um 20 Prozentpunkte bzw. 15 Prozentpunkte darunter" (Franzmann 2001, 90). Der gleiche Trend zeigt sich auch beim Lesen von Zeitschriften, Illustrierten und Magazinen (39% „wichtig" vs. 19% mindestens wöchentliche Nutzung). Lesen wird in der Bevölkerung also hoch geschätzt, aber diese Wertschätzung findet in der Leserealität wenig Widerhall. Sach- und Fachbücher werden von Jugendlichen weit häufiger gelesen als von der Gesamtbevölkerung. Täglich oder mehrmals die Woche lesen 53 % der Jugendlichen diese Bücher (ebensoviele schätzen sie als wichtig ein), aber nur 34% der Gesamtbevölkerung. Dieser große Unterschiede ist leicht zu erklären durch die Anforderungen von Schule, Ausbildung und Studium. Man kann wohl davon ausgehen, dass diese Lektüre nicht immer ganz freiwillig erfolgt oder doch auf die Dauer des Schulbesuchs etc. beschränkt bleibt und daher keine Prognosen über die Lesezukunft dieser Jugendlichen zulässt. Im Bereich der Belletristik liegt die tägliche Lektüre der Jugendlichen um die Hälfte höher als im Bundesdurchschnitt (14%; ebd., 91). Bei der Häufigkeit der Buchlektüre zeigt ein Vergleich mit einer früheren Studie der Stiftung Lesen (1993; s. a. Franzmann/Löffler 1993) von 1992 eine Zunahme am Ende der Skala und einen Rückgang an der Spitze. Anders ausgedrückt: es gibt heute mehr Nichtleser und weniger Vielleser. Gerade bei den Jüngeren hat die Lesehäufigkeit abgenommen. „Nur noch 71 Prozent der 14- bis 19-Jährigen lesen bis zu einmal pro Woche ein Buch (1992: 83%). Bei den 20bis 29-Jährigen sind es nur noch 44 Prozent (1992: 58%). Auch unter denjenigen mit Abitur/Studium lesen 4 Prozent weniger als 1992 wöchentlich in einem Buch (2000: 82%)" (Franzmann 2001, 91). Nach wie vor wird in den neuen Bundesländern (51 %; 1992: 68%) häufiger gelesen als im Westen (38%; 1992: 46%) - allerdings ist hier auch der Rückgang stärker. Der allgemeine Trend einer Angleichung der Mediennutzung in West und Ost zeigt sich also auch beim Lesen. Der beschriebene Rückgang der Lesehäufigkeit kontrastiert eigentümlich mit dem Befund, dass die Zahl gelesener Bücher gegenüber 1992 zugenommen hat. Dies ist darauf zurückzuführen, dass besonders die Vielleser - vor allem sind
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dies Frauen - mehr Bücher lesen. Die Schere zwischen viel und wenig Lesenden hat sich also noch weiter geöffnet. Viel gelesen wurde immer schon in den gebildeteren Schichten, in deren Lebenswelten die Lesekultur einen besonders hohen Stellenwert genießt. Trotz aller Bemühungen um Leseförderung ist es bislang nicht gelungen, die schichtspezifischen Differenzen durch eine Anhebung im unteren Segment aufzuheben oder auch nur nennenswert zu verkleinern. Dies ist auch deshalb bedauerlich, weil dem Lesen als grundlegender Kulturtechnik und Schlüsselqualifikation unter allen Mediennutzungen eine besondere Stellung zukommt und auch Berufs- und damit Lebenschancen in besonderem Maße von der Lesekompetenz der einzelnen abhängen. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass auch künftige Generationen eine qualitativ und quantitativ sehr unterschiedliche Lesekompetenz und literarische Kompetenz ausbilden werden. In den Lebenswelten von Mädchen hat das Lesen einen weit größeren Stellenwert als in denen der Jungen. Vordergründig ist dies - wegen der Bedeutung des Lesens als Kulturtechnik sowie für die literarisch-ästhetische Sozialisation - ein großer Vorteil für die Mädchen. In sozialökologischer Perspektive lässt sich derselbe Befund jedoch auch als Effekt einer Benachteiligung deuten: Jungen werden schon im Kindesalter weniger Hindernisse in den Weg gestellt, neue Räume für sich zu erobern (zur Raumaneignung von Kindern siehe: Herzberg 1992; Nissen 1998), während Mädchen dabei mehr kontrolliert und im Endeffekt stärker an die Wohnung und den häuslichen Nahraum gebunden werden. Neben dem Geschlecht beeinflusst der familiale Bildungshintergrund entscheidend die Lesekarriere. Bereits die Verfügbarkeit von Büchern für Kinder und Jugendliche hängt vom Bildungsstand der Eltern ab. Jugendliche aus bildungsprivilegierten Elternhäusern besitzen zu über 80% mindestens ein Regal mit eigenen Büchern, während dies auf Jugendliche aus unterprivilegierten Familien nur zu 40% zutrifft (Bonfadelli 1996, 5Iff.). Gerade das Leseklima in den Familien ist jedoch entscheidend für die Entwicklung einer stabilen Lesemotivation. Eine selbstverständliche Einbindung des Lesens in den Familienalltag, selbst lesende Eltern (Vorbildfunktion), Gespräche über Leseerfahrungen und -erlebnisse und Interesse für das Lesen (bereits der Kinder) sind Faktoren, die die Lesesozialisation begünstigen (Hurrelmann/ Hammer/Nieß 1993). Die Schule wirkt hier nicht kompensierend, sondern aufgrund der Selektion ihrer Schüler nach Bildungsschichten noch differenzverstärkend (Bonfadelli 1996, 57). Temborius weist darauf hin, dass es für die Förderung einer dauerhaften Lesemotivation wichtig ist, „Lese- und Rezeptionsbedürfnisse kennenzulernen, die nur Literatur stillen kann; denn die Unterhaltungs- und Informationsfunktionen können leicht von den übrigen Medien erfüllt werden" (Temborius 1999, 29). Die oben angeführten Themeninteressen von Jugendlichen können dabei hilfreich sein.
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Jugendliche haben andere inhaltliche Erwartungen an Bücher als Erwachsene. Für Jugendliche sollen Bücher „so sein, dass ich davon lernen und profitieren kann" (55 %; gesamt: 44%), „dass ich mich in die Rolle von Figuren hineinversetzen kann" (38% vs. 30%), „lustig sein, Humor haben" (41% vs. 33%), „mich in eine andere (Fantasie-) Welt versetzen" (31 % vs. 26%) und vor allem „spannend sein/faszinieren" (63% vs. 60%). Andere Aspekte werden von Erwachsenen stärker betont als von Jugendlichen. Diese Erwartungen beziehen sich darauf, dass Bücher „zum Denken anregen" sollen (41 %; gesamt: 45 %), „aktuelle politische und soziale Probleme behandeln" (8% vs. 21 %), „Lebensprobleme behandeln" (19% vs. 29%), „von Liebes- und Beziehungsproblemen handeln" (17% vs. 24%), „mich den Alltag für eine Weile vergessen lassen" (33% vs. 47%) und „fremde Kulturen und andere Zeiten zeigen" (15% vs. 28%). Zu beachten ist, dass bei diesen Daten (Franzmann 2001, 93) nicht Jugendliche und Erwachsenen gegenübergestellt werden, sondern Jugendliche und die Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren, in der die Jugendlichen enthalten sind. Die tatsächlichen Unterschiede fallen also noch größer aus. Interessant ist, dass beim Lesen das Eskapismus-Motiv („den Alltag für eine Weile vergessen") bei Jugendlichen weit geringer ausgeprägt ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Die Eskapismusfunktion dürften für Jugendliche stärker die Musikmedien übernehmen. Ein Wandel zeigt sich in den Lesestrategien, also darin, wie gelesen wird. Vor allem das überfliegende Lesen hat bei den 14- bis 19jährigen stark zugenommen (1992: 11%; 2000: 31%). Auch die Parallel-Lektüre von zwei oder mehreren Büchern ist bei Jugendlichen heute doppelt so häufig wie vor acht Jahren (11% vs. 20%). Wie ist dies zu interpretieren? Da Parallel-Lektüre insbesondere in den höher gebildeten Schichten anzutreffen ist, stellt Franzmann (ebd., 94) die Frage, ob es sich um „eine Variante des im übrigen diagnostizierten Querlesens" oder eher um die „Verbreitung eines souveränen Lesestils" handelt. Hier sind weitere Forschungen notwendig. Diese Lesestrategien zeigen auffällige Ähnlichkeiten zum Zapping beim Fernsehen. Rezeptionshaltungen, die Jugendliche beim Fernsehen erwerben, werden hier möglicherweise auf das Lesen übertragen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Frage, ob das Lesen zurückgeht oder nicht. Einen leichten Aufwärtstrend verzeichnet eine Studie der BertelsmannStiftung (Langen/Bentlage 2000) mit Vergleichsdaten von 1996 und 1999. Der dort erstellte „Leseindex" zeigt eine Abnahme im „sehr niedrigen" Segment um fünf Prozent und eine Zunahme um drei Prozent bei der „hohen" Leseintensität. Die Studie der Stiftung Lesen über „Leseverhalten in Deutschland" belegt dagegen - wie oben dargestellt - einen Rückgang der Lesefrequenz und gleichzeitig, dass mehr Bücher gelesen werden. Die Lesefrequenz ist offensichtlich als alleiniger Indikator nicht hinreichend. Einbezogen werden muss neben der Häufigkeit des Buchlesens auch die Anzahl der gelesenen Bücher pro Jahr sowie
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die Einschätzung der Leseintensität und des Lesens als wichtigste Freizeitbeschäftigung. Die verdichtete Betrachtung der Daten von 1992 und 2000 zeigt: Die Leseintensität hat zugenommen. Die Zahl der Kaum- oder Wenigleser hat sich um 8 Prozentpunkte reduziert, der Anteil der Durchschnitts- und Vielleser ist um 5 Prozentpunkte bzw. 3 Prozentpunkte gewachsen (Franzmann 2001, 96).
Dieser Befund eines leichten Aufwärtstrends ist im Grunde genommen erfreulich. Er wird allerdings dadurch konterkariert, dass noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung (45 % - ein Minus von 8 %) zu den Kaum- und Weniglesern zählt. Zudem wird vor allem Sach- und Fachliteratur stärker nachgefragt, während die erzählende Literatur kaum profitiert. Des weiteren zeigt die Studie, dass günstige Einflussfaktoren auf die Lesesozialisation von allen Befragten, jedoch besonders deutlich von den 14- bis 19jährigen, durchgängig sehr viel seltener genannt werden als noch vor acht Jahren. Die Unterschiede sind gravierend: Das Item „Bei uns zu Hause achtete man immer sehr darauf, dass ich gute Bücher las" wird nur noch von einem Viertel der Jugendlichen genannt (25 % vs. 46 % im Jahr 1992), „oft Bücher in der Bibliothek oder Bücherei ausgeliehen" haben 26 % (51 %) der Jugendlichen, den „Deutschunterricht" fanden 32 % (54 %) „sehr interessant", sich oft mit den „Eltern über ein Buch unterhalten" trifft auf 27 % (38 %) der Jugendlichen zu und „bei uns zu Hause gab es viele Bücher" sagen nur noch 4 1 % (60%) der Jugendlichen. Bei den letzten drei Items lagen und liegen die Werte für die Jugendlichen allerdings höher als bei Erwachsenen. Insgesamt sind diese Befunde schwer einzuordnen. Vor allem das letzte Item überrascht, da dieselbe Studie belegt, dass der Bücherbesitz zugenommen hat. Fraglich ist auch, wie aussagekräftig das erste Item mit der Betonung auf gute Bücher ist. Auch die Ausleihfrequenz von Büchern aus Bibliotheken kann anders gedeutet werden. Viele Leser möchten ein interessantes Buch nicht nur lesen, sondern auch besitzen wie einen Schatz - auch wenn die Erfahrung lehrt, dass nur wenige Bücher tatsächlich mehrmals gelesen werden. Andererseits sind Jugendliche nicht gerade eine finanzkräftige Altersgruppe, also eher auf Ausleihe oder Buchgeschenke angewiesen. Lesehindernisse sind einerseits die zeitliche Konkurrenz mit anderen Medien und Freizeittätigkeiten, andererseits - und dies ist vielleicht das auffälligste Ergebnis der Studie „Leseverhalten in Deutschland" - die Unübersichtlichkeit des Buchmarkts. Drei Viertel der Befragten geben diesen (damit meistgenannten) Grund als Lesebarriere an, und bei Jugendlichen sind dies noch 19% mehr (Franzmann 2001, 94). Damit stellt sich die Frage, wo Jugendliche denn Kaufanregungen und Hinweise auf interessante und faszinierende Bücher bekommen. Persönliche Empfehlungen (63%, gesamt: 57%) und Buchgeschenke (51% vs. 45 %) sind für Jugendliche wichtiger als für Ältere, ebenso wie Bibliotheken, die von ihnen mit 23% (1992: 30%) doppelt so häufig genutzt werden wie von
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Erwachsenen. Anregungen durch andere Medien (vor allem Fernsehen) sind in allen Altersgruppen wichtiger geworden. Entscheidend für die Lesesozialisation sind auch die subjektiven Leseerlebnisse, die nicht unbedingt von der literarischen Qualität eines Buches abhängen (Schön 1993). Trivialliteratur ist daher nicht grundsätzlich abzulehnen, da es zunächst darum gehen muss, Lesefreude zu entwickeln und Leseerfahrungen zu erwerben, um überhaupt eine Grundlage für die Beurteilung literarischer Qualität zu erreichen - und damit für die über Lesesozialisation hinausgehende literarische Sozialisation. Es bleibt aus Sicht einer sozialökologischen Medienforschung noch anzumerken, dass Jugendliche zum Lesen vor allem auch Räume und Muße benötigen. Über ein eigenes Zimmer verfügen längst nicht alle Jugendlichen. Die Studie „Zielgruppe Kind - Kindliche Lebenswelten und Werbeinszenierungen" zeigt, dass 79% der 6- bis 13jährigen Gymnasiasten über ein eigenes Zimmer verfügen, aber nur 46% der Hauptschüler (Baacke/Sander/Vollbrecht u.a. 1999, 37) - wiederum ein Schichteffekt zu ungunsten der bildungsfernen Jugendlichen. Und Muße ist in einer Gesellschaft, die der Effektivität höchste Priorität einräumt, ein knappes Gut geworden. Die prall gefüllten Terminkalender, die manche Kinder heute bereits haben, stehen für eine Beschleunigung unseres Alltags, die kaum noch Zeiten der Muße und Reflexion zulässt. Muße und - in unserer lauten und geschwätzigen Welt - auch Stille genießen zu können, muss vielfach erst wieder gelernt werden. Die insgesamt gestiegenen Freizeit- und Medienangebote - auch die neuen Medien (vgl. dazu: Hurrelmann 1994; Heidtmann 1996) - verdrängen das Lesen nicht, gehen jedoch schon rein zeitlich auch auf Kosten des Lesens und fördern auch Rezeptionserwartungen, die den Zugang zu komplexerer Literatur erschweren dürften. Generell sinkt die Lesehäufigkeit in allen Industrieländern außer Japan (Franzmann 1996, 81), während interessanterweise die Buchproduktion immer weiter zunimmt - von 1970 bis 1999 stieg die Buchtitelproduktion um 72% von 47096 auf 80779 Titel (Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., zit. n. Media Perspektiven Basisdaten 2000, 60).
2.6. Manga und Anime Japan liefert auch das Stichwort für einen relativ neuen Trend in der - in Deutschland relativ kleinen - Comic-Szene. Seit Anfang der 90er Jahre erfreuen sich in allen westlichen Industrieländern japanische Comics - Manga genannt - bei Jugendlichen einer wachsenden Beliebtheit. Heutige Jugendliche sind als Kinder mit japanischen Zeichentrickfilmen - sogenannten Animes (abgeleitet vom englischen Begriff Animation) - im Fernsehen wie ζ. B. „Sailormoon" aufgewachsen und daher mit der spezifischen, zeichentrickfilmähnlichen Ästhetik
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der Manga vertraut (zu Manga und Animes siehe: Berndt 1995, Schodt 1996 sowie Vollbrecht 2000/2001). Zunehmend werden auch Animes für die Altersgruppe der Jugendlichen verbreitet und laufen z.B. auch als Hintergrundfilme in Diskotheken. Zur Zeichencodierung von Comics verweise ich auf die lesenswerte Einführung von Scott McLoud (1994) - allgemein zu Comics siehe Knigge 1996, zur Zensur im Comic Schnurrer (Hg.) 1996. In Japan gibt es Manga und Animes zu jedem erdenklichen Thema. In Deutschland werden vor allem die Genres Comedy, Abenteuer und Science-Fiction abgedeckt, daneben existiert ein Adultbereich mit erotisch-sexueller Ausrichtung. Generell sind Manga und Animes ein expandierender Markt, der auch stark ,cross-over' ausgerichtet ist. Damit ist gemeint, dass dieselbe Story sowohl als Manga wie auch als Anime auf Video, Laserdisc und CD-ROM angeboten, manchmal auch im Fernsehen oder (in Deutschland bislang noch die Ausnahme) als Kinofilm gezeigt wird. Selbstredend gibt es die Soundtracks dazu auf CD, und Internetnutzer können eine unüberschaubare Fülle von Bildern im Netz abrufen. Dies sind oft von Fans (Otakus) erstellte Bilder (sogenannte Dojinshi). Auch am Beispiel von Manga und Animes zeigt sich, wie sehr eigentlich Belangloses in den virtuellen Welten der Jugendszenen mit subjektiver Bedeutung aufgeladen sein kann. Dies verdeutlicht der folgende Leserbrief eines Mädchens aus der „AnimaniA" (Nr. 28, 1999, H.2, 85f.), der einzigen deutschen Zeitschrift zum Thema Animes und Manga. Da vielen Leserinnen und Lesern dieses Buches die im Leserbrief genannten ,Fachbegriffe' und Namen nicht geläufig sein dürften, werden sie im Anschluss an die Kommentierung des Leserbriefs kurz erläutert. Frohes neues Jahr, Ihr Lieben! Ja, ich bin's mal wieder, Aqua. Und zwar habe ich diesmal eine grauenvolle, haarsträubende Moonie-Horrorstory parat, die wollte ich Euch nicht vorenthalten. Heute bin ich mit Ignis in einem Comicladen in Hamburg-Mundsburg gewesen, um ein paar Tradingcards von Ranma zu kaufen (Nebensache) und Urushihara-Artbooks anzusabbern (auch Nebensache). In diesem Laden hatten sie aus den USA importierte Figuren von Sailor Uranus, Neptun, Pluto und Saturn, die hier in Deutschland ja bekanntlich nicht zu haben sind. Ich hatte von einer Brieffreundin in Amerika schon eine Sailor-Pluto-Figur geschenkt bekommen und interessierte mich auch für die anderen (bei hübschen Figuren kommt meine Sailor Moon-Liebe wieder hoch). Nun, wirklich schön waren sie nicht, sie hatten so eklig große Augen. Dennoch war ich kurz davor, mir Haruka und Michiru zu kaufen, zumal sie die einzig vernünftigen Sailors sind (Nebensache). In diesem Moment wurde die Tür brutal aufgerissen und zwei Mädchen, etwa 12-14 Jahre alt, kamen laut „WO SIND SIE?!" kreischend hereingestürzt. Hinter mir bauten sie sich auf und suchten wild gestikulierend und den ganzen Laden erschreckend die Regale hinter dem Tresen ab. Plötzlich fuchtelten sie wie verrückt in Richtung Figuren (nichts anderes hatten sie anscheinend gesucht), begleitet von „DAAAÜ! PUUUUÜ SÜÜÜÜSS!! OOOHÜ AAAHÜ SÜÜÜÜSS !!"-Geschrei, was auch den letzten Kunden im Laden die Augen verdrehen ließ. Na, denk' ich, wenn du die Figuren noch in deine Anime-Samm-
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lung aufnehmen willst, tu's JETZT, sonst siehst du sie nie wieder. Zum Glück stand ich vor den hysterischen Moonies (als nichts anderes kann man sie bezeichnen) und konnte mir die Dinger sichern. Kaum hatte ich gesagt, was ich wollte, da ging das Geplärre hinter mir los: „OH NEIIIIN! GEMEIN! OCH MAAAANNNÜ" Bevor sie mich noch erwürgten (wie war das noch? Wenn Anime-Fans auf Artgenossen losgehen ... früher nannte man sowas Futterneid ...) flüchtete ich zu Ignis in die andere Ecke des Ladens. Von dort beobachtete ich folgende Szene: die Moonies fragten den völlig verdatterten Verkäufer lautstark (ehrlich, es hätte nicht viel gefehlt, und sie wären dem armen Kerl über den Tresen gesprungen!), wo er noch welche von den Figuren hat. Da er fatalerweise keine mehr zur Hand hatte, verwies er sie auf's Schaufenster (wer weiß, was die sonst mit ihm - ganz zu schweigen von den bösen Blicken, die MIR galten - angestellt hätten). Aha-Effekt bei den Moonies. Noch ein hoffnungsvolles „Komm, Bunny! Zum Schaufenster!!", Moonies ab, und es war wieder still. Nur ein entnervtes „Du Scheiiiiiße" konnte ich mir nicht verkneifen. Zwei Minuten Ruhe. Dann wurde die Tür, diesmal nicht ganz so heftig, wieder aufgemacht und zwei scheinbar kurz vor'm Suizid stehende und in allen Hoffnungen enttäuschte Moonies kamen wieder rein. Anscheinend hatte das Schaufenster den Verkäufer auch nicht gerettet. Nachdem die Moonies noch immer wieder den ganzen Laden unterhaltend „GUCK MAL BUNNY!! NUN GUCK DOCH!!" kreischten und Moonie 1 Bunny alle möglichen Sachen gezeigt hatte, zogen sie schließlich mit Pauken und Trompeten ab, nicht ohne sich vorher noch deutlich vernehmbar mit einem „Ich könnte sie umbringen, die olle Kuh!" von mir zu verabschieden. Ende. Also, mal ehrlich. Erstens waren das US-Importe, die man relativ gut nachbestellen kann, und da auch ein Comichändler sich seine Brötchen verdienen muß, wird er das auf Anfrage wohl auch gerne tun. Zweitens geht die Welt nicht unter, wenn man mal einen Sailor Moon-Artikel NICHT bekommt (ich weiß noch genau, wie mir ein kleines Kind damals das erste Sailor Moon-Artbook vor der Nase weggeschnappt hat - und ich lebe immer noch!), egal wie extrem die Leidenschaft ist. Und drittens, Herrgott nochmal, wie soll man als Animefan einen ernstzunehmenden Status in der Gesellschaft erreichen, wenn es Leute gibt, die nicht mal wissen, wie man sich außerhalb seiner Sailor Moon-Welt und innerhalb eines Comicladens normal benimmt?! Ich war/bin auch manchmal in meiner Freude kaum zu bändigen, wenn ich was Schönes in die Finger kriege, aber gleich den ganzen Laden zusammenschreien, wegen jedem Gegenstand, den man sieht? Und andere, die eben mehr Glück gehabt haben, deswegen gleich umbringen zu wollen? Leute, es tut mir ja leid, dass Ihr die Figuren NICHT abgekriegt habt, aber meint Ihr nicht, dass ihr da etwas übertrieben habt? Und was mich am meisten interessiert: WAR EUCH DAS ALLES NICHT STERBENSPEINLICH?! So, das wollte ich nur loswerden. Eine Frage noch (für Co-Chan): Was wißt Ihr über das Spiel/die Serie „Sentimental Graffiti"? Das war's für diesmal - bis bald!! AQUA P. S. Ich grüße die beiden Mädchen, die vor den Moonies (Bunny und ihrer Freundin) im Comicladen Mundsburg waren (2. Januar 1999, etwa gegen 15 Uhr). Eine von Euch hat ein Päckchen Dragonball-Z-Karten gekauft und eine Sailor Saturn-Figur (Achtung Moonies! Noch jemand zum Umbringen!) Ihr saht so nett aus, dass ich mich hinterher geärgert habe, dass ich Euch nicht angesprochen habe (ich war die mit den roten Haaren neben Euch)! P.P.S. Ryoga ist meiner.
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Auffällig ist, dass die Schreiberin nicht mit bürgerlichem Namen unterzeichnet, sondern sich Aqua nennt. Sie verortet sich damit selbst in der virtuellen Welt des Manga und stellt mit dem Namen Aqua, also Wasser, eine Nähe her zu der Mangafigur Ranma Saotome, dessen Tradingcards sie kaufen wollte, und der in dem Manga „Ranma V2" bei Berührung mit kaltem Wasser zum Mädchen bzw. mit warmem Wasser zurück zum Jungen mutiert. Die Figur ihres Begehrens ist jedoch nicht der geschlechtlich zweifelhafte Ranma, sondern ein anderer Junge aus demselben Manga, Ryoga Hibiki, wie sich aus dem Postscriptum „Ryoga ist meiner" ersehen läßt. Die Sailor Moon-Welt ist dagegen eher auf Kinder ausgerichtet, und Aqua hat sich aus ihr schon fast verabschiedet. Nur manchmal - wie beim Anblick der Modelkits (bemalte Resin- oder Kunstharzmodelle) - kommt ihre alte „Sailor Moon-Liebe wieder hoch", und gerade Haruka und Michiru gehören zu den Sailorkriegerinnen, die von älteren Sailor Moon-Leserinnen mehr geschätzt werden als die sehr kindliche Usagi Tsukino (Sailor Moon). Hier wird deutlich, dass diese Fankultur - wie andere Jugendkulturen auch - keine Heimat auf Dauer anbieten, sondern transitorisch sind, also auch wieder aufgegeben werden müssen. Und eines Tages wird Aqua sich vielleicht fragen, warum ihre eigenen Kinder sich ausgerechnet zu dieser oder jener Fanszene hingezogen fühlen. Erklärung der Fachbegriffe und Namen: Sailor Moon (Pretty Soldier Sailor Moon) ist vor allem durch die Ausstrahlung im Fernsehen zur bekanntesten und beliebtesten Serie geworden, die sich an jüngere Jugendliche und Kinder, vor allem Mädchen richtet. Der zugrundeliegende Manga von Naoko Takeuchi erscheint in Deutschland in einer Taschenbuchreihe bei Carlsen Comics sowie im Heftformat. Die von älteren als zu niedlich und kindisch empfundenen Geschichten um die mit magischen Fähigkeiten begabten Sailor-Kriegerinnen, aber auch die Dominanz in der Berichterstattung und im Fanartikelbereich führt bei vielen Manga-Fans zur Ablehnung der Serie. Moonies ist die etwas abfällige Bezeichnung für uneingeschränkte Sailor Moon-Fans. Bunny ist der Spitzname von Usagi Tsukino (Sailor Moon). Ihre Mitstreiterinnen sind Sailor Mercury (Ami Mizuno), Sailor Mars (Rei Hino), Sailor Jupiter (Makoto Kino) und Sailor Venus (Minako Aino). In späteren Staffeln kamen hinzu: Sailor Pluto (Setsuna Meio), Chibi-Usa oder Chibi-Moon (Sailor Moon durch Zeitsprung aus der Zukunft als Kind in der Gegenwart), Sailor Uranus (Haruka Tenno), Sailor Neptun (Michiru Kaio) und Sailor Saturn (Hotaru Tomoe). Ranma V2 (Hime-chan no ribbon) von Rumiko Takahashi erscheint in Deutschland bei Feest Comics ebenfalls in einer Taschenbuchreihe. Das Wort ,chan' steht im japanischen für niedlich. ,No ribbon' bzw. ,V2l ist hier mit ,eins in zwei Teilen4 zu übersetzen und ist als Hinweis auf die magische Geschlechtsverwandlung zu verstehen.
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Satoshi Urushihara ist ein Mangaka (Mangazeichner), der bekannte Manga wie „Legend of Lemnear" und „Plastic Little" gezeichnet hat. Auf seinen erotischen Zeichenstil verweist Aquas Absicht, „Urushihara-Artbooks anzusabbern". Dragonball (Dai zen shu) von Akira Toriyama ist der weltweit meistverkaufte und erfolgreichste Manga. Allein für Merchandising-Artikel wurden bislang über drei Milliarden US-Dollar umgesetzt (vgl. Dragonball, Bd. 10, 181). Zu Dragonball sind seit 1989 allein in der „DragonBall Ζ Hit-Collection" 18 Musik-CDs sowie ein „Best of'-Sampler erschienen, daneben mehr als 30 CDs als Einzeltitel, die allesamt in Deutschland kaum erhältlich sind. Einen Eindruck verschafft „Wuken's Dragonball Listening Booth" (Internet-Adresse: http:// wuken.tierranet.com/dbzmusic.html). Unter japanischen Fans ist „Cha-La HeadCha-La" besonders beliebt, der von Kageyama Hironobu gesungene Titelsong der ersten zweihundert TV-Folgen von Dragonball Ζ (eine Fortsetzung der ersten Dragonball-Staffel). Die Idee von Akira Toriyama zu Dragonball war ursprünglich eine Parodie auf die aus China stammende und heute in ganz Asien bekannte Legende vom Affenkönig Sun-Wu-Kong (daher hat der Protagonist Son-Goku einen Schwanz). Der Manga erzählt jedoch eine eigenständige Geschichte, in der lediglich einige Zitate aus der alten Legende auftauchen. In Deutschland sind 42 Bände im Taschenbuchformat (je 9,95 DM) bei Carlsen Comic erschienen. Erstmals wurde dabei die japanische Leserichtung von rechts nach links beibehalten, während die Bilder eines Manga meist für den europäischen und amerikanischen Markt gespiegelt (oder gar neugezeichnet) werden müssen, wodurch z.B. alle Rechtshänder zu Linkshändern werden. Sentimental Graffiti ist ein nur in Japan erhältliches Computer- und Konsolenspiel, bei dem man die Rolle eines Schülers an einer japanischen Schule einnimmt. Je nach gewählten Fächern (und Erfolg) und je nach Auswahl eines der an der Schule angebotenen Clubs kann man sechzehn unglaublich niedliche Mädchen kennenlernen und muss eine als feste Freundin für sich gewinnen. Solche ,Anbaggerspiele' (ohne explizit sexuelle Szenen) sind in Japan derzeit sehr beliebt. Artbooks beinhalten Bilder eines Mangazeichners (nicht unbedingt nur zu einer Serie) und kosten in Deutschland etwa 30 bis 80 DM. Tradingcards sind preiswerte Sammelbilder, die es zu vielen bekannten Manga gibt. Daneben sind auch Figuren einzelner Charas (von characters) - komplett fertig oder zum selber anmalen - sowie Modelkits (von Fahrzeugen, Robotern etc.) als Merchandisingartikel sehr begehrt.
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Neue Informations- und Kommunikationstechnologien
Die neuen Medien wie Computer, Internet und Mobiltelefone stoßen bei Jugendlichen auf großes Interesse. Generell gilt, dass Jugendliche den neuen Technologien gegenüber weit weniger Berührungsängste haben als ältere Menschen. Die Zugangschancen sind für sie jedoch im Vergleich mit audiovisuellen Medien noch erheblich geringer und auch sozialstrukturell sehr ungleich verteilt.
3.1. Computerspiele Genutzt werden Computer von Jugendlichen insgesamt am häufigsten für Computerspiele (56% täglich/mehrmals die Woche) - hier gibt es allerdings gravierende geschlechtsspezifische Unterschiede. Jungen (70 %) spielen sehr viel mehr Computerspiele als Mädchen (33%; Feierabend/Klingler 2000, 23). Verbreiteter als Computer sind bei Kindern und Jugendlichen die preiswerteren Spielkonsolen, die in der für Spiele wichtigen Grafikleistung jeden PC übertreffen. Die in den Anfangsjahren anzutreffenden Spiele mit grober Pixelgrafik sind praktisch vom Markt verschwunden. Mit einem Spiel wie „Pong", das als erstes Bildschirmspiel in den 70er Jahren auf den Markt kam, könnte man heutige Jugendlichen kaum beeindrucken. Die Spielidee von „Pong" war simpel: wie beim (Tisch-) Tennis versuchen zwei Spieler einen - als Lichtpunkt dargestellten - Ball am Schläger (Lichtbalken) des Mitspielers vorbeizuschlagen und damit Punktgewinne zu erzielen. Immer bessere Hardware und Software, für die die Spielhintergründe nicht mehr von Hand sondern computermodelliert werden, ermöglichen heute Simulationen, von denen damals niemand zu träumen wagte. Die Ästhetik heutiger Spiele ist teilweise beeindruckend. Diese Spiele stellen allerdings hohe Anforderungen an Computerprozessoren und Grafikkarten. Video- und Computerspiele sind vor allem für die Jüngeren interessant, während das Interesse mit etwa 15 Jahren stark nachlässt; sie sind eine ausgeprägte Domäne der Jungen. Dies hängt mit den meist action-orientierten Spielinhalten zusammen, von denen Mädchen weit weniger fasziniert sind und möglicherweise auch mit dem computerspieltypischen Leistungsstress, dem die Mädchen sich hier ,just for fun' weniger zu unterwerfen bereit sind. Trotz
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entsprechender Versuche der Industrie, die Mädchen als Zielgruppe für Computerspiele zu gewinnen, bereitet es offenbar große Probleme, geeignete Thematiken zu finden und mädchengerecht aufzubereiten. Der Versuch einer Computerspielfirma, gemeinsam mit jüngeren Mädchen ein Spiel zu entwerfen, endete mit einer Art ,Barbie digital' als virtuelle Anziehpuppe. Besonders beliebt bei Mädchen sind „Jump & Run"-Spiele (Mädchen: 46,3 %, Jungen: 16,7%) wie z.B. „Super Mario" sowie Denk- und Geschicklichkeitsspiele (M: 20,0%, J: 5,3%). Jungen bevorzugen Simulationen (J: 35,2%, M: 11,1 %) wie z.B. Fahr- und Flugsimulatoren sowie Actionsspiele (J: 32,1 %, M: 13,4%). Adventure-Spiele unterscheiden sich in ihrer Beliebtheit dagegen kaum (J: 10,6%, M: 8,1%). Edutainmentangebote sind relativ unbedeutend und werden von Mädchen häufiger genutzt (J: 0,2%, M: 1,0%; die Prozentzahlen beziehen sich auf die Nutzer von Computerspielen; Angaben nach: Fromme 1997, 23; s.a. Fromme/Meder/Vollmer 2000). Es gibt heute ein unüberschaubares Angebot an Computerspielen und jährlich kommen etwa 1000 neue hinzu (Dittler 1993). Wie groß der Spielemarkt ist, zeigt bereits ein Blick in die Zeitschriftenabteilung eines beliebigen Supermarktes: Mehr als 50 Computerzeitschriften, von denen sich etwa die Hälfte (auch oder speziell) an Spielefreunde wendet, sind inzwischen die Regel. Grundsätzlich muss zwischen ,Konsolenspielen' und ,PC-Spielen' unterschieden werden. Konsolenspiele lassen sich ausschließlich auf Spielkonsolen (der Firmen Sega, Sony und Nintendo) betreiben, während andere Computerspiele über Disketten, CD-ROM oder als Online-Spiel via Internet auf jedem Computer laufen, der die notwendigen Hard- und Software-Komponenten enthält. Im Gegensatz zu Konsolenspielen lassen sich andere Computerspiele (teilweise trotz Kopierschutz) kopieren und weitergeben. Hier ist zum Ärger und finanziellen Schaden der Hersteller ein grauer Markt entstanden, auf dem auch vom Jugendschutz indizierte oder strafrechtlich verbotene Angebote zirkulieren. Durch die 1994 erfolgte Einrichtung einer freiwilligen Selbstkontrolle der Branche, die jedes Spiel mit einer Altersbeschränkung ähnlich der bei Videofilmen versieht, erfolgte jedoch eine Marktbereinigung. Prinzipiell sind alle Computerspiele gekennzeichnet durch einen „Aktivierungszirkel" (Fritz 1984, 361). Weil man gegen das Programm nicht gewinnen kann, sondern allenfalls immer ,bessere' Ergebnisse (Highscores) erzielt, fällt es schwer aufzuhören. Die Folge ist eine starke Leistungsorientierung, die sich mancher Lehrer für seinen Unterricht wünschen würde. Die unmittelbare Rückmeldung über die eigenen Spielleistungen verschafft Erfolgserlebnisse, die allerdings mit Anspannung, Stress und manchmal Erschöpfung durch zwanghaftes Weiterspielen erkauft werden. Der Spieler ist in der Situation des Sisyphos, aus der er - im Unterschied zum Mythos - jedoch letztendlich erlöst wird. Ein Abnutzungseffekt eines Spiels tritt relativ schnell dann auf, wenn keine neuen Fortschritte erzielt werden oder alle Spiel-Levels durchgespielt und bekannt sind.
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Neue Informations- undd Kommunikationstechnologien
Gute Spiel-Leistungen lassen sich nur durch eine starke Affektkontrolle erzielen. Damit korrespondiert eine Bevorzugung von sozialen Spielsituationen. Computerspiele werden zwar auch alleine gespielt, aber gerne auch zu zweit oder mehreren. Denn im Erleben der Spieler wird die Affektkontrolle im Spiel ausgeglichen, wenn sie gemeinsam spielen können. Wer gerade nicht an der Reihe ist, schaut zu und kommentiert die Leistungen des jeweiligen Spielers. Seit den 90er Jahren werden auch Multi-Player-Konsolen angeboten, mit denen auch mehrere Spieler gleichzeitig spielen können. Der typische Zugang von Kindern und jüngeren Jugendlichen zu Computerspielen basiert auf einer Versuch-Irrtum-Strategie. Die damit verbundene Möglichkeit, „die Regeln des Spiels selbständig zu entdecken und zu erschließen, scheint gerade für Kinder, die häufig äußerlich vorgegebene Vorschriften befolgen sollen, ein attraktives Angebot zu sein" (Leu 1993, 69). Dies zeigt sich auch bei den in vielen Spielen enthaltenen englischen Textpassagen. Ein mangelndes Verständnis der darin beschriebenen Rahmenhandlung mindert den Spielwert für die Kinder keineswegs. Die unmittelbar wahrnehmbaren Konsequenzen, die das Programm rückmeldet, genügen ihnen vollauf. Dies lässt sich auch als Anzeichen dafür werten, dass Computerspieler den Inhalten von Spielen nur eine geringe Bedeutung zumessen - entscheidender sind der Spielspass und eine ansprechende Animation. Auch die starken Leistungsanforderungen der Computerspiele tragen dazu bei, „dass der Spielinhalt in den Hintergrund tritt. (...) Der Spieler selbst abstrahiert von der Inhaltlichkeit des Spiels" (Fritz 1984, 361). Im Unterschied zu den meisten Erwachsenen betrachten gerade die Jüngeren Computerspiele nicht unter moralischen Gesichtspunkten. ,Richtig' ist, was nach der formalen Programmlogik zum Erfolg führt. Leu kommt in seiner Studie über den kindlichen Umgang mit Computern zum Ergebnis einer „Irrelevanz der Inhalte" von Computerspielen. „Spielinhalte sind von nachrangiger Bedeutung und erscheinen vielmehr als eine Frage des Geschmacks denn als Ausdruck bestimmter Wertorientierungen" (Leu 1993, 71). Eine Gleichgültigkeit gegenüber den Spielinhalten sieht auch Fritz, demzufolge die funktionale Verengung der Wahrnehmung auf „Überlebensreize" im Spiel die Spielinhalte überlagern muss, wenn der Spieler keinen Spielabbruch riskieren will (Fritz 1988, 210). In der Tat kann man viele Gründe für die Annahme finden, dass weniger der Spielinhalt als vielmehr die Machart des Spiels, Grafik, Sound und Animation den Spielspass im wesentlichen bewirken. Die Spielgeschichte schafft lediglich die primäre Motivation, sich auf ein Spiel einzulassen. Diese kann - je nach sozialem Hintergrund und individueller Medienbiographie - sehr unterschiedlich sein und ist auch durch die jeweiligen Moden im Freundeskreis geprägt. Trotz der tendenziellen Irrelevanz der Spielinhalte machen Kinder und Jugendliche einen klaren Unterschied „zwischen dem Inhalt und der Form von Darstellungen. Von einer guten Darstellungsform wird nicht ohne weiteres auf
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einen guten Inhalt geschlossen [...] Das Einüben dieser Differenz ist wohl ein Teil des ,geheimen Lehrplanes' von Computerspielen" (Leu 1993, 72). Pädagogische Aufklärungsbemühungen, z.B. mit Spielen zur politischen Bildung rassistischen Spielen entgegenzutreten, sind bei einer Irrelevanz der Inhalte aber wohl zum Scheitern verurteilt. Video- und Computerspiele wirken auf jüngere Spieler außerordentlich faszinierend. Erst im Alter von etwa 10 Jahren kommt es bei einer durchweg positiven Grundeinstellung zu Differenzierungen in der Spielbeurteilung, und Leistungsanforderungen werden deutlicher wahrgenommen. Ältere Spieler beschreiben die Spiele zunehmend als langweilig und anstrengend, und viele verlieren mit etwa 15 Jahren das Interesse an ihnen. Mädchen bevorzugen im Gegensatz zu Jungen Spiele mit hohem Spielwert und geringem Leistungsdruck. , Aggressive' Spiele mit geringem Spiel wert werden eher von Jungen angenommen. Das deutlich geringere Interesse der Mädchen an Video- und Computerspielen läßt sich darauf zurückführen, dass sie an technischem Spielzeug generell weniger interessiert sind, das Spieleangebot weniger Identifikationspotential für Mädchen bietet und die geforderte hohe Affektkontrolle im Einklang mit weiblichen Rollenbildern eher abgelehnt wird. Dass auch ,gewalthaltige' Videospiele schon bei Kindern oder jüngeren Jugendlichen beliebt sind, hat - ähnlich wie bei Zeichentrickfilmen - auch damit zu tun, dass Angst „nicht oder in geringerem Maße ausgelöst [wird ], wenn Kinder die Medienrealität als solche erkennen und das Erlebte relativieren können" (Melchers 1994, 224). Kinder verfügen zudem über einen anderen Gewaltbegriff als Erwachsene. Für sie ist (bei der in den Spielen durchgängig klaren Einteilung in Gut und Böse) die Gewaltanwendung der ,guten' Helden legitimiert durch deren hehre Absicht oder höheren Auftrag. Diese legitimierte Gewalt gerät den Kindern kaum in den Blick und tritt hinter der technischen Faszination der Gewaltinszenierung und der Identifikation mit dem Helden (dessen Aktionen sie im Spiel steuern) in den Hintergrund (vgl. Theunert 1994, 250f.). Vordergründig sind Gewaltdarstellungen daher zumindest insofern kein Problem, da sie weder verunsichernd noch angstauslösend wirken. Das Gewaltverständnis der Kinder beeinflusst ihre Wahrnehmung und Beurteilung der dargebotenen Gewalthandlungen. Mit Ablehnung und Vermeidung reagieren sie, wenn ihre subjektiven „Gewaltschwellen" (ebd., 252) überschritten werden. Bei Kindern ist dies meist der Fall bei der Darstellung realer und realitätsnaher Gewalt, drastischen Gewaltfolgen und unbegreiflicher' Gewalt - soweit diese nicht als Medienrealität erkennbar ist. Dies ist bei Spielen, in deren Ablauf die Kinder und Jugendlichen eingreifen jedoch durchgängig der Fall. Gravierender ist der Einwand, dass dargestellte Gewaltmuster in den Alltag übernommen werden könnten. Auch hier spricht die Fiktionalität eher dagegen. Zudem kann man spätestens seit den Ende der 20er Jahre durchgeführten
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,Payne-Fund-Studies' wissen, dass man nicht - wie es in der öffentlichen Diskussion gerne geschieht - von Medieninhalten auf ihre Wirkungen schließen kann. Statistisch hochsignifikant gesichert ist auch, dass Videoautomatenspieler (vgl. Knoll et al. 1984) ebenso wie Video- und Computerspieler (Sacher 1993) weder einsam und isoliert, noch asozial im Sinn von Aggressivität, Kriminalität und Suchtpotential sind. Und ebenfalls bekannt ist, dass für die Übernahme von medialen Modellen „der ,subjektive Sinn' entscheidend [ist], der Aggressionshemmungen überwinden und Legitimationen für Gewaltanwendung liefern kann. Dieser Sinn kann im Alltagsmilieu der Jugendlichen über Skripts von Eifersucht, Ehre und Rache produziert werden, im politischen Kontext über Ideologien, die den jeweiligen Gegner dehumanisieren und die Notwendigkeit' der Gewalt bzw. des ,Heldentums' begründen" (Eckert 1995). Anstatt die immergleiche Gewaltdebatte in jeweils neuen Medien zu zelebrieren (was der Profession durchaus förderlich sein kann), hätte Gewaltforschung hier anzusetzen und die sozialen Gewalt-Bedürfnisse zu analysieren, um etwas über ihr Befriedigungspotential in der Fiktion zu erfahren (vgl. Kunczik 1994).
3.2. Weitere Computeranwendungen Bei keiner anderen Computeranwendung zeigen sich so große geschlechtsspezifische Unterschiede in der Nutzung wie bei Computerspielen. Jungen, die den Computer auch insgesamt häufiger nutzen (78 % der Jungen gegenüber 63 % der Mädchen; diese und folgende Angaben nach: Feierabend/Klingler 2000, 19), hören am Computer aber auch häufiger als Mädchen Musik (33% vs. 22%), nutzen stärker Internet/Onlinedienste/Email (18% vs. 8%) und programmieren auch häufiger (16% vs. 5%). Nur geringfügige oder keine Unterschiede finden sich bei der „Textverarbeitung" (45 %), „Arbeiten für die Schule" (45 %), was weitgehend mit Textverarbeitung identisch sein dürfte, sowie bei der Nutzung von „PC-Lexikon/Nachschlagewerken" (22%) und zum „Malen/Zeichnen/Grafiken erstellen" (20%). Lediglich „Lernsoftware" wird von Mädchen häufiger als von Jungen genutzt (J: 16%, M: 19%). Man kann daher feststellen: Mädchen nutzen den Computer etwas stärker funktionsorientiert als Arbeits- und Lernmittel, Jungen dagegen zusätzlich oft technikverspielt (Computer als Hobby). Andere Anwendungen wie ζ. B. Audio- und Videoschnitt sind von geringerer Bedeutung, werden aber natürlich auch von einigen Jugendlichen als Hobby betrieben. Auffällig ist der oben genannte Befund, dass Jungen den Computer häufiger als Mädchen zum Musik hören einsetzen. Dies scheint auf den ersten Blick der an anderer Stelle geäußerten These zu widersprechen, dass Audiomedien und populäre Musik Domänen der Mädchen sind. Andererseits wurde jedoch darauf hingewiesen, dass Jungen ein größeres Interesse an neuen Medien haben. Dieser
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zweite Aspekt scheint hier den erstgenannten zu überlagern. Vermutlich verbergen sich bei der Computernutzung hinter der Kategorie „Musik hören" auch der Download von Musikdateien und das Brennen von Musik-CD-ROMs, was Mädchen gerne den Jungen überlassen. In den Genuss der Musik kommen sie wohl auch so. Die geringen Zahlen zum Programmieren (darunter dürften Jugendliche zudem auch das bloße Abtippen von Computerprogrammen aus Computerzeitschriften etc. verstehen) zeigen noch einmal, dass das in den 80er Jahren von den Medien verbreitete Bild einer Generation programmierender Computerkids ebenso ins Reich der Legenden gehört wie die angebliche Isolation allmählich vereinsamender Computernutzer. Nur wenige jugendliche Computernutzer sind tatsächlich in der Lage, anspruchsvoll zu programmieren, und Computernutzer und ebenso alle, die Medien vielfältig nutzen, haben eher überdurchschnittlich viele soziale Kontakte (Baacke/Sander/Völlbrecht 1991, 84; zur Isolationsthese siehe auch: Sacher 1993; Döring 1994 und Weiler 1997).
3.3. Vernetzte Medienwelten Die besonderen Vorteile digitaler Medien - die Integration bislang nebeneinander bestehender Einzelmedien sowie die Möglichkeit einer interaktiver und vernetzten Nutzung - wird vielen Menschen erst mit der Öffnung des Internet für einen größeren Nutzerkreis deutlich. Mit der Entwicklung interaktiver Medien wird die Kommunikation individualisiert. Dieser Aspekt ist nicht ganz neu, denn das 100 Jahre alte Telefon folgt ja ebenfalls dem Modell der Individual- und nicht der Massenkommunikation. Entscheidend für die neuen IuKTechnologien sind dagegen drei Aspekte: Integration, Vernetzung und Interaktivität. In den vernetzten Medienwelten wird das alte Sender-Empfänger-Modell der Massenkommunikation (ein Sender mit demselben Programm für viele Empfänger) aufgehoben zugunsten eines interaktiven Austausche, der prinzipiell alle zu Empfängern und Sendern macht. So gesehen erhöhen sich Informations- und Beteiligungs-Chancen der Menschen gewaltig. Die Massenmedien werden durch die mediale Individualkommunikation jedoch nicht abgelöst, sondern ergänzt. Ein Streifzug durchs Internet hat ganz offensichtlich völlig andere Qualitäten als ein Kinobesuch oder ein Fernsehabend und bedient andere Bedürfnisse. Neben dem Internet gibt es eine Reihe weiterer Netze, auf die hier nicht besonders eingegangen wird, weil sie für Jugendliche nicht annähernd so wichtig sind. Nicht alle Netze sind öffentlich zugänglich. Dies gilt für LANs (Local Area Networks) wie z.B. ein Schulnetz ebenso wie für weltweite firmeneigene Netze (WANs; Wide Area Networks). Die von vielen Providern betriebenen Online-Dienste sind dagegen meist teilöffentlich. Zumindest bestimmte Teile des
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Angebots sind nur für den angemeldeten Nutzerkreis bestimmt, während andere Angebote wie z.B. auch die Homepages der Online-Dienst-Nutzer frei zugänglich sind. Heute verfügen alle Online-Dienste aufgrund der Nachfrage ihrer Nutzer über einen Gateway ins Internet. Im folgenden wird daher nicht zwischen Internetnutzung und der Nutzung von Online-Diensten differenziert.
3.3.1. Internet Im Jahr 2000 nutzten nach Angaben der „ARD/ZDF-Onlinestudie 2000" etwa die Hälfte aller Jugendlichen das Internet. Ihr Anteil stieg von 6,3 % im Jahr 1997 auf 15,6% 1998, 30,0% (1999) und 48,5% im Jahr 2000 an (van Eimeren/Gerhard 2000, 342). Die Entwicklung ist also äußerst dynamisch, so dass davon auszugehen ist, dass der Anteil der jugendlichen Internetnutzer in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird. Die 14- bis 19jährigen sind nach den 20- bis 29jährigen (54,6%) diejenige Altersgruppe, die das Internet am zweitstärksten nutzt. Legt man den Begriff Jugend etwas weiter aus als die Gesetzgebung (14 bis 18 Jahre), wie es in der Jugendforschung mit dem Konzept der Postadoleszenz inzwischen üblich ist, könnte man das Internet durchaus als Jugendmedium charakterisieren. Postadoleszenz bezeichnet dabei eine Altersphase, die an die ,engere' Jugend zeitlich anschließt (bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt). Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund verlängerter Schulund Ausbildungszeiten sowie durch den größeren Anteil an Studierenden viele Twens erheblich länger als in früheren Zeiten wirtschaftlich abhängig bleiben und eher nach jugendlichen Lebensstilmustern leben, gleichzeitig jedoch über mehr Autonomie als jüngere Jugendliche in der Lebensgestaltung verfügen. Daher ist es in dieser soziologischen Perspektive durchaus gerechtfertigt, auch die 20- bis 29jährigen noch zur Jugend zu rechnen. In den älteren Altersgruppen ist der Anteil der Internetnutzer sehr viel kleiner und nimmt mit zunehmendem Alter weiter ab. Von den 30- bis 39jährigen nutzten im Jahr 2000 immerhin noch 41,1 % das Internet, von den 40- bis 49jährigen 32,2%, den 50- bis 59jährigen nur noch 22,1 % und von den 60jährigen und älteren ganze 4,4% (ebd., 341). Offensichtlich ist die Faszination des Internet gerade für Jugendliche sehr groß. Die immer wieder behauptete Technikfeindlichkeit von Jugendlichen, die sich im übrigen ja auch in den letzten Jahrzehnten eher auf durchaus kritisierbare Großtechnologien wie die Atomkraft oder Gentechnologie bezog, ist im Bereich der neuen Medien nicht zu spüren. Der ARD/ZDF-Onlinestudie 2000 lässt sich auch entnehmen, dass die Online- und Internetnutzung Jugendlicher sich hinsichtlich der genutzten Einsatzmöglichkeiten - trotz einiger Besonderheiten - nicht grundlegend von der Nutzung der Erwachsenen unterscheidet. So sind z.B. Email-Kommunikation und zielloses Surfen im Internet in beiden Altersgruppen besonders häufig. Insgesamt ist die Informationsorientierung der Erwachsenen aber etwas größer.
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Sie nutzen eher Ratgeber- und Service-Informationen, rufen häufiger aktuelle Nachrichten und aktuelle Infos aus der Region sowie Kleinanzeigen, Wetter, Reiseinfos und Verkehrsmeldungen ab. Wenig erstaunlich ist, dass sie auch mehr Homebanking nutzen sowie Onlineshopping und Buch- und CD-Bestellungen (wozu eigentlich CDs bestellen, wenn die Musik downgeloaded werden kann?). Jugendliche surfen dagegen etws häufiger ziellos im Internet, interessieren sich mehr für Sportinformationen und Radio- und Fernsehprogramme. Die größten Unterschiede zeigen sich bei der Nutzung von Gesprächsforen, Newsgroups und Chats sowie Computerspielen und Multiuser-Spielen - alles Domänen der Jugendlichen. 3.3.2. Online-Computerspiele und Multi-User-Spiele Von den in der „ARD/ZDF-Onlinestudie 2000" befragten Online-Nutzern haben 71% der 14- bis 19jährigen gegenüber 49% der Erwachsenen (ab 14 Jahren) schon einmal Computerspiele via Internet gespielt und 44 % der Jugendlichen, aber nur 24% der Erwachsenen Multi-User-Spiele (van Eimeren/Gerhard 2000, 342). Zu beachten ist bei diesen Angaben, dass einerseits die Altersgruppe der Jugendlichen auch in den Angaben für die Erwachsenen enthalten ist und daher die Unterschiede kleiner ausfallen, als wenn man die Gruppen getrennt betrachtet. Andererseits beziehen sich die Angaben auf diejenigen, die diese Einsatzmöglichkeiten überhaupt schon einmal genutzt haben und spiegeln daher nicht die tatsächliche (regelmäßige) Nutzung. Die Angaben dazu (mindestens einmal wöchentlich genutzt) sind leider nicht altersspezifisch aufgeschlüsselt, sondern nur für die Gesamtheit der Befragten (Online-Nutzer ab 14 Jahren) angegeben. Dennoch erlauben die Angaben eine ungefähre Einschätzung der regelmäßigen Nutzung. Insgesamt spielen 23% der Befragten Computerspiele und lediglich 7% Multi-User-Spiele. Unter der freilich nicht unproblematischen Annahme, dass der Anteil derjenigen, die diese Einsatzmöglichkeiten überhaupt ausprobiert haben im Vergleich zum Anteil derjenigen, die sie regelmäßig nutzen bei Jugendlichen und Erwachsenen gleich groß ist, ließe sich abschätzen, dass etwa ein Drittel der jugendlichen Online-Nutzer mindestens einmal wöchentlich Online-Computerspiele spielt und etwa ein Achtel Multi-Userspiele. Die sogenannten MUDs (,Multi User Dungeons') beispielsweise sind solche (textorientierten) Multi-User-Spiele oder Computerspielumgebungen, an denen mehrere Spieler teilnehmen können, um mit- oder gegeneinander anzutreten. Anfang der 90er Jahre wurden auch grafikorientierte Spielumgebungen entwickelt, die sogenannten MOOs (MUDs, ,Object Orientated'), die sich großer Beliebtheit erfreuen (vgl. Curtis/Nicols 1993; Rheingold 1994, 183ff.). Die Isolationsthese, also die Annahme, dass die Computernutzung zur Vereinsamung und sozialen Isolation führe, ist übrigens auch für die spezielle Gruppe der MUD-Spieler nicht zutreffend. Das gleiche gilt für die Gruppe der
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Onlinenutzer. Zu diesen Befunden kommt Döring in einer Befragung von 350 Internetnutzern. „Geselliges Verhalten schlägt sich [...] offensichtlich innerhalb und außerhalb des Netzes nieder" (Döring 1996, 300).
3.3.3. „Napstern": MP3-Musik-Downloads Große Bedeutung für Jugendliche hat inzwischen auch der Download von Musikdateien aus dem Internet. Mit dem neuen Komprimierungsverfahren „MPEG Audio Layer 3" (kurz: MP3) können erstmals Audiodaten ohne größere Qualitätseinbußen um den Faktor 12 gegenüber einer Audio-CD verkleinert werden, sodass sich die Downloadzeiten (und damit die Kosten) erheblich verringern. Da gleichzeitig auch CD-Brenner preiswert geworden sind, lassen sich so - zum Leidwesen der Musikindustrie, die die Internet-Entwicklung zunächst verschlafen hat - individuelle Musik-CDs aus dem Netz zusammenstellen. Genutzt wird MP3-Musik auch gerne für Partys. Während früher eine Person ständig mit der Musikauswahl und dem Platten- bzw. CD-Auflegen beschäftigt war, stellen Jugendliche heute vorab am Computer die MP3-Musikstücke in Abspiellisten zusammen, sodass bei der Party allenfalls noch eine Feinabstimmung im Hinblick auf die jeweilige Stimmung erfolgen muß. Für den Download von MP3-Musik hat sich unter Jugendlichen der Begriff „napstern" eingebürgert. Die Bezeichnung geht auf die bis Anfang 2001 kostenlose Musiktauschbörse Napster zurück, bei der zu diesem Zeitpunkt 61 Millionen Nutzer einen Account hatten. Tauschbörsen wie Napster, iMesh oder CuteMX sind Indexierungsdienste, bei denen Benutzer erfahren können, wer bestimmte Inhalte im Netz zum Download bereitstellt. Ein juristisches Problem sind die zentralen Indexserver, auf denen auch urheberrechtlich geschützte Titel verzeichnet sind. Ein Gericht in den USA hat diese Art der Weitergabe für urheberrechtlich geschützte Musik untersagt. Napster soll daher 2001 in ein kommerzielles Angebot umgewandelt werden. Im deutschen Urheberrecht (UrhG) ist die Rechtslage bislang nicht geregelt, da es auf Phänomene wie Internet, MP3 oder File-Sharing nicht ausgelegt ist. Auch rechtskräftige Urteile stehen in Deutschland noch aus. Während die kostenlose Weitergabe einer Selbstgebrannten Kopie einer rechtmäßig erworbenen CD legal ist, stellt der Peer-to-Peer-Tausch über einen Zentralrechner jedoch wohl auch in Deutschland eine Urheberrechtsverletzung dar. Eher unwahrscheinlich ist, dass ein kommerzielles Napster-Angebot weiterhin attraktiv für Jugendliche ist. Andere kostenlose Tauschbörsen wie Gnutella, Mojo Nation, Aimster, KaZaA, DirectConnect, Audio Galaxy oder Freenet organisieren den Tausch nicht über Zentralrechner, sondern verwenden statt dessen dezentrale Server, sogenannte „Servants" (kombinierte Server und Clients), die eine Suchanfrage im Netz starten. Der Indexserver initiiert dann auf
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Wunsch eine direkte Übertragung von Nutzer zu Nutzer (P2P: Peer-to-Peer), wobei die Inhalte auf dem Indexserver gar nicht auftauchen. Diese dezentralen Systeme sind daher rechtlich möglicherweise anders zu bewerten - sie bleiben also eventuell kostenfrei. Bei OpenNap-Servern wie Gnutella mit ihren verteilten Netzen (Distributed Computing) ist eine inhaltliche Kontrolle durch zwangsweise installierte Content Filter (wie jetzt bei Napster) technisch vollends unmöglich, wenn die Daten wie z.B. bei Filetopia verschlüsselt übermittelt werden. Denkbar ist auch, dass künftig illegale Angebote (unter Umgehung von Lizenzbestimmungen) die früher dominierende Position von Napster einnehmen werden. Bis zur Verabschiedung eines neuen Urheberrechts werden die Rechtsstreitigkeiten wohl noch eine ganze Weile anhalten.
3.4. Kommunikative Netz-Dienste: News - Chats - Email Beliebt sind bei jugendlichen Online-Nutzern auch drei unterschiedliche kommunikative und interaktive Dienste: Chats und Email sowie News. Während Email-Kommunikation auch von Erwachsenen viel verwendet wird und die Nutzung von Newsgroups bei Jugendlichen und Erwachsenen weniger weit verbreitet ist, ist Chatten eine zunehmend beliebte Mediennutzung vor allem von Jugendlichen. 3.4.1. News/Newsgroups Als News oder Netnews bezeichnet man thematisch ausdifferenzierte, öffentliche Gesprächsforen, die von lokalen News-Servern abgerufen werden können. Gebräuchlich ist auch der Begriff „Usenet News", da dem Dienst nicht das internettypische TCP/IP-Protokoll zugrundeliegt, sondern das im Usenet verwendete UUCP (Unix to Unix Copy). Das den Newsgroups zugrundeliegende Modell ist das des schwarzen Bretts. Jeder kann Artikel (Postings) senden, die dann allgemein zugänglich sind. Es gibt tausende verschiedener Newsgroups zu den unterschiedlichsten Themen und ständig kommen neue hinzu, da jeder Teilnehmer (nach Zustimmung in einem Abstimmungsverfahren) eine neue Gruppe zu einem fehlenden Thema gründen kann. Thematisch gegliedert sind die Newsgroups in Hierarchien (Rubriken), von denen die sieben größten wie folgt heißen: news* (newsbezogene Themen), comp* (Computerthemen), sei* (Science, Wissenschaft), soc* (Politik und Kultur), rec* (Freizeit), talk* (Diskussionen über kontroverse Themen) und misc* (Miszellen, Vermischtes). Die Namen der einzelnen Newsgroups setzen sich zusammen aus dem Namen der Rubrik (sowie gegebenenfalls Unterrubriken) sowie dem Thema der Newsgroup. So heißt beispielsweise die Newsgroup zu japanischen Zeichentrickfilmen (Animes) .
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Um eine Newsgroup zu abonnieren, muss man nur in den Einstellungen seines Browsers einen Newsserver angeben. Wie bei der Email-Kommunikation werden dann die ausgewählten Einträge aus einer angezeigten Liste von Newsgroups übermittelt.
3.4.2. Chats und Email Chatten ist eine Form der schriftlichen Echtzeit-Unterhaltung mit anderen Nutzern, die bereits 1988 entwickelt wurde. Während die Kommunikation in Newsgroups asynchron verläuft, ist Chatten eine synchrone Kommunikation (in Echtzeit), wodurch interaktivere Formen der Kommunikation begünstigt werden. In Chat-Netzen wie Internet Relay Chat (IRC), EfNet, Dalnet oder Undernet versammeln sich täglich tausende von IRCern (sprich: Irkern), die sich in einen themenbezogenen oder auch ganz allgemein ausgerichteten Channel einwählen, eine Liste der anwesenden Personen sowie die laufenden Äußerungen mit Personenzuordnung angezeigt bekommen, um dann miteinander zu reden, zu diskutieren oder auch zu flirten (vgl. dazu auch: Schmidt 1998, 188). IRC war das erste weitverbreitete Chatsystem. Wer am IRC teilnehmen möchte, muss auf seinem Rechner einen betriebssystemspezifischen IRC-Clienten installieren (d.h. ein Chatprogramm, welches IRC versteht). Die meisten IRC-Clienten sind frei verfügbar. Das IRC arbeitet mit einem weltweiten Verbund von Chatservern (IRC-Servern). Zur Teilnahme genügt die Anmeldung bei einem beliebigen Server mit Angabe eines temporären Pseudonyms - sie ist also weitgehend anonym. Mitteilungen werden automatisch zunächst an alle Server und dann weiter an die Teilnehmer verteilt. Durch diese Verteilung des Datenaufkommens werden die einzelnen Server weniger belastet. Zudem arbeitet ein IRC-Verbund auch dann weiter, wenn einzelne Server ausfallen. Sicherheitsaspekte spielten noch eine untergeordnete Rolle bei der Konzeption des IRC. Dies führt heute dazu, dass Teilnehmer, die sich nicht an die Netiquette (s. u.) halten und z.B. ausfällig werden, nur schwer zu verbannen sind, da sie meistens nicht eindeutig identifiziert werden können. Auch Angriffe, die unter Umständen große Teile eines IRC-Verbundes lahmlegen können, sind kaum abzuwehren. Daher sind immer weniger Betreiber von IRC-Servern (in Deutschland sind dies vor allem Universitäten) bereit, die steigenden Kosten für den Betrieb der Server zu tragen. Ähnlich wie IRC funktionieren sogenannte Messaging-Systeme wie etwa Microsofts „MSN Messaging" oder AOLs „Instant Messaging" (beide auf vielen PCs heute bereits vorinstalliert). Messaging-Systeme wickeln den Datenverkehr für sämtliche Chaträume jedoch über ihre zentralen Server ab. Der Zugang ist weniger anonym als beim IRC, da die Pseudonyme der Nutzer dauerhaft sind und somit bestimmten Teilnehmern leichter zugeordnet werden können. Die Systeme sind untereinander inkompatibel, für jedes System benötigt man also
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andere Chat-Clients, die die Nutzer installieren müssen. Messaging-Systeme erlauben den Benutzern auch, einem ausgewählten Kreis von Teilnehmern bekanntzugeben, wann sie online und damit per Messaging erreichbar sind. Daher werden diese Systeme nicht nur zum anonymen Chatten, sondern auch für ,Tastaturkonferenzen' unter Freunden genutzt. Eine neuere Entwicklung sind die sogenannten Webchats, die direkt ins World Wide Web integriert sind. Als Webchats bezeichnet man die inzwischen kaum noch überschaubare Vielfalt von WWW-Sites, auf denen man einfach im WWW-Browser chatten kann, ohne einen zusätzlichen Client installieren zu müssen. Betreiber von Webservern können ihre WWW-Seiten um diese Funktionalität erweitern. Webchats arbeiten nach demselben Grundprinzip, sind jedoch unterschiedlich schnell, unterschiedlich komfortabel, unterschiedlich designed etc. Sie sind gewöhnlich auch nicht untereinander verbunden. Die Anmeldung erfolgt auf einigen Webchats mit Klarnamen, auf anderen bleibt man völlig anonym. Auch schwankt die Zahl der auf einem Webserver angebotenen Chaträume von einem einzigen bis zu hunderten. Für den Komfort, zum Chatten keine zusätzliche Software installieren zu müssen, müssen die Nutzer den Nachteil größerer Langsamkeit ebenso in Kauf nehmen wie deutlich kleinere Gemeinschaften von Chattern. Die echten Fans verwenden daher IRC. Die Unterhaltungen im Netz sind oft ziemlich banal, aber nicht regellos. Es gibt bei News ebenso wie beim Chatten soziale Konventionen - jeder Channel entwickelt seine eigene ,Netiquette' mit DOs and DON'Ts - und Ansätze sozialer Selbstregulierung der virtuellen Gemeinschaften (vgl. Dibell 1993). Da die Nutzer zwar verschiedene, aber auch immer wieder dieselben Channels aufsuchen, kennt man sich mit der Zeit und vermag virtuelle Bekanntschaften zu entwickeln und zu pflegen. Die Gespräche führen manchmal auch zu Treffen in der realen Welt und - ähnlich wie die Conventions der Star Trek-Fans - gibt es hier sogenannte ,Internet Relay-Parties' (Seidler 1994). Jedes Betreten oder Verlassen eines Channels wird durch für alle Teilnehmer lesbare Servermeldungen quittiert. Auch diejenigen, die keine Texteingaben machen, sind im Chatroom oder Channel virtuell anwesend (vgl. das erste Kommunikationsaxiom von Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren"). Bei diesen Verhaltensweisen unterscheidet man „Lurking" (herumschleichen, lauern) und „Idling" (untätig, Leerlauf). Lurking bezeichnet das passive Beobachten der Kommunikation anderer, ohne sich selbst am Gespräch zu beteiligen. Der Idler befindet sich dagegen nur nominell im Channel, ohne das Geschehen zu beobachten. Chatten kann auch grafisch unterstützt werden durch Verwendung der für MOOs entwickelten Technik: In einer virtuellen Szenerie, z.B. einem Wohnzimmer oder einer Stadtlandschaft, treffen sich dabei die ,Avatare' - grafische Personendarstellungen der Nutzer. Die Avatare - nebenbei bemerkt ein Begriff aus dem Sanskrit für einen gottgewordenen Menschen - können aus einer Symbol-
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bibliothek ausgewählt oder auch selbst erstellt werden. Ob man eine übliche Personendarstellung wählt, dabei die Geschlechtsrolle wechselt (vgl. Bruckman 1993; Cherny 1994) oder z.B. als Zauberer auftreten möchte, als Drache oder als Alien - der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Jugendliche nutzen im Unterschied zu älteren den Computer stärker als kommunikatives Medium. Das gilt neben dem Chatten ebenso für die (auch von Erwachsenen vielverwendete) Email, also die elektronische Post. Sofern Jugendliche einen Netzzugang haben, nutzen sie dieses Medium meist so selbstverständlich wie das Telefon, sei es, um den Freunden einen Gruß oder eine kurze Nachricht (auch als SMS) zu schicken - oder auch einmal den Lösungsweg einer Hausaufaufgabe.
3.4.3. Besonderheiten virtueller Schriftkommunikation Im Unterschied zur Face-to-Face-Kommunikation, in der neben den sprachlichen Äußerungen auch der Mimik und Gestik eine wesentliche kommunikative Funktion zukommt, erscheint die schriftliche Kommunikation in Computernetzen restringiert, da ihr diese nonverbalen Elemente fehlen. Positiv könnte man dies auch eine Hybridisierung von geschriebener und gesprochener Sprache nennen. Die Schrift hat in virtueller Kommunkation weniger die Funktion der Archivierung als der synchronen Kommunikation und damit größere Nähe zum gesprochenen Wort. Das zweite Kommunikations-Axiom von Watzlawick et al. (1969, 53ff.) besagt bekanntlich: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine MetaKommunikation ist." Dieser Beziehungsaspekt ist entscheidend für die Beurteilung der Inhalte der Mitteilung und stützt sich entscheidend auf nonverbale Kommunikation. Im einzelnen kommen der nonverbalen Kommunikation verschiedene para-semantische, para-syntaktische, para-pragmatische und zusätzliche dialogische Funktionen zu: -
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Para-semantisch kann nonverbales Verhalten den verbalen Inhalt ersetzen (Substitution), ihn erweitern (Amplifikation), ihm widersprechen (Kontradiktion) und ihn verändern (Modifikation). Para-syntaktisch kann nonverbales Verhalten den Sprachfluß segmentieren und synchronisieren (vgl. das dritte Kommunikationsaxiom von Watzlawick et al.: „Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt" (R. V.)). Para-pragmatisch dient nonverbales Verhalten dem Ausdruck interner Zustände (Expression) oder der Vermittlung von Aufmerksamkeit, Verstehen und Bewertung (Reaktion). Als dialogische Funktion reguliert noverbales Verhalten den Interaktionsablauf und definiert die Relation der Personen zueinander (Ellgring 1989, 15; z. n. Schuster 1993, 80).
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Offensichtlich ist die Gefahr des Missverstehens bei schriftlicher Kommunikation in Computernetzen ungleich größer als bei Face-to-Face-Kommunikation. Dies gilt vor allem für Chats und Newsgroups, während die Email-Kommunikation schon dadurch stärker kodifiziert ist, dass sie dem vertrauten Modell des Briefes folgt. Zum Ausgleich der kommunikativen Defizite des Mediums wird der Text durch kommentierende Akronyme und Emoticons ergänzt. Beispiele für Akronyme sind j / k (just kidding), cu (see you), lol (laughing out loud) oder als Steigerung rotfl (rolling on the floor laughing). Die Kleinschreibung vereinfacht und beschleunigt dabei das Tippen. Beispielsweise kann eine wenig charmante Äußerung durch Hinzufügung des Akronyms j / k als Spaß oder Ironie gekennzeichnet und so die Verletzung von Gefühlen des Gesprächspartners vermieden werden. Häufig verwendet werden auch die folgenden Akronyme: rotflbitc rotflwtime btw afaik cul8er RTFM dau ilu
rolling on the floor, laughing & biting into the carpet rolling on the floor, laughing with tears in my eyes by the way as far as I know see You later read the fucking manual! Dümmster anzunehmender User I love You
Häufig eingesetzt werden Aktionswörter wie *lach*, *kicher*, *freu* oder *grins* (*g*) bzw. *eg*, *evelgrins* (schelmisches Grinsen) oder auch *rotwerd*. Soundwörter wie *juhuuuu* sind ebenfalls häufig. Diese Ausdrücke erinnern an die Comicsprache und haben sich vermutlich auch historisch aus ihr entwickelt. Es finden sich aber auch dialektale Merkmale und Elemente der Umgangssprache. Auch Emoticons werden zur Kennzeichnung der Gefühlslage des Schreibenden eingesetzt, um z.B. Freude, Wut oder Ironie auszudrücken. Bekannt ist der Smiley, der in vielen Variationen eingesetzt wird: :-) :-D ;-)
Smiley (Ich freue mich) Der lachende Smiley Der zwinkernde Smiley (ironisch)
:-( :-l
Der traurige Smiley Der gleichgültige Smiley
Um den Ausdruck der Freude zu steigern, fügt man einfach weitere Klammern an - :-))) - . Dagegen steht der Frowny - :-(((( - für blankes Entsetzen. Es gibt eine Fülle weiterer Symbole - man sollte beim Einsatz jedoch bedenken, dass nicht jeder Teilnehmer in der Lage ist, sie auch zu entschlüsseln. Der Einsatz solcher Zeichen für Gefühlsäußerungen ist hilfreich, kann Mimik und Gestik einer Face-to-Face-Kommunikation jedoch nicht völlig substituieren. Ein Unterschied besteht zudem darin, dass sie bewusst eingesetzt werden, während Mimik und Gestik ein Ausdruck von Spontaneität sind.
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An der Chat-Kommunikation wird häufig die Qualität der Sprache bemängelt. Im Unterschied zur schriftlichen Kommunikation in Briefen ist das Referenzmodell des Chats jedoch die mündliche Unterhaltung, bei der der Prozessund Mitteilungscharakter entscheidend sind. „Die Lektüre eines Chat-Ausdrukkes ist oft weniger aufschlussreich als eine Teilnahme am Prozeß" (Mäuse 1997, 31). Gute Erfahrungen wurden mit der Chatkommunikation im Fremdsprachenunterricht gemacht. Mäuse berichtet über Erfahrungen mit Lehrer-organisierten Chats, in denen auf jeweils einen Muttersprachler zwei deutsche Schüler kamen: Selbst wenn das Sprachniveau der Schüler noch sehr gering ist, reagieren erfahrungsgemäß auch leistungsschwächste Schüler in solchen Situationen sehr motiviert und eifrig. Hier wirkt sich die Anonymität des Mediums voll und ganz positiv aus: [...] Manche Schüler erleben beim Chatten das erste mal eine wirkliche Gesprächssituation in der Fremdsprache, die frei ist von der Künstlichkeit bei classroom discussions. Werden Chats im nachfolgenden Unterricht aufgearbeitet und Resultate systematisiert, läßt sich viel von der Motivation in den .normalen' Unterricht herüberziehen ... (Mäuse 1997, 32).
Da die Texteingabe wesentlich umständlicher und langsamer ist als gesprochene Sprache, verwenden Chatter häufig eine netzspezifische Kurzschrift (vgl. Levine/Baroudi/Levine-Young 1998, 243ff.): If u cn rd ths u r rdy 4 chat (If you can read this, you are ready for chat). Der Einsatz dieser Symbole, Kurzschriften und onomatopoetischen Elemente zeigt nicht nur eine große Kreativität im Umgang mit Sprache, sondern auch, dass computervermittelte Kommunikation nicht kalt und unmenschlich abläuft. „Vielmehr scheinen die Möglichkeiten des textbasierten Emotionsausdrucks verbunden mit physischer Distanz und der Möglichkeit zur Anonymisierung und Pseudonymisierung Nähe und Intimität oftmals zu erleichtern" (Döring 1995, 312). Grundsätzlich zeigt sich auch, dass Sprachhandlungen auch in computervermittelter Kommunikation nicht nur intentional, sondern auch konventionell sind. Sie werden innerhalb der Sprachgemeinschaft nach Regeln vollzogen, die die Teilnehmer in Sozialisationsprozessen erlernt haben. Die Netiquette (Umgangs- und Anstandsregeln im Netz) leitet sich von dieser Vorstellung ab. Die Netiquette (Net-Etikette) ist ein ungeschriebenes Gesetz, das in jedem Channel etwas anders ausgelegt wird, und an das die Nutzer sich zu halten haben - andernfalls müssen sie mit erbosten Kommentaren anderer Nutzer rechnen oder werden gar vom Operator von der weiteren Teilnahme ausgeschlossen (gekickt). Um Neuanfängern den Einstieg zu erleichtern, weisen viele Channels heute auch ausdrücklich auf ihre Regeln hin. Die allgemeinen Regeln für die deutschen Server des IRC-Net sind unter http://irc.fu-berlin.de zu finden. Eine Studie von Döring (1996) zeigte, dass Netznutzer sozial sehr gut integriert sind. Die befragten Nutzer hatten durchschnittlich sieben gute Freunde
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und 32 Bekannte (ebd., 299) - nach ALLBUS-Daten hat der DurchschnittsBundesbürger nur drei enge Freunde (Bruckner/Kaup 1990, 50). „Wer viele Freunde hatte, hatte auch mehr Bekannte, hatte mehr wichtige Beziehungspersonen, mit denen er oder sie persönlich und elektronisch kommunizierte und hatte mehr reine Netzkontakte. Geselliges Verhalten schlägt sich also offensichtlich innerhalb und außerhalb des Netzes nieder" (Döring 1996, 300). Gemeinschaften im Chat bilden sich aufgrund eines gemeinsamen Interesses, das bereits die Auswahl des Chats bestimmt. Innerhalb der Chatkanäle reicht die Bandbreite sozialer Beziehungen wie im wahren Leben von flüchtigen Bekanntschaften und lockeren Beziehungen bis zu Freundschaften, die auch über nationale Grenzen hinausgehen. Da die Anonymität der Netzkommunikation soziale Ängste reduzieren kann, vergrößern sich möglicherweise die Kommunikationschancen von schüchternen und introvertierten Menschen (Livinghood 1995). Generell scheint die erste Kontaktaufnahme leichter zu fallen, da man - bedingt durch die Anonymität - nicht viel zu verlieren hat, jedenfalls weniger als im RL (Real Life). Chats bieten die Möglichkeit, sich bei gegenseitigem Interesse aus dem öffentlichen Channel in einen privaten Chatroom zurückzuziehen und dort eine Zweierbeziehung beginnen. Aber auch in größeren Chatrunden, in der sich die Teilnehmer mehr oder weniger bekannt sind, entwickelt sich eher eine größere Vertrautheit als im RL und private Probleme werden eher angesprochen. Es besteht jedoch immer auch die Möglichkeit, die Beziehung zu beenden und einfach im Netz-Nirvana abzutauchen. Entwickeln sich Netzbeziehungen positiv, entsteht häufig auch der Wunsch, die betreffende Person auch im RL kennenzulernen. Meist werden dann zunächst Emailadressen ausgetauscht, und der erste Offlinekontakt erfolgt oft über das Telefon. Eine Studie von Husmann (1998) zeigt, dass Chatter nicht nur daran interessiert sind, ihre Online-Bekannschaften auch real kennenzulernen, sondern auch tatsächlich reale Kontakte zu anderen Chattern haben. Die Frage: „Bist Du daran interessiert, Chatter im RL kennenzulernen?" beantworteten 66% mit „ja, gerne"; auf die Frage „Kennst Du Chatter im Real Life?", antworteten 43%, dass sie flüchtige Bekanntschaften zu anderen Chattern hätten, 26% pflegen regelmäßigen (Telefon-)Kontakt zu anderen Chattern, und 55 % der Befragten gaben an, gute Freunde gefunden zu haben. Netz-Kommunikation ist nicht nur durch eine erhöhte Kontrolle über den Interaktionsablauf gekennzeichnet, auch die Selbstdarstellung kann stärker beeinflusst werden als in Face-to-Face-Situationen, da die Beteiligten nur das voneinander wissen, was sie sich gegenseitig explizit mitteilen. Während im RL automatisch auch Statusangaben über Kleidung, Accessoires und Habitus übermittelt werden, fehlt dieser Aspekt in computervermittelter Kommunikation. Es ist daher relativ leicht möglich, eine beliebige Identität vorzutäuschen. Das erste, was man über seine Gesprächspartner erfährt, sind ihre Nicknames.
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Diese sind frei wählbar, oft Phantasienamen, sodass es z.B. nicht möglich ist, von einem Nickname auf das Geschlecht zu schließen. Dagegen sagt der Nick häufig etwas darüber aus, wie die Person wahrgenommen werden will. Manchmal wird auch der Nick eines anderen Chatters aus dem Channel angegeben, sodass man für jemand anderes gehalten wird. Falls dies entdeckt wird, muss der Betreffende allerdings damit rechnen, den Ärger der gesamten Channelgemeinde auf sich zu ziehen und gekickt zu werden. Das Ausprobieren verschiedener Rollen und Perspektiven betrifft gerade auch die Geschlechtsrolle (Gender Switching). Döring (1995, 325) kommt aufgrund zahlreicher Erfahrungsberichte zu dem Schluss, dass das Phänomen des Gender Switching vor allem in MUDs und im IRC recht häufig ist. Ob diese Einschätzung zutreffend ist, lässt sich kaum beurteilen. Gender Switching kann jedenfalls den Horizont erweitern: „Interessanterweise beschwerten sich nicht wenige Männer nach dem Gender Switching in den News über das diskriminierende und belästigende Verhalten ihrer Geschlechtsgenossen Frauen gegenüber, das sie nun erstmals hautnah miterlebt hatten" (ebd.). Wieweit Gender Switching unter Jugendlichen verbreitet ist, ist nicht bekannt. Gerade bei geschlechtsspezifischen Chat-Angeboten kommt es aber durchaus vor, dass sich beispielsweise Jungen in einen Mädchen-Channel (mit einem Mädchenvornamen) einklinken, um einmal zu schauen, was dort abgeht.
3.5. Pager und Mobiltelefone Zu einem typischen Jugendmedium, das den Kommunikationsbedürfnissen von Jugendlichen Rechnung trägt, entwickelten sich Mitte der 90er Jahre die sogenannten Pager, die unter Jugendlichen - und fast nur unter Jugendlichen - weite Verbreitung fanden. Pager nutzen die Technik von Mobiltelefonen, die im Bereitschaftszustand ständig Kontaktsignale mit den Telefonsatelliten austauschen, um jederzeit lokalisierbar und damit empfangsbereit zu sein. Die dazu verwendeten Frequenzen sind damit aber nicht ausgelastet und können - ähnlich wie die Austastlücke beim Fernsehen für Videotext zur Informationsübertragung genutzt wird - dazu benutzt werden, kurze Textbotschaften mit bis zu 200 Zeichen zu versenden bzw. zu empfangen (SMS - Short Message Service). Das Empfangsgerät kann dabei ein anderer Pager sein, aber auch ein Mobiltelefon, denn diese sind ja auch mit einem Textdisplay ausgerüstet, oder auch ein Computer mit Netzanschluß. Ein Pager ist also eine Art mobiles Texttelefon, für das keine Grundgebühr anfällt, sondern nur die jeweiligen Übertragungskosten. Verwendet werden Pager häufiger zum Empfangen als zum Senden von Nachrichten, da letzteres den teuren Mobiltelefontarif kostet, während Anrufe (über den Anschluß der Eltern) nicht das Budget der Jugendlichen belasten. Mit sinkenden Mobilfunkpreisen und der Einführung von ,Prepaid-Cards', mit der
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die Grundgebühr und Vertragsbindung entfallen und somit die Kosten (gerade auch für die Eltern) kalkulierbar bleiben, nahm Ende der 90er Jahre die Zahl der Handy-Nutzer unter Jugendlichen stark zu und Pager gelten seither als ,out'. Die Dynamik des Marktes dokumentiert sich darin, dass die Zahl der Mobiltelefonnutzer in der Gesamtbevölkerung von 1995 (3,8 Mio) bis 2000 auf 47 Millionen angestiegen ist. Entsprechend schwierig ist es, verlässliche Daten zur Handynutzung Jugendlicher anzugeben. Nach einer im Frühjahr 2000 durchgeführten Studie der Stiftung Lesen (2001) besitzen mehr als die Hälfte (56%) der 14- bis 19jährigen ein Mobiltelefon (s.a. Franzmann 2001, 90). Eine etwa zeitgleich durchgeführte Befragung an Bielefelder Schulen (Hofmann 2000) ermittelte für 13- bis 18jährige etwas geringere Werte (44,5%). Danach werden vier Fünftel der Handys mit Prepaid-Cards betrieben. Hauptschüler (60%), in deren Peergroups Handys einen größeren Statusgewinn bedeuten, sind auch häufiger im Besitz eines Handys als Gymnasiasten (38%); ebenso sind Mädchen (48 %) leicht überrepräsentiert. Hauptmotiv der Anschaffung ist die ständige Erreichbarkeit (82%) und die Nutzung von SMS (40%), die, nebenbei bemerkt, in der Schule auch ganz neue Formen des Mogelns ermöglicht. Mit einem Mobiltelefon fühlen sich vor allem die Mädchen auch sicherer - 26% der Mädchen (16% der Jungen) geben dies als einen Anschaffungsgrund an, und über die Hälfte der Handybesitzer stimmen der Aussage zu, dass man sich mit einem Handy sicherer fühle. Dass die meisten Jugendlichen mit dem Handy angeben wollen, glauben drei Viertel der Handybesitzer und 88% der übrigen Jugendlichen. Diese fühlen sich auch doppelt so häufig (31 % vs. 14% der Nutzer) durch das Telefonieren in der Öffentlichkeit gestört. Zum Telefonieren werden Handys nicht sonderlich häufig verwendet. Drei Viertel der Nutzer tätigen bis zu drei Anrufe täglich; ein weiteres Sechstel vier bis sechs Anrufe. Dabei geht es meist darum, Verabredungen zu treffen oder jemandem mitzuteilen, wo man sich gerade aufhält. Bedeutsamer sind die inzwischen nicht mehr kostenlosen SMS-Nachrichten. Die Hälfte der Nutzer verschickt täglich ein bis vier SMS und ein gutes Drittel sendet fünf bis zwölf Nachrichten. Genutzt wird SMS vor allem, um Mitteilungen (58%) oder Grüße (42%) zu verschicken, Verabredungen zu treffen (55%) oder kurze Briefe zu schreiben (45 %). Ein Viertel der Jugendlichen nutzt SMS auch, um mit jemandem zu flirten und für ein Siebtel ist SMS auch eine Form des Zeitvertreibs geworden. Subjektiv ist das Mobiltelfon bei Jugendlichen hoch besetzt. Über die Hälfte der Handybesitzer würde es stark oder sehr stark vermissen, wenn sie einen Monat darauf verzichten müssten. Ein großer Teil der Jugendlichen (57 %) trägt auch die Kosten selbst oder teilt sie mit den Eltern (15%). Für ein Drittel der Jugendlichen betragen die monatlichen Kosten bis zu 25 DM; zwei Fünftel geben dafür 25 bis 50 DM aus. Für eine Minderheit von 5%, die mehr als 100 DM ausgibt, kann die Handynutzung jedoch auch zu einem finanziellen Problem werden.
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Eltern finden Mobiltelefone für Jugendliche meist unnötig, was sich auch daran zeigt, dass sich lediglich 40% an den Kosten beteiligen oder sie ganz übernehmen. Tatsächlich sind - rein funktional betrachtet - Mobiltelefone in den meisten Fällen genauso überflüssig wie Rock-, Pop- oder HipHopmusik, auf die man ja prinzipiell auch gut verzichten kann, da sie nicht unmittelbar lebensnotwendig sind. Unter Jugendlichen entwickelt sich mit dem Handy jedoch auch eine neue Kommunikationskultur. In diesem Sinn werden Mobiltelefone (bzw. SMS) für Jugendliche auch zu einem Abgrenzungsmedium gegen die Erwachsenen, die SMS (meist) nicht nutzen wollen oder können, und wenn doch, dann ist es nur selten verbunden mit einem vergleichbaren ,Kick' oder Fun-Faktor. Ein anderer Aspekt ist für Eltern interessanter. Das Mobiltelefon der Jugendlichen ermöglicht ihnen eine sanfte Kontrolle, gewissermaßen eine Kontrolle am langen Zügel. Natürlich werden sie sich weiterhin Sorgen machen, was ihre Kinder (abends) gerade anstellen - vor allem, wenn Terminabsprachen nicht eingehalten werden, aber hier profitieren beide Seiten - Eltern wie Kinder - von der ständigen Erreichbarkeit. Eltern können eher Freiräume gewähren (und das ist natürlich im Sinne der Jugendlichen), wenn sie im Bedarfsfall einfach anrufen oder angerufen werden können. Das wird auch tatsächlich genutzt, wie die o.g. Untersuchung zeigt. Etwa 40% der jugendlichen Handynutzer rufen ihre Eltern häufig oder sehr häufig an, um mitzuteilen, wo sie sich gerade aufhalten; ebensoviele, um zu fragen, ob sie später als verabredet nach Hause kommen dürfen. Die elterlichen Abholdienste - z.B. nach Diskothekenbesuchen - werden ebenso via Mobiltelefon abgerufen: Ein knappes Drittel der Jugendlichen bittet die Eltern per Handy, sie mit dem Auto abzuholen. Darüber hinaus dürfte gerade auch für Eltern der Sicherheitsaspekt eine gewisse Rolle spielen.
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Selbstsozialisation in virtuellen Welten
4.1. Die Bedeutung von Peergroups und Jugendkulturen für die Mediensozialisation Schon bei älteren Kindern spielen heute die Gruppen der Gleichaltrigen (Peergroups) eine wichtige Rolle. Mit zunehmendem Alter nimmt deren Bedeutung bei Jugendlichen vor allem auch im Hinblick auf jugendkulturelle Stilisierungen weiter zu. Erst durch die Allgegenwart von Medien erreichten Jugendkulturen ihren heute vorfindlichen Grad an Pluralisierung und Ausdifferenzierung (vgl. Vollbrecht 1995; SPoKK 1997). In den 50er Jahren wurde vor allem die Popund Rockmusik zum Ausdrucksmedium der neu entstehenden Jugendkulturen (Teenager, Halbstarke). Inzwischen ist eine Vielzahl weiterer, oft szenetypischer Musikstile entstanden, von denen in den letzten Jahren Techno und Hiphop am einflussreichsten waren. Jugendliche schaffen sich vor allem über die Musik eigene soziale Milieus in Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen. Diese jugendkulturellen Milieus sind gekennzeichnet durch die (unterschiedliche) Verwendung der Symbolmedien Musik, Mode und Ausdrucksgestus. Jugendliche Peergroups emanzipierten sich in den 50er Jahren allmählich zu einer Subkultur, die sich bewusst von den Interaktions- und Kommunikationsmodi der von den Erwachsenen besetzten gesellschaftlichen Subsysteme unterscheidet; die die soziale Kontrolle immer mehr auf die Jugendlichen selbst zu verlagern sucht; die als gemeinsamen Bezugspunkt die Abgrenzung von traditionellen Normen und Verhaltensweisen ansieht und die subkulturellen Gepflogenheiten und Standards zu einem bevorzugten Identifikationspotential werden lässt - mit dem Anspruch, dass dies alles nicht eine vorübergehende Kinderei darstelle, sondern eine ernstzunehmende Alternative auf Dauer (Baacke 1972, 168).
Dieser Anspruch wird aufrechterhalten, obwohl Jugendkulturen einerseits letztlich transitorisch sind - also gerade keinen Lebensentwurf auf Dauer bereithalten, andererseits umgehend in das kommerzielle Kalkül der Wirtschaft einbezogen wurden und insofern keine wirkliche Gegenwelt anbieten. Vor allem seit Ende der 70er Jahre haben sich die Jugendkulturen immens ausdifferenziert. Dazu beigetragen haben Globalisierungseffekte mit einer weltweiten Verbreitung und Vermarktung der erfolgreichen Produkte der Musik- und
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Medienindustrien. Festzustellen ist jedoch auch eine Verallgemeinerung in dem Sinn einer wachsenden Unschärfe der Trennlinien von eigenständigen Jugendkulturen zur ,Gesamtkultur', da letztere zunehmend jugendkulturelle Elemente assimiliert und der Gestus von Jugendlichkeit in andere Lebensaltersstufen übernommen wird. Spätestens seit den 80er Jahren ist es nicht mehr möglich, Jugendkulturen generell als Gegenkulturen aufzufassen. Sicherlich haben auch viele ,spätere' Jugendkulturen - etwa in der Ökologiebewegung - Alternativen in der gesellschaftlichen Entwicklung aufgezeigt; ebenso lassen sich noch immer bestimmte Jugendkulturen als Ausdruck eines Protests gegen gesellschaftliche Zustände deuten. Auf die in den letzten Jahren inflationäre Entstehung immer neuer ,Freizeit-Stile' sowie auf die zahlreichen ,Revivals' von Jugendkulturen aus den 50er bis 80er Jahren trifft dies aber immer weniger zu. Besondere soziale Lebenslagen können die Disposition für oder gegen bestimmte Jugendkulturen verstärken - Vorhersagen des biographischen Verlaufs von Szene-Zugehörigkeiten sind dennoch wenig verlässlich. Es zeigt sich vielmehr, dass heute der Anschluß an Jugendkulturen eher situativ erfolgt „als kurzfristig wirkender Stimulus eines reizvoll erscheinenden Arrangements, aufgrund der Orientierung an Freunden, die das Experiment des ,Andersseins' schon eingegangen sind" (Baacke 1994, 23f.). Erleichtert wird dies dadurch, dass fast alle in Deutschland anzutreffenden Jugendkulturen Importware (Globalisierung durch Medien) und schon deshalb wählbare Muster sind, die eher nach ästhetischen als nach sozialen Gesichtspunkten ausgesucht werden. Insbesondere die Darstellungsrepertoires und Darstellungsstile werden zu Insignien von Lebensstilen. Diese Lebensstile bieten ästhetische Optionen für thematisch übergreifende Überhöhungen des Lebensvollzugs überhaupt. Das heißt keineswegs, dass sie in jedem Kontext auch realisiert werden müssten. Normalerweise sind Lebensstil-Orientierungen von Jugendlichen in ihrer existentiellen Relevanz und biographischen Reichweite begrenzt und eher als spielerischer' Umgang mit Identität zu verstehen. Lebensstile signalisieren jedoch nicht nur oberflächliche Konsum- und Freizeitgewohnheiten, sondern auch die Zugehörigkeit zu kollektiven Lebens- und Werthaltungen. Vom einzelnen Akteur werden Lebensstile „oft sozusagen ,en bloc' aus dem kulturellen ,Angebot' übernommen oder auch als , Paket 1 von ihm (mehr oder minder originell) selber zusammengeschnürt" (Hitzler 1994, 79). Eine wesentliche Rolle kommt dabei den Medien zu, die die jeweils aktuellen Lebenssinn- und Lebensstilangebote vermitteln. Wegen ihrer auffälligen Ausdrucks-Codes erfreuen sich jugendkulturelle Stile der besonderen Aufmerksamkeit des Mediensystems. Die Medien betreiben dabei nicht nur die Kommerzialisierung der Jugendkulturen (vgl. dazu auch Gurk 1996) - sie ermöglichen auch ihre partielle Durchsetzung durch die mit der Kommerzialisierung verbundene Verbreitung. Medien verkürzen dadurch gewissermaßen die Halbwertszeit von Jugendkulturen. Im Quartanfieber von
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Skandalon, Entschärfung, Verallgemeinerung und Entwertung treiben sie die Entwicklung und Aufhebung jugendkultureller Stile voran und streichen nebenbei parasitär ihren Gewinn aus einer medienspezifischen Ökonomie der Aufmerksamkeit ein. Im Vergleich zu früheren Jugendgenerationen ist auffällig, wie weitgehend jugendliche Szenen heute medial vermittelt sind. Insbesondere entlang spezifischer Musikrichtungen verlaufen heute die Grenzen verschiedener Jugendszenen. Dies muss nicht im Sinne einer Kultur- oder Bewußtseinsindustriethese (Adorno bzw. Enzensberger) als völlige Fremdbestimmung gedeutet werden. Ganz im Einklang mit Annahmen des Lebensstilansatzes hat etwa Willis aufgezeigt, dass Jugendliche einen spezifischen Eigensinn entwickeln, der es ihnen ermöglicht, sich die Ausdrucksmittel der Trivialkultur originell und ausdrucksstark anzueignen, teilweise weiterzuentwickeln und so „Möglichkeiten von oppositionell unabhängigen und alternativen Symbolisierungen des Selbst" (Willis et al. 1991, 193) zu erzeugen. Die Kulturindustrie macht also gerade durch ihre Allgegenwärtigkeit und Unentrinnbarkeit für viele Jugendliche auch eine Chance greifbar, Alltagskultur aktiv mitzugestalten bzw. als Ausdrucksmittel zu benutzen. Die meisten Jugendlichen orientieren sich heute an den modischen Vorgaben und Sinndeutungen der Jugendkulturen und konsumieren ihre Angebote im Freizeitbereich vor allem im Hinblick auf Ausdrucks- und Erlebnisfunktionen. Sie bleiben allerdings an den Rändern der Jugendkulturen - nur kleine Minderheiten gehören dem jeweiligen Zentrum einer Jugendkultur an und verorten sich explizit dort. Ähnlich argumentiert auch Jäckel (1997, 11), der in der Überbetonung jugendkultureller Stilisierungen bei der Wahrnehmung von Jugend einen Sieg der Interessen der Medienindustrien sieht. Bei den jugendkulturellen Grenzgängern' zeigt sich, dass Lebensstile individuell begrenzbar und kombinierbar sind, was sich z.B. in einer jugendkulturellen Stilisierung in der Freizeit, nicht aber im Berufsleben ausdrücken kann. Die Differenz von unterschiedlichen Handlungsanforderungen und Werteprioritäten in unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft - einerseits die leistungsorientierte Schul- und Berufswelt, andererseits der auf Hedonismus und Konsum abhebende Freizeitsektor - übernehmen diese Jugendlichen in ihr Selbstkonzept und betätigen sich als ,part-time 4 -Stylisten mit Sinn für Notwendigkeiten. Für Techno als typische Freizeitkultur ist dieses Verhalten sogar stilbildend: den ,Raves' (Tanzveranstaltungen) an den Wochenenden steht ein auffällig unauffälliges soziales Funktionieren in den Zwischenzeiten gegenüber. Da die Musik von zentraler Bedeutung für Jugendliche und die Ausbildung von Jugendkulturen und Jugendszenen ist, soll kurz darauf eingegangen werden, welche Musikrichtungen Jugendliche präferieren. Die Angaben sind einer 1996 durchgeführten repräsentativen Untersuchung von Lange (1997, 98) zum Jugendkonsum entnommen, in der 15- bis 20jährige Jugendliche aus Bielefeld und Halle/S. befragt wurden. Da Musikmoden sich relativ schnell ändern bzw. neue
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hinzukommen, ist das Erhebungsjahr zu beachten. Angegeben werden jeweils die Prozentwerte der Nennungen zu dem Item: „höre ich sehr gerne". Ferner werden in Klammern zusätzlich die Werte für Jungen und Mädchen angeführt, da die Musikpräferenzen geschlechtsspezifisch variieren. Klarer Spitzenreiter mit 36% (J: 31 %, M: 39%) ist die Popmusik, die in den Charts gespielt wird. Da die Charts sich an den Verkaufszahlen orientieren und damit bereits die besondere Beliebtheit dieser Songs spiegeln, ist diese hohe Beliebtheit nicht erstaunlich. Es folgen gleichauf mit 27% Rock (J: 28%, M: 26%), Hip Hop (J: 33%, M: 21 %) und Independent-Musik (J: 22%, M: 31 %). Dabei ist zu beachten, dass zwischen Rock, Hard Rock und Alternativem Rock unterschieden wurde, die zusammen 51 % erreichen. An fünfter Stelle steht Rap mit 25 % (J: 31 %, M: 19%), gefolgt von Soul mit 24% (J: 20%, M: 27%), Reggae mit 23% (J: 18%, M: 28%) und Techno mit 22% (J: 24%, M: 20%). Mit Abstand folgen gleichauf mit 17% Musicals/ Filmmusik (J: 9%, M: 25%) und Crossover (J: 22%, M: 13%) sowie mit 16% Punk (J: 14%, M: 19%). Klassik liegt mit 15% (J: 10%, M: 20%) in der Mitte der Rangreihe, gefolgt mit jeweils 14% von Oldies (J: 10%, M: 17%) und Hard Rock (J: 18%, M: 11 %). Auf den nächsten Plätzen folgen Hard Core mit 13% (J: 17%, M: 10%) sowie gleichauf mit 12% Blues (J: 10%, M: 15%), Heavy Metal (J: 18%, Μ: 6%), Dark Wave (J: 10%, Μ: 14%) und mit 11 % Funk (J: 11 %, M: 11 %). Weniger beliebt sind mit 10% Alternativer Rock (J: 12%, M: 9%), mit jeweils 9% Neue Musik (20. Jh.) (J: 10%, M: 9%) und Jazz (J: 7%, Μ: 11 %). Der in den 70er Jahren bei Jugendlichen beliebte Folk wird nur noch von 5% der Jugendlichen (J: 6%, M: 4%) sehr gerne gehört und das Schlusslicht bilden Volksmusik/Schlager mit lediglich 1 % (J: 1 %, Μ: 1 %). Die Daten zeigen zunächst einmal, dass die Jugendlichen insgesamt ein sehr breites Musikspektrum hören. Zweitens zeigen sie, dass nicht nur jeweils eine Lieblingsrichtung präferiert wird, sondern dass Jugendliche verschiedene Musikstile hören - wenn auch nicht gleichermaßen gerne. Drittens werden geschlechtsspezifische Vorlieben deutlich. So bevorzugen Jungen stärker die harten, rhythmischen Stile wie Hard Rock, Hard Core, Heavy Metal, Crossover und Rap, während Mädchen eher melodische Richtungen hören wie Musicals/ Filmmusik, Reggae, Soul, Blues und Oldies. Lange (1997, 87) weist weiter darauf hin, dass Hip Hop, Rap und Techno vor allem von jüngeren Jugendlichen bevorzugt werden. Da dies neuere Musikstile sind, kann man diesen Befund als Indiz dafür werten, dass die musikalische Sozialisation bereits im späten Kindesalter oder im frühen Jugendalter zur Ausbildung von Musikvorlieben führt, die dann relativ stabil sind. Diese Stabilität ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Vorliebe für eine bestimmte Musikrichtung keineswegs eine zufällige Wahl darstellt. Die Musik ist vielmehr eingebettet in soziale und kulturelle Kontexte und damit auch ein expressives Medium für Lebensstile und Werthaltungen.
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4.2. Identitätsfindung und Sinnstiftung in virtuellen Welten Über Musik und Mode aus differenzierte Jugend-Stile übernehmen heute für viele Jugendliche identitätsstiftende Funktionen an Stelle bzw. neben überkommenen Deutungsmustern. Die Jugendszenen bilden die Bühnen, auf denen über die Inszenierung des Ichs Fragen des Glücksanspruchs, der gegenwärtigen inneren Verfassung, aber auch der zukünftigen Sinnorientierung ausgehandelt werden. In einer Welt, in der nicht nur Arbeit, sondern auch Sinn knapp geworden ist, wird dieser über die lebensstilstiftenden Mythen der Jugendkulturen angeliefert. Die Stilbildungen der Jugendkulturen sind also kein bloßes Oberflächenphänomen, sondern ein subjektiv hochbesetztes, manchmal geradezu existentielles Medium für die eigene Personalisation. Gleichaltrige Jugendliche können sich in ihrer Mediennutzung daher stärker unterscheiden als Angehörige ein und derselben Szene trotz großem Altersunterschied - wobei zu beachten ist, dass Jugendliche einen Unterschied von fünf oder zehn Jahren subjektiv sehr viel größer empfinden als Erwachsene. Von besonderer Bedeutung für jugendkulturelle Szenen ist ihre Musik. In der Musik und ihren Texten verdichten sich zeitgeistige Strömungen und dokumentiert sich künstlerisch der Wandel von Lebenswelten und Wertvorstellungen. Es gelingt offenbar immer wieder, ein weitgefächertes Spektrum von lebensweltlichen Ereignissen musikalisch zu verarbeiten. Dabei ist gerade die oft kritisierte Konventionalisierung musikalischer Stilmittel von besonderer alltagspraktischer Bedeutung, da sie eine problemlose Rezeption ermöglicht. Zum Verständnis der szenetypischen Musikrichtungen bedarf es in der Regel keiner besonderen intellektuellen Entschlüsselungen, sondern nur des Rückgriffs auf die alltagsweltliche Erfahrung, auf die hier relevanten Stimmungen und Gefühle, die sich subjektiv und intersubjektiv begründen. Vor allem die Musikmedien - aber z.B. auch Kultfilme - leisten die kommunikative Verständigung über lebensweltliche Wirklichkeit. Dies gilt selbst dann, wenn sie sich kalkuliert auf die Interessen von Jugendlichen beziehen. Dabei ist zu beachten, dass die Texte oft nebensächlich sind, weniger beweisen, als geglaubt werden wollen. „Words are sounds we feel before they are statements to understand" (Marcus 1977). Dennoch können natürlich auch die Texte wesentliches Medium sinnerzeugender Verständigung sein. Dies zeigte sich beispielsweise in der Liedermacherszene der 70er Jahre. Jugendmusik fungiert als ein Verständigungsmedium, über das Sinnfragen in einer Jugendliche besonders ansprechenden Form thematisiert werden. Dies gilt für die gesamte alltägliche Welterfahrung, besonders aber in den für die Identitätsproblematik wesentlichen Fragen nach dem Sinn der eigenen Existenz und dem Sinn des eigenen Handelns. Die Funktion der Texte kann dabei nicht
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losgelöst betrachtet werden von einem weitgefassten Kontext, der Körpergefühl, Sinnlichkeit, sexuelle und erotische Ausstrahlung und Attraktivität miteinbezieht, die im musikalischen Environment erprobt und erfahren werden. In ihrer ästhetischen Inszenierung vermag die Musik die moderne Subjektivität zu stützen, insofern sie problemlos für eine Intensivierung der Phantasie funktionalisierbar ist. Sie bietet zahllose Möglichkeiten dafür, Realität fiktiv zu interpretieren. Da das moderne Subjekt sich nicht mehr auf eine langfristige Übernahme kultureller Traditionen einrichten kann, allgemein verpflichtende Geltungsansprüche ihnen gegenüber in einer individualisierten Gesellschaft kaum mehr existieren, bieten sich Gelegenheiten für ständig neue Formen der Selbsterfahrung und phantasiebezogenen Wahrnehmung von Welt. Durch das Sich-Einlassen auf Fiktionen kann der Hörer (oder Zuschauer z.B. von MTV und VIVA) seinen lebensweltlichen Horizont neu auslegen und seine Deutungen von Wirklichkeit erweitern. Diese ,als ob'-Einstellung kann nicht einfach als defizitäre Bearbeitung von Wirklichkeit verstanden werden, denn so bliebe die ästhetische Wahrnehmung unverstanden, das in der Fiktion enthaltene Moment von entdeckerischer Leistung der je augenblicklichen Wahrnehmung unberücksichtigt. Das „Besondere des ästhetischen Konstrukts" (Bohrer 1981, 90) wird erst dann deutlich, wenn man danach fragt, „was das Fiktive als das andere zur Wirklichkeit an dieser erkennbar zu machen vermag" (Jauß 1982, 293). Wichtiger als die ontologische Trennung von Fiktion und Realität, die im übrigen dem Weltverständnis früherer Epochen völlig fern lag und erst Resultat des gesellschaftlichen Entzauberungsprozesses ist (ebd., 294), ist das Mitteilungsverhältnis, d.h. die traditionelle Funktion von Kunst, einen ästhetischen Schein zu konstituieren, der dem .Leben' gegenübersteht und darauf zurückwirkt. Die Durchsetzung von Rationalität als Grundprinzip der Moderne hat die mythischen Weltbilder abgeräumt und den Rückweg zu ihnen versperrt, aber die mythischen Grundbedürfnisse nicht ausgeräumt, sondern unbefriedigt zurückgelassen. Diese Bedürfnisse werden allenfalls ästhetisch-situativ befriedigt, d.h. ohne Rückgriff auf intersubjektive Gewissheiten. Solche Remythisierungen besitzen jedoch nicht die Qualität mythischer Denkweisen, sondern lassen Trivialmythen entstehen, deren Funktion bloß noch subjektiv ist. Gerade in der jugendkulturellen Musik - aber z.B. auch in der Werbung - wird deutlich, wie die vergesellschafteten Vorstellungsbilder bzw. ihre vergesellschafteten Wunschgehalte in den häufig auf traditionelle Mythen zurückgehenden Trivialmythen eine faszinierende Wirkungskraft entfalten können, und zwar um so mehr, je weniger ein Absolutheitsanspruch des Rationalen akzeptiert wird. Dabei ist es „nicht wichtig, ob der Mythos anschließend wieder auseinander genommen wird. Seine Wirkung wird für stärker gehalten als die rationalen Erklärungen, die ihn später dementieren könnten" (Barthes 1976, 114). Dies läßt sich ebenso als Flucht aus der Wirklichkeit verstehen wie als ein Versuch der
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„Wiederverzauberung der Wirklichkeit" (Ferchhoff 1984), „der allerdings nur mit Hilfe der ästhetischen Fiktion gelingt, denn nur so kann die Welt eine mythenhafte Bezauberung erfahren, die ihr aus rationalistischer Perspektive nicht zukommt" (Voullieme 1987, 62). Denn die authentische Erscheinungsform eines Mythos als allumfassendes Weltbild mit Wahrheitsanspruch kann in entzauberten Kulturen nicht zurückgewonnen werden. Die Rezeption von jugendkultureller Musik stellt also eine Möglichkeit der intuitiven Weltvergewisserung dar. Mit ihren begrenzten musikalischen Ausdrucksmitteln kann sie der subjektiven Innerlichkeit etwas von dem vermitteln, was mit,Zeitgeist' umschrieben wird. Sie erreicht dabei mit ihren Mythen auch diejenigen, denen es nur eingeschränkt möglich ist, ihre Alltagserfahrungen begrifflich-abstrakt zu deuten. Voullieme formuliert dies - im Hinblick auf Rockmusik - so: Im Gegensatz zum buntschillernden Rockmythos, der ästhetisch ein Bild vom Leben in der modernen Zeit ausmalt, kann die begrifflich-abstrakt geführte Argumentation dem Jugendlichen nur die Zerstörung vieler Illusionen anbieten. Wenn aber in einer Gegenwart, die schon weitgehend ihrer traditionellen Substanz beraubt ist, die abstrakte Vernunft in eine kaum noch fassbare objektive Kultur einführen soll, dann ist hierauf bezogenes theoretisches Wissen - in Anlehnung an Nietzsche - „nur ein Stück Ungewißheit mehr, die Erweiterung eines leeren Raumes". Das Interesse der modernen Subjekte nach ästhetischer Inszenierung ihrer Innerlichkeit zeigt, dass auch die Moderne den trivialen Mythos als ein Prinzip der Daseinsvergewisserung benötigt und erzeugt (Voullieme 1987, 68).
Es würde daher zu kurz greifen, hier nur von emotionaler Entlastung zu sprechen. Unter den Bedingungen einer ,entzauberten' Lebenswelt nehmen Jugendkulturen - paradigmatisch in der Atmosphäre der Diskothek oder der Party - die Funktion einer ästhetisch faszinierenden „Traumzeit" (Duerr 1978) ein. Das ,metaphysische' Bedürfnis, die Wirklichkeit der Gegenwart im subjektiven Zeitempfinden fiktiv zu verlassen, sich ,wiederverzaubern' zu lassen, stößt in der Moderne allerdings auf enge Grenzen, da man in einer entzauberten, entmythologisierten Wirklichkeit nicht mehr verzaubert werden kann. Was Rockmusik und andere Trivialmedien in diesem Zusammenhang leisten, läßt sich als eine Form von situativer Entzückung begreifen, die nicht von Dauer ist, sondern mit der Situation endet, welche dem Musikerlebnis folgt (Voullieme 1987, 77).
Der auf der Ebene der lebensweltlichen Gewissheiten angelangte Entzauberungsprozess holt sich selber ein und wird selbst entzaubert. Jugendliche machen heute weniger denn je die Erfahrung, durch Traditionen und Autoritäten in ihrer subjektiven Entfaltung eingeengt zu sein. Statt symbolischer Überdeterminierung erfahren sie eher symbolische Beliebigkeit und Sinnleere. Der gerade auch via Medien ständig präsenten Aufdringlichkeit der Realität kann sich niemand
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entziehen - allenfalls kann man sie sich ästhetizistisch vom Leib halten. Jugendliche Stilbildungen sind so zu symbolischen Strukturierungsbewegungen geworden, die sowohl Tendenzen der Entstrukturierung als auch der neokonservativen Rückstrukturierung entgegengehalten werden können. Identität lässt sich in dieser Verlagerung des Individualitätsausdrucks auf die Ebene der Darstellung, auf das Ästhetische dann nur begreifen als Identisch-Sein mit seinen momentanen Gefühlen und Selbstdarstellungsbedürfnissen. Statt der falschen Fährte der fruchtlosen Reise ins Innere des ,eigenen Selbst' (vgl. Sennett 1983) zu folgen, ermöglicht die zeitgenössische, spielerische Stilisierung des Ich eine entlastende Distanz für diejenigen Akteure auf der Alltagsbühne, denen es auf die Dauer zu anstrengend ist, ihre expressiven Bedürfnisse immer auf die eigene, mit sich selbst identische - oder identisch zu beweisende Subjektivität ausrichten zu müssen. Zum neuen Leitmedium für virtuelle Wirklichkeiten wird der Cyberspace. Die virtuellen Realitäten des Computers und der Computernetze versprechen die Verwirklichung des alten Menschheitstraums, in anderen denkbaren Welten .wirklich' zu sein. Die bei Film und Fernsehen vorhandene Distanz zum Geschehen wird dabei verringert durch den Eintritt des Beobachters in den Bildraum. Eine interaktive Teilhabe an den Handlungsabläufen der virtuellen Welten wird möglich - freilich in den Beschränkungen der Datenstrukturen. Neben den bekannten Simulatoren mit Datenhelm und Datenhandschuh werden ausgefeiltere Systeme mit weiteren und besseren Rückkopplungstechniken entwickelt im Hinblick auf Haptik (taktiles Gefühl), Wärme (über Thermo-Panel), Bewegung (Motion-Plattform), Kraftrückkopplung (Force-Feedback) und Akustikböden, die auf simulierte Erschütterungen reagieren (vgl. Sperlich 1997, 78ff.). Zunächst zur Simulation technischer Innovationen und zu Präsentationszwecken entwikkelt, werden solche Systeme auch im Unterhaltungssektor - z.B. für interaktive Spiele - zum Einsatz kommen und neue Erlebniswelten schaffen. In der ,Erlebnisgesellschaft' vermitteln uns die Medien neue Eingänge in virtuelle Welten. Dies ist ein Element der Wiederverzauberung von Welt, bei der es nicht um die Suche nach Bedeutungen geht, die in der Tiefe verborgen sind, sondern um an der Oberfläche sichtbare Entwürfe und Modelle, die nicht länger auf eine verborgene Realität hinter den Bildern verweisen. In der Welt der Werbung etwa wird die Technik der Erlebnisweltkonstruktion ganz gezielt angewandt. Auf die Marke abgestimmte Ereignisse werden beim sogenannten ,Eventmarketing' komplett inszeniert (ausführlich: Vollbrecht 1997). Denn: „wer wirklich etwas erleben will, sucht dieses Erlebnis [...] nicht mehr in der empirischen, sondern in der virtuellen Realität; sie ist formbar und weniger störanfällig. Und wer tief fühlen will, geht ins Kino" (Bolz 1993, 899).
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4.3. Horrorvideo-Fans Wer noch tiefer fühlen will, kann sich auch - wie die überwiegend männlichen, jugendlichen Horrorvideo-Fans - Gewaltvideos anschauen (zur Debatte über Horrorfilme siehe auch Hausmanninger 1999). Die Frage nach den Wirkungen von Gewaltdarstellungen ist wahrlich nicht neu, aber noch immer so aktuell und kontrovers wie zu Zeiten Piatons, der für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor ihrem Reifegrad nicht entsprechenden Mythen und Sagen plädierte, und seines Schülers Aristoteles, der gegen diese Auffassung die Karthasisthese formulierte. Jedes neue Medium geriet seither in den Sog einer öffentlichen Gewaltwirkungsdiskussion. Die Darstellung dieser Diskurse, Theorien und empirischen Ergebnisse über Mediengewalt füllt Bände (im Überblick: Vollbrecht 2001, 25ff. und 156ff.) und kann im Rahmen dieses Buches nicht geleistet werden. Hier geht es statt dessen um die Frage, wie sich eine Fankultur an einem Medium (Video) und an sehr speziellen Inhalten (Horrorfilme) konstitutiv orientiert, welche Funktionen dem Medium bzw. den Medieninhalten für die Jugendlichen auch im Hinblick auf ihre Gruppenbildung zukommen und welche Bedürfnisse der Jugendlichen durch derartigen Medienkonsum befriedigt werden. Die Fragestellung setzt also nicht an den Inhalten und ihren möglichen Wirkungen an, sondern an den Subjekten mit ihren Interessen, Motivlagen und Bedürfnissen. Waldemar Vogelgesang (1991) ist diesen Fragen in einer Studie über „Jugendliche Video-Cliquen. Action- und Horrorvideos als Kristallisationspunkte einer neuen Fankultur" nachgegangen. In der Videodebatte der 80er Jahre standen im Zentrum der öffentlichen Empörung die sogenannten Splatter- und Slasher-Filme mit ihren Phantasiewelten der Zombies, Mutanten, Brain-Eaters und Kettensägemörder - HardcoreHorror also, wo beim blutigen Detail nicht abgeblendet und geschnitten wird. Die besondere Art von ,Lebensintensität' und die tiefe Liebe zum fleischlichen Grauen offenbart sich in diesen aus Jugendschutzgründen indizierten bzw. verbotenen Filmen, wenn das blanke Messer konsequent in den Bauch gerammt wird und die Axt zielsicher zwischen die Augen trifft. Vogelgesang versucht, aus der Binnenperspektive des Videosehers das komplexe Beziehungsverhältnis zwischen Video und jugendlichen Rezipienten auszuleuchten. Gefragt wird also nicht, welche Auswirkungen Horrorvideos auf Jugendliche haben, sondern - mit Sensibilität für lebensweltliche und biographische Kontexte - : „Was fasziniert Jugendliche an Videofilmen? Warum gehen sie mit diesen Produkten so um, wie sie es alltäglich praktizieren? In welchen Lebens- und Erfahrungszusammenhängen steht die Nutzung der Filme?" (ebd.). Vogelgesangs Ziel ist es also, die hinter den objektiven und äußerlichen Videonutzungsmustern und Habitusformen stehenden Bedingungsfaktoren als formale Antezedentien zu dechiffrieren. Dabei muss der Rezeptionssituation in der Gruppe besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.
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In problemzentrierten Interviews wurden 35 männliche Videovielseher befragt, die über einschlägige Erfahrungen mit indizierten oder konfiszierten Videos verfügen. Hier geht es um die Explorierung der individuellen Gratifikationsleistungen von Videofilmen sowie um die Rekonstruktion gruppenspezifischer Relevanzstrukturen. In seinen Interpretationen und Deutungen bezieht Vogelgesang nicht nur Analysen des Videofilmangebots ein, sondern auch kultur- und kunstsoziologische Überlegungen zur Darstellung von Gewalt, zivilisationstheoretische Erklärungsmuster und jugendtheoretische Erkenntnisse über die Herausbildung und Bedeutung von Jugendkulturen, Stilbildungen und Peergroups in einer pluralisierten und individualisierten Lebenswelt. Zur Versachlichung der Gewaltdebatte plädiert Vogelgesang zunächst für eine vorurteilslose Betrachtung der filmischen Grundmuster. Er erläutert Dramaturgie- und Inhaltsmuster, Darstellungsformen und Inszenierungstechniken der Horrorvideos. Als Fazit lässt sich festhalten, dass ,Video-Nasties' weder thematisch noch dramaturgisch wirklich Neues zu bieten haben. Die Ausübung bzw. Darstellung von Gewalt verletzt allerdings deutlich die bisherigen Produktionscodes und Stilgewohnheiten. Die ungewohnte Radikalität und Exzessivität zeigt sich im ständig neuen Erfinden von Tötungsarten und -Werkzeugen, in der Extensität und Gründlichkeit der Darstellung physischer Destruktion mit Detailgenauigkeit der Gewaltanwendung, in der sekundären Bedeutung von Handlungen, Geschichten und Spannungsverläufen, der Stilisierung von Gewalt als sinnund zwecklos sowie dem häufig anzutreffenden Dramaturgiemuster eines .Schreckens ohne Ende', bei dem der Horror im Gegensatz zum klassischen Horrorgenre nicht aufgelöst wird. Die häufig unterstellte These vom völligen Verzicht auf eine Story weist Vogelgesang dagegen zurück. Horrorfilme bestehen nicht nur aus einer sinnund zwecklosen Aneinanderreihung von Gewalttaten, auch wenn die Story tatsächlich in vielen Fällen nebensächlich ist. Im wesentlichen bestehen die Stories aus zwei Handlungs- und Motivkreisen: dem plötzlichen Zusammenbrechen der Alltagsrealität (Kontrastbildung als Kompositionsprinzip) oder dem Verlust der gemeinsamen Verpflichtung auf Alltagsregulierungen in der großstädtischen Anonymität. In einem Exkurs über die Ästhetik der Gewalt und des Schreckens wirft Vogelgesang die Frage auf, in welchen Traditionslinien das Phänomen ,Videogewalt' zu sehen ist. Die abendländische Kulturgeschichte hat bekanntlich zahlreiche Darstellungen von extremer Gewaltanwendung hervorgebracht. Beispielhaft verweist Vogelgesang auf (in ihrem Gewaltaspekt heute kaum noch entzifferte) religiöse Leidensdarstellungen, auf Homers Odyssee, das Nibelungenlied, Grimmelshausens Simplicissimus, de Sade, die Tabubrüche der Surrealisten, den ,terroristic chic' einiger Theaterinszenierungen von Zadek oder Hopkins bis hin zur ,Neuen Figuration' in der Malerei. Mit diesem Ansporn zur Erinnerung relativiert Vogelgesang die Gewalt von Horrorvideos, ohne sie
Horrorvideo-Fans
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freilich zu verharmlosen. Stets kommt der Hinweis auf den anderen Inszenierungsmodus, auf die extremen Darstellungsformen und -perspektiven der Horrorvideos, und auf das Zurücktreten der Ebene der Reflexion gegenüber der bloßen Darstellung von Gewalt. Die Gründe für den stupenden Erfolg von Gewaltdarstellungen in bestimmten Jugendszenen sieht Vogelgesang in individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnislagen, die sich zivilisationstheoretisch erklären lassen. Die Zivilisationsgeschichte lässt sich - Norbert Elias (1978/1979) zufolge - als Steigerung der Selbstkontrollkapazitäten begreifen: äußere Zwänge werden durch innere Zwänge substituiert. Der damit einhergehenden Enteignung und Entfremdung des eigenen Körpers steht heute eine Wiederentdeckung und , Wiederkehr des Körpers' gegenüber, die sich z.B. auch im Sport-, Fitness- und Gesundheitskult äußert. Die wachsende körperbezogene Aufmerksamkeit und die vermarktete Körperinszenierung produzieren einen hohen Erwartungsdruck in Richtung auf Fitness, Schlanksein, Gesundheit, Sportlichkeit und Attraktivität, aber auch neue körperbezogene Ängste, diesen Erwartungen nicht gerecht zu werden, vom eigenen Körper quasi hintergangen zu werden. Auf die Irritationen dieses neuen Körperkults reagiert die Kunst mit der fundamentalen Antithese, die in der Symbolik des zerstückelten Körpers Gestalt annimmt. Credo dieser neuen Ästhetik ist die Gewissheit, sich nirgendwo geborgen fühlen zu können, vielleicht am allerwenigsten in seinem eigenem Körper. Auch Videogewalt mag so verstanden werden können als schockierende Gegenperspektive, die der Entlarvung des Körpermythos als neuem Ort des Schreckens dient. Die Frage nach den individuellen Motiven, sich Video-Nasties anzuschauen, beantwortet Vogelgesang im Rückgriff auf die geführten qualitativen Interviews. Genannt werden die qualitativ neue Form von ,Spannung' oder ,Thrill', das Interesse an technischen Finessen, das zusätzlich von Fanzines wie ,Cinefex' oder ,Fangoria' bedient wird, die Inszenierung von ,Schock-Bildern', die Veranschaulichungsmaximierung durch Hyperrealismus und Körperzerstörung sowie die Grenzerfahrung einer medialen Mutprobe, bei der es nicht um den Genuss der Gewaltdarstellung als solcher geht, sondern um das Standhalten, den Widerstand gegen die Darstellung. Die Unterscheidung von fiktiver und realer Gewalt bleibt jedoch - entgegen gängigen Vorstellungen - stets bewusst. Sie wird sogar als Distanzierungs- und Selbstthematisierungsstrategie bei bedrohlichen Videoszenen eingesetzt. Interessanter im Hinblick auf Jugendschutz ist die Frage nach spezifischen Video-Erlebniskarrieren, also dem biographischen Element. Kommt es zu einer Erosion der Schockwirkungen oder gilt ein Steigerungsprinzip, das ständig härtere Kost verlangt? Die biographischen Analysen der Vielseher zeigen, dass Reizverlust und Wirkungsveralltäglichung auftreten, wobei die entstehenden Wahrnehmungsroutinen die Valenz der Schockbilder entdramatisieren. Zunächst von Grausamkeit und Schockwirkung schier überwältigt, weiss man schließlich,
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was kommen wird und gewinnt wieder die Oberhand über die Schockbilder. Der Grad der psychischen Beanspruchung scheint dabei in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Konsumintensität zu stehen. Bei videoerfahrenen Jugendlichen kommt es zu einem Gratifikationsverfall mit nachlassendem Interesse an harten Videofilmen. Ein Entwarnungssignal also, das die Faszination für Videohorror im Verlauf einer ,normalen' Horrorvideo-Karriere als temporäre Erscheinung anzeigt. Horrorvideos nicht nur vom Medium her zu betrachten, sondern vor allem als ein soziales Gruppenphänomen, als eine weitere Variante jugendlicher Medienspezialkulturen zu verstehen, Öffnet den Blick dafür, dass es zwar thematisch um Horrorvideos geht, funktional jedoch um Gruppenerlebnisse. Die Filme stehen zwar im Mittelpunkt, aber es geht in diesen Gruppen auch um die Inszenierung von Qualitäten wie Selbstbehauptung, Coolness oder Affektbeherrschung. Die Horrorvideos bieten den jugendlichen Fans (und nur um diese geht es - von den meisten Jugendlichen wird dieses Genre abgelehnt bzw. für uninteressant gehalten) ein Experimentierfeld der Selbstdarstellung mit Entspannungs- und Entlastungscharakter gegenüber den Rationalitätsansprüchen des Alltags. Allgemeine Kennzeichen von Jugendstilen und Fankulturen (z.B. auch von Fußball-, Motorrad- oder Musikfangruppen) sind die gruppenspezifische Aneignung von Gegenständen und ein kollektiv geteilter Wissensfundus, in dem sich Gruppenzugehörigkeit und individuelle Kompetenz spiegeln. Dies gilt auch für Videogruppen. Hier wird Filmwissen über die Genese von Genres, Marktsituation, dramaturgische Gestaltungsmittel usw. erworben oder erweitert, aber auch selektiert und kanonisiert, wie sich aus den Interviewpassagen der Jugendlichen ablesen lässt. Horrorvideosessions werden erlebt als kollektives Happening, als privates Gruselkabinett und/oder als Bühne der Selbstdarstellung. Die ausschließlich kontrollorientierte Perspektive der Bewahrpädagogik kann hier nicht richtungsweisend sein. Vogelgesang zeigt auf, dass die damals verschärfte Gesetzeslage Nachfrage und Filmkonsum nicht verringert, sondern sich nur die Beschaffungswege ändern. Altersprivilegierte Ersatzpersonen treten an die Stelle der Selbstausleihe, die Filmbeschaffung wird als quasi sportliche Herausforderung gesehen und mittels Tausch- und Raubkopien entsteht ein markt- und erwachsenenunabhängiges Verteilersystem für Insider. Die Aneignung von indizierten und konfiszierten Videos gewinnt so selbst stilbildenden Charakter für die Horrorfilmszene. Kontrollorientierte Jugendschutzmaßnahmen wirken hier insofern kontraproduktiv, als die Fangruppe sich in ihren Außenbeziehungen bewusst von den Eltern sowie pädagogischen und rechtlichen Kontrollinstanzen absetzt und nach innen auch darüber ihre kollektive Identität stabilisiert. An die Erwachsenenautoritäten richten die jugendlichen Horrorfans den Vorwurf von Inkompetenz und Unsachlichkeit, der aus der erlebten Alltags-
Boygroups" als Projektionsflächen
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erfahrung resultiert, dass die kritisierenden Erwachsenen schlicht abblocken und keinen genreadäquaten Zugang zu den neuen Horrorfilmen haben: der moralische Zeigefinger tritt an die Stelle von Filmbetrachtung und Filmwissen. Vogelgesang spricht hier von einem tiefen Graben zwischen den Wahrnehmungskulturen der Generationen, da die Videoliteralität der Erwachsenen nur sehr rudimentär ausgebildet sei. Als Fazit dieser Studie zu einer medienbezogenen Fankultur lässt sich festhalten: Horrorvideos stellen eine fantypische Ausweichwelt dar, in der Jugendliche in einer Art „medial-expressivem Guerillakrieg" (ebd.) gegen die zivilisatorische Zurückdrängung spontaner Handlungsimpulse und die Hypertrophie des Reflexiven revoltieren. Die Faszination für mediale Gewalt und Horror kann also nicht a priori als pathologisch bezeichnet werden. Sie ist vielmehr Ausdruck einer Grundstörung des Zivilisationsprozesses. Die Vehemenz, mit der gerade Jugendliche das Horrorvideoangebot in Anspruch nehmen, ist als Indiz dafür zu werten, dass die Entemotionalisierung des Alltags und die Vorverlegung von Selbstzwängen ins Kindes- und frühe Jugendalter weitreichende Konsequenzen für das Ausleben von Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Gefühlen haben. Die auch in anderen Handlungsfeldern anzutreffende Suche nach dem besonderen Erlebnis und dem außergewöhnlichen Nervenkitzel überlagert das zivilisierte Handeln' und boykottiert in jugendkulturellen Nischen wie den beschriebenen Horrorvideogruppen die Durchschnittlichkeit und Gleichförmigkeit des alltäglichen Lebens.
4.4. „Boygroups" als Projektionsflächen Gefühle ganz anderer Art beschäftigen die überwiegend jüngeren Mädchen, die für ein Mitglied einer Boygroup schwärmen (während Jungen dieses Alters Boygroups gewöhnlich hassen). Im Hinblick auf Virtualität unterscheiden sich Boygroups nur wenig von Computerspielen. Sie sind ein Designprodukt der Musikindustrie, dessen Oberfläche entscheidend ist und nicht die Tiefe. Ihre Musik ist daher in der Regel auch weder sonderlich erwähnenswert noch für ihren Erfolg entscheidend. Mitglieder von Boygroups müssen vor allem eine Eigenschaft verkörpern sie müssen (in der Perspektive ihrer Fans) über alle Maßen süß und ,charming' sein. Sie müssen nicht unbedingt singen können, auch wenn dies von Vorteil ist. Andernfalls wird ein Stimm-Double eingesetzt; Mainstream-Musik wird heute sowieso am Computer nachbearbeitet, wenn ein Ton zu schräg, zu schrill, zu spät oder zu früh kommt. Entscheidend für den Erfolg einer Band (etwa 90 % sind kommerzielle Flops) ist dagegen, dass sie den Sprung in den Medienverbund schafft - in MTV und VIVA gezeigt wird und damit auch für Printmedien wie Bravo, Bravo Girl, Mega-Star etc. interessant wird.
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Die Marketingmaschinerie sorgt dann mit Tourneen, Interviews, Autogrammstunden, Videoclips etc. dafür, dass sich der Erfolg verstetigt. Vorher hat die Produktionsfirma jedoch viel Arbeit. Ein Musikdesign für die Band muss ebenso entwickelt werden wie das optische Design für die Bandmitglieder. Beides muss mit dem Image abgestimmt werden, das die Band bekommen soll. Ferner muss die Verteilung der Rollen in der Band erfolgen. Jedes Mitglied bedient dabei einen bestimmten Erwartungstyp: den Draufgänger, den Coolen, den Romantischen, den Verträumten, den Bösen - alle Klischees werden abgedeckt. Natürlich muss das Outfit zum jeweiligen Typus passen, ebenso der Habitus. Daher müssen Bandmitglieder auch ein Interviewtraining absolvieren, damit sie bei öffentlichen Auftritten nicht aus der Rolle fallen und beispielsweise die Simulation des Bösen (z.B. bei der Bloodhound Gang) gekonnt vorführen. Zu guter letzt müssen die Komponisten und Texter die Songs fertigstellen, wobei die Texter beachten müssen, nur englische Vokabeln zu verwenden, die zum Schulstoff der 5. oder 6. Klasse gehören. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat ein Boygroup-Mitglied große Chancen, der erste Mann zu sein, den junge Mädchen in ihr Schlafzimmer lassen wenn auch nur als Starschnitt und aus Papier, denn die Liebe ihrer weiblichen Fans ist ihrem Wesen nach rein und unschuldig. Endlose Nachmittage verbringen die Fans mit Träumereien, hören die Musik ihrer Idole, lesen Zeitschriftenartikel über sie, sammeln Informationen im Internet und statten ihre Zimmer mit Devotionalien aus. Typischerweise wird die Leidenschaft mit der besten Freundin geteilt, die ebenfalls in ein Bandmitglied verliebt ist - zur Vermeidung von Eifersuchtsproblemen in der Regel jedoch nicht in dasselbe. Partnerschaftliche Sexualität gehört noch nicht zu den Alltagserfahrungen dieser jungen Mädchen und ist womöglich auch noch angstbesetzt. Boygroups übernehmen für die Fans in dieser Situation eine wichtige sozialisatorische Funktion. Auf einer Entwicklungsstufe, auf der die Mädchen für reale Beziehungen noch nicht bereit sind, bieten Boygroups ein virtuelles Erprobungsfeld ihrer Gefühle, ohne dass reale Konsequenzen drohen. Denn bei den auf einen unerreichbaren Star projizierten Gefühlen besteht - im Unterschied zu realen Beziehungen - „nicht die Gefahr, dass diese durch eine reichlich unromantische Defloration erwidert werden" (Barkawitz 1997, 50; allgemein zu Boygroups siehe auch Weyrauch 1997 und Hauk 1999).
4.5. Parasoziale Interaktion Boygroups sind ein Beispiel für parasoziale Interaktion (siehe dazu: Fabian 1993; Gleich 1995; Vorderer 1996) wie wir sie auch bei anderen Medien finden. Jugendliche lesen nicht nur über etwas, schauen es nicht nur an als Bild oder Film, sondern suchen auch das Involvement, versuchen also die Distanz nach
Parasoziale Interaktion
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Möglichkeit zu verringern. Die Helden ihrer Lieblingsserien, deren Schicksale sie miterleben und miterleiden, sind - pointiert gesagt -manchmal schon wirklicher als die Menschen in der eigenen Nachbarschaft. Die mediale Unterhaltung ermöglicht den Konsumenten eine Selbstverortung in der dargestellten Welt (vgl. oben: Ratgeberfunktion des Fernsehens). Dabei bleiben fiktionale Realität und reale Realität offensichtlich unterschieden - auch Boygroup-Fans wissen in ihrem tiefsten Inneren, dass sie ihr Idol nicht heiraten werden, sondern eher den Jungen von nebenan. Typischerweise endet die Schwärmerei für Boygroups mit der ersten realen Freundschaft zu einem Jungen. Aber gerade weil Realität und Simulation unterschieden werden, wird das Individuum, was seine Identität betrifft, Selbstversorger - Konstrukteur und Bastler seiner eigenen Biographie: Weder muss, noch kann es seine Identität kommunizieren. Es braucht sich daher auch nicht festzulegen. Aber wenn dies in Interaktionen nicht mehr gefordert wird oder immer wieder misslingt, kann man statt dessen auf Materialien aus den Unterhaltungsangeboten der Massenmedien zurückgreifen (Luhmann 1996, 115f.).
Parasoziale Interaktion mit Medienfiguren hat daher ganz reale Folgen - und sei es nur, dass uns die Bewohner der Lindenstraße vertrauter scheinen als weit entfernt wohnende Verwandte. Parasoziale Interaktion kann auch als Effekt gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse gedeutet werden. Wenn traditionelle Milieus zerfallen, Nachbarschaften ihre frühere Bedeutung verlieren - was man nicht nostalgisch verklären sollte angesichts der rigiden sozialen Kontrolle, die diese Gemeinschaften ja auch ausüben - und öffentliche Sozialräume durch Motorisierung und Kommerzialisierung gerade auch Jugendlichen weniger zur Verfügung stehen, werden die Individuen ebenso auf sich selbst zurückgeworfen wie auf die Projektionsräume der Medien. Bei Boygroups ist die Distanz einer virtuellen Beziehung sogar eine Grundvoraussetzung ihrer sozialen Funktion, da echte Beziehungen zu gleichaltrigen Jungen den meist sehr jungen weiblichen Fans noch zu riskant scheinen. Die Gefühlsintensität dieser parasozialen Interaktionen zeigt sich vor allem dann, wenn die Erwartungen der Mädchen enttäuscht werden, etwa wenn bekannt wird, dass Boygroupmitglieder eine Freundin haben (offiziell sind alle Boygroup-Mitglieder solo, damit sie als Projektionsfiguren funktionieren). Ein anderes bekanntes Beispiel ist die Auflösung der Gruppe „Take That" im Jahr 1996, ausgelöst durch den Weggang ihres Sängers Robbie Williams. Tausende von Fans waren enttäuscht oder gar am Boden zerstört, und ihre Gefühle und Tränen waren sehr real. Boygroups sind zwar Bezugspunkte einer vorübergehenden Schwärmerei - die subjektiven Empfindungen der Fans sind jedoch durchaus ernstzunehmen. Erwachsene sollten sich daher nicht darüber lustig machen,
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sondern nie vergessen, dass Jugendliche - auch bei einem zur Schau gestellten Habitus von Coolness und Selbstsicherheit - oft sehr verletztlich und schutzlos sind.
4.6. Virtuelle Stars Wer geglaubt hat, mit den synthetischen Boygroups der Musikindustrie oder Gruppen wie „Milli Vanilli", die zu ihrer Bühnenshow nur die Lippen bewegen, sei das Ende der Fahnenstange im Hinblick auf Künstlichkeit erreicht, wurde 1996 eines Besseren belehrt. Der ,17jährige' virtuelle weibliche Star Kyoko Date - schlank, attraktiv und ganz dem Idealbild der modernen Japanerin entsprechend - moderiert nicht nur zahlreiche Musiksendungen im Radio und eine Fernsehshow, sondern ist auch der erste rein virtuelle Popstar mit einer eigenen CD („Love Communications"). In Deutschland bekannter ist die großbusige und stets bewaffnete „Tomb Raider"-Heldin Lara Croft, die ein Pendant zu Steven Spielbergs Filmfigur Indiana Jones darstellt. Das Computerspiel „Tomb Raider" ist inzwischen in der vierten Version erschienen. Im ComicVerlag „Edmont Ehapa" erlebt sie inzwischen im neuen Label „e-comix" - wie andere Computerspielhelden auch - neue Abenteuer außerhalb von PC, Playstation, Dreamcast oder Ν 64. Andere virtuelle Stars wie das ,Virtual Idol' Busena, um die sich auch noch eine virtuelle Band gruppiert, bieten auch kleine Freiräume für Interaktivität und Kreativität der Jugendlichen. Die (derzeit bei Jugendlichen beliebten) Tattoos der ,Sängerin' Busena können am PC dem individuellen Geschmack angepasst werden. Dies ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie auch die Freiräume der Phantasie in die von der Medienindustrie vorgegebenen Freizeitskripts eingeplant werden. Während im Fernsehen die noch unvollkommen wirkenden künstlichen Geschöpfe nur gelegentlich zu sehen sind - beispielsweise Aimee im Kulturkanal ARTE und Tyra im Musikkanal VIVA oder der unsägliche Robert T-Online im Werbefernsehen - , eignen sie sich besonders für Internetauftritte als Identifikationsfiguren oder zum Beispiel auch als Moderatoren wie etwa der Chat-Moderator und Cyberpop-Sänger E-Cyas (= Electronic Cybernetic Artificial Superstar; siehe: www.cycosmos.com) oder Cornelia auf der Website des ZDF. Denn „wer könnte besser für die Webpräsenz eines TV-Senders werben als eine virtuelle Moderatorin? Der Einsatz künstlicher Figuren gilt gerade bei Fernsehsendern als Investition in die Zukunft, besonders auch, um ein jugendliches Zuschauerpublikum anzusprechen" (Blittkowsky 2000, 91). Ein Nachteil ist derzeit noch darin zu sehen, dass die geringe Bandbreite des Internet noch nicht ausreicht, grafisch ausgefeilte Figuren einzusetzen. Tyra beispielsweise besteht aus 12000 Polygonen und Texturen und überfordert damit
Virtuelle Stars
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die heute üblichen Rechner (im Consumermarkt) und erst recht Websites. Dennoch dürften in absehbarer Zeit Browser-Plugins entwickelt werden, um persönliche Avatare auf Websites zu präsentieren. Während Kyoto Date und Lara Croft reine Computerschöpfungen darstellen und 80er Jahre-Vorläufer wie Max Headroom nur im Mix von Realfilm und aufwendigen Tricksequenzen realisierbar waren, haben neuere Figuren wie Cornelia reale Vorbilder. Aussehen, Gestik, Mimik, Muskelbewegungen und sogar Lippensynchronisation werden dabei von realen Vorbildern mittels Bodytracking abgenommen und digital kodiert, um einen möglichst echten Eindruck zu erzeugen. Von autonomen Wesen wie im Film Blade Runner sind diese etwa 20000 DM teuren Replikanten allerdings noch meilenweit entfernt. Ihr Bewegungsrepertoire ist durch den antrainierten Datenvorrat begrenzt und sie können wie Sprechpuppen nur Sätze reproduzieren, die zuvor digital aufgezeichnet wurden. Virtuelle Stars haben aufgrund ihrer Planbarkeit handfeste Vorteile für die Produzenten. Reale Idole können plötzlich in Alkohol-, Drogen- oder Sexskandale verwickelt sein oder müssen - wie etwa Boy Groups - in kurzen Abständen aus Altersgründen ausgetauscht werden. Geld, das in diese Gruppen und ihre Vermarktung gesteckt wurde, ist dann eine verlorene Investition. Das Schicksal virtueller Stars bleibt dagegen fest in der Hand ihrer Produzenten. Virtuelle Stars haben aus deren Sicht lediglich drei Nachteile: Sie eignen sich nicht für Live-Auftritte, können nicht in gleichem Maße zum Objekt des Begehrens werden wie ein ,Star zum Anfassen', und auch für sie gilt: der kommerzielle Erfolg lässt sich nur schwer kalkulieren. Selbst in Japan mit seinem viel stärker ausgeprägten Idol-Kult in der Musikbranche verkaufte sich die Date Kyoko-CD mit Videoclips nicht oft genug, um die Produktionskosten von einer Million Dollar wieder einzuspielen. Die Industrie verbucht dies wohl unter Zukunftsinvestion in einen neuen Vermarktungsweg.
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Die Werbung wird von Eltern und Pädagogen meist kritisch beurteilt, da der Anreiz zum Konsum jenseits des pädagogischen Wertekanons liegt. In der Tat treffen hier zwei Welten aufeinander. Die medienpädagogischen Diskussionen um Werbung stützen sich auf ein im 19. Jahrhundert entstandenes Kindheitsbild, das mit der Einbindung von Kindern und Jugendlichen in den Markt und die ,Consumer Culture' sowie der zunehmenden Orientierung an Gleichaltrigen Konkurrenz bekommen hat. Neben das pädagogische ,Kindheitsprojekt' der Erwachsenen - das sich als zukunftsorientiertes Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsprojekt beschreiben lässt - ist ein zweites Kindheitsprojekt getreten: das „gegenwartsbezogene Autonomieprojekt der Kinder" (Hengst 1996, 117). Die pädagogischen Diskussionen über Werbung und Medien im allgemeinen spiegeln die Widersprüche zwischen diesen beiden Erziehungsprojekten. Heinz Hengst hat in diesem Zusammenhang vom „Rückzug des Marktes aus dem Erziehungsprojekt der Moderne" (ebd.) gesprochen. Werbung und Märkte haben sich zusehends vom weniger profitablen pädagogischen Entwicklungsprojekt Kindheit zurückgezogen und stützen marktbezogene Kinder- und Jugendkulturen. Sie sind - im Unterschied zu Pädagogen und Eltern - nicht daran interessiert, was Kindern auf einem in Entwicklungsphasen gegliederten Weg zum Erwachsenen fehlt oder wie sie dabei zu fördern wären. Sie fragen vielmehr, welche Interessen, Phantasien und Wünsche die Kinder gegenwärtig haben, passen sich dabei an die Themen der jeweiligen Zielgruppen an und ersetzen generell die Zukunftsorientierung des pädagogischen Kindheitsprojekts durch eine Gegenwartsorientierung an einer Kinderkultur, die auch für sie selbst in der Zukunftsperspektive profitabel ist, denn einmal etablierte Markenvorlieben und Konsumgewohnheiten gelten als zeitlich sehr stabil. Die Konsumkultur ist für das Autonomieprojekt der Kinder deshalb so attraktiv, weil sie ihren - im Ärgernis der Kindheit (klein, abhängig, machtlos zu sein) begründeten - Wunsch nach Selbständigkeit aufgreift, und ihre Kontroll- und Handlungsmöglichkeiten erweitert (vgl. ebd., 128). Im Unterschied zur Schule oder anderen pädagogischen Kontexten werden Kinder und Jugendliche als Marktteilnehmer prinzipiell genauso behandelt wie Erwachsene. Der Markt verbündet sich mit den oben genannten Interessen von Kindern und Jugendlichen, aber natürlich sind diese keine gleich mächtigen Akteure gegenüber den Anbietern. Letztlich bestimmt in der ,Konsumkultur' der Markt über Angebote
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und Rhythmen des Austausche von Spiel- und Freizeitskripts, und selbst die Freiräume für Kreativität und Phantasie sind weitgehend eingeplant. Gegen die Gefahr einer Überbetonung von Werbung und Consumer Culture führt Hengst ins Feld, dass bereits Kinder nicht nur die symbolischen Bedeutungen der marktbezogenen Kinderkulturen lernen, sondern die Codes beider Kindheitsprojekte - sowohl den, der durch Medien, Werbung und Gleichaltrigengruppe repräsentiert wird, als auch den der Eltern und des Bildungssystems. In der Consumer Culture haben Kinder und Jugendliche einen Wissensvorsprung vor den Erwachsenen, kennen aber auch deren Wertesystem. Und im Changieren zwischen den Codes können sie ihre Eltern argumentativ bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs führen. Auf der anderen Seite scheitern sie immer wieder daran, ihren Eltern die soziale Symbolik bestimmter Wunschobjekte zu vermitteln, also die Bedeutungen, die sie - oft zeitlich begrenzt und kontextgebunden - transportieren, und die auch von den Kindern und Jugendlichen selbst oft nicht durchschaut, sondern eher intuitiv gewusst werden. Wir reden über Werbung, aber im Grunde geht es um Konsum und Konsumerziehung. Natürlich ist damit nicht Erziehung zum Konsum gemeint, denn diese besorgen Gleichaltrigengruppen und Werbung ohnehin, sondern Erziehung zu einer reflexiven Haltung zum eigenen Konsumverhalten und auch zur Werbung. Konsum dient jedoch nicht nur zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und zu ihrer langfristigen Sicherung, sondern hat auch Funktionen in bezug auf Selbstverwirklichung und soziale Differenzierung. Gerade diese Funktionen gewinnen bei älteren Kindern und spätestens im Jugendalter an Bedeutung. Über Mode und Konsum setzen Jugendliche (aber auch Erwachsene) Zeichen, mit denen sie sich in ihren Alltagswelten verorten. Ich-Identität wird über diese Markierungen stabilisiert und nach außen verdeutlich. Gleichzeitig werden gewünschte oder tatsächliche Zugehörigkeiten und damit soziale Differenzierung angezeigt. Im späten Kindes- oder frühen Jugendalter, wenn die Entwicklungsaufgabe der Gewinnung und Behauptung einer stabilen Identität ansteht, verstärkt sich daher die Orientierung an Markenprodukten (vgl. dazu: Vollbrecht 1997a, 375ff.), soweit diese Marken für Jugendliche Distinktionswert haben. Waschmittelmarken beispielsweise sind dazu ungeeignet, während die Wahl der richtigen Turnschuhmarke subjektiv und intersubjektiv bedeutsam sein kann. Besonders angesagte Produkte wie Handys haben dagegen einen so hohen Distinktionswert, dass nicht die Marke entscheidend ist, sondern dass man überhaupt eines besitzt. Der Zusammenhang von Werbung und Konsum ist offenbar nicht so einfach. Wir gehorchen keineswegs blindlings den Kaufappellen der Werbung, sondern entscheiden unter Einbeziehung der obengenannten Funktionen, was wir kaufen. Wir wählen also einerseits aktiv aus (und sind deshalb auch nicht bloße Opfer der Werbung) und werden doch subtil beeinflusst. Aktive Auswahl ist dabei nicht durchgängig zu verstehen als bewusste Auswahl, sondern funktionalistisch im Sinne des uses-and-gratifications approach. Wir sind uns in der Regel nicht
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klar darüber, warum wir uns ζ. B. für einen Mercedes oder BMW entscheiden, also welche Motivlagen mit dem Image dieser Produkte tatsächlich angesprochen werden. Entscheidend ist jedoch, dass die Werbung diese Motivlagen trifft. Wie groß der Werbe-Einfluss ist, hängt dabei auch ab von unserer Werbekompetenz und unserer allgemeinen Einstellung zum Konsum. Aus Sicht der Werber besteht das Problem vor allem darin, dass die Konsumenten angesichts des Überangebots an Werbebotschaften gar nicht mehr richtig hinsehen bzw. hinhören. Beispielsweise hatten laut einer Emnid-Umfrage von 1995 im Auftrag des Spiegels 991 Befragte am Vortag die Sportsendung „ran" geschaut, und die während dieser Sendung gezeigte Werbung hatten 46 % dieser Zuschauer durchgängig gesehen. Auf die Frage, an welche Spots sie sich erinnern können, antworteten 60%, sie könnten sich an keinen Spot erinnern. Insgesamt 86 Spots wurden erinnert, von denen aber nur 12 tatsächlich in der Sendung liefen. [...] Besonders enttäuscht dürfte die Firma Adidas sein: Fünf Spots der Marke (mit denen für den Kauf der Trikots von Bayern München geworben wurde) liefen in der Sendung ,ran'; null Prozent der Zuschauer erinnerten sich an Adidas, ein Prozent an Bayern München. Kosten des Werbefeuerwerks: über 4 0 0 0 0 0 Mark (Der Spiegel, H.35, 1995, 120).
Gilt nach der überholten Annahme von der Allmacht der Werbung nun die Annahme ihrer Ohnmacht? Man könnte die Ergebnisse auch anders deuten: die Aufmerksamkeit bei Werbung ist zwar gering, aber durch ständige Wiederholung sind Markennamen und Produkte dennoch präsent. Was zählt, ist dann nicht die einzelne Werbung oder Werbekampagne, die erinnert wird oder auch nicht, sondern die ständige Präsenz in den Medien, die das Gedächtnis der Zuschauer imprägniert. Ob die Werbung nicht nur im Sinn von Markenerinnerung oder Markenkenntnis wirkt, sondern auch zu einer Kaufentscheidung führt, ist eine weitere Frage. Bei den Artikeln des alltäglichen Bedarfs verwenden z.B. zwei Drittel der Konsumenten nichtbeworbene, preiswertere Produkte (vgl. Degen 1993, 25). Geworben wird im Fernsehen übrigens nur für gut 2000 Marken, also nur für einen kleinen Ausschnitt der auf dem Markt erhältlichen Produkte. Das Markenimage überhöht symbolisch den Wert einer Ware, und nicht bei jedem Produkt sind die Verbraucher bereit, für diesen symbolischen Wert zu zahlen. Abgesehen davon ist es natürlich auch sehr unwahrscheinlich, dass Produkte, die den Erwartungen und Bedürfnissen der Verbraucher nicht entsprechen, sich nur wegen eines guten Werbe-Images am Markt durchsetzen oder halten können. Nach Ansicht vieler Marktforscher sind Jugendliche heute skeptisch gegenüber Werbung und Marken (vgl. Deese et al. 1996). Jugendlichen scheint es heute wichtiger zu sein, den richtigen Stil zu haben als die richtige Marke. Marken helfen andererseits dabei, Geschmacksurteile zu fällen, gerade wenn man sich nicht sicher fühlt, wie der eigene Stil aussehen könnte. Marken dürften
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daher in dieser Hinsicht bei jugendkulturell relevanten Produkten weniger von Bedeutung für Jugendliche im Zentrum als in der Peripherie der jugendkulturellen Szenen sein - auch deshalb, weil Marken auf ein Massenpublikum ausgerichtet sind. Auf der anderen Seite beutet Werbung auch die Jugendkulturen aus. Zum einen werden neue jugendkulturelle Stilelemente übernommen und in entschärfter, also allgemein akzeptierbarer Form einem breiten Publikum angedient. Ein Beispiel dafür sind die schrägen Haarfrisuren und schrillen Moden der Post-Punk-Ära, die auch für Herrn und Frau Biedermann tragbar wurden. Die jugendlichen Szenen geraten durch diesen ,Stilraub' unter Erneuerungsdruck und müssen sich im stilistischen Feld neu positionieren. Des weiteren sind jugendliche Szenen heute selbst wichtige Zielgruppen der Werbung, die szenenah bedient werden. Hier sind vor allem die zahlreichen Fan- und Funkulturen für die Werbung von Interesse, da sie hier über größere Einflussmöglichkeiten verfügt als in originären Jugendkulturen wie z.B. der HipHopszene, die auch eigene Vermarktungswege entwickelt hat. Die nichtigen' oder die ,falschen' Marken sind gerade im Modebereich für manche Jugendliche eine Differenz ums Ganze. Denn mit Kleidung und Körperdesign setzen wir Zeichen, die nicht nur ästhetische Vorlieben anzeigen, sondern auch Aspekte der Identität und des gewünschten Lebensstils ausdrücken. Da viele Produkte sich in ihrem Gebrauchswert kaum unterscheiden, wird sekundär die Marke zum relevanten Entscheidungssignal. Das Image einer Marke muss jedoch über eine Passung für die jeweilige Zielgruppe verfügen. Jugendszenen ratifizieren gewissermaßen das Image oder weisen es als unpassend zurück. Daher dürften sowohl die pädagogischen Möglichkeiten als auch die Möglichkeiten der klassischen Werbung nur gering sein, auf die Markenpräferenzen der Jugendlichen entscheidenden Einfluss zu nehmen. Denn die Experten der Jugendkulturen sind nun einmal die Jugendlichen selbst. Im Umgang mit herkömmlicher Werbung geben sich Jugendliche - im Unterschied zu Kindern, die noch nicht durchgängig die Verkaufsabsicht durchschauen - souverän und damit wählerisch. Sie enttarnen Werbetricks als solche, kritisieren konzeptionelle Ungereimtheiten oder Plagiate und lassen sich von bemühter Jugendsprache am allerwenigsten anmachen. Gewünscht werden dagegen Amüsement und Abwechslung (Stolz 1996, 23).
Einen souveränen und spielerischen Umgang mit Werbung finden wir in vielen jugendkulturellen Szenen. Die Marken zu kennen, heißt für jugendliche ,brandbuster' (oder: adbuster) keineswegs, sie auch ernstzunehmen. Diese Szenen betreiben die Dekonstruktion von Werbung, indem sie beispielsweise die Logos, Markennamen und Werbesprüche ironisch und subversiv verballhornen und auf T-Shirts, Flyern etc. verbreiten. Dagegen können Markenartikler natürlich rechtlich vorgehen. Ein geschickteres Marketing nimmt diese ironisierende
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Haltung in die Werbung auf und lässt Werbung selbstironisch werden. So heißt es etwa am Ende eines Auto-Werbespots: „und jetzt zurück zur Werbung", in einer Parfüm-Werbung auf Zwischentiteln zu Bildern von einem Liebespaar: „Warum schauen Sie beide Werbefernsehen? Gibt es nichts Schöneres. Schalten Sie doch ab!" oder in einer Schokolade-Werbung: „Wir stecken jede Mark in die Schokolade und keine Mark in die Werbung". Hier wird in selbstironischer Form simuliert, was Fowler schon 1897 einem bestimmten Konsumententypus gegenüber als wirkungsvollste Reklame ansah, nämlich keine Reklame zu machen: „Es müßte eine Möglichkeit geben, aller Welt zu verkünden, dass man nicht die Werbetrommel rührt" (Fowler 1897, zit. n. Geiger 1987, 484). Mit einem „Re-Entry" - im Sinne des Logikers George Spencer Brown (1972) - wird diese Möglichkeit nun simuliert. Die Unterscheidung von subversiver Abweichung (als Unterhaltung) und Mainstream-Werbung wird wieder in das Unterschiedene (die Werbung) eingeführt. Anders ausgedrückt: diese Werbung weiß, dass der Kunde weiß, dass Werbung auch in ihrer selbstironischen Form noch Werbung ist - und sie zeigt, in einem augenzwinkerndes Spiel mit dem Werbekonsumenten, dass sie es weiß. Die Figur des Re-Entry, die Wiedereinführung einer Unterscheidung ins Unterschiedene ist deshalb bedeutsam, weil operativ geschlossene Systeme in einer überkomplexen, unkontrollierbaren Umwelt nur eine Möglichkeit haben, auf Umweltveränderungen flexibel reagieren zu können: indem sie nämlich die Differenz von System und Umwelt intern modellieren, also intern zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden (vgl. Luhmann 1995, 129). Mit Hilfe der Wiedereinführung der System/Umwelt-Differenz in das System kann das System dieser Differenz in sich selbst operative Bedeutung, Informationswert und Anschlußwert verleihen (vgl. Luhmann 1984, 640f.), anders gesagt: rationaler handeln. Allerdings wissen Jugendliche heute wohl mehr über die Werbung als Werbetreibende über die Jugend, diesem heterogenen Gemisch aus unzähligen Szenen mit unterschiedlichen Vorlieben und Lebensstilen, die sich zudem schnell verändern. Werbung für Jugendliche ist daher angewiesen auf Insiderwissen. Was interessiert welche Gruppen von Jugendlichen, welche Stars oder Musikgruppen und welche Modestile sind angesagt oder schon wieder out - und vor allem: woher soll ein Markenartikler dies alles wissen? Der eigenen Erfahrung kann man nicht trauen, denn „wer kann schon etwas über seine Märkte wissen, wenn er sich nur vom Eigenheim zum Büro und zurück bewegt?" (Deininger 1996, 343) Da auch der Marktforschung in Jugendmärkten nicht mehr recht geglaubt wird, delegiert die Industrie ihre Wirklichkeitserfahrung an andere Dienstleister: Trendforscher, Trendberater oder Trendscouts, die in den Jugendszenen nach neuen Entwicklungen Ausschau halten. Trendforschung ist der Versuch einer Risikominimierung und somit sowohl Anzeichen für als auch Mittel zur Überwindung einer Steuerungskrise.
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Um Trends zu erkennen, werden im einfachsten Fall Gruppendiskussionen mit Jugendlichen geführt - z.B. bei der Jugendzeitschrift „Bravo" über den aktuellen Musikgeschmack. Diese Diskussionen und die Auswertung von Leserpost beeinflussen die Auswahl der Musikgruppen und anderer Themen, die „Bravo" präsentiert. Trendscouts kommen dagegen selbst aus den Jugendszenen. Jugendliche Szenemitglieder werden angeworben, um regelmäßig über neue Moden und Vorlieben in der Szene zu berichten. Trendscouting basiert auf der Annahme, dass Trends nicht gemacht, sondern erkannt und dann gepusht werden. Das Insiderwissen gibt es jedoch nur in den Szenen selbst - und schon Endzwanziger haben heute Schwierigkeiten, die Trends bei 15jährigen zu erkennen. Wichtig für Trendscouts sind daher nicht nur eine gute Beobachtungsgabe, sondern auch Kontakte zu weiteren Jugendlichen aus der Szene. Etwas spezieller ist der Inner Circle Research, die Beobachtung einer Szene durch Zusammenarbeit mit trendsetzenden Insidern. „Diese stehen im allgemeinen dem relevanten Produkt noch näher als der Trendscout, sie verkörpern praktisch vorwegnehmend die künftigen Bedürfnisse der Zielgruppe" (Fichtel 1996, 184). Ein weiteres Marketinginstrument ist das Trendmonitoring. Dabei handelt es sich um ein „partnerschaftliches Kommunikationsnetz von Handelsund Vertriebspartnern, Herstellern und Multiplikatoren, Insidern und Kreativen, die ein Ziel gemeinsam haben: im Wechsel der Trendentwicklungen den informativen und kommunikativen Vorsprung zu behalten" (ebd., 180). Ausgewählte Teilnehmer, die sich in trendintensiven Märkten bewegen und zu denen auch Designer, Journalisten, DJs und Konsumenten gehören, werden monatlich zu bestimmten Themen und Marken befragt und bekommen auch eine schnelle Rückmeldung der Ergebnisse. Mit diesem Verfahren lässt sich z.B. auch erfassen, wenn Trends im Handel, bei den Kreativen oder den Konsumenten unterschiedlich bewertet werden, und wie sich diese Bewertungen im Zeitablauf verändern. Werbung spekuliert mit ihren Marken-Images auf unbewusste Sehnsüchte, die sie produktspezifisch vereinnahmen kann. Es geht der Werbung darum, den Verbraucher an einer virtuellen Welt teilhaben zu lassen, deren Codes durch das Image des Produkts bestimmt werden. Für die oben angesprochene Passung soll dabei die Trendforschung sorgen. Sie liefert die notwendigen Informationen, um Produkt-Image und jugendkulturelle Zeichensysteme zu synchronisieren. Allerdings hinkt die Werbung den Jugendkulturen auch bei noch so schneller Adaptation von Trends hinterher. Besser als sich an bestehende Trends anzuhängen, ist es daher, Trends selbst mitzugestalten, d.h.: „die Marktsegmente vom Konsumenten selber aus zu bestimmen" (Richard 1995, 322f.) und z.B. über Eventmarketing oder Szenen-Sponsoring der Industrie nutzbar zu machen. Dies geht über herkömmliches Sponsoring hinaus, bei dem bekanntlich Firmen als Sponsoren Sportereignisse - sowie in weit geringerem Umfang auch Kunst und Kultur, Ökoprojekte und soziale Organisationen unterstützen - und
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dafür mit ihrem Namen öffentlich in Erscheinung treten. Wie bedeutsam Sponsoring ist, zeigt schon das finanzielle Volumen von rund 2,6 Milliarden DM allein in Deutschland (1994). Beim Eventmarketing werden im Unterschied zum Sponsoring nicht bloß Ereignisse finanziell unterstützt, sondern auf die Marke abgestimmte Ereignisse inszeniert. Ein Beispiel dafür aus dem Sportbereich war die aufwendige Streetballkampagne von Adidas (siehe dazu: Schömbs 1995). Beim Szenen-Sponsoring (etwa auch bei der jährlichen „Love Parade") werden nach Gerken Szenen aufgebaut im Sinne von aktiven Gruppen: Bei diesem sozialen Formungsprozess werden die Beziehungen zum Hersteller und zum Produkt sorgfältig gepflegt. Die Szene wird unterstützt, die Produkte im Sinne der Szenen-Aktualität selbst zu interpretieren. Motto: Wir helfen dir, zum Kommunikator für unser Produkt zu werden. [...] Das ist der eigentliche Trick beim Szenen-Sponsoring: Man unterstützt die Szene dabei, sich diejenige Werbung selbst herzustellen, an die sie dann besonders intensiv glauben kann. Eine Art Do-it-yourself-Manipulation also (Gerken 1990, 152f.).
Boltz kritisiert an dieser Vorstellung vor allem, dass es schwer fallen dürfte, „in der Wirklichkeit jene autonomen Rezipienten zu finden, die ihre Werbung selbst herstellen" (Boltz 1994, 131). In der Tat dürfte es wohl eher darum gehen, Szenen zu aktivieren und in die Werbekommunikation einzubinden, sowie „Adressaten zu handelnden Subjekten innerhalb der Kommunikations- und Lernprozesse zu machen: von der durch Adressaten produzierten Werbung im Sinne Gerkens kann überhaupt keine Rede sein" (ebd.). Auch wenn Produkt, Marke und Botschaft stimmig sind, ist der Erfolg freilich nicht garantiert, denn Jugendliche bilden eigene Gesetze, nach denen ,in' und ,out' bestimmt werden. In diesem Sinn bleiben sie unverfügbar. Die größten Gefahren für eine Marke liegen dann darin, von der Zielgruppe nicht ernst genommen zu werden oder dem Trend hinterherzuhinken. Wenn man die Veränderungen der Werbekommunikation in den letzten Jahrzehnten betrachtet, so könnte man ihren Wandel wie folgt beschreiben: Ausgehend von der Produktinformation führt der Weg über die virtuelle Teilhabe an Lifestyle-Szenarien hin zu einer immer stärkeren Einbeziehung des Verbrauchers - kulminierend in mehr oder weniger produktspezifisch konstruierten Erlebniswelten. Kennzeichen für Erlebnisweltkonstruktionen sind nach Boltz zwei Strategien: 1. Die Diffusion der symbolischen Markenwelt in die Alltagswelten der Adressaten durch Objekt- und Ereignisangebote. 2. Die Intensivierung der Beziehungen zwischen Kommunikator und Publikum durch Beteiligungsangebote (Boltz 1994, 80).
Neben Objektangeboten gewinnen also Ereignis- und Beteiligungsangebote an Bedeutung. Werbung übernimmt damit auch weitere Funktionen (z.B. Unter-
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Stützung von Jugendszenen), wird dadurch jedoch auch weniger sichtbar als werbende Kommunikation. Event-Sponsoring und andere Strategien der Erlebnisweltkonstruktion setzen in unterschiedlich starker Ausprägung auf die aktive Mitarbeit der Beworbenen. Boltz sieht gerade im Umgang mit Erlebniswelten eine bisher kaum gekannte Freiheit des Subjekts. Schließlich sind wir als Publikum diejenigen, welche das Erlebnis in Eigenregie reproduzieren oder gar produzieren. Ein Erlebnisangebot läßt sich zwar kaufen; für das Erlebnis selbst sind wir aber immer noch selbst zuständig und verantwortlich (Boltz 1994, 137).
Z w a r sieht Boltz in „Verdummung, Manipulation, Passivität und Vereinsamung reale Gefährdungen in einer medial geprägten Erlebnisgesellschaft", aber „in der Freiheit, sein Medium - egal welches - selbst zu wählen und in der Unbestimmtheit des eigenen Erlebens liegen mächtige Möglichkeiten, sich gegen solche Programmierungen zu w e h r e n " (ebd.). Richtig ist, dass alle Medien- und eben auch Werbewirkungen nicht nur vom Medium, sondern immer auch vom Rezipienten her zu bestimmen sind, und Menschen grundsätzlich die Fähigkeit zum Neinsagen besitzen. Und davon machen sie z . B . dann Gebrauch, wenn die Erlebniswelten keine geeignete Passung für die jeweilige Zielgruppe haben, um an bestehende Bedürfnisse anknüpfen zu können. Neben Sponsoring und der Erlebnisweltkonstruktion ist Merchandising die dritte wichtige Marketingstrategie in den Jugendmärkten. Merchandising und Licensing bezeichnen die Rechteverwertung von Urheber-Nebenrechten aus dem Entertainmentbereich und beinhalten den Imagetransfer von Symbolen, Figuren etc. (vor allem) aus Fernseh- und Kinofilmen auf Konsumgüter. Die Lizenzierung der Images von Fernsehfiguren, Lieblingshelden, Logos und Markennamen in den Konsumartikelbereich ermöglicht die Nutzung der mit ihnen verbundenen Emotionen als potentielle Auslöser für Kaufentscheidungen f ü r die lizenzierten Produkte. Im Unterschied zur klassischen Spot-Werbung, die mit ständiger Wiederholung und hohem Werbedruck versucht, Marken im Bewusstsein der Konsumenten zu verankern, stellt Merchandising eine subtilere Form der Beeinflussung dar. Während klassische Werbung von den Konsumenten (Ausnahme: jüngere Kinder) eher negativ bewertet wird, ist Merchandising in ein üblicherweise positiv bewertetes (Programm-) Umfeld eingebunden. Angezielt wird eine möglichst weitgehende Identifikation der Zielgruppe mit dem jeweiligen Lizenzprodukt. Der heute wichtigste Anwendungsbereich für Merchandising ist das Verlagswesen, wobei das Lizenzthema zumeist der Produktidee entspricht (z.B. das Buch zum Film bzw. umgekehrt oder die Zeitschrift zum Medienspektakel „Big Brother"). Vor allem im Markt f ü r Comics, Magazine und Kalender finden wir
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Lizenzierungen. Ein zweiter wichtiger Bereich ist der Spielwarenmarkt. Medienhelden als Spielfiguren und ihre Ausstattungen (z.B. Waffen oder Fahrzeuge) eignen sich besonders gut zum Imagetransfer. Im Nahrungsmittelbereich finden wir Lizenzierungen insbesondere für Süßigkeiten, Fastfood und Cerealien. Zu nennen sind weiter die Modebranche mit den Produktgruppen Schuhe (Sportschuhe!), Outdoor-Mode sowie Kinder-, Jugend- und Sportswear-Kollektionen, aber auch Baseball-Kappen, Sonnenbrillen und Bademode - hinzu kommen die Trend- und Szene-Outfits (z.B. die „Michael Schuhmacher Collection") in den Musik- und Fansportecken. Problematisch ist, dass solche Lizenzprodukte nicht einfach zu einer Kulturware wie beispielsweise einem Film hinzukommen, sondern deren Produktion und Distribution bereits mitbestimmen. Spielzeug- und Filmindustrie arbeiten heute eng zusammen. Bei teuren Filmproduktionen werden die Nebenrechte bereits vorab verkauft, so dass Lizenznehmer hier größere Einflussmöglichkeiten haben, da die Vermarktbarkeit von Lizenzprodukten eine bedeutende Einnahmequelle ist. Deutlich wird dies beispielsweise bei Animes (japanischen Zeichentrickfilmen), die einen leichteren Marktzugang finden, wenn geeignete Lizenzprodukte wie z.B. Roboter und Mechas thematisert werden. Psychologischer Tiefgang wird dagegen vom Markt nicht belohnt. Auch in der Werbung selbst werden Lizenzthemen genutzt. Häufig finden wir beispielsweise Zeichentrickfiguren, die bestimmte Produkte attraktiver erscheinen lassen sollen. Auch bei Schul- und Haushaltswaren wird Merchandising groß geschrieben. Auf ungezählten Artikeln von der Zahnbürste bis zur Bettwäsche, vom Radiergummi bis zur Milchpackung mit Logo und Farben von Borussia Dortmund findet man die unterschiedlichsten Themen. Als letzter wichtiger Bereich ist die Musikbranche zu nennen - vor allem mit Hörspielkassetten, aber auch eigenen Songs von Comic-Helden wie z.B. „Garfield", dessen „Cool Cat" immerhin einen Top 30-Erfolg verbuchen konnte. Die beim Merchandising verwerteten Urheberrechte stammen meist aus dem Unterhaltungsbereich, insbesondere aus Kino und Fernsehen. Besonders lizenztaugliche Genres sind Abenteuer, Science Fiction, Tiere sowie generell Zeichentrickfilme, denn gerade der animierte Film bietet optimale Umsetzungsmöglichkeiten. Auch beim Fernsehen, das speziell für den Kinder- und Jugendmarkt eine fast unerschöpfliche Lizenzquelle darstellt, sind die Comic-Serien beim Merchandising führend. Grundsätzlich lassen sich beim Merchandising zwei verschiedene Marketingstrategien unterscheiden. Zum einen gibt es den Lizenztyp der klassischen Themen, die sich über Jahre hinweg großer Beliebtheit erfreuen (Donald Duck & Co.), andererseits aktuelle Themen mit beschränkter Lebensdauer (Jurassic Pare, Pokemon etc.). Prototypisch lassen sich diese Strategien den Medien Fernsehen (TV-Serien) und Kino zuordnen. Kinofilme sind meist von hoher Aktualität für einen kurzen Zeitraum. Ihre Laufzeit beträgt im Schnitt nur etwa sechs bis acht Wochen, danach geht das Interesse stark zurück, und nach neun Monaten läutet der Video-Release bereits
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den Ausverkauf ein. Die Lizenzierung muss daher sehr früh beginnen - manchmal noch vor den Dreharbeiten - und lange (ca. 12 Monate) vor dem Kinostart abgeschlossen sein: Noch während der Produkt-Produktion sollte der Handel informiert werden und die begleitende Werbung anlaufen. Bereits 1-2 Wochen vor Kinostart müssen die Produkte an den Handel geliefert werden. Beim Arbeiten mit aktuellen Themen ist das Timing der zentrale Erfolgsfaktor; ein noch so gutes Produkt wird keinen Erfolg haben, wenn es den Boom des Films verpaßt hat (Niemann 1997, 90).
Im Gegensatz zu Kinofilmen sind Fernsehserien besonders geeignet für klassische Themen, da die Medienpräsenz des Programms bei den meist 26 Folgen pro Staffel langfristig angelegt ist. Die enge Zuschauerbindung, die erfolgreiche Serien erzielen, lässt sich durch diese Langzeitpenetration im Fernsehen - bei richtiger Umsetzung eines Themas - für eine zielgruppenkonforme Vermarktung ausnutzen. Die große Vielfalt an Fernsehserien bringt jedoch auch eine starke Konkurrenz unter den Lizenzprodukten hervor. Dem Merchandising in Fernsehserien werden größere Erfolgschancen unterstellt, dagegen ist für Lizenznehmer von Kinofilmen das Gewinnpotential ebenso wie das Flop-Risiko größer. Die Abschätzung der Erfolgsaussichten eines Films oder einer Serie bleibt daher auch für die Lizenznehmer ein großes Problem. So überraschte der überragende Erfolg von Pokemon auch den Handel, der wochenlang die Nachfrage nicht befriedigen konnte. Anders ist es bei ,Blockbustern' wie dem Star Wars-Film „The Phantom Menace" (deutsch: Dunkle Bedrohung), bei denen der Erfolg quasi garantiert ist. In den USA spielte der Film, der die Vorgeschichte zur Star Wars-Trilogie erzählt, als der spätere Schurke Anakin Skywalker noch ein Junge war, der sich später vom tapferen Jedi-Ritter zum bösen Darth Vader wandelt, bereits in den ersten fünf Tagen 105 Mio Dollar ein - allein 28,5 Mio am Tag der Premiere (19.5.99). Die Produktionskosten beliefen sich auf 115 Mio Dollar. Die bereits verfilmten Teile vier bis sechs der von George Lucas erfundenen (auf neun Teile angelegten) Science-Fiction-Saga spielten allein an den Kinokassen gut 1,2 Mrd. Dollar ein. Die Merchandisingrechte hat sich Lucas bereits 1977 für ein geringeres Regiehonorar gesichert. Sie machten ihn bislang um 4,5 Mrd. Dollar reicher und unabhängig von den Bossen der Hollywood-Filmindustrie. Zu den größeren Lizenznehmern zählen der Softdrinkhersteller Pepsi, der Spielzeughersteller Hasbro, Nintendo und Sony (Computerspiele) sowie - erstmalig im Lizenzgeschäft - die Firma Lego (Star Wars-Bausätze). Daneben gibt es zahllose kleinere Lizenznehmer, die Bettwäsche oder Badeschaum, Kugelschreiber, Kaffeebecher, Socken, Windjacken, Regenschirme, Kappen, Ohrclips, Puzzles, Brettspiele, R2-D2-Cassettenrecorder (benannt nach dem Droiden R2-D2 und inklusive vier Droiden-Soundeffekten für 87,95 DM angeboten) oder Uhren mit Star Wars-Figuren vertreiben, beispielsweise die „Musical Watch Darth
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Vader Helm" für 31,95 DM, die auf Knopfdruck den „imperialen Marsch" spielt oder auch den „Luke Skywalker Utility-Belt" mit Blaster, Fernglas und Reservepatronen für nur 59,95 DM. Die US-Spielzeugkette „TOYS ,R' US" verkaufte an nur einem Tag 1,25 Millionen Einheiten Star Wars-Spielzeuge. Actionpuppen kosten unter Fans bis zu 7000 Dollar und bleiben in dieser Preisklasse wohl den erwachsenen Fans vorbehalten. Die Frisur von Königin Amidala konnte man sich bei Friseuren in New York dagegen schon für 80 Dollar zulegen. Der Verlag „Random House" veröffentlichte fünf Bücher zum Film mit erwarteten Umsätzen von knapp 300 Mio Dollar. Der US-Comic-Verlag „Dark Horse" erhoffte sich mit Star Wars-Geschichten einen Umsatz von 100 Mio Dollar. Solche Umsätze sind natürlich nicht die Regel, zeigen jedoch an, welche wirtschaftliche Bedeutung der Verwertung von Nebenrechten heute zukommt. Ein Film wie „The Phantom Menace" kann sich durch die sehr erfolgreichen Vorläuferfilme der Star Wars-Trilogie schon vorab eines großen jugendlichen Fanpublikums sicher sein, das auch institutionell organisert ist. Der offizielle' Star Wars-Fanclub Deutschland (OSWFC), der 1981 gegründet wurde, zählt angeblich 5500 Sternenkrieger als Mitglieder. Klar, dass die Fans den WED 15-77 mühelos vom LIN-V8K-Droiden unterscheiden können. Die Geschichte um die toughe Prinzessin Leia Organa, den der bösen Macht verfallenen Darth Vader, seinen für die Rebellen kämpfenden Sohn Luke Skywalker, imperiale Sturmtruppen und Rebellenarmee spaltet sogar die Fangemeinde in bekennende Imperiale und Rebellenkrieger. Ein ganzes Jahr lang wurde auf der Leserbriefseite des Fanzines „Journal Of The Whills" diskutiert, ob im Imperium wirklich alles so schlecht war. Und im Kleinanzeigenteil des Fanzines liest man unter Kontaktanzeigen schon einmal Selbstdarstellungen wie: „Ich heiße Airen Chryselli, Nachschuboffizier der Rebellen." 2005 soll die dritte Episode der Saga in die Kinos kommen - da kann man wohl nur noch mit den Jedi-Rittern sagen: „Möge die Macht mit uns sein!" Es ist eine unzulässige Vereinfachung, eine ökonomistische Reduktion, die Wirkung von Werbung nur im Verkaufserfolg zu sehen. Im wesentlichen liegt die Wirkung von Werbung in der Unterstützung von Motiven der Umworbenen. Für die jugendlichen Fans geht es nicht um den Konsum selbst, der ein bloßes Mittel zur Teilhabe an einer virtuellen Gemeinschaft - einer Welt - ist, sondern um Identität, um Lebensstil und Lebenssinn, die auch aus den Alltagsmythen der Consumer Culture gesaugt werden. Letztlich ist dies ein Glücksversprechen. Werbung kommuniziert - und sie kommuniziert gut, weil ihre Botschaft so einfach ist: Konsum macht glücklich. Aus pädagogischer Sicht ist genau hier anzusetzen. Natürlich gilt es auch über Werbung und Werbewirkungen aufzuklären und die Werbekompetenz von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Dies allein greift jedoch - zumal bei werbeerfahrenen Jugendlichen - zu kurz. Meines Erachten ist daher am Glücksversprechen unserer Konsumgesellschaft anzusetzen. Das führt zu Fragen wie:
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Was bedeutet eigentlich für mich Glück? Wie will ich leben? Was kann ich tun, um glücklich zu werden? Macht mich der Kauf dieses Produktes wirklich glücklicher? Will ich es nur besitzen, weil andere es attraktiv finden? Bin ich bereit, den Preis dafür zu bezahlen, also auch etliche Stunden (meist entfremdeter Arbeit) dafür zu leisten und letzten Endes auch die Umwelt zu belasten? Konsum ist nicht per se das Problem. In fortgeschrittenen Gesellschaften könnten wir ja nicht einmal die Artikel des täglichen Bedarfs autark produzieren; anders gesagt: Wir sind zum Konsum verdammt - ob uns dies nun gefällt oder nicht. Das Problem ist auch nicht, dass Kinder und Jugendliche oft Produkte begehren, die aus erwachsenenzentrierter Sicht völlig überflüssig sind. Für Erwachsene sind andere Produkte identitätsstützend und sinnstiftend als für Jugendliche oder Kinder. Problematisch wird es vielmehr dort, wo Konsum überhand nimmt und umschlägt in kompensatorisches Kaufverhalten und Kaufsucht. Welche Rolle die Werbung dabei spielt, ist noch kaum untersucht. Eine Ausnahme bildet eine Studie von Lange über „Jugendkonsum im Wandel", in der festgestellt wurde: Was zunächst die Häufigkeit des Konsums von Werbesendungen, ob im Fernsehen, Rundfunk oder in den Printmedien angeht, finden wir bei den Kaufsüchtigen und den Kompensationskäufern im Westen wie im Osten keine Unterschiede zu den Normalkonsumenten (Lange 1997, 152).
Allerdings wird Werbung „von den kaufsüchtigen Jugendlichen stärker als von den Normalkonsumenten als Bereicherung sowohl in affektiver („Abwechslung, Spass") als auch in kognitiver Hinsicht („Informationen") betrachtet und unkritischer wahrgenommen" (ebd., 153). Ursachen für Kaufsucht und kompensatorisches Kaufverhalten sind „zunächst im psychischen Bereich, dann im sozialen Bereich zu finden, dessen Strukturen und Prozesse ihrerseits die psychischen Erscheinungen hervorrufen" (Lange 1997, 142). Von zentraler Bedeutung ist eine ausgeprägte Selbstwertschwäche, die aus einer Störung der Entwicklung persönlicher Autonomie resultiert. Diese zeigt sich bei den betroffenen Jugendlichen als Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und auszuleben, also in einem gestörten Verhältnis zu den eigenen Gefühlen, die nicht als etwas Wertvolles erlebt werden, das auch Quelle eines gesunden Selbstwertgefühls sein kann. Ihre Ursache sieht Lange vor allem im Bereich der primären familiären Sozialisation, in der Kindern und Jugendlichen häufig auch die Erfahrung vermittelt wird, „als Mensch unwichtiger zu sein als die Sachen in ihrer Umgebung, wenn sie z.B. ständig Rücksicht darauf nehmen müssen, dass die Möbel und Kleider sauber sind, dass das Fernsehen, der Urlaub oder das Auto wichtiger sind als sie selbst" (ebd.). Im Bereich der Fähigkeiten sind als weitere Ursachen für Kaufsucht und kompensatorisches Kaufverhalten Inkompetenzerlebnisse und Minderwertig-
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keitsgefühle zu nennen, die sowohl Resultat autoritärer und restriktiver, aber insbesondere überbehütender Erziehung sind. Dies kann Ängste verursachen, Aufgaben zu übernehmen, weil man bei der Bewältigung dieser Aufgaben scheitern kann oder auch Ängste, „engere Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen, man könnte ja enttäuscht werden" (ebd.). Im Bereich der Entscheidungen zeigt sich eine Unfähigkeit zu selbständigen Entscheidungen, die Lange ebenfalls vorwiegend auf familiäre Erziehungsmuster zurückführt, die den Kindern individuelle Autonomie und Selbständigkeit verweigern, etwa durch „die Abnahme von Entscheidungen durch Dritte, besonders in Form einer Bevormundung durch die Eltern, sei es in autoritärer, sei es in überbehütender Form" (ebd., 142f.). Die Bedeutung der Gleichaltrigengruppen im Hinblick auf kompensatorischen Konsum und Kaufsucht bei Jugendlichen zeigt sich darin, dass diese „um so stärker ausgeprägt sind, je intensiver in der Gruppe darüber gesprochen wird, was man kaufen soll, was gerade ,in' ist, und je bedeutsamer die Meinung der Freunde über den Konsum erscheint" (Lange 1997, 149). Ein vermuteter Zusammenhang mit dem sozialen Status der betroffenen Jugendlichen in der Gruppe ließ sich dagegen nicht bestätigen - vielleicht auch deshalb, weil die spezifischen Orientierungen dieser Gruppen nicht miterhoben wurden. Wir wissen noch immer zu wenig über den Zusammenhang von Werbung und Konsum, sodass hier weitere Forschungsanstrengungen notwendig sind. Die bisherigen Ergebnisse lassen freilich schon jetzt den Schluss zu, dass pädagogische Bemühungen vor allem auf eine Steigerung des Selbstwertgefühls der Kinder und Jugendlichen zielen müssen und eine umfassende Werbekompetenz zu fördern ist. Deutlich wird auch, dass die Widersprüche zwischen den beiden oben genannten „Kindheitsprojekten" nicht aufzulösen sind, sondern heute zum gelebten Alltag in den Familien gehören. Grundsätzlich stellt sich darüber hinaus die auch von Hengst (1996) aufgeworfene Frage, wie das soziokulturelle Umfeld der Kinder zu stärken ist gegenüber der Attraktivität einer vom Markt gepushten Kinder- und Jugendkultur - und zwar ohne bloße Faksimiles und schlechte, aber pädagogisch aufgeladene Kopien und Anbiederungen anzubieten oder in eine kontraproduktive, Verweigerung hervorrufende Gegnerschaft zu verfallen. Werbe- und Konsumerziehung muss neben der Vermittlung von Werbewissen vor allem auch darauf abstellen, das Selbstwertgefühl und (angesichts von Gruppendruck) die Ich-Stärke von Kindern und Jugendlichen zu festigen. Notwendiger als neue Werberegulierungen ist in Deutschland eine Kultur der Anerkennung und des gegenseitigen Respekts. Im Vergleich mit anderen EU-Staaten ist die Werbung in Deutschland stärker reglementiert als in den meisten anderen Ländern. Bei einer Angleichung der gesetzlichen Bestimmungen ist daher in Deutschland eher von einer rechtlichen Deregulierung auszugehen, deren mögliche Folgen nur pädagogisch aufzufangen
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sind. Eine Ausnahme ist das vom Europäischen Parlament beschlossene Werbeverbot für Tabakwerbung (ab 2006), das allerdings nur vordergründig auf den Gesundheits- und Jugendschutz zielt. Zum einen ist seit Jahren bekannt, dass die gewaltigen Werbeanstrengungen der Tabakindustrie nicht dazu geführt haben, dass der Tabakkonsum zunimmt, sondern sich lediglich die Marktanteile der einzelnen Konzerne verschieben. Interessanterweise nimmt der Tabakkonsum sogar weltweit fast überall ab, sinkt aber ausgerechnet am stärksten in den Ländern ohne Werbeeinschränkungen. In Norwegen und Finnland ist dagegen nach Einführung eines Werbeverbots die Zahl jugendlicher Raucher - gegen den internationalen Trend - sogar gestiegen. Zum anderen lässt sich bezweifeln, dass ein Werbeverbot ein geeignetes Mittel ist, Kinder und Jugendliche vom Rauchen abzuhalten. Verbote können bekanntlich die Attraktivität sogar erhöhen. Die Politik handelt nach anderen Erwägungen. Hinter diesen Verbots-Bestrebungen stehen handfeste wirtschaftliche Interessen - wie schon die Widersprüchlichkeit von Tabakwerbeverbot bei gleichzeitiger EU-Förderung des Tabakanbaus vermuten lässt. Worum es geht, ist nicht der Schutz des Verbrauchers, sondern der wirtschaftliche Schutz von Märkten und Produzenten vor internationaler Konkurrenz. Die künftig EU-weiten Tabak-Werbeverbote helfen vor allem den heimischen Produzenten in Italien und Frankreich, wo bislang schon ein Verbot der Werbung für Zigaretten (Italien) bzw. für Tabak und Wein (Frankreich) gilt. Auf diesen Märkten haben ausländische Hersteller heute allenfalls mit international bekannten Marken eine Chance. Im übrigen findet dieser politische Schutzmechanismus auch bei weniger problematischen Produkten Anwendung. So ist beispielsweise die international nicht wettbewerbsfähige Spielwarenindustrie Griechenlands durch ein Werbeverbot für Spielwaren geschützt.
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Medien verstärken die durchaus auch medienpädagogisch nutzbaren Möglichkeiten und Spielräume intersubjektiven Handelns. Vor allem können Medien jedoch die von Jugendlichen an ihre Freizeit gestellten Erwartungen in besonders intensiver Weise erfüllen. Diese Erwartungen zielen vor allem auf die Verstärkung von emotionalen Erfahrungen und Bindungen, Erfahrungen von Zugehörigkeit zu bestimmten medial verbreiteten Stilen sowie auf Intensitätserfahrungen in Situationen, die durch Action und hohe Ereignisdichte bestimmt sind. Insbesondere dienen Medien im Jugendalter auch der subjektiven Expression, da sie Originalitätsoptionen besonders deutlich zum Ausdruck bringen können. Medien können darüber hinaus auch die Selbstreflexivität von Jugendlichen verstärken, da sie eine Fülle von „Material zur Deutung sozialen Lebens und zur Gestaltung von Beziehungen einschließlich einer Verstrickung in Probleme oder auch deren Lösungen anbieten" (Baacke 1993). Sie bieten Skripts für beinahe jede Lebenslage, was allerdings dann nicht unproblematisch ist, wenn - wie in vielen Soaps - vorwiegend klischeehafte Muster der Lebensführung oder der Lösung von Konflikten angeboten werden. Die Medien befördern andererseits auch den Eindruck der Jugendlichen, dass das Leben eigentlich keine Überraschungen bietet, und der eigene Alltag eher langweilig ist. Daher empfinden viele Jugendliche das Fernsehen auch als bloßen Lückenfüller. Die ,wahre' Suche nach Erlebnissen findet jenseits der häuslichen Medienwelten statt: in den vermeintlich ereignisdichteren, jugendkulturellen Parallelwelten, und zu nachtschlafender Zeit, wenn Erwachsene nicht stören. Denn in den Szenen heißt das Motto: „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin!" - wie etwa in dem Lied „Leben in der Bar" der ,Lassie-Singers' (CD: SEI Ä GOGO, 1992). Jugendliche nutzen unterschiedliche Medien in zugleich unterschiedlicher Weise, und sie zeigen dabei eine größere Varianz des Medienverhaltens als die Erwachsenen. Zugleich befriedigen Medien spezifische Erwartungen und Bedürfnisse unterschiedlichster Art. Diese inhaltlichen Bedürfnistypen lassen sich nicht funktional bestimmten Medien zuordnen. Vielmehr werden dieselben Medien zu unterschiedlichen Zwecken genutzt - auch damit zeigen Jugendliche eine große Nutzungsflexibilität, die immer wieder erstaunlich ist. Jugendliche bewerten Medienangebote in der Regel nicht nach pädagogischen Kriterien der Nützlichkeit oder ethisch-moralischen Korrektheit; sie bewerten sie auch nicht
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nach den quasi-objektiven Kriterien einer kritischen Medienanalyse. Sie nutzen und bewerten Medien in allererster Linie ichbezogen und zwar auf ihre gegenwärtige Situation. Das schließt keineswegs aus, dass sie im Umgang mit Medien Kompetenzen erwerben - auch durch medienpädagogisches Einwirken von Eltern und Medienpädagogen - und mit zunehmendem Alter auch reifere Urteile fällen (vgl. Baacke/Vollbrecht 1996, 61 f.). Gemeint ist vielmehr, dass die Hinwendung zu Medienangeboten auch stark abhängig ist von den subjektiven Deutungsmustern der Jugendlichen, ihren Denk- und Urteilsstrukturen sowie ihren Wünschen, Erwartungen und Ängsten. Jugendliche bedürfen jedoch auch medienpädagogischer Unterstützung. Die vorgestellten Formen und Varianten des Medienumgangs im Jugendalter zeigen, dass es durchaus Problemfälle gibt. Vor allem in den unteren Sozialschichten finden wir bei Jugendlichen einen stärker unterhaltungsorientierten Medienkonsum. Medienpädagogik hat hier beispielsweise den Auftrag, diesen Jugendlichen auch solche Medienangebote näherzubringen, die (auch) bildungs- und informationsorientiert sind, um ihre Bildungs- und Berufschancen zu erhöhen. Hingewiesen wurde auch auf die wichtige Vorbildfunktion der Eltern, die nicht immer so positiv ausfällt, wie es aus medienpädagogischer Sicht wünschenswert wäre. Generelles Ziel bleibt, die Medienkompetenz der Jugendlichen zu fördern. Auch der Jugendmedienschutz sieht dieses Ziel heute als vorrangig an. Die bloße Kontrollorientierung bewahrpädgogischer Ansätze muss heute als gescheitert gelten. Zum einen haben Jugendliche immer Wege gefunden, Kontrollen zu umgehen. So hat beispielsweise bei Videotheken die Einführung abgetrennter Erwachsenenbereiche zwar die direkte Ausleihe durch Jugendliche unterbunden, konnte jedoch nicht verhindern, dass Jugendliche über ältere Freunde oder auch Eltern an entsprechende Videos kommen. Zum anderen lässt die Entwicklung der Medien - vor allem durch globale Angebote über das Internet, die in verschiedenen Ländern und Kulturen als unterschiedlich jugendgefährdend angesehen werden - durchgängige Kontrollen kaum noch zu. Aus pädagogischer Sicht ist im übrigen die Vorstellung etwas naiv, dass Jugendliche, die bis zum 18. Lebensjahr vor allen bedenklichen Inhalten geschützt wurden, nun von einem Tag auf den anderen problemlos damit umgehen könnten. Sinnvoller ist es daher, durch medienpädagogische Unterstützung die Medienkompetenz der Jugendlichen zu fördern, also präventiven Jugendschutz zu betreiben. Medienkompetenz wird heute vor allem im Hinblick auf Computer und Internet gefordert. Um die Berufschancen heutiger Kinder und Jugendlicher zu fördern, sollen vor allem die Fähigkeiten im Umgang mit diesen Medien erweitert werden. Das ist zweifellos richtig, greift aber zu kurz. Medienkompetenz umfasst weit mehr als bloßes Anwenderwissen für diese und andere Medien. So hat eine Befragung von Hochschullehrern für Medienpädagogik ergeben, dass es Lehramtsstudenten und -Studentinnen heute vor allem an der Fähigkeit zur Medienkritik mangelt (Hugger/Vollbrecht 2001, 32). In den Schulen scheint die
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Schwerpunktlegung auf instrumentell-qualifikatorische Aspekte (Computer- und Internetnutzung) in den letzten Jahren auch dazu geführt zu haben, dass die kritische Auseinandersetzung mit Medien nicht in genügendem Maß stattgefunden hat. Medienkompetenz ist im Anschluss an Dieter Baacke (1999) zunächst abzugrenzen von Medienerziehung als intentionalem Handeln in pädagogischem Auftrag. Medienkompetenz geht insofern über derart institutionell und zielorientiert verfugtes Denken hinaus, weil Kompetenz nicht einem speziellen institutionellen Bereich (hier: dem Bereich der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen) zugeschlagen werden kann, sondern darüber hinaus etwas viel Allgemeineres anzielt, nämlich eine Weise gelungenen In-der-Welt-Seins im Horizont gelebten Lebens insgesamt. Vom Konzept Bildung unterscheidet sich Erziehung darin, dass letztere im Idealfall pädagogisch-professionelle Handlungsakte in systemischen Zielkontexten meint, während Bildung eher subjekttheoretisch verwendet wird, wonach das ,Ich' zwar durch .Erziehungsakte' beeinflusst werden kann, aber letztlich eine Unverfügbarkeit des ,Ich' besteht, da dem zu Bildenden zwar Bildungsgelegenheiten und -anlässe zur Verfügung gestellt werden können, ohne aber über ein sicheres Gelingensresultat zu verfügen, wie es Erziehung gern möchte. Kompetenz begegnet sich in beiden Begriffen, indem Erziehung die pädagogische Auslegung und Methodisierung von Kompetenz betreibt, während Bildung eher die Bereitstellung kultureller Lebensräume anzielt, in denen das jeweilige Individuum sich verwirklichen, sein Ich aber auch transzendieren kann. Insofern ist Kompetenz der umfassendere Begriff, weil er Bildung wie Erziehung aufeinander verweist, aber auch voneinander unterscheidet und schließlich beide übergreift. Da Medien unsere Lebenswelten heute zentral mitbestimmen (von Spiel, Freizeit und Unterhaltung über Qualifizierungen und berufliches Handeln bis zu sozialen und politischen Öffentlichkeiten sowie kulturellen Sinnangeboten) ist die Befähigung zur Medienkompetenz als zentrale Lernaufgabe anzusehen. Dabei ist auch die Spannung zwischen Selbstsozialisation und pädagogisch geleitetem Erziehungshandeln auszumessen. Verpflichtender Zielgedanke bleibt die Forderung nach der Förderung von Kompetenz. Der Zusammenhang zwischen Kommunikations-, Handlungs- und Medienkompetenz ist dabei grundlegend und darf nicht aufgegeben werden. Auch Medienkompetenz beruht wie kommunikative Kompetenz auf einer Grundausstattung aller Menschen, die zwar unterschiedlich ausgearbeitet werden kann, aber erst als gemeinsamer Kontext die lebensweltlichen Informations- und Ausdrucksmöglichkeiten ungekürzt und vollständig erschließt. Baacke (1999a, 34f.) unterscheidet vier Dimensionen von Medienkompetenz (Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung) mit jeweils mehreren Unterdimensionen. Medienkritik hat eine analytische Unterdimension, wobei analytisch bedeuten soll, Medien(entwicklungen) nicht kritiklos hinzuneh-
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men, sondern , unterscheidend' beurteilen zu können. Die reflexive Unterdimension zielt auf den Gedanken, dass jeder Mensch sein analytisches und sonstiges Wissen auf sich selbst und sein persönliches Handeln beziehen und anwenden können soll. Die ethische Unterdimension ist darauf bezogen, dass analytisches Denken und reflexiver Rückbezug sozialverantwortet abgestimmt und definiert werden sollen. Medienkunde meint die Kenntnis heutiger Medien und Mediensysteme und kann in zwei Unterdimensionen ausdifferenziert werden. Die informative Unterdimension umfasst klassische Wissensbestände, etwa: Was ist ein duales Rundfunksystem? Wie arbeiten Journalisten? Welche Programmgenres gibt es? Die instrumentell-qualifikatorische Unterdimension meint ergänzend die Fähigkeit, die Medien auch bedienen zu können. Die Dimension der Mediennutzung kann ebenfalls in doppelter Weise ausdifferenziert werden, zum einen in eine rezeptiv-anwendende Unterdimension. Zum Beispiel muss ja auch beim Fernsehen das Gesehene verarbeitet werden. Nicht nur das Lesen von Texten, auch das Sehen von Filmen erfordert daher Rezeptionskompetenz. Hinzu kommt als zweite Unterdimension der Bereich des interaktiven Handelns: vom Telebanking bis zum Teleshopping oder zum Telediskurs, vom Fotografieren bis zum Erstellen eines Videofilms oder einer Homepage gibt es eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, nicht nur rezeptiv-wahrnehmend Welt zu erfahren, sondern auch interaktiv tätig zu sein. Die Dimension der Mediengestaltung schließlich umfasst sowohl eine innovative Unterdimension (Veränderungen, Weiterentwicklung des Mediensystems innerhalb der angelegten Logik) als auch eine kreative Unterdimension, die sich auf ästhetische Varianten, das Über-dieGrenzen-der-Kommunikationsroutine-Gehen und neue Gestaltungs- und Thematisierungsmöglichkeiten bezieht. Als übergreifendes Gestaltungsziel auf gesellschaftlicher Ebene ist ferner der Diskurs der Informationsgesellschaft anzuvisieren, um das Konzept nicht subjektiv-individualistisch zu verkürzen. Ein solcher Diskurs würde alle wirtschaftlichen, technischen, sozialen, kulturellen, ethischen und ästhetischen Probleme umfassen, um so die „Medienkompetenz" weiter zu entwickeln und integrativ auf das gesellschaftliche Leben zu beziehen. Da Jugendlichen der Umgang mit Medien in den Familien vorgelebt wird, andererseits die Eltern heute oft selbst in Fragen der Medienerziehung verunsichert sind, ist medienpädagogische Elternarbeit dringend notwendig. Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass nach allen Erfahrungen überwiegend diejenigen Eltern aus gebildeteren Schichten erreicht werden, die bereits über einen reflektierteren Medienumgang verfügen. Der Schule sowie der außerschulischen Jugendarbeit kommt daher eine wichtige kompensatorische Funktion zu, da sie auch Jugendliche aus anderen Milieus erreichen. In der Jugendarbeit gibt es heute bereits eine große Vielfalt an medienpädagogischen Angeboten, Projekten und Konzepten im theoretischen Rahmen einer handlungsorientierten Medienpädagogik, die auch von der Schulpädagogik stärker zur Kenntnis genommen werden sollten. Neben finanziellen Problemen,
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Förderung von Medienkompetenz
mit denen Einrichtungen der Jugendarbeit vielfach zu kämpfen haben, ist auch die Konkurrenzsituation zu kommerziellen Freizeitangeboten zu beachten, denn die Ansprüche der Jugendlichen sind beeinflusst von Multiplexkinos und Diskotheken mit HighTech-Ausstattung. Bei der Gestaltung von Medienprodukten in den Einrichtungen der Jugendarbeit müssen daher überzogene Vorstellungen der Jugendlichen relativiert werden. Andererseits ermöglichen gerade die digitalen Medien heute bereits mit relativ bescheidenem Aufwand (technisch) perfekte Produktionen (z.B. Internetsites, digitales Video etc.). In den Schulen stellt sich das Problem der Förderung von Medienkompetenz anders dar. Anders als in der Jugendarbeit gilt hier nicht das Prinzip der freiwilligen Teilnahme, so dass Schulunterricht generell mit Motivationsproblemen rechnen muss. Entscheidender ist jedoch, dass Medienpädagogik im Fächerkanon nur schwach verankert ist. Es hängt dann weitgehend von den Lehrerinnen und Lehrern ab, wieweit sie medienpädagogische Themen aufgreifen. In der handlungsorientierten Medienpädagogik wird Projektarbeit als besonders günstige Methode angesehen, da Projekte „vor allem eins deutlich machen: dass es keine Selbstläufigkeit kommunikativer Prozesse gibt, sondern dass diese einen schwierigen Aushandlungsprozess darstellen, an dem jeweils all diejenigen zu beteiligen sind, die an (Medien-) Projekten mitwirken" (Baacke 1999b, 93). Unter den organisatorischen Bedingungen der Schule (vor allem: 45-MinutenTakt) ist medienpädagogische Projektarbeit jedoch nur im Ausnahmefall (Projektwoche, freiwillige Arbeitsgruppen) möglich. Fächerübergreifender Unterricht könnte eine Alternative sein. In der Praxis kommt er jedoch meist nur dann zustande, wenn ein Lehrer in Personalunion zwei oder mehrere Fächer in einer Klasse unterrichtet. Daher sollten medienpädagogische Fragen stärker Eingang in die Fachdidaktiken finden. Für jedes Fach wäre dann zu prüfen, wie sich fachspezifische Themen mit Medienthemen verbinden lassen. Das setzt freilich voraus, dass Lehrer sich nicht nur als Vermittler ihrer jeweiligen Fächer verstehen, sondern auch die Aufgabe einer Vermittlung von Medienkompetenz ernst nehmen. Die Entwicklung eines Schulprofils Medienkompetenz, das vom gesamten Kollegium mitgetragen wird, könnte dabei hilfreich sein.
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